Aufbruch nach Amerika 1709 – 2009 300 Jahre Massenauswanderung aus Rheinland-Pfalz Aufbruch nach Amerika Aufbruch nach

Ausstellung im Theodor-Zink-Museum Kaiserslautern ISBN 978-3-936036-25-1 Schriften des Theodor-Zink-Museums 30. April bis 2. August 2009 Herausgegeben vom Referat Kultur 17 der Stadt Kaiserslautern

Aufbruch nach Amerika 1709 – 2009 300 Jahre Massenauswanderung aus Rheinland-Pfalz

Ausstellung im Theodor-Zink-Museum Kaiserslautern 30. April bis 2. August 2009

im Museum Alzey 24. August bis 11. Oktober 2009

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Inhalt

Grußwort Ministerpräsident Kurt Beck 5

Zu Ausstellung und Begleitband Marlene Jochem, Eva Heller-Karneth, Rainer Karneth 7

Die deutsche und rheinland-pfälzische Nordamerikaauswanderung im 18. und 19. Jahrhundert Ein Überblick Helmut Schmahl 9

„...in der edlen Illusion, doch noch eine feste Schanze der Freiheit gerettet zu haben!“ Politisch motivierte Auswanderung aus Deutschland und dem heutigen Rheinland-Pfalz im 19. Jahrhundert Steffen Wiegmann 37

Vom Westerwald nach Milwaukee Die Auswanderung Heinrich Georgs im Jahr 1852 Cornelius Neutsch 42

Auswanderungsagenten Barbara Schuttpelz 49

Die jüdische Emigration in die USA nach 1933 am Beispiel der Pfalz Roland Paul 55

„Die Ersten litten große Not, die meisten Zweiten holte ein früher Tod und erst die Dritten fanden Brot“ Das Bild des pfälzischen Auswanderers in der landeskundlichen Literatur von 1850 bis heute Sarah A. Sternal 63

Narrhalla-Marsch in der Neuen Welt Matthias Dietz-Lenssen 73

Die Auswanderung aus Nachkriegsdeutschland Alexander Freund 81

Zur Geschichte und Zukunft des Pennsylvaniadeutschen in den USA Michael Werner 93

3 Lebensbilder:

Samuel Adler (1809–1891) und Felix Adler (1851–1933) Gerhard Holzer 100

August Belmont (1813 Alzey – 1890 ) Gerhard Holzer 103

Carl David Weber (1814–1881), ein bedeutender Pfälzer im amerikanischen Westen Roland Paul 107

Konrad Krez (1828–1897) Michael Martin 109

Julius Dauber (1831–1879), ein Rückwanderer Roland Paul 110

Sebastian Walter (1848 –1891): Pionier des Emaillierhandwerks in Amerika und Wohltäter seiner Heimatgemeinde Helmut Schmahl 112

Thomas Nast (1849–1903) Michael Martin 116

Auswahlbibliografie 119

Autorenverzeichnis 126

Impressum 128

4 Grußwort

Sehr geehrte Damen und Herren, war lange Zeit Synonym für alle Einwande- liebe Rheinland-Pfälzerinnen rer aus dem deutschsprachigen Raum. Es erstaunt daher nicht, dass der pfälzische und Rheinland-Pfälzer, Dialekt im wesentlichen die Grundlage für das Pennsylvanisch-Deutsch bildete, die das Land Rheinland-Pfalz hat in den letzten einzige europäische Sprache neben dem Jahren eine sehr intensive Erinnerungskul- Englischen, dem Spanischen und dem Lou- tur ins Leben gerufen, die sich sowohl all- isiana-Französischen (Cajun), die seit über gemein mit der Geschichte des Landes wie drei Jahrhunderten in den USA gesprochen insbesondere mit deren dunklen Seiten be- wird. fasst. Und das ist gut so. Ich freue mich sehr, dass die Atlantische Allerdings gibt es einige sehr bedeutsa- Akademie Rheinland-Pfalz, das Institut me Seiten im Geschichtsbuch des Landes, für pfälzische Geschichte und Volkskun- die ebenfalls Teil unserer Erinnerungskul- de, der Fachbereich Amerikanistik der Uni- tur werden sollten; es sind die Seiten, die versität Mainz, das Theodor-Zink-Muse- sich mit der vor nunmehr dreihundert Jah- um Kaiserslautern, das Museum Alzey und ren begonnenen transatlantischen Wande- der Deutsch-Pennsylvanische Arbeitskreis rung von Bewohnern dieser Region befas- der Massenauswanderung aus Rheinland- sen und damit mit der transatlantischen Pfalz eine Ausstellung mit Begleitpublika- Geschichte unseres Landes. tion widmen und aus Anlass dieses Jahres- tags gemeinsam eine Veranstaltungsreihe Weit über eine halbe Million Menschen anbieten. sind aus dem Gebiet des heutigen Bun- deslandes Rheinland-Pfalz vom späten 17. Es würde mich freuen, wenn sich möglichst Jahrhundert bis in unsere Zeit nach Norda- viele Bürgerinnen und Bürger unseres Lan- merika ausgewandert. Kaum eine andere des für diese Ausstellung und Veranstal- Region Mitteleuropas hat eine im Verhält- tungen interessierten, die Ausdruck einer nis zu ihrer Bevölkerung gleich hohe Aus- lebendigen Erinnerungskultur sind. wanderungsquote aufzuweisen. Vor genau 300 Jahren war die Gegend zwischen Lan- dau und Neuwied Schauplatz der ersten deutschen Massenauswanderung in das Kurt Beck koloniale Nordamerika. Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz Die meisten Auswanderer zogen nach Penn- sylvania weiter, wo sie gemeinsam mit zahl- reichen später Ankommenden aus der Pfalz und ihren Nachbargebieten das größte ge- schlossene deutschsprachige Ansiedlungs- gebiet des kolonialen Amerika gründeten. Palatine, das englische Wort für Pfälzer,

5 Piefke nach Amerika, Holzstich nach Ch. Förster, um 1870, Slg. H. Schmahl

6 Zu Ausstellung und Begleitband

„Aufbruch nach Amerika“ 1709 – 2009 300 Jahre Massenauswanderung aus Rheinland-Pfalz

Das Phänomen der massenhaften Aus- Nur mit der Unterstützung öffentlicher und wanderung aus dem Gebiet des heutigen privater Leihgeber, die einen Großteil der Rheinland-Pfalz nach Amerika in seinen un- Ausstellungsexponate zur Verfügung ge- terschiedlichen Aspekten anschaulich und stellt haben, konnte das Ausstellungsvor- nachvollziehbar darzustellen, ist Ziel der haben umgesetzt werden. Den Leihgebern Ausstellung und der vorliegenden Begleit- der Ausstellung und den Autoren der be- publikation. Die Ausstellung zeigt anhand gleitenden Publikation, ebenso allen, die zahlreicher Originaldokumente, Bücher, Il- uns mit ihrem Wissen beratend begleitet lustrationen, Alltagsgegenstände aus drei haben, gilt unser herzlicher Dank. Jahrhunderten, ergänzt durch Berichte von Zeitzeugen sowie Text- und Bilderläuterun- Die Realisierung von Ausstellung und Be- gen die unterschiedlichen Motive der Aus- gleitband wurde ermöglicht durch die Stif- wanderung, ihre Vorbereitung, den Behör- tung Rheinland-Pfalz für Kultur, die das denweg, Abschied, die Reise, Ankunft und Gesamtprojekt „300 Jahre Massenauswan- Neubeginn, Akkulturation und Traditions- derung nach Amerika“ mit den Ausstel- pflege in der neuen Heimat. Szenische In- lungsstationen Kaiserslautern und Alzey, stallationen und Hörstationen mit Berich- dem Begleitband und einem landesweiten ten der Betroffenen, das „Festmachen“ von Veranstaltungsprogramm in dankenswer- Geschichte an historischen Personen, ih- ter Weise finanziell unterstützt. ren Biografien und materiellen Nachlässen öffnen Besucherinnen und Besuchern den Zugang zum Thema und sensibilisieren für dessen zeitübergreifende Aktualität. Marlene Jochem Theodor-Zink-Museum Kaiserslautern Für die begleitende Publikation haben wir Autoren, die sich in Forschung und Veröf- Dr. Eva Heller-Karneth fentlichungen schwerpunktmäßig mit dem Dr. Rainer Karneth Thema Auswanderung beschäftigt haben Museum Alzey und als Experten für die rheinland-pfäl- zische Migrationsgeschichte gelten, um Beiträge zu den in der Ausstellung thema- tisierten Aspekten gebeten. Einzelne Le- bensbilder schlagen auch hier die Brücke von der analytischen Betrachtung zum Ein- zelschicksal in seiner individuellen Beson- derheit und repräsentativen Verbindlich- keit.

7 Franz Joseph Ennemoser: Eine Reise vom Mittelrhein nach den nordamerikanischen Freistaaten, Kaiserslautern J.J. Tascher 1867, Slg. H. Schmahl

8 Helmut Schmahl

Die deutsche und rheinland-pfälzische Nordamerika- auswanderung im 18. und 19. Jahrhundert

Einleitung in den Vereinigten Staaten von Amerika ne- Reisende aus Rheinland-Pfalz, die in den ben Engländern und Iren die wichtigste Im- Vereinigten Staaten unterwegs sind, wer- migrantengruppe zu einer Zeit, als die Wei- den mitunter auf vertraute Ortsnamen tref- chen für das moderne Amerika gestellt wur- fen. Bingen findet sich gleich dreimal „from den. Als Farmer, Unternehmer, Handwerker coast to coast“ in Pennsylvania, Arkansas und Industriearbeiter waren Deutsche am und dem Staat Washington am Pazifik. Die ungeheuer raschen und dynamischen Auf- Landeshauptstadt Mainz ist immerhin zwei- schwung der USA beteiligt. mal in der Neuen Welt vertreten, zumindest Bereits im frühen 17. Jahrhundert sind ein- dialektal, als New Mentz unter der glühen- zelne Deutsche in Nordamerika nachweis- den Sonne von Texas sowie Mentz in den bar, ihre erste Siedlung Germantown ent- Wäldern des Staates New York. Zwei klei- stand 1683. Dauerhaft rückte der norda- ne Ortschaften in der Nähe von Chicago/Il- merikanische Kontinent jedoch erst eine linois und in Minnesota sind nach der ältes- Generation später in ihr Blickfeld. Die ers- ten Stadt Deutschlands New Trier benannt. te deutsche Massenauswanderung, die von Im romantischen Mohawktal im Staat New ihrem Charakter her als Vorläufer der Mas- York stößt man auf Oppenheim, in den Prä- senbewegung des 19. Jahrhunderts be- rien von South Dakota auf Worms. Nicht trachtet werden kann, fand 1709 statt. Sie weit von Evanston/Indiana kann der neu- fand vor allem aus dem deutschen Südwes- gierige Tourist schließlich in unmittelbarer ten statt, besonders aus der Kurpfalz, die Nachbarschaft des Ohio River die Reste der sich zur klassischen Auswanderungsregion mittlerweile aufgegebenen Siedlung Alzey schlechthin entwickelte. erkunden. Diese und andere Ortsnamen zeigen, dass Auswanderer aus dem heutigen Bundes- Teil I: Die Auswanderung ins koloniale Nord- land Rheinland-Pfalz in nicht geringem Ma- amerika ße an der Besiedlung der Vereinigten Staa- ten beteiligt waren. In der Neuzeit, insbe- Anfänge der pfälzischen Nordamerikaaus- sondere im 18. und 19. Jahrhundert, stell- wanderung ten weite Teile des Gebiets an Rhein, Lahn Die Anfänge der Auswanderung aus der und Mosel Migrationslandschaften dar. Pfalz – hiermit ist die historische Land- Missernten, Teuerung und andere Fakto- schaft gemeint, die neben der heutigen ren bewogen zahlreiche Bewohner dazu, gleichnamigen Region auch Teile Rheinhes- ihre Heimat zu verlassen. Neben Preußen, sens, des Hunsrücks und die Gebiete um Russland, Ungarn und später Brasilien, Heidelberg und Mannheim umfasst – lie- Australien und Algerien richtete sich der gen in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Strom der Wegziehenden nach Nordame- Krieg (1618–1648).1 In diesem Krieg ver- rika. Nachdem das koloniale Nordamerika loren viele Menschen ihr Leben durch Hun- eher ein Nebenschauplatz der deutschen ger, Seuchen oder durch plündernde Solda- Auswanderung gewesen war, änderte sich ten. Andere flohen in vom Krieg verschonte dies grundlegend im 19. Jahrhundert. Mit Gebiete. Insgesamt dürfte die Bevölkerung mehr als vier Millionen stellten Deutsche der Kurpfalz bis Kriegsende um 75 bis 80

9 Prozent zurückgegangen sein. dung des Quäkers William Penn in dessen Nach dem Westfälischen Frieden bemühten Kolonie Pennsylvania aus, worauf noch ein- sich die Landesherren um den Wiederauf- zugehen sein wird. bau ihrer Territorien. So forderte der pfäl- zische Kurfürst Karl Ludwig seine Unterta- 1709: Massenauswanderung nach New nen zur Rückkehr auf und suchte durch eine York tolerante Bevölkerungspolitik sein Land zu Während des Spanischen Erbfolgekrieg ‚repeuplieren’. Viele Neusiedler aus Nach- (1701–1714) war die Bevölkerung der Pfalz bargebieten sowie den spanischen Nieder- wiederum stark belastet, dieses Mal durch landen, der Schweiz, Tirol und Frankreich Kontributionen. Vollends unerträglich wur- folgten in den nächsten Jahrzehnten seiner de die Situation im strengen Winter von Einladung. Der Wiederaufbau vollzog sich 1708/09, als zeitgenössischen Chroniken jedoch aufgrund wirtschaftlicher Proble- zufolge die Vögel im Flug erstarrten und zu me und anhaltender kriegerischer Verwick- Boden fielen und der Wein in den Fässern lungen recht schleppend. Handel und Ge- gefror. Aus einem Protokoll des Stadtrats werbe waren durch zahlreiche Binnenzölle von Gau-Odernheim an das Oberamt Alzey stark beeinträchtigt, und Missernten und läßt sich deutlich ersehen, wie weit vieler- Überschwemmungen führten oft zu prekä- orts die Untertanen an den Rand des Ruins ren ökonomischen Verhältnissen.2 getrieben worden waren. Die Früchte des Wiederaufbaus in der Pfalz Zahlreiche Faktoren wirkten hier zusam- wurden vier Jahrzehnte später größtenteils men. Bereits 1707 hatte Hagelschlag zu zunichte gemacht. Ludwig XIV. betrachtete großen Ernteverlusten an Getreide und den Gewinn des gesamten linken Rheinu- Wein geführt. Hierdurch war die fast aus- fers als eines seiner politischen Ziele, da- schließlich von der Landwirtschaft leben- her war die Pfalz wiederholt von Übergrif- de Bevölkerung stark getroffen. Bald hier- fen betroffen. Am dramatischsten war die auf folgte eine Viehseuche, die 200 Kühe Lage im so genannten Pfälzischen Erbfol- und Rinder hinwegraffte. Zugleich muss- gekrieg (1688/89–1697), als französische ten die Untertanen hohe Kriegskontribu- Truppen das Land besetzten. Heidelberg, tionen zahlen. Diese missliche Lage führ- Mannheim, Speyer, Worms, Alzey und viele te dem Bericht zufolge zu der „eußersten andere Städte und Dörfer wurden gebrand- Kleinmuthigkeit bey dem ohnedem ruinir- schatzt und Burgen geschleift. Große Teile ten Landmann“.4 Fast die Hälfte der Bürger- der Bevölkerung waren wiederum auf der schaft sei bereit, nach Versteigerung ihres Flucht. Mit Verbitterung sahen zahlreiche Besitzes „ihr liebes Vatterland wiewohl zu Untertanen weiterhin, dass die seit 1685 ihrem großen Leidwesen zu verlaßen, we- regierenden Kurfürsten aus der Linie Pfalz- gen der unerschwinglichen angesezten Neuburg die katholische Minderheit – oft Gelder, und Mangel der ohnentbahrlichen handelte es sich um mittellose Zuwanderer Leibsnotturfft“. Es kam jedoch nur zur Aus- – begünstigten. wanderung von drei Familien, der Rest fand Zunächst waren es Neusiedler, die auf- aufgrund des allgemeinen Geldmangels grund der unsicheren Lage auswanderten. keine Käufer für ihren Besitz. Bereits 1660 ließen sich französische Hu- Insgesamt machten sich nach der Ernte- genotten, die zuvor in Mannheim Zuflucht krise von 1708/09 rund 13.000 Menschen gefunden hatten, am Hudson River in der auf den Weg nach England.5 Ausgelöst wur- englischen Kolonie New York nieder.3 Ge- de diese Auswanderungswelle durch eine meinsam mit späteren Zuwanderern grün- Werbeschrift des Pfarrers Josua Harrsch deten sie 1677 eine Siedlung, die sie zu Eh- aus Eschelbronn im Kraichgau. Harrsch ren ihrer ersten Zufluchtsregion New Paltz hatte 1704 auf einer Englandreise erfahren, nannten. Einige Jahre später wanderten die dass Königin Anna deutsche Siedler für ih- ersten pfälzischen Mennoniten auf Einla- re nordamerikanischen Kolonien suchte.6

10 Im Auftrag von englischen Großgrundbe- dem Ansturm nicht gewachsen war und sitzern, die eine rasche Erschließung ihrer die Flüchtlinge nicht dauerhaft versorgen Ländereien in Nordamerika erhofften, ver- konnte. Um das Lager zu räumen, wurden fasste Harrsch nach seiner Rückkehr un- fast alle Katholiken wieder in ihre Heimat ter dem Pseudonym Josua Kocherthal eine zurückgeschickt, viertausend weitere Ko- Flugschrift mit dem Titel „Ausführlich- und lonisten sandte man zur Stärkung des pro- umständlicher Bericht von der berühmten testantischen Elements nach Irland. Viele Landschafft Carolina in dem Engelländi- junge Männer gingen in den britischen Mi- schen America gelegen.“7 Darin schilder- litärdienst, während andere Menschen den te er die Vorzüge der Neuen Welt in den katastrophalen hygienischen Bedingungen höchsten Tönen. Die Flugschrift fand rei- erlagen. Lediglich 3000 Personen wurden ßenden Absatz und erlebte vier Auflagen. per Schiff nach Amerika verbracht. Ein gu- Im Frühjahr 1708 traf Harrsch mit einer tes Viertel von ihnen, rund 800 Personen, Auswanderergruppe aus der Kurpfalz in überlebten die Reise nicht. Die restlichen London ein und bat um Ansiedlung im bri- erhielten Land an beiden Ufern des Hudson tischen Teil Nordamerikas. In einer Petiti- River. on an Queen Anne hob er hervor, bei den Nach der Ankunft der Kolonisten bestimm- Auswanderern handle es sich um arme be- te der New Yorker Gouverneur Robert Hun- drängte Pfälzer („poor distressed Palati- ter, dass sie für die Kosten ihrer Überfahrt nes“) aus der Gegend von Landau, die vom aufkommen sollten. Er schickte sie in Pini- Spanischen Erbfolgekrieg besonders be- enwälder, wo sie Teer und Masten für den troffen waren, und begründete ihren Weg- Schiffsbau herstellten sollten.11 Das Unter- zug mit wiederholten Plünderungen durch nehmen scheiterte kläglich, da die Deut- französische Truppen und andauernder re- schen keine Werkzeuge und sonstige Aus- ligiöser Bedrückung.8 rüstung erhalten hatten. Hunter versah sie Harrschs Bitte stieß bei der englischen Re- nicht mit den versprochenen Rationen und gierung auf offene Ohren. Im Mai 1708 ge- konfiszierte ihre Gewehre, so dass sie nicht währte Queen Anne den Exilanten die An- jagen konnten. Viele Kinder der Kolonisten siedlung in der Kronkolonie New York. Dort, wurden ihren Eltern entrissen und bei Eng- am oberen Hudson River, gründeten sie die ländern in der Stadt New York verdingt. Siedlung Neuburg (Newburgh). Nach dem Erst zwei Jahre nach ihrer Ankunft konnte katastrophalen Winter machten sich im die erste Ernte eingefahren werden. In ih- Frühjahr 1709 mehrere tausende Südwest- rer Verzweiflung revoltierten die Siedler, deutsche zum Teil überstürzt über Holland ihr Aufstand wurde jedoch rasch von briti- nach England auf.9 Die meisten von ihnen schen Truppen niedergeschlagen. stammten aus dem heutigen Rheinhessen Daraufhin beschloss der Schwabe Johann sowie der Vorderpfalz, aber auch die Mit- Konrad Weiser, einer der Wortführer der telgebirgsregionen des Pfälzer Waldes, Siedler, dessen Familie besonders unter des Hunsrücks, des Taunus und des Wes- Hunters Maßnahmen gelitten hatte, ge- terwaldes waren vertreten.10 Die Auswan- meinsam mit rund 100 weiteren Familien derer hatten der vierten, von einem ge- an den Schoharie zu ziehen, wohin sie von schäftstüchtigen Verleger umgeschriebe- den dortigen Mohawk-Indianern eingela- nen Auflage von Harrschs Schrift entnom- den worden waren.12 Sie machten sich im men, dass alle Auswanderungswilligen Winter 1712 auf den Weg und erreichten er- freie Überfahrt und kostenloses Land er- schöpft und dem Hungertod nahe ihr Ziel. halten sollten. In der Nähe von London wur- Gouverneur Hunter forderte sie zur Rück- de ein Flüchtlingslager errichtet. In der ers- kehr an den Hudson auf, ließ sie dennoch ten Zeit erweckten die Fremden das Mitleid anschließend unbehelligt, da er nicht über des Hofes und der Londoner Bevölkerung, genügend Truppen verfügte, um Krieg ge- bald zeichnete sich jedoch ab, dass man gen die Mohawk zu führen.

11 Carte De La Nouvelle Angleterre, Nouvelle Yorck Et Pensilvanie, Kupferstich, koloriert, 1767, Slg. H. Schmahl

12 Die Siedlungen an den Flüssen Schoharie führte zu einem stärkeren Bevölkerungs- und Mohawk blühten schnell auf und wur- wachstum im Vergleich zu Anerbengebie- den bald durch Zuzüge verstärkt. Englische ten und zugleich zu einer größeren Anfäl- und niederländische Großgrundbesitzer ligkeit für Krisen und verstärkten Auswan- betrachteten die Entwicklung dieser selb- derungsbereitschaft. Diese abstoßenden ständigen kleinbäuerlichen Siedlungen mit Kräfte des Heimatlandes – vor allem bit- Missfallen. Sie wollten – ähnlich wie in Eu- tere oder andauernde Not – waren jedoch ropa – das Land an sich ziehen und durch nicht die einzige Erklärung für Auswande- Pächter bewirtschaften lassen. Erfolgreich rungsschübe, da die Lebensverhältnisse in fochten sie die Besitztitel der Deutschen zahlreichen anderen Gebiete ähnlich pre- an. Weiser wurde von den deutschen Sied- kär waren, ohne dass es von dort zu zahl- lern nach London entsandt, um sich für ihre reichen Wegzügen kam. Viel mehr war in- Rechte einzusetzen, seine Mission war je- tensive Werbung seitens interessierter Re- doch vergeblich. Auf dem Rückweg wurde gierungen, Großgrundbesitzer, Reeder und er von Piraten gefangen genommen, und er Kapitäne notwendig, um Menschen zum kehrte erst nach Jahren zurück. Aufbruch zu mobilisieren. Die Gegenden Gemeinsam mit 33 weiteren Familien zog am Mittel- und Oberrhein galten den Wer- Weiser den Schoharie flussaufwärts, bis er bern als besonders viel versprechende Ge- in den Bergen den Oberlauf des Susque- biete, da sie eine hohe Bevölkerungsdichte hanna erreichte. Entlang dieses Flusses zo- aufwiesen und die Landesherren aufgrund gen sie bis zur Mündung des Swatara und der territorialen Zersplitterung die Tätig- dann entlang dieses Flusses bis nach Berks keit der Werber nur schlecht unterbinden County in der Kolonie Pennsylvania. Dort konnten. fanden sie endlich den Frieden, nach dem Die Popularität Pennsylvanias unter deut- sie so lange gesucht hatten. schen Auswanderern war vor allem auf die Tätigkeit des Koloniegründers William Pennsylvania: Zentrum der deutschen Ein- Penn (1644–1718) zurückzuführen. Penn wanderung zur Kolonialzeit war ein wohlhabender englischer Quäker, Pennsylvania war in kolonialer Zeit das der aufgrund der Verfolgung seiner Religi- weitaus wichtigste Siedlungsgebiet deut- onsgemeinschaft in den 1670er Jahren ei- scher Einwanderer. Da ein Großteil von ih- ne Siedlung in Nordamerika plante, die von nen – wie die Exilanten von 1709 – aus der religiöser Toleranz und politischer Freiheit Pfalz stammte, wurde die englischsprachi- geprägt sein sollte. Er reiste zweimal nach ge Bezeichnung für Pfälzer („Palatines“) Deutschland, um Werbung für sein Pro- als Sammelbegriff für alle deutschsprachi- jekt zu machen. So predigte er 1677 un- gen Immigranten im kolonialen Nordameri- ter anderem in Kriegsheim bei Worms, wo ka verwendet. sich Mennoniten und Quäker niedergelas- Schätzungsweise 100.000 Deutsche wan- sen hatten.15 Die Gelegenheit zur Verwirk- derten bis zur Unabhängigkeit der Verei- lichung von Penns Plänen ergab sich, als nigten Staaten in die britischen Kolonien König Karl II. ihm als Bezahlung einer ho- Nordamerikas aus.13 Ähnlich wie bei den hen Geldschuld ein riesiges Stück Land in Auswanderern von 1709 waren auch später Nordamerika vermachte. In englisch- und wirtschaftliche Gründe ausschlaggebend. deutschsprachigen Werbeschriften mach- Das Gros der Auswanderer stammte aus te der Quäker potentielle Siedler mit sei- Gebieten, wo statt des im Reich weit ver- nem „Holy Experiment“ bekannt. Der von breiteten Anerbenrechts, bei dem nur einer dem Projekt begeisterte Jurist Franz Dani- der Erben den Hof bei Abfindung der ande- el Pastorius entschied sich zur Auswande- ren übernahm, die Realteilung üblich war. rung und fand eine Gruppe von Mennoni- In diesen Räumen war die Bewirtschaftung ten und Quäkern im niederrheinischen Kre- bereits früh intensiviert worden.14 Dies feld, die sich ihm anschlossen. Pastorius

13 und 13 Familien erreichten am 16. August einer drastischen Tirade gegen die integra- 1683 Philadelphia mit dem Schiff „Con- tionsresistenten „Pfälzer Bauernlümmel“ cord“.16 Die kleine Gruppe ließ sich in der (Palatine Boors) Ausdruck verlieh. 20 Nähe der Hauptstadt Philadelphia nieder, Insgesamt betrug der Gesamtanteil der wo sie Germantown gründete. Bald folgten Deutschstämmigen bei der ersten US-Volks- ihnen 50 weitere Familien, unter anderem zählung im Jahr 1790 ein knappes Zehntel aus Kriegsheim, so dass Germantown be- (8,6 %). Pennsylvania wies mit 33 % den reits 1691 zur Stadt ernannt wurde. Zahl- weitaus höchsten Wert auf, gefolgt von Ma- reiche Einwanderer waren Weber, und so ryland (12 %), New Jersey (9%) und New bildete sich bald eine woll- und tuchverar- York (8%). Kleinere Kontingente fanden sich beitende Industrie heraus, die qualitätvolle in den Südstaaten und den jungen Siedlun- Produkte herstellte, wie man sie sonst nur gen westlich der Appalachen.21 aus England importieren konnte. Die Nachricht von dem „heiligen Experi- Die Bedingungen der Reise – das ‚Redemp- ment“ in Pennsylvania verbreitete sich tioner-System’ rasch in Deutschland. In den nächsten Stimuliert wurden viele Auswanderungen Jahrzehnten fanden besonders Angehöri- nicht nur durch Berichte ausgewanderter ge verfolgter religiöser Gruppen dort ei- Verwandte und Freunde, auch so genannte ne Zuflucht.17 Seit 1710 sind dort Schwei- „Neuländer“ trugen das ihre bei. Diese il- zer Mennoniten nachweisbar, denen bald legal arbeitenden Werber zogen durch die zahlreiche Pfälzer Glaubensgenossen folg- Dörfer und beredeten im Auftrag von Ree- ten, Dunkerbaptisten kamen erstmals 1719 dern in Rotterdam oder London Menschen ins Land, Schwenkfelder 1734 und ein Jahr zur Auswanderung.22 Sie schilderten das später die Mährischen Brüder. Die große Leben in Amerika in den leuchtendsten Far- Mehrheit der Deutschen in Pennsylvania ben, was oft auf große Resonanz bei Men- war jedoch lutherisch oder reformiert. Ka- schen stieß, die in armseligen Verhältnis- tholiken fanden im 18. Jahrhundert nur sel- sen lebten. Die Wegzüge fanden meist in ten den Weg in das protestantisch gepräg- Gruppen statt. Oft wanderten ganze Groß- te britische Nordamerika. Sie bevorzugten familien aus. Die Reise war überaus be- stattdessen Ungarn und andere habsburgi- schwerlich und langwierig. Schon bei der sche Ländereien Südosteuropas. Ankunft in Rotterdam, oft erst nach vier In den folgenden Jahrzehnten kam es zu bis sechs Wochen, waren viele Auswande- einer kontinuierlichen Auswanderung aus rer mittellos. Um die Überseereise zu finan- dem südwestdeutschen Raum, die in unter- zieren, verdingten sich die meisten Emig- schiedlicher Intensität bis zum Unabhän- ranten als so genannte ‚Redemptioner’.23 gigkeitskrieg anhielt.18 Die Quäkerkolonie Dies bedeutete, dass die Passagiere sich Penns wurde zum weitaus wichtigsten An- nach der Ankunft in Amerika verpflichte- laufpunkt in Amerika. Zwischen 1727 bis ten, mehrere Jahre ohne Bezahlung für ei- 1740 registrierten die Hafenbehörden von nen Dienstherrn zu arbeiten. Im Gegenzug Philadelphia 80, in den kommenden 15 Jah- bezahlte dieser dem Kapitän das Geld für ren 159 Schiffe mit deutschen Immigran- die Überfahrt. ten. Nach einer Unterbrechung durch den Die sechs- bis achtwöchige Reise nach Siebenjährigen Krieg erreichten 88 weitere Amerika erfolgte oft unter katastropha- Schiffe Philadelphia. Die in Schüben verlau- len Bedingungen. In Rotterdam und ande- fende Auswanderung fand zwischen 1749 ren Häfen wurden die Passagiere in das und 1754 ihren Höhepunkt.19 Allein 1749 Zwischendeck von Segelschiffen eingez- trafen 7000 Passagiere aus Deutschland wercht, die für den Transport von Waren ein. Dies führte zu Überfremdungsängsten – nicht von Menschen – ausgelegt waren. unter der englischen Bevölkerung Pennsyl- Dies führte zu einer großen physischen vanias, denen Benjamin Franklin 1751 mit und psychischen Belastung der Auswan-

14 derer. Mangel an Frischluft, unzureichen- leistete zudem die Deutsche Gesellschaft de Hygiene und verdorbene Lebensmit- von Philadelphia deutschen Immigranten, tel führten oft zu Krankheiten, die mitun- die in Not geraten waren, materielle und ju- ter tödlich endeten. Ein anschauliches Bild ristische Hilfe.25 der Zustände an Bord bot der Württember- ger Gottlieb Mittelberger im Jahr 1750. Auf Siedlungsweise und ethnischer Zusam- seinem Schiff starben 32 Kinder, deren menhalt Leichen ins Meer versenkt wurden, und er Frühe Einwanderer in Pennsylvania waren fuhr fort: „Während der Seefahrt aber ent- oft in Germantown zu finden, wo neben stehet in denen Schiffen ein Jammervol- der Weberei bald andere wichtige Betrie- les Elend, Gestank, Dampf, Grauen, Erbre- be entstanden, wie eine Druckerei und ei- chen, mancherley See-Krankheiten, Fieber, ne Papiermühle. Handwerker und Kaufleu- Ruhr, Kopfweh, Hitzen, Verstopfungen des te ließen sich in Philadelphia und anderen Leibes, Geschwulsten, Scharbock, Krebs, Städten wie Lancaster oder York nieder. Die Mundfäule, und dergleichen, welches al- meisten deutschen Immigranten waren je- les von alten und sehr scharf gesalzenen doch in der Landwirtschaft tätig und bevor- Speisen und Fleisch, auch von dem sehr zugten Ländereien westlich von Philadel- schlimmen und wüsten Wasser herrühret, phia. Ihr Siedlungsgebiet erstreckte sich wodurch sehr viele elendiglich verderben von Germantown über die Counties (Bezir- und sterben. … Dieser Jammer steiget als- ke) York, Cumberland, Northampton, Dau- dann aufs höchste, wann man noch 2 bis phin, Lehigh, Lebanon und später Centre 3 Tag und Nacht Sturm ausstehen muß …, und Adams. Weitere Siedlungen wurden dass man glaubt samt Schiff zu versinken auch in anderen Kolonien gegründet, vor … und die so eng zusammen gepackte Leu- allem im Shenandoahtal in Maryland und te in den Bettstatten dadurch übereinander in Virginia. Da sich die Einwanderer oft an geworfen werden, Kranke wie die Gesunde; der Siedlungsgrenze niederließen, kam … manches seufzet und schreyet: Ach! wä- es zur Bildung relativ geschlossener deut- re ich wieder zu Hause und läge in meinem scher Siedlungsgebiete. Viele Immigranten Schweinestall“.24 kauften große fruchtbare Ländereien, die Nach der Ankunft im „gelobten Land“ wur- sie teils an Nachziehende veräußerten, und den die meisten Einwanderer, wie erwähnt, erwarben sich nach großen anfänglichen vom Kapitän an Dienstherren übergeben. Strapazen relativen Wohlstand. Die Sied- Familien wurden oft auseinander gerissen lungsweise unterschied sich deutlich von und fanden mitunter nie mehr zusammen. der in Deutschland. Man lebte auf seinem Diese Zustände herrschten bis in das frühe Farmland, geschlossene Bauerndörfer wa- 19. Jahrhundert. Das System war grausam, ren kaum zu finden. aber es hatte auch seine positiven Seiten. Die Deutschen genossen in der Kolonial- Viele Einwanderer hätten sich ansonsten zeit den Ruf als fleißige, sparsame und ge- nie die Reise nach Amerika leisten können schickte Bauern, die mehr auf ihr Land und und wären in Europa im Elend verblieben. ihr Vieh achteten als auf ihren Komfort.26 Das Abhängigkeitsverhältnis gab den Ein- Dennoch waren sie in der Kolonialzeit nicht wanderern zudem die Chance, sich in ihrer wesentlich wohlhabender als andere Grup- neuen Umgebung zurechtzufinden, bevor pen. Deutsche legten großen Wert auf die sie im fremden Land auf sich selbst gestellt Verbesserung der Landwirtschaft. Nach waren. Die verkauften Einwanderer wur- der Rodung des Urwaldes verbrannten sie den meist recht gut behandelt, schon weil die Stümpfe und Wurzeln gefällter Bäume ihre Arbeitgeber Furcht vor Flucht hatten. und ließen sie nicht verrotten, was die Ur- Das Gesetz gewährte den ‚Redemptioners’ barmachung beschleunigte. Auch bauten Rechte, und nach dem Ende ihrer Dienst- sie große Scheunen, die als ‚Pennsylvania zeit erhielten sie eine Abfindung. Seit 1764 Barns’ von anderen Siedlergruppen spä-

15 ter auch in anderen Teilen Nordamerikas Das Schulwesen befand sich ebenfalls in kopiert wurden. Das Ziel vieler deutscher kirchlicher Hand. Vielerorts gab es kei- Siedler war es, das Land innerhalb der Fa- ne Schulen, dennoch widersetzten sich milie zu belassen. Besitzteilungen wurden die Deutschen in kolonialer Zeit hartnä- dadurch verhindert, dass einige Kinder in ckig den Bestrebungen der British Socie- neue Siedlungsgebiete geschickt wurden ty for the Propagation of Christian Know- und Land vor Ort für andere gekauft wurde. ledge, die englischsprachige Schulen unter Dadurch wurden die deutschen Siedlungen den Deutschen einrichten wollte, deren Be- stabil, viele Farmen blieben über Jahrhun- such frei war. Ähnliche Ängste vor Sprach- derte in Familienbesitz, während Engländer verlust, Säkularisierung, Schulpflicht und und Iroschotten sich oft nur für einige Zeit höherer Besteuerung führten später da- in einer Gegend aufhielten und danach wei- zu, dass die Pennsylvaniadeutschen sich ter zogen. 30 Jahre lang vehement gegen die Schlie- Die religiöse Betreuung der meisten Aus- ßung ihrer Pfarrschulen wehrten, nachdem wanderer war in der frühen Zeit unzurei- Pennsylvania 1834 ein öffentliches Schul- chend. Da nur wenige deutschsprachige lu- system eingeführt hatte. therische und reformierte Pastoren in Penn- Der ethnische Zusammenhalt wurde nicht sylvania Seelsorge ausübten, sahen Mis- nur in Kirche und Schule gewahrt. Die An- sionare der Mährischen Brüder seit 1734 zahl der Lesekundigen war groß genug, dort ein lohnendes Betätigungsfeld.27 Es um einen Markt für Bücher und Zeitungen handelte sich dabei um eine ökumenische zu schaffen. Zwischen 1732 und 1800 er- pietistische Bewegung, in deren Mittel- schienen zumindest zeitweise nicht weni- punkt der Theologe und Gründer der Herrn- ger als 38 deutschsprachige Zeitungen.28 huter Brüdergemeine Graf Nikolaus Ludwig Die bedeutendste hiervon wurde von Jo- von Zinzendorf stand. Die Mährischen Brü- hann Christoph Saur (* um 1695 Ladenburg der ließen sich in Bethlehem, Nazareth und bei Heidelberg) in Germantown gedruckt, Lititz nieder und wurden von den Siedlern der 1739 die erste rein deutschsprachi- wohlwollend aufgenommen. Lutherische ge Druckerei Amerika eröffnete.29 Zeitwei- und reformierte Geistliche fühlten sich da- se 4000 Leser in den Kolonien versorgte durch alarmiert und bemühten sich, mehr er in seinem Blatt „Pennsylvanischer Ge- Pfarrer ins Land zu holen. Zum Aufbau ei- schichts-Schreiber“ mit einer Mischung nes geordneten Kirchenwesens entsand- von religiösen und weltlichen Ratschlä- te die pietistische lutherische Missionsge- gen, politischen Kommentaren und Anzei- sellschaft von Halle 1742 Heinrich Melchi- gen. 1743 druckte Saur die erste Bibel in or Mühlenberg, die reformierte Kirche 1746 der Neuen Welt. Erst vier Jahrzehnte später den Schweizer Michael Schlatter. 1741 hat- wurde in den Vereinigten Staaten die ers- te es nur vier ordinierte Pfarrer für 15000 te englische Ausgabe gedruckt. Außer Saur reformierte Kolonisten gegeben und sogar veröffentlichten auch andere deutsche Dru- nur drei für eine wahrscheinlich ebenso ho- cker Pennsylvanias Almanache, religiöse he Zahl an Lutheranern. 1765 hatte sich Schriften und politische Traktate, die weite die Lage etwas gebessert. Damals betreu- Verbreitung fanden. ten rund 15 reformierte Pfarrer ungefähr 40 Gemeinden, eine ebenso große Zahl luthe- Ephrata Cloister: geistiges und kulturelles rischer Gemeinden hatte sich der von Müh- Zentrum der Deutschen in Pennsylvania lenberg gegründeten Synode angeschlos- Eines der wichtigsten kulturellen Zentren, sen. Vielerorts wurden Kirchengebäude nicht nur pfälzisch-deutscher Immigran- von beiden Denominationen genutzt, was ten in Pennsylvania, sondern des kolonia- vielen pfälzischen Siedlern aus ihrer alten len Nordamerika überhaupt, war das Klos- Heimat vertraut war. ter Ephrata in Lancaster County, 60 Kilome- ter westlich von Philadelphia.30 Es handel-

16 te sich hierbei um eine 1735 gegründete Ölmühle wurde Flachssamen zu Tinte ver- Gemeinschaft radikaler deutscher Pietis- arbeitet und in einer Gerberei das Leder für ten, die unter der Leitung des Bäckergesel- die Bucheinbände hergestellt. Die Brüder len Johann Conrad Beissel aus Eberbach druckten zum einen religiöse Schriften für am Neckar sowie des aus Alsenborn aus- den Eigenbedarf. Ihr bedeutendstes Werk, gewanderten reformierten Pfarrers Johann das zugleich die größte Druckleistung im Peter Müller den Versuch unternahmen, kolonialen Nordamerika darstellt, war je- „der im aufgeklärten Europa bedrängten doch der 1748/49 publizierte großforma- monastischen Lebensform eine letzte Frei- tige „Märtyrer-Spiegel der Tauffs-Gesinn- statt zu sichern“.31 ten“, den Johann Peter Müller im Auftrag Der Einflusskreis des in der Wildnis von mennonitischer Gemeinden aus dem Nie- Pennsylvania lebenden charismatischen derländischen ins Deutsche übersetzt hat- Ordensgründers Conrad Beissel erstreck- te.32 Der Theologe Müller, seit 1768 Beis- te sich bald bis in die alte Heimat. Berichte sels Nachfolger, zählte zu den gelehrtes- an seinen in Gimbsheim am Altrhein (nörd- ten Männern im damaligen Pennsylvania. lich von Worms) wohnhaften Bruder führ- Er war Mitglied der American Philosophical ten dort in den frühen 1740er Jahren zur Bil- Society und mit Benjamin Franklin befreun- dung einer Erweckungsbewegung, der zeit- det. 1786 veröffentlichte Miller unter dem weise ein beträchtlicher Teil der protestan- Pseudonym Agrippa das „Chronicon Ephra- tischen Bevölkerung des Dorfes angehörte. tense“, die wichtigste historische Quelle Wachsende Spannungen mit der Obrigkeit zum Kloster Ephrata, das damals bereits im und dem Dorfpfarrer sowie die sich in den Niedergang begriffen war. 1740er Jahren dramatisch verschlechtern- Auch die Chormusik wurde in Ephrata ge- de wirtschaftliche Situation führten dazu, pflegt. Die von Conrad Beissel komponier- dass 90 Erweckte – immerhin ein Achtel ten Chorwerke wurden in den Gottesdiens- der Bevölkerung – in den Jahren 1749 und ten ohne instrumentale Begleitung aufge- 1751 nach Nordamerika auswanderten. Ih- führt. Die Texte entstammten der Bibel oder re Überfahrt wurde zumindest teilweise eigener Dichtung. Den eigenwilligen Kom- vom „Orden der Einsamen“ in Ephrata fi- positionsstil seiner vier- bis siebenstim- nanziert, obwohl sich nicht alle Einwande- migen Sätze mit langen hohen Tönen ohne rer dort niederließen. eingängige Melodie und Rhythmus erklärte Die Mitglieder des „Ordens der Einsamen“ Beissel damit, dass er sie den himmlischen strebten nach einem spartanischen Leben Heerscharen nachempfunden habe. In der in absoluter Frömmigkeit. Die meisten Mit- Singschule des Klosters wurde eine beson- glieder lebten zölibatär. Gottesdienste wur- dere Singtechnik hierfür eingeübt. den mehrmals täglich gefeiert, der Rest des Tages wurde mit Arbeit verbracht. Die Ge- Akkulturation und Assimilation meinschaft war weithin autark. Sie verfüg- Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts spielten te über eine eigene Farm und betrieb Sä- die zunehmend selbstbewussten, gut infor- ge, Getreide-, Öl- und Walkmühlen. Ebenso mierten und wohlhabenden Deutschen ei- stellten die Mitglieder ihre eigenen Stoffe ne bedeutende politische Rolle, obwohl sie und Schuhe her, und es wurden Körbe ge- sich selten einig waren.33 In Pennsylvania flochten. Die Schwestern kopierten Musik- bedeutete dies, dass pazifistische Grup- handschriften und widmeten sich der Kalli- pen wie die Mennoniten gemeinsam mit graphie, Stickarbeiten und dem Spinnen. den Quäkern gegen Wehrausgaben protes- Eine besondere zivilisatorische Leistung tierten, während die meisten Deutschen, war die seit 1742 von den Brüdern unter- die oft an der Siedlungsgrenze lebten, mit haltene Druckerei. Das Papier und andere den englischen Gegnern der Quäker sich für den Buchdruck benötigte Materialien während des French und Indian War (1754– wurden sämtlich selbst hergestellt. In einer 1763) für Steuern zur Unterhaltung von

17 Der Blutige Schau Platz oder Märthyrer Spiegel, Ephrata in Pensylvanien 1748, Slg. H. Schmahl

Truppen aussprachen. Das gleiche Verhal- Kirchensprache übernommen und es kam tensmuster fand sich auch später im Revo- zu einer wachsenden Zahl interethnischer lutionskrieg. Während die Mennoniten für Ehen.34 Städtische Kirchen führten relativ Neutralität plädierten, standen die meisten bald Englisch als Gottesdienstsprache ein. übrigen Deutschen auf der Seite der auf- Sogar in Lancaster, das im Zentrum eines ständischen Kolonisten. ländlichen deutschen Siedlungsgebietes Die deutsche Einwanderung kam mit der lag, wurden 1815 englischsprachige Got- Revolution praktisch zum Stillstand und tesdienste eingeführt, obwohl bis 1851 war auch nach der Unabhängigkeit der USA auch auf Deutsch gepredigt wurde. Ein mehrere Jahrzehnte gering. Der Grund hier- ähnlicher, jedoch langsamer Prozess voll- für war, dass der transatlantische Verkehr zog sich in den ländlichen Siedlungen au- durch verschiedene kriegerische Ereignis- ßerhalb Pennsylvanias von New York bis se stark beeinträchtigt war. Während die- Georgia, so dass bis zum Bürgerkrieg die ser Zeit, als kaum noch Neueinwanderer in der Kolonialzeit gegründeten Kirchen- kamen, schritten in den Städten und Gebie- gemeinden den Übergang zum Englischen ten, in denen Deutschstämmige nicht die vollzogen hatten. Lediglich in ländlichen Bevölkerungsmehrheit stellten, Akkultura- Gebieten Pennylvanias, wo die Deutschen tion und Assimilation rasch voran. Sogar die ersten Siedler gewesen waren und vor der Revolution hatten viele Bewohner durch den Wegzug der Iroschotten oft die Germantowns Englisch als Verkehrs- und Notwendigkeit entfallen war, Englisch zu

18 lernen, entwickelte sich eine stabile eth- novationen sich allgemein durchgesetzt. nische Kultur. Dennoch führten englische So ist der klassische, aus zahlreichen Wes- Einflüsse mitunter auch in diesem Raum da- tern bekannte Planwagen (Conestoga Wa- zu, dass Familiennamen anglisiert wurden. gon) in Lancaster aus dem aus Deutschland Oft ist der deutsche Ursprung noch zu er- bekannten Bauernwagen entwickelt wor- kennen wie bei Stouffer (Stauffer), Penny- den.36 Dieses Fahrzeug trug maßgeblich packer (von Pfannebecker), Keifer (von Kie- zur Kolonisierung der westlichen Teile Nor- fer), Rodenbough (Rodenbach), Harbaugh damerikas bei. Pennsylvanischdeutschen (von Herbach), bei anderen ist er schwieri- Ursprungs ist ebenfalls ein Wetterritual, ger auszumachen, z.B. bei dem mennoniti- das durch die Filmkomödie „Und täglich schen Familiennamen Krehbill, der zu Gre- grüßt das Murmeltier“ (Groundhog Dog, bill, Grabkill und schließlich Graybill wur- 1993) auch in Deutschland bekannt wur- de. Bei den Familiennamen Doverspike und de. Am 2. Februar jedes Jahres (Lichtmess) Germantown würde man ebenfalls bei ers- wird in Punxsutawney traditionell eine Vor- ter Betrachtung nicht auf einen deutschen hersage über das Fortdauern des Winters Ursprung schließen. Dennoch handelt es getroffen.37 Hierzu wird öffentlich ein Wald- sich um die noch im 18. Jahrhundert er- murmeltier zum ersten Mal im Jahr aus sei- folgten Anglisierungen der Familiennamen nem Bau gelockt. Wenn Punxsutawney Phil Daubenspeck (aus Freinsheim) und Ger- seinen Schatten sieht, soll der Winter noch mendung (aus Flomborn). weitere sechs Wochen dauern. Die Pennsylvaniadeutschen waren in ei- Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts entwi- nem ländlichen Gebiet, das größer als die ckelte sich als kennzeichnendes Element Schweiz ist, 35 so zahlreich, dass sich eine der pennsylvanischdeutschen Kunst die eigenständige Kultur herausbildete. Spra- Frakturmalerei.38 Nach europäischen Vor- che, Essen, Architektur, Volkskunst, Fes- bildern zeichneten insbesondere Schul- te und andere Bereiche stellten eine Ver- lehrer Taufscheine, Haussegen und Besitz- schmelzung deutscher Traditionen mit eng- vermerke in Büchern, die sie mit Vögeln, lisch-amerikanischen Elementen dar. Diese Herzen, Engeln und Tulpen verzierten. Im Kultur ist in Amerika auch unter dem irre- 19. Jahrhundert wurden gedruckte Formu- führenden Namen ‚Pennsylvania Dutch Cul- lare von Taufscheinen gebräuchlich, die ture’ bekannt. Dutch bezieht sich hier nicht nur noch ausgefüllt und koloriert werden auf die englischsprachige Bezeichnung mussten. Frühe handgemalte Frakturen, et- für die Niederlande, sondern auf den früh- wa aus dem Kloster Ephrata, zählen heute neuzeitlichen englischen Begriff, der alles zu der am höchsten bezahlten Volkskunst Deutsche damit umfasste. Nordamerikas. Das Pennsylvania German, ein Dialekt mit pfälzischen, schwäbischen, schweizeri- schen und englischen Elementen (näheres hierzu im Aufsatz von Michael Werner in diesem Band), ist neben dem Englischen, dem Spanischen und dem Kreolischen die einzige Sprache mit europäischen Wurzeln, die sich über mehrere Jahrhunderte be- hauptet hat. Es wird heute hauptsächlich noch von den Angehörigen amischer Grup- pen verwendet, Täufer, die für ihre traditi- onelle Lebensweise bekannt sind. Obwohl den Pennsylvaniadeutschen oft ihre Starr- köpfigkeit und konservative Grundhaltung vorgeworfen wurden, haben einige ihrer In-

19 Geburts- und Taufschein für Meri Enn Rißmiller, 1860, kolorierter Holzschnitt, Slg. H. Schmahl

20 Teil II: Die Auswanderung im 19. Jahrhun- der Auswanderung.42 Spitzenwerte mit je- dert weils einer Million Emigranten wurden 1846–1857 und 1864–1873 erreicht. Nach Verlauf und Umfang der Reichsgründung, zwischen 1880 und Im 19. Jahrhundert entwickelten sich die 1893, gingen sogar mehr als 1,8 Millionen Vereinigten Staaten, das „Land der Frei- Deutsche in die USA. Das Gebiet des heuti- heit“, zum weitaus beliebtesten Ziel deut- gen Rheinland-Pfalz war vor allem von den scher Einwanderer. Im Gegensatz zu ersten beiden Auswanderungswellen be- Deutschland, das bei eher geringen Res- troffen, während es sich bei den Wegzügen sourcen einen Überschuss an Arbeitskräf- im Kaiserreich vorwiegend um Angehörige ten hatte, mangelte es in den rasch empor unterbäuerlicher Schichten aus dem ostel- strebenden USA an arbeitsfähigen Men- bischen Raum handelte, wo sich zuvor die schen. Darüber hinaus übte die Neue Welt Auswanderungslust in engen Grenzen ge- eine starke Anziehungskraft vor allem auf halten hatte.43 Nach 1890 spielte die Ame- junge Menschen aus. Ihr Wissensstand war rikaauswanderung reichsweit keine große oft spärlich, umso phantasievoller stellten Rolle mehr, da aufgrund der fortgeschrit- sich viele eine „goldene Zukunft“ in den tenen Industrialisierung ein größeres Ar- Vereinigten Staaten vor. Zwischen 1820 beitsplatzangebot bestand. und 1930 ließen sich dort rund 90% der rund sechs Millionen deutschen Immigran- Wirtschaftliche und soziale Hintergründe ten nieder.39 Sie gehörten zu den größten Für den deutschen Massenexodus des 19. Einwanderergruppen. Andere Länder wie Jahrhunderts waren ebenso wie im Jahr- Brasilien, Argentinien, Australien, Algeri- hundert zuvor die misslichen wirtschaft- en und Rußland standen nur zeitweise im lichen Verhältnisse von Kleinbauern, Ge- Zentrum des Interesses deutscher Auswan- werbetreibenden und Handwerkern ver- derer, vor allem, wenn Werbung für diese antwortlich, die durch Ernteausfälle und Gebiete betrieben wurde oder die Vereinig- Teuerungskrise oft prekäre Ausmaße an- ten Staaten vom Bürgerkrieg oder von Wirt- nahmen. Eine entscheidende Rolle spiel- schaftskrisen betroffen waren. te hierbei das rasche Bevölkerungswachs- Erstmals setzte die Auswanderung im „Hun- tum, das spätestens seit der französischen gerjahr“ 1817 in nennenswertem Ausmaß Zeit zu beobachten war. So stieg die Bevöl- ein. Als Missernten zu stark gestiegenen kerung Rheinhessen zwischen 1816 und Getreidepreisen und Hungerskrisen führ- 1834 von 158.035 auf 205.320, was einer ten, übersiedelten rund 20.000 Menschen Zunahme von 29% innerhalb einer Genera- nach Osteuropa bzw. in die Vereinigten tion entsprach.44 Ein gleich hohes Wachs- Staaten.40 Wie nicht anders zu erwarten, tum war in der benachbarten Rheinpfalz zu war vor allem der südwestdeutsche Raum verzeichnen, wo 1816 430.410 Menschen betroffen, wo im Gegensatz zu anderen Re- lebten, 1834 jedoch bereits 554.932.45 Die- gionen Deutschlands Fernwanderungen ei- se Entwicklung war auf eine Steigerung der ne lang etablierte Tradition hatten. landwirtschaftlichen Produktion und eine In den 1820er Jahren blieb die Auswande- durch verbesserte medizinische Betreuung rung nach Nordamerika gering, statt des- gesunkene Sterberate zurückzuführen.46 sen wanderten zahlreiche Bauern und Die in den meisten Landesteilen verbreite- Handwerker aus dem Hunsrück und sei- te Realteilung, die alle Erben gleichstellte, nen Nachbargebieten in das seit 1822 un- war von der napoleonischen Gesetzgebung abhängige südamerikanische Kaiserreich bestätigt worden, und führte aufgrund des Brasilien aus, das eine eifrige Werbetätig- steigenden Bevölkerungsdrucks in den keit entfaltete.41 Anhaltende Wirtschafts- kommenden Jahrzehnten zu einer bedenk- krisen führten seit den frühen 1830er Jah- lichen Aufsplitterung der landwirtschaftli- ren zu einem kontinuierlichen Anwachsen chen Nutzfläche.47 Bereits in 1817 entfie-

21 len auf jeden ländlichen Haushalt Rhein- terstützung von sich abzuwenden, indem hessens durchschnittlich 3-4 ha Grundbe- sie zahlreiche unbemittelte Familien auf ih- sitz. Knapp zwei Jahrzehnte später hatte re Kosten nach Amerika schickten und für die Besitzzersplitterung noch besorgnis- ihre Schulden aufkamen.51 Auf diese Wei- erregendere Ausmaße angenommen. 1834 se wurden die rheinhessischen Altrheinge- bewirtschafteten in Alsheim bei Worms meinden Gimbsheim und Eich in den Jahren 41%, in Gau-Odernheim 76%, im Mombach zwischen 1848 und 1851 226 bzw. 168 Per- bei Mainz gar 86% der landwirtschaftlichen sonen los. Die kleine Gemeinde Sespenroth Betriebe unter 2,5 ha Feld. In Orten, wo im Gelbachtal in der Nähe von Montabaur Weinbau oder andere Sonderkulturen eine löste sich gar 1853 auf, nachdem ihre sämt- Rolle spielten, boten solch kleine Betriebe lichen 48 Bewohner ihren Besitz verkauft oft ein ausreichendes Familieneinkommen, hatten und nach Milwaukee ausgewandert in reinen Ackerbaugemeinden jedoch nicht. waren.52 Zur gleichen Zeit zog fast die ge- Viele Kleinbauern arbeiteten daher im Tag- samte Einwohnerschaft des 85 Seelen zäh- lohn oder als Handwerker. lenden Weilers Allscheid im Kreis Daun in Neben der Realteilung führten einige Er- die USA.53 Auch die wesentlich größere pfäl- rungenschaften aus französischer Zeit, die zische Gemeinde Schopp (südlich von Kai- auch nach 1815 als so genannte „Rheini- serslautern) trug sich 1852 mit dem Gedan- sche Institutionen“ Fortbestand hatten, ken einer vollständigen Übersiedlung nach zu einer Verschärfung der wirtschaftlichen Nordamerika, was jedoch von der Kreisre- und sozialen Lage.48 Aufgrund der Gewer- gierung in Speyer abgelehnt wurde.54 befreiheit waren zahlreiche Handwerksbe- rufe überbesetzt, insbesondere in der Tex- Sonstige Auswanderungsgründe tilindustrie, die unter englischen Billigim- Wirtschaftliche Faktoren stellten den wich- porten sowie unter der zunehmenden Me- tigsten, aber nicht einzigen Grund für Aus- chanisierung zu leiden hatte. Viele Klein- wanderungen dar. Politische Motive, ins- bauern und Handwerker mussten sich als besondere Unzufriedenheit über die obrig- Taglöhner oder Saisonarbeiter verdingen. keitsstaatlichen Verhältnisse, spielten mit- Bis zur Gründung des Deutschen Zollver- unter auch eine wichtige Rolle, insbeson- eins 1834 stellten die Binnenzölle ein gro- dere bei den Auswanderungsbewegungen ßes Hemmnis für den Export von Wein, Ge- nach dem Hambacher Fest 1832 und nach treide und anderen Produkten in andere der gescheiterten Revolution von 1848.55 deutsche Staaten dar. Zwar betrug die Zahl der „Achtundvierzi- Zu einer weiteren Verschlechterung der so- ger“ lediglich ein Hundertstel der deut- zialen Lage breiter Bevölkerungsschichten schen Immigranten in den 1850er Jahren, kam es in den 1840er und 1850er Jahren, es handelte sich bei ihnen jedoch um An- dem Zeitalter des „Pauperismus“ (latei- gehörige einer bildungsbürgerlichen Elite, nisch pauper = Armer).49 Nach den Miss- die in den USA einen „kaum zu überschät- ernten der Jahre 1846 und 1853 kletter- zenden Einfluss auf die deutschamerikani- ten die Preise für Grundnahrungsmittel wie sche Presse und Politik“56 gewann. Die gro- Brot und Kartoffeln um ein Vielfaches. In ße Bedeutung, die diesem Personenkreis vielen Gegenden kam es zu Hungersnöten, heute in der rheinland-pfälzischen Erinne- die durch staatliche Maßnahmen wie die rungskultur beigemessen wird, ist darauf verbilligte Abgabe von Lebensmitteln an zurückzuführen, dass es relativ viele der Bedürftige oder Bauprojekte kaum gelin- Emigranten vermochten, wichtige Positi- dert werden konnten.50 Ein Indiz für die gro- onen im wirtschaftlichen, politischen und ße Armut, die vielerorts herrschte, sind die kulturellen Leben der Vereinigten Staaten Abschiebeaktionen zahlreicher Gemein- zu bekleiden. den. Manche Dorfvorstände versuchten in Auch religiöse Motive spielten im 19. Jahr- den Jahren um 1850, die Last der Armenun- hundert für die Auswanderung aus dem

22 Emigrations vers l’Ouest, kolorierter Stahlstich, um 1850, Slg. R. Paul

heutigen Rheinland-Pfalz keine nennens- Die Reise – Haltung des Staates zu Aus- werte Rolle mehr. Allenfalls während des wanderungen Kulturkampfes in den 1870er Jahren war Auch im 19. Jahrhundert war die Entschei- mancherorts unter Katholiken eine erhöh- dung zur Auswanderung ein schwerwie- te Wegzugsbereitschaft zu verzeichnen.57 gender Schritt, der gut überlegt und vor- Die häufige Auswanderung von Juden dürf- bereitet sein musste. Meist parallel zur Be- te aufgrund ihrer aus napoleonischer Zeit antragung einer Auswanderungserlaubnis herrührenden Emanzipation hauptsächlich veräußerten die Wegziehenden ihren Be- nicht auf religiöse, sondern ökonomische sitz und schlossen mit einem Agenten ei- Motive zurückzuführen sein. Einige Juden nen Vertrag, der ihre Seereise regelte.59 aus Rheinland-Pfalz gelangten in Amerika Die Beförderung von Auswanderern war im zu Berühmtheit, wie der Bankier und Politi- 19. Jahrhundert ein lukratives Geschäft. Al- ker Aron (August) Belmont aus Alzey. le bedeutenden deutschen, französischen, Neben den bereits erwähnten Ursachen gab niederländischen, belgischen und engli- es noch eine Reihe persönlicher Motive, die schen Reedereien waren an ihr beteiligt.60 Menschen bewogen, sich von der Heimat Mainz, Koblenz und seit der Jahrhundert- zu lösen. Furcht vor Strafverfolgung, Aben- mitte auch Ludwigshafen waren aufgrund teuerlust, mehrjähriger Militärdienst und ihrer günstigen Verkehrslage Sitz zahlrei- Streit mit Angehörigen gehören ebenso da- cher in- und ausländischer Schiffsagentu- zu wie der Schritt entlassener Strafgefan- ren. Den bedeutendsten Anteil an der Aus- gener oder auch lediger Mütter, den sozia- wanderungsbeförderung hatte zeitweise len Makel durch Auswanderung von sich zu die 1845 in Mainz gegründete Agentur des streifen.58 Engländers Washington Finlay, der Vertre-

23 Havre, Stahlstich um 1850, Bibl. Inst. Hildesheim, Inst. für Pfälzische Geschichte und Volkskunde

ter der amerikanischen Paketschiffe von Le Die Einstellung der einzelnen deutschen Havre nach New York und New Orleans war. Staaten gegenüber der Auswanderung war Wegen der großen Nachfrage zählte sein unterschiedlich. Zwar war in allen Staa- Unternehmen schon bald 66 Unteragentu- ten des Deutschen Bundes das Recht auf ren in Süddeutschland und im Rheinland. Wegzug verbürgt, falls keine Verpflichtun- Meist waren die Unteragenten Handelsleu- gen bzw. Verbindlichkeiten gegenüber dem te oder Wirte, die wie ihre Auftraggeber in- Staat bzw. Privatpersonen bestanden. In tensiv Werbung in Zeitungen und Anzeige- den preußischen und bayerischen Gebieten blättern betrieben. Da es immer wieder zu von Rheinland-Pfalz befürchteten die Behö- Übervorteilungen und betrügerischer Wer- ren seit den 1840er Jahren angesichts des bung kam, wurden den Auswanderungsa- Weggangs zahlreicher Arbeitskräfte und genturen von staatlicher Seite strenge Auf- Militärpflichtiger eine Entvölkerung gan- lagen für ihren Geschäftsbetrieb erteilt. zer Landstriche, und sie warnten eindring- Dem Schutz dieser Emigranten dienten lich vor den Risiken, die mit der Auswan- diese Verordnungen nur bedingt, denn sie derung verbunden waren.61 Eine liberalere konnten Prellereien im Ausland nicht Ein- Haltung nahm hingegen die hessen-darm- halt gebieten. städtische Regierung ein, die in der Aus- wanderung ein soziales „Überdruckven-

24 til“ sah. So bezeichnete Innenminister du reichsten Staaten Illinois und Ohio stell- Thil in den 1840er Jahren die rasch wach- ten sie mit 204.000 bzw. 183.000 Einwan- sende Bevölkerung als „das größte Übel, derern die zahlenmäßig stärksten Kontin- an welchem ein Staat leiden kann.“ Seiner gente. Auch waren sie die größte ethnische Einschätzung nach „würde das Großher- Gruppe in wenig dicht besiedelten Land- zogtum glücklicher sein, wenn es gegen strichen, vor allem im unteren Mittleren 100.000 Einwohner weniger hätte“.62 Westen. Aus den weiter nördlich gelegenen Staaten ragt Wisconsin heraus. 162.000 Siedlungsverhalten rheinland-pfälzischer Deutschgebürtige prägten das dortige Be- Einwanderer im 19. Jahrhundert völkerungsbild wesentlich deutlicher als Die Besiedlung der Vereinigten Staaten er- ihre Landsleute in den Nachbarstaaten Io- folgte im 19. Jahrhundert in atemberau- wa (66.000) und Michigan (64.000). Der bendem Tempo. Bis zum weitgehenden westlich des Mississippi gelegene Staat Abschluss der euroamerikanischen Land- Missouri mit der Stadt St. Louis wies mit nahme – 1890 gab die Zensusbehörde be- 114.000 Deutschen ein weiteres beachtli- kannt, dass die USA vollständig besiedelt ches Kontingent auf. seien – folgten Deutsche der allgemeinen Im Süden der Vereinigten Staaten ließen Westwärtsbewegung.63 Die Masse ließ sich sich im 19. Jahrhundert nur wenige Deut- in den Nordatlantikstaaten sowie den west- sche nieder. 1870 lebte lediglich jeder lich angrenzenden Gebieten nieder. Die zwanzigste Deutschgebürtige dort. Das wirtschaftlichen Zentren des Nordostens dortige Klima schreckte viele Einwanderer mit ihrem großen Bedarf an Arbeitskräf- ab, überdies gab es in vielen Gebieten an- ten waren ebenso attraktiv wie das riesige gesichts der mit Sklaven betriebenen Plan- fruchtbare Gebiet des Mittleren Westens, tagenwirtschaft wenig Bedarf an Immig- wo sie in Stadt und Land gleichermaßen zu ranten. Ausnahmen bildeten lediglich Ken- finden waren. Zudem entsprach das Klima tucky mit 30.000 Deutschen, insbesonde- in diesem Teil der USA am ehesten mittel- re in den unmittelbar am Ohio gelegenen europäischen Verhältnissen.64 Bezirken, Texas (24.000) sowie Louisiana 1870, nachdem die Auswanderung aus (19.000). In Texas stellten Auswanderer dem heutigen Rheinland-Pfalz ihren Hö- aus dem Westerwald und der Eifel starke hepunkt überschritten hatte, lebten in den Kontingente.66 New Orleans, die Metropole Staaten an der Atlantikküste rund 630.000 Louisianas, wies eine große Kolonie pfälzi- Deutschgebürtige bzw. 37% ihrer Volks- scher Einwanderer auf, zu der u. a. der Gou- gruppe.65 Den weitaus größten Anteil hier- verneur und Kongressabgeordnete Georg von hatte der Staat New York (317.000 Per- Michael Hahn (* 1830 Landau) zählte. Noch sonen), wo jeder fünfte deutsche Einwan- seltener als in den Südstaaten waren Deut- derer ansässig war. In der gleichnamigen sche im Gebiet zwischen den Rocky Moun- Hafenmetropole bevölkerten sie ganze Be- tains und dem Pazifik anzutreffen. Ledig- zirke (Little Germanies), und sie stellten lich Kalifornien wies mit 30.000 deutschen auch einen Großteil der Bevölkerung der Immigranten 1870 eine beachtliche Zahl aufblühenden Industriestädte am Erieka- auf. nal wie Buffalo, Rochester und Syracuse. Pennsylvania blieb ebenfalls ein beliebtes Wanderungsformen: Die Bedeutung der Ziel deutscher Immigranten, dort betrug Kettenwanderung 1870 ihre Zahl 160.000 Personen. Der An- „ […] nur wenige Jahre vergingen, da drang teil der dortigen deutschstämmigen Bevöl- aus den jungen Kolonien die Nachricht in kerung war jedoch bedeutend höher. das alte Vaterland, wie wohl es den einst 937.000 Personen, mehr als die Hälfte der Armen und Elenden im neuen Lande ge- deutschen Einwanderer, lebten 1870 im he, wie sie ein eigen Hab und Gut bewirt- Mittleren Westen. In den bevölkerungs- schafteten; wie sie mit jedem Axtschlag,

25 den sie führten, mit jeder Furche, die sie ze niederließ. Briefe des ehemaligen Förs- zogen, den mühsam errungenen Besitz ters animierten bereits ein Jahr später Be- befestigten; wie sie nicht mehr unter der wohner seines langjährigen Wohnortes Leitung von vornehmen Herren standen, Guntersblum und der Nachbardörfer zur sondern selbstdenkend und selbstbe- Übersiedlung nach Wisconsin. In den kom- stimmend im freien Lande schalteten. Die menden Jahren wurde das Gebiet zum be- Sehnsucht nach wirthschaftlicher, religiö- vorzugten Ziel zahlreicher Emigranten aus ser und in manchen Fällen politischer Selb- der Gegend zwischen Oppenheim, Wörr- ständigkeit hatte die ersten Pioniere in das stadt und Alzey. In manchen Dörfern hielt Land gezogen. Nun, da sie ihr Ziel erreich- die Auswanderung über ein Jahrzehnt an, ten, folgte der Verwandte dem Verwandten, mitunter wurden ganze Verwandtschafts- der Freund dem Freunde, der Nachbar dem kreise verpflanzt. Zunächst siedelten die Nachbar, der Landsmann dem Landsmann Rheinhessen vor allem nordwestlich von in das vielversprechende und viel haltende Milwaukee in Washington County, wo es ih- junge Land.“67 nen in den 1840er Jahren gelang, ein rela- Als Wilhelm Hense-Jensen diese Zeilen tiv geschlossenes Siedlungsgebiet in vier 1900 schrieb, hatte die deutsche Einwan- Townships zu bilden. Viele Familien profi- derung weitgehend ihr Ende gefunden. Sei- tierten von günstigen Landverkäufen der ne Charakterisierung zeigt trotz ihres ver- amerikanischen Regierung. Als das An- klärenden Grundtenors, dass die Auswan- gebot an Regierungsland in Washington derung im 19. Jahrhundert oft keine Reise County knapp wurde, zogen neu ankom- ins Ungewisse war. Viele Immigranten, ins- mende Rheinhessen seit 1847 in das rund besondere in neu besiedelten Gebieten, 50 Kilometer nordöstlich gelegene Town- wo Land günstig zu erwerben war, suchten ship Rhine in Sheboygan County. Lands- die Nähe von Landsleuten und ließen sich leute, die zuvor einige Jahre in Germantown in Gruppenansiedlungen nieder.68 Viel- gelebt hatten, schlossen sich ihnen an, so fach erhielten diese Settlements ihre Prä- dass Rhine den Charakter einer Tochterko- gung durch Kettenwanderungen, die sich lonie von Germantown erhielt. Auch in Mil- über Jahrzehnte hinzogen. Ein bekanntes waukee, der größten Stadt Wisconsins und Beispiel hierfür ist das östlich von St. Lou- anderswo ließen sich Rheinhessen nieder. is gelegene St. Clair County in Illinois.69 In Um 1860 dürfte ihre Zahl im ganzen Staat Belleville und Umgebung siedelten in den rund 2000 Personen betragen haben. 1830er Jahren die angesehenen, aus Unzu- friedenheit mit den politischen Verhältnis- Organisierte Auswanderung: Das Texas- sen ausgewanderten pfälzischen Familien projekt des ‚Mainzer Adelsvereins’ Engelmann und Hilgard. Ihnen folgten in Die meisten Deutschen zogen im 19. Jahr- den Jahrzehnten bis zum Bürgerkrieg zahl- hundert im Familienverband oder allein reiche weitere Immigranten aus der Pfalz nach Amerika. Dennoch kam es mitunter und Rheinhessen. zur Bildung religiöser oder weltlicher Aus- Andere umfangreiche Kettenwanderun- wanderungsvereinigungen, die Siedlungs- gen aus dem rheinland-pfälzischen Raum projekte in den USA verfolgten. Für das Ge- sind bisher kaum erforscht. Zu den weni- biet des heutigen Rheinland-Pfalz ist hier gen dokumentierten Fällen gehört eine Se- vor allem der Mainzer Adelsverein zu nen- rie von Auswanderungen aus rheinhessi- nen, dessen dilettantische Tätigkeit zur schen Dörfern nach Wisconsin in den Jahr- „größten Katastrophe in der Geschichte zehnten vor dem amerikanischen Bürger- der deutschen Auswanderung“71 führte. krieg.70 Diese Kettenwanderung wurde von Auf Initiative einer in Mainz stationierten Franz Neukirch ausgelöst, der sich 1839 in Gruppe adeliger Offiziere wurde 1842 in der Gegend von Milwaukee an der damali- Biebrich bei Wiesbaden der „Verein zum gen euroamerikanischen Siedlungsgren- Schutze deutscher Einwanderer in Texas“

26 gegründet.72 Ziel war es, die Not der Unter- verstärkt wurden. Viele der Siedler stamm- tanen durch ihre Ansiedlung in Texas, da- ten aus dem Westerwald, insbesondere aus mals eine unabhängige Republik, zu lin- dem Raum Montabaur. Noch um 1900 gab dern. Zugleich sollte die zu gründende Ko- es rund 100.000 deutschsprachige Texa- lonie neue Absatzmärkte für die deutsche ner, vor allem im zentraltexanischen Sied- Wirtschaft eröffnen. Im Mai 1844 schickte lungsgürtel (German Belt) zwischen Austin der ‚Mainzer Adelsverein’ (so die landläu- und San Antonio. fige Bezeichnung), der zwischenzeitlich in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wor- Landwirtschaft der Deutschamerikaner den war, Carl Prinz zu Solms-Braunfels als Jeder vierte erwerbstätige deutsche Ein- ersten Generalkommissar nach Texas. Im wanderer war im 19. Jahrhundert in der Herbst folgten die ersten Auswanderer- Landwirtschaft beschäftigt.73 Wie zur Kolo- gruppen. Doch erst im März 1845 gelang es nialzeit galten sie auch im Mittleren Westen Solms-Braunfels, nahe dem Guadalupe Ri- als besonders gründliche Landwirte. Viele ver ein Stück Land für die ersten Siedler zu Immigranten in neu besiedelten Gebieten kaufen. Er nannte die neue Siedlung Neu- erwarben ihr Gebiet vom amerikanischen Braunfels nach dem oberhessischen Sitz Kongress zum günstigen Preis von 1,25 Dol- seiner Familie. Aufgrund logistischer Pro- lar pro acre (1 acre = 0,40 ha).74 1862 wurde bleme und des ungeschickten Wirtschaf- der Homestead Act (Heimstättengesetz) er- tens des Prinzen drohte das Projekt zu lassen, der den Siedlern gegen eine geringe scheitern. Das Eintreffen weiterer Auswan- Gebühr 16 acres Regierungsland vermach- derer, die kaum versorgt werden konnten, te, falls sie sich dazu verpflichteten, es fünf führte zu noch größeren Problemen. Solms- Jahre lang zu bewirtschaften und zu bewoh- Braunfels’ Nachfolger, der preußische Ver- nen.75 Die Bodenpreise waren für deutsche waltungsjurist Otfried Hans Freiherr von Verhältnisse sehr günstig, allerdings waren Meusebach, vermochte jedoch eine Kata- beträchtliche Mittel für die Anschaffung von strophe abzuwenden. Der Traum von einer Arbeitsgeräten u. ä. notwendig. deutschen Kolonie platzte endgültig 1845, Der Alltag auf einer nordamerikanischen als Texas in die USA aufgenommen wurde. Farm, insbesondere an der Siedlungsgren- Durch die Vermittlung des Vereins kamen ze, unterschied sich grundlegend von dem bis 1847 knapp 7400 Deutsche nach Texas, in einem jahrhundertealten deutschen Dorf. die anfangs erbärmlichste Zustände ertra- Hilfskräfte waren oft rar und teuer, der Kon- gen mussten. Unzählige fielen Seuchen takt zu den oft Meilen entfernt wohnenden zum Opfer oder verhungerten. Allmäh- Nachbarn schwierig. Überdies waren zahl- lich gelang es Meusebach, die Verhältnis- reiche handwerkliche Kenntnisse notwen- se zu stabilisieren. Er gründete 1847 den dig, über die ein Bauer in Deutschland oft Ort Friederichsburg (Fredericksburg) und nicht verfügte. handelte einen Friedensvertrag mit dem Bei der Fruchtfolge und beim Düngen konn- Stamm der einheimischen Comanchen-In- ten sich Farmer auf ihre Erfahrung aus Euro- dianern aus. Dennoch gelang es dem Ver- pa verlassen, ansonsten musste alles neu ein aus Geldmangel nicht, jeder Familie geschaffen und Produkte angepflanzt wer- 130 Hektar Land zur Verfügung zu stellen, den, deren Absatz gesichert war. Dies wird wie vor der Auswanderung versprochen. beim Getreideanbau deutlich, wie die land- Als diese Missstände in Deutschland be- wirtschaftlichen Erhebungen von Washing- kannt wurden, erklärte der ‚Adelsverein’ ton County/Wisconsin – einer unter Immig- alsbald seine Zahlungsunfähigkeit und lös- ranten aus allen Teilen des heutigen Rhein- te sich 1848 auf. land-Pfalz populären Ansiedlungsregion Trotz des Fiaskos entstanden rund um New – für die Jahre 1850 und 1860 deutlich zei- Braunfels und Fredericksburg allmählich gen.76 In der ersten Zeit nach der Ansied- blühende Siedlungen, die durch Zuzüge lung übernahmen deutsche Einwanderer so

27 Ansiedlers Blockhaus, Nordamerica, Stahlstich, um 1850, Bibl. Inst. Hildesheim, Inst. für Pfälzische Geschichte und Volkskunde viel wie nötig an amerikanischen Produkti- Dieser Schritt wurde zunächst von Anglo- onsmethoden und bemühten sich gleich- amerikanern vollzogen, bis zur Mitte der zeitig, ihre traditionelle Anbauweise so 1880er Jahre zogen auch die Deutschen weit wie möglich beizubehalten. Der Wei- des Staates nach. zenanbau war bei ihnen ebenso vorherr- schend wie bei ihren angloamerikanischen Handwerk, Bierbrauerei und Weinbau oder irischen Nachbarn. Trotz der wesent- Handwerker bildeten im 19. Jahrhundert lich schlechteren Vermarktungsmöglich- das größte Kontingent erwerbstätiger deut- keiten von Roggen bestellten deutsche Far- scher Einwanderer. Bei der Volkszählung mer im Gegensatz zu anderen Siedlern be- von 1870 stellten sie 37% der berufstäti- trächtliche Flächen mit ihrem traditionellen gen Deutschamerikaner. Weitere 27% wa- Brotgetreide. Mais und Ahornsirup waren ren in der Landwirtschaft beschäftigt, 23% unbekannte Produkte für die Immigranten, waren Arbeiter und 13% übten Handelsbe- sie begannen jedoch gleich nach der An- rufe aus.77 kunft mit deren Erzeugung, wenn auch in Deutsche Handwerker und gelernte Arbei- wesentlich bescheidenerem Ausmaß als ter genossen in den Vereinigten Staaten im Angloamerikaner. 19. Jahrhundert – und weit darüber hinaus Mit der Zeit näherten sich die Produkti- – einen ausgezeichneten Ruf. Besonders onsgewohnheiten der Gruppen immer wei- häufig waren sie im Nahrungssektor als Bä- ter an. Als die Bedeutung des Weizens aus cker, Metzger und Brauer anzutreffen, da- Wisconsin auf den Märkten nachließ, er- neben galten Schreiner, Zigarrenmacher folgte der Übergang zur Milchwirtschaft. und Schneider als ebenfalls typisch deut-

28 Postkarte, Anheuser-Busch-Brauerei, 1906, Slg. H. Schmahl

sche Handwerke. Weitere deutsche Domä- gloamerikaner, die das Gros der Millionä- nen waren die Berufe des Hoteliers, Saloon- re stellten. Ihren Gewinn investierten vie- besitzers, Friseurs, Malers und Musikers. le Deutsche lieber in Grundbesitz als für Unterrepräsentiert waren Deutschameri- spekulative Unternehmungen. Aufstiegs- kaner bei Tätigkeiten, die ausgezeichnete chancen boten sich Deutschen vor allem englische Sprachkenntnisse und mitunter in Bereichen, in denen sie traditionell über eine akademische Ausbildung erforderten, das beste ‚Know-How’ verfügten, wie etwa wie Arzt, Rechtsanwalt, Lehrer oder Büro- beim Klavierbau, oder für die es einen gro- angestellter. Weibliche Berufstätige waren ßen deutschamerikanischen Absatzmarkt primär als Wäscherinnen, Schneiderinnen gab, wie die Bierproduktion. sowie im Gaststättensektor tätig. Die Bierbrauerei war zweifelsohne der wich- Viele Einwanderer lebten in geordneten fi- tigste Beitrag, den rheinland-pfälzische nanziellen Verhältnissen, „Bilderbuchkar- Einwanderer im 19. Jahrhundert für das rieren“ wie in den Fällen des Holzbarons Wirtschaftsleben der Vereinigten Staaten Frederick Weyerhaeuser aus Nieder-Saul- geleistet haben.78 Die drei größten Braue- heim/Rheinhessen oder des in Speyer ge- reien der USA um die Wende zum 20. Jahr- borenen Eisenbahnmagnaten Henry Villard hundert wurden von Männern aus unserem (ursprünglich Ferdinand Heinrich Hilgard) heutigen Bundesland geleitet: die Anheu- blieben rare Ausnahmen. Viele Deutscha- ser-Busch Brewery in St. Louis, die Pabst merikaner bevorzugten konservative und Brewery und die Schlitz Brewery, beide in bewährte Geschäftsstrategien und waren Milwaukee. weniger risikobereit und innovativ als An-

29 Werbepostkarte, Pabst-Brauerei Milwaukee, 1898, Slg. R. Paul

Die noch heute bestehende Anheuser- importeure John P. Kissinger (aus Selzen) Busch Brewery in St. Louis wurde 1870 von und Adam Orth (aus Eich) regelmäßig zum Braumeister Eduard Anheuser (aus Kreuz- Weinkauf in ihre alte Heimat am Rhein. So nach) und seinem Schwiegersohn Adol- importierte allein Orth zwischen 1857 und phus Busch (aus Mainz-Kastel) gegründet. 1867 104.000 Gallonen (knapp 400.000 Li- Bereits ein Vierteljahrhundert zuvor, 1844, ter) rheinhessischer Weine. Von den zahl- rief der aus dem rheinhessischen Metten- reichen deutschamerikanischen Winzer- heim stammende Philipp Best in Milwau- betrieben, die im 19. Jahrhundert in klima- kee eine Brauerei ins Leben, die sich un- tisch begünstigten Regionen der USA ent- ter seinem Schwiegersohn Frederick Pabst standen, sei stellvertretend das 1876 ge- zu einem landesweiten Konzern entwickel- gründete Weingut der aus Mainz stammen- te. 1858 übernahm der Mainzer Joseph den Brüder Jacob und Frederick Beringer Schlitz ebenfalls in Milwaukee einen Brau- im kalifornischen Napa Valley genannt. Es erbetrieb, der zum Zeitpunkt seines Todes ist das älteste bis heute bestehende Unter- (1875) jährlich 70.000 Barrels (8,4 Millio- nehmen in dieser renommierten Weinbau- nen Liter) Bier produzierte. Es ist kein Zu- region. fall, dass diese und andere Brauer aus den Weinbauregionen des südlichen Rhein- Presse und Literatur land-Pfalz stammten. Einige von ihnen Die Zeitung war in den Vereinigten Staa- hatten vor ihrer Auswanderung das Küfer- ten im 19. Jahrhundert bereits ein Massen- handwerk erlernt und waren daher mit der medium. 1847 schrieb ein rheinhessischer Wein- und Bierproduktion gleichermaßen Auswanderer seinen Verwandten, man tref- vertraut. fe in der Umgebung von Milwaukee kaum Auch im Weinbau und –handel Nordame- einen Farmer, der nicht wenigstens eine rikas spielten Immigranten aus unserem deutschsprachige Wochenzeitung abon- Bundesland eine wichtige Rolle.79 So reis- niert habe.80 ten die in Milwaukee ansässigen Wein-

30 Die deutschsprachige Presse hatte zwei der recht lang gewohnt hier hat, widmet entgegen gesetzte Wirkungen.81 Zum ei- ihm ‚nen langen schoenen Nekrolog das nen verzögerte sie das Erlernen der eng- deutsche Blatt. Tags d’rauf danken dem die lischen Sprache, da man den Inhalt in der Kinder, fuer den ‚Puff’, den man ihm gab, vertrauten Muttersprache lesen konn- wischen sich geruehrt die Augen, und – te. Auf der anderen Seite hatten deutsche bestell’n die Zeitung ab. Und wird die Sa- Zeitungen in den Vereinigten Staaten die che um so boeser, je staerker Kinder sich gleiche Aufmachung wie englischsprachi- vermehren. Auf diese Weise, lieber Leser, ge Blätter und standen meist im Dienst ei- da kommen naemlich wir zu Ehren.“85 ner politischen Partei. Sie dienten der In- Außer dem Zeitungswesen entwickelte sich strumentalisierung der Deutschen für ei- im 19. Jahrhundert auch – trotz einer gro- nen politischen Zweck und noch wichtiger: ßen Zahl von Buchimporten aus Deutsch- Sie machten die Adoptivbürger mit Regie- land – ein recht bedeutendes deutschspra- rungsform, Lebenssitten und Kultur der chiges Buchverlagswesen. Der wichtigste Amerikaner vertraut. So erfreute der „She- deutschsprachige Verlag der Vereinigten boygan National Demokrat“ im September Staaten war die 1862 gegründete George 1861, kurz nach Ausbruch des Bürgerkrie- Brumder Publishing Company in Milwau- ges, seine pfälzischen, hunsrückischen und kee.86 Als Buchhändler und Zeitungsher- rheinhessischen Leser mit einer pennsylva- ausgeber war der aus dem Elsass gebürtige nischdeutschen Nachdichtung des patrioti- Brumder gut mit den Lesegewohnheiten der schen Liedes „Yankee Doodle“.82 Auch an- Deutschamerikaner vertraut. Er publizierte dere deutschsprachige Zeitungen brachten zahlreiche Werke, die speziell für Deutsch- Glossen im pfälzischen Dialekt. amerikaner verfasst wurden und weite Le- Aufgrund der Initiative des aus Edenkoben bensbereiche abdeckten. So druckte er stammenden New Yorker Verlegers Conrad neben religiöser Literatur, Kinderbüchern Voelcker entstanden in den 1880er Jahren und Romanen Sachbücher wie „Der deut- eigene Zeitungen für pfälzische und hes- sche Farmer im Busch und auf der Prairie“, sische Einwanderer, die bis 1917 ausführ- „Hausthierarzt für den amerikanischen Far- lich über das Tagesgeschehen in der alten mer und Viehzüchter“, „Der amerikanische Heimat, z.B. Unglücke, Todesfälle und den Geflügelzüchter“, „Amerikanisches Gar- Stand der Weinernte informierten. „Der tenbuch“, „Praktisches Kochbuch für die Pfälzer in Amerika“ erschien seit 1884, drei Deutschen in Amerika“, „Der unentbehrli- Jahre später wurden die „Hessischen Blät- che praktische Rathgeber“, „Unser Fami- ter“ ins Leben gerufen (seit 1897 mit der lien-Arzt“, „Erlebnisse aus dem Deutsch- „Hessen-Darmstädter Zeitung“ vereint).83 Französischen Krieg 1870–71“ oder „Vier- Im späten 19. Jahrhundert gab es selbst in hundert Jahre amerikanischer Geschichte“. kleinen Siedlungen deutsche Wochenblät- Viele der Bücher aus dem Verlag Brumders ter Es ist dennoch verfehlt, von einer dama- und anderer Pressen erlangten landesweite ligen Blüte des deutschen Pressewesens zu Verbreitung als Prämien für Zeitungsleser, sprechen.84 Bereits seit zwei Jahrzehnten die ihr Abonnement im Voraus bezahlten. kamen nur noch wenige deutsche Einwan- Im 19. Jahrhundert entwickelte sich allmäh- derer ins Land, und immer mehr jüngere Le- lich eine deutschamerikanische Literatur- ser, die Deutschland allenfalls aus Erzäh- szene, die bislang nur in Ansätzen erforscht lungen ihrer Eltern und Großeltern kannten ist.87 Von den zahlreichen Schriftstellern und mit der Sprache nicht mehr recht ver- und Dichtern erreichten nur wenige überre- traut waren, bevorzugten englische Zeitun- gionale Bedeutung, wie der in Landau ge- gen. Deutlich wird dies aus einer deutsch- bürtige Konrad Krez (1828–1897) oder der sprachigen Anzeige des „Milwaukee Sen- Lyriker Konrad Nies aus Alzey (1861–1921). tinel“ 1903. Dort hieß es in holprigen Rei- Eine 1892 erschienene umfangreiche An- men: „Stirbt ein alter deutscher Buerger, thologie deutschamerikanischer Lyriker

31 Stadt- und Land- Calender 1870, Philadelphia Pa., Slg. H. Schmahl

32 führt außer den genannten folgende Dich- ter auf, die im heutigen Rheinland-Pfalz ge- boren wurden: Ludwig August Wollenweber (geb. 1807 Ixheim bei Zweibrücken), Emil Dietzsch (geb. 1829 Trippstadt bei Kaisers- lautern), Henricus vom See (geb. 1837 Nier- stein), August Steinlein (geb. 1823 Trier), Julius Loeb (geb. 1822 Edenkoben), Fried- rich Grill (geb. 1838 Kusel), Jakob Heintz (geb. 1833 Alzey), Max Eberhardt (geb. 1843 Germersheim), Wilhelm Keilmann (geb. 1845 Hechtsheim bei Mainz).88

Vereinswesen Ebenso wie in Deutschland schlossen sich viele Immigranten in den USA zu Vereinen zusammen. Man pflegte die Geselligkeit unter Landsleuten und ging gemeinsamen Neigungen nach. Hauptsächlich handelte es sich hierbei um Turn-, Gesang- und Un- terstützungsvereine.89 In den deutschen Stadtvierteln von New York, Milwaukee, Cincinnati, St. Louis entstanden weiterhin Vereinigungen, die sich dem Theater-, Mu- sik- und Bildungswesen widmeten. Initia- toren waren oft Intellektuelle, die Deutsch- land nach dem Scheitern der Revolution von 1848 verlassen hatten.

Ev. L. G. Krankenunterstützungsverein Sheboggan, Wisconsin, gegründet 1919, Abzeichen, Slg. H. Schmahl

Besonders landsmannschaftliche Vereine boten Neuankömmlingen gute Möglichkei- ten zur Integration. Das Spektrum reich- te vom Rheinpfälzer Volksfestverein New York über den Mainzer Carnevalsverein von New York, den Rheinpfälzischen Unterstüt- zungsverein Cincinnati bis hin zum Pfälzer Bund von St. Louis.90 Die von ihnen veran- stalteten bierseligen Feste wie der Dürkhei- mer Wurstmarkt oder die Edesheimer Ker- we in Milwaukee erfreuten sich großer Be- liebtheit.91 Vereine und Feste trugen maßgeblich zur Entstehung eines deutschamerikanischen Blecheimer mit Aufdruck, COLUMBIA Turnverein, Bewusstseins bei. So stellte Franz Löher Columbia Ill., 1866, Slg. H. Schmahl 1847 in Hinblick auf Cincinnati, wo Pfälzer

33 eine Hauptgruppe der deutschen Bevölke- fall in dem Land geboren worden waren. rung darstellten, fest: „Allen Deutschen, Der Nationalfeiertag diente manchen Im- nicht nur in Ohio, sondern im ganzen Staa- migranten dazu, ihren Patriotismus für die tenbunde, leuchten ihre Landsleute zu Cin- Wahlheimat mitunter provokativ unter Be- cinnati vor, bei diesen ist das deutsche Le- weis zu stellen. ben am regsten und am fröhlichsten. Da sie Die von der angloamerikanischen Bevölke- sie ihre weitgedehnten Stadttheile für sich rung abweichenden Lebensformen deut- bilden, so fühlen sie kein Bedürfniß und scher und irischer Einwanderer, Konkur- keine Eitelkeit, mit den Englischen anders renzneid auf dem Arbeitsmarkt und vor al- als in Geschäften und Stadtangelegenhei- lem ihre Zugehörigkeit zur katholischen ten zu verkehren.“92 Kirche (rund ein Drittel der Deutschen in den USA waren katholisch) führten unter Nativismus und Politik Teilen der einheimischen Bevölkerung zu Die starke Präsenz deutscher Einwanderer Überfremdungsängsten und zur Forderung wurde von vielen alteingesessenen Anglo- nach Beschränkung der Einwanderung. Ih- amerikanern mit immer größerer Sorge ge- ren Höhepunkt erreichte die fremdenfeind- sehen.93 Die Nachfahren der Puritaner ge- liche Stimmung Anfang der 1850er Jahre, hörten verschiedenen protestantischen Kir- als die American Party (Know-Nothing-Par- chen an und legten großen Wert auf stren- ty) mit dem Motto „Wessen Land ist dies ge Sonntagsheiligung. Viele von ihnen wa- eigentlich?“ („Whose country is that any- ren Anhänger der Abstinenzbewegung und way?“) beachtliche Wahlerfolge verbuchen forderten das Verbot des Verkaufs alkoholi- konnte. In vielen Städten mit starker deut- scher Getränke. Ihre Lebens- und Denkwei- scher oder irischer Präsenz kam es zu Aus- se unterschied sich in vieler Hinsicht von einandersetzungen, beispielsweise bei ihren deutschen Nachbarn, daher muss- den „Bierkrawallen“ (beer riots) in Chicago te es zu zahlreichen Vorurteilen auf bei- 1855, wo es zu Tumulten zwischen ameri- den Seiten kommen. Deutsche wurden von kanischen Polizisten und deutschen Immi- den Yankees als sparsam und fleißig ein- granten kam, die eine Beschneidung ihres gestuft. Als Handwerker und Farmer waren Rechtes auf Bierkonsum fürchteten.94 Mit- sie geschätzt. Mit Missfallen wurde jedoch unter kam es sogar zu Fällen von Lynch- zur Kenntnis genommen, dass viele Deut- justiz, wie in West Bend/Wisconsin, wo im sche den Sonntag eher zur Erholung als zur gleichen Jahr mehrere Deutsche Lynchjus- Erbauung nutzten und sie in ihren zahlrei- tiz an einem nativistischen Angloamerika- chen Gaststätten dem Alkohol in geselliger ner verübten, der wiederum einen Deut- Runde zusprachen. schen getötet hatte.95 Die Charaktereigenschaften des Yankees Der politische Einfluss der Know-Nothings aus deutscher Sicht lassen sich am besten war nur von kurzer Dauer, dennoch blieben mit dem Wort smart umschreiben. Dieses zahlreiche Vorurteile gegen deutsche Im- Adjektiv hat zahlreiche Bedeutungen, die migranten bestehen. Viele Deutsche zeig- sich die Angloamerikaner zum Teil selbst ten Jahrzehnte nach ihrer Einwanderung zuschrieben wie intelligent, geschickt, wenig Neigung, die englische Sprache zu flink und schlagfertig. Deutsche dachten lernen und ihren von vielen Angloamerika- jedoch eher an negative Konnotationen nern als anstößig empfundenen Lebensstil des Wortes, wie geschäftstüchtig und ge- zu ändern. Ethnisch geprägte Viertel, wie rissen. Viele deutsche Einwanderer hatten „Little “ in New York oder „Over eine weit höhere Achtung für das amerika- the Rhine“ in Cincinnati, deutsche Schulen, nische Regierungssystem als für die Ame- Zeitungen und Kirchengemeinden erleich- rikaner selbst. Mitunter behaupteten sie, terten den Immigranten zwar die Integra- die Ideale des Landes besser zu verstehen tion, zugleich wurden sie jedoch als „Zei- als die Einheimischen selbst, die durch Zu- chen mangelnder Anpassungsbereitschaft

34 und als Rückzug in eine vermeintlich homo- rikaner als Schock, er stellte jedoch weni- gene ethnische Kultur verstanden“96 ger eine spontane „Abkehr von einer eth- Die Masse der deutschen Einwanderer nischen Identität als vielmehr eine starke identifizierte sich mit den beiden großen Beschleunigung eines Verfallsprozesses“99 amerikanischen Parteien. Kleine Gruppen dar. von Achtundvierzigern und späterer Immi- granten, die aufgrund von Bismarcks ‚So- zialistengesetz’ auswanderten, wurden je- 1 Nachstehende Angaben zur kurpfälzischen Lan- doch von Angloamerikanern mit Argwohn desgeschichte stützen sich, wenn nicht anders betrachtet, da sie sozialistische Ideen ver- angegeben, auf Schaab 1992, S. 121-122. breiteten, die als unvereinbar mit den ame- 2 Vgl. Scherer, „ist in Pennsylvanien gezogen sein rikanischen Grundwerten betrachtet wur- Glück zu machen.“ – Eine Skizze zur Geschichte der pfälzischen Auswanderung nach Nordameri- 97 den. Ihren Höhepunkt erreichten ameri- ka im 17. und 18. Jahrhundert. In: Paul/Scherer kanische Vorurteile gegen deutsche poli- 1995, S. 16. tische Aktivisten 1866 in der sogenannten 3 Vgl. Scherer 1981, Skizze, S. 18-19. 4 Haymarket-Affäre in Chicago, als deutsche Gemeindearchiv Gau-Odernheim (aufbewahrt im Archiv der Verbandsgemeinde Alzey-Land), Abt. Anarchisten beschuldigt wurden, Polizis- VI, Fasz. 1, Bericht vom 22.4.1709 (folgendes Zi- ten mit Bomben getötet zu haben. Sie wur- tat ebd.). den – obwohl Beweise fehlten – in einem 5 Grundlegend zur Auswanderung von 1709: Otter- Schauprozess zum Tode verurteilt und hin- ness 2004. 6 Zu Harrsch vgl. Karl Scherer: Josua Harrsch alias gerichtet. Kocherthal – Der Führer in das „neue Kanaan“. In: Paul/Scherer 1995, S. 152-156. Schluss 7 Ein Faksimiledruck der 1709 in Frankfurt erschie- Um die Wende zum zwanzigsten Jahrhun- nenen vierten Auflage wurde 1983 in Neustadt/ Weinstraße aufgelegt. dert stellten deutsche Einwanderer und 8 Vgl. Scherer 1981, Skizze, S. 22. ihre Kinder zehn Prozent der US-Bevöl- 9 Vgl. Otterness 2004, S. 37-40. kerung. Die meisten Immigranten waren 10 Vgl. die Karte in Otterness 2004, S. 44. Eine aus- schon seit Jahrzehnten im Land, und es gab führliche genealogische Untersuchung der einzel- nen Auswandererfamilien bietet Jones 1985. kaum noch Zuzüge aus Deutschland, die 11 Vgl. Otterness 2004, S. 83-92; 111-114. dem ethnischen Gemeinschaftsleben hät- 12 Vgl. Scherer 1981, Skizze, S. 24-26. te neue Impulse geben können. Die Hete- 13 Zu den unterschiedlichen Schätzungen vgl. Con- rogenität der Deutschamerikaner, ökono- zen 1980, S. 407; Pfister 1994, S. 54. 14 Vgl. Pfister 1994, S. 56-57. mische Integration und die fortgeschritte- 15 Vgl. Horst Gerlach: Mennoniten in Rheinhessen. ne Akkulturation führten insbesondere in In: Alzeyer Geschichtsblätter 18 (1983), S. 27. städtischen Gebieten zum Verfall der Iden- 16 Vgl. Agnes Bretting: Mit Bibel, Pflug und Büchse: tität. Zahlreiche deutschsprachige Zeitun- deutsche Pioniere im kolonialen Amerika. In: Ba- de 1992, S. 139. gen stellten ihr Erscheinen ein, und im- 17 Vgl. Fogleman 1996, S. 101-126. mer weniger Gottesdienste wurden in der 18 Nachstehende Angaben, wenn nicht anders ange- Sprache Luthers gehalten. Organisationen geben, bei Conzen 1980, S. 407. 19 wie der Deutsch-Amerikanische National- Ausführlich hierzu: Brinck 1993. 20 Vgl. Helbich / Haubold 1988, S. 31. bund bemühten sich, den Wandel zu stop- 21 Vgl. Grabbe 2000, S. 98-105. pen, ihr „kultureller Chauvinismus“ 98, ins- 22 Zu den „Neuländern“ vgl. Hippel 1984, S. 67. besondere ihr „Glaube an eine vermeintlich 23 Ausführlich zum Redemptioner-System: Bailyn überlegene deutsche Kultur“ wurde jedoch 1986, S. 172-174. 24 Zit. nach: Solbach 1992, S. 36- von den meisten Amerikanern deutscher 25 Vgl. Conzen 1980, S. 409. Abstammung mit Gleichgültigkeit wahrge- 26 Vgl. Conzen 1980, S. 407. nommen. Der Eintritt der USA in den Ersten 27 Vgl. Conzen 1980, S. 407. 28 Weltkrieg im April 1917, in dem alles Deut- Vgl. Conzen 1980, S. 409. 29 Vgl. Wittke 1957, S. 12-18. sche als landesverräterisch unter Verdacht 30 Zu Ephrata vgl. Jeff Bach: Voices of the Turtle gestellt wurde, kam für viele Deutschame- Doves: The Sacred World of Ephrata. University

35 Park/PA 2003. Die nachstehenden Angaben zu 69 Vgl. Paul, Auswanderungen, S. 66-67. den Gimbsheimer “Erweckten” und ihrer Ansied- 70 Die nachstehenden Angaben beziehen sich auf lung in Ephrata stammen aus: Schmahl 2005, S. Schmahl 2000, S. 109-147. 17-36. 71 Helbich/Kamphoefner/Sommer 1988, S. 15. 31 Scherer 1981, Skizze, S. 29. 72 Die nachstehende Darstellung folgt im wesentli- 32 Zu Müller vgl. Scherer 1981, Skizze, S. 32. chen Winkel 1969, S. 348-372. 33 Vgl. Conzen 1980, S.409. 73 Vgl. Christiane Harzig: Lebensformen im Einwan- 34 Vgl. Conzen 1980, S. 409. derungsprozeß. In: Bade 1992, S. 161. 35 Vgl. Yoder 1980, S. 770. 74 Vgl. Schmahl 2000, S. 143. 36 Vgl. Yoder 1980, S. 771. 75 Vgl. Harzig, Lebensformen, S. 163. 37 Überblickswerk zum Thema: Yoder 2003. 76 Ausführlich zur Landwirtschaft von Washington 38 Von der umfangreichen Literatur zur pennsyl-vani- County: Schmahl 2000, S. 222-244. schen Fraktur sei stellvertretend genannt: Moyer 77 Vgl. Conzen 1980, S. 413 (dort auch die nachste- 1998. henden Angaben zum Handwerk). 39 Vgl. die Tabelle bei Conzen 1980, S. 410. 78 Zur Bierbrauerei vgl. Schmahl 2000, S. 245-253. 40 Vgl. Moltmann 1989, S. 193-195. 79 Vgl. Schmahl 2000, S. 254-255. 41 Vgl. Schmahl 2000, S. 65. 80 Vgl. Schmahl 2000, S. 274. 42 Die nachstehenden Werte finden sich bei Horst 81 Vgl. Susan J. Kuyper: The Americanization of Ger- Rößler: Massenexodus: die Neue Welt des 19. man Immigrants: Language, Religion, and Schools Jahrhunderts. In: Bade 1992, S. 148. Grundle- in Nineteenth Century Rural Wisconsin. Diss. gend: Marschalck 1973. (masch.) University of Wisconsin 1980, S. 31. 43 Vgl. Helbich/Kamphoefner/ Sommer 1988, S. 14- 82 Vgl. Schmahl 2000, S. 276. 15. 83 Vgl. Roland Paul: Die Zeitungen „Der Pfälzer in 44 Vgl. Schmahl 2000, S. 385. Amerika“ und die „Hessischen Blätter“ und ihr En- 45 Vgl. Heinz 1989, S. 350. de im Ersten Weltkrieg. In: Paul/Scherer 1995, S. 46 Ausführlich zu den Wirkfaktoren: Imhof 1977, S. 126-139. 60-69. 84 Vgl. Helbich/Kamphoefner/Sommer 1988, S. 27- 47 Vgl. Schmahl 2000, S. 58-59 (dort auch die nach- 28. stehenden Werte zu rheinhessischen Gemein- 85 Wilhelm Hense-Jensen: Mufti-Almanach. Ein Le- den). benszeichen der Deutsch-Amerikaner Milwau- 48 Vgl. Rürup 1984, S. 133. kee’s. Milwaukee 1903, unpaginierter Anhang. 49 Vgl. Tilly 1990, S. 12-38. 86 Zu Brumder vgl. Knoche 1980, S. 140. 50 Vgl. die Beispiele bei Schmahl 2000, S. 55. 87 Zur pennsylvanischdeutschen Dichtung siehe den 51 Vgl. Schmahl 2000, S. 98. Beitrag von Michael Werner in diesem Band. 52 Vgl. Guido Feig: Die Sespenröther in Amerika. Auf 88 Vgl. die Kurzbiographien und abgedruckten Ge- den Spuren der Nachfahren. In: Wäller Heimat dichte bei: Zimmermann 1894. 1987, S. 65-67. 89 Vgl. Harzig, Lebensformen, S. 168-169. 53 Vgl. Pracht 1998, S. 92. 90 Vgl. Paul, Auswanderungen, S. 80. 54 Vgl. Roland Paul: Auswanderungen aus der Pfalz 91 Vgl. Schmahl 2000, S. 284. vom 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. In: 92 Löher 1847, S. 330. Paul/Scherer 1995, S. 76. 93 Ich folge, wenn nicht anders angegeben, meiner 55 Zur politischen Auswanderung siehe den Aufsatz Darstellung (Schmahl 2000), S. 261-272. von Steffen Wiegmann in diesem Band. 94 Vgl. Monika Blaschke: ‚Deutsch-Amerika’ in Be- 56 Helbich/Kamphoefner/Sommer 1988, S. 13 drängnis: Krise und Verfall einer ‚Bindestrich-kul- 57 Vgl. Conzen 1980, S. 410. tur’. In: Bade 1992, S. 172-173. 58 Vgl. Schmahl 2000, S. 106-108. 95 Vgl. Schmahl 2000, S. 210-211. 59 Zum Agenturwesen und der Reise siehe den Bei- 96 Blaschke, Deutsch-Amerika, S. 173. trag von Barbara Schuttpelz in diesem Band. 97 Blaschke, Deutsch-Amerika, S. 174-175. 60 Alle Angaben in diesem Abschnitt finden sich, 98 Zitate bei Blaschke, Deutsch-Amerika, S. 177. wenn nicht anders angegeben, bei Schmahl 2000, 99 Helbich/Kamphoefner/Sommer 1988, S. 28. S. 133-135. 61 Vgl. Heinz 1989, S. 224-228; Neutsch 2002, S. 68- 70. 62 Ulmann 1921 (ND Osnabrück 1957), S. 522. 63 Vgl. die Übersicht bei Rößler 1992, S. 157-161. 64 Vgl. Schmahl 2000, S. 111. 65 Zu den Censusdaten von 1870 vgl. die Tabelle bei Schmahl 2000, S. 408-409. 66 Zur Texasauswanderung vgl. bspw. Jordan 1994. 67 Hense-Jensen 1900, S. 50. 68 Wegweisend zum Thema Kettenwanderungen: Kamphoefner 1987.

36 Steffen Wiegmann

„...in der edlen Illusion, doch noch eine feste Schanze der Freiheit gerettet zu haben!“ Politisch motivierte Auswanderung aus Deutschland und dem heutigen Rheinland-Pfalz im 19. Jahrhundert

Alle großen Auswanderungswellen (1845– gehörigkeit zu Vereinigungen, Beteiligung 1857, 1864–1873 und 1880–1893)1 des an politischen Ereignissen etc.), die letzt- 19. Jahrhunderts bestanden zur großen lich die Zuordnung zu einer zu definieren- Mehrheit aus Menschen, die ihre Heimat den Gruppe politischer Flüchtlinge möglich aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen macht. verließen. Marginal erscheint hier die Zahl derjenigen, die aus politischen Gründen In den 1830er Jahren wanderten vermehrt Deutschland den Rücken kehrten. In der Presseleute und publizierende politische Tat ist die politische Auswanderung des 19. Aktivisten aus Deutschland aus.2 Auslö- Jahrhunderts eine so genannte Elitenwan- sendes Moment der Fluchtbewegung der derung im Kontext des 19. Jahrhunderts, so genannten 1830er waren die repressi- sie ist jedoch ein Phänomen, das deutsche ven Maßnahmen des Deutschen Bundes Zeitgeschichte mit amerikanischer Zeitge- nach dem Hambacher Fest 1832 und dem schichte des 19. Jahrhunderts auf speziel- Frankfurter Wachensturm 1833. Das Lager le und vielfältigste Art und Weise verbin- der Personen, gegen die aufgrund „revo- det und ebenso vielfältige Erkenntnisse zur lutionärer Umtriebe im Untersuchungswe- Entwicklung gesellschaftlicher Phänomene ge“3 ermittelt und gegen die Maßnahmen oder auch Identitätsproblematiken bietet. ergriffen wurde, vergrößerte sich rasch. Um 1827 hatte die in Mainz beheimate- Generell ist es schon einmal ein schwie- te Zentraluntersuchungskommission ihre riges Unterfangen, politische Auswande- seit 1819 währende Tätigkeit vorerst ein- rer über Einzelfälle hinaus überhaupt zu gestellt, 1833 nahm ihre Nachfolgerin, die erkennen und eindeutig zu identifizieren. Frankfurter Bundeszentralbehörde infol- Dies liegt daran, dass der Terminus „politi- ge der zuvor genannten Ereignisse ihren scher Auswanderer“ ein Sammelbegriff für Dienst auf.4 Diese Behörden wurden vom Faktoren darstellt, die samt und sonders Österreichischen Außenminister Metter- im Bereich des Identitätsbewusstseins ei- nich als geeignetes Instrument erachtet, nes Individuums liegen. Nur über die ge- die liberalen Strömungen mit ihren Bünden naue Kenntnis der Zeit der Auswanderung, und vermuteten Netzwerken aufzudecken die gesellschaftlichen Zustände und maß- und zu verfolgen. geblichen Einflussfaktoren auf die zu un- tersuchende Person ist es möglich, mit an Die zweite und mit Abstand größte Aus- Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wanderungswelle war die der wohl bekann- Aussagen über die Motive einer Auswan- testen politischen Auswanderer des 19. derung zu treffen. Zu den Faktoren gehören Jahrhunderts, die so genannten Achtund- weiterhin persönliche Kontakte, das sozi- vierziger. alisierende Umfeld und die maßgeblichen Die Flüchtlinge verließen Deutschland auf- Ereignisse und Entwicklungslinien des in- grund des negativen Revolutionsverlaufs dividuellen Lebensweges (wie z.B. die Zu- in der Zeit vorwiegend zwischen 1848 und

37 1854 waren jedoch im Gegensatz zu die- sen langen „Unterdrückungsphasen“ ei- ne eindeutige Fluchtreaktion in Folge von Auseinandersetzungen mit dem Staat und der Obrigkeit, also eine in ihrer Struktur ho- mogener und kohärenter gestaltete Gruppe als die der 1830er oder die der Auswande- rer während der Zeit der Sozialistengesetze (1878–1890). Belege hiefür sind in den Bio- graphien der Auswanderer zu finden: wäh- rend die 1848er in ihren Lebensläufen nach ihrer Auswanderung einige eindeutig ge- meinsame oder ähnliche politische Einstel- Hausdurchsuchung, 1878, Friedrich Ebert Archiv On- lungen und Aktivitäten aufweisen7, ist bei line den anderen beiden Gruppen nicht unbe- dingt davon auszugehen. Hier finden sich sehr unterschiedliche Entwicklungslinien, 1854. Friedrich Hecker, einer ihrer promi- die auch auf differierende Vorstellungswel- nentesten Vertreter, wanderte bereits im ten der Auswanderer hinweisen.8 September 1848 nach der gescheiterten Schlacht bei Kandern über Le Havre in die Die letzte zu nennende, politische Aus- USA aus, während sein Mitstreiter Gustav wanderungswelle fand zwischen 1878 und Struve weiter an einen Sieg der Revolution 1890 statt. Während dieser Zeit waren die glaubte und erst 1849 nach der Niederlage „Sozialistengesetze“9 im Deutschen Reich bei Rastatt Deutschland verließ und nach gültig. Reichskanzler Otto von Bismarck Aufenthalten in der Schweiz und England initiierte dieses Gesetz zur „Bekämpfung 1851 in die USA reiste.5 Die persönliche Le- der gemeingefährlichen Bestrebungen der benssituation und damit verbundene Sicht- Sozialdemokratie“: es verbot alle sozia- weise zum Revolutionsverlauf verschoben listischen und sozialdemokratischen Ak- den Zeitpunkt der Flucht der einzelnen Per- tivitäten und Vereine im Deutschen Reich. sonen oft um Jahre. Die kollektiv erfahre- Aufgrund dieses Gesetzes konnten auch so nen Ereignisse lösten die Fluchtbewegun- genannte „Kleine Belagerungszustände“ gen der Individuen also zu verschiedenen über Gebiete ausgerufen werden, in denen Zeiten aus, jedoch war der gemeinsame Er- Teile der Bürgerrechte für die betreffende fahrungshorizont, d.h. die Revolution und „Zielgruppe“ außer Kraft gesetzt wurden die Zugehörigkeit zur Gruppe der Aufstän- und besondere Befugnisse für die Polizei dischen, entscheidend für die Auswande- galten. Dieser Zustand galt in den 12 Jah- rung an sich. ren des Gesetzes einige Male, vorzugswei- Die Gruppe der 1848er ist in der For- se in den sozialdemokratischen Hochbur- schungsliteratur intensiv bearbeitet wor- gen Hamburg, , Leipzig und Frankfurt den und signifikante Merkmale sind zu be- am Main. merken. Dies hängt augenscheinlich auch Eine große Anzahl sozialistischer und sozi- mit der Beschaffenheit der postrevoluti- aldemokratischer Arbeiter verließ Deutsch- onären Zeit zusammen: der Vormärz und land und vor allem auch die industriel- die spätere Zeit der Sozialistengesetze len Ballungsgebiete. Dabei existierten (1878–1890, siehe unten) beschreiben ei- bestimmte Berufsgruppen, die besonders nen jeweils längeren Zeitraum, in dem ei- politisiert und dementsprechend aktiv wa- ne repressive Situation für oppositionelle ren, wie zum Beispiel die Zigarrenmacher. Kräfte6 vorherrschte. Die politisch motivier- Der Beruf des Zigarrenmachers war in der ten Auswanderungen zwischen 1848 und zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine

38 Zug auf das Schloß Hambach am 27ten May 1832, Kupferstich 1832, Theodor-Zink-Museum, Graf. Slg. Inv.-Nr. 198 gut bezahlte Facharbeit. Die Arbeiter wa- Vormärz und Revolution auf dem Gebiet ren im Gegensatz zu den meisten anderen des heutigen Rheinland-Pfalz Berufgruppen extrem mobil, benötigten Im Hinblick auf politische Auswanderun- keine aufwändigen Arbeitsgeräte, waren gen war im 19. Jahrhundert in den Regi- nicht ortgebunden und wanderten den gu- onen der damaligen Regierungsbezirke ten Löhnen hinterher. In Hamburg siedelten Koblenz und Trier (der Rheinprovinz), dem sich ab dem Ende der 1860er Jahre große Gebiet Rheinhessen, dem westlichen Nas- Gruppen von Zigarrenmachern- und Dre- sau und der linksrheinischen Kurpfalz die hern an. Während ihrer Arbeit wurde in den Zeit vor, während und nach der Revolution großen Hallen, in denen die Handwerker zu 1848 die bedeutsamste. Eine bemerkens- Hunderten saßen und produzierten, den werte Anzahl von Auswanderervereinen11 Arbeitern zur Unterhaltung aus der tägli- und organisierten Ausreiseunternehmun- chen Zeitung vorgelesen. So waren die Zi- gen von Gruppen, die sich 1832/33 gründe- garrenmacher tatsächlich immer die am te, deutet auf die Popularität der Idee der besten politisch informierte Gruppe unter Auswanderung nach den Ereignissen des den Arbeitern, keine andere Berufsgrup- Hambacher Festes (1832) und des Frank- pe unter den Handwerkern hatte tagsüber furter Wachensturms (1833) hin. Auswan- solch einen Zugang zur Information bei der derungen wie die der Zweibrücker Familien Arbeit.10 Engelmann und Hilgard oder die der hessi- schen bzw. rheinhessische Auswanderer- gesellschaft von Paul Follen und Friedrich

39 Friedrich Kaiser: Die Rheinbairischen Aufständischen im Jahr 49 nach der Natur, Aquarell über Bleistift, Theodor-Zink-Museum, Graf. Slg. Inv.-Nr. 116

Münch zeugen von politischen Motivati- sich die Revolutionäre aber gut einen Mo- onen mit teils utopischen Vorstellungen nat später den weit überlegenen preußi- bezüglich der Neuen Welt, den USA.12 En- schen Truppen ergeben. gelmann schrieb kurz vor seiner Auswan- In den südlichen Gebieten der Rheinpro- derung: „Ich gelangte zu der klaren Über- vinz kam es nicht zu einem derartigen mi- zeugung, dass eine zahlreiche Familie, wie litärischen Aufstand während der Revoluti- die meinige, in einem [...] geplagten Länd- on, die Unruhen manifestierten sich jedoch chen wie die bayrische Rheinpfalz keinen auch in den Metropolen der Region. Die geeigneten Wirkungskreis, kein fröhliches Hauptstadt der Rheinprovinz, Koblenz, er- Gedeihen finden würde; dass hingegen die lebte die vormärzliche Zeit, kurz vor Aus- große amerikanische Union mit ihrem un- bruch der Revolution in Anspannung und ermesslichen Gebiete, ihren freien Institu- politischer Unruhe. Das Koblenzer Spezifi- tionen und ihrer unberechenbaren Zukunft kum, dass die Stadt sowohl Festungs- als jeder menschlichen Kraft den freiesten und auch Garnisons- und Behördenstadt in der großartigsten Spielraum biete.“ 13 1815 neu gestalteten preußischen Rhein- provinz war, führte verstärkt zu einer Situ- Am 18. Mai 1849 gründete sich nach der ation, die für die Rheinprovinz insgesamt Ablehnung der Kaiserkrone durch den charakteristisch war: dem Konflikt zwi- preußischen König Friedrich Wilhelm IV. in schen katholischer Bevölkerungsmehrheit der Kaiserslauterer Fruchthalle eine provi- und preußisch-protestantischer Obrigkeit. sorische Regierung der Pfalz, die eine Los- Dieser Konflikt äußert sich besonders wäh- lösung von Bayern und die Gültigkeit der rend des Kölner Kirchenstreits 1838 und in gescheiterten Verfassung anstrebte. Im der politisierenden Situation während der Verbund mit badischen Truppen mussten Revolution 1848/49, als vor allem das La-

40 ger der Katholiken auseinanderbrach und S.266–268; Münch 1873; Follenius/Münch 1833. 13 sich neu formierte. Zitiert bei Becker 1958, S.266. 14 Vgl. Heinz 1989, S.199 Wie Eingangs erwähnt stellt die politische Auswanderung nur einen zahlenmäßig klei- nen Teil der gesamtem deutschen Auswan- derungsbewegung im 19. Jahrhundert dar. Auch wenn im Zusammenhang mit der Re- volution 1848/49 von einer umfangrei- chen Fluchtbewegung gesprochen wird, so handelt es sich doch beim Beispiel der Pfalz nur um eine Größenordnung von etwa 4000 Flüchtlingen, von denen nach Schät- zungen nur gut 1000 tatsächlich in die USA auswanderten.14 Trotz dieser Zahlen ist es aber gerade die Gruppe der politisch mo- tivierten Auswanderer, die einen enormen Schatz an Quellen liefert, der eine facet- tenreiche Analyse der historischen Zeitge- schichte möglich macht. Dies liegt nicht zuletzt an der qualitativ höheren Auseinan- dersetzung der einzelnen Individuen mit ih- rer persönlichen Situation und Auswande- rungsmotivation.

1 Zu den Zahlen der Auswanderung siehe Mar- schalck 1973, S.35–39 u. S.48–71. 2 Vgl. u. a. Cornelia Foerster 1982. 3 Huber 1968. S.174; Reiter 1992, S.100–104. 4 Vgl. Weber 1970. S.18f. und Kowalski 1978. 5 Vgl. Kunz 1990; Struve 1849; Struve 1850 6 Im Vormärz traf es das bürgerlich-republikani- sche Lager und während der Sozialistengesetze vorwiegend proletarisch-sozialistische und sozi- aldemokratische Kreise. 7 Vgl. hierzu: Henßler 2007 und Rattermann 1911. 8 Vgl. Ulrich Klemke: Vormärzemigration und das deutsch-amerikanische Pressewesen, in: Eke 2005 S. 429–441 und Franz Mehring: Deutsch- Amerikanisch-Afrikanische Allianzen: Aktivisten des Vormärz und der amerikanische Abolitionis- mus, in: Eke 2005, S.391–427. 9 Das Sozialistengesetz wurde in den Jahren sei- ner Gültigkeit mit einigen Erweiterungen und Zu- sätzen versehen, so wurde der grammatikalische Plural des Begriffs gebräuchlich. 10 Vgl. Rössler 1989 11 Eine Liste (nicht vollständig) von Auswanderer- vereinen von 1830 bis 1850 findet sich bei Mar- schalck 1973, S.21. 12 Vgl. Becker / Engelmann 1958; Albert Becker: Theodor Hilgard und seine Auswanderung nach Amerika 1835, in: Pfälzisches Museum 39 (1922),

41 Cornelius Neutsch

Vom Westerwald nach Milwaukee: Die Auswanderung Heinrich Georgs im Jahr 1852

Mitte des 19. Jahrhunderts galt der Wester- zog. Neben Romanen und Erzählungen wur- wald als „Land der armen Leute“. Einzige de eine Vielzahl von Führern und Ratgebern Einnahmequelle der Menschen war meist veröffentlicht. Um 1850 bemühte sich der nur die Landwirtschaft auf dem kargen Mit- von der Regierung unterstützte „Auswan- telgebirgsboden. Wirtschaftliche Not präg- derungsverein für das Herzogtum Nassau“ te die Verhältnisse. Die Auswanderungs- durch Ankauf und Verteilung entsprechen- quote war daher in dieser Region beson- der Literatur an Auswanderungswillige das ders hoch. Die offizielle Auswanderungs- Informationsbedürfnis zu stillen. Die Veröf- statistik des Herzogtums Nassau, wozu fentlichung der Erlebnisse Heinrich Georgs der größte Teil des Westerwaldes zwischen versprach somit im Westerwald zahlreiche 1815 und 1866 gehörte, verzeichnet allein Abnehmer zu finden, da Werke, die von Per- für die Jahre 1849–1868 insgesamt 3.366 sonen aus der eigenen Heimat verfasst wa- Auswanderer aus den Ämtern Dillenburg, ren, bei den Lesern in der Regel eine höhe- Hachenburg, Hadamar, Herborn, Marien- re Glaubwürdigkeit genossen. Im Vorwort berg, Montabaur, Rennerod und Wallme- des Herausgebers wurde ausdrücklich auf rod, die in die Vereinigten Staaten gingen. den Zweck der Publikation hingewiesen: Es waren hauptsächlich Kleinbauern und „Möchte somit die Schrift in reichem Maße von Lohn lebende Bevölkerungsgruppen, ihren Zweck erfüllen und dem Auswanderer einschließlich schlecht verdienender Hand- als Führer dienen; wie er sich vor Schaden werker, die ihrer alten Heimat den Rücken zu hüten und sein Unternehmen zu einem kehrten und sich in der Neuen Welt ein bes- möglichst ersprießlichen zu machen habe.“ seres Leben erhofften.1 Sich vor Schaden zu hüten war für Auswan- derer des 19. Jahrhunderts auch dringend Heinrich Georg, geboren 1821 in Langenau- erforderlich. Mit der massenhaften Aus- bach bei Dillenburg, war einer dieser Aus- wanderung ließ sich in vielerlei Hinsicht wanderer. Auch er verließ 1852 seine Hei- Profit erzielen: Reeder, Gastwirte, Händler, mat aus wirtschaftlichen Gründen. Seine Auswanderungsagenten und andere Ge- Erlebnisse während der Reise nach Amerika schäftemacher unterschiedlichster Spar- schilderte er in einem umfangreichen Tage- ten versuchten an den meist unerfahrenen buch, das 1853 in Dillenburg veröffentlicht Auswanderern Geld zu verdienen. wurde.2 Heinrich Georgs Aufzeichnungen Anlass zur Klage boten vielfach unseriöse vermitteln einen guten Eindruck von den Auswanderungsagenten. Um die Mitte des vielfältigen Erfahrungen, die Amerika-Aus- 19. Jahrhunderts waren die deutschen Ter- wanderer um die Mitte des 19. Jahrhunderts ritorien mit einem Netz von Agenturen und machten bzw. machen mussten und kön- Unteragenturen überzogen. Um gegen be- nen daher nahezu als typisch für diese Zeit trügerische Agenten vorzugehen wurden gelten. Dass sie veröffentlicht wurden, war zwischen 1846 und 1853 in mehreren deut- in dieser Zeit auch keine Seltenheit. Großer schen Staaten, so auch im Herzogtum Nas- Bedarf herrschte an zuverlässigen Informa- sau, Verordnungen erlassen, die eine Kon- tionen über die Neue Welt im „Jahrhundert zessionspflicht für Auswanderungsagenten der Massenauswanderung“, was eine Flut vorsahen. Annoncen in den einschlägigen an einschlägigen Publikationen nach sich Zeitungen belegen, dass auch im Wester-

42 wald eine Vielzahl solcher (Unter-)Agentu- setzt, noch zu „Bücklingen“ bei den Behör- ren existierte, die für ihr Geschäft warben. den genötigt war, bemerkte hierzu: Es waren meist Pastoren, Lehrer, Handwer- „…ein Auswanderer muß von allen Seiten ker oder Beamte, vor allem aber Gastwirte gehemmt werden, muß bei Helfern und Hel- und Krämer, die sich im Nebenerwerb als fershelfern bezahlen, muß bei der Verstei- Auswanderungsagenten betätigten. gerung seiner Habe viel verlieren, und muß, Mit zunehmender Verbreitung der Dampf- weil er Geld braucht, eine Beute der Kapita- schifffahrt seit den 1860er Jahren übernah- listen werden und denselben bei vierfacher men die großen Reedereien immer häufiger Sicherheit 7 ½ bis 15 Prozent zurücklassen selbst die Organisation der Reise. Die vor- u.s.w.“ maligen Unteragenten der Schiffsmakler Nach Amerika auszuwandern bedeutete bzw. Schiffsexpedienten in den Ortschaf- Mitte des 19. Jahrhunderts in der Regel ei- ten des Westerwaldes wurden dadurch oft- nen Abschied für immer. Heinrich Georg, mals zu Reedereiagenten. der seine Heimat zusammen mit seinem Bis weit über die Jahrhundertmitte hinaus achtjährigen Sohn verließ, verabschiedete war der schlechte Ruf der Auswandera- sich am 23. April 1852 von seinen Freunden genten weit verbreitet. Auch Heinrich Ge- in seinem Geburtsort in Langenaubach. org wurde etwas misstrauisch, als sein Die Abschiedsszenen waren oft schmerz- Agent die Pässe und das restliche Passage- lich, da man nicht nur die gewohnte Heimat geld mit dem „Schiffskontract“ in Empfang und gute Freunde nie mehr wiedersah, son- nahm und die Reisenden „dafür nichts, dern oft auch Familien auseinandergeris- als ein kleines Blättchen Papier erhielten, sen wurden. auf dem mit ein paar Zahlen die betreffen- Heinrich Georg schilderte diesen Moment de Summe vorgemerkt war, ohne irgend ein seinen Lesern nicht ohne Pathos: anderes Wort oder eine Unterschrift“. Ge- „Der Wagen steht schon vor der Thür , org hatte jedoch Glück: Er war in Herborn In Gottes Namen zogen wir an einen seriösen Vermittler geraten. in Begleitung vieler Freunde aus der Stadt, Mit dem Abschluss eines Vertrages bei ei- nahmen rührend Abschied von so manchen nem seriösen Agenten waren jedoch kei- zurückbleibenden, geliebten Freunden und neswegs alle Probleme gelöst. Neben viel- entsandten noch einen letzten Scheidegruß fältigen individuellen Vorbereitungen, die auf die Waldgekrönten Berge und lieblichen ein so folgenschwerer Schritt erforderte, Thäler der reizenden Gegend hinüber.“ war die Auswanderung im 19. Jahrhundert mit einer Reihe behördlicher Formalitäten Die Verkehrsverhältnisse des Westerwal- verbunden. Zwar betrieb das Herzogtum des waren zu diesem Zeitpunkt noch man- Nassau insgesamt eine relativ liberale Aus- gelhaft. Der Bahnbau in der Region setz- wanderungspolitik, bestimmte Vorausset- te erst später ein, so dass die Menschen zungen mussten jedoch erfüllt sein, um die noch auf Fuhrwerke angewiesen waren. Am „Entlassung aus dem Untertanenverband“ ersten Tag gelangte die Reisegruppe, der beantragen zu können. Hierzu gehörten: sich Georg angeschlossen hatte, bis Hof männliche Antragsteller mussten ihren Mi- im Oberwesterwald, wo sie zusammen mit litärdienst absolviert haben, Familienvä- anderen Auswanderern in einem großen ter brauchten die Zustimmung ihrer Frauen Wirtshaus übernachteten. und alle Schulden mussten bezahlt sein.3 „Das Abendessen etc. war mangelhaft, die Oftmals mit finanziellen Verlusten verbun- meisten lagen auf Streu … Etliche junge den war die Veräußerung desjenigen Besit- Mädchen oder die Mägde hatten die Nacht zes, der nicht mitgenommen werden konn- mehrere Kleider der Passagiere heimlich – te. Heinrich Georg, der nach eigenen Anga- wohl nach Moneten visitirt – schändlich! – ben selbst nicht viel besaß und daher we- die Zeche gepfeffert.“ der großen Laufereien bei Gericht ausge- Die Gefahr bestohlen oder übervorteilt zu

43 werden, bestand während der gesamten bahnreisen waren somit, zumindest für we- Reise. Die einschlägigen Auswandererfüh- nig bemittelte Reisende, trotz des schnel- rer widmeten daher den Ratschlägen zum len Fortkommens nicht unbedingt ein Ver- Schutz des Eigentums umfängliche Passa- gnügen. Gerade Auswanderer wurden nicht gen. selten wie eine Ware behandelt. Heinrich Der Weg führte Heinrich Georg weiter über Georg bemerkte hierzu: „11 ½ Uhr an der Hachenburg (24. April), wo sich sein Bruder Eisenbahn, anfangend eine Waare zu sein verabschiedete, der ihn noch bis dahin be- (an der jeder etwas verdienen will)“. Lei- gleitet hatte, und Siegburg (25. April) nach der hatte er versäumt, sich in Köln mit Brot Köln. einzudecken. Dank seiner in der Fremden- Köln war zu dieser Zeit ein Verkehrskno- legion erworbenen Französischkenntnisse, tenpunkt für Auswanderer. Hier wurden die konnte er sich jedoch mit dem belgischen Verkehrsmittel gewechselt, d.h. man war Eisenbahnbeamten verständigen, der ihm zu einem Zwischenaufenthalt gezwungen.4 unterwegs das notwendige verschaffte. Für die meisten Auswanderer aus dem Wes- In Antwerpen kam die Reisegruppe abends terwald, die in ihrem eng begrenzten regi- um 10.30 Uhr an. Abendessen und Nacht- onalen Erfahrungshorizont aufgewachsen quartier waren akzeptabel. Am nächsten waren, bedeutete ein solcher Aufenthalt Morgen wurden die notwendigen Formali- oft den ersten Kontakt mit einer Großstadt täten schnell erledigt. Georg erwähnte aus- und den damit verbundenen Widrigkeiten. drücklich, dass sie im Büro der Auswande- Übervorteilungen durch Gastwirte, Geld- rungsagentur „ausgezeichnet artig behan- wechsler und Händler verschiedener Spar- delt wurden“. Zwar berichtete er nicht von ten waren an der Tagesordnung. aufdringlichen Straßenhändlern, die den Der Aufenthalt in Köln dauerte drei Tage. Auswanderern allerlei nützliche bzw. unnüt- Als ehemaliger Fremdenlegionär war Georg ze Dinge aufzuschwatzen versuchten, das nicht so unerfahren wie die meisten seiner Geschäft mit den Auswanderern florierte Mitreisenden. Er schaute sich den Dom und jedoch trotzdem. Die Wirtin des Gasthofes die anderen Sehenswürdigkeiten der Stadt bot sich nur allzu bereitwillig an, beim Kauf an und die Reisegruppe versorgte sich mit der notwendigen Dinge behilflich zu sein notwendigen Dingen wie Decken, Flinten, und führte sie in ein entsprechendes Ge- amerikanischem Geld u.s.w.. Späteren Aus- schäft mit einer großen Auswahl an Waffen, wanderern gab er noch den Rat: „Laßt Euch Werkzeug, Kochgeschirr u.s.w.. Heinrich hier nicht so viel Eau de Cologne aufschwat- Georg kaufte dort einiges, da er den Preis zen; wir nahmen gar keins und kamen doch für angemessen hielt. „…trotzdem machte durch.“ unsere Wirhtin zweifelsohne etliche %chen Am 28. April ging die Reise von Köln aus dabei auf unsere Rechnung. Dennoch finde weiter über Aachen und Verviers zum Ein- ich es besser, dasselbe hier zu kaufen, als schiffungshafen Antwerpen, das neben solches zu Hause ungeschickt machen zu Hamburg, Bremen, Rotterdam, Liverpool lassen. Procenterchen will einmal jeder am und Le Havre zu den bedeutenden westeu- Auswanderer verdienen.“ In einem anderen ropäischen Auswandererhäfen gehörte. Laden wurde noch Kaffee, Tee, Zucker, etc. Zwischen Köln und Antwerpen verkehrte gekauft, Georg empfahl weiterhin, sich mit bereits eine Eisenbahn, so dass die Fahrt, Gewürzen und, wenn es das Budget erlaub- einschließlich der Zollformalitäten an der te, einigen Krügen Mineralwasser einzude- belgischen Grenze, nur etwa elf Stunden cken. Besondere Aufmerksamkeit war wäh- dauerte. Da Auswanderer in der Regel nur rend der Seereise dem Kaffee zu schenken: die billigsten Fahrkarten besaßen, war es „Den Caffee könnt ihr stets auf dem Schiff notwenig, Essen und Trinken und vor allem mahlen und sollte er feucht sein, an der Kü- warme Decken mitzunehmen, da die Eisen- che trocknen; doch macht Euch dazu einen bahnwaggons nicht beheizt waren. Eisen- guten Behälter, da er gerne den schlechten

44 Geschmack von dem Schiffsgeruch oder da- sich jedoch trotzdem eine Vielzahl von Kis- ran liegenden Sachen annimmt.“ ten und Kästen zwischen den Kojen, weil Streitereien gab es bei der Abreise noch mit sie Dinge enthielten, die entweder während dem Wirt, der, statt der vereinbarten 1 ½ der Reise benötigt wurden oder von denen Francs pro Tag, bei der Abreise plötzlich 2 man sich nicht trennen wollte. Georg werte- Francs forderte, die Georg jedoch nicht be- te diesen Umstand sogar positiv: zahlte. „Die Kisten stehen alle im Zwischendeck, Die Reise war insgesamt gut organisiert, so eine Reihe vor den Betten und eine doppel- dass der Aufenthalt in Antwerpen nur weni- te in der Mitte der Länge nach, so dass sich ge Tage gedauert hatte. Am 1. Mai begann auf beiden Seiten ein Gang bildet, der in die die Seereise über den Atlantik. Das Schiff, oberen Cojen das Einsteigen erleichtert.“ die Besta, eine finnisch-russische Barke, Neben der Enge des Zwischendecks war die war erst kürzlich mit einer Ladung Getreide Hygiene ein zentrales Problem. Die Belüf- aus Odessa in Antwerpen eingelaufen. Das tung erfolgte in der Regel lediglich über die Schiff war kurzfristig für den Auswanderer- Ladeluken, die bei Regen geschlossen wer- transport umfunktioniert worden, indem den mussten; auch die Besta hatte keine ein Zwischendeck zwischen Oberdeck und Seitenfenster am Zwischendeck, wie eini- Laderaum eingezogen worden war. Hierbei ge amerikanische Auswandererschiffe. So handelte es sich um grob gezimmerte pro- klagte Georg während der Überfahrt mehr- visorische Quartiere, die für die Rückfahrt fach über die schwüle Luft, in der man stän- von Amerika nach Europa wieder entfernt dig schwitzte. Bei starkem Regen drang wurden, um Platz für Fracht zu schaffen. Wasser in den Raum ein, so dass die Pas- Zur Zeit der Segelschiffe, d.h. bis in die sagiere und deren Betten nass wurden. Die 1860er/70er Jahre, war die Überfahrt stra- Auswanderer auf der Besta nutzten daher paziös. Zwar gehörten Mitte des 19. Jahr- sonnige Tage, um die Betten an Deck zu lüf- hunderts die mitunter lebensgefährlichen ten. Bei stürmischem Wetter konnte es pas- Überfahrtbedingungen früherer Zeiten be- sieren, dass die Kisten im Zwischendeck reits der Vergangenheit an, eine Erholungs- hin und her flogen, obwohl diese mit Holz- reise war die Überfahrt im Zwischendeck klötzen festgenagelt waren. Der Kapitän, jedoch nicht. Die zweistöckigen Auswan- den Heinrich Georg sehr lobte, d.h. unter derungskojen waren in der Regel viel zu Schikanen der Schiffsbesatzung hatten die kurz und zu schmal. Jedem Erwachsenen Passagiere nicht zu leiden, ließ unter den standen, gemäß den sich überall in Europa Passagieren sogenannte Vormänner wäh- mehr und mehr durchsetzenden Auswan- len, die für Ordnung und Sauberkeit verant- dererschutzbestimmungen, mindestens 47 wortlich waren. Trotzdem waren während cm Breite zur Verfügung, für Kinder rechne- der Reise kleinere Diebstähle vorgekom- te man die Hälfte. Das Zwischendeck der men. Mehr als 200 Menschen unterschied- Besta entsprach wohl den gängigen Nor- lichster Herkunft auf engstem Raum zu- men: sammengepfercht: Unter solchen Umstän- „Ich stieg ins Zwischendeck und fand, wie den blieben Auseinandersetzungen unter jenes Judenmädchen, – „Nicht ´mal´ ei´ So- den Passagieren nicht aus. Besondere Pro- pha d´rin“ – aber auf beiden Seiten zwei bleme bereitete auf der Besta eine Gruppe über einander befindliche große Apfelge- junger Schwaben: rüste von zusammen genagelten Brettern „Eine Gesellschaft von ca. 10 jungen Schwa- mit je 7´ (Zoll C.N.) breit und alle 7´ in der ben mit ein paar Mädchen haben ihre Co- Länge, mit einem Brette unterschlagen – jen uns vis avis; sie sind sehr roh, denn sie Betten (Cojen) für je 4 Passagiere.“ spielen heute, obschon es Sonntag ist, Kar- Zwar wurde zumeist der größte Teil des ten, fluchen, singen und janhageln, Sitte, Auswanderergepäcks im Laderaum unter Anstand und Religion verletzend, zum Ab- dem Zwischendeck verstaut, es stapelten scheu jedes besser Denkenden. Auch nicht

45 übel für einen Vater, der Mädchen bei sich stempelt worden. Schwierigkeiten bereite- hat und bessere Sitten höher achtet, als die ten jedoch die zu wenigen Kochstellen an Lümmels.“ Bord: Um sich vor Ungeziefer zu schützen, wur- „Es ist gar mühsam, bei schlechtem Wetter den unterwegs die Betten mehrfach mit sal- und starken Schwankungen zu kochen, und zigem Kalkwasser bestrichen. Die wenigen bleibt es dann den geschicktesten Männern Aborte und fehlende medizinische Versor- überlassen, denen es oft begegnet, dass gung führten dazu, dass sich Krankheiten wenn sie ihre Mahlzeit fertig zu haben glau- auf den Schiffen ungehindert ausbreiten ben, ein Anderer in rohem Muthwillen ih- konnten. Unter den Passagieren der Bes- re Kessel rückt oder abhenkt, wodurch ihr ta fand sich kein Arzt oder Apotheker. Zwar mühsam fertig gebrachtes Essen aufs Ver- waren die Reisenden vor Fahrtantritt durch deck rollt und in den Schmutz fällt. So hat einen Arzt untersucht worden, die schwie- man sich fast täglich abzumühen.“ Trotz all rigen Verhältnisse an Bord führten jedoch dieser Widrigkeiten verlief die Überfahrt dazu, dass während der Überfahrt eine Rei- der Besta insgesamt ohne größere Proble- he von Leuten an Wasserpocken erkrank- me. Heinrich Georg versäumte es an dieser te. Weiterhin ereilte die obligatorische See- Stelle nicht, seinen Lesern noch einmal ein- krankheit zu Beginn der Reise nahezu alle dringlich die Vorteile einer Auswanderung Passagiere. über Antwerpen vor Augen zu führen. Dass Eindrucksvoll schilderte Georg, der selbst hiermit auch eine werbende Absicht des nicht seekrank wurde, die Leiden seiner Herausgebers verbunden war, ist sehr zu Mitreisenden: vermuten. „Um 7 Uhr abends herrschte ein Zustand, „…wir hatten aus gutem Grunde die Route der sich mitmachen, aber nicht beschreiben über Antwerpen genommen und uns nicht lässt. – …Die übrigen 200 Passagiere, al- getäuscht, denn an guten Lebensmitteln le in dem selben Raum, fingen nun an, auf und trefflichem Trinkwasser fehlte es nicht, das rückhaltloseste sich allen Essens, das an Kohlen ebenfalls nicht; dabei eine Be- sie im Leibe hatten, zu entledigen, es gab handlung, so human und prächtig, dass Bilder, Auftritte, Plätschern, Jammern und es im Vergleich zu den Klagen über Bre- Unreinigkeiten in so hohem Grade, dass ich men und besonders Liverpool, wo die Leu- mich vor Ekel auch ein einzigmal übergeben te fast verhungert sind, wo sie oft nicht un- musste,…“ bedeutende Summen für schändlich theure Zur Vorbeugung gegen die Seekrankheit Lebensmittel noch ausgeben mussten, wo empfahl er, neben häufigem Verweilen an nicht, wie bei uns von 200 Passagieren nur Deck und viel Bewegung, vor allem den Ma- ein krankes Kind starb, nein, wo von 100 – gen nicht zu überladen. 5, und mehr auf der Reise den Folgen des Die Lebensmittel an Bord waren: „contract- Elends, des Thyphus ec. erlagen.“ mäßig, und gesetzlich, sowohl in Qualität Am 15. Juni, d.h. nach mehr als sechs Wo- und Quantität, Maass und Gewicht“. Die chen, was eine damals durchaus übliche Auswanderschutzbestimmungen hatten Fahrtzeit war, erreichte die Besta den Ha- der bis zum frühen 19. Jahrhundert übli- fen von New York. Wichtigster Ratschlag für chen Selbstverpflegung ein Ende bereitet; das Verhalten bei der Ankunft war: „Geht die Schiffseigner waren seither verpflich- nicht vom Schiff!“. Der Grund hierfür wa- tet, ausreichend Lebensmittel mitzuführen ren die sogenannten „runners“, die mit al- und an die Passagiere zu verteilen, so dass len möglichen Tricks versuchten, den Neu- auch bei längerer Überfahrt die Versorgung ankömmlingen das Geld aus der Tasche zu gewährleistet war. Eine Regierungskom- ziehen. Sie waren straff in Gruppen organi- mission hatte dies vor Antritt der Fahrt auf siert, die sich zum Teil heftig bekämpften. der Besta überprüft, auch die Wasserfäs- Erst als 1855 in Castle Garden die erste Ein- ser waren untersucht und danach sogar ge- wanderersammelstelle errichtet wurde, ge-

46 lang es der amerikanischen Regierung, das Schuhmachern. Voraussetzung war jedoch Runnerunwesen einzudämmen. in jedem Fall ein gewisses Grundkapital. Auch die Einwanderer auf der Besta wurden „Jemand, der ein gutes Handwerk kann, und von den Runnern nicht verschont, als sie einiges Capital besitzt, findet hier weit eher, mit dem Dampfboot an Land gebracht wur- als in Europa, seine Rechnung. – Landleute den, nachdem die vorgeschriebene Qua- dagegen, welche bis Milwaukée gekommen rantänezeit abgelaufen und die Zollforma- sind, und nur noch ein paarhundert Gulden litäten erledigt waren: übrig haben, müssen sich, wenn sie Con- „Der ärgste deutsche Feuerlärm ist kein Ver- greß-Land, 40 Acres für 50 Dollar erwerben gleich gegen das Durcheinanderschreien wollen, bereits 80 englische Meilen ins Inne- der Heerde Runner, Agenten, Schläger, Die- re wenden, und einen Wagen für 50-80 Dol- be Fuhrleute, Wirthe ec., die aus allen Ecken lar, zwei Ochsen für einen ähnlichen Preis, auf das Dampfschiff steigen, sich selbst auf einen Pflug, Geschirr, Einsaat, Lebensmit- das fürchterlichste zanken, die schlechtes- tel und ein Haus (Blockhaus) kaufen oder er- ten Schweinigkeiten vorwerfen, und das al- werben können, und sind zu beklagen, wenn les in deutscher Sprache, dass einem Hören dazu ihre Mittel nicht ausreichen.“ und Sehen vergehen sollte.“ Als weitere Voraussetzungen nannte er Heinrich Georg empfahl, in dieser Situati- Fleiß und Zielstrebigkeit: on nicht den Kopf zu verlieren, nüchtern zu „Solidität ist die Grundlage aller Achtung bleiben und sich fest, männlich und beson- und Vorwärtskommen die Losung in dem nen zu zeigen. großen Kampfe der gegenseitigen Interes- Er blieb einige Tage in der beeindruckenden sen. Müßiggänger und Trunkenbolde (der Stadt, bevor er seine Weiterreise antrat. Whyskey ist sehr billig hier) sind zu bedau- Beim Kauf der Tickets war wiederum Vor- ern, Verachtung ist ihr Los.“ sicht geboten. Um unnötige Vermittlerge- Einen wesentlichen Vorteil des Lebens in bühren zu sparen, besorgte man sich die- Amerika sah Georg in den dort herrschen- se am besten direkt am Bahnhof oder auf den Freiheiten: „Ihr genießt hier alle Frei- den Dampfbooten, deren Bestimmungsorte heiten, freies Vereinsrecht, Massenver- groß an den Schiffen angeschrieben waren. sammlungen, u.s.w. ohne Gendarmen und Georg nahm nicht die Michigan-Eisenbahn, ohne Gefahr für Ruhe und Sicherheit.“ Auch die einen eher schlechten Ruf hatte, son- die im Deutschland des 19. Jahrhunderts dern bevorzugte die Fahrt mit dem Dampf- übliche devote Haltung gegenüber Höher- boot über den Erie-Huron- und Michigan- stehenden war in den Vereinigten Staaten see. Auf dieser Route war nicht nur stän- unüblich: „Das Hutabziehen, sowie Com- dig gutes Trinkwasser vorhanden, sondern plimente und Bücklinge sind, selbst bei Ge- man konnte auch an den Orten, an denen richten, nicht gebräuchlich.“ angehalten wurde um Kohle zu bunkern, Die Sitten der Amerikaner unterschie- preiswert frische Lebensmittel einkaufen. den sich überhaupt deutlich von denen in Am 27. Juni erreichte er Milwaukee, mit des- Deutschland: sen Beschreibung seine Reiseaufzeichnun- „Eine auffallende Sitte des Amerikaners ist, gen endeten. dass er, wo er geht und steht, Tabak kaut, Er konstatierte für Stadt und Umland ein dabei hat er stets den Hut auf dem Kopf und „ungemein schnelles Aufblühen“. Milwau- geht Sommers in Hemdsärmeln einher. … kee war daher „dem deutschen Auswande- Die Hände in den Taschen, den Hut im Na- rer mit Recht zu empfehlen“. Die naturräum- cken, sieht man ihn häufig auf einem Stuhle lichen Voraussetzungen waren ähnlich wie in der Weise sitzen, dass die Beine auf einem in Deutschland, Industrie und Landwirt- gegenüberstehenden Stuhle oder sonstigen schaft boten Einwanderern ein gutes Aus- Gegenstande ruhen. Beständig sinnend und kommen. Besonders günstige Möglichkei- rechnend, scheint ihn dabei eine stoische ten prognostizierte Georg Schneidern und Ruhe und Gelassenheit zu beseelen.“

47 Heinrich Georg vermied es insgesamt, in seinem Bericht ein zu positives Bild der Verhältnisse zu zeichnen. Vielmehr führte er aus, alles so geschildert zu haben, wie es ihm nach seinem „schlichten Verstande möglich war.“ Um den Quellenwert seiner Aufzeichnun- gen richtig zu beurteilen, ist zu berücksich- tigen, dass die Reiseerlebnisse veröffent- licht wurden, d.h. vieles wurde redigiert; schließlich hatte die Schrift den Zweck, po- tenzielle künftige Auswanderer zu ermun- tern. Trotzdem handelt es sich um erlebnis- nahe Schilderungen, die über die deutsche Amerika-Auswanderung um die Mitte des 19. Jahrhunderts interessante Details ver- mitteln.

1 Zur Auswanderung aus dem Westerwald vgl. Bar- tolosch / Neutsch / Roth 1996 (der Band bietet ei- ne umfängliche Bibliographie zur Thematik). 2 Georg 1853 (die folgenden, nicht einzeln nachge- wiesenen Zitate vgl. ebda.). 3 Vgl. hierzu: Ingrid Schöberl: Auswanderungspo- litik in Deutschland und Einwanderungspolitik in den Vereinigten Staaten, in: Germantown 1982, S. 324ff.; speziell zum Herzogtum Nassau vgl. Struck 1966. 4 Zu den Reisebedingungen von Auswanderern im 18. und 19. Jahrhundert vgl. Hartmut Bickelmann: Das Abenteuer der Reise, in: Germantown 1982, S. 330ff.; ferner Cornelius Neutsch: Die Reise: Vom Abenteuer zur organisierten Massenbeförde- rung, in: Bartolosch / Neutsch / Roth (Hrsg.) 1999, S. 21.ff.

48 Barbara Schuttpelz

Auswanderungsagenten

Postkarte Norddeutscher Lloyd, um 1920, Inst. für Pfälzische Geschichte und Volkskunde

Die Auswanderungsagenten gewannen im die Landstriche zu bevölkern und die Wirt- Laufe der Jahrhunderte innerhalb des Aus- schaft anzukurbeln. Außerdem beschäftig- wanderungsprozesses immer mehr an Be- ten Reeder, die mit dem Platzangebot auf deutung. Ihre Rolle wandelte sich von ur- Schiffen ihrerseits aus der Auswanderung sprünglichen Werbern im 17. und 18. Jahr- Profit schlagen konnten, in den Hafenstäd- hundert zu zugelassenen Vermittlern und ten Mittelsmänner, die mit den Auswande- Organisatoren, die den Massen von Aus- rern vor Ort Verträge für die Überfahrt ab- wanderern im 19. Jahrhundert bei ihrem schlossen. Mit der steigenden Auswan- Vorhaben unterstützend zur Seite standen. dererzahl erhärtete sich auch der Konkur- Werber, die im Auftrag von Grundbesitzern renzkampf in den Hafenstädten, sodass aus Übersee arbeiteten, traten bereits zu die Werber, die immer zahlreicher auftra- Beginn des 18. Jahrhundert in Erscheinung. ten, ihre Tätigkeit auch auf die einzelnen Diese Werber sollten potentielle Auswan- deutschen Staaten ausdehnten. Die Tatsa- derer von den Vorzügen bestimmter Gebie- che, dass sie für jeden geworbenen Aus- te, beispielsweise den englischen Besitz- wanderer eine Provision kassierten, erklärt tümern in Amerika, überzeugen, denn dort ihre tüchtige Arbeitsweise. Diese Einstel- wurden vor allem Bauern gebraucht, um lung brachte ihnen den Beinamen „Seelen-

49 Schiffs-Contract für die Überfahrt von Havre nach Neu York 1855, Slg. H. Schmahl

verkäufer“ ein, denn selbst vor windigen derts noch üblich war, dass die Auswande- Lockmethoden und leeren Versprechungen rer direkt in den Hafenstädten ihre Schiffs- machten sie nicht halt. Gerade die positi- plätze buchten, waren seit den 1840er Jah- ven Nachrichten über Amerika fruchteten ren in den größeren Städten schon Haupt- bei der verarmten Bevölkerung nur allzu oder Generalagenten, die von den Reedern gut und bestärkten die Menschen in ihrem angestellt waren und wiederum Unteragen- Auswanderungsvorhaben. ten in der Umgebung beschäftigen durf- Im Laufe des 19. Jahrhunderts mit dem Be- ten, tätig. Es waren vor allem Kaufleute, die ginn der massenhaften Auswanderung sich neben ihren üblichen Geschäften als nach Übersee bildete sich der Beruf des Agenten um die Belange der Auswanderer Auswanderungsagenten heraus (vgl. Bret- kümmerten. Ihnen oblag die Organisation ting, Agnes: Funktion und Bedeutung der der Reise, von einem ersten Beratungsge- Auswanderungsagenturen in Deutschland spräch über die Buchung eines Schiffsplat- im 19. Jahrhundert. In: Bretting / Bickel- zes, manchmal sogar bis hin zur Reisebe- mann 1991, S. 25 f.). Die steigende Nach- gleitung zum Abfahrtshafen. Mit der immer frage verlangte nach einem Berater, der größer werdenden Nachfrage nach Plätzen eine Auswanderung organisieren und den auf Schiffen für Auswanderer stellten sich Auswanderungswilligen beraten konnte. auch die Schifffahrtsgesellschaften auf Während es zu Beginn des 19. Jahrhun- diese Entwicklung ein. Das große Interes-

50 Quittung über die Zahlung der Ueberfahrtsgelder für die Beförderung von Rottderdam nach Nordamerika, 1844, Slg. H. Schmahl

51 se an der Auswanderung und die damit ver- bundenen Profitmöglichkeiten führten da- zu, dass bis zur Jahrhundertmitte die An- zahl der Auswanderungsagenturen stark angewachsen war. Den gesetzlichen Rahmen für das Agen- turwesen schaffte in den 1840er Jahren in Bayern die Konzessionspflicht für die Aus- wanderungsagenten. Die Reeder waren so- mit gehalten, Agenten fest anzustellen und erleichterten somit die staatliche Kontrolle. Bereits seit 1837 verlangte die bayerische Regierung von den Auswanderern die Vor- lage der Überfahrtkontrakts, bevor sie die Auswanderung bewilligte. Das Ansehen der Agenten war allerdings nicht das beste. Ihr Geschäft wurde mit Zeitungsanzeige 1849, Inst. für pfälzische Menschenhandel verglichen (vgl. Faltin Geschichte und Volkskunde Kaiserslautern 1986, S. 73), Profitgier, welche sie über das Wohl der Auswanderer stellten, war ei- ner der häufigsten Vorwürfe. Vor allem die Unteragenten in den Dörfern hatten gegen die großen Zweifel der Bevölkerung ihrer Branche gegenüber zu bestehen. Die ge- schäftliche Konkurrenz sowie die staat- liche Aufsicht führte zwar dazu, dass die Arbeitsweise der Agenten seriöser wurde. Trotzdem konnte es immer wieder passie- ren, dass Auswanderer an „schwarze Scha- fe“ aus der Agentenbranche gerieten. Um ihr Geschäft bekannt zu machen, betrie- Zeitungsanzeige, Inst. für pfälzische Geschichte und ben die Agenten und die Schifffahrtsgesell- Volkskunde Kaiserslautern schaften Werbung auf verschiedenste Wei- se. Große Agenturen schalteten regelmäßig Erst mit der schrittweisen Verbesserung Annoncen in Zeitungen und erreichten so- der Reiseabläufe und des Informationsflus- mit ihre Kunden. Diese Anzeigen fielen al- ses sowie den abnehmenden Auswander- lein schon durch ihr großes Format dem Le- erzahlen nach Übersee verloren die Agen- ser ins Auge. Im Text wurden die besonde- ten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ihre ren Leistungen sowohl der Agentur als auch Existenzgrundlage. Insgesamt leisteten sie der Schifffahrtsgesellschaft gepriesen, vor aber einen wesentlichen Beitrag zum rei- allem Schnelligkeit und Kompetenz wurden bungslosen Ablauf der massenhaften Aus- hochgehalten. Neben diesen Daueranzei- wanderung aus dem pfälzischen Raum im gen gab es aber auch aktuell geschaltete, 19. Jahrhundert. Wenngleich es auch immer die beispielsweise auf noch freie Passage- wieder Betrüger innerhalb dieses Berufs- plätze verwiesen, für welche man kurzfris- stands gab, waren es doch vor allem seriös tig Überfahrtsverträge abschließen konn- arbeitende Agenten, die den Auswanderern te. Weitere Werbemittel waren Agentenbro- eine große Hilfestellung zum Gelingen ihrer schüren oder Auswanderer-Ratgeber. Überfahrt in die neue Welt boten.

52 Reise-Pass in das Ausland, ausgestellt vom königl. bayerischen Bezirksamt Kusel, 1865, Slg. H. Schmahl

53 Quellen

Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Ministeri- um des Inneren (BayHStA Minn), 74208. Landesarchiv Speyer (LASp), Bestand H42, Nr. 134, Folio 157 f.

Literatur

Bretting, Agnes: Funktion und Bedeutung der Aus- wanderungsagenturen in Deutschland im 19. Jahr- hundert. In: Bretting, Agnes / Bickelmann,, Hartmut: Auswanderungsagenturen und Auswanderungsver- eine im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 1991, S. 11–90. Faltin, Sigrid: Die Auswanderung aus der Pfalz nach Nordamerika im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des Landeskommissariates Bergz- abern. Frankfurt a. M. 1986 (Europäische Hochschul- schriften, Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissen- schaften, 293). Heinz, Joachim: Bleibe im Lande und nähre dich red- lich. Zur Geschichte der pfälzischen Auswanderung vom Ende des 17. bis zum Ausgang des 19. Jahrhun- derts. Kaiserslautern 1989 (Beiträge zur pfälzischen Geschichte, 1). Moltmann, Günter: Das Risiko der Seereise. Auswan- derungsbedingungen im Europa-Amerika-Verkehr um die Mitte des 19. Jahrhunderts. In: Duchhardt, Heinz / Schlenke, Manfred (Hrsg.): Festschrift für Eberhard Kessel zum 75. Geburtstag. München 1992. Paul, Roland: Auswanderung aus der Pfalz vom 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. In Geiger, Micha- el u. a. (Hrsg.): Pfälzische Landeskunde. Beiträge zu Geographie, Biologie, Volkskunde und Geschichte. Band 3. Landau 1981, S. 235 f.

54 Roland Paul

Die jüdische Emigration in die USA nach 1933 am Beispiel der Pfalz

An der großen Auswanderungswelle aus nen kamen nach Gurs).2 Die Zahlen der jü- der Pfalz nach Nordamerika im 19. Jahr- dischen Bevölkerung in der Pfalz von 1933 hundert waren Juden in starkem Maße be- bis 1940 dokumentieren deutlich den gro- teiligt. Auswanderungsakten belegen dies, ßen Abwanderungsprozess dieser Minder- wie beispielsweise jene des Kreises Kusel, heit. Allerdings wandten sich viele pfälzi- die zahlreiche jüdische Viehhändler („Mak- sche Juden zunächst nicht nur dem Ausland ler“) unter den Auswanderern verzeichnen. zu, sondern suchten vielfach in innerdeut- Die Agrarkrisen und Missernten der 1840er schen Gebieten Zuflucht, vor allem in be- und 50er Jahre hatten nicht nur die wirt- nachbarten Großstädten wie Mannheim, schaftliche Lage der zudem unter der Re- Karlsruhe und Frankfurt. alteilung leidenden Bauern verschlechtert, sie hatten infolge des Vieh- und Futterman- Die jüdische Abwanderung aus der Pfalz gels auch die Viehhändler brotlos gemacht, setzte unmittelbar nach der Machtergrei- so dass sie in der Auswanderung die ein- fung Adolf Hitlers ein.3 Sie sollte vor allem zige Möglichkeit sahen, ihre soziale La- in den Jahren 1938 und 1939 einen Höhe- ge zu verbessern. So lesen wir in der dem punkt erreichen. Genaue Zahlen über die Auswanderungsantrag nachgereichten Be- jüdische Emigration liegen nicht vor, so gründung des Handelsmannes Simon Wolf dass die für die gesamtdeutsche Emigrati- von Hinzweiler vom 17. März 1850, „daß on der NS-Zeit getroffene Feststellung Wer- weil er kein Vermögen besitze seine Fami- ner Röders gerade auch für die Pfalz gilt: lie bisher rein nur durch die Verdiensten als „Über den Gesamtumfang der erzwunge- Mackler und Botengänger hatte zu ernäh- nen Abwanderung von rassisch Verfolgten ren suchen müssen, und weil selbst auch und politischen Systemgegnern aus dem diese wenigen Verdienste dermalen bei- Dritten Reich liegen keine präzisen Anga- nah ganz aufhörten, so sei er allerdings ben vor. Die unterschiedlichen Schätzzah- nothgedrungen sein weiteres und besseres len des Völkerbundes, der Flüchtlingsorga- Fortkommen in Amerika zu suchen, und es nisationen und die Statistik des Judentums hätten ihm seine Eltern die bereits schon in Deutschland ermöglichten auch für die einige Jahre in Amerika wohnten, so viel jüdische Emigration bisher nur die Errech- Geld mittelst Wechsel zukommen lassen, nung von Annäherungswerten.“4 als er zur Überfahrt für sich und die Seinen bedürfe.“1 Auch in den 1880er und 1890er Im Jüdischen Gemeindeblatt für das Gebiet Jahren war die jüdische Auswanderung aus der Rheinpfalz werden für von Sep- der Pfalz nicht unbedeutend. Viele Juden tember 1937 bis Oktober 1938 allein 351 dieser Auswanderungswelle erwiesen sich Einzelauswanderer und 58 Familien na- 40 und 50 Jahre später als Retter für manch mentlich genannt, die aus den vier pfälzi- einen Emigranten der NS-Zeit. schen Rabbinatsbezirken ins Ausland emi- griert sind. Die Mehrheit von ihnen, nämlich 1933 lebten noch etwa 6.500 Juden in der 296 Personen und 39 Familien, ist nach den Pfalz. 1940, zum Zeitpunkt der Deporta- USA ausgewandert. Es folgen Argentinien, tion der pfälzischen Juden nach Gurs, wa- Frankreich, Palästina, Luxemburg, Holland, ren es noch etwa 900 (allein 825 von ih- England, die Schweiz, Brasilien, Uruguay,

55 Kolumbien, Südafrika und Kuba.5 Detroit/Michigan oder Morton May in St. Louis, Missouri, Teilhaber der von dem Kai- Die Vereinigten Staaten von Amerika wa- serslauterer Auswanderer David May in Le- ren von Beginn der nationalsozialistischen adville, Colorado gegründeten Kaufhaus- Herrschaft an das begehrteste Einwan- kette „May Company“, verhalfen gleich ei- derungsland in Übersee, wenngleich die ner ganzen Reihe von Verwandten oder Be- USA die Einwanderungsgesetze verschärft kannten zur Emigration in die USA. Morton und die Einwandererzahlen begrenzt hat- May verdankte z.B. Hans Feibelmann sein ten. Die Quotenregelung legte die jährliche Affidavit.7 Die – wie Feibelmann – in Kai- Einwanderung aus den einzelnen Ländern serslautern lebende Elisabeth Frank reis- fest, wobei bestimmte Einwandererkatego- te 1936 mit einem Besuchervisum allein in rien bevorzugt wurden, z.B. die Eltern eines die USA, um entfernte Verwandte in Phila- US-Bürgers sowie Frau und minderjährige delphia ausfindig zu machen. Sie fand die Kinder von legal nach den USA Eingewan- Verwandten, die ihr auch die gewünschten derten, die noch nicht im Besitz des US- Bürgschaftserklärungen gaben, so dass sie Bürgerrechts waren. Zu den Einwanderern, nach erfolgreicher Mission wieder die Rück- für die die Quotenregelung nicht galt („Non reise nach Deutschland antreten konnte. Im Quota-Immigrants“), gehörten folgenden Jahr emigrierte sie mit Ehemann, 1. Ehefrauen und unverheiratete Kinder von Tochter und Sohn nach Philadelphia.8 US-Bürgern und 2. Geistliche und Hochschulprofessoren, Vielfach konnten auch einige der in den die nachweislich ihren Beruf in den USA zwanziger Jahren nach den USA ausge- fortsetzen konnten.6 wanderte Pfälzer Juden ihren Angehöri- gen zu einer Zuflucht in Amerika verhelfen, Ein Visum wurde erst dann erteilt, wenn das wie z.B. der seit 1929 in Chicago lebende Konsulat davon überzeugt war, dass der Ein- Arzt Dr. Julius Roos, der 1936 alle seine Ge- wanderungswillige nicht der Öffentlichkeit schwister aus dem westpfälzischen Brü- zur Last falle. Als Beweismittel dienten der cken zu sich holte oder der 1923 nach New Nachweis eines Eigenvermögens von meh- York ausgewanderte Schifferstadter Dr. Leo reren Tausend Dollar oder ein sogenanntes Freundlich, der von den USA aus die Aus- „Affidavit of Support“, die eidesstattliche wanderung seiner Angehörigen betrieb. Bürgschaftserklärung eines in den USA an- Zweimal ist er im Dritten Reich sogar nach sässigen Verwandten oder Bekannten. Deutschland zurückgekehrt, um ihnen die Wege zu ebnen.9 Zahlreiche auswanderungswillige Juden, vor allem auch viele Pfälzer, waren in der Neue Hoffnungen setzten die auf ein Einrei- glücklichen Lage, durch ihre früher ausge- sevisum wartenden Juden in die vom ame- wanderten Verwandten das ersehnte Affi- rikanischen Präsidenten Franklin D. Roose- davit und somit ein Visum zu erhalten. An- velt einberufene internationale Flüchtlings- deren blieb das Tor zu den USA durch das konferenz, die vom 5. bis 17. Juli 1938 in Fehlen solcher Verbindungen verschlos- dem französischen Badeort Evian am Gen- sen. Zwischen vielen pfälzischen Juden fer See tagte.10 Doch die Erwartungen gin- und ihren Verwandten in den USA wurden gen nicht in der erwünschten Weise in Er- Beziehungen, die längst abgebrochen wa- füllung. Erst nach der „Kristallnacht“ und ren, neu geknüpft, um dadurch einerseits der daraufhin erfolgten Masseninternie- das Affidavit zu erhalten, andererseits aber rung lockerte die amerikanische Regierung auch um eine erste Aufnahmestation in der – entgegen der überwiegend wenig frem- Fremde gesichert zu wissen. Manche wohl- denfreundlichen öffentlichen Meinung – die habende Nachkommen pfälzisch-jüdischer Einwanderungsgesetzgebung für die Flücht- Auswanderer, wie z. B. Bernard L. Maas in linge. So wurden zunächst die Besuchervisa

56 von etwa 15.000 bereits in den USA einge- re Ortsstraße 97 und so fanden wir Zuflucht reisten Flüchtlingen verlängert und später in Rheingönheim... Mein großes Gepäck, in Einwanderervisa umgewandelt. Das kon- zwei Schiffskoffer, gab ich einer Spediti- sularische Verfahren wurde erleichtert, so onsfirma in der Kammerstraße in Berlin zur dass die bislang nicht voll genutzte Einwan- Beförderung nach Amerika. Ich bezahlte die derungsquote beansprucht werden konnte. Fracht, kaufte Versicherungspolice. Ich sah In den Jahren 1939 und 1940 wurde die et- es nie wieder. Es hat Deutschland nie ver- wa 27.000 Personen umfassende Quote für lassen. Von der Versicherung sah ich kei- in Deutschland und Österreich geborene nen Pfennig.... Ich fuhr durch Kaunas (Kow- Einwanderer voll genutzt.11 no in Litauen). Ich glaube Visballen war die Grenze. Nach den üblichen Zollformalitä- Das jüdische Gemeindeblatt in Berlin ver- ten fuhren wir nach Minsk. Von Minsk ging öffentlichte bereits 1937 einige Empfehlun- es nach Smolensk und von Smolensk nach gen, die für die Auswanderung nach Ame- Moskau.“ Von Moskau setzte er seine Rei- rika sehr wichtig waren. Da heißt es u.a.: se über Gorki, Perm und Swerlowsk, Omsk, „Niemand kann nach Amerika auf die Tat- Nowosibirsk, Krasnojarsk und Irkutsk fort. sache hin einwandern, dass er bereits eine Weiter ging es über die Mongolei nach Ja- Stellung hat, die er antreten will. Und nie- pan, von dort per Schiff über Hawaii nach mand darf arbeiten, der nur auf Touristen- San Francisco. Von dort reiste er dann mit visum ins Land gekommen ist. Nun gibt es dem Zug zu seiner Schwester nach Buffalo. zwar die Möglichkeit, seinen Status zu än- „Hier in Amerika“, schrieb Haas an anderer dern und sein Touristenvisum in ein dau- Stelle, „bin ich ein ‚Gentleman’. In Deutsch- erndes Immigrationsvisum zu verwandeln. land war ich – ein ‚Saujude’....Hier in Ame- Dazu muß man das Land aber erst wieder rika bin ich wirklich frei. Die meisten Leu- verlassen, um dann über eins der Nach- te in Deutschland wissen überhaupt nicht, barländer, wie Kanada, Kuba oder Mexiko, was es wirklich ist frei zu sein....“13 von neuem einzuwandern. Aber auch dazu braucht man ein Affidavit; und außerdem Die aus Zweibrücken stammende Elisheva braucht man Geld: denn die Reise und der Lernau, geb. Kahn, die heute in Israel lebt, Aufenthalt in einem dieser Länder wollen schrieb über die Amerika-Emigration ihrer bezahlt sein. Es ist also keineswegs rich- Eltern: „Meine einzige Schwester… ist im tig, anzunehmen, daß man bloß erst hier in Sommer 1938 nach den USA ausgewan- Amerika zu sein braucht, und daß es dann dert. Mein Vater wurde in der Kristallnacht ein leichtes ist, sein Einwanderungsvisum im November 1938 in Stuttgart von der Ge- zu erhalten...“12 stapo verhaftet und mußte unterschrei- ben, daß er auswandere. Aber wohin? Mei- Viele US-Emigranten hatten eine abenteuer- ne Schwester, selbst noch ein Flüchtling in liche und beschwerliche Reise auf sich neh- New York und ich – wir haben uns verzwei- men müssen, um ihr Exilland zu erreichen. felt um Einreisevisen bemüht – alle Türen Einer von ihnen war Theodor Haas aus Rülz- waren verschlossen, und Geld war nicht vor- heim. Er konnte noch im Juni 1940, wenige handen. Drei Wochen vor Kriegsausbruch Monate vor der Deportation der pfälzischen erhielten meine Eltern eine vorübergehen- Juden nach Gurs, in die USA emigrieren. In de Aufenthaltserlaubnis für Frankreich. Sie einem Brief an Bernhard Kukatzki schrieb sind mit einem Handkoffer über die Gren- er 1988 aus Prompton, Pennsylvania über ze gegangen. Aber die Freiheit dauerte nur seine Odyssee u.a.: „Am 14. Juni 1940 sehr kurz für meinen Vater, denn er kam so- nahm ich den Zug von Rheingönheim und fort als feindlicher Ausländer in ein Lager. reiste nach Berlin. Ich wohnte mit meinen Im Mai 1940 kam wie durch ein Wunder Eltern in Rülzheim/Pfalz, aber die Nazis be- das USA-Visum und meine Eltern erreich- schlagnahmten unser eigenes Haus Mittle- ten New York mit dem letzten Schiff, kurz

57 vor dem Fall von . Ich habe meinen Va- Tausende verfolgte deutsche Juden hielten ter nie wieder gesehen. Er starb 1942, arm sich als „Durchreisende“ oder „Touristen“ wie eine Kirchenmaus, aber als freier Mann in Kuba auf, um – nach Erhalt ihrer Quo- und eines natürlichen Todes. Dafür bin ich tennummer – nach den USA zu gehen. Bis dankbar...“14 Mai 1939 sollen ca. 7.000 Juden, zum Teil illegal, in Kuba eingewandert sein, was die Viele Emigranten hatte eine ähnliche Odys- zunächst liberal eingestellte kubanische see hinter sich wie Theodor Haas, ehe sie Regierung veranlasst hat, dieser Entwick- endlich in den USA ankamen, so auch Ruth lung mit einem neuen Einwanderungsge- Korn, geb. Beer aus Bad Dürkheim, die sich setz vom 5. Mai 1939 zu begegnen. Voraus- seit 1937 um die Einwanderung nach den gegangen war eine antijüdische Kampagne USA bemühte. Sie ging 1938 zunächst für einflussreicher kubanischer Zeitungen.16 ein Jahr nach England, musste sich nach ei- Tragisch war das Schicksal der Passagie- nem Jahr aber nach einem neuen Exil umse- re des Schiffes „St. Louis“ der HAPAG, das hen. Sie erhielt dann eine Einreiseerlaubnis am 13. Mai 1939 mit über 900 Passagieren für Dänemark, bemühte sich von dort aus an Bord von Hamburg ausgelaufen war und aber weiterhin um die Einwanderung nach am 27. Mai in Havanna einlief. Die kubani- den Vereinigten Staaten. Durch die Inter- schen Behörden verweigerten den Flücht- vention eines von ihren Verwandten in De- lingen die Ausschiffung. Trotz des Einsat- troit eingeschalteten US-Senators erhielt zes des „American Jewish Joint Distributi- sie schließlich 1941 die Einreiseerlaubnis on Committee“, das innerhalb weniger Tage und emigrierte über Schweden, Finnland, die geforderte Kaution von 500.000 Dollar Rußland und Japan nach den USA. In Detroit aufbrachte, gestattete der damalige kuba- traf sie nach Jahren ihre alte Mutter wieder, nische Präsident Frederico Laredo Bru die die 1938 über Thailand nach Shanghai ge- Landung nicht. Das Schiff versuchte dann flüchtet und dort von den amerikanischen an der Küste Floridas zu ankern, doch auch Verwandten nach den USA geholt worden dort dürfen die Passagiere nicht von Bord. war. „Das Einleben in den USA war nicht In den folgenden Tagen kreuzte die St. Lou- leicht“, sagte Ruth Korn in einem langen Ge- is vor der nordamerikanischen Küste. Ein- spräch im Sommer 1990 im Kurpark-Hotel flussreiche jüdische Bürger intervenierten in Bad Dürkheim, „Mein Mann scheute vor bei Präsident Roosevelt und an den ameri- keiner Arbeit zurück, er war Tellerwäscher kanischen Kongreß. Roosevelt erklärte die in der Gastronomie, Krawattenverkäufer Angelegenheit für einen Routinefall, für etc. Schließlich erhielt er eine gute Stelle den die Immigrationsbehörden zuständig als Vertreter in einem Kristall- und Porzel- seien. Der New Yorker „Daily Mirror“ ver- lanimport-Geschäft.“ Ruth Korn selbst fand öffentlichte eine Karikatur der Freiheitssta- Arbeit als Kindergärtnerin. Sie besuchte in tue, an deren Arm ein großes Schild mit der den letzten Jahren wiederholt die Pfalz. Sie Aufschrift „Keep out“ hing und schrieb da- spricht ein akzentfreies Deutsch und un- zu. „Heute verhüllt unsere Göttin der Frei- verfälschtes Pfälzisch, als hätte sie ihre heit ihr Gesicht vor Scham; jene Freiheits- Heimat nie verlassen. „Ich habe in den USA statue, auf deren Sockel der Willkommens- nie aufgehört, Deutsch zu denken, zu lesen gruß eingemeißelt ist: Schickt mir eure Mü- und zu sprechen“, sagt sie und bedauert den, eure Armen....schickt alle, die Heimat- sehr, dass ihre Töchter kein Deutsch spre- losen und Umhergetriebenen zu mir.“ chen. „Im Krieg, als die Kinder klein waren, Das Schiff musste nach Europa zurückkeh- war es verpönt, Deutsch zu sprechen und ren. Ein Teil der Besatzung wurde in Eng- so haben wir uns mit ihnen immer auf Eng- land aufgenommen. Über 600 Passagie- lisch unterhalten.“15 re der „St. Louis“ kamen nach Frankreich, Belgien und Holland, wo sie bald nach der deutschen Besetzung wieder unter natio-

58 nalsozialistische Herrschaft kamen. Viele ren da nicht hilfreiche Hände gewesen, was von ihnen wurden Opfer des Holocaust. wäre schon damals aus uns, meiner Mutter Unter den Passagieren der „St. Louis“ be- und mir geworden? Ich startete als Disch- fanden sich auch Pauline Vendig, geb. Marx wascher, Pottwascher, Porter und derglei- aus Kaiserslautern mit ihrem Sohn Ernst, chen, und nie werde ich den Ausdruck ver- dessen Frau und zwei kleinen Söhnen. Sie gessen, den ich damals gebrauchte: ‚und landeten nach der Irrfahrt der „St. Louis“ das ist Amerika‘, und Gott sei Dank haben in Brüssel, wurden dort im Mai 1940 inter- wir das alles hinter uns, aber nicht verges- niert und in ein südfranzösisches Lager de- sen...“19 portiert. Mit Hilfe von Verwandten konnten sie 1942 in die Schweiz entkommen. Von Auch dem 1895 in Landau geborenen Wein- dort wanderten sie nach dem Zweiten Welt- händlersohn Otto Brunner, gelang noch krieg nach den USA aus.17 als einem der letzten Pfälzer die Flucht in die USA. In seinen Erinnerungen schrieb er Einige Juden aus der Pfalz, die vor dem 22. u.a. über die letzte Etappe seine Schiffs- 0ktober 1940 in Städte außerhalb Badens reise in die USA: „Wir alle waren glück- und der Pfalz gezogen waren, konnten sich lich, als wir an der Tafel des Dampfers la- in letzter Minute vor Einsetzen der soge- sen ‚Abfahrt nach New York’. Nun wußten nannten „Endlösung“ noch ins Ausland ret- wir so ziemlich sicher, daß wir nach U. S. ten, so z. B. Hermann 0ppenheimer, sei- A. kämen. Man hatte immer Zweifel, ob ne Frau Hilde und deren Mutter Frieda Ab- noch alles so glatt gehen würde, da doch raham. Sie hatten ihre Heimatstadt Land- inzwischen der Krieg ausgebrochen war. stuhl, wo Hermann 0ppenheimer bis 1933 Wir waren nun nur noch 300 Leute an Bord, als Rechtsanwalt zugelassen war, nach der und konnte man sich nun auch während „Kristallnacht“ verlassen und waren zu Ver- der Fahrt überall auf dem Schiff bewegen. wandten nach Frankfurt gezogen, wo sie Aufregend war noch die Fahrt aus dem Ha- sich um ein US-Visum bemühten. Erst 1941 fen. Es war sehr stürmisch geworden, und erhielten sie die ersehnte Einreiseerlaub- der Lotse steuerte das Schiff aus dem Ha- nis für die Vereinigten Staaten. Am 25. Mai fen zwischen den Felsen und der ziemlich 1941 verließen sie Frankfurt und hatten bewegten See in das offene Meer hinaus, sich zu einem Sammeltransport in Berlin während sein Begleitboot neben uns her- einzufinden, von wo sie die Reise nach Lis- fuhr und manchmal ganz in den Wellen ver- sabon, dem damals einzigen Ausgangsha- schwand. Unter solchen Bedingungen ver- fen, antraten. Da die wenigen Schiffe alle ließ der Lotse unter unseren besten Wün- überbesetzt waren, mussten die 0ppenhei- schen den Dampfer und verschwand in der mers sieben Wochen in Lissabon warten, dunklen, stürmischen Nacht. Wir fuhren im- bis sie mit einem portugiesischen Schiff mer ziemlich der Küste entlang. Besonders Europa verlassen konnten. Am 9. August solange wir im karibischen Meer waren, sa- 1941 landeten sie in New York.18 hen wir sehr oft das Land, besonders bei Nacht die Lichter am Ufer. In den ersten Ta- Dankbar erinnerten sich viele Emigranten gen hatten wir sehr viel Gewitter und in ei- an die Hilfe, die ihnen nach der Ankunft ner Nacht Wolkenbrüche, wie ich sie noch in den USA zuteil wurde. Der im Dezember nicht erlebt hatte. Zudem gingen die Wellen 1937 mit seiner Mutter aus Landstuhl emi- öfters über das Schiff hinweg. Es war aber grierte Siegfried Moses aus Landstuhl kam immer noch warm. Wir fuhren schon sechs mittellos in New York an, nachdem er erle- Tage bis auf einmal es immer kälter wurde ben musste, dass seine beiden Kisten mit und das Schiff ziemlich vereist war. Es war ihrer letzten Habe bereits im Hamburger ja inzwischen Weihnachten geworden, und Hafen aufgebrochen worden waren. „Wir am 25. Dezember abends tauchten in der kamen pennyless in Amerika an, und wä- Ferne eine Unmenge Lichter auf, man sah

59 Scheinwerfer, und alles sagte, wir wären in no gearbeitet. Mein Vater mußte daheim der Einfahrt von New York. Das Schiff hat- bleiben, hatte einen schweren Herzanfall te während der Nacht Anker geworfen, und sechs Wochen vor der Reise nach Ameri- am nächsten Morgen wurden wir mehr dem ka. So war mein Vater die Hausfrau, hat Hafen zu dirigiert. Jeder wurde im Mund die Wohnung sauber gemacht, hat die Bö- gemessen, eine Kommission kam auf den den putzen müssen. Er hat mir oft so leid Dampfer, die Papier wurden alle geprüft, getan. 30 Jahre als Geschäftsbesitzer und und inzwischen machte der Dampfer in jetzt auf den Knien zu rutschen den Boden Staten Island fest. Leider zog sich die Prü- zu waschen. Aber wissen Sie was, wir wa- fung so in die Länge, daß ich erst am spä- ren froh, daß wir am Leben sind…“21 ten Nachmittag an Land kam. Leider muß- ten meine Angehörigen dadurch in der Käl- Mehrere pfälzische Kinder, die noch vor te sehr lange warten, und war ich dann froh Kriegsbeginn mit Kindertransporten nach als ich nach einer kurzen und glatten Zoll- Frankreich emigrieren konnten, dann aber kontrolle meine Schwester und Neffen Fritz monatelang in Klöstern, Internaten und begrüßen konnte. Wir nahmen sofort ein in Familien versteckt wurden, hatten das Taxi, so konnte ich gleich meinen Koffer Glück – ehe sie bei Razzien erwischt und mitnehmen und fuhren mit der Ferry nach in Internierungs- und Konzentrationsla- Brooklyn…. Natürlich stand ich ganz unter gern landeten – dank der Kooperation fran- dem Eindruck nach solch vielen Hindernis- zösischer und amerikanischer Hilfsorga- sen glücklich wieder in einem Land gelan- nisationen in die USA zu kommen.22 Unter det zu sein um hier einen sicheren Boden ihnen waren beispielsweise Ruth Strauß für mein weiteres Leben zu finden. Ich kann aus Waldfischbach sowie ihre aus Glan- heute gestehen, daß ich noch großes Glück Münchweiler stammenden Cousins Gün- hatte, gerade noch so am Ende einer Ein- ther, Ursula und Edith Moses. Sie wurden wanderungsmöglichkeit hier angekommen von amerikanischen Familien aufgenom- zu sein und möchte an dieser Stelle all mei- men. Ihre nach Gurs deportierten Eltern ha- nen Angehörigen, die in so aufopfernder ben sie nie mehr gesehen.23 Im YIVO-Insti- Weise an meiner Rettung beteiligt waren, tut in New York befindet sich ein großer Be- aus innerstem Herzen danken.“20 stand, die „German Jewish Children‘s Aid Records“, über die vor allem von der Socie- Über den schweren Anfang und ihre ersten ty of Friends, den amerikanischen Quäkern, Erfahrungen in den USA berichtet Eleono- durchgeführte Kinder-Rettungsaktion. re Pollock, geb. Traubermann, deren Fami- lie das angesehene Textilkaufhaus Fleisch- Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mann in der Marktstraße in Kaiserslautern kehrte nur ein Bruchteil der Emigranten betrieben hatte. 1937 ist sie mit ihren Eltern wieder in die Pfalz zurück, unter ihnen vor und ihrer Schwester ausgewandert. „Als allem die sogenannten „politischen Flücht- wir hier ankamen, haben wir bei Verwand- linge“, Sozialdemokraten und Kommunis- ten gewohnt in Brooklyn, sind aber nach ten, nur wenige Juden. Aufgrund der am acht Wochen dort ausgezogen. Es wurde eigenen Leib verspürten Demütigungen zu viel für die Cousine meines Vaters. Wir und der Ermordung ihrer Angehörigen und haben eine große Wohnung gemietet, fünf Glaubensgenossen, wurde Emigration für Zimmer und haben drei an Flüchtlinge ver- die meisten von ihnen zur „bedingungslo- mietet. Meine Mutter und Bruder haben in sen Auswanderung“.24 Bei Kriegsende hat- einem Warenhaus gearbeitet. Ich war an- ten sich die meisten Emigranten mit dem gestellt als Kindermädel und habe dadurch Leben im Exilland abgefunden, eingelebt die Sprache gelernt. Meine Schwester Do- hatten sie sich zu diesem Zeitpunkt im Auf- ris war ja nur 11 Jahre, ging in die Schule nahmeland nur selten. am Tag, und am Abend hat sie in einem Ki-

60 So manch ein Emigrant war während des griert, nannte sich seit 1944 Howard John Krieges Soldat geworden und befand sich Fields, Hans Lauchheimer aus Grünstadt, unter den Truppen, die bei Kriegsende in emigrierte 1933 nach Memphis, Tennessee die Pfalz einmarschierten, wie z.B. der und nannte sich dort Justin H. Adler. 1934 nach den USA emigrierte Leonard Fel- senthal, der nach der Ardennen-Offensive In den meisten Aufnahmeländern, so auch im März 1945 über Saarburg in seine Hei- in den USA, schlossen sich die Flüchtlin- matstadt Kaiserslautern kam, bald aber als ge in Vereinen und Gruppen zusammen, Presseoffizier nach München beordert und um einerseits ihre gemeinsamen Interes- dort als Mitarbeiter in der US-Nachrich- sen wahrzunehmen und andererseits um tenkontrolle einer der „Geburtshelfer“ der über politische, wirtschaftliche und kultu- Süddeutschen Zeitung wurde.25 relle Probleme diskutieren zu können. Die- se Vereine „hatten oft eine psychologische Die meisten jüdischen US-Emigranten sie- Bedeutung, boten sich doch die Möglich- delten sich in den nordamerikanischen keit, mit Gleichgesinnten in Verbindung zu Großstädten an, die in der Regel bereits ei- treten und die eingetretene Vereinsamung nen großen jüdischen Bevölkerungsanteil im fremden Land zu überwinden.“26 hatten wie New York (ca. 80.000 deutsch-jü- dische Einwanderer), Chicago (ca. 15.000), In New York traten viele Emigranten dem Los Angeles (ca. 8.000), Philadelphia (ca. „German Jewish Club“ bei. Andere enga- 6.000), San Francisco (ca. 5.000) sowie in gierten sich in der Organisation „Selfhelp“ Boston, Detroit, Baltimore, Cleveland, St. und unterstützten nach Kriegsbeginn die Louis, Washington, D.C. In einigen Stadt- in französischen Lagern, insbesondere in vierteln dieser Städte bildeten sich regel- Gurs internierten Glaubensgenossen, er- rechte Flüchtlingskolonien, wie z.B. im Sü- reichten für eine Reihe von ihnen die Frei- den Chicagos oder im Gebiet „Washington lassung und organisierten deren Emigrati- Heights“ in Manhattan, das die Flüchtlinge on nach den Vereinigten Staaten. Aus sol- selbst „The Fourth Reich“ (Das vierte Reich) chen Zusammenschlüssen und Selbsthil- nannten. feorganisationen rekrutierten sich im we- sentlichen auch jene jüdischen Gruppen, Diese Konzentration erlaubte ihnen, vor al- die sich nach dem Kriege für die Unterstüt- lem den älteren, die sich mit der fremden zung der Überlebenden des Naziregimes Sprache schwer taten, auch weiterhin den in Europa eingesetzt haben, wie z.B. das Gebrauch ihrer Muttersprache. Viele Emi- „Committee for the Relief of Jews from the granten, dies gilt nicht nur für die große Rheinpfalz“ in New York, das im Juni 1946 Zahl der US-Auswanderer, mussten im Ein- zu einer Spendenaktion aufrief. wanderungsland einen Berufswechsel voll- ziehen. So wurde beispielsweise das Stu- Die Emigranten gründeten in den USA aber dium der meisten Akademiker im Ausland auch andere Organisationen „von ortho- nicht anerkannt, so dass sie entweder auf doxen Religionsgemeinschaften bis zu andere nicht-akademische Berufe umstei- Sportvereinen und Kaffeekränzchen“. „Die- gen oder von neuem ein teures Universi- ses Netz von Organisationen trug durch ge- tätsstudium absolvieren mussten. Dazu genseitige Hilfe jeder Art zur Akkulturati- waren die meisten Emigranten finanziell on der deutsch-jüdischen Einwanderer bei nicht in der Lage. und war selbst in Programmatik und Orga- nisationsform vom Prozeß der Akkulturati- Aus unterschiedlichen Gründen änderten on bestimmt. Da die jüdische Wanderung viele Emigranten in den USA ihre Vor- und meist als Wanderung von Familien vor sich Familiennamen. Hans Alexander Feibelmann gegangen war, wurde der Akkulturations- aus Kaiserslautern, 1939 nach New York emi- prozeß auch durch die amerikanische Erzie-

61 hung der Kinder oder durch ihren Dienst in Edith Mayer, Ruth Schloss, Ursula Roth und Gun- der US-Armee während des 2. Weltkrieges ther Moses im August und Oktober 1988 in Way- 27 ne, New Jersey und New York. erheblich gefördert.“ 24 Detlev Oppermann: Hitler-Gegner nicht vorbehalt- los willkommen - Die deutschen Emigranten in Frankreich nach 1933. In: Frankfurter Rundschau vom 5.11.1979. 25 1 Archiv der Kreisverwaltung Kusel, Auswande- Biographisches Handbuch 1980, S. 170; zu Fel- rungsakten 1850. senthals Aufenthalt in Kaiserslautern 1945 vgl. 2 Zu den Zahlen vgl.: Arnold 1967, S. 62, sowie Jü- Eichhorn 1945, S.59 f.; zu seiner Biographie disches Gemeindeblatt für das Gebiet der Rhein- vgl. auch Nachruf in „Washington Post“ vom pfalz, 2. Jg., Nr.3, S.1; vgl. auch Heß 1983, S. 78; 26.2.1992 sowie Roland Paul: Prominenter Emi- vgl. auch Paul 1989, S. 147 ff. grant tot - Leo Felsenthal aus Kaiserslautern ge- 3 Vgl. Paul 1989; Paul 1993; Paul 1996 storben. In: Die Rheinpfalz, Ausgabe Kaiserslau- 4 Biographisches Handbuch 1980 tern vom 4.4.1992. 26 5 Jüdisches Gemeindeblatt für das Gebiet der Rhein- Müssener 1974 27 pfalz, monatlich erschienene Ausgaben vom 1. Biographisches Handbuch 1980, S. XXX. September 1937 bis 1. November 1938. 6 Pflug 1985, S. 188. 7 Gespräch des Vf. mit Howard John Fields, New York, früher Kaiserslautern, am 27.10. 1983 in New York. 8 Gespräche des Vf. mit Edith Loeb, geb. Frank, in New York am 16.10. 1992. 9 Gespräch des Vf. mit Fred Roos, New York, am 25.9.1988; vgl. auch Markus Bauer: Juden in Brü- cken - Skizzen zur Geschichte einer jüdischen Landgemeinde. In: Westrichkalender Kusel 1993, S. 140; Sold / Kukatzki 1988, S. 81. 10 Vgl. dazu Kieffer 2002, S. 155ff. 11 Biographisches Handbuch 1980, S. XXIX. 12 Pflug 1985, S. 190. 13 Briefe an Bernhard Kukatzki, Schifferstadt, 1988 und 1989. 14 Korrespondenz d. Vf. mit Elisheva Lernau; vgl. auch Paul 1989, S. 170, und Hans L. Reichrath: Berthold Kahn (1874-1942). Justizrat - Deutscher und Jude: einer von vielen. In: Jüdische Lebensge- schichten 1995, S. 149-160. 15 Gespräch des Vf. mit Ruth Korn, Detroit/Michigan am 23.7.1990 in Bad Dürkheim. 16 Wetzel 1988 17 Korrespondenz des Vf. mit Charlotte Kallmann, verwitwete Vendig, Zürich, 1981, sowie Brief Er- nest R. Stiefel, Seattle, Washington, an Vf. vom 12.12. 1988. Vgl. auch „Opfer einer mitleidlo- sen Bürokratie - Zum 50. Jahrestag der Reise des Unglücksschiffes St. Louis“ in: AUFBAU vom 9.6.1989. 18 Gespräche des Verfassers mit Frau Hilde 0ppen- heimer in New York am 18.9.1981 und 27.10.1983; vgl. auch Roland Paul, Die jüdische Gemeinde in Landstuhl - Anmerkungen zu ihrem Schicksal im Dritten Reich. In: Heimatkalender 1982 für Stadt und Landkreis Kaiserslautern, S. 60 - 64. 19 Die jüdische Gemeinde in Landstuhl (wie Anm. 18), S. 60-64. 20 Leo Baeck Institute New York, Brunner Collection. 21 Brief der Eleonore Pollock an Vf. vom 1.5.1989. 22 Vgl Wipfler-Pohl 1992 23 Brief Edith (Moses) Mayer, Wayne/New Jersey an Vf. vom 6.7. 1988 sowie Gespräche des Vf. mit

62 Sarah A. Sternal

„Die Ersten litten große Not, die meisten Zweiten holte ein früher Tod und erst die Dritten fanden Brot“1 Das Bild des pfälzischen Auswanderers in der landeskundlichen Literatur von 1850 bis heute

Vom 19. Jahrhundert bis zum Ersten Welt- ohrigkeit“), großem Selbstbewusstsein,4 krieg – „Reicher Onkel aus Amerika“ Fleiß, Fortschrittsgläubigkeit und Ratio- Der große Traum von einem besseren Le- nalität brachten es die Pfälzer zu glänzen- ben gehörte früher wie heute zu den großen den wirtschaftlichen Resultaten.5 Der Pfäl- Sehnsüchten der Menschen. Schon im 18. zer sei stolz auf seine Persönlichkeiten und Jahrhundert war die Pfalz aus politischen, habe „monumentalen und historischen wirtschaftlichen und religiösen Motiven ei- Sinn“.6 Eine eher bürgerlich schlichte Klei- ne klassische Auswanderungsregion. Aber dung („Rock und Kamisol“) unterstreiche erst seit ca. 1850 gibt es eine historisch ver- die Liebe des Pfälzers zum Praktischen und wertbare Beschreibung der Migration, ihrer Bequemen.7 auslösenden Bedingungen und Folgen. So wanderten zwischen dem Ende der napo- Sehr wichtig für den Pfälzer sei das Essen leonischen Kriege (1815) und dem Beginn und Trinken: „Der Mensch hot en Maage un‘ des Ersten Weltkrieges (1914) schon über nit umesunscht“, heißt es in einem pfälzi- 50 Millionen Europäer nach Übersee aus, schen Gedicht.8 Mit der zentralen Bedeu- unter ihnen rund 40 Millionen in die Verei- tung der pfälzischen Küche gehe auch Fa- nigten Staaten. Diese freie, nicht von staat- milienhaftigkeit, die Tiefe und Heiterkeit lich-administrativer Seite gelenkte Migrati- des pfälzischen Familienlebens einher, da on sah man in der vom nationalstaatlichen die Bereitung von Speisen und Vorräten Denken geprägten wilhelminischen Ära al- oftmals als Familienfest zelebriert werde.9 lerdings als „Negativum“, als „Aderlass am In der Familie und der sittlichen Tüchtigkeit Volkstum“.2 wurzele auch die Religiosität – vielmehr, als in einem kirchlichen Gemeindeleben. Die starke Auswanderung im Südwes- Der pfälzische Dialekt – Mundartdichter ten Deutschlands von 1817–1857 war zu- wie Franz von Kobell oder Ludwig Schand- gleich auch eine Phase großer Publizität. ein haben mit ihm den pfälzischen Volks- Als „soziales Krankheitssymptom“ werte- geist herauszustellen versucht – 10 spielt te sie 1857 der aus Biebrich stammende bis heute eine kulturstiftende Rolle: Die Theologe, Journalist, Romanschriftsteller Auswanderer wurden in ihren Zielgebie- und Privatgelehrte Wilhelm Heinrich Riehl ten mundartlich tätig, z.B. in Pennsylvania in seinem Werk „Die Pfälzer – Ein rheini- oder im Banat.11 sches Volksbild“.3 Die pfälzischen Wesens- züge beschreibt Riehl als bedeutsam für Der Drang nach Unabhängigkeit und Frei- die Auswanderung, da sie die Pfälzer „be- heitsliebe lasse den Pfälzer viele Opfer weglich in der Sitte und der Politik“ ge- bringen: Bevor seine Kinder wegen Gutszer- macht hätten: Mit Drang nach Unabhängig- splitterung als Tagelöhner arbeiten müss- keit, Selbstherrlichkeit, Gewandtheit der ten, wandere er nach Amerika aus, wo er Auffassung und Schlagfertigkeit („Schlitz- für jedes Kind ein ausreichendes Besitztum

63 gründen könne. 12 Die sog. Auswandererkis- Jean Baptiste aux Allemands erinnern an te, die 1853 mit der Inschrift „Bleib im Lan- die frühen Kulturträger.20 Zu berühmten de und nähre dich redlich“13 auf dem pfälzi- Pfälzern im Amerikanischen Unabhängig- schen Kreis-Landwirtschaftsfest unter den keitskrieg (1775 bis 1783) zählen z.B. Jo- Ackerbaugeräten aufgestellt wurde, war hann Christian Schell, der Haus und Hof vor für Riehl ein „bedeutsames Wahrzeichen angreifenden Indianern schützte, Johann pfälzischer Zustände“; in ihr glaubte er Adam Hartmann („Lederstrumpf“), und der ein „Heilmittel sozialen Vagabundentums Bauerngeneral Nikolaus Herchheimer, der … verschlossen“.14 Viele Autoren sahen in 1777 zum „Held von Oriskany“ am Mohawk Überbevölkerung und Armut die Gründe für wurde.21 Der Ort und die Grafschaft erhiel- den starken Auswandererstrom der 50er ten seinen anglisierten Namen: Herkimer.22 Jahre des 19. Jahrhunderts.15 Der aus En- kenbach stammende Historiker und Lan- Ein neues Selbstgefühl („deutscher Fleiß deskundler Daniel Häberle verweist stolz und Gründlichkeit“) seit der Wiedergeburt auf die Leistungen der Pfälzer in der Frem- des Deutschen Reiches führte zur Grün- de, „die als einzigen Besitz meist nur ein dung zahlreicher Vereine, wie z.B. dem schwaches Bündel, aber ein starkes Herz „Deutsch-amerikanischen Nationalbund“ aufzuweisen hatten“ und „aus den primi- unter Dr. Karl Johannes Hexamer, der sich tivsten Wirtschaftsverhältnissen durch Mü- die Erhaltung von deutscher Mutterspra- he und Kampf zum Gedeihen fortgeschrit- che und Kultur zur Aufgabe machte.23 1886 ten sind.“16 Häberles Werk „Auswanderung wurde das zweihundertjährige Jubiläum und Koloniegründungen der Pfälzer im 18. der ersten größeren Auswanderung unter Jahrhundert“ (1909) begründet die wissen- Pastorius gefeiert, seither regelmäßig in schaftliche Erforschung der pfälzischen vielen Städten als „Deutscher Tag“. „Jedes Auswanderung. Einwanderungselement“, so Präsident Roo- sevelt im Jahre 1903, „hat zum National- In seinem Wanderbuch „Träume und Schäu- charakter beigetragen, aber keinem schul- me vom Rhein“17 vermutet Georg Friedrich den wir mehr als dem deutschen.“24 Blaul, dass die Unkenntnis der Gefahren den Mut der Auswanderer bewirke, die statt Die Zeitschrift Der Pfälzerwald von 1913 der schweren Arbeit nur „goldene Berge“ behandelt das Wandernwollen und Wan- sähen. Zahlreiche pfälzische Kolonien, z.B. dernmüssen des Pfälzers aus psychologi- „Pfalzdorf“ im Rheinland, Siedlungen in scher Sicht.25 Die südpfälzische Zeitung Eil- Preußen, in Jütland („Kartoffeldeutsche“), bote betont ein realistisches Amerikabild: in Irland, in Spanien, in der Batschka und Man müsse in Amerika bereit sein nicht nur dem Banat („Der deutsche Bauer ist unter viel zu arbeiten, sondern auch jede Arbeit der ländlichen Bevölkerung ein schlich- zu verrichten.26 So wird sowohl über pfälzi- ter, aber auch ein rechter Pionier der Kultur sche Einwanderer berichtet, die in Amerika geworden“18), an der Wolga, im Kaukasus wurzellos und zu Dieben und Verbrechern und im Mohawk-Tal gelangten zu Reichtum geworden seien, als auch über die Feier des und Prosperität. „Von den Industrien Penn- 100. Geburtstages von Schiller oder die sylvaniens sind namentlich die Glas-, die Gründung eines deutschen Gesangvereins Ofen- und die Papierfabrikation sowie die in Philadelphia. Seit der Reichsgründung Weberei (von den Pfälzern, Anm. d. Vf.) ins galten die Auswanderer nun nicht mehr nur Leben gerufen.“19 als charakterschwache Menschen, die an Deutschlands Zukunft verzweifelten, son- Pfälzische Weinbauern in New Jersey und dern als Deutsche, die auf ihr Vaterland Zuckerpflanzer in Lousiana, deutsche Na- stolz waren.27 Die Wohlhabenheit einiger men wie Lac des Allemands, Bayon alle- US-Pfälzer war hilfreich für die Daheim- mand, die Kirchen St. Borromäus und St. gebliebenen, denen sie sog. „Prepaids“

64 nen draußen gibt sie Auskunft über Land und Ort ihrer Herkunft und bietet Anhalts- punkte, an die man sich bei der Herstellung der Beziehungen zum Mutterlande klam- mern kann“.33 War bisher die Abschiebung von Unerwünschten das Ziel, so wollte man in der Weimarer Zeit nur „die Besten der Besten“ auswandern lassen. Eine Auswan- derung „tüchtiger Volksgenossen“ sei kei- ne Schwächung, sondern eine „Stärkung des deutschen Volkstums“, heißt es in der Zeitschrift Der Auslanddeutsche.34

Zunehmendes staatliches Interesse führ- te 1918 zur Gründung „Reichsstelle für deutsche Rückwanderung und Auswande- rung“.35 Auswanderer wurden als „Kultur- gewinn für Amerika“ gesehen, wie Die Pfalz am Rhein stolz verkündet.36 Fleiß, Stetig- keit und Genügsamkeit zeichnete den deut- schen Landwirt in Amerika aus. Im geisti- Theodor Pixis, Bildnis Heinrich Hilgard, gen. Villard, gen und wissenschaftlichen Leben hatten 1886/88, 68,5 x 52 cm, Öl auf Leinwand, Museum Pfalzgalerie Kaiserslautern, Inv. Nr. PFG 0 / 44, sich Pfälzer verdient gemacht, wie der Bi- Foto: Gunther Balzer, Kaiserslautern ologe Friedrich Ernst Melsheimer, der Arzt Georg Engelmann und der Gründer der deutsch-englischen Akademie in Milwau- (Überfahrtstickets) bezahlten.28 „Der rei- kee, Peter Engelmann.37 In der deutsch- che Onkel aus Amerika“ ließ mit Schenkun- amerikanischen Literatur haben sich unter gen, Stiftungen oder Erbschaften am „ame- anderem Karl Schurz und Konrad Krez (s. rikanischen Paradies“ teilhaben.29 Der be- u.) hervorgetan. Ein volkskundlicher Kul- kannte Wohltäter Henry Hilgard-Villard z.B. tureinfluss war beispielsweise die Einfüh- stiftete dem Diakonissen-Krankenhaus in rung des Weihnachtsbaumes in Amerika. Speyer und zahlreichen anderen Instituti- Die Pfalz am Rhein plädiert sogar für eine onen.30 „Erinnerungsstätte“ zur Pflege der gemein- samen kulturellen Überlieferungen38, und Weimarer Republik – 250 Jahre Auswande- der Artikel „250 Jahre Auswanderung und rung Siedlung der Pfälzer in Amerika“ in der glei- Die zunehmende Propagierung des Volks- chen Zeitschrift von 1931 zeugt vom gro- tumsgedankens und die schwierige wirt- ßen Interesse am Thema.39 schaftliche Lage infolge des Ersten Welt- krieges erhöhten die Bedeutung der Aus- Unter der Überschrift „Ein Gruß der Hei- wanderung, deren Erforschung nach dem mat den Pfälzern in der Fremde“40 widmete Versailler Vertrag „eine Brücke zwischen sich 1922 die Zeitschrift Pfälzisches Muse- In- und Auslandsdeutschtum“ schlagen um – Pfälzische Heimatkunde Karl Schurz, sollte. 31 „Höher schlagen die Herzen der dem ersten amerikanischen Senator deut- Ausgewanderten in dem Gedanken, daß scher Herkunft, und dem „Eisenbahnkö- ihre Wiege nicht irgendwo in einem Win- nig“ Heinrich Hilgard (später Villard) aus kel der Welt stand, sondern … im Herzen Speyer, der als Präsident mehrerer Bahn- Deutschlands“.32 Die Untersuchung der gesellschaften 1883 an der Fertigstellung Auswanderung schien von Interesse: „De- der „Northern Pacific Railroad“ maßgeb-

65 lich beteiligt war.41 Diese beiden „Kinder rung bestehe in der Erhellung einer Vergan- der 1848er Revolution“ wurden als „Män- genheit rassisch reiner Gesellschaften. Die ner des tätigen Lebens, men of action“42 Auswanderung illustrierte nun nicht mehr gefeiert, ausgezeichnet durch Ehrenhaf- die sozialen und kulturellen Affinitäten, für tigkeit und Verlässlichkeit. Mit rühmens- die sich die Heimatkundler der Weimarer werten amerikanischen Eigenschaften wie Zeit interessiert hatten, sondern das Prin- Entschlussfähigkeit und Willenskraft wa- zip der „Blutsverwandtschaft“: „Um die Er- ren sie als „Bürger und Vermittler zweier de wandre, Deutscher, denn es liegt dir ja Staaten“, die „durch hohe Intelligenz und im Blut, heilig bleib dir doch die Erde, wo praktische Gewandtheit den deutschen Na- die Väter Äsche ruht“.48 Das Beispiel der men im Ausland zu Ehre brachten, aber zu- Emigranten sollte zeigen, dass nicht das gleich die Gegensätze der Nationen zu mil- Land, d.h. die geographische Entfernung, dern wussten“, Wegbereiter einer Verstän- sondern Blut und Rasse für die kulturelle digung der Völker.43 Identität ausschlaggebend waren. Die Ver- tiefung des Rassebewusstseins bedeutete Als Offiziere des französischen Fremdre- jedoch zwangsläufig eine Schwächung des giments „Royal Deux-Ponts“ trugen die Regionalbewusstseins, da die Besonder- Grafen Christian und Philipp Wilhelm von heiten der pfälzischen Kultur durch die ras- Forbach im Amerikanischen Unabhängig- sische Einheit des Volkes verdrängt wur- keitskrieg zum Sieg der französisch-ame- den.49 rikanischen Truppen bei, in dessen Fol- ge Großbritannien die Unabhängigkeit der „Das deutsche Volkstum lebt in der Frem- ehemals britischen Kolonien anerkannte.44 de. Und es steht als ein Denkmal und Zeuge In der Rubrik „Bunte Blätter“ berichtet Al- deutscher und gerade saarpfälzischer Bau- bert Becker, dass „Pfälzer“ im 18. Jahrhun- ernkraft.“50 Die Unterstützung der Deutsch- dert gleichbedeutend mit „Auswanderer“ amerikaner sah man als eine der wichtigs- wurde, obwohl es sich vielfach um in die ten Aufgaben der Auslandsarbeit, um der Pfalz eingewanderte Schweizer handelte, „Verunglimpfung des deutschen Namens die dann schließlich als „Pfälzer“ nach Hol- und Wesens“ in den USA, die das „Hitler- land, Preußen, Dänemark, England, Russ- Deutschland“ ablehnten, entgegenzuar- land, Carolina und Pennsylvanien weiter- beiten.51 Bis zum Ende des Zweiten Welt- zogen.45 Auch die verkümmerte deutsche krieges schrumpfte die Erforschung der Presse Amerikas habe in den 30er Jahren Ein- und Auswanderung in Deutschland des 19. Jahrhunderts durch „hochgebilde- zu „einem Stück Heimat- und Familienge- te deutsche Männer“ einen Aufschwung er- schichte“.52 lebt. Der pfälzische Drucker Johann Peter Zenger hatte 1735 den Kolonien die Pres- Friedrich Schönemann, 1936 Inhaber des sefreiheit erkämpft, und berühmt sind die einzigen Lehrstuhls für Literatur und Kunst- Druckerzeugnisse des Klosters Ephrata, geschichte, bezeichnet die Massenauswan- gegründet von Johann Konrad Beissel aus derung nach Amerika von 1709 als typisch Eberbach.46 „für die Verelendung und die Hilflosigkeit deutscher Volksgenossen“, daher auch der Nationalsozialismus – Auswanderung als „Hohn- und Jammername ‚Palatinates’“.53 „Export deutschen Volkstums“ Das Schicksal der Deutschen in Amerika Die NSDAP hatte das Ziel, im Ausland le- spiegele „die ganze Zerissenheit der deut- bende Deutsche zu kontrollieren und nati- schen Geschichte sowie die Zerfahrenheit onalsozialistisches Gedankengut zu expor- des deutschen Charakters“ wider. Die Aus- tieren; man wollte eine „Transformation der wanderer sieht Schönemann als „schlech- Kategorien, die zur Beschreibung der pfäl- te Menschenkenner“, die in Amerika ihr Heil zischen Kultur dienten“.47 Die Überliefe- suchten, sich letztendlich im Davonlaufen

66 jedoch selbst betrogen. Nordamerika sei ein 1945 bis heute – Wissenschaftliche Neuori- „Massengrab unseres Volkstums“, da der entierung der Pfalzforschung Verlust an Menschenkraft, Geld und Gut, an Der Zweite Weltkrieg hatte die Lebens- Persönlichkeit und Deutschtum den Verei- grundlage von Millionen Menschen zer- nigten Staaten zum Gewinn geworden sei.54 stört – Auswanderung erschien vielen des- Als „Kulturdünger“ habe der deutsche Geist halb als der einzige Weg aus der Trümmer- an der „Zielsetzung und Vertiefung der ame- landschaft Europas. In der Pfalzforschung rikanischen Kultur“ mitgewirkt.55 betonten zahlreiche neue Publikationen wie die Pfälzer Heimat oder die Pfälzischen Ernst Drumm und Albert Zink beschreiben Heimatblätter nun die Faktenorientierung, die in den Jahren 1747/48 erfolgte saar- die der Nationalsozialismus missachtet pfälzische Kolonisation in Pommern unter hatte.63 Man rühmte die Leistungen der Friedrich dem Großen.56 Diese Auswande- Pfälzer, die „der aufstrebenden Nation im rung galt 1938 als eine der „geschlossens- Lande der unbegrenzten Möglichkeiten ei- ten und mustergültigsten Volksbewegun- ne so gewaltige Summe von körperlichen gen“, in einer Zeit der „Volkwerdung der und geistigen Gaben geschenkt (habe), deutschen Nation als Brücke zwischen den daß der befruchtende und fördernde Ein- Angehörigen gleicher Familien, die sich in fluß ihrer Tätigkeit auch heute noch unver- den vergangenen zwei Jahrhunderten aus kennbar dortselbst fortwirkt“.64 Der Pälzer den Augen verloren hatten“.57 Wenn auch Feierowend erinnert 1949 an das 66. Jubilä- der Auswandererspruch „Die Ersten litten um der Eröffnung der gewaltigen „Amerika- große Not; die meisten Zweiten holte ein Überlandbahn“ durch den für seine pfälzi- früher Tod und erst die Dritten fanden Brot“ sche Heimat wohltätigen Heinrich Hilgard- für Pommern nicht galt, so war der wirt- Villard,65 den Bellheimer Mundartdichter schaftliche Anfang für die Kolonisten doch August Heinrich, der als „Bellemer Hei- meistens recht schwer.58 Drumm und Zink ner“66 seine Amerikaerfahrungen als Gele- sehen die Maßnahmen Friedrichs des Gro- genheitsarbeiter erzählt,67 und an Wilhelm ßen insgesamt als Beginn „im Kampf um Müller, der vom Häuptling der Mohawks den deutschen Lebensraum“.59 „Springender Hirsch“ in die Lebensweise Von den zahlreichen weiteren politischen, des Indianerstammes am Schoharie einge- wirtschaftlichen und kulturellen Einzelleis- führt wurde.68 Eine kartographische Dar- tungen seien hier nur noch erwähnt die H. stellung mit Angaben von Anzahl, Herkunft J. Heinz Company in Pittsburgh (heute ein und Konfession pfälzischer Auswanderer Marktführer für Ketchup und andere Le- nach Galizien (Ukraine/Polen) von 1782 bis bensmittel), sie geht auf die 1872 gegrün- 1803 findet sich in dem von Willi Alter 1963 dete Konservenfabrik des deutschen Ein- herausgegebenen „Pfalzatlas“.69 wanderers Henry John Heinz zurück, und der Pfälzer Mathias Zimmermann, der 1737 Die Pfalz am Rhein (ab 1961 Pfälzer Heimat- die erste Orgel in Philadelphia baute.60 gruß) berichtete von 1953 bis 1984 jeweils Auch Kanada wurde Heimat vieler pfälzi- als Weihnachtsgruß den in die USA ausge- scher Kolonisten, erinnern „Städtegrün- wanderten Pfälzern über die „große pfäl- dungen wie Mannheim, Heidelberg, Baden, zische Familie drinnen und draußen“, das Karlsruhe und Elsaß noch an ihre südwest- Symposium „Pfälzer-Palatinates. 200 Jahre deutsche Abstammung“.61 Die Pfälzer Kolo- USA. 300 Jahre pfälzische Auswanderung nisten, von deren Mut und Kraft man noch nach Nordamerika“ (1683), die 150-Jahr- heute erzählen hört – so auch die Verfasse- Feier des „Hambacher Festes“, das Geden- rin des vorliegenden Beitrages, deren Vor- ken an den Beginn der Auswanderung nach fahren aus der Pfalz stammen, während ih- dem damals habsburgischen Galizien vor rer Amerikareisen –, haben den „ersten Spa- 200 Jahren (1782),70 die große Zeit der in tenstich zur Kultivierung Amerikas“ getan.62 alle Welt ausgewanderten „Mackenbacher

67 Wandermusikanten“ und die Eröffnung des läums der Vereinigten Staaten von Ameri- „Musikantenland-Museums“ auf Burg Lich- ka wurde ein „Inventar der Quellen zur Ge- tenberg bei Kusel.71 schichte der Auswanderung 1500 – 1914“ mit dem Aktenmaterial der Landesarchive 1983 fand im Hambacher Schloss ein Fest- Speyer, Koblenz und Saarbrücken heraus- akt anlässlich der 300. Wiederkehr der gegeben.77 Der von Roland Paul herausge- deutschen/pfälzischen Auswanderung nach gebene Band „300 Jahre Pfälzer in Ameri- Amerika statt.72 Ministerpräsident Bernhard ka“ porträtiert neben den bereits erwähn- Vogel und Senator Richard Lugar aus India- ten Hilgard-Villard, Herchheimer und Nast na bezeichneten als Beitrag der Deutschen weitere wichtige Auswanderer wie Joshua für Amerika – 60 Millionen Amerikaner sind Harrsch alias Kocherthal, dessen „Bericht deutschstämmig – die Schlüsselelemente von der berühmten Landschaft Carolina“ menschlichen Schaffens und Fortschritts: die Massenauswanderung von 1709 stark Sorgfalt, Produktivität, Sinn für persönli- beeinflusst hat, den Mackenbacher Künst- che Verantwortlichkeit und Ordnung.73 Be- ler und Komponisten Georg Drumm, den merkenswert sei auch die militärische Er- deutschen Freiheitskämpfer und Poeten fahrung der Deutsch-Amerikaner, die an je- Konrad Krez, der in Wisconsin das berühm- der Front dienten und die standhaftesten te Gedicht „An mein Vaterland“ schrieb.78 Truppen waren. Einige der besten Pflüge, Neben den bekannten „Care-Paketen“79 er- Getreidesämaschinen und Dreschmaschi- hielten ganze Gemeinden beim Wiederauf- nen, die Einführung des Klaviers, der Ein- bau Unterstützung von ausgewanderten fluss auf amerikanische Institutionen hö- ehemaligen Mitbürgern. So stifteten bei- herer Bildung im 19. Jahrhundert, das deut- spielsweise Auswanderer aus Jettenbach sche Konzept akademischer Freiheit nach 1951 zwei neue Gussstahlglocken für die Humboldt – all das seien Beiträge der Ein- Jettenbacher Kirche als Ersatz für die zu wanderer gewesen. Erwähnung fanden Kriegszwecken geopferten alten Kirchen- auch der Karikaturist Thomas Nast aus Lan- glocken.80 dau, der ebenso wie der Gründer der ame- rikanischen Eisenbahn-Union von 1892 Eu- Unter dem Bibelspruch „Die Wüste wird gene v. Debs ein unbarmherziger Kritiker zum Acker werden“ erschien 1991 eine der besitzenden Klasse war und für sozi- Festschrift zur 250-jährigen Erinnerung an ale Gerechtigkeit und wahre Demokratie die Auswanderung der Pfälzer an den Nie- kämpfte.74 Die deutschen und pfälzischen derrhein (1741).81 Die Entstehung Pfalz- Einflüsse werden folgendermaßen zusam- dorfs wird dem „selbstlosen Einsatz“ der mengefasst: „Sie brachten ihre Energien, „verhinderten Amerikaauswanderer“ aus ihre Fertigkeiten, ihren Mut, sie halfen, ei- der Pfalz verdankt, die sich im Klever Land ne Nation und eine Gesellschaft hervorzu- niederließen und mit „großem Idealis- bringen und zu formen und eine Grundlage mus und unbändigem Lebenswillen“82 aus zu legen für die kulturelle Zusammenarbeit einstmals öder Heide das blühende Pfalz- zwischen der neuen Nation und ihrem alten dorf schufen. Bis heute sind die pfälzischen Heimatland.“75 Siedlungen am Niederrhein durch ihre kul- turelle Eigenständigkeit in Glaube, Mund- Die Schriftenreihen zur Wanderungsge- art und Brauchtum gekennzeichnet. schichte der Pfälzer – bisher 41 Bände – des Instituts für pfälzische Geschichte und Auswanderung wird schon seit Wilhelm Volkskunde in Kaiserslautern76 listen Ame- Heinrich Riehl als prägendes Element der rikaauswanderer aus Orten des südpfälzi- pfälzischen Identität betrachtet. Ein weites schen Gebietes auf, deren Lebensdaten aus Feld der Erinnerung an die Auswanderung Schiffslisten oder Kirchenbüchern erfasst der Pfälzer bietet heute auch das Internet. wurden. Anlässlich des 200-jährigen Jubi- So sei abschließend mit http://dpak.word-

68 Thomas Nast, Titelblatt von HARPER’S WEEKLY; Journal of Civilization, 4. Mai 1872, Slg. Roland Paul

69 press.com ein Beispiel angeführt, wie pfäl- 1 Zit. Drumm / Zink 1938, S. 61. 2 zische Geschichte auch zu einem virtuel- Karl Scherer: Zur Geschichte der Auswanderung aus dem Ober- und Mittelrheingebiet. Bemerkun- len, aber höchst lebendigen Ort der Erin- gen zur regionalen Auswanderungshistoriogra- nerung wird. Der Deutsch-pennsylvanische phie. In: Brommer / Debus / Herrmann 1976, S. Arbeitskreis stellt eine Verbindung zwi- 14. 3 schen den Menschen in der alten und der Klaus Becker: Wilhelm Heinrich Riehl: Die Pfälzer – Ein rheinisches Volksbild. Mit einem Nachwort neuen Welt her. Noch heute sprechen meh- von Jasper von Altenbockum. In: Pfälzer Heimat 58 rere hunderttausend Amerikaner und Ka- (2007) H. 2, S. 86. nadier, zum Teil zehn Generationen nach 4 Vgl. Riehl, Pfälzer, S. 71 – 76. Zum Selbstbewusst- der Auswanderung ihrer Vorfahren aus Eu- sein der Pfälzer erzählt Riehl die Anekdote von ei- nem französischen General, der, erzürnt über List ropa, den Dialekt Pennsylvanisch-Deutsch. oder Verrat der Neustädter, die drei gescheites- Seit 2006 findet jedes Jahr ein „Deutsch- ten Leute zu hängen befahl, woraufhin die gan- Pennsylvanischer Tag“ statt, an dem ver- ze Stadt davonlief, weil jeder glaubte, er sei einer von den dreien. schiedene Aspekte des gemeinsamen Er- 5 83 Riehl, Pfälzer, S. 86. bes beleuchtet werden. Dieser Arbeits- 6 Ebd., S. 102 ff. u. S. 122. wie z.B. Peter Schöffer kreis ist ein idealtypisches Beispiel für eine aus Germersheim, den Miterfinder der Buchdru- zeitgemäße Erinnerungskultur und die mul- ckerkunst, oder den Arzt Johann Peter Frank aus tiperspektivische Befassung mit transnati- Rodalben bei Pirmasens, den Begründer der öf- fentlichen Hygiene. Ihr monumentaler und his- onalen geschichtlichen Zusammenhängen. torischer Sinn zeigt sich in der Liebe zur romani- Die persönliche Begegnung mit Auswande- schen Architektur (Dom zu Speyer), zur Baukunst rer-Nachkommen, die Präsentation wichti- der Spätgotik (Katharinenkirche zu Oppenheim) ger wissenschaftlicher Literatur bis hin zu und zur Renaissance (Heidelberger Schloss, zur 84 Kurpfalz gehörend). Kinderlesebüchern und Heimatromanen 7 „Der Pfälzer will sich nicht reich kleiden, dazu ist sowie eine starke Präsenz und Vernetzung er zu ökonomisch; nicht absonderlich, denn er will im Internet sprechen alle Sinne an und er- kein Hanswurst sein; aber auch nicht arm, denn möglichen Wissenschaftlern, aber auch in- wo wäre Reichtum höher gewertet als hier? Nicht gemein, denn jeder Pfälzer kommt schon als vor- teressierten Laien eine vielgestaltige Be- nehmer Mann auf die Welt.“ Riehl, Pfälzer, S. 186. schäftigung mit der Auswanderung. Die Er- Eine Unterscheidung treffen die Pfälzer ledig- innerung an die gemeinsame Geschichte lich zwischen Fest- (Rock, Schal) und Werktags- klärt die eigene und die vermeintlich frem- kleidern (blauer Kittel, kurzes Wams, Kamisol, Schirmkappe u.a.). de Identität. Sie leistet damit einen nicht 8 Zit. nach Riehl, Pfälzer, S. 188. groß genug einzuschätzenden friedensstif- 9 Ebd., S. 207 f. u. S. 253 f. Auch die Kirmes (Kerb; tenden Beitrag für die Völkerverständigung Kerwe) gilt bei den Pfälzern als eine Art großes Fa- – „hiwwe wie driwwe“. milienfest und ist gleichzeitig Zeugnis ihrer Gast- freundschaft. 10 Vgl. Ebd., Pfälzer, S. 210 – 231. 11 Allein in den US-Staaten Pennsylvania, Ohio und Illinois sowie in Ontario (Kanada) gibt es etwa 80 auslandspfälzische – vorwiegend pennsylvania- deutsch schreibende – Mundartautoren, deren Vor- fahren bereits seit dem 18. Jahrhundert in Nordame- rika leben. 12 Riehl, Pfälzer, S. 265. Die Massenhaftigkeit dieser Auswanderung aus der Pfalz belegt Riehl mit Zah- len: Betrug die Einwohnerzahl 1849 noch 615.005 Köpfe, so war sie 1857 auf 587.334 gesunken. 13 Ebd., S. 276. 14 Das Auftragswerk für den bayerischen König Ma- ximilian II. „Die Pfälzer“ gilt in der Ethnologie und Kulturwissenschaft forschungsmethodisch als wegweisend für die sog. „teilnehmende Beobach- tung“: Zwischen 1854 und 1856 wanderte Riehl mehrmals zu Fuß durch die Pfalz, wo er Wohnun- gen, Ställe und Äcker inspizierte, Behörden be-

70 fragte, Beamte interviewte sowie Ausflüge ins 39 Ebd., S. 426 f. preußische, hessische und französische Grenzge- 40 Pfälzisches Museum – Pfälzische Heimatkunde biet unternahm. Parallel dazu wertete er die Fach- (PM-PH) 39/18 (1922), Heft 11/12. literatur aus und bereiste die Provinz nochmals, 41 Ebd., S. 262 f. um auch den Wechsel der Jahreszeiten auf Alltag, 42 Ebd., S. 264. Wirtschaft und Brauchtum zu analysieren. Becker, 43 Ebd., S. 265. Wilhelm Heinrich Riehl, S. 86. 44 Ebd., S. 275 – 277. 15 Ludwig Schandein et al.: Rheinpfalz. In: Bavaria. 45 Ebd., S. 292 f. Landes- und Volkskunde des Königreichs Bayern. 46 PM-PH 1922, S. 294. Hsg. v. Wilhelm Heinrich Riehl. München 1860 – 47 Applegate 2007, S. 12. 1868. 48 Siehe z.B. Der Jäger aus Kurpfalz (1938), dessen 16 Häberle 1909, S. IX. Damit schloss Häberle sich Thema die „Saarpfälzer da und dort und überall in einer Traditionslinie deutsch-amerikanischer Ge- der Welt“ waren, oder die Heimatbriefe (1938), die schichtsschreibung an, die sich bereits 1869 im aus der Pfalz an das „Saarpfälzer Volk“ außerhalb „Deutschen Pionier“ entwickelt hatte: Die Unter- Deutschlands geschickt werden sollten. suchung der Frage nach den vergessenen Lands- 49 Applegate 2007, S. 258. leuten „draußen“ und nach ihrem Anteil an Koloni- 50 Der Jäger aus Kurpfalz 17 (1938), S. 33. sation und Entwicklung ihrer neuen Heimat rückte 51 Schönemann 1934, S. 22. im Zeichen eines seit der Reichsgründung erstark- 52 Zit. nach Scherer, Auswanderungshistoriogra- ten deutschen Selbstwertgefühls in den Mittel- phie, S. 16. punkt; Vgl. Scherer, Zur Auswanderungshistorio- 53 Schönemann 1932, S. 286. graphie, S. 15. 54 Schönemann 1932, S. 303. 17 Georg Friedrich Blaul: Träume und Schäume vom 55 Ebd., S. 314 f. Rhein. In Reisebildern aus Rheinbayern und den 56 Drumm / Zink 1938. angrenzenden Ländern. Kaiserslautern 1910, S. 57 Geleitwort von Fritz Braun, damals Leiter der Saar- 106 f. pfälzischen Mittelstelle „Landsleute drinnen und 18 Häberle 1909, S. 164 f. u. 181. draußen“ in Drumm / Zink 1938, S. 5. 19 Zit. nach Ebd., S. 96. Das Festhalten der Pfälzer an 58 Vgl. Drumm / Zink 1938, S. 61. deutscher Art und Sitte stieß bei den englischen 59 Ebd., S. 62 f. Mitbürgern jedoch nicht immer auf Gegenliebe. 60 Rupp 1938, S. 42. So fürchtete Benjamin Franklin zum Beispiel eine 61 Ebd., S. 62. „Germanisierung“ der von Engländern gegründe- 62 Ebd., S. 8 u. 18. ten Kolonie durch die „Pfälzer Bauernlümmel“. 63 Applegate 2007, S. 272. 20 Häberle 1909, S. 112 f. 64 Franz Matt: Lorenz Rohr. Ein namhafter Deutsch- 21 Vgl. Ebd., S. 213 – 224. amerikaner aus der Pfalz. In: Pfälzer Heimat 1 22 Ebd., S. 229 f. (1950) H. 3, S. 89 f. Der Pfälzer Lorenz Rohr konnte 23 Häberle 1909, S. 24. sich einen Namen als Journalist in Evansville, Indi- 24 Zit. nach Häberle 1909, S. 25. ana, machen. 25 Der Pfälzerwald 14 (1913). 65 Albert Becker: Ein Pfälzer baut die Northern Paci- 26 Faltin 1987, S. 274 f.; herausgegeben wurde der fic-Bahn. In: Pälzer Feierowend 1 (1949) Nr. 8, S. Eilbote in Landau von Carl Georges und befasste 2. sich hauptsächlich mit auswärtigen Meldungen. 66 De Bellemer Heiner in Amerika. Der beliebte Pfäl- 27 Ebd., S. 285 – 288. zer Rezitator erzählt im „Feierowend“ aus seiner 28 Ebd., S. 310 – 12. Jugend. In: Pälzer Feierowend 1 (1949) Nr. 8, S. 3. 29 Ebd., S. 313 f. 67 Ebd. 30 Vgl. Hilgard-Villard, Lebenserinnerungen, S. 462 68 H. Gutting: Pfälzer Siedler am Schoharie. Bericht f. u. 528. über pfälz. Auswanderungen. In: Pälzer Feiero- 31 Vgl. Bickelmann 1980, S. 134 u. Scherer, Zur Aus- wend 12 (1960) Nr. 12, S. 7. wanderungshistoriographie, S. 15. 69 Vgl. Fritz Braun (Bearb.): Die Auswanderung nach 32 Metz 1929, S. 75. Galizien 1782 – 1803. In: Pfalzatlas I. Hsg. v. Wil- 33 Metz 1929, Anm. 30. li Alter. Speyer 1963, hier Karte Nr. 34. Vgl. auch 34 Der Auslanddeutsche. Halbmonatsschrift für Aus- Pfälzer Heimat 37 (1986), S. 185 – 188. landdeutschtum und Auslandkunde (Mitteilungen 70 Pfälzer Heimatgruß 1976, 1981 und 1982. des Deutschen Ausland-Instituts Stuttgart) 15 71 Pfälzer Heimatgruß 1982. (1932), S. 39. 72 1683 hatte Franz Pastorius auf Einladung William 35 Oltmer, Krieg und Nachkrieg, S. 7. Penns die erste Gruppe deutscher Siedler nach Phi- 36 So z.B. Oswald Seidensticker, Johann Huber, Hein- ladelphia gebracht. Anlässlich der Feier fand au- rich Hilgard u.a. Vgl. Albert Becker: Pfälzisch- ßerdem eine Ausstellung unter dem Titel „Wir zie- amerikanische Kulturströmungen. In: Die Pfalz am hen nach Amerika“ statt, die Bilder, Bücher und Do- Rhein 14 (1931), S. 416 – 419. kumente zur Auswanderung aus Rheinland-Pfalz 37 Die Pfalz am Rhein 14 (1931), S. 417. zeigte, zusammengestellt von der Heimatstelle 38 Die Pfalz am Rhein 14 (1931), S. 419. Pfalz und der Pfälzischen Landesbibliothek.

71 73 Vgl. Bernhard Vogel: 300 Jahre Rheinland-Pfäl- zer in Amerika. Rede anlässlich der Feier „300 Jahre Auswanderung von Rheinland-Pfalz nach Amerika“. Festakt der Landesregierung. Hamba- cher Schloss, 9. September 1983, S. 14. Richard G. Lugar: Wir Amerikaner sind Deutsche, Italiener, Skandinavier, Spanier…Rede anlässlich der Feier „300 Jahre Auswanderung von Rheinland-Pfalz nach Amerika“, S. 27. Anlässlich der 300-Jahr- Feier gebe es in den USA nahezu 600 verschiede- ne Veranstaltungen in 43 Staaten, in denen vie- le gut bekannte Amerikaner deutscher Abstam- mung geehrt würden, wie der preußische Offizier und US-amerikanische General Friedrich Wilhelm von Steuben, der US-amerikanische General und Staatsmann Carl Schurz, Johann Jakob Astor, der in den USA durch Pelzhandel und Immobilien zum reichsten Mann seiner Zeit wurde, Rockefeller, der Theologe Paul Tillich, Albert Einstein, die Publizis- tin Hannah Arendt usw. 74 Ebd., S. 44. 75 Ebd., S. 45. 76 Vgl. zum Beispiel Braun / Krebs 1956; Braun 1965. 77 Brommer / Debus / Herrmann 1976. 78 Paul 1983. 79 Roland Paul: Auswanderung und Emigration aus der Pfalz im 19. u. 20. Jhdt. In: Ders 1983, S. 79. 80 Paul, Auswanderung und Emigration aus der Pfalz im 19. und 20. Jahrhundert, S. 79. 81 1741 – 1991: 250 Jahre Pfälzer am Niederrhein. Festschrift von Jakob Imig und Helmut Lange. Hrsg. v. Pfälzerbund am Niederrhein e.v. Kalkar 1991. 82 Grußwort des Landrats von Kleve, Pickers. 83 Am letztjährigen Deutsch-Pennsylvanischen Tag (2008) im Mennonitischen Gemeindezentrum Wei- erhof/Pfalz konnte die Verfasserin teilnehmen. Neben Grußworten von Gary Waltner (Leiter der Mennonitischen Forschungsstelle Weierhof) und der Vorsitzenden der Pastorius Home Associati- on Bernice Hicks aus Germansville, Pennsylva- nia, gab es Beiträge auf Pennsylvanisch-Deutsch, einen Vortrag über mennonitische und amische Trachten, sowie Musikbeiträge in Form von Aus- wanderer- und Volksliedern aus Deutschland und Pennsylvanien. Unter den ca. 90 Besuchern war auch eine Reisegruppe aus Lehigh County (PA). 84 So erzählt Marliese Fuhrmann in ihrem Buch „Ku- ckucksruf und Nachtigall“ die Geschichte einer jungen Frau, die auf der Suche nach ihren Vorfah- ren auf das westpfälzische Wandermusikanten- tum stößt. Ein umfangreicher Bild- und Informa- tionsteil bietet die historischen Hintergründe. Ein Weihnachtskinderbuch mit dem Titel „The Night before Christmas – Die Nacht vor der Grischt- daag“ bringt jungen Interessierten die Sprache Pennsylvania-Dutch näher. Ein Kalenderbuch „Mit Pennsylvaanisch-Deitsch daarich’s Yaahr“ verbin- det wissenschaftliche Aufsätze mit Gedichten und volks- und landeskundlichen Erzählungen.

72 Matthias Dietz-Lenssen

Narrhalla-Marsch in der Neuen Welt

Im 19. Jahrhundert zog es viele Deutsche valspräsidenten“ des „Carneval-Verein der in die Neue Welt. Sie wollten der politi- Mainzer“. In der ersten Zeit wurden sechs schen Enge, der materiellen Misere in der bis zehn Narrenabende und ein Maskenball alten Heimat entfliehen oder auf dem ame- pro Jahr ausgerichtet. Premiere war bereits rikanischen Kontinent neue Märkte für ih- am 5. Januar 1860, natürlich bei Peter Krug. re heimischen Unternehmen finden. Auch Schon aus den Anfangsjahren ist die „Bütt viele Mainzer hatten ihre Koffer gepackt mit Deckel“ überliefert: und sich nach Nordamerika eingeschifft. „Drüben“ angekommen, lebten sie in be- Das Ammi’che von Gunsenum reits bestehenden, überwiegend deutsch- Bambelt dort an der Deck erum; sprachigen Siedlungsgebieten, gründeten Wann Aehner Blech duht schwätze neue Städte oder blieben zunächst einmal Duht es hortig un geschwind in der faszinierenden Großstadt, in der sie Sich in Bewegung setze. an Land gingen: New York. Hier erfuhren sie (Lied 34: „Unser Ammi’che“) bald, dass nicht alles, was ihnen die Aus- wanderungsbroschüren versprachen, auch Schon bald merkte man, dass der Na- der Wahrheit entsprach. Sie mussten ler- me „Carneval-Verein der Mainzer“ keine nen, dass auch über dem großen Teich Kor- „Messfremden“ anlockte. Der Vorstand ruption und Machtmissbrauch in der Politik beschloss daher eine Umbenennung in nur allzu häufig vorkamen. Man vermisste „Mainzer Carneval-Verein in New York“, um das gute alte Mainz doch sehr, die Bierlo- sich auch für Nicht-Mainzer zu öffnen. In kale und Weinwirtschaften der Altstadt und dieser Zeit wurden zwei Brüderpaare aus natürlich auch die Fastnacht. Mainz Mitglieder, die in späteren Quellen als „Säulen des Vereins“ bezeichnet wer- Gründung in der Krug’schen Wirtschaft den: John und Edmund Racky sowie Char- In Stanton Street Nr. 229, nur unweit der les und David Cahn. neuen Brooklyn Bridge, befand sich die Gastwirtschaft des Mainzers Peter Krug. Im Sommer 1863 kam es zur ersten großen Hier konnte man bei heimischem Wein Krise: Die Kassen waren voll, Peter Krugs am großen Stammtisch zusammen sitzen Gastwirtschaft platzte aus allen Nähten. und auf meenzerisch über die geldgieri- Die Lösung schien auf der Hand zu liegen: gen Yankees schimpfen. Am 11. November Krug sollte seinen Hof überdachen und da- 1859 beschlossen die Gäste, einen eige- für ein Darlehen beim Verein aufnehmen. nen Fastnachtsverein zu gründen, um in al- Nach dem Ausbau kam es jedoch zu einem ter Tradition an neuem Ort die Narrenkap- Streit unter den Beteiligten, da Krug sich pe tragen zu können. Bereits am nächsten weigerte, eine Hypothek auf den Anbau zu Tag erschien ein diesbezüglicher Aufruf im Gunsten des Mainzer Carneval-Vereins in deutschsprachigen „Staatsanzeiger“. Ei- New York zu akzeptieren. Schließlich warf ne Woche später, am 18. November 1859, er den Verein kurzerhand aus seinem Lokal war das Krug’sche Lokal rappelvoll. Rund hinaus. Der zog nun zum „Clinton Garden“ 60 Interessierte kamen und wählten Franz um, dessen Besitzer später das „Walhalla“ Perabo zum ersten „Vereins- und Carne- übernahm – der Verein zog mit.

73 Gedenkbuch zum Goldenen Jubiläum des Mainzer Carnelval-Vereins in New York (1859-1909), MCV-Archiv

74 Um 1865 wurde John Hilger Vereinsmit- mit den gesellschaftlichen Verhältnissen glied und sofort zum Vizepräsidenten ge- der alten Vaterstadt markieren.“ Im Prolog wählt. Fast gleichzeitig trat auch Anton der Festzeitung von 1885 ist zu lesen: Sauer, der „sauere Anton“ genannt, bei, ein „Groß-Gemüsehändler“, der den Verein in Ein Jubiläum! – Freudenvolle Kunde den nächsten Jahren großzügig unterstütz- Taucht aus der Nacht zum frohen Licht em- te. Verabschieden musste man sich dage- por, gen von Wendelin Weiler. Der Tabakhänd- Hoch! Carn’val hoch! ertönt es in der Runde ler zog nach 17 Jahren USA-Aufenthalt als Und weckt des Echo donnergleichen Chor. wohlhabender Mann nach Mainz zurück und Gilts doch zu feiern jene Weihestunde, setzte sich hier zur Ruhe. Er wurde Mitglied Da nun erstand des Rheinland Kernhumor; der Carneval-Gesellschaft „Humoristischer Moguntia’s Söhne bringen heut’ das Beste, Tierkreis“ und gab ab 1876 seine „Humo- Mit Herz und Mund am Narrenwiegenfeste. ristischen Blätter“ heraus, ein „lyrisch-sa- tyrisches, humoristisch-kohliges Wochen- Zuschrift von Georg A. Kertell1: blatt“. Dem New Yorker Verein blieb er wei- Ich dacht’ mit tiefem, herben Schmerze ter verbunden und schickte vom Rhein im- An’s Narrenreich, entfernt so weit. mer wieder neue Liedertexte an den Hud- Und kann ich auch nicht bei Euch son. weilen, Bin weit entfernt an fremdem Ort, Vernichtender Brand 1880 Der Carneval, glaubt diesen Zeilen, Und wieder wurde es zu eng: 1874 zog man Lebt mir im Herzen fort und fort. in die Turnhalle an der 4th Street und hielt bereits im nächsten Jahr in Zusammenar- Hinweise auf die Verhältnisse in New York beit mit dem „Bloomingdale Turnverein“ ei- erfahren wir durch die zahlreichen Anzei- ne Narrensitzung in den „Teutonia Assem- gen in der Schrift. So lernen wir, dass der bly Rooms“ ab. 1880 kam es hier zur Kata- ebenfalls aus Mainz eingewanderte David strophe: Die Turnhalle brannte ab, fast al- Cahn jetzt ein „Manufacturer of Clothing“ le Dokumente aus der Frühzeit des Vereins in No. 151, Avenue C ist. Ein George Fuchs wurden vernichtet, Herbergsvater Winkler aus „Bingen am Rhein“ bietet Speis und kam ums Leben. Nächstes Domizil wurde Trank in seiner „Wine and Lagerbier Halle“ jetzt die „Beethoven-Halle“ (5th Street), wo (92, 1st Avenue) und ein E. Steinmetz ser- Louis Berndt Wirt war. viert in seiner „Schoppenwirthschaft“ (99, Gute Kontakte nach Deutschland bestan- 8th Street) „California, Ohio & Rhine Wine“. den weiterhin. So spendete der Verein 1870 Schließlich finden wir in 88 Essex Street für verwundete deutsche Soldaten und be- sogar eine „Moguntia Halle“. teiligte sich 1883 an der Unterstützung der In den folgenden 25 Jahren erweiterte sich Rheinhochwasser-Opfer. Bei der großen Ju- das Programm des Mainzer Carneval-Ver- biläumssitzung am 25. November 1885 (25 eins in New York. In der Kampagne 1887/88 Jahre) hörte man unter anderem auch den fand das erste „Blow-Out“ statt, ein Her- „Gruss an den Mainzer Carneval-Verein in renausflug mit Programm, über den ein New York“ vom „Humoristischen Tierkreis“ Zeitzeuge urteilte: (Mainz) verfasst. In der zu diesem Anlass „Theilnahme stark, die Vorträge aber noch herausgegebenen Jubiläumsschrift wird erheblich stärker“. Hieraus entwickelte sich nochmals explizit ausgedrückt, warum wohl die Sitzung der „Hammelmäuschen“ man den Verein gegründet hatte: Man woll- (rheinhessisch für Hausgrille, Heimchen), te Mainz bewusst kopieren, „... den Carne- eine Veranstaltung „nur für starke Männer“ val von „drüben“ mit allen seinen Einzelhei- unter dem Vorsitz von Peter Deforth. Auch ten – wenn auch nur im kleinen Maßstabe außerhalb der Kampagne trat man nun ver- … und so einen geistigen Berührungspunkt mehrt in Erscheinung, beispielsweise durch

75 Das Jubiläums-Committee des Mainzer Carneval-Vereins in New York beim Goldenen Jubiläum 1909, MCV-Archiv

76 ein Sommernachtsfest. Aus den Liederblät- Auch der „Kiche-Zettel“ von Herbergsva- tern hat sich eine Zeitschrift entwickelt, die ter Ch. M. Dreste, „beim Willkomm von den „Carnevals-Zeitung“, die später den Namen zwää Delegate aus Meenz nemlich Jean Ra- „Herold“ bekam. cky und Richard Weinacht abgehalten in der Die Suche nach geeigneten Räumlichkei- Herberge 12 St. Marks Place am Sunntag ten ging immer weiter: 1890 zog man in die Owend, den 2. October Anno Domini 1892“, Schützenhalle am St. Marks Place um, be- liest sich gut: reits im nächsten Jahr trat man in „Terra- ce Garden“ auf und nach der Jahrhundert- Hinkelsupp noch Meenzer Art wende finden wir die Mainzer Narren in der Salme aus dem Rhein „Odd Fellows’ Hall“, einem großen Gebäu- mit Kartoffeln aus Gunzenhum de Ecke Grant- und Centre Street, 1848 er- Lendebrote mit Schwämm baut. do dezu Blummekohl aus Mumbach Gebrateni Ent mit Andiftche Salat Treffen mit dem Mutterverein Noochtisch: Eppel, Bire, Quetsche, 1892 kam es zum ersten offiziellen Treffen Trauwe, mit dem „Mutterverein“ in Mainz. John Ra- Hexemer Handkäs’ un Buweschenkel cky und Richard Weihnacht nahmen an der „Deutschlandreise des New Yorker Arion“ Nach der Rückkehr übergaben Racky und teil, einem weiteren deutschsprachigen Weihnacht bei einer großen Feier die Main- Kulturverein in New York, mit dem man par- zer Geschenke: Silberbecher, rheinisches tiell zusammenarbeitete, sich aber auch in Sängerabzeichen, einen Bachusstab und Karnevalstexten kritisch auseinander setz- eine „Riesen-Champagnerflasche“. Jünge- te. Die Reisenden übergaben in Mainz unter res Material ist in den Archiven nicht zu fin- anderem „prächtige, silberne Ceremonien- den. Auf deutschsprachige Mitbürger wur- meisterstäbe“. Von dem am 28. Juli (!) ab- de in der Zeit des Ersten Weltkrieges viel- gehaltenen Närrischen Kommers befindet fältig Druck ausgeübt. Viele Vereine lösten sich in der Stadtbibliothek Mainz ein Do- sich auf, schraubten ihre Aktivitäten zurück kument mit dem Titel: „Festschrift zu Eh- oder wurden – mehr oder weniger freiwillig ren der Anwesenheit des Vereins Arion aus – amerikanisiert. New York nebst Liederbuch.“ Das Motto der Ein neues Lebenszeichen erhalten wir erst Feier war: wieder aus dem Jahre 1929, in dem der Mainzer Damen Verein sein 25-jähriges Ju- „Uns freut heut’ Owend nor alläns Arion is biläum feiert und eine Jubiläumsschrift he- in Mainz“ rausgibt. Zwischen den üblichen Anzeigen und den Grußanzeigen mit uns bekann- Und das „Willkommen!“ erschallte: ten „Mainzer“ Namen („Compliments of Mr. Fritz Schué“) finden wir auch die An- Gegrüsst ihr Lieben, die aus fernem Land kündigung des „Schluss-Ereignisses“, der Weit über’s Meer zu uns dahergekommen! vom Mainzer Carneval-Verein veranstalte- Wir reichen Euch begeistert froh die Hand ten „Mainzer Masken Ball“ im „Hunts Point Und herzlich seit ihr bei uns aufgenommen! Palace“ (Ecke 953 South. Boul., 163rd Moguntia zeigt sich stolz im Festtagskleid, Street/Bronx) – eine der bis heute berühm- Die Fahnen flattern fröhlich in dem Winde testen Tanz- und Musikhallen der Stadt.

Refrain: Austausch zwischen Mainz und New York Zum Zeichen, dass die Freundschaft 15 Jahre später kann die erste Generalver- uns verbinde sammlung des MCV in Mainz nach dem Ers- Mit Euch bis in die allerfernste Zeit. ten Weltkrieg stattfinden. In der langen Lis- te der Totengedenken (seit 1914) nennt Sit-

77 Der Mainzer Carneval-Verein in New York läd zur Sitzung 1905 ein, MCV-Archiv

78 zungspräsident Dr. Hans Reen auch „die geverein übergegangen ist. In den aktuel- treuen Vorkämpfer des Tochtervereins len Listen deutsch-amerikanischer Vereine Mainzer Carneval-Verein in New York, Prä- und Organisationen gibt es keinerlei Hin- sident John Racky und das Komiteemitglied weise auf einen MCV – die Fastnacht wird in Martin Jung“. New York nur durch einen Kölner Brücken- In der Einleitung zur MCV-Jubiläumsschrift kopf vertreten. Auch von dem Gesangsver- aus dem Jahre 1938 können wir lesen, dass ein Arion finden wir keine Spuren mehr. So es eine „Newyorker Niederlassung“ des kann man abschließend nur spekulieren, MCV gibt. „Alljährlich erfolgt ein reger Aus- dass die beiden Vereine den Zweiten Welt- tausch … zur Erhaltung deutscher Sitten krieg und den erneuten Druck, dem „deut- und Gebräuche im Auslande“. Und: „Die sche“ Vereine in dieser Zeit in den USA Beziehungen waren und sind die denkbar standhalten mussten, nicht überlebt hat. besten geblieben.“ Es bleibt zu hoffen, dass eines Tages noch Schwer zu glauben, denn auf der Fest-Sit- Publikationen oder Erinnerungsstücke ge- zung für die „Mainzer aus aller Welt“ kann funden werden, die eine Fortschrift dieses Seppel Glückert zwar reimen Artikels notwendig machen.

„Und so wie wir wachen und kämpfen zu- gleich Für Mainz und sein ewiges Lachen 1 Georg A. Kertell war ein Sohn von Georg Kertell So lassen wir hier auch die Liebe zum Reich (sen.), einem Kampfgefährten von Carl Schurz. Er wurde in New York erzogen, ging dann aber nach Von niemanden streitig uns machen… Kalifornien, wo er die Stadt San Mateo mitbegrün- Laßt drücken im Geiste uns herzlich die dete, in der er lange Führungspositionen inne hat- Hand te. Eine Verwandtschaft mit dem Mainzer Fast- So Länder und Meere uns trennen nachter und Landtagsabgeordneten Johann Maria Kertell (1771 bis 1839) ist nicht nachweisbar. Und rufen: Dich Mainz, dich mein Vaterland Wir lieben dich, wie wir nur können.“ Literatur: – doch bei den zahlreichen erwähnten Be- Dietz-Lenssen, Matthias: Die Mainzer Texas-Ger- suchern aus dem Ausland sucht man die mans. Entstehungs- und Konfliktgeschichte einer te- Abgeordneten des Mainzer Carneval-Ver- xanischen Siedlergruppe im 19. Jahrhundert. Aachen eins in New York vergeblich. 2001. Dietz-Lenssen, Matthias: Narhalla-Marsch in der neu- en Welt. Der „Mainzer Carneval-Verein in New York“. Wenn man der in dieser Jubiläumsschrift In: Mainz – Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirt- abgedruckten Presseübersicht glauben schaft, Geschichte 27 (2007) Heft 1, S. 4–11. darf, nahm man auch umgekehrt in New York keinerlei Notiz von dem großen Jubilä- um in Mainz. Die einzige US-amerikanische Zeitung, die überhaupt einen Bericht brach- te, wäre demnach die „California Staatszei- tung“ in Los Angeles gewesen.

Mit der Erwähnung im Jubiläumsband 1938 enden die Hinweise auf den „Mainzer Car- neval Verein“ in New York, den die dortigen Medien auch einmal zum „Carnaval“ oder „Carnival“-Verein umtauften. Auf der Ba- sis der uns heute zugänglichen Archivalien können wir nicht einmal feststellen, wann er aufgelöst wurde oder in einen Nachfol-

79 Norddeutscher Lloyd, gedruckte Passagierliste des Doppelschrauben Postdampfers „Bremen“, für die Fahrt von Bremen nach New York am 15. April 1899, Institut für Pfälzische Geschichte und Volkskunde, Kaiserslautern

80 Alexander Freund

Die Auswanderung aus Nachkriegsdeutschland

Bevölkerung war. Die Einwanderungser- fahrungen waren ebenfalls vielschichtig. Die nicht abgerissenen persönlichen Ver- bindungen mit den Ausgewanderten haben diese Nachkriegsauswanderung fest im Be- wusstsein der Deutschen verankert. Den- noch ist sie von der Geschichtsschreibung vernachlässigt worden.

Auswanderungswünsche in der Aufbruch- gesellschaft 1945 war das kriegszerstörte Deutschland Knotenpunkt internationaler Wanderun- gen. „Wenn man die Millionen Soldaten der alliierten Truppenverbände einbezieht, leb- Einwanderer drängen sich an Bord der S.S. Beaver- ten weit über 100 Millionen Menschen seit brae als der Augenblick kommt, das Schiff im Hafen von Quebec zu verlassen und ein neues Leben in Kanada zu dem Frühjahr 1945 auf dem Reichsgebiet. beginnen (o. D.), Library and Archives Canada Davon war mehr als ein Drittel unablässig in Bewegung: unterwegs zu alten oder neu- en Zielen“3, schreibt Hans-Ulrich Wehler in seiner Deutschen Gesellschaftsgeschich- „Millionen haben nur einen Wunsch: Raus te. Millionen von Menschen strömten in aus Europa“, berichtete 1949 die Boule- die vier Besatzungszonen während Milli- vardpresse des verwüsteten Kontinents.1 onen anderer Menschen raus aus dem be- Tatsächlich wanderten zwischen 1946 und siegten Hitlerstaat wollten. Von Ende 1944 1960 etwa acht Millionen Europäer nach bis 1950 flüchteten 14 Millionen Deutsche Übersee aus. Davon gingen vier Millionen aus Osteuropa und den Gebieten östlich nach Nordamerika – mehr als 1,8 Millio- der Oder und Neiße. Zwölf Millionen von ih- nen nach Kanada und über 2,1 Millionen in nen kamen lebend in den vier Zonen an. Die- die USA. Zu diesen Überseeauswanderern ses Glück hatten die wenigsten der Insassen zählten auch knapp eine Millionen deut- von Konzentrationslagern wie Auschwitz sche Männer und Frauen, von denen die und Neuengamme, die von der SS in To- Hälfte in die USA und ein Viertel nach Kana- desmärschen vor den heranrückenden alli- da auswanderten.2 ierten Truppen ins Zentrum des noch nicht Die Ursachen dieser Migration waren viel- besetzten Reichs zusammengetrieben wur- schichtig. Sie reichten, sowohl in der sie den. Nach dem 8. Mai 1945 gingen Millio- steuernden Migrationspolitik als auch in den nen ehemalige KZ-Häftlinge, Sklaven- und sie begründenden transatlantischen Ver- Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene – wandtschaftsbeziehungen, bis ins 19. Jahr- von den Alliierten als Displaced Persons hundert zurück. Vielschichtig war auch die bezeichnet (im Amtsdeutsch hießen sie Zusammensetzung der Auswanderer, die heimatlose Ausländer) – von Deutschland ein junges Spiegelbild der westdeutschen in ihre Heimatländer zurück oder sie woll-

81 ten, besonders im Fall von Osteuropäern, in schen der Wunsch, nach Übersee auszu- andere Länder auswandern. Millionen von wandern. Dieser millionenfache Wunsch deutschen Soldaten und deutschen Zivilin- lässt sich deutlich an mehreren Quellen ternierten waren in Kriegsgefangenenla- ablesen. In der zweiten Hälfte der 1940er gern und Arbeitslagern über die ganze Welt Jahre gab es nach Aussage von Politikern, verstreut. Hinzu kamen unzählige Wande- die sich als Auswanderungsexperten zu rungen innerhalb der Zonen, nicht nur von positionieren versuchten, einen millionen- Millionen Ausgebombten und Zwangeva- fachen Auswanderungsdrang. Franz Wolff, kuierten, sondern auch von heimatlosen der viele Jahre für die 1924–1944 beste- und verwaisten Kindern. Tausende Deut- hende “Reichsstelle für das Auswande- sche kamen aus dem Exil zurück, um sich rungswesen”7 gearbeitet hatte, war Anfang am Wiederaufbau zu beteiligen, während der 1950er Jahre zum Direktor des Bundes- tausende deutscher Kriegsverbrecher in amtes für Auswanderung aufgestiegen. Er afrikanische und südamerikanische Länder behauptete 1953: „Nach dem Zusammen- flüchteten und hunderte deutscher Wis- bruch Deutschlands würden die Jahre 1945 senschaftler mit ihren Familien in die Sow- und 1946 als Katastrophenjahre in die Ge- jetunion, die Vereinigen Staaten von Ameri- schichte der deutschen Auswanderung ein- ka, Australien und andere Länder gebracht gegangen sein, wenn die Besatzungsmäch- wurden.4 te nicht zunächst jede Auswanderung aus Millionen von Menschen waren durch die- Deutschland verboten hätten. Eine Unzahl se Wanderungen fremden Menschen und von Menschen war damals allein von dem Kulturen begegnet. Norddeutsche Städ- Gedanken beherrscht, jenseits der Meere ter gewöhnten sich in der Evakuierung nur in Frieden und Freiheit ein auskömmliches schwer an das Leben auf dem Land und ih- Dasein zu finden.“8 Mit solcher Dramatisie- re süddeutschen, katholischen Gastgeber, rung wollte Wolff seine eigene Arbeit auf- denen es mit ihren protestantischen Gäs- werten; es zeigt aber auch, dass das Inte- ten ebenso ging; „volksdeutsche“ Vertrie- resse an Auswanderung nach dem Krieg bene aus Siebenbürgen wurden als Rumä- enorm war. Offenbar wird dies auch darin, nen „beschimpft“; deutsche Frauen und dass alle amtlichen Stellen, die auch nur Männer knüpften Beziehungen zu amerika- im geringsten Hoffnung auf Auswanderung nischen, britischen und russischen Besat- gaben – z.B. die amerikanischen Konsula- zungssoldaten. Diese demographischen te und die kanadischen Militärstellen – ab und millionenfachen biographischen Ver- 1945 von Anfragen überflutet wurden, be- werfungen der Kriegs- und Nachkriegszeit sonders nach der Veröffentlichung irrefüh- bedeuteten sowohl Entwurzelung als auch render Presseberichte.9 eine neue Vertrautheit mit Wanderung und Für die 1950er Jahre gibt es zwei sichere- Fremde(n). Millionen Männer, Frauen und re Quellen: Laut Meinungsumfragen in den Kinder verbanden aufgrund ihrer Erfahrun- 1950er Jahren wollte jeder vierte Deutsche gen mit Wanderung und Fremde Gefühle „sofort“, „vielleicht“ oder „unter Umstän- der Angst, aber auch der Hoffnung. Diese den“ auswandern. Die Tendenz war über Erfahrungen und Gefühle bestimmten für das Jahrzehnt hinweg leicht sinkend.10 Zu- viele Menschen maßgeblich die Entschei- dem sammelten die staatlichen, gemein- dung, nach dem Krieg nach Übersee auszu- nützigen und kirchlichen Auswandererbe- wandern oder es bleiben zu lassen.5 ratungsstellen eine Statistik über den west- Nachkriegsdeutschland war also nicht nur deutschen „Auswanderungsdrang“. 1954 eine „Zusammenbruchgesellschaft“, wie boten in 48 Städten 82 Beratungsstellen sie der Historiker Christoph Kleßmann be- ihre Dienste an. Da es außerhalb der Bera- zeichnet hat,6 sondern auch eine „Auf- tungsstellen viele andere Informationsstel- bruchgesellschaft“. In dieser Situation len gab – von Auskunftsdiensten der Ein- entwickelte sich bei Millionen von Deut- wanderungsländer über Zeitungsberichte

82 bis zu Freunden und Verwandten in Über- nur mit Hilfe einer Genehmigung der Mili- see – besuchte nur ein kleiner Teil der Aus- tärbehörden – dem „Exit-Permit“ – mög- wanderungsinteressierten eine solche Be- lich, eine legale Einwanderung nur mit Hil- ratungsstelle. Dennoch waren es zwischen fe eines Visums.12 Gegner und Opfer des 1950 und 1958 annähernd 2,5 Millionen NS-Regimes, enge Familienangehörige von Ratsuchende. Diese Dimension verdeut- Staatsangehörigen alliierter Länder (z.B. licht, wie viele Menschen sich konkret mit Ehefrauen amerikanischer GIs) und Dis- Auswanderung beschäftigten. Beratungs- placed Persons erhielten Ausreisegeneh- stellen wurden besonders von Vertriebe- migungen. Die allermeisten Deutschen nen- und Flüchtlingsfamilien besucht, denn konnten dagegen bis 1949 weder eine Aus- nur so konnten sie über eines der amerika- reise- noch eine Einreiseerlaubnis erhal- nischen Flüchtlingsprogramme in die USA ten. Dies führte in den späten 1940er Jah- auswandern. Knapp zwei Drittel der Rat- ren zu vielfältigen Versuchen der illegalen suchenden gaben an, aus wirtschaftlichen Auswanderung sowie zum so genannten oder beruflichen Gründen (z.B. Arbeitslo- Auswanderungsschwindel, dessen Betrei- sigkeit oder „schlechte Berufsaussichten“) ber aus Hoffnung und Verzweiflung Profit auswandern zu wollen.11 schlugen.13 Nur ein kleiner Teil der Ratsuchenden wag- Diese Situation änderte sich rapide mit der te dann jedoch den Schritt aufs Schiff. Die Gründung der Bundesrepublik Deutsch- Berater vermuteten, dass lediglich etwa land, ihrer Westintegration unter dem Druck zehn Prozent ihrer Besucher tatsächlich des Kalten Kriegs und des Koreakriegs und auswanderten. Für Hunderttausende von ihrem volkswirtschaftlich rapiden Wieder- Nachkriegsdeutschen wurde Auswande- aufbau im Zuge des Marschallplans und rung somit zu einer Lebensstrategie. Für des Koreabooms. Nachdem bereits 1949 Millionen andere blieb Auswanderung ei- alle Ausreisebeschränkungen gefallen wa- ne unerfüllte Hoffnung. Sie gehören aber ren, wurden Deutsche über Nacht von ehe- ebenso zur Auswanderungsgeschichte wie maligen Feinden zu begehrten Einwande- die Angehörigen und Freunde der Auswan- rern. Die USA, Kanada und Australien öff- derer und die zahlreichen Menschen, die in neten Deutschen nicht nur ihre Pforten, verschiedenen Organisationen und staat- sondern rekrutierten sie vor Ort und liefer- lichen Stellen daran beteiligt waren, Aus- ten sich einen harten Wettbewerb um die wanderung zu organisieren. Obwohl al- weißen, christlichen Arbeiter. so nur eine knappe Million Deutsche nach Warum wanderten dennoch weit weniger dem Krieg auswanderten, waren Millionen Menschen aus? Zunächst wollte nicht jeder von Deutschen von Auswanderung direkt auswandern, der eine Beratungsstelle be- betroffen. sucht oder sich beim US-Konsulat gemel- det hatte. Zu wissen, dass man „im Not- Wanderungspolitik fall“ auswandern konnte, war für viele be- Wer ging dann letztendlich über den gro- ruhigend genug. Andere ließen sich von ne- ßen Teich? Migrationspolitik und Famili- gativen Berichten der Auswandererbera- enbande prägten die Nachkriegsauswan- ter oder ausgewanderter Freunde abschre- derung wesentlich deutlicher als die wirt- cken. Viele konnten sich die Auswanderung schaftliche oder politische Situation der trotz aller Hilfsprogramme einfach nicht Nachkriegszeit. Die internationale Wande- leisten. Bei wieder anderen dauerte der Be- rungspolitik spielte eine bedeutende Rolle werbungsprozess so lange, dass sie sich in der Umsetzung oder Verhinderung von in der Zwischenzeit in der Bundesrepublik Auswanderungswünschen. eingelebt hatten. Ein sehr wichtiger Grund In der Nachkriegszeit kontrollierten die Be- waren auch die Einwanderungsbestimmun- satzungsmächte den Zugang zu und aus gen der Zielländer. den Zonen. Eine legale Auswanderung war

83 Die USA, Kanada, Australien und andere gigkeit und den Interessen Australiens, Ka- Länder hatten seit dem ausgehenden 19. nadas und der USA: Die Regierung konn- Jahrhundert Einwanderungsbeschränkun- te Einfluss nehmen über die Finanzierung gen eingeführt, um zu kontrollieren, wer von Auswanderern, die Beratungsstellen ins Land kam. Bevorzugt wurden weiße, und die Öffentlichkeitsarbeit. Im Laufe der christliche, nordwesteuropäische Männer 1950er Jahre wurde die finanzielle Unter- und Frauen, denn sie garantierten die Kon- stützung von Auswanderern, besonders tinuität des Wirtschaftssystems und der von männlichen Facharbeitern, immer wei- Bevölkerungszusammensetzung. Die USA ter gekürzt. Die Beratungsstellen wirkten, erreichten dies über die Quotenregelung, nach Einschätzung des Bundesauswan- wonach wesentlich mehr Westeuropäer derungsamts, „prohibitiv“, weil man dort ins Land gelassen wurden als Menschen “den Auswanderern klarmache, warum sie aus anderen Regionen; Australien verfolg- nicht auswandern sollten.”17 In der Tat hie- te nach dem Krieg weiterhin eine „White ßen die Beratungsstellen im Volksmund Australia Policy“; und der Premierminister „Abratungsstellen.“ Und die Medien füg- Kanadas erklärte 1947, dass es Kanadas ten sich schnell den Aufforderungen, ihre Recht sei, Einwanderer nach rassischen Berichterstattung auf ein Minimum zu be- Kriterien auszuwählen.14 Erst in den 1960er schränken.18 Jahren gaben diese Länder ihre explizit ras- Traditionell waren Deutsche beliebte und sistische Einwanderungspolitik auf. bevorzugte Einwanderer, die in Nordameri- Junge, ledige, männliche Facharbeiter wur- ka und Australien zu den frühesten, größ- den von westdeutschen Politikern ebenfalls ten und wirtschaftlich erfolgreichsten Ein- als unentbehrlich für den Wiederaufbau er- wanderergruppen zählten. Dies änderte achtet. Es entbrannte deshalb in den Nach- sich während des Ersten Weltkriegs, als kriegsjahren ein Wettbewerb um deutsche deutsche Einwanderer zu feindlichen Aus- Migranten, die Franz Wolff bereits 1948 wie ländern wurden. In der zweiten Hälfte der folgt auf den Punkt brachte: “Erwünschte 1920er Jahre waren sie wieder gern ge- und unerwünschte Auswanderung. Beide sehene Einwanderer, doch die Weltwirt- Kategorien einmal klar trennen; die einen schaftskrise und der Zweite Weltkrieg un- werden von draußen geholt und wir brem- terbanden die deutsche Einwanderung für sen, die anderen drängen hinaus und jene die Dauer von zwei Jahrzehnten. Mit Beginn bremsen. [...] Erwünscht: Frauen, Alte und des Kalten Kriegs, der Gründung der Bun- Kranke, die zu Verwandten / Volksdeut- desrepublik Deutschland, dem Beginn des sche und Flüchtlinge aus dem Osten, die Koreakriegs und Koreabooms und dem En- nicht seßhaft / ausch [sic] arbeitsfähige de der Wanderung von Displaced Persons in Männer, wenn sie ihre Familien mitnehmen. diese überseeischen Länder stieg ab 1950 Intelligenz wo Überschuß / Unerwünscht: das Interesse an deutschen Einwanderern Facharbeiter, Techniker, Männer zwischen (und zum Teil auch Einwanderinnen) wieder 20–40 Jahre, einzelstehende Männer über- rapide an. Deutsche erhielten ihre Privile- haupt.”15 gien zurück, die sie traditionell als weiße, Um diese Ziele zu verwirklichen, richte- christliche Nordwesteuropäer und gute Ar- ten die westdeutschen Länderregierun- beiter besessen hatten. gen bereits 1947 in Bremen ein „Ständi- Die Vereinigten Staaten öffneten ihre Tore ges Sekretariat für das Auswanderungs- als erstes Einwanderungsland, und zwar wesen im Vereinigten Wirtschaftsgebiet“ schon ab 1946. Zugelassen wurden zu- ein. Das Sekretariat wurde 1952 zum Bun- nächst allerdings nur enge Verwandte ame- desamt für Auswanderung.16 Die deutsche rikanischer Staatsbürger, Verfolgte und Wanderungspolitik beschränkte sich auf Gegner des Nazi-Regimes und Flüchtlinge. drei Felder, die eingegrenzt waren von der Die deutsche Quote von jährlich 25.957 wur- im Grundgesetz festgeschriebenen Freizü- de deshalb zunächst nicht ausgeschöpft.

84 Familie Stadtler vor der Abreise in die USA im Überprüfungslager Hamburg-Wentorf, 1951, Raphaels-Werk Hamburg

Allerdings wanderten viele auch außerhalb granten im Sinne deutscher Arbeitsmarkt- der Quote über Sondergesetze ein. So ka- und Bevölkerungspolitik zu beeinflussen, men bis Juli 1950 14.000 deutsche „Besat- scheiterten an den amerikanischen Inter- zungsbräute“ in die USA. Im Rahmen meh- essen. rerer Flüchtlingsgesetze wanderten zudem Westdeutsche Versuche, die kanadische zwischen 1946 und 1952 etwa 400.000 Rekrutierung deutscher Fachkräfte zu be- Displaced Persons und andere Flüchtlinge einflussen, scheiterten ebenfalls. Kana- in die USA, darunter 16.000 in Deutschland da öffnete seine Pforten nach dem Zwei- geborene NS-Verfolgte und 55.000 „volks- ten Weltkrieg zunächst nur zögerlich, warb deutsche“ Vertriebene. Im Rahmen eines dann aber in den Westzonen ab 1947 Dis- Anschlussgesetzes wanderten dann bis placed Persons sowie, bis 1955, 40.000 1956 noch einmal 45.000 deutsche Flücht- „Volksdeutsche“ an. Die meisten Restrikti- linge und Vertriebene in die USA ein. Bei onen gegen deutsche Einwanderer wurden diesen Flüchtlingsprogrammen wählten die 1950 fallengelassen, und Deutsche wur- amerikanischen Kommissionen die Bewer- den über Nacht von „enemy aliens“ zu be- ber vor Ort aus; sie beschränkten sich auf gehrten Einwanderern, die auch im europä- junge, gesunde und gut ausgebildete Men- ischen Vergleich bevorzugt Überfahrtsdar- schen, die schnell zu produktiven Kräften lehen erhielten. Um in den Genuss eines auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt wer- Überfahrtsdarlehens zu kommen, muss- den konnten. Ab 1948 lockerten die USA ten sich ledige Frauen verpflichten, ein Jahr die Einwanderungsbestimmungen für Deut- lang als Hausmädchen, Krankenschwester- sche einschließlich ehemaliger Angehöri- gehilfin oder Reinigungskraft zu arbeiten ger der Wehrmacht und von NS-Organisati- und in dieser Zeit ihren Kredit zurückzube- onen, so dass die deutsche Quote ab 1948 zahlen. Männer mussten sich für den Berg- fast immer gefüllt wurde.19 Versuche der bau, die Holzfällerei oder eine landwirt- Adenauer-Regierung, die Auswahl der Mi- schaftliche Tätigkeit verpflichten; Famili-

85 enväter mussten zunächst alleine voraus- ließen. Deutsche gingen in dieser Zeit vor- wandern, um dann nach ein oder zwei Jah- wiegend als temporäre Arbeitsmigranten ren ihre Familien auf eigene Kosten nach- ins westeuropäische Ausland.24 Unter den zuholen. Die Kredite wurden von der kana- etwa 100.000 Deutschen, die in dieser Zeit dischen Einwanderungsbehörde, vom Ar- nach Übersee auswanderten, waren haupt- beitsministerium und von kirchlichen Ver- sächlich nahe Verwandte (Eltern und Ehe- einen vergeben. Fast jeder fünfte deutsche frauen) amerikanischer und kanadischer Kanada-Auswanderer nahm einen solchen Staatsbürger sowie Volksdeutsche mit Ver- Kredit in den 1950er Jahren in Anspruch. wandten in Kanada. 1951 war das Jahr des Damit erhielten sie bis 1960 die Hälfte al- Übergangs von der DP-Auswanderung zur ler von Kanada vergebenen Kredite. Dies Auswanderung deutscher Staatsangehöri- erhöhte nicht nur erheblich die Zahl deut- ger. Unter den 160.000 Auswandernden in scher Einwanderer, sondern auch den An- jenem Jahr waren 40% Bundesdeutsche.25 teil der Arbeitskräfte an der deutschen Ein- Die Hauptwelle der deutschen Überseeaus- wanderung (60%).20 Im Laufe der 1950er wanderung, und damit die zweite Phase Jahre wurde es für die Kanadier aber immer der Auswanderung aus Westdeutschland, schwieriger, Deutsche zur Einwanderung verlief von 1951 bis 1957. In dieser Zeit nach Kanada zu ermuntern. Im Vergleich zu wanderten im Durchschnitt jährlich 75.000 den USA sank die deutsche Einwanderung Bundesdeutsche aus, die meisten, wie die nach Kanada früher und schneller ab. DPs vor ihnen, auf Schiffen ab Bremerha- Einzig im Fall Australiens war die Bundes- ven und mit finanzieller Unterstützung der regierung in ihren Bemühungen erfolg- Aufnahmeländer und internationaler Wan- reich, ein Wanderungsabkommen (1952) derungsorganisationen wie dem Intergo- zu schließen. Sie konnte dadurch direkt die vernmental Committee for European Mig- Auswahl der Einwanderer beeinflussen.21 ration (ICEM). Bereits 1952 war mit 90.000 deutschen Auswanderern der Höhepunkt Die Auswanderung der deutschen Nachkriegsauswanderung Nach Angaben des Statistischen Bundes- erreicht. In der von 1958 bis 1961 dauern- amtes in Wiesbaden wanderten zwischen den dritten Phase der Überseewanderung 1946 und 1961 knapp 1,5 Millionen Men- aus Westdeutschland lag die Zahl der Aus- schen aus Westdeutschland nach Übersee wanderer bei jährlich 46.000 und fiel 1961 aus. Davon waren 710.000 Ausländer und auf 31.000. Der Rückgang hatte mehre- Ausländerinnen und 780.000 (52%) Deut- re Gründe. Zum einen hatte sich die wirt- sche. In dieser Zeit können drei Wande- schaftliche Situation in Westdeutschland rungsphasen unterschieden werden.22 Zwi- verbessert: Es herrschte nun Vollbeschäf- schen 1945 und 1950/51 gab es zunächst tigung, die Wohnungsnot war gelindert (1945–46) fast keine Auswanderung nach worden, Vertriebene und Flüchtlinge wa- Übersee, aber eine, zum Teil zwangswei- ren wohnräumlich und wirtschaftlich inte- se, Repatriierung von drei Viertel der 4,5 griert, Evakuierte und Ausgebombte rein- Millionen Displaced Persons, die sich am tegriert worden. Gleichzeitig boten die Ver- Kriegsende in den drei westlichen Besat- einigten Staaten kein spezielles Einwande- zungszonen befanden. Die meisten der 1,2 rungsprogramm mehr an, so dass die Aus- Millionen in Deutschland verbliebenen hei- wanderung fast ausschließlich auf die Jah- matlosen Polen, Ukrainer, Balten und ande- resquote von knapp 26.000 begrenzt war. ren Osteuropäer wollten nicht in ihre Hei- Kanada fiel 1957 in seine erste Nachkriegs- matländer zurückkehren.23 Ein Großteil von rezession und reagierte mit einer Verringe- ihnen wanderte dann zwischen 1947 und rung der Anwerbung bis Anfang der 1960er 1952 nach Übersee aus. Sie stellten 85% Jahre. Auch die australische Einwande- der 600.000 Überseeauswanderer, die rungspolitik wurde aus wirtschafts- und ar- Deutschland von Ende 1947 bis 1950 ver- beitsmarktpolitischen Bedenken ab Anfang

86 der 1960er Jahre restriktiver. In dieser Zeit Tatsächlich lag der Anteil der Vertriebenen ging die unterstützte Auswanderung aus und Flüchtlinge aus den Gebieten östlich der Bundesrepublik so weit zurück, dass der Oder und Neiße und Osteuropa mit 33% die letzten Auswandererlager geschlossen über ihrem Anteil an der Wohnbevölkerung wurden. Die Mitarbeiter der Auswanderer- von 19%. Dagegen waren unter den Aus- Beratungsstellen registrierten ebenfalls wanderern lediglich 4% SBZ/DDR-Flücht- einen deutlichen Rückgang in der Zahl der linge (Bevölkerung: 6%). Ratsuchenden und immer mehr ihrer Besu- Zwei Drittel der 1953/54 in der Statistik cher interessierten sich für temporäre Mi- erfassten Auswanderer hatten bis zur ih- gration im Rahmen von Entwicklungshilfe- rer Ausreise in vier Flächenländern gelebt: projekten.26 Bayern stellte 19% der Auswandernden, Wer waren die deutschen Auswanderer? Es Baden-Württemberg 17%, Niedersachsen wanderten gleich viele Männer und Frau- 16% und Nordrhein-Westfalen 16%. Auf en aus. Es waren vorwiegend junge Men- die Bevölkerung berechnet lag die Quote schen, die meisten unter 45 Jahre alt, ein der aus Bremen Ausgewanderten mehr als Großteil in ihren 20ern. Zwei Drittel wan- dreimal, die Hamburger und West-Berliner derten in Familien aus, der Rest waren le- Quoten doppelt so hoch wie die des Bun- dige allein stehende Erwachsene. Ihr Anteil desdurchschnitts. Dagegen lag Bayern nur erhöhte sich bis Ende 1950er Jahre kontinu- knapp über dem Durchschnitt, während die ierlich auf die Hälfte der Auswanderer. Mit Auswandererquote von Nordrhein-Westfa- etwa 60% lag der Anteil der Erwerbstätigen len und Rheinland-Pfalz etwa bei der Hälfte unter den Auswanderern deutlich über dem des Bundesdurchschnitts lag. der Bevölkerung (48%).27 Angaben über die Berufe der Ausgewan- Auswanderungsursachen derten liegen in der westdeutschen Sta- Politik regulierte die Migration, verursach- tistik nur für die Jahre 1953 bis 1955 vor. te sie aber nicht. Die wirtschaftlichen und Demnach waren die Auswanderer ein Spie- gesellschaftlichen Verhältnisse der Nach- gelbild der westdeutschen Gesellschaft: kriegszeit – Arbeitslosigkeit, Wohnungs- 48% (vorwiegend Männer) kamen aus dem not, politische Enttäuschungen und Ängste produzierenden Sektor, insbesondere Me- – waren ebenfalls eher Auslöser als Verur- tallerzeugung und Baugewerbe (Bevölke- sacher der Auswanderung. Der Blick muss rung: 46%); 36% (in der Mehrzahl Frauen) historisch erweitert werden, um die Nach- kamen aus dem Dienstleistungssektor, be- kriegsauswanderung zu erklären. Die viel- sonders „Haushalts-, Gesundheits- und fältigen transatlantischen Familienbezie- Volkspflege“ (Bevölkerung: 35%). Einzi- hungen sowie die Anknüpfungspunkte der ge Ausnahme waren die mit 6% unterre- Einwanderungspolitik an die Zwischen- präsentierten landwirtschaftliche Berufe kriegszeit zeigen, dass die Auswanderung (Bevölkerung: 20%), aber viele von ihnen der späten 1940er und 1950er Jahre in ei- wanderten über die amerikanischen Flücht- nem größeren historischen Kontext stand. lingsprogramme aus, die von der vorliegen- Für das lange 19. Jahrhundert sprechen den Statistik nur unvollständig erfasst wur- Historiker von einem nordatlantischen Ar- den. Der Anteil der Erwerbslosen war sehr beitsmigrationssytem, in welches deut- gering. Bereits 1954 bemerkte dazu der sche Migrationsströme eingebunden wa- Bremer Senatskommissar für das Auswan- ren. Gemeint ist damit ein Gefüge vielfälti- derungswesen Heinrich Maas: “Ein wesent- ger temporärer, saisonaler und permanen- licher Teil der Auswanderer besteht nicht ter Hin-, Rück- und Weiterwanderungen, aus Arbeitslosen und Flüchtlingen, sondern die auf den historischen und wirtschaftli- aus Personen, welche eine verhältnismäßig chen Verflechtungen der Länder im nord- gut bezahlte Stellung verlassen.”28 atlantischen Raum basierten. Dieser Raum erstreckte sich von Sibirien über Mittel-

87 Schmerzlicher Abschied von Auswanderern im Rahmen des Refugee Relief Acts, Stuttgart 1956, Raphaels-Werk Hamburg

europa bis an die Pazifikküste Nordame- Familienbande prägten die Nachkriegsaus- rikas. Das System beruhte aber auch auf wanderung aber auch noch auf eine tief- unzähligen verwandtschaftlichen Netzen gründigere Weise. Die Auswanderung des und den daraus resultierenden Kettenwan- 19. und frühen 20. Jahrhundert hatte sich derungen. Die Migration vom Heimatort tief in das kollektive Gedächtnis Mitteleuro- zu einem anderen Ort war häufig eine Le- pas eingegraben. Gerade unter den „Volk- bensstrategie, um mit den Anforderungen deutschen“ in Rumänien, Jugoslawien, Un- der Industrialisierung zurechtzukommen. garn und der Tschechoslowakei waren nicht Ausschlaggebend bei der Wahl des Zielor- wenige Auswanderer vor dem Ersten Welt- tes war dabei häufig, dass es dort bereits krieg in ihre Heimatdörfer zurückgekehrt, Verwandte oder Bekannte gab. Ob jemand um sich mit dem in Übersee erarbeiteten von Mainz nach Wien, Marseilles, Montre- Geld einen Bauernhof zu kaufen. Viele Kin- al oder Seattle zog, hing also in großem der wuchsen in der Zwischenkriegszeit auf Maße davon ab, in welcher dieser Städte mit Geschichten über Tanten in Cincinnati er jemanden kannte. Die 1950er Jahre bil- und Großvätern, die in Chicago gearbeitet deten in vielerlei Hinsicht die letzte Phase hatten. Die Lektion wurde von jedem Jun- dieses Systems, denn zum letzten Mal wur- gen und Mädchen verstanden: Auswande- den im großen Ausmaß die etablierten Fa- rung war eine Möglichkeit, sein Leben zu miliennetze genutzt. Es handelte sich auch gestalten. Die vielfältigen Migrations- und deshalb um die letzte Phase, weil die auf Fremdheitserfahrungen in den Kriegs- und staatlich genutzter und kontrollierter Ket- Nachkriegsjahren verstärkten diese Ein- tenmigration beruhende Nachkriegsaus- drücke. Dabei war es völlig offen, ob sich wanderung keine neue Kettenwanderung jemand aus einer solchen „Migrationskul- initiierte.29 tur“ für oder gegen Auswanderung als Le- bensstrategie entschied.30

88 Durch den Krieg und die Vertreibungen wa- liche Verbindungen helfen. Es waren also ren zahlreiche Familienbande aufgelöst wor- die weit verzweigten Familiennetze, die die den – nicht nur durch den Tod enger Ange- Grundlage der deutschen Überseeauswan- höriger, sondern auch durch Entfremdung. derung in der Nachkriegszeit bildeten. Viele Ehefrauen und Kinder kamen mit ih- ren aus dem Krieg und der Gefangenschaft Einwanderungserfahrungen heimgekehrten Ehemännern und Vätern Obwohl es nicht das Thema dieses Über- nicht mehr zurecht. Junge Menschen, die im blicks ist, sollen die Erfahrungen der deut- Nationalsozialismus aufgewachsen waren, schen Auswanderer in den Einwanderungs- fühlten sich nach dem Zusammenbruch von ländern kurz umrissen werden.33 Zunächst ihren älteren Verwandten enttäuscht und ist festzustellen, dass es nur eine sehr ge- verraten. Hinzu kamen gesellschaftliche Ab- ringe Rate an Rückwanderern gab.34 Dies lösungs- und Entfremdungsprozesse. Nicht lag vor allem daran, dass sich deutsche Ein- nur Vertriebene und Flüchtlinge, auch Alt- wanderer überall schnell wirtschaftlich und eingesessene fühlten sich nach 1945 wie in gesellschaftlich integrierten. Sobald sie die einer „fremden Heimat.“31 Sprache des Einwanderungslandes gelernt Es waren dann häufig transatlantische Ver- hatten, konnten sie häufig wieder in ihren bindungen zu Verwandten, die Deutsche Lehrberufen arbeiten. Nicht wenige mach- dazu veranlassten, über Auswanderung ten sich selbständig. Die Mehrheit nahm die nachzudenken. Diese Verbindungen waren Staatsbürgerschaft des neuen Heimatlandes zum Teil sehr kurzfristig gewachsen: Deut- an und gab damit automatisch die deutsche sche, die in den späten 1940er und frühen Staatsbürgerschaft auf. Die deutsche Spra- 1950er Jahren ausgewandert waren, holten che und die kulturellen Bräuche und Tradi- in späteren Jahren ihre Eltern, Geschwister tionen, mit denen man aufgewachsen war, und Freunde nach. Nicht selten waren sie wurden nur eingeschränkt an die Kinder und aber selber von Onkeln und Tanten in die Enkel weitergegeben. Immer wieder beklag- USA und, wenn auch seltener, nach Kanada ten deshalb einige Vertreter deutschameri- und Australien geholt worden. Diese Ver- kanischer, -australischer und -kanadischer wandten waren in der Zwischenkriegszeit, Verbände den „Verlust“ deutscher Sprache manchmal aber auch schon in der Zeit vor und Kultur. Nicht selten machten sie dafür dem Ersten Weltkrieg ausgewandert. Nicht die angeblich aus dem Krieg und Holocaust wenige besuchten ihre „armen“ Cousins entstandenen Minderwertigkeitskomple- und Cousinen in Nachkriegsdeutschland, xe der deutschen Einwanderer verantwort- um sie mit nach Amerika zu holen. Wesent- lich. Sie übersahen dabei allerdings, dass lich häufiger waren Care-Pakete und Brie- Deutsche in diesen Einwanderungsgesell- fe, in denen Deutschamerikaner ihre Nef- schaften aufgrund ihres Status als weiße fen und Nichten dazu ermunterten, die Ru- Christen gegenüber süd- und südosteuro- inen zu verlassen und am amerikanischen päischen Einwanderern privilegiert waren. Wohlstand teilzuhaben.32 Dabei halfen auch ethnische Stereotype Ein Großteil der von den nordamerikani- von deutscher Sauberkeit, Pünktlichkeit, schen Regierungen organisierten transat- Ordnung und deutschem Fleiß. lantischen Wanderungen der Nachkriegs- Familienbande spielten in dieser schnellen zeit basierte auf diesen Netzen von Famili- Integration eine wichtige Rolle. Verwand- enbanden und Freundschaften. Wer in die te halfen bei der Job- und Wohnungssu- USA auswandern wollte, ob über die Quo- che, beim Einkaufen und dem Einleben in te oder im Rahmen der Flüchtlingsprogram- die neue Kultur. Viele der jungen Erwach- me, hatte wesentlich größere Chance, wenn senen hatten Deutschland mit dem Vor- er einen Bürgen in den USA hatte. Dies wa- satz verlassen, nach einigen Jahren des ren häufig Verwandte. Auch für die Aus- Abenteuers zurückzukehren. Die meisten wanderung nach Kanada konnten persön- blieben allerdings im Einwanderungsland

89 „hängen“, weil sie bereits nach kurzer Zeit mit gegenseitigem Schweigen bedacht. Es heirateten und Familien gründeten. Deut- war für Deutsche also nicht immer einfach, sche Restaurants, Genossenschaftsban- sich in das kollektive Gedächtnis ihrer neu- ken, Lebensmittelgeschäfte, Sprachschu- en Heimat zu integrieren. Dennoch kam es len, Kirchen und Gottesdienste, Gesangs- auch zu vielen persönlichen Begegnungen, und Tanzvereine, gesellige Klubs und viele die zu kollegialen und privaten Freund- andere ethnische Einrichtungen halfen den schaften, Liebesbeziehungen und Ehen Einwanderern, den Übergang in die neue wurden. Gesellschaft zu meistern. Wie die histori- sche Migrationsforschung immer wieder Ausblick gezeigt hat, handelte es sich bei solchen Die Nachkriegsauswanderung ist fest im deutschen Vierteln in Vancouver, New York Bewusstsein der deutschen Bevölkerung und Melbourne nicht um Abschottung, son- verankert. Viele haben Verwandte in Über- dern, ganz im Gegenteil, um transkulturel- see, besuchen sie, telefonieren, schreiben les Brückenbauen. Die erfolgreiche Integra- sich Briefe und Emails, oder wissen zumin- tion zeigt sich auch darin, dass die zwei- dest von ihnen. Dennoch werden diese Aus- te Generation akzentfreies Englisch (oder wanderung und die weiterhin bestehenden auch Französisch in Quebec) spricht, viele millionenfachen transnationalen Bezie- von ihnen Hochschulabschlüsse gemacht hungen von der deutschen und internati- haben und, falls ihre Eltern dort nicht be- onalen Geschichtsforschung übergangen. reits angekommen waren, in die Mittel- und So erwähnt Hans-Ulrich Wehler in seiner Oberschichten der Gesellschaft aufgestie- Deutschen Gesellschaftsgeschichte die- gen sind. Viele Einwanderer und fast alle se Auswanderung mit keinem Wort. Auch ihre Kinder und Enkel fühlen sich als Ameri- ein Sammelband mit dem Untertitel „Nach- kaner, Kanadier oder Australier. So werden kriegsgeschichte als Migrationsgeschich- sie auch von den Einwanderungsgesell- te“ klammert diese Auswanderung aus der schaften wahrgenommen. Geschichte aus. Woran liegt das? Natürlich Dabei kam es selbstverständlich auch im- waren die zeitgleich stattfindenden Wan- mer wieder zu Konflikten. Genannt werden derungen – Flucht, Vertreibung, „Gastar- soll hier nur kurz die Auseinanderersetzung beiter“-Einwanderung – zahlenmäßig grö- mit der NS-Geschichte. Sehr viel stärker als ßer und für die Geschichte der Bundesre- in Deutschland wurden die Einwanderer mit publik auch folgenreicher. „Aus den Augen, Hollywoodfilmen, Fernsehserien und Pres- aus dem Sinn“ gilt zudem besonders im seberichten über den Zweiten Weltkrieg Fall der deutschen Geschichtsschreibung, und, ab den 1970er Jahren, über den Holo- die erst in den letzten Jahren über den nati- caust konfrontiert. Diese Medien zeigten, onalen Tellerrand hinausguckt und zaghaft zum Unbehagen einiger Einwanderer, sehr transnationalen Verknüpfungen nachspürt. deutlich die Brutalität der Nazis und der Doch auch die deutsche und internationa- Wehrmachtssoldaten, machten sich aber le historische Migrationsforschung hat sich auch über sie lustig. Als Angehörige einer lange Zeit auf die „spektakuläre“ Massen- Minderheit, die an ihrem Akzent zu erken- auswanderung des 19. Jahrhunderts be- nen war, waren die Einwanderer besonders schränkt. Sie vernachlässigte auch die empfindlich. Sie konnten sich nicht in Hei- Auswanderung aus der Weimarer Republik matfilme und den deutschen Schweigekon- und überließ die Auswanderung während sens der 1950er Jahre flüchten. In persön- des Nationalsozialismus der Exilforschung. lichen Begegnungen mit Kriegsveteranen, Ob sich diese Vernachlässigung der Nach- Juden, holländischen und polnischen Ein- kriegsauswanderung und, allgemeiner, der wanderern konnten diese Konflikte eben- Auswanderung im 20. Jahrhundert mit der falls aufflammen, wurden jedoch meistens neuen Auswanderung seit den 1990ern auf einige Bemerkungen beschränkt oder und dem daran geweckten Medieninteres-

90 se (Stichwort: „Mein neues Leben“) ändern ter as to Canada’s Policy, Thursday, May 1, 1947” wird, bleibt abzuwarten. in: Canada. Parliament, House of Commons. Offi- cial Report of the Debates of the House of Com- mons of the Dominion of Canada. Twentieth Parli- ament, Third Session (1947), Vol. 3. Ottawa 1948, 1 Millionen haben nur einen Wunsch: Raus aus Eur- S. 2644–46. opa, in: die strasse. Das Illustrierte Wochenblatt, 15 Staatsarchiv Bremen (StAB), 4,35/4-830-00- 1949, H. 49, S. 1, Kirchenkreis Alt-Hamburg, Ar- 01/1, Wolff: Aktennotiz an Maas für die Hambur- chiv, Bestand Auswanderermission, VII.50/12. ger Tagung, 1949, o.D. 2 Canada, Department of Citizenship and Immigra- 16 Vom Reichskommissar für das Auswanderungs- tion (DCI), Statistics Section, 1960 Immigration wesen ... 1989, S. 115f. Statistics, Table 12, Origin of Post War Immigrants 17 StAB, 4,35/4-830-10-01/0, Auszug aus dem Kurz- from Overseas, and Total from the , protokoll der 85. Sitzung des Haushaltsausschus- 1946–60, Ottawa 1961; United States, Immigra- ses, 11.5.1955. tion and Naturalization Service, Annual Report 18 Freund 2004, S. 192f. 1946–1960, Washington, DC 1946–1961; Johan- 19 Memo to America 1952, S. 9–41, 243; Nerger-Fo- nes-Dieter Steinert: Migration und Politik: West- cke 1995, S. 107–129; Steinert 1995, S. 118ff., deutschland, Europa, Übersee 1945–1961, Osna- 123f, 255. brück 1995, S. 8. 20 StAB, 3-A.4. Nr.671, Berkefeld, Brief History; Li- 3 Wehler 2008 (2003), S. 955. brary and Archives Canada, Record Group 26, vol. 4 Ulrich Herbert: ‚Ausländer-Einsatz’ in der deut- 95, file 3-7-7, Assisted Passage Loan Scheme, pt. schen Kriegswirtschaft, 1939–1945, in: Bade 1, Minister, Dept. of Citizenship and Immigrati- 1992, S. 354–367; Wolfgang Jacobmeyer: Ortlos on (DCI), Memorandum an Cabinet, 3.3.1951; Mi- am Ende des Grauens: ‚Displaced Persons’ in der nister, DCI, Memorandum an Cabinet, 26.5.1951; Nachkriegszeit, in: ebd., S. 367–373; Werner Rö- Freund, Aufbrüche nach dem Zusammenbruch, S. der: Die Emigration aus dem nationalsozialisti- 228–236. schen Deutschland, in: ebd., S. 345–353; Wolf- 21 Lack / Templeton 1995, S. 6–11, 23–28; Shering- gang Benz: Fremde in der Heimat: Flucht – Ver- ton 1992, S. 130–140; Nationality of Permanent treibung – Integration, in: ebd., S. 374–386; Benz and Long Term Arrivals, in: Australia, Dept. of Im- 1995; Burgauer 1993, S. 14–22; Krohn / Mühlen migration, Australian Immigration. Consolida- 1997, S. 7–21; Krause 1997. ted Statistics, Canberra 1966, S. 32–38 (eigene 5 Ausführlich zur Entstehung von Migrationskultu- Berechnung); Steinert 1995, S. 112–118; Gross ren: Freund 2004, Kap. 2. 1952, S. 284–288. 6 Die doppelte Staatsgründung: Deutsche Ge- 22 Die Zahlen in diesem Abschnitt basieren auf: Wirt- schichte 1945–1955, 5. überarb. u. erw. Aufl., schaft und Statistik (WiSta). Statistische Monats- Bonn 1991 (1982), S. 37. zahlen 1963, hg. v. Statistischen Bundesamt Wies- 7 Vom Reichskommissar für das Auswanderungs- baden, Stuttgart 1963, S. 191. Die Wiesbadener wesen … 1989; Bade 1989. Zahlen sind geringer als die Einwanderungszah- 8 Wolff 1953. len der Zielländer. 9 Freund 2004, S. 162–169. 23 Jacobmeyer 1992, S. 368–371. 10 EMNID-Institut, EMNID-Informationen, Bielefeld, 24 WiSta 1954, S. 276. 9. 1957, H. 39, S. 2; 13. 1961, H. 10, S. 1; 22. 1970, 25 StAB, 4,35/4-830-00-01/1, Maas: Deutsche Aus- H. 11/12, S. 15. wanderung in der Nachkriegszeit, Vortrag vor dem 11 Verzeichnis der Gemeinnützigen Auswanderer- Rotary-Club Bremen, 18.1.1954. Beratungsstellen, Merkblatt Nr. 12, hg. v. Bun- 26 StAB, 4,35/4-830-10-10/0 Berichte, Jahresberich- desamt für Auswanderung (BAAusw), 4. Aufl. te des SKAusw 1951–1973, Jahresberichte 1956 Koblenz 1954; Bundesstelle für Auswanderung, (29.11.1956), 1958 (3.12.1958), 1961 (14.2.1962), Rundschreiben Nr. 156/1951, Rundschreiben Nr. 1962 (27.2.1963), 1963 (17.3.1964) und 1964 194/1951; BAAusw, Rundschreiben Nr. 271/1954, (26.2.1965). Rundschreiben Nr. 202/1957; BAAusw, Übersicht 27 Auswanderer 1953, 1955 und 1958 nach Ge- über den deutschen Auswanderungsdrang in den schlecht, Alter, Familienstand und Erwerbstätig- Jahren 1919–1953, Rundschreiben, 271, 1954; keit, in: WiSta 1960, S. 588. Übersicht über den deutschen Auswanderungs- 28 StAB, 4,35/4-830-10-10/0 Senatskommissar für drang für die Kalenderjahre 1954–1958, Koblenz das Auswanderungswesen, Allgemeine Auswan- 1953–55, Köln 1957–60 (eigene Berechnungen). derungsangelegenheiten, Berichte, Jahresbe- 12 Steinert 1995, S. 22. richte des Senatskommissars für das Auswan- 13 Ausführlich zu Auswanderungsschwindel und ille- derungswesen 1951–1973, Jahresbericht 1954 galer Auswanderung: Freund 2004, Kap. 3.2 und (20.12.1954). 3.3. 29 Hoerder 1995; Freund 2002 [2003], S 1–36. 14 Lack / Templeton 1995, S. 11f., 39–42, 150–152, 30 Dazu ausführlich: Freund 2004, Kap. 2.1. 166–181; Right Hon. William Lyon Mackenzie 31 Plato 1985. King, “Immigration. Statement of the Prime Minis- 32 Freund 2004, Kap. 4.

91 33 Zur Einwanderung ausführlicher: Alexander building: World War II-Memories and Germans’ Freund: Identity in Immigration: Self-Conceptua- Interethnic Encounters in Canada After 1945, in: lization and Myth in the Narratives of German Im- Histoire sociale/Social History 39. 2006, H. 77, S. migrant Women in Vancouver, B. C., 1950‑1960, 129-155; “How Come They’re Nice to Me?” Deut- M.A. thesis, Vancouver 1994; ders.: Immigrants’ sche und Juden nach dem Holocaust in Nordame- Identities: The Narratives of a German-Canadian rika, in: Christiane Harzig, (Hg.): Migration und Er- Migration, in: Angelika E. Sauer / Matthias Zim- innerung. Reflexionen über Wanderungserfahrun- mer (Hg.): A Chorus of Different Voices. German- gen in Europa und Nordamerika, Göttingen 2006; Canadian Identities, New York 1998, S. 187‑208; ders.: A German Post-1945 Diaspora? German Mi- ders. „Where were you während des Kriegs?“ grants’ Encounters with the Nazi Past, in: Mathi- Kriegserzählungen deutscher Migranten in Nor- as Schulze u.a. (Hg.): German Diasporic Experi- damerika seit 1945, in: Christer Petersen (Hg.): ences: Identity, Migration, and Loss, Waterloo, Zeichen des Krieges in Literatur, Film und den Me- ON 2008, S. 467‑478. dien, Bd. 1: Nordamerika und Europa, Kiel 2004, 34 WiSta 1958, S. 508; WiSta 1960, S. 586. S. 31‑67; ders.: Troubling Memories in Nation-

Deutsche Kinder auf dem „Europe Canada Line“ Schiff ‚The Seven Seas’, ca. 1958, Library and Archives Canada PA-124957, Europe Canada Line/LAC

92 Michael Werner

Zur Geschichte und Zukunft des Pennsylvaniadeutschen in den USA

Benjamin Franklin beklagte sich im 18. Jahr- die Erlaubnis, sich in einer der englischen hundert darüber, dass in Pennsylvania „die Kolonien Nordamerikas niederlassen zu Pfälzer Bauernlümmel sich um unsere An- dürfen. Mehrere tausend Menschen wur- siedlungen drängen und, indem sie in Ru- den schließlich in die Neue Welt verschifft. deln zusammenwohnen, ihre Sprache und Obwohl die Emigranten aus den verschie- Sitten befestigen zum Verderben der uns- densten Gebieten stammten, bezeichnete rigen (...), dass sie uns germanisieren, an- man sie bei den vom Menschenstrom über- statt dass wir sie englisieren“. Heute sieht raschten und überforderten Verwaltungen die Situation in den Zielgebieten der pfäl- in Holland und England allgemein als Pfäl- zischen Nordamerikaauswanderung ganz zer. Der Grund hierfür liegt auch in der Tat- anders aus: Sprachen zum Beispiel Ende sache, dass die Auswanderer selbst dann des 19. Jahrhunderts 600.000 bis 800.000 ihre Heimat gern in die Kurpfalz verlegten, Menschen Pennsylvaniadeutsch, so sind wenn sie keine Pfälzer waren. Da die Hollän- es heute maximal 300.000 (davon nur rund der und die Engländer sich dem pfälzischen 150.000 im täglichen Umgang). Calvinismus besonders verbunden fühlten, Wie wird sich das Pennsylvaniadeutsche standen die „pfälzischen Glaubensbrüder“ weiterentwickeln, und wird es in hundert in hohem Ansehen. So nannte man bereits Jahren überhaupt noch gesprochen wer- 1710 Auswanderungsschiffe allgemein den? „Palatine vessels“. In den nachfolgenden Jahrzehnten traten mehrere zehntausend Menschen aus Deutschland – ein Großteil 1. Zur Entstehung des Pennsylvaniadeut- jedoch wirklich aus dem Gebiet der dama- schen (1683–1815) ligen Kurpfalz stammend – die Reise übers Meer an. Push- und Pull-Faktoren gab es Bereits im 17. Jahrhundert hat es immer viele. Der wichtigste Faktor, der die Emigra- wieder vereinzelt deutsche Abenteurer ge- tion begünstigte, war jedoch vielleicht das geben, die nach Nordamerika zogen. In den noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhun- 1670er Jahren gründeten Hugenotten, die derts von Schiffseignern eingeführte „Re- zuvor in der Pfalz gelebt hatten, im Staat demptioner“-System, das Auswanderern New York die Ortschaft „New Paltz“. Und im ermöglichte, die Kosten für die Überfahrt Jahr 1683 schließlich landete eine deutsche nach der Ankunft in Amerika abzuarbeiten. Siedlergruppe mit dem Schiff „Concord“ im Bei dieser Form der „weißen Sklaverei“ ver- Hafen Philadelphias und gründete unweit dingten sich die Neuankömmlinge für meh- der Stadt den Ort „Germantown“. Mit die- rere Jahre, bevor sie sich schließlich als sem Jahr beginnt die eigentliche deutsch- (schulden-)freie Menschen selbst nieder- amerikanische Geschichtsschreibung. lassen konnten. Gründe zur Auswanderung gab es viele: Bei Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges religiöse, wirtschaftliche, politische. Der lag die Zahl der deutschsprachigen Sied- Hungerwinter 1709/1710 trieb viele Men- ler in Pennsylvania, jenem Staat, der die schen aus ihren Dörfern und den Rhein hi- Wiege des Pennsylvaniadeutschen wer- nunter ans Meer, um zunächst nach Lon- den sollte, bei rund 110.000. Gemessen an don überzuschiffen. Dort hoffte man auf der Gesamtauswanderung der Deutschen

93 nach Amerika seit dem 17. Jahrhundert, ge, nämlich von 1869 bis 1935, hat man un- die nach Angaben verschiedener Quellen ter Linguisten darüber gestritten, welchem bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts deutschen Dialekt das Pennsylaniadeut- bei über 7 Millionen gelegen hat, ist die- sche am nächsten komme. Am Ende setz- se Zahl vergleichsweise gering. Zieht man te sich die Meinung durch, das Deutsch der jedoch in Betracht, dass die Gesamtein- Siedler entspreche am ehesten der Varie- wohnerzahl Pennsylvanias um 1775 nur tät, wie sie in den nordöstlichen Regionen bei rund 225.000 lag, erhält die Zahl der der (heutigen) Pfalz gesprochen werde (vgl. deutschsprachigen Siedler ein anderes Ge- Eshleman 1935). Über die Gründe, weshalb wicht. Beachtet man außerdem, dass sich sich ausgerechnet das „Vorderpfälzische“ die Siedlungsorte der deutschen Emigran- in Pennsylvania maßgeblich durchsetzte, ten im Südosten des Staates konzentrier- wurde in Fachkreisen jedoch weiter hef- ten, ist leicht nachzuvollziehen, dass sie in tig diskutiert. Meist wurde die Erklärung den von ihnen bewohnten Counties kultu- in der hohen Zahl der Siedler aus der Pfalz rell und sprachlich eine entscheidende Rol- gesucht. An dieser These, deren Argument le spielten und der Region ihren prägenden extern-linguistischer Natur war, mochte et- Stempel aufsetzten. Der amerikanische Un- was dran sein, restlos überzeugend war sie abhängigkeitskrieg brachte die Nordame- indes nicht. Erst 1968 wurde ein intern-lin- rikaauswanderung abrupt zum Stillstand. guistischer Erklärungsansatz vorgelegt, Die deutschen Auswanderer wandten sich der die Diskussion weitgehend beende- anderen Zielgebieten zu, die vor allem im te. Die Varietät des Pfälzischen, die in ei- Osten Europas lagen. In Amerika aber führ- nem Umkreis von etwa 20 Kilometern um te die gemeinsame Erfahrung des gewon- Mannheim gesprochen werde, habe sich nenen Kriegs gegen England die Mitglie- als Kompromissmundart für die nebenein- der der nun neu entstandenen „multinatio- ander wohnenden Pfälzer, Schwaben, Eläs- nalen Nation“ enger zusammen. Aus Deut- ser und Schweizer angeboten, weil sie lin- schen, Engländern, Iren, Schweizern, Hol- guistisch von allen in Pennsylvania vorhan- ländern und anderen waren nach der briti- denen Varietäten diejenige gewesen sei, schen Kapitulation (1781) und dem formel- die dem Standarddeutschen am nächsten len Friedensschluss von 1783 Amerikaner kam. Das Vorderpfälzische entwickelte sich geworden. Zwar stieg nach 1783 die Zahl also, da außer Pfarrern und Lehrern kaum der Auswanderer wieder an, aber bereits ein Mensch des Standarddeutschen mäch- knapp zehn Jahre später waren die euro- tig war, zur „lingua franca“ unter den Sied- päischen Auswanderungshäfen erneut ge- lern. Dass sich diese Varietät in den USA schlossen. Sie blieben es bis 1815, dem im Laufe der Jahrhunderte vom Vorderpfäl- Jahr, in dem der Wiener Kongress die Land- zischen in Deutschland durch Sprachwan- karte Europas nach dem Abtritt Napoleons delprozesse linguistisch entfernt hat, ist neu ordnete. In diesem Vierteljahrhundert selbstverständlich. riss nun die Verbindung zwischen der al- ten und der neuen Heimat komplett ab. Die etwa 25 Jahre zwischen 1790 und 1815, in 2. Die Merkmale des Pennsylvaniadeut- denen praktisch keine neuen Auswanderer schen in Pennsylvania ankamen, genügten, um Es handelt sich beim Pennsylvaniadeut- aus den dort lebenden Pfälzern, Württem- schen um einen Dialekt, bei dem grob ge- bergern, Schweizer, Elsässern und anderen schätzt etwa 90 % der linguistischen Ele- „Pennsylvaniadeutsche“ zu machen. In die- mente und Strukturen auf das Pfälzische sen Jahren entwickelte sich aus den unter- zurückgehen dürften. Die Phonetik/Pho- schiedlichen deutschen Varietäten durch nologie ist eher vorderpfälzisch geprägt, Dialektausgleich eine einzige sprachliche in der Lexik überwiegt die westpfälzische Varietät: „das Pennsylvaniadeutsche“. Lan- Variante. Rund 2 % der linguistischen Ele-

94 mente und Strukturen dürften alemanni- defresser“ (Computer) zeigen. Im Pennsyl- sche Wurzeln haben – am auffälligsten ist vaniadeutschen haben sich schließlich ei- die Diminutivbildung auf „-li“. Der englische ne Reihe von Wörtern erhalten, die im Pfäl- Einfluss dürfte insgesamt bei rund 8 % lie- zischen heute weitgehend nicht mehr ge- gen, am stärksten wird er deutlich in der bräuchlich sind wie etwa das Lexem „eb- Lexik und der Syntax. ber“ (jemand). Insgesamt kennzeichnend für das Pennsylvaniadeutsche ist seine re- 2.1 Phonetik/Phonologie lative Synonymarmut. Folgt ein /r/ auf /o/, /i/ oder /e/, erscheint dieser Vokal im Pennsylvaniadeutschen 2.4 Syntax als /a/: „Watt“ statt „Wort“, „Hah“ statt Das Pennsylvaniadeutsche hat das engli- „Herr“, „Hasch“ statt „Hirsch“. Außerdem sche Satzbildungsmuster übernommen. ist die amerikanische Aussprache des /r/ Dies könnte ein Indiz für das baldige En- und des /l/ unter Pennsylvaniadeutschen de des Dialekts sein. Marion Lois Huffines weit verbreitet. Ebenso auch der sogenann- wertet diese Tatsache dagegen als Strate- te „Sprossvokal“: „Milich“ statt „Milch“, gie zum Spracherhalt.1 Hier ist das Argu- „Karich“ statt „Kerch“ und „darich“ statt ment: Der Sprecher, der sich nur ein Satz- „durch“. bildungsmuster merken muss (nämlich das Im Vergleich zum Pfälzischen, das aus vie- englische), hat es leichter mit der Handha- len Ortsdialekten und regionalen Varian- bung des Dialekts. Er muss nicht mehr zwi- ten besteht, ist das Pennsylvaniadeutsche schen deutschem und englischem Syntax- phonetisch gesehen eine vergleichsweise muster unterscheiden. Beispiele für den einheitliche Varietät. Regionale Varianten Einfluss des Englischen in diesem Bereich – etwa zwischen Pennsylvania und Ohio – sind: „Was Zeit iss es?“ (What time is it?), sind zwar vorhanden, aber längst nicht so „Ich besser geh heem“ (I better go home) ausgeprägt. oder „Wie bischt?“ (How are you?), „Sell iss uff zu dir“ (It’s up to you), „Was geht aa 2.2 Morphologie datt?“ (What’s going on there?). Hier sind die Gemeinsamkeiten mit dem Die Unterschiede zwischen Pfälzisch und Pfälzischen noch am deutlichsten. Die deut- Pennsylvaniadeutsch lassen sich in vier schen Wortbildungsmuster wurden weitge- Gruppen zusammenfassen: hend erhalten. Auffällig ist die deutsche Form der Verbbildung mit englischen Wort- a dem Einfluss des Englischen, der im stämmen („dschumb-e“ statt „to jump“). Pfälzischen fehlt; b dem Vorkommen von Formen aus nicht- 2.3 Lexik/Semantik pfälzischen deutschen Dialekten im Häufig kommt es zu Lehnübersetzungen Pennsylvaniadeutschen; („guudguckich“ statt „good-looking“), c der größeren Varianz des Pfälzischen Lehnübertragungen („alliebber“ statt „eve- (z.B. Synonymreichtum und regionale rybody“) und sogenannten Lehnbedeutun- Varianten) gen („gleiche“ in der Bedeutung „to like“). d der Eigenentwicklung des Pennsylva- Auch zahlreiche echte englische Lehnwör- niadeutschen seit seinem Entstehen. ter wie „blendi“, „Fens“ oder auch „schmo- ge“ (to smoke) haben Eingang in die All- tagssprache gefunden. Häufig sind auch 3. Die diachrone Entwicklung des Pennsyl- sogenannte Hybride wie „Bisniss-Leit“ vaniadeutschen (1815–2009) (business people). Aber auch zu Eigenbil- Betrachtet man die Entwicklung der penn- dungen, die nicht auf das Englische zurück- sylvaniadeutschen Sprachgemeinschaft in gehen, ist das Pennsylvaniadeutsche fä- den letzten zwei Jahrhunderten, fällt auf, hig, wie „Guckbax“ (Fernseher) oder „Wad- dass sich zwei gegenläufige Tendenzen ge-

95 genseitig überlagern: Die Varietät des Alltags war niemals das Standarddeutsche, sondern der Dialekt. 3.1 Der makrosoziologische Aspekt: der Man sprach ihn bis zum Anfang des 20. Assimilierungsdruck Jahrhunderts zu Hause, bei der Arbeit, vor Auf makrosoziologischer Ebene verstärkt der Kirche, auf dem Markt. Mit Beginn des sich von Generation zu Generation der Ersten Weltkriegs wurde der Gebrauch des Druck auf die deutschsprachige Bevölke- Dialekts in die häuslichen, familiären Be- rung Pennsylvanias, sich der umgebenden reiche zurückgedrängt. Ein um 1910 gebo- amerikanischen – und englischsprachigen rener Pennsylvaniadeutscher erzählte, ihm – „Mainstream Society“ mehr und mehr an- sei in der Schule der Mund mit Seife aus- zupassen. Dieser Assimilierungsdruck wird gewaschen worden, wenn bemerkt wurde, anhand folgender Daten anschaulich: dass er auf dem Schulhof Dialekt sprach. Hinzu kam, dass ab etwa 1920 die wach- 3.1.1 Standarddeutsch als Unterrichtsspra- sende Verbreitung des Autos unter Luthe- che: ranern und Reformierten den Kommunikati- 1834 schränkte ein Schulgesetz den Ge- onsradius der deutschsprachigen Landbe- brauch des Standarddeutschen in der Schu- völkerung mit einem Male spürbar vergrö- le erstmals ein. Im Jahr 1880 ist das Stan- ßerte. Nun waren auf einmal auch weiter darddeutsche als reguläre Unterrichtsspra- entfernt liegende Städte erreichbar – und che in der Schule endgültig verschwunden. die waren in aller Regel rein englischspra- chig. 3.1.2 Standarddeutsch als Pressesprache: Das vor allem im 19. Jahrhundert florieren- 3.1.5 Pennsylvaniadeutsch als Alltagsspra- de deutschsprachige Pressewesen kam che in den eigenen vier Wänden: zwischen 1910 und 1917 – in der Zeit der Hier hielt sich der Dialekt naturgemäß am Vorkriegspropaganda bis zum Kriegsein- längsten. Aber auch in diesem Bereich war tritt der Vereinigten Staaten – nahezu voll- sein Gebrauch früh gefährdet. Deutsch- ständig zum Erliegen. englische Mischehen führten meistens zur Aufgabe des Deutschen im Hausgebrauch, 3.1.3 Standarddeutsch als Gottesdienst- ebenso die schlechten Erfahrungen der sprache: Pennsylvaniadeutschen, die ihre Kindheit Hier führte der Erste Weltkrieg in den meis- in Weltkriegszeiten durchleben mussten. ten lutherischen und reformierten Gemein- „Meinen Kindern sollte erspart bleiben, den Pennsylvanias zu einem Wechsel der was ich an Anfeindungen erleben muss- Gottesdienstsprache. Statt Deutsch wur- te“, ist eine oft gehörte Aussage. Ab etwa de fortan auf Englisch gepredigt. Der Zwei- 1920 drängte das englischsprachige Radio te Weltkrieg brachte nun auch die letzten in die Wohnstuben der Deutsch-Pennsyl- noch verbliebenen Gemeinden, die all- vanier, ab 1950 zunehmend auch das eng- sonntäglich auf Deutsch predigten, dazu, lischsprachige Fernsehen. Beides verstärk- die Gottesdienstsprache zu wechseln. Ins- te den Trend, Deutsch als Haussprache zu- gesamt geht man davon aus, dass sich der gunsten des Englischen aufzugeben. Ins- Verlust des Standarddeutschen als Gottes- gesamt wurde die frühere Zweisprachigkeit dienstsprache im Wesentlichen zwischen Pennsylvaniadeutsch – Standarddeutsch 1917 und 1940 vollzogen hat. Einzig die gegen Ende des 19. Jahrhunderts weitge- Sektierer – Amische und Mennoniten alter hend von der Zweisprachigkeit Pennsylva- Ordnung – hielten weiterhin am Deutschen niadeutsch – Englisch abgelöst. als Gottesdienstsprache fest. 3.2 Der psychologische Aspekt: der Folklo- 3.1.4 Pennsylvaniadeutsch als Alltagsspra- risierungsimpuls che außerhalb der eigenen vier Wände: Sprachdomänen werden aufgegeben: In

96 Schule, Kirche, Presse und im alltäglichen sche Picknicks“ und weitere Veranstaltun- Sprachgebrauch setzt sich mehr und mehr gen, die jedes Jahr zusammengenommen das Englische durch. Aber jede Bewegung wohl über 20.000 Menschen zusammen- erzeugt auch eine Gegenbewegung. Und führen, um im Dialekt zu kommunizieren. die liegt im Fall des Deutschen in Pennsyl- Verbreitet ist die Sitte, für jedes englische vania darin, dass der Versuch unternom- Wort bei einer Dialekt-Veranstaltung eine men wird, neue Sprachdomänen zu ero- Strafe zahlen zu müssen, die einem guten bern, um dem Dialekt eine Zukunftspers- Zweck zugute kommt. pektive zu eröffnen: 3.2.3 Pennsylvaniadeutsch als Gottes- 3.2.1 Pennsylvaniadeutsch als Literatur- dienstsprache: sprache: Der Verlust des Standarddeutschen als Kir- Um 1835 wird ein erstes Gedicht in penn- chensprache wird von Lutheranern und Re- sylvaniadeutscher Mundart verfasst. Ver- formierten insgesamt bedauert. Ab 1950 öffentlicht wird es jedoch erst 14 Jahre spä- kommt es als Gegenbewegung mancher- ter, im Jahr 1849. Ab ca. 1861 erscheinen orts zu Dialekt-Gottesdiensten. Allerdings pennsylvaniadeutsche Kolumnen regelmä- finden diese nur wenige Male im Jahr statt. ßig in Zeitungen und Zeitschriften. 1868 erscheint ein erstes literarisches Werk in 3.2.4.Pennsylvaniadeutsch als Medien- Buchform. 1938 treffen sich Wissenschaft- sprache: ler und Autoren in Hershey, um gemein- In den 50er Jahren entstehen erste Dia- sam eine Schreibkonvention für den Dia- lekt-Radiosendungen, ab 1974 zunehmend lekt festzulegen. Das Ziel wird ein Jahr spä- auch einzelne Fernsehsendungen in loka- ter erreicht, allerdings setzt sich das nach len Stationen. seinen Begründern benannte „Buffington- Barba-System“ nicht durch. Bis heute sind 3.2.5 Pennsylvaniadeutsch als Fremdspra- mehr als hundert Bücher in pennsylvania- che: deutscher Mundart erschienen. Auch gab 1942 erscheint ein erstes ernsthaftes Lehr- es jahrzehntelang ein recht reges Theater- buch, das deutschstämmigen Amerikanern wesen. Die Zahl der Autoren seit 1835 dürf- die Sprache ihrer Vorväter wieder nahe- te, vorsichtig geschätzt, sicherlich deutlich bringen will. Alle früheren Abhandlungen über 1.000 liegen. hatten noch didaktisch darauf abgezielt, den Pennsylvaniadeutschen Englisch bei- 3.2.2 Pennsylvaniadeutsch als Vereins- zubringen. 1954 folgt diesem Versuch ei- sprache: ne umfängliche pennsylvaniadeutsche 1891 wird die „Pennsylvania German So- Grammatik. Pennsylvaniadeutsch-engli- ciety“ gegründet, 1936 die „Pennsylvania sche Wörterbücher, die bereits seit Ende German Folklore Society“. Sprachliche As- des 19. Jahrhunderts von verschiedenen pekte standen bei beiden Vereinsgründun- Autoren zusammengetragen und gedruckt gen nicht im Vordergrund, aber der Förde- werden, dienen nun zunehmend nicht mehr rung des Dialekts wurde in der Vereinsar- dazu, ein englisches Äquivalent zu finden, beit dann doch eine hohe Bedeutung bei- sondern die dialektale Entsprechung eines gemessen. Beide Gesellschaften fusionie- englischen Wortes. Das große elfbändi- ren 1968 zur Vereinigung mit dem Namen ge pennsylvaniadeutsche Wörterbuchpro- „The Pennsylvania German Society“. Ab ca. jekt von C. Richard Beam wird erst Anfang 1935 gründen sich eine Reihe weiterer Ver- des 21. Jahrhunderts nach 50 Jahren For- einigungen mit dem Ziel, den mündlichen schungsarbeit abgeschlossen. Sprachgebrauch in der Mundart zu fördern: „Grundsau Lodsches“ (Groundhog Lodges), „Fersommlinge“. Daneben gibt es „deit-

97 3.2.6. Pennsylvaniadeutsch als Sprache im Funktion behalten. Es ist die Sprache des „World Wide Web“: Alltags im Hause und außerhalb, die Spra- Eine Erscheinung der vergangenen Jahre ist che der Arbeit und – mit Einschränkung – die zunehmende Nutzung des Dialekts im des Gottesdienstes (hier mischt sich stan- Internet. Es gibt Homepages mit dialekta- darddeutsche Lexik mit pennsylvaniadeut- len Angeboten (www.pgs.org, www.hiwwe- scher Phonologie). Der Dialekt ist hier kei- wie-driwwe.de und andere), eine pennsyl- nesfalls Gegenstand einer Folklorisierung, vaniadeutsche Wikipedia (pdc.wikipedia. sondern Bindeglied zwischen den Famili- org), Foren (www.amisch.de), Facebook- enmitgliedern einerseits und zwischen Fa- Gruppen und einen regen E-mail-Verkehr milie und Gemeinde andererseits. Solan- zwischen den Pennsylvaniadeutschen lu- ge dies so bleibt und die Gemeinden auch therischen und reformierten Glaubens, weitgehend am deutschsprachigen Got- die Anschluss an das Internet haben. „Ich tesdienst festhalten, scheint die Zukunft kann sell E-Poscht-Wese schunt haendle“, des Pennsylvaniadeutschen nicht nur ge- ist mittlerweile fast zu einem geflügelten sichert – es dürfte aufgrund des Kinder- Wort in der Online-Kommunikation gewor- reichtums der Amischen und Mennoniten den. mittelfristig sogar wieder mit leicht stei- genden Sprecherzahlen gerechnet werden. Allerdings: das Pennsylvaniadeutsche wird 4. Zur Zukunft des Pennsylvaniadeutschen sich substanziell stark verändern, sich in im 21. Jahrhundert allen linguistischen Ebenen weiter auf das All diese Bewegungen und Gegenbewe- Englische zubewegen, wenn nur noch Ami- gungen betreffen zunächst die Pennsyl- sche und Mennoniten Träger der Mundart vaniadeutschen, die sich als Teil der ame- sind. Schon jetzt wird allgemein von zwei rikanischen Gesellschaft verstehen. In so- Arten Pennsylvaniadeutsch gesprochen: zioreligiösen Kategorien gesprochen, sind „Non-plain Pennsylvania German“ (das der dies Lutheraner, Reformierte und welt- Lutheraner und Reformierten) und „Plain offene mennonitische Gruppen. Sie stel- Pennsylvania German“ (das der Amischen len noch immer den größten Sprecheran- und strenggläubigen Mennoniten). teil. Aber die Sprecher sind meist 60 Jah- Im „Non-plain Pennsylvania German“ ha- re und älter, und die Mundart wird nicht ben sich die linguistischen Strukturen seit mehr an die nachwachsende Generation 1815 kaum verändert. Bei Lutheranern und weitergegeben. Die Zukunft des Pennsyl- Reformierten existiert kein Erwartungs- vaniadeutschen liegt in den Händen einer druck der Gesprächspartner, ausnahmslos sozioreligiösen Gruppe, die 1890 kaum im Dialekt miteinander kommunizieren zu 3.700 Köpfe zählte, mittlerweile aber auf müssen. Das bedeutet: fehlt ein dialekta- rund 300.000 Menschen angewachsen les Wort, wird einfach die Varietät gewech- ist: die Amischen alter Ordnung (Old Order selt und das Gespräch auf Englisch weiter Amisch, ca. 240.000) und die Mennoniten geführt. Dies führt zur paradoxen Situati- alter Ordnung (Old Order Mennonites, ca. on, dass das Pennsylvaniadeutsche hier ei- 60.000). In längst nicht allen der streng- nerseits strukturell geschützt, insgesamt gläubigen Gemeinden wird der Dialekt ge- aber in seinem Gebrauch gefährdet ist. Das pflegt, aber doch noch in den meisten. Die „Plain Pennsylvania German“ ist gekenn- Lebensgewohnheiten der Old Order Amish zeichnet durch starke Anglisierungsten- und Mennonites sind allgemein bekannt: denzen in der Phonologie, der Lexik, aber Sie sondern sich von der sie umgebenden auch der Syntax. Grund hierfür ist der Er- amerikanischen „Mainstream Society“ ab, wartungsdruck der Gesprächspartner, je- fahren Pferdewagen statt Autos, verzich- de Alltagssituation im Dialekt meistern zu ten (weitgehend) auf Elektrizität. Hier hat müssen. Ein Sprachwechsel (Code Shift) das Pennsylvaniadeutsche seine soziale verbietet sich, und so gelangen englische

98 Elemente und Strukturen zunehmend in diese Form des Pennsylvaniadeutschen. Das Nachwachsen weiterer Sprechergene- rationen ist bei Amischen und Mennoniten gesichert. Wichtig ist ferner die Tatsache, dass Amische wie auch Mennoniten alter Ordnung keine homogene soziale Gruppe darstellen. Die Geschichte der Anabaptis- ten ist seit der Trennung der Amischen von den Mennoniten 1693 gekennzeichnet von Abspaltungen immer neuer Untergruppie- rungen. Für das Pennsylvaniadeutsche ist dies ein Glück. Denn auch wenn eine Ge- meinde den Dialekt nicht mehr länger als substanziell für das Leben in der Gemein- schaft ansehen sollte, werden mehrere hundert andere Gemeinden dies mit Sicher- heit anders sehen. Man sieht: Die Perspek- tiven für das Pennsylvaniadeutsche sind nicht so schlecht, wie oft beschrieben. Es spricht jedenfalls einiges dafür, dass auch im Jahr 2100 noch manch ein Amerikaner nach einem alten Gedicht sagen kann: „Der Uncle Sam finnt uns gedrei, mir duhne un- ser Flicht“.

1 Marion Lois Huffines: Case merger and case loss in Pennsylvania German, in: Semper idem et no- vus. Ed. by Francis G. Gentry. Göppingen 1988 = Göppinger Arbeiten z. Germanistik. Nr. 481, S. 391–402.

99 Gerhard Holzer

Samuel Adler (1809–1891) und Felix Adler (1851–1933)

Mit Vater und Sohn Adler betrachten wir neu geschaffenen Rabbinatsbezirk Alzey zwei jüdische Auswanderer aus Worms zuständig. (Simon Belmont, der Vater von bzw. Alzey. Die Lebensspanne Samuel Ad- , hatte sich als Vorsteher lers umfasst etwa die gleiche Zeit wie bei der Gemeinde für die Berufung des Worm- August Belmont (1813–1890, vgl. Lebens- ser Rabbiners eingesetzt.) Adler hatte 1836 bild Seite 103). Belmont wie Adler erlebten in Gießen in Philosophie promoviert und den Höhepunkt ihres Wirkens in New York. war ein vielseitig interessierter und gebil- Das Zentrum von Adlers Tätigkeit – der deter Mann, der sich entschieden für ei- Tempel Emanu-El – und die Stadtresidenz ne Öffnung des Judentums aussprach. So der Belmonts lagen beide in der Fifth Ave- nahm er an drei Konferenzen liberaler Rab- nue in New York, nur wenige hundert Meter biner aus ganz Deutschland 1844, 1845 voneinander entfernt. Es ist nicht bekannt, und 1846 teil. Er setzte sich u. a. für die Ver- ob der Bankier und der Rabbiner sich je per- wendung der deutschen Sprache im Gottes- sönlich begegnet sind. Wohl kaum, denn dienst ein und befürwortete eine stärkere sie bewegten sich in sehr unterschiedli- Beteiligung der Frauen. „Der Alzeyer Rab- chen Kreisen: Belmont in der Welt des Gel- biner befand sich innerhalb des Judentums des, Adler im Umfeld der Synagoge. Und ebenso entschieden auf liberalem Kurs wie doch gab es schon in der Alten Welt Berüh- die Gemeinde selbst.“1 In Alzey lebten da- rungspunkte zwischen den Familien Bel- mals 346 Einwohner jüdischen Glaubens; mont und Adler. ihr Anteil von 7,6% an der Gesamtbevölke- rung war damals einer der höchsten in ei- Isaak Adler, der Vater von Samuel, stamm- ner deutschen Stadt! 1854 wurde die neue te aus einer Frankfurter Gelehrtenfamilie. große Synagoge in Alzey eingeweiht, in der Er war Thoragelehrter in Worms und starb Mitte der Stadt und in unmittelbarer Nähe 1823; sein Grabstein befindet sich auf dem der evangelischen Hauptkirche. Die Syn- Heiligen Sand in Worms. Sein 1809 gebo- agoge hatte einen Chor und eine Orgel – rener Sohn Samuel war ebenfalls ab 1839 deutliche Zeichen der Reformorientierung. Prediger in Worms. Auch dessen jünge- In seiner Ansprache wertete Adler das neue rer Bruder Abraham (1811–1856) war dort Gebäude als Symbol für die Gleichberech- Rabbiner. Er wurde aber wegen seiner poli- tigung seiner Glaubensgenossen, denn die tischen Betätigung während der Revolution Juden dürften jetzt hinaustreten „an das von 1848 – er war kurzfristig auch Redak- helle, offne Tageslicht; die Mauern unsrer teur der Wormser Zeitung – verhaftet und Gotteshäuser dürfen hinausragen und sich war längere Zeit im Gefängnis. Im Main- anreihen in gerader Linie an die anders- zer Hochverratsprozess von 1850 wurde er glaubender, aber dennoch befreundeter zwar freigesprochen, durfte aber kein Rab- Religionsgenossenschaften“.2 bineramt mehr übernehmen; danach war Es war erstaunlich, dass ein so bekannter er krank und starb 1856 in der Heilanstalt und fortschrittlicher Gelehrter wie Samuel Bendorf. Adler mehr als 14 Jahre lang in Alzey blieb. Aus privaten Gründen hatte er bisher An- Dr. Samuel Adler wurde 1842 als Rabbiner gebote von anderen Gemeinden, z.B. aus nach Alzey berufen und war auch für den Lemberg in Galizien, abgelehnt. 1856 star-

100 ben sowohl sein Bruder Abraham als auch Es war die Absicht Adlers und der Gesell- seine kranke Mutter. Nun war Adler frei und schaft, „durch Predigten, vorbildliches Le- entschied sich 1857, einen Ruf an die be- ben und soziale Arbeit der Moral im prakti- rühmte Reformsynagoge Emanu-El in New schen Leben den Weg zu bahnen“3. So setz- York anzunehmen. Am 21.Februar hielt er te er sich für soziale Reformen ein und grün- seine Abschiedsrede, am Tag darauf ver- dete Arbeiterschulen, Kinderhorte und Frö- ließ er mit seiner Frau Henriette geb. Frank- belschulen und organisierte Unterstützung furter und dem fünfjährigen Sohn Felix Al- für die sozial Schwachen. Erstmals wurde zey. von der Gesellschaft ein medizinischer Be- Auch in Amerika wurde er zu einem der sucherdienst für bettlägerige, arme Kran- Hauptvertreter des Reformjudentums. Sei- ke eingerichtet. Adlers Aufmerksamkeit ne Predigten hat er auch in New York vor- gehörte den Menschen auf der Schatten- zugsweise auf Deutsch gehalten. Seine seite des wirtschaftlichen Aufschwungs umfangreiche Bibliothek – in der sich auch der Gründerjahre in Amerika, die aus dem zahlreiche Bücher aus seiner Alzeyer Zeit Blickfeld der Superreichen wie der Bel- befinden – ist heute im Hebrew Union Col- monts, Vanderbilts und Astors verschwun- lege in Cincinatti. (In Alzey wird 2009 ein den waren. In den Ethical Schools fanden Denkmal zur Erinnerung an die alte Syna- weltliche Sonntagsfeiern statt. Eine die- goge errichtet; darauf wird auch die Per- ser Schulen – die Ethical Culture Fieldstone son und das Wirken von Dr. Samuel Adler School in New York, deren Rektor Adler bis gewürdigt werden.) zu seinem Tod war – besteht heute noch. Während es seinem Vater noch um eine Öff- Felix Adler, Samuel Adlers Sohn, wurde nung und Reform des Judentums ging, hatte 1851 in Alzey geboren. Er wanderte 1857 der Sohn sich von der herkömmlichen Reli- mit seinen Eltern nach New York aus. Dort gion ganz gelöst und vertrat einen individu- studierte er an der Columbia Universität in ellen Humanismus. 1902 wurde er Profes- New York, und an den Universitäten Berlin sor für „Politische und Soziale Ethik“ an der und Heidelberg, wo er 1874 in Philosophie Columbia-Universität. In der Politik setzte promovierte. (Es ist nicht bekannt, ob er bei sich Felix Adler für die Völkerverständigung seinen Deutschlandaufenthalten auch sei- und das Selbstbestimmungsrecht der Völ- ne Geburtsstadt Alzey besuchte.) Anschlie- ker ein und kritisierte die imperialistische ßend war er Professor für hebräische und Ausrichtung der amerikanischen Außenpo- orientalische Literatur an der Cornell-Uni- litik seit der Jahrhundertwende. versität, später an der Columbia-Universi- Die Society for Ethical Culture war immer ei- tät. Er predigte auch am Tempel Emanu-El, ne Minderheitenbewegung, hatte aber vor an dem sein Vater Oberrabbiner war. Aber allem auf Intellektuelle eine starke Anzie- die Tatsache, dass er sich nicht auf Gott be- hungskraft. 1892 wurde auch in Deutsch- zog, erregte das Misstrauen der jüdischen land eine „Gesellschaft für ethische Kul- Gemeinde. tur“ gegründet, die sich bald auch auf die 1876 gründete er – mit 24 Jahren ! – die So- Schweiz und Österreich ausbreitete. So ciety for Ethical Culture (Gesellschaft für kam z.B. der junge Albert Einstein in sei- Ethische Kultur). Diese humanistische Ver- nen Züricher Jahren mit den Ideen Felix Ad- einigung ging von der Vorstellung aus, dass lers in Kontakt und wurde dadurch in sei- nicht eine Gottheit und dogmatische Glau- nen sozialen und politischen Einstellungen bensbekenntnisse, sondern allgemeine geprägt. Die Gesellschaft hatte allerdings ethische und moralische Werte die Grund- in dem nationalistisch aufgeheizten Klima lage religiösen Empfindens bilden sollten. der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg weder in Diese Einstellung sollte sich dann in kon- Europa noch in Amerika eine große Chance. kretem, humanitärem Handeln zeigen und Sie besteht aber auch heute noch in Ameri- bewähren: „Tat ist wichtiger als Glaube.“ ka. Felix Adler ist 1933 in New York gestor-

101 ben. So blieb es ihm erspart, das Absinken Literatur: seines Geburtslandes in die Barbarei und Dieter Hoffmann: Landjuden in Rheinhessen, 1992 S. 74–80; den Untergang aller ethischen Werte in der Dr. Samuel Adler (1809–1891), in: Heimatjahrbuch Verfolgung und Auslöschung der jüdischen Landkreis Alzey-Worms (= HJA) 2009, S.127f.; Menschen miterleben zu müssen. Otto Böcher: Felix Adler (1851–1933), in: 700 Jahre In gewisser Weise waren die Adlers und Stadt Alzey, 1977, S. 313f.; Gerhard Holzer: Albert Einstein und Felix Adler, in: die Belmonts Antipoden und lebten in völ- HJA 2006, S. 118–120; lig unterschiedlichen Welten. August Bel- Horace L. Fries: Felix Adler and Ethical Culture, 1981; monts Leben war von materiellen Dingen Benny Kraut: From Reform Judaism to Ethical Culture. bestimmt: die Welt des Geldes und der Ban- The Religious Evolution of Felix Adler, 1979. ken, die Mehrung seines Vermögens, der demonstrative Genuß dieses Reichtums, 1 Hoffmann1992, S. 76 die Teilnahme am sozialen Leben der Su- 2 zitiert ebd., S. 78 3 perreichen, der Einfluss auf die Politik mit Böcher, Otto: Felix Adler (1851–1933). In: 700 Jah- re Stadt Alzey, 1977, S. 313f.; hier S. 313 Hilfe dieser schier unerschöpflichen Mittel, die Absicherung seiner Familie in diesem Gesellschafts- und Wirtschaftssystem. Für Samuel Adler zählten Gelehrsamkeit und Wachsamkeit: er wollte, dass seine Religi- on und seine Glaubensgenossen sich öff- nen gegenüber einer sich verändernden Umwelt. Durch Reformen wollte er die Tra- ditionen der Thora und des Judentums be- wahren. Die Interessen des Sohnes wand- ten sich von der Religion ab und dem ein- zelnen Menschen zu – mit einer ganz kon- kreten Ausrichtung, nämlich der Verant- wortung besonders für die Armen, Schwa- chen und Benachteiligten. Er erhoffte sich Verbesserungen für die Gesellschaft durch die geistige Haltung des Einzelnen. Es war nur natürlich, dass sich die Welten der Belmonts und der Adlers kaum berühr- ten und sich die Menschen nicht begegne- ten. Obwohl sie sich räumlich und durch ih- re Herkunft so nahe waren, bewegten sie sich in völlig unterschiedlichen Lebensbe- reichen. Gemeinsam war ihnen wiederum, dass ihr Wirken und ihr Einfluss sich vor allem auf ihre neue Umgebung bezogen – und in ihrer alten Heimat kaum wahrge- nommen wurden.

102 Gerhard Holzer

August Belmont (1813 Alzey–1890 New York)

August Belmont ist der vielleicht berühm- teste Auswanderer aus Alzey, wenngleich er in seiner alten Heimat weniger bekannt ist als in Amerika. Er erwarb nach seiner Niederlassung in New York nach 1837 ein riesiges Vermögen und war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einer der ein- flussreichsten Bankiers und Politiker in den USA. August Belmont stammte aus einer jüdi- schen Familie in Alzey; deren Vorfahren kamen aus Waldböckelheim. Die „Jessels“ waren Ende des 17. Jahrhunderts nach Al- zey gekommen, wo sie als Schutzjuden und Vorsteher ihrer Gemeinde im 18. Jahr- hundert anzutreffen sind. „In Simon Isaac (gest. 1805 ) und Isaac Simon (1731–1813), Sohn und Vater, erreichte diese Familie ge- gen Ende des 18. Jahrhunderts ihren Höhe- punkt der sozialen und kulturellen Aufwärt- sentwicklung. Zum Ausgang ihres Jahrhun- derts war ihr Ansehen gewachsen, die An- passung an die Umwelt vollzogen, so dass sie am politischen Willensprozess teilnah- men und an politischen Entscheidungspro- zessen mitwirkten.“1 Simon Aron (1789–1859), der Enkel von Isaac Simon, nahm 1808 den Namen Si- mon Belmont an. Woher diese Namensge- August Belmont (1813–1890), aus: Theodor Lemke: bung rührte, ist nicht bekannt. (Interessan- Geschichte des Deutschthums von New York von 1848 bis auf die Gegenwart. New York 1891 terweise nahmen die Familien dreier Brü- der den Namen Belmont, der vierte (Simon) aber den eher seltenen Namen Schestowitz an. Dieser Name hat sich im 20. Jahrhun- dert nur in einer Familie in Wendelsheim bei Alzey – heute in Israel – erhalten.) Si- mon Belmont heiratete 1812 Friederike El- sass aus Mannheim. Am 8. Dezember 1813 kam Aron zur Welt – der aber von Anfang an August gerufen wurde. 1819 folgte ei- ne Tochter Elisabetha (Babett) und ein Jahr später ein Sohn Joseph. 1821 starb die

103 Mutter Friederike, und einen Monat nach ne, durch Simons Sohn August Belmont in ihr auch ihr jüngstes Kind. Simon Belmont Amerika. war also mit 32 Jahren Witwer mit zwei klei- Dieser trat im September 1828 durch Ver- nen Kindern. Diese Familiensituation und mittlung seiner Großmutter (ihr zwei- der Wunsch des Vaters, seinem Sohn eine ter Mann Hayum Lehman Hanau war ein gute Erziehung zukommen zu lassen, führ- Schwager von Amschel Mayer Rothschild) ten dazu, daß er August schon mit 8 Jahren mit 14 Jahren als Lehrling in das bekannte zur Großmutter Gertrude Hanau nach Frank- Frankfurter Bankhaus ein. Rothschild hat- furt gab. Dort besuchte dieser von 1822 bis te sogleich veranlasst, daß August Privat- 1828 das Philantropin, eine liberale jüdi- stunden in Englisch, Französisch und Rech- sche Schule, zu der seit 1811 auch christ- nen bekam. Dort stieg er in wenigen Jah- liche Kinder zugelassen wurden. Während ren vom einfachen Gehilfen zum Privatse- dieser Zeit kam August selten und nur für kretär und Handlungsbevollmächtigten auf kurze Zeit nach Hause. Für ihn war also das und tätigte Geschäfte in Neapel, Paris und Leben im Haus der Großmutter und mit dem Rom. Im Jahr 1837 sollte er im Auftrag sei- gutmütigen Onkel Isaac Hanau und die Zeit ner Firma über New York nach Havanna fah- im Philantropin in Frankfurt viel prägender ren. Diese Reise sollte sein Leben entschei- als das Elternhaus in Alzey. Auch war das dend verändern. Verhältnis zum Vater durch dessen Neigung zu Geiz und Rechthaberei belastet. Eigentlich sollte er in Havanna die dorti- Simon Belmont lebte Zeit seines Lebens in ge Rothschildfiliale übernehmen. Kurz vor seinem Haus in der Georgenstrasse 19, wo seiner Ankunft in New York brach in Ame- er auch geboren wurde. (Das Fachwerkhaus rika eine schwere Wirtschaftskrise aus. Er mit dem Torbogen und den den Hof umge- entschloss sich, zu bleiben und die Gunst benden Nebengebäuden ist heute noch gut der Stunde zu nutzen, indem er in Konkurs erhalten.) Hier hatte er sein Kontor und von gegangene Firmen aufkaufte. Er gründe- hier aus betrieb er seine Landwirtschaft te bald sein eigenes Unternehmen, die Au- und seine Geldgeschäfte. Nach dem Tod gust Belmont & Company, an der auch sei- des Großvaters 1813 hatte er umfangrei- ne ebenfalls in New York eingetroffenen chen Grundbesitz geerbt und ersteigert, Vettern Simon und Abraham Belmont be- war also einer der großen Gutsbesitzer in teiligt waren. August behielt aber auch die der Stadt. In seiner Wirtschaftsführung war Vertretung des Hauses Rothschild bei. In er äußerst sparsam. 1855 ließ er sein ge- kurzer Zeit erwarb er ein riesiges Vermö- samtes Vermögen schätzen: er kam auf die gen, wurde amerikanischer Staatsbürger stattliche Summe von 79 000 Gulden – fast und engagierte sich in der Politik. Die ös- die Hälfte davon in Häusern und Grundstü- terreichische Monarchie machte ihn 1844 cken bzw. Feldern angelegt. Der sicherlich zu ihrem Generalkonsul in New York. Sein religiös sehr konservativ erzogene Simon schneller Reichtum schaffte ihm aber auch Belmont hatte von seinem Großvater das Neider. So verbreiteten sich in den 1840er Amt des Gemeindevorstehers übernom- Jahren Gerüchte über seine Herkunft („ein men. Doch passte er sich im Lauf seines unehelicher Spross der Rothschilds?“) und Lebens den Veränderungen seiner Umwelt seine Religion („der Jude Schoenberg?“). auch in religiösen Dingen an. So setzte er In einem Duell als Folge eines Streites wur- sich maßgeblich für die Verpflichtung des de Belmont im Juli 1841 verwundet. Dies neuen liberalen Rabbiners von Alzey, Dr. alles mag vielleicht auch ein Grund gewe- Samuel Adler, ein. sen sein, warum Belmont Zeit seines Le- Mit Simon Belmonts Tod 1859 ging auch bens seiner deutsch-jüdischen Herkunft die Zeit zu Ende, da die Belmonts eine füh- keine Bedeutung beimaß, ja sie geradezu rende Rolle in Alzey spielten. Sie fand ihre verleugnete. Seine Heirat 1849 mit Caroli- Fortsetzung auf einer viel größeren Büh- ne, der Tochter von Commodore Matthew C.

104 Perry (der 1854 die Öffnung Japans für den Belmont von David Black den Titel „ The amerikanischen Handel erzwang) zeigt sei- King of Fifth Avenue“! August Belmont hat- nen gesellschaftlichen Aufstieg und eröff- te sich schon 1850 ein großes Haus an die- nete ihm wertvolle Verbindungen, vor allem ser Prachtstraße Manhattans gebaut. 1862 in der Politik. Bei den Präsidentschafts- kaufte er ein riesiges Gelände in Babylon wahlen unterstützte er zunächst den demo- auf Long Island und errichtete ein Herren- kratischen Kandidaten Buchanan, wechsel- haus mit zahlreichen Nebengebäuden und te dann aber ins Lager des gewählten Prä- Ställen und einer eigenen Pferderennbahn sidenten Pierce. Dieser ernannte ihn 1853 – ein ländliches Idyll, wohin die Familie zum amerikanischen Geschäftsträger, spä- sich von dem hektischen Stadtleben New ter Gesandten in Den Haag, wo er bis 1858 Yorks zurückziehen konnte. 1867 fanden mit seiner Familie – die Belmonts hatten erstmals die Belmont Stakes statt, noch inzwischen vier Kinder – lebte. Mit dem heute eines der berühmtesten Pferderen- Eintritt in die Diplomatie gab Belmont die nen in Amerika. Mitte der 1870er Jahre än- Rothschildsche Agentur auf, behielt aber derte sich jedoch das Leben der Belmontfa- seine eigene Firma bei. Während dieses milie dramatisch: nach einer langen Krank- mehrjährigen Aufenthalts in Europa kam heit starb die Tochter Jane Pauline 1875 im August Belmont nur einmal kurz nach Al- Alter von 19 Jahren. Dies war offensichtlich zey, seine Familie überhaupt nicht. Die Ent- ein schwerer Schlag für die Familie: der Va- fremdung vom Vater (der 1859 starb) und ter August zog sich aus der Politik zurück dessen Umfeld scheint doch groß gewesen und die Mutter Caroline gab ihre führen- zu sein. Verständlich, da August Belmont de Rolle im Gesellschaftsleben auf. Nach seit seinem 8. Lebensjahr nicht mehr in Al- längerer Krankheit starb August Belmont zey gelebt hatte. 1890 in New York. Er hinterließ seiner Wit- Im Präsidentschaftswahlkampf 1860 unter- we und den vier noch lebenden Kindern ein stützte Belmont den demokratischen Kan- geschätztes Vermögen zwischen 10 und 50 didaten, aber der ziemlich unbekannte Re- Millionen Dollar. publikaner Abraham Lincoln gewann. Dann kam es zum Bürgerkrieg. Belmont war ein Sein Sohn August Belmont II (1851–1924) entschiedener Gegner der Sklaverei, vor al- folgte dem Vater als Bankier nach. Er war lem aber ein glühender Verfechter der Ein- wesentlich am Bau der Untergrundbahn in heit der Nation. Deshalb unterstützte er die New York beteiligt. Wie sein Vater liebte er Regierung bei der Finanzierung des Krieges Pferdezucht und Pferderennen und finan- gegen die abgefallenen Südstaaten und zierte den Bau der 1905 eröffneten Pferde- machte seinen Einfluss geltend, um Eng- rennbahn Belmont Park, auf der heute noch land und Frankreich von einem Bündnis mit die Belmont Stakes ausgetragen werden. ihnen abzuhalten. (1850–1947) war Rechts- Belmonts Reichtum und sein politischer anwalt, Politiker und Diplomat. 1888 wur- Einfluss wuchsen in diesen Jahren immer de er Botschafter in Spanien – ein Posten, mehr. Er und seine Familie gehörten nun de- den auch sein Vater angestrebt, aber nicht finitv zur New Yorker Geld- und Wirtschaft- bekommen hatte. Perry starb 1947 im Alter saristokratie des „Gilded Age“. Dies zeigte von 97 Jahren, ohne Nachkommen. Die Hei- sich auch darin, daß sie sich immer größere rat von Frederika – 1854 in Den Haag gebo- und luxuriösere Häuser und Paläste in der ren – 1877 in Newport war ein großes ge- Nähe des Central Park und in dem vorneh- sellschaftliches Ereignis, an dem die New men Küstenort Newport („America‘s Soci- Yorker High Society und viele europäische ety Capital“) errichteten. (Dort baute Au- Diplomaten teilnahmen. Oliver Belmont gusts Sohn Oliver ab 1891 Belcourt Castle, (1858–1908) genoss als junger Mensch das bis 1940 in Familienbesitz blieb.) Nicht das Leben des Sprösslings einer reichen Fa- umsonst trägt eine Biographie von August milie in vollen Zügen. Seine erste Ehe, der

105 sich die Eltern zunächst widersetzt hatten, be scheint völlig überlagert von den Eigen- scheiterte schon nach kurzer Zeit. Er ver- schaften und Gewohnheiten der Reichen kehrte viel in den Kreisen der Vanderbilts und Erfolgreichen der neuen Umgebung in und heiratete 1896 – kurz nach ihrer Schei- Amerika. dung – Alva Erskine Smith Vanderbilt. Die Feierlichkeiten waren wiederum ein großes Gesellschaftsereignis, von dem sich die an- deren Belmonts jedoch fernhielten. Danach Literatur: engagierten sich sowohl Alva als auch Oli- Irving Katz: August Belmont, A Political Biography, ver auf politischem Gebiet. Alva unterstütz- 1968; te besonders die Frauenwahlrechtsbewe- David Black: The King of Fifth Avenue. The Fortunes of gung; Oliver war von 1901–1903 Kongress- August Belmont, 1980; Eduard Berlet: Jüdische Gemeinde zu Alzey, in: Alzey- abgeordneter und Bürgermeisterkandidat er Geschichtsblätter (= AG) 8, 1971, S. 19–34 für New York für die Demokratische Partei. Rachel Liebschütz: Simon Belmont (1789–1859), in Er starb 1908 - und ist das einzige der Kin- AG 9, 1972, S. 52–73; der von August und Caroline Belmont, das 1 Berlet, Eduard: Jüdische Gemeinde zu Alzey. In: nicht in Newport begraben ist. Alzeyer Geschichtsblätter (= AG) 8, 1971, S. 19– Raymond, das jüngste Kind (1863–1887), 34; hier S. 28 liebte – wie alle männlichen Sprösslinge der Belmontfamilie – die Jagd, Pferde, und ein aufwendiges Leben auf Kosten ihres rei- chen Vaters. Er erschoss sich 1887 – wobei offenbleibt, ob es Unfall, Selbstmord oder eine Herausforderung des Schicksals war. Nach diesem Unglück erkrankte der Vater August Belmont und überließ seinem Sohn August jr. das Geschäftliche. In der Politik folgte ihm sein ältester Sohn Perry nach. August Belmont starb 1890, im Alter von 77 Jahren. Bezeichnenderweise findet die Gestalt Au- gust Belmonts auch ihren Niederschlag in der Literatur. In dem Roman „Amerikani- sche Romanze“ („The Age of Innocence“, 1920) von Edith Wharton, einer genauen Schilderung der New Yorker Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ist er das Vorbild für den Protagonisten Julius Beaufort.

In seiner wirtschaftlichen Tüchtigkeit, sei- nem Gewinnstreben und seinem luxuriösen Lebensstil unterschied sich August Bel- mont in nichts von den anderen Bankiers und Wirtschaftsmagnaten der amerikani- schen Gründerzeit („Gilded Age“). Nichts ist bei ihm mehr zu merken von der Haltung eines sparsamen und bescheidenen Haus- vaters von der Art des Großvaters Simon Belmont. Auch das jüdisch-deutsche Er-

106 Roland Paul

Carl David Weber (1814–1881), ein bedeutender Pfälzer im amerikanischen Westen

Unter den Männern, die im 19. Jahrhun- gust Wirth, keinen Hehl. dert Kalifornien prägten, an seiner Unab- hängigkeit von Mexiko teil hatten und eine 1835 wanderte schließlich auch Theodor der Großstädte des Goldstaates gründeten, Engelmanns Patenonkel, der Zweibrücker war der Pfälzer Carl David Weber. Appellationsgerichtsrat Theodor Erasmus Hilgard (1790–1872) mit seiner Familie Als ältester Sohn des Pfarrers von Stein- aus politischen Gründen nach Illinois aus. wenden, Carl Gottfried Weber und seiner Auch seine Briefe wurden von Theodor En- Frau Henriette geb. Geul wurde er am 14. gelmann und Carl David Weber mit Begeis- Februar 1814 in Steinwenden geboren. Auf- terung gelesen. Es dauerte nicht lange, da gewachsen ist er in Homburg, da sein Vater packte das „Auswanderungsfieber“ auch 1815 als Inspektor (Dekan) dorthin berufen die beiden jungen Männer. wurde. Carl David Weber besuchte die pro- testantische Volksschule in Homburg, dann Mit Reisepässen versehen, verabschiede- das Zweibrücker Gymnasium. Der Familien- ten sie sich im September 1836 von ihren tradition folgend, sollte Carl David Theolo- Angehörigen und zogen über Forbach, Pa- gie studieren, doch entschied er sich für ei- ris und Rouen nach Le Havre. Ihr Schiff ver- ne kaufmännische Ausbildung. ließ den französischen Hafen am 2. Okto- ber 1836. Im Winter desselben Jahres er- Bei seiner Tante in Steinwenden, die mit reichten sie New Orleans. Während Engel- dem Nachfolger seines Vaters, dem Pfar- mann sogleich seine Reise nach Bellevil- rer Carl Martin Engelmann verheiratet war, le fortsetzte, blieb Weber in New Orleans. hatte Carl David Weber bereits 1831 von Über seinen Aufenthalt in dieser Stadt und den Auswanderungsplänen des Imsbacher seine Tätigkeit ist wenig bekannt. Zeitwei- Forstmeisters Friedrich Theodor Engel- se hielt er sich wohl auch in Texas auf. mann erfahren, der mit seiner ganzen Fa- milie in die USA überzusiedeln gedachte. Erst im Frühjahr 1841 machte er sich auf Carl David und sein Cousin Theodor Engel- den Weg nach Belleville. In St. Louis erfuhr mann, der Sohn des Pfarrers, unterhielten er von einer Gesellschaft, die gerade dabei sich oft über Amerika und verschlangen re- war, auf dem Landweg die Reise nach Ka- gelrecht die seit 1832 eintreffenden Briefe lifornien anzutreten. Dieser Gruppe („Bid- der nach Belleville im US-Bundesstaat Illi- well-Bartleson-Party“) schloss sich Weber nois ausgewanderten Verwandten. Im Jahr an. Während der anstrengenden Reise, die des Hambacher Festes verspürten beide durch die unwegsamen Gebiete der Sierra zudem den reaktionären Druck der bayeri- Nevada führte, starben einige der anfangs schen Regierung. Dekan Weber war den li- etwa 50 Personen zählenden Gruppe infol- beralen Ideen der damaligen Zeit gegenü- ge von Erschöpfungen, andere verloren ih- ber sehr aufgeschlossen und machte aus re Nerven und gaben auf, so dass die Ge- seiner Sympathie für die Wortführer die- sellschaft schließlich nur noch aus 31 Män- ser Bewegung in Homburg, den vormaligen nern, einer Frau und einem Kind bestand. Landcommissär Philipp Jakob Siebenpfeif- Fast dem Hungertod nahe, erreichten sie fer und den Journalisten Johann Georg Au- nach halbjähriger Reise Ende Oktober 1841

107 das damals noch mexikanische Kalifornien. stand gekommen sei und eine Stadt gegrün- Hier stand Weber zunächst einige Zeit als det habe, machten sich zahlreiche Auswan- Aufseher im Dienste des legendären „Kai- derer nach Stockton auf, zum Teil mit Emp- sers von Kalifornien“ Johann August Sutter fehlungsschreiben versehen, die ihnen We- in Sacramento. bers Vater, damals Pfarrer in Schwegen- heim, ausgestellt hatte. Einigen überließ Im Jahre 1842 eröffnete Weber zusammen Weber Grundstücke und half ihnen bei der mit dem Engländer William Gulnac in San Etablierung verschiedener Unternehmen. Jose ein Kaufhaus und trieb Handel mit In- dianern und Mexikanern. Da Weber als Die heute ca. 250.000 Einwohner zählen- Ausländer kein Land erwerben konnte, be- de Stadt Stockton ist die Metropole und der auftragte er Gulnac, der die mexikanische Hauptumschlagplatz des San-Joaquin-Ta- Staatsbürgerschaft besaß, bei dem Gou- les. Sie besitzt Kaliforniens einzigen inlän- verneur die Ausstellung eines Landgrants dischen Tiefwasserhafen, der durch einen zu erbitten. 78 Meilen langen Kanal mit der San-Fran- cisco-Bucht verbunden ist. Auch in kultu- Am 13. Januar 1844 erhielt Gulnac ein gro- reller Hinsicht hat sich die Stadt einen Na- ßes Stück Land (ca. 20.000 Hektar) am öst- men gemacht. Neben der University of the lichen Ufer des San Joaquin-Flusses, das er Pacific und dem Stockton College beher- bald an Weber verkaufte. Der protestanti- bergt Stockton ein Theater, ein bekanntes sche Pfarrersohn war inzwischen zum ka- Symphonie-Orchester sowie mehrere Mu- tholischen Glauben konvertiert, hatte sei- seen und Kunstgalerien. An den am 4. Mai nen zweiten Vornamen David durch den 1881 in Stockton verstorbenen Auswan- Namen Maria ersetzt und heiratete Helen derer erinnern in Stockton noch heute die Murphy, die Tochter einer aus Irland in den „Weber-Avenue“, eine der Hauptverkehrs- amerikanischen Westen eingewanderten straßen der Stadt, ein großes Porträt in der einflussreichen katholischen Familie. City Hall, das Museum im nahe gelegenen Lodi und ein neues Stadtviertel: „Webers- Im Jahre 1847 erbaute Weber hier die ers- town“. ten Wohngebäude, Ställe und Rodeoplätze, in der Hoffnung, Siedler zu gewinnen. Im amerikanisch-mexikanischen Krieg schlug er sich auf die Seite der USA. Als „Captain“ (Hauptmann) führte er ein Regiment.

Nachdem Kalifornien im Jahr 1848 von Me- xiko an die Vereinigten Staaten abgetre- ten worden war und mit dem Einsetzen des „Goldrausches“ – nach der Entdeckung von Gold in der Nähe von Sutters Mühle – lie- ßen die Einwanderer und Ansiedler nicht mehr lange auf sich warten. Der kleine Ort, zunächst Tuleburg genannt, später nach dem damals populären Seehelden und Po- litiker Robert Field Stockton umbenannt – entwickelte sich bald zu einer bedeutenden Stadt.

Als in der Pfalz bekannt wurde, dass ein Landsmann in Kalifornien zu großem Wohl-

108 Michael Martin

Konrad Krez (1828 Landau–1897 Milwaukee)

Konrad Krez, der im Jahre 1850 in die USA der Stelle für die Interessen der Deutscha- auswanderte, ist der Prototyp des politi- merikaner ein. Seine Heimat hat er nie ver- schen Emigranten. Er hatte sich wie so vie- gessen und besang sie in zahlreichen Ge- le andere in der letztendlich gescheiterten dichten. Einige Verszeilen aus einem be- Revolution 1848/49 engagiert. Seine Bio- kanntesten Gedicht „An mein Vaterland“ grafie und die seiner Eltern spiegeln so vie- seien hier zitiert, weil sie am besten seine les an pfälzischer Geschichte des 19. Jahr- Anhänglichkeit und zugleich Verletzlichkeit hunderts wider, dass es sich lohnt, sie we- zeigen: „Schutzlos hast Du mich hinausge- nigstens in Kürze darzustellen. trieben, weil ich in meiner Jugend nicht ver- stand, dich weniger und mehr mich selbst Der Vater zog als Freiwilliger in den Unab- zu lieben – und dennoch lieb’ ich Dich mein hängigkeitskrieg der Griechen gegen die Vaterland …“. Türken und starb 1833 in Athen an der Brustwassersucht. Die Mutter schaffte es, ihrem Sohn unter vielen persönlichen Ent- behrungen eine gute Schulausbildung an- Literatur: Lebensbilder Konrad Krez und Thomas Nast (S. 116) gedeihen zu lassen. Schon früh zeigte sich aus Michael Martin: Kleine Geschichte der Stadt Lan- im Charakter des jungen Krez eine gewisse dau, Karlsruhe 2006. S. 106 – 109. Unbändigkeit, vom bischöflichen Konvikt, wo er studierte, wurde er verwiesen, das Ju- rastudium brach er ab und engagierte sich schließlich in den aktuellen politischen Be- wegungen. Ernst wurde es mit diesem En- gagement, als im Frühjahr 1848 die Revolu- tion im Südwesten begann. Krez trat in die „Studenten-Legion der Rheinpfalz“ ein und nahm auch an den Kämpfen teil. Er konnte sich nach dem Zusammenbruch der Erhe- bung nur knapp vor der Verhaftung retten und floh über Straßburg in die die Schweiz. Sogar hier wurde nach ihm als dem „muth- maßlichen Attentäter auf den bayerischen König“ geahndet – allerdings ohne Erfolg.

1850 flieht er nach Nordamerika, nimmt sein Studium wieder auf, lässt sich dann als Rechtsanwalt nieder und macht erfolg- reich Karriere. Als der Bürgerkrieg beginnt, kämpft Krez auf Seiten der Union und wird aufgrund seiner militärischen Fähigkeiten von Präsident Lincoln zum Brigadegeneral befördert. Nach dem Krieg tritt er an führen-

109 Roland Paul

Julius Dauber (1831–1879), ein Rückwanderer

Manch einer, der in den USA das erwartete gewählt wurde. Er machte Notizen von Brie- Kanaan nicht gefunden hatte, kehrte wie- fen, die er nach Hause schickte und von der in die alte Heimat zurück. Bitter war empfangenen, doch oft klagte er: „Wieder dies vor allem für jene, die so hoffnungs- keine Briefe erhalten...“ voll von zu Hause fortgezogen waren und Der sensible Auswanderer aus der Pfalz die sich nun schämten, ohne das „große fühlte sich in dem rauen „Wilden Westen“ Geld“ nach Hause zu kommen. Hinzu kam nicht wohl. Angstträume plagten ihn. Am bei vielen Rückwanderern ein nicht ver- 5. April 1856 schrieb er: „O Schicksal, o windbares Heimweh. Jammer!! Wann wird mein Wunsch erfüllt? Ein solcher Rückwanderer war der pfälzi- Ich fühle mich unglücklich. Was ist Schuld? sche Pfarrerssohn Julius Dauber. Der in Ca. 200 Dollar sind mir gut und ich kann sie Heimkirchen bei Kaiserslautern geborene nicht bekommen. Sollte dies wirklich ein- Dauber, der den Kaufmannsberuf in Heidel- treffen, was dann? Hat das Missgeschick berg erlernt hatte, wanderte 1853 mit Carl kein Erbarmen für mich. Ich glaube nicht! Adolph Weber, einem Freund, über Rotter- Hoffnung allein haltet mich aufrecht!“ Im dam, Liverpool, New York, Panama und San September 1856 geriet sein Arbeitgeber, Francisco nach Stockton in Kalifornien aus, ein Holzhändler, in Konkurs: „Mein Salair in die Stadt, die wenige Jahre zuvor von C. ist mir auch noch nicht ausgezahlt worden. D. Weber, dem Bruder seines Reisegefähr- Ich befinde mich nun wieder in Verlegen- ten (vgl. Lebensbild Seite 107) gegründet heit eine neue Beschäftigung zu erhalten. In worden war. Dauber, der wohl etwas Geld Stockton sind die Aussichten schlecht. Die von zu Hause mitgebracht hatte, eröffne- einzige Aussicht ist nach den Minen zu ge- te in Stockton einen Zigarrenladen, der je- hen.“ Anfang Oktober 1856 eröffnete Dau- doch bald einem Feuer zum Opfer fiel. Zu ber mit einem Landmann einen Bier-Sa- Beginn des Jahres 1856 vermerkte er in sei- loon in Knights Ferry in den Minen. „Wir le- nem Tagebuch: „Das Jahr 1855 ist in Ver- ben hier sehr einfach. Kochen thun wir uns gangenheit gesunken, nur die Erinnerung selbst. Supp, Pfannenkuchen und Beefsteak bleibt uns. Das ergangene Jahr war ein Jahr sind unsere Hauptspeisen...“ Doch auch in der Prüfung und steht fest geschrieben in den Minen hat Dauber keinen Erfolg. Am meinem Gedächtnis, so lange ich lebe. Ich Jahresbeginn 1857 bemerkt er: „Das ver- hoffe das neue Jahr wird glücklicher für mich gangene Jahr war leider kein glückliches zu verfließen...“ In seinem Tagebuch notier- nennen. Angst, Sorge, Arbeit waren auch in te er Einzelheiten aus der amerikanischen diesem Jahr meine Plage. Jedoch in Bezug Politik, vom Wetter, von Begegnungen mit auf viele tausende Mitmenschen hier, war Landsleuten, von Goldfunden, von Mord mein Los noch ein glückliches zu nennen. und Raub, von Indianerkämpfen („Krieg, Wieviele Menschen befinden sich hier, ar- Friede, Mörder, Räuber, Wasser und Feuer beiten hart und haben doch nichts? In An- sind an der Tagesordnung“). Ausführlich betracht dieses fühle ich mich trotz meiner ging er auf Veranstaltungen eines deut- Unglücke beruhigt. Was das Jahr 57 über schen Gesangvereins und des Stocktoner mich bringt will ich in Geduld abwarten. Ge- Turnvereins ein, den Dauber im Mai 1856 sundheit und heitern Sinn sind meine ers- mitbegründete und zu dessen Sekretär er ten Wünsche.“ Daubers Geschäftsparter im

110 „Lager-Bier-Saloon“ verfiel dem Alkohol. lose Auswanderer: „So leb denn wohl du Die Geschäfte gingen wieder schlecht. trauriger Ort, wo ich so viele Unannehm- Dauber entschloss sich zur Rückkehr in lichkeiten ausgestanden! Mit Freunden ver- die Pfalz, zumal seine Jugendliebe, seine lasse verlasse ich dich und mit Widerwillen Cousine im pfälzischen Odenbach, ihm ih- werde ich mich deiner erinnern. Ob die Zu- re Treue versichert hatte. Am 6. Mai 1857 kunft Rosen bringen wird, mag ich mir gar schrieb er in sein Tagebuch: „Das Leben nicht vorzumalen...“ hier in Knights Ferry ist mir ganz verleidet. Im November 1857 heiratete Julius Dauber Das Geschäft bringt’s halt so mit sich. Eine im pfälzischen Odenbach Settchen Mül- Wirthschaft hier in den Minen ist härter für ler und betrieb dort in den folgenden Jah- mich, denn Stein klopfen...“ Am 12. Mai ver- ren eine Gastwirtschaft und die Poststel- kaufte er seinen Anteil am Saloon an sei- le. Doch nach wenigen gemeinsamen Jah- nen Geschäftspartner („... eine Zentnerlast ren starb die Frau 28-jährig. Auch die drei ist von meinem Rücken gefallen“) Der Er- Söhne folgten ihr im Kindesalter. Dauber lös reichte gerade, um die Rückreise zu be- heiratete ein zweites Mal. 1879 starb Juli- streiten. Am 20. Mai 1857 sagte er Kalifor- us Dauber im Alter von 48 Jahren, eine jun- nien endgültig Lebewohl. Am Schluss sei- ge Witwe und vier minderjährige Kinder zu- ner Aufzeichnungen bemerkte der glück- rücklassend.

Tage-Buch des Julius Dauber für das Jahr 1856/57, Slg. R. Paul

111 Helmut Schmahl

Sebastian Walter (1848–1922): Pionier des Emaillierhandwerks in Amerika und Wohltäter seiner Heimatgemeinde

Metallfigur eines Kriegers geziert ist. Es wäre jedoch falsch, hieraus zu schließen, dass die Spendenbereitschaft der Bewoh- ner Ober-Flörsheimers ausgeprägter gewe- sen sei als anderswo im wilhelminischen Deutschland. Eine am Sockel angebrachte Tafel verrät, wer den Bau des Ober-Flörs- heimer Denkmals „aus Liebe und Dankbar- keit“ ermöglichte: Sebastian Walter aus Milwaukee/Wisconsin. Der Sponsor war ein ehemaliger Ober-Flörsheimer, der als Fabri- kant in den Vereinigten Staaten zu großem Wohlstand gelangt war. Er verkörperte so- mit für die Bewohner seiner Heimatgemein- de das landläufige Bild des ‚reichen On- kels aus Amerika’, die unter den vier Millio- nen deutschen USA-Auswanderern des 19. Jahrhunderts dünn gesät waren. Sebastian Walter wurde am 29. März 1848 in der 1200 Einwohner zählenden Gemein- de Ober-Flörsheim als Sohn des Taglöhners Peter Sebastian Walter und dessen Ehe- frau Eva Katharina Ebling geboren. Nach- Sebastian Walter um 1900, Heimatmuseum Ober- dem er eine mehrjährige Lehre als Speng- Flörsheim ler (Klempner) in Alzey absolviert hatte, wanderte der 17jährige 1866 zu Verwand- ten nach Milwaukee aus. Sein Vater be- Zu den Wahrzeichen der südlich von Al- gründete das Vorhaben seines Sohnes da- zey gelegenen Gemeinde Ober-Flörsheim mit, dass „derselbe als Spengler sich alda gehört das Denkmal für die Veteranen naturalisiren wolle und für sein Leben eine des Deutsch-Französischen Krieges von bessere Existenz finden wird als in Deutsch- 1870/71 vor dem Rathaus. Aufgrund sei- land“. Sebastian reiste auf dem Schiff At- ner exponierten Lage vor dem Rathaus an lantic, das am 9. April 1866 von Bremer- der viel befahrenen Bundesstraße 271 hal- haven kommend den Hafen von New York ten immer wieder Durchreisende an und le- erreichte. Nach seiner Weiterreise in den sen die Inschriften. Auch im deutschen und Westen arbeitete er zunächst in einer Ei- französischen Fernsehen war das Denkmal senwarenhandlung und wohnte bei seiner schon mehrmals zu sehen. Tante. 1874 heiratete er Henrietta Harzbe- In den Dörfern Rheinhessen finden sich nur cker, die Tochter eines aus Sachsen einge- wenige Kriegerdenkmäler, die so aufwän- wanderten Maurers. dig gestaltet sind wie das Ober-Flörsheimer In der von deutschen Einwanderern gepräg- Monument, das von der überlebensgroßen ten jungen Stadt entwickelte sich seit dem

112 Ende des Amerikanischen Bürgerkrieges, len. 1895 betrug der Jahresumsatz eine hal- also um die Zeit der Ankunft Sebastian Wal- be Million und das Geschäftskapital eine ters, aus bescheidenen Anfängen heraus Million Dollar. Zwischenzeitlich hatte man eine bedeutende eisenverarbeitende In- sich auf die Herstellung von Haushaltswa- dustrie. Nachdem Walter in zwei Spengler- ren spezialisiert. Werkstoffe waren neben betrieben gearbeitet hatte, traf er die Brü- Eisenblech nun auch Kupfer, Messing und der Ferdinand A. W. und William Kieckhefer, Stahl. Absatzgebiet für die emaillierten die Besitzer einer Eisenwarenhandlung wa- Produkte wie etwa Brotdosen, Dampfkes- ren und 1880 die Kieckhefer Brothers Com- sel, Kochgeschirr, Tee- und Kaffeekannen, pany gegründet hatten. Die Firma stellte Schöpfkellen und Messbecher war vor al- Blechgeschirr und Eisenblech her. Walter lem der amerikanische Westen, dessen Be- war zunächst Vorarbeiter und bald Teilha- völkerung überdurchschnittlich gewachsen ber. Man begann die Produktion auf drei war. Vertretungen hatte die Firma in den Stockwerken eines angemieteten Hauses. pazifischen Küstenstädten San Francisco Die Brüder Kieckhefer und Walter investier- und Portland sowie in Denver. Auch im 100 ten ihren anfänglich bescheidenen Gewinn Kilometer südlich von Milwaukee gelege- in Pressen und Stanzmaschinen, welche nen Chicago unterhielt man ein sechsstö- die Produkte teilweise so formten, dass die ckiges Auslieferungslager für den dortigen rund vierzig Beschäftigten sie nur noch von Handel. Hand zusammenlöten mussten. Zwei Jah- 1899 ging die Kieckhefer Brothers Compa- re später erbauten die Firmeninhaber ein ny in der National Enameling & Stamping eigenes dreistöckiges Fabrikgebäude, das Company auf, ein Konzern, der damals der kurz danach um einen vierstöckigen Anbau größte eisenblechverarbeitende Betrieb erweitert wurde. 1886 beschäftigte die Fir- der Welt war. Sebastian Walter, dessen Auf- ma ungefähr 200 Arbeiter und hatte Aktien gabe als superintendent officer die Aufsicht im Wert von etwa 100.000 Dollar ausgege- über die Produktion gewesen war, verkauf- ben. Damals umfasste das Angebot neben te nun für eine Million Dollar seinen An- emailliertem Blechgeschirr auch Bratpfan- teil an der Firma und zog sich aus dem Ge- nen und Abflussrohre. Der Jahresumsatz schäftsleben zurück. Er war jetzt nur noch betrug über 300.000 Dollar, der Absatz- stiller Teilhaber der Schoen & Walter Trunk markt erstreckte sich damals bereits über Company. Einen Teil seines Vermögens leg- fast alle Staaten Nordamerikas. te er in Grundstücken in der Stadt an, die Die Brüder Kieckhofer und Sebastian Wal- 1890 bereits mehr als 200.000 Einwohner ter führten einige Neuerungen in der Her- zählte. Das Interesse des kinderlosen Man- stellung von emailliertem Geschirr ein, die nes – fünf Kinder waren tot zur Welt ge- sich bald landesweit durchsetzten. 1890 kommen oder starben früh – galt von nun ließ Walter sich eine Erfindung, die jacketed an dem öffentlichen Leben und seiner alten can, patentieren. Es handelte sich dabei um Heimat. eine aus Blech, Holz und mehreren Riemen Sebastian Walters ausgeprägter Bürger- gefertigte Schutzhülle für Ölkannen. sinn, sein Ansehen und sein Einfluss als Zu dieser Zeit erwies sich die Produktions- erfolgreicher Geschäftsmann hatten zur stätte der expandierenden Firma wieder als Folge, dass er einige öffentliche Ämter in zu klein, und man errichtete einen Gebäu- Milwaukee bekleidete. Er gehörte der Par- dekomplex mit fast 40.000 Quadratmetern tei der Republikaner an und war zeitweise Arbeitsfläche, dessen Front sich über 180 als deren Kandidat für das Amt des Bür- Meter an der St. Paul Avenue hinzog. 950 germeisters im Gespräch. 1892 war Walter Menschen fanden jetzt Arbeit. Eine Brücke Mitglied der Schulbehörde, 1902 wurde er über die Schienen einer Eisenbahnlinie hin- Stadtrat (alderman) des twenty third ward, weg verband die Emaillier- und Galvanisie- eines Stadtbezirks im Süden Milwaukees. rungsabteilung mit den restlichen Werkhal- Diese Funktion hatte er zehn Jahre inne,

113 Sebastian Walter (erste Reihe, sechster von links) mit Verwandten und Alterskameraden bei der Einweihung des von ihm gestifteten Kriegerdenkmals in seinem Geburtsort Ober-Flörsheim, 30. Juni 1901, Heimatmuseum Ober-Flörsheim zeitweise gehörte er zur Spitze der repub- Der größte Teil, bis zu 100 Mark jährlich, likanischen Minderheit im Stadtrat. Dane- war der Krankenschwesterstation des Dor- ben betätigte er sich in mehreren karitati- fes zugedacht. Bis zu 70 Mark sollten für ven Organisationen. die Unterstützung hilfsbedürftiger Kinder Sebastian Walter war einer der wenigen Ob- der Kleinkinderschule verwendet werden, er-Flörsheimer Auswanderer, die den Kon- bis zu 20 Mark waren für die Anschaffung takt zur alten Heimat nicht abreißen ließen. von Schulbüchern armer Kinder bestimmt. Er und seine Geschwister unterstützten fi- Weitere 30 Mark sollten für die Verteilung nanziell die Eltern, und er besuchte sechs- von Brezeln für die Kinder am Geburtstag mal seinen Geburtsort. Bei seinen Aufent- des Stifters dienen. Bis zu 25 Mark im Jahr halten erwies er sich als großer Gönner waren für die Unterhaltung und Reinigung seiner Heimatgemeinde. Am 30. Juni 1901 des Kriegerdenkmals und der Anlage vor- enthüllte er vor dem Rathaus das von ihm gesehen und weitere 20 Mark zur Pflege der gestiftete Denkmal für die Teilnehmer des Gräber von Walters Eltern auf dem Friedhof. Deutsch-Französischen Krieges, neun Jah- Mit dem Rest der Zinsen sollten hilfsbe- re später rief er eine soziale Stiftung ins dürftige Bewohner des Dorfes unterstützt Leben. Unter dem Namen Sebastian-Wal- und ein Reservefonds gebildet werden. ter-Schenkung vermachte der Fabrikant der Bei seinem letzten Besuch in seiner alten Gemeinde Ober-Flörsheim ein Kapital von Heimat wurde Sebastian Walter vom Aus- 10.000 Mark, dessen Zinsen vom Ortsvor- bruch des Ersten Weltkriegs überrascht. stand jährlich aufgeteilt werden sollten. Nach seiner Rückkehr gab er der deutsch-

114 amerikanischen Zeitung Germania Herold wert war insbesondere die Charakterisie- unter dem Titel „Deutschland wird Sie- rung der sozialistischen Zeitung Milwaukee ger bleiben. Das ist Sebastian Walters fes- Leader, es sei eine der liebsten Beschäfti- te Ansicht“ ein Interview. Wie die große gungen Walters gewesen, von Armut und Mehrzahl der Deutschamerikaner Milwau- Not betroffenen Menschen zu helfen. kees stand er beim Kriegsausbruch hin- Am 26. August 1922 wurde der Industrielle, ter Deutschland und kritisierte die ameri- der als unbemittelter Spengler nach Ame- kanische Presse wegen der ihrer Meinung rika gekommen war, auf dem Forest-Home- nach einseitigen, pro-britischen Bericht- Friedhof begraben. Seine Frau Henrietta erstattung. Der Kriegseintritt der USA am überlebte ihn um zwanzig Jahre und starb 6. April 1917 war ein traumatisches Ereig- am 10. Oktober 1942. Sie wurde an der Sei- nis für die deutschstämmige Mehrheit Mil- te ihres Mannes beerdigt. Walters 1892 er- waukees. Das Parlament von Wisconsin bautes Wohnhaus steht nicht mehr, das sprach sich noch eine Woche später gegen Grab der Eheleute mit dem vier Meter ho- den Krieg mit Deutschland aus, aber beim hen Denkmal ist noch vorhanden. Walters Ausbruch offener antideutscher Ressenti- Ober-Flörsheimer Stiftung wurde durch die ments zogen die Deutschamerikaner des Inflation nach dem Ersten Weltkrieg weit- Staates es vor, ihre Loyalität zu den Verei- gehend wertlos. Dennoch ist der erfolg- nigten Staaten zu bekunden. Auch Sebasti- reiche Auswanderer und Ehrenbürger der an Walter passte sich der neuen Lage an. Er Gemeinde bis heute in der lokalen Erinne- stiftete der Stadt einen Fahnenmast für den rungskultur präsent. Der Platz vor dem Rat- Mitchell Park. Dieser kostete die stattliche haus wurde noch vor dem Ersten Weltkrieg Summe von 7000 Dollar. nach ihm benannt. Das von ihm gestiftete Das deutsche Kulturleben Milwaukees kam Denkmal steht heute nicht mehr für einen zum Erliegen. Der Deutsche Club der Stadt lange vergangenen und in seinen Langzeit- wurde in Wisconsin Club umbenannt, das folgen fatalen „glorreichen Feldzug“, son- Pabst Theater setzte alle deutschen Büh- dern zum Andenken daran, dass einst hun- nenwerke aus. Der Deutschunterricht in den derte von unbemittelten Dorfbewohnern in Volksschulen wurde stark eingeschränkt die Neue Welt aufbrachen und zumindest und im Juni 1919 eingestellt. Am Ende des einer von ihnen es zu beträchtlichem Wohl- Krieges lernten nur noch 400 Schüler in der stand brachten. über 400.000 Einwohner zählenden Stadt die Sprache ihrer Vorfahren. Nachdem seit der Jahrhundertwende die deutsche Ein- wanderung weitgehend versiegt war, hatte Literatur: sich die Zahl der am Deutschunterricht teil- Schmahl, Helmut: „... denn in Deutschland ist ja kein nehmenden Kinder landesweit verringert, Glück mehr zu hoffen...“ Zur Lebensgeschichte der Fa- ebenso sanken die Auflagen der deutsch- milie Walter in Ober-Flörsheim und Milwaukee, USA. sprachigen Zeitungen. Der Erste Weltkrieg In: Alzeyer Geschichtsblätter 26 (1992), S. 36–64 Ders:. Das Ober-Flörsheimer Kriegerdenkmal und war somit für die deutsche Bevölkerung sein deutschamerikanischer Stifter Sebastian Wal- kein abrupter Bruch mit der Vergangenheit, ter. Kirchheimbolanden 1901 (Ober-Flörsheim einst sondern die starke Beschleunigung eines und jetzt, 1) (dort weitere Hinweise zu deutschen und Verfallsprozesses, der schon vor längerer vor allem amerikanischen Quellen und Veröffentli- chungen) Zeit begonnen hatte. Sebastian Walter starb am Abend des 23. August 1922 in seinem Haus in der National Avenue im Alter von vierundsiebzig Jahren an einem Schlaganfall. Alle Tageszeitungen Milwaukees widmeten ihm ausführliche Nachrufe auf den Titelseiten. Bemerkens-

115 Michael Martin

Thomas Nast (1840–1903)

Ein dramatisches Schicksal hatte der wohl er mit seinen Karikaturen den Zenith seines ohne Zweifel bedeutendste Landauer Emig- Ruhmes, doch bald bröckelt seine Popula- rant, Thomas Nast. rität. In der harmoniesuchenden Konsoli- Zur Welt kam Thomas Nast am 26. Septem- dierungsphase nach dem Krieg sind seine ber 1840 in der Roten Kaserne in Landau bissigen zeichnerischen Kommentare nicht als Sohn eines bayerischen Militärmusi- mehr gefragt, mit neuen Drucktechniken kers und seiner aus Offenbach stammen- kann und will er sich nicht mehr anfreunden den Ehefrau. Sechs Jahre ist er, als sich die und zu allem Unglück verliert er in Spekula- Mutter mit ihm und seinen Geschwistern tionsgeschäften sein gesamtes Vermögen. nach Amerika aufmacht. Gleich in New York Seine später erschienen Zeichnungen, es lässt sich seine Familie nieder, und hier sind nur noch wenige, reduzieren sich mehr wird bald auch das besondere Talent des und mehr auf Weihnachtsszenen mit dem Jungen entdeckt. Es ist der Anfang einer er- unvermeidlichen Santa Claus im Mittel- staunlichen Karriere: Thomas Nast aus Lan- punkt, eine Gestalt, die fast schon zu Nasts dau sollte zum bedeutendsten amerikani- Alter Ego geworden ist. Als lange nach dem schen Karikaturisten des 19. Jahrhunderts Tod des Künstlers, 1931 Coca Cola die Figur werden, ja zum Begründer der amerikani- für seine Weihnachtswerbung vereinnahm- schen Karikatur überhaupt. Seine Kunst, te, ohne jemals Nast als Autor zu nennen, sein Witz beeinflusste die Wahl von sechs stieg der pfälzische Weißbart im Pelzrock Präsidenten – und lebt in vielen amerikani- endgültig zu Amerikas Übergroßvater auf. schen Symbolen bis heute fort. Denn er war Das Geld von Coca Cola hätte Nast damals es, der das Signum amerikanischer Wirt- gut gebrauchen können. Er geriet an den schaftweltmacht, das Dollar-Zeichen ent- Rand des Ruins. Vielleicht um sich in Erin- worfen hat, der jenen Elefanten und jenen nerung zu rufen, schenkt er 1901 Präsident Esel erfand, der heute für die Republikaner Theodore Roosevelt ein Ölgemälde für des- und für die Demokraten steht, und der, vor sen Kinder, Roosevelt bietet ihm die Stelle allem, Amerikas Kindern den Santa Claus, eines amerikanischen Konsuls in Quaiaquil, den Weihnachtsmann, gezeichnet hat. Ecuador, an. Notgedrungen nimmt Nast an, Doch nicht als fröhlichen Alten, als pfälzi- freilich wäre er lieber nach Deutschland ge- schen Belzenickel, ein wenig augenzwin- gangen. kernd, in der Hand die Pfeife schwingend, Gesundheitlich angeschlagen, enttäuscht unterm Arm die Gaben für die Kleinen – so von der politischen Entwicklung in Ameri- wie er ihn später noch oft dargestellt hat, ka selbst, das über seine wirtschaftlichen sondern als Tröster in der Not, zeichnete Interessen seinen demokratischen Geist zu er ihn in seinen ersten Fassungen während vergessen scheint, erträgt er die miserab- des amerikanischen Bürgerkriegs. Von Be- len Arbeitsbedingungen und das feuchte ginn an engagiert er sich ganz für die Sa- Klima nicht lange. che der Union. Hier sieht der Mann aus Lan- Dass er, der „Schöpfer“ des Santa Claus, dau seine Ideale von Freiheit und Selbstbe- ausgerechnet am Tag nach St. Nikolaus, am 7. stimmung verwirklicht. Insbesondere die Dezember 1903 starb, entbehrt nicht einer Rechte der Schwarzen sind ihm jeden Ein- gewissen bitteren Ironie. satz wert. Nach dem Bürgerkrieg erreicht

116 Thomas Nast, THE LION OF THE SEASON, Titelblatt von HARPER’S WEEKLY; Journal of Civilization, 21. August 1875, Slg. R. Paul.

117 Abschiedsgruß des Gottfried Schömbs an seinen Freund Julius Dauber, Offenbach/Main, 24. Januar 1853, Slg. R. Paul

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125 Autorenverzeichnis

Dr. Matthias Dietz-Lenssen M.A. Dr. Michael Martin Jahrgang 1954, Redakteur und Autor, ver- Geboren 1947 in Baden-Baden. Histori- heiratet, 3 Kinder, Autor zahlreicher Artikel ker, studierte Französisch und Geschichte und Bücher über Mainz, Rheinhessen und in Mainz, Staatsexamen, Promotion. Leiter den Rheingau. des Archivs und Museums der Stadt Lan- dau seit 1988, zahlreiche Publikationen zur Landauer Geschichte und Veröffentlichun- Dr. Alexander Freund gen zur pfälzischen Geschichte. Inhaber des Lehrstuhls für deutschkanadi- sche Studien und Professor für Geschichte an der Universität Winnipeg (Kanada), Vi- Dr. Cornelius Neutsch zepräsident der Canadian Ethnic Studies Akademischer Direktor im Fach Wirtschafts- Association und der Canadian Oral History und Sozialgeschichte an der Universität Association und Mitherausgeber der Zeit- Siegen. Studium Deutsch/Geschichte (LA) schrift Oral History Forum d’histoire orale. an der Universität Siegen (1977–1982), ab Veröffentlichungen u. a.: Aufbrüche nach 1981 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an dem Zusammenbruch: Die deutsche Nor- der Universität Siegen, 1987 Promotion damerikaauswanderung nach dem Zwei- (Reisen um 1800), Forschungsprojekte zur ten Weltkrieg, Göttingen 2004; Troubling Geschichte der Kulturbeziehungen, zur Ge- Memories in Nationbuilding: World War II. schichte von Verkehr und Kommunikation, Memories and Germans’ Interethnic En- zur Regionalgeschichte und zur Ausstel- counters in Canada After 1945, in: Histoire lungsdidaktik sociale/Social History 39/77 (May 2006), 129–155; A German Post-1945 Diaspora? German Migrants’ Encounters with the Nazi Roland Paul Past, in: Mathias Schulze u. a (Hgg.): Ger- Geboren 1951 in Landstuhl, wissenschaft- man Diasporic Experiences: Identity, Mig- licher Mitarbeiter und stellvertretender Lei- ration, and Loss, Waterloo 2008, 467–478. ter der Heimatstelle Pfalz (heute Institut Aktuelles Forschungsprojekt: Encounters: für pfälzische Geschichte und Volkskunde) Dealing With the Past Abroad – Germans, Kaiserslautern. Forschung und Publikatio- Jews, and the Nazi Past in North Ameri- nen u. a. zur pfälzischen Ein- und Auswan- ca,1945–2005. derung, Geschichte der Juden in der Pfalz, Familienkunde.

Gerhard Holzer Geboren 1941 in München; wohnhaft in PD Dr. Helmut Schmahl Wendelsheim bei Alzey. Gymnasiallehrer Geboren 1966, Studium in Mainz, anschlie- i.R., Übersetzer (Englisch), Forschungen ßend 1994–2006 am Historischen Semi- zur Geschichte der Juden und des Natio- nar (Abteilung für Allgemeine und Neue- nalsozialismus in Rheinhessen, Veröffent- re Geschichte) der Universität Mainz tätig: lichungen in Alzeyer Geschichtsblätter und 1994–1999 wiss. Mitarbeiter, 1999 Promo- Heimatjahrbuch, Landkreis Alzey-Worms tion zur rheinhessischen Auswanderung,

126 1999–2003 wiss. Assistent, 2003 Habilita- Verlagsleiter und Publizist, Gründer eines tion, 2003–2006 Hochschuldozent am His- Privatarchivs der pennsylvaniadeutschen torischen Seminar der Universität Mainz Literatur, Herausgeber der pennsylvania- (Abteilung für Allgemeine und Neuere Ge- deutschen Zeitung „Hiwwe wie Driwwe“ schichte). Seit 2006 Lehrer am Gymnasium (www.hiwwe-wie-driwwe.de) am Römerkastell Alzey sowie Privatdozent an der Universität Mainz. Homepage: www. germanimmigrants.de Steffen Wiegmann M.A. Geboren 1980, Studium an der Westfäli- schen Wilhelms-Universität Münster und Barbara Schuttpelz M.A. Universität Hamburg (1999–2005). Histori- Geboren 1977 in Pirmasens, 1997 bis 2002 ker mit dem Schwerpunkt politische Ideen- Studium der Kulturanthropologie, Klassi- geschichte und historische Migration des schen Archäologie und Mittleren und Neue- 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Mit- ren Geschichte in Mainz und Freiburg; 2002 arbeit an Ausstellungen u. a. im Norddeut- Magisterabschluss. 2002–2004 Volonta- schen Landesmuseum in Hamburg-Altona riat im Institut für pfälzische Geschichte und im Ostpreußischen Landesmuseum und Volkskunde. Seit 2004 dort als wissen- Lüneburg. 2006 bis 2009 wissenschaftli- schaftliche Mitarbeiterin tätig. cher Mitarbeiter am Deutschen Auswan- dererhaus Bremerhaven. Seit Januar 2007 Dissertation zum Identitätsbewusstsein Sarah Alice Sternal politisch motivierter Auswanderer des 19. Geboren 1984 in Mainz, altsprachliches Jahrhunderts aus Deutschland. Rabanus-Maurus-Gymnasium Mainz. Stu- dium der Fächer Geschichte und Deutsch für das Lehramt an Gymnasien in Mainz. Mehrmonatige Praktika im Buchhandel, an französischen Schulen und in der Re- daktion Zeitgeschichte (Prof. Guido Knopp) des Zweiten Deutschen Fernsehens. 2008 Staatsexamensarbeit über die „Auswande- rung in der regionalen Erinnerungskultur der Pfalz 1850 bis heute“.

Dr. Michael Werner Geboren 1965 in Frankenthal (Pfalz), lebt in Ober-Olm bei Mainz. Studium der Germa- nistik, Allgemeinen Linguistik und Soziolo- gie, Promotion mit einer Arbeit zu Sprach- kontakterscheinungen in schriftlichen Texten des Pennsylvaniadeutschen.

127 Impressum

Schriftenreihe des Theodor-Zink-Museums, Heft 17, herausgegeben im Auftrag des Referats Kultur der Stadt Kaiserslautern von Marlene Jochem.

Begleitband zur Ausstellung Aufbruch nach Amerika 1709 – 2009 300 Jahre Massenauswanderung aus Rheinland- Pfalz

Theodor-Zink-Museum Kaiserslautern 30. April bis 2. August 2009

Museum Alzey 24. August bis 11. Oktober 2009

Ausstellungskonzeption und Redaktion des Begleitbandes: Marlene Jochem und Jens Stöcker

Grafische Gestaltung Lutz Lerchenfeld

Produktion KerkerDruck GmbH Kaiserslautern

Copyright © 2009 Der Texte bei den Autoren Der Abbildungen bei den Fotografen und Leihgebern

Theodor-Zink-Museum Referat Kultur der Stadt Kaiserslautern

ISBN 978-3-936036-25-1

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