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Sendung vom 02.05.2003, 20.15 Uhr

Franz Josef Müller Ehrenvorsitzender Weiße Rose Stiftung im Gespräch mit Christoph Lindenmeyer

Lindenmeyer: Seien Sie, meine Damen und Herren, herzlich begrüßt zu diesem Alpha- Forum. Sie werden heute eine Persönlichkeit der Zeitgeschichte kennen lernen, die eine ganz eigene Geschichte zu erzählen hat, nämlich die Geschichte der Widerstandsbewegung "Weiße Rose". Ich freue mich, in dieser Sendung Franz Josef Müller begrüßen zu dürfen. Sie sind neben vielem anderen der Gründer der "Stiftung Weiße Rose". Sie sind ein Leben lang geprägt worden von dieser Geschichte der Widerstandsbewegung "Weiße Rose". Bleibt angesichts einer solchen historischen Verantwortung eigentlich noch Raum, um ein eigenes Leben zu entwickeln? Müller: Ja, aber mit zunehmendem Alter – ich bin jetzt 78 Jahre alt – holt einen das doch immer stärker ein. Auch schon vor 15 bzw. zwölf Jahren, als ich diese Stiftung gegründet habe, war das eigentlich dieser Vorgang, dass die Vergangenheit immer wichtiger wurde, dass sie mich einholte. Schon damals war das also aktuell und seither hat sich das dann noch verstärkt. Denn diese Stiftung, die an der Universität München ansässig ist, hat doch im In- und Ausland sehr viel Resonanz: Damit nimmt natürlich auch die damit verbundene Beschäftigung zu, ebenso wie das Antwortgeben und das Nachdenken darüber. Dass ich hier sitze und mit Ihnen spreche, ist ein Beispiel dafür. Das alles nimmt also heute in meinem Leben eine ganz wichtige Stelle ein, eigentlich die wichtigste. Lindenmeyer: Wie viele Tausendmal haben Sie eigentlich Ihre Geschichte und die Geschichte der "Weißen Rose" erzählt? Müller: Das kann ich natürlich nicht sagen. Ihre provokative Frage geht also daneben. Ich habe sie oft erzählt. Aber ich hatte dabei nie ein Manuskript und ich hatte auch nie etwas vorbereitet. Aus diesem Grund kann ich doch sagen – und auch meine Mitarbeiter sagen das –, dass ich nie dasselbe erzählt habe. Lindenmeyer: Das war eben meine Frage und deshalb wollte ich Sie ja auch "provozieren". Wenn man diese Geschichte über mehr als 50 Jahre, über nunmehr fast 60 Jahre erzählt - denn so lange liegt das ja inzwischen nun zurück -, dann kann es doch sein, dass sich solche Geschichten einfräsen wie die Rillen bei einer Schallplatte, weil man eben selbst so stark geprägt wurde davon. Träumen Sie denn z. B. noch von dieser Zeit? Springt Sie das gelegentlich mal völlig unvermutet an in der Erinnerung? Müller: Sie kommen sofort mit einer schwierigen Frage. Ich träume hie und da davon, heute allerdings und Gott sei Dank weniger als früher. Ich träume also noch davon, dass ich wieder vor dem Volksgerichtshof in der Verhandlung stehe und dass ich diesmal zum Tode verurteilt werde. Das ist dann in der Tat ein Alptraum. Aber das kommt, wie gesagt, immer seltener vor. Ansonsten hat mich das natürlich ein Leben lang sehr belastet. Lindenmeyer: Wie sind Sie damit umgegangen? Müller: Ich habe die Augen aufgemacht und zum Fenster hinausgesehen und mir gesagt: "Es ist nicht so! Du lebst!" Das hat mich tief durchschnaufen lassen. Lindenmeyer: Ist das Bekenntnis zum Leben schwierig, wenn man weiß, dass andere, die vor diesem Volksgerichtshof standen, zum Tode verurteilt worden sind, dass Todesurteile vollstreckt wurden? Wie konnte Sie denn daraufhin ein gelösteres Leben entwickeln? Müller: Das ist natürlich sehr schwierig. Ich kann Ihnen hierzu nur eine ganz kurze Geschichte erzählen. Als wir von Stadelheim, wo wir Jüngeren damals inhaftiert waren, auf Transport in ein anderes Gefängnis kamen, hat uns ein Wachtmeister, der wahrscheinlich gutwillig war, durch den Hof der Todeskandidaten geführt. Dort haben wir Huber, Graf und Schmorell, die alle zum Tod verurteilt worden waren, noch einmal gesehen. Das ist der stärkste Eindruck, der mir von meinen Freunden bis heute geblieben ist: Diese Situation, die vielleicht nur eine halbe Minute dauerte, ist mir bis heute am präsentesten geblieben. Was sagt man sich da? Wir, die wir in ein anderes Gefängnis gebracht werden und die noch leben dürfen, während die anderen buchstäblich auf die Maschine warten, die 30 Meter daneben steht und die ihnen die Köpfe abschlagen wird? Lindenmeyer: Was sagten Sie? Müller: Etwas ganz Merkwürdiges. Wir haben am Schluss "Alles Gute!" gesagt. Was soll man sagen? Lindenmeyer: Nun soll hier ja Ihre Geschichte erzählt werden. Ihre Geschichte ist verwoben mit der Geschichte der Weißen Rose: Sie haben Flugblätter verteilt, Flugblätter vertrieben. Und Sie haben danach das Vermächtnis der "Weißen Rose" als ein politisches Bekenntnis in unzählig vielen, in Tausenden von einzelnen Dokumentationen und Veranstaltungen und Diskussionen lebendig zu halten versucht. Es gibt sehr viele Bücher über die "Weiße Rose". Eine der jüngsten Veröffentlichung stammt von dem Militärhistoriker Detlev Bald. Er hat ein Buch mit dem Titel "Von der Front in den Widerstand" geschrieben. Bei Ihnen jedoch war das anders: Sie sind damals in von der Schule in den Widerstand gekommen. Müller: Wir waren dort in Ulm im alten humanistischen Gymnasium, das die Nazis weder ideologisch noch personell besetzt hatten. Wir hatten zwar einen Nazi-Rektor, aber die Lehrer, die wir hatten, kamen alle noch aus dem vorletzten Jahrhundert, also noch aus dem Jahrhundert mit der 18 davor. Das war einfach ausgebildete Studienräte... Lindenmeyer: Mit humboldtschen Idealen? Müller: Ja, so in etwa. Wenn man z. B. – zunächst zu unserem Leidwesen – Platon-Dialoge aus dem Altgriechischen übersetzen musste, hatte man dabei natürlich auch mit Dingen und mit Aussagen zu tun, die man mit dem Lehrer zu diskutieren hatte. Ich kann Ihnen ein Beispiel dafür geben. Wir haben u. a. auch darüber diskutiert, ob es möglicherweise besser sei, bewusst Unrecht zu erleiden als Unrecht zu tun. Das war eine der Diskussionen, die wir damals hatten und die wir auch vertieften. Das war natürlich ganz klar gegen die NS-Ideologie gerichtet – ohne dass das freilich direkt angesprochen worden wäre. Lindenmeyer: Das heißt, die Schule hat Sie stabilisiert und motiviert? Müller: Ja, außerordentlich. Lindenmeyer: Wie war das mit Ihren Eltern? Sie stammen aus einem katholischen Elternhaus und waren wie viele andere ebenfalls Ministrant. Da gab es also diese Schule mit den humanistischen Idealen einerseits und die katholische Erziehung andererseits: Waren das Ihre hauptsächlichen Beweggründe? Oder kam noch anderes hinzu? Müller: Ja, es kam natürlich noch etwas dazu, das vielleicht schon eingeschlossen ist in Ihrer Frage. Die ganze Verwandtschaft von mir war katholisch. Ich muss sofort hinzufügen, dass sie konventionell katholisch war. Man ging also in die Kirche. Ich hatte z. B. sehr fromme Tanten, die dann eben auch jeden Sonntag zur Kommunion gingen. Der ganze Clan – denn ich stamme aus einer Bauernfamilie, zu deren Verwandtschaft noch einige andere Bauernfamilien gehörten – war also katholisch. Wenn ich also von zu Hause meinetwegen zu meinem Onkel oder zu meiner Tante gekommen bin, dann herrschte dort dasselbe Klima: Es kam nichts Fremdes herein. Es gab in der ganzen Verwandtschaft nicht einen einzigen Protestanten! Die Protestanten wurden übrigens "Lutherische" genannt. Das war ja auch so eine merkwürdige Sache. Den Protestanten gegenüber hat es also immer sofort eine klare Distanz gegeben: Das waren die "Lutherischen"! Lindenmeyer: Die "Lutherischen" wahrscheinlich gegenüber den "Reformierten". Müller: Nein, darum ging es nicht. Wir kannten nur die "Lutherischen". Es gab nur sie und uns, die Katholiken. Die Katholiken lebten natürlich in der Wahrheit. Dies garantierte der Papst, der Bischof und der Ortspfarrer. Und es gab die Pflicht, am Sonntag in die Kirche zu gehen. Die Pflicht! Lindenmeyer: Und gleichzeitig gab es die Pflicht, in die Hitlerjugend einzutreten. Müller: Ja, die gab es. Lindenmeyer: Wenn ich richtig informiert bin, dann sind Sie dort sozusagen zum ersten Mal quasi auffällig geworden, kam es dort zu den ersten Auseinandersetzungen. Müller: Mir ging es nicht wie Herrn Scholl, der damals, wie ich glaube, zunächst mit Freuden Hitlerjugendführer geworden ist. Ich habe ihn noch klar vor Augen. Genau deswegen war er mir eigentlich nicht sehr sympathisch. Denn Hitlerjugendführer waren ja auf das schlichte Verhältnis von Befehl und Gehorsam ausgerichtet. Das beliebteste Wort war damals – wie später dann ja auch noch – dieses Wort mit den zwei "l" am Ende: "Jawoll! Diskutiert wird nicht!" Es gab damals diesen berühmten Satz, den Sie vielleicht kennen: "Das Diskutieren überlassen Sie den Pferden, die haben den größeren Kopf!" So war die Hitlerjugend. Mit unseren Ansichten und Argumentationen stießen wir dort natürlich sofort auf Gegenansichten und kamen in Konflikte dadurch. Das war fast von Anfang an so. Lindenmeyer: Sie sagen "wir": Wer war "wir"? Müller: Das waren mindestens drei, aber letztlich doch sechs, sieben Leute aus meiner Klasse und aus der Klasse unter uns. Einer oder zwei stammten auch aus der Klasse über uns. Wir kamen damals mit zehn Jahren ins Gymnasium und mit so 13 bis 16 Jahren sind wir dann in diese kritische Phase gekommen, als wir anfingen, den Dienst in der Hitlerjugend zu verweigern und Wege zu finden, diesem Reichsjugendgesetz zu entkommen. Der erste Paragraph dort hieß ja, und das war schon eine ganz merkwürdige Sache: "Die deutsche Jugend ist in der Hitlerjugend zusammengefasst." Das ist natürlich kein Gesetz, sondern so etwas wie eine Tatsachenbehauptung wie meinetwegen "die Sonne scheint". Aber das war eben damals eines dieser Nazigesetze, die einfach ohne jede Ausnahme einen Zustand festsetzten und dabei noch nicht einmal gesagt haben, was man da eigentlich tun soll und dass dies eine Verpflichtung wäre. Nein, es hieß einfach nur: "Die deutsche Jugend ist in der Hitlerjugend zusammengefasst." Lindenmeyer: Hier haben Sie sich aber bereits widersetzt. Müller: Das wäre ein bisschen zu viel gesagt. Wir haben halt nach Auswegen gesucht. Das fing damit an, dass man gezwungen war, in den so genannten Dienst – gemeint sind damit die Versammlungen der Hitlerjugend zweimal in der Woche und manchmal auch am Sonntag – zu gehen. Wir haben dann versucht, dem auszuweichen. Und das ist nun wichtig: Wenn es einen Sonntagsdienst gegeben hat, dann stieß das natürlich zusammen mit dem Sonntagsgebot der katholischen Kirche, in die Heilige Messe zu gehen. In unserem Fall war es so, dass die Hitlerjugend ihren Versammlungsplatz direkt vor einer katholischen Kirche hatte. Wenn die Hitlerjugend dort am Sonntagmorgen um halb zehn Uhr stand und man selbst um diese Zeit das Hochamt besuchte, dann konnte man entweder Glück haben: Die Leute, die dort versammelt waren, waren nicht von der eigenen Einheit. Man musste sich also nicht diesen Leuten anschließen. Wenn man aber Pech hatte, dann musste man auf diesem Weg in die Messe wirklich Spießruten laufen. Dabei kam es zwar nicht zu Körperverletzungen, aber zu Zurufen: "Wo gehst du denn hin? Hier ist dein Dienst!..." Hier bereits brauchte man also Mut, um sich absetzen zu können. Damit wurde man eigentlich von der Hitlerjugend weggetrieben. Denn sie brachte damit natürlich etwas Negatives an einen heran, das man nicht akzeptieren konnte und wollte. Das war schon mal die erste Spaltung, die sich ereignet hat. Lindenmeyer: Sie sagen, man brauchte Mut, sich zu separieren, sich abzusetzen. Es gibt ja Menschen wie z. B. Daniel Goldhagen und viele andere, die sagen, die Deutschen seien in erster Linie ein Volk von Mitläufern und z. T. auch von Mittätern gewesen. Brauchte es für so ein Absetzen also in der Tat Mut? Hatte das mit Ihrer Erziehung zu tun? War das eine subjektive Entscheidung oder haben Ihnen Ihre Eltern ganz klar gesagt, "Junge, halte dich davon fern!"? Müller: Meine Eltern haben mir das nicht gesagt. Wenn überhaupt, dann wäre so etwas von meiner Mutter gekommen, die, wie ich das nenne, eine geborene Anti-Nazistin gewesen ist. Der Vater war ein deutscher Mitläufer: Ich muss ihn so nennen, obwohl ich das gar nicht so negativ meine. Er ist sofort 1933 in die Partei eingetreten und war froh, dass man seine Bewerbung um eine Parteimitgliedschaft akzeptierte. Eine meiner ersten Erinnerungen, ich war damals noch nicht einmal neun Jahre alt, bezieht sich genau darauf. Er kam damals in die Küche herein, wo meine Mutter arbeitete, und sagte zu ihr: "Marie", meine Mutter hieß Maria, "sie haben mich aufgenommen!" Sie hatten ihn also in die Partei aufgenommen. Lindenmeyer: Er war also stolz darauf. Müller: Ja, er war stolz und froh darüber. Aber meine Mutter sagte nur, und das habe ich deutlich gehört: "Hoffentlich tut dir das eines Tages nicht Leid!" So etwas bekommt man mit achteinhalb Jahren doch bereits mit. Solche Dinge prägen einen natürlich. Meine Mutter war für mich die wirklich prägende Figur – mein Vater war im Büro usw. – und auch eine sehr willensstarke Frau. Hinzu kam noch, dass der Hof, von dem sie stammte, ganz in der Nähe von Ulm war, wo wir wohnten. Mein Vater kam aus Heilbronn. Von meiner Mutter stammte also diese Prägung, bereits lange vor 1933. Denn in unserer Straße versammelten sich vorn an der Ecke immer die Kommunisten. Gegenüber, höchstens 50 Meter entfernt, versammelten sich die Nazis. Diese beiden Gruppen wurden mir gegenüber von der Mutter als "ganz schlimmer Leute bezeichnet". Sie sagte immer: "Das sind Leute, mit denen wir nichts zu tun haben wollen. Die reden gegen die Kirche und" – zumindest die Nazis– "die reden von Krieg! Was der Kommunismus ist, kann man ja in Russland sehen!" Das war allerdings etwas, mit dem ich damals in meinem Alter nur ganz vage negative Vorstellungen verbunden habe. Mir war also schon vor 1933 ganz klar, dass das Vereinigungen sind, dass das Parteien sind, mit denen mal als Katholik und als jemand, der nicht in eine ganz falsche Richtung gehen wollte, tunlichst nichts zu schaffen haben sollte. Lindenmeyer: Lassen Sie uns einen Augenblick bei Ihrem Vater bleiben: Hat Ihr Vater später seine Mitgliedschaft in der Partei bereut? Müller: Er hat das sicher bereut, aber er hatte auch keine Schwierigkeiten dadurch. 1945 wurde ja allen erwachsenen Deutschen die Frage gestellt, ob sie in der Partei gewesen sind. Man musste damals nämlich auch bei uns in Ulm einen Fragebogen der amerikanischen Militärregierung ausfüllen. Danach konnte man dann entweder in seinen Beruf zurückkehren oder eben nicht, wenn das eine Anstellung im Staatsdienst oder städtischen Dienst gewesen ist. Damals hatte er natürlich keine Schwierigkeiten, denn ich war gerade aus dem Gefängnis befreit worden. Und der Oberbürgermeister in Ulm hieß . Das war der Vater der heute so genannten Geschwister Scholl, die ja eigentlich mehrere Geschwister waren, nicht nur Hans und Sophie. Lindenmeyer: Sie sagen, Sie waren im Gefängnis und sind dann von den Amerikanern befreit worden. Sie sind damals durch einen Prozess vor dem Volksgerichtshof ins Gefängnis gekommen. Wir überspringen jetzt für einen Moment ein paar Jahre und kommen zu diesem Prozess, der Hans und , und viele andere das Leben gekostet hat. Sie haben uns hier einen Auszug aus diesem damaligen Urteil mitgebracht. Wir werfen kurz mal einen Blick auf die Namen, die hier in diesem Urteil des Volksgerichtshofs erwähnt werden. Unter dem Urteil "Im Namen des deutschen Volkes" stehen hier sehr viele Namen. Was können Sie uns zu diesem Dokument sagen? Müller: Zunächst einmal muss ich sagen, dass die Überschrift "Im Namen des deutschen Volkes" usurpiert ist. Der Volksgerichtshof ist nämlich niemals von einem deutschen Parlament beschlossen worden: Er hatte also niemals das zur Grundlage, was für die Gründung eines Gerichtshofs nötig gewesen wäre. Er hatte nämlich diese gesetzlichen und prozessualen Voraussetzungen gar nicht durchgemacht. Er war ganz einfach gegen Ende des Jahres 1933 gegründet worden: Zu Beginn des Jahres 1934 fing er dann mit seiner Tätigkeit an. Gegründet wurde er mehr oder weniger auf Anordnung der höchsten Nazis, die dafür zuständig waren, und sicher auch mit Einverständnis des so genannten Führers. Er war also, und das ist heute ganz klar, kein ordentlicher Gerichtshof: Diese Urteile sind, das ist die logische Folge davon, alle nicht gültig. Sie sind sogar, und das ist ganz wichtig, "ex tunc" nicht gültig, das heißt, sie waren von Anfang an nicht gültig. Sie konnten nicht gültig sein, weil das eben kein ordentlicher Gerichtshof gewesen ist. Diese Argumentation habe ich dann später auch im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages verwendet. Lindenmeyer: Sie sind verurteilt worden: Sie hatten, zusammen mit jemand anderem, massenhaft Flugblätter versandt. Müller: Ja, ich habe das zusammen mit meinem Schulkameraden und Freund gemacht, der übrigens Sohn eines protestantischen Pfarrers gewesen ist. Lindenmeyer: Eines "Lutherischen" also. Müller: Ja, eines lutherischen Pfarrers. Ich kann hier vielleicht gleich eine wichtige Bemerkung einfügen. Die Nazis haben nämlich ganz gegen ihre Intention etwas ganz Bestimmtes geschafft, etwas, das heute allerdings allgemein bekannt ist. Sie haben es geschafft, dass sich diese sehr, sehr stabile Kontra-Haltung der Katholiken gegenüber den Protestanten – und wohl auch umgekehrt – langsam auflöste. Der Druck betraf ganz einfach beide und deswegen habe ich es z. B. auch direkt in meiner Klasse erlebt, dass Protestanten wie Katholiken zu meinen engsten Freunden wurden. Dieser Pfarrerssohn war eben einer von ihnen. Die Konfessionsunterschiede spielten nämlich keine Rolle mehr. Um es positiv auszudrücken: Das fundamental Christliche kam heraus! Die Unterschiede waren nicht mehr wesentlich. Lindenmeyer: Wie sind Sie denn überhaupt an diese Flugblätter herangekommen? Wie kamen Sie an die Scholls? Wie kamen Sie an die "Weiße Rose"? Müller: Dies hatte wiederum mit dieser protestantischen Seite zu tun. Die Scholls waren nämlich Protestanten. Hans Hirzel, dieser Pfarrerssohn, war eben auch Protestant. Er bekam von Sophie Scholl eines Tages ein Flugblatt. Dieses Flugblatt hat er dann mir und einem Freund, ebenfalls ein Klassenkamerad, gegeben. Dieser Freund wurde dann später verurteilt wegen "Nichtanzeige": Das war Heinrich Guter, der bis heute hier in München lebt. Bei der Übergabe dieser Flugblätter fragte mich dieser Pfarrerssohn, ob ich ihm vielleicht helfen könnte, diese Dinger zu verbreiten. Das war genau der Abend, bevor ich zum Reichsarbeitsdienst kam, also im Sommer 1942. Das war also noch relativ früh, ein Dreivierteljahr vor diesem Urteil des Volksgerichtshofes. Ich sagte ihm daher: "Das kann ich jetzt im Moment nicht machen, weil ich morgen früh zum Reichsarbeitsdienst komme." Dort, in diesem entsetzlichen Lager des Reichsarbeitsdienstes, habe ich eine Verstärkung meiner anti-nazistischen Empfindungen und Gedanken erfahren. Erst danach haben wir dann diese Flugblätter verbreitet. Die Initiative dazu war jedenfalls klar von der protestantischen Seite ausgegangen: von meinem Freund Hans Hirzel, der Sophie Scholl gegenüber wohl mehr als nur die Empfindung hatte, die man gegenüber Kameraden oder Freunden hat. Ich glaube, er hatte einfach eine Neigung für sie. Sophie hat das aber wahrscheinlich gar nicht gemerkt. Lindenmeyer: Waren Ihnen die Texte dieser Flugblätter sympathisch? Müller: Ja, sofort. Ich muss hierzu allerdings einfügen: Wir hatten ja schon jahrelang – sicherlich zwei, drei Jahre lang – in dieser Richtung diskutiert. Wir haben dabei Folgendes für uns festgehalten: Wir haben - und das wird Sie vielleicht verwundern - eine Regierung, die illegitim ist. Dies haben wir damals mit kundigen Menschen, die es eben auch noch gegeben hat, herausgefunden. Es hat bei dieser Überlegung ja zwei Möglichkeiten gegeben: Hindenburg hatte zwar das Prozedere in Gang gebracht, aber die Nazi-Regierung hat dann sofort das Parlament abgeschafft und Verfassungsbruch begangen bzw. die ganze Verfassung abgeschafft. Das war natürlich unsere Position gewesen: Hitler ist illegitim! Auf diesem Stand der Überlegung waren wir bereits mit ungefähr 17 Jahren angekommen. Wir sind dazu natürlich nicht ohne Hilfe gelangt, denn dafür musste man Menschen kennen, die einem diese Gedankengänge klar machen konnten, die einem z. T. diese Gedankengänge sogar suggerierten. Ich muss hier an dieser Stelle einen katholischen Pater nennen, der zu den "Weißen Vätern" gehörte, die in Nordafrika missionierten und dort bis heute noch missionieren. Er hatte das, was man Weltkenntnis nennen kann. In einem freien Religionsunterricht, denn an den Schulen fand ja kein Religionsunterricht mehr statt, hat er junge Menschen um sich gesammelt. Dabei hat er sich vor allem an das Ulmer Gymnasium gewandt. Bei diesem Mann waren wir dann zwei Jahre lang mindestens einmal in der Woche. Ich will das hier nicht zu weit ausbreiten, aber im Grunde genommen war das eigentlich eine illegitime Versammlung. Man musste das mit viel Glück und Vorsicht und Vertrauen organisieren. Lindenmeyer: Das war also auch bereits konspirativ. Müller: Das war so dazwischen. Der Beweis dafür war, dass uns die Hitlerjugend dabei zweimal überfallen hat. Wir versammelten uns ungefähr um sechs Uhr bei ihm in der Wohnung und kamen dann erst um neun Uhr abends wieder heraus. Im Winter war es dann natürlich bereits dunkel. Dort waren wir zu bestimmten Zeiten bis zu 20, 25 Teilnehmer. An einer Straßenecke wurde uns dann zweimal von einer HJ-Streife aufgelauert. Ich war eines der Opfer, denn wir wurden dabei ganz einfach zusammengeschlagen. Dies geschah ohne Begründung. Man hatte uns davor eben genau beobachtet. Ich wundere mich heute noch darüber, dass die damals nicht mehr gegen diesen Pater Eisele unternommen hat. Das ist schon eine ganz merkwürdige Sache. Aber mit der Gestapo in Ulm war es überhaupt so eine merkwürdige Sache. Erst kürzlich hat ja auch der "Spiegel" einen Report darüber gebracht. Der dortige Gestapochef Rechsteiner war einer der Übelsten nicht. Ein Beispiel dafür ist folgende Begebenheit. Vater Scholl, der seiner Empörung einfach nicht Einhalt gebieten konnte, hat mal mitten in der Straßenbahn – ich war selbst mit dabei – ganz laut gerufen: "Haben Sie schon gehört, was diese Gangster wieder angestellt haben?" Damit meinte er natürlich die nationalsozialistische Partei. Er hatte einfach keinen Sinn für Gefahr. Vielleicht können wir später im Hinblick auf seine Kinder darauf noch einmal zurückkommen. Ich weiß nur noch, dass der Hans Hirzel und ich daraufhin aus der noch fahrenden Straßenbahn abgesprungen sind, weil wir einfach das Gefühl hatten, er sei jetzt wahnsinnig geworden. Die Gegenwart von Spitzeln war in Ulm allerdings überhaupt recht beschränkt. Es hat einen gegeben, den ich selbst gekannt habe: Das war dieser Herr Riester, der in dem schon erwähnten Spiegel- Artikel ebenfalls genannt wird. Diesen Mann kannte man jedoch. Er hatte freilich früher mit den Nazis selbst seine Schwierigkeiten gehabt. Lindenmeyer: Er konnte jedenfalls nicht verdeckt ermitteln. Müller: Nein, das konnte er sicher nicht. Es war aber auch so, dass der Chef der Gestapo, Rechsteiner, möglichst kein Aufsehen erregen wollte. Denn es hätte in Ulm sofort Aufsehen erregt, wenn er den Vater Scholl oder einen von uns Jüngeren verhaftet hätte. Ich weiß es nicht mehr ganz genau, aber ich glaube, er hat den Hans Hirzel sogar mal zu einem Gespräch gebeten. Wir hatten also in Ulm das große Glück, diesen Rechsteiner als Gestapochef zu haben. Nach dem Krieg habe ich diesen Mann dann auch, wenn ich mich richtig entsinne – das ist ja nun schon sehr lange her –, von unserer Seite aus entlastet. Er hat z. B. auch Warnungen gegeben. Er hat dem Vater Scholl gesagt: "Können Sie denn nicht endlich Ihren Mund halten? Es liegt schon wieder eine Anzeige gegen Sie vor!" So etwas hat es also auch gegeben. Lindenmeyer: Wie war das denn zu Hause? Ihr Vater war in der Partei, aber Ihre Mutter war eine fromme Katholikin, wenn ich das richtig verstanden habe: Sie war sehr streng in ihrer antifaschistischen Haltung. Und dann gab es noch Sie, der diese vielen Flugblätter auf den Weg brachte. Ging das konspirativ? Hat die Mutter davon gewusst? Müller: Nein, natürlich nicht. Das ist ja das Erste, was man lernen muss, wenn man ein staatsfeindliches Flugblatt verbreiten oder herstellen wollte. Darüber darf man kein einziges Wort verlieren. Lindenmeyer: Dass das staatsfeindlich war, haben Sie jedenfalls bereits zu diesem Zeitpunkt begriffen? Müller: Ja, ich hatte ja schon gesagt, dass ich dieses Flugblatt gelesen hatte, kurz bevor ich zum Arbeitsdienst gekommen bin. Geschehen war das bei einer Verabschiedung von uns Freunden. Dabei tranken wir zum ersten Mal in unserem Leben eine Flasche Wein. Wir waren also ein wenig gelockert. Und auf dem Höhepunkt dieser, na, mäßigen Lockerung zog mein Freund und Klassenkamerad Hans Hirzel ein Blatt Papier hervor und sagte zu mir, ich solle das mal lesen. Das war eben ein Flugblatt der Weißen Rose. Ich kann nur von mir berichten, aber bei mir war es jedenfalls so, dass ich auf einen Schlag wieder nüchtern wurde – falls ich das nicht schon vorher die ganze Zeit über gewesen bin. Mir war klar, dass das Sprengstoff ist: Das ist ein Todesurteil, wenn man damit erwischt werden sollte. Das war uns also vollkommen klar, denn solche Urteile standen ja in Bezug auf Kommunisten immer wieder in der Zeitung. Ich fand den Inhalt des Flugblattes jedoch völlig richtig: Das war der Mittelpunkt auch unserer eigenen Diskussionen gewesen. Ich sagte jedenfalls zu ihm: "Morgen früh fahre ich zum Reichsarbeitsdienst. Ich werde dort mindestens drei, wenn nicht sechs Monate bleiben. Ich kann also jetzt nichts machen. Aber ich kann darauf zurückkommen. Denn der Inhalt ist ja unglaublich. Woher hast du das eigentlich?" Ich weiß seine Antwort nicht mehr ganz genau, aber ich glaube, er sagte, er hätte das von . Dieses Flugblatt war jedenfalls etwas, das in mir rumort hat. Wir hatten dann letztlich nur drei Monate Reichsarbeitsdienst: Wir waren übrigens fast alle Abiturienten, was für die dortigen Anführer sehr schwierig gewesen ist, weil sie selbst im Wesentlichen Volksschulbildung hatten. Im Arbeitsdienst war der Inhalt dieses Flugblatts jedenfalls Gesprächsstoff unter uns. Wir haben nicht über dieses Flugblatt selbst gesprochen, sondern über die Argumente, die dort gestanden hatten. Diese Argumente haben wir jedenfalls in einer Gruppe, die wir mitten im Arbeitsdienstlager gegründet hatten, weiterhin besprochen. Dort in diesem Arbeitsdienstlager haben wir dann auch gewisse Aktionen gemacht, die bis heute eigentlich unbekannt geblieben sind. Lindenmeyer: Haben Sie denn die Autoren dieser Flugblätter persönlich kennen gelernt? Wann haben Sie Hans und Sophie Scholl kennen gelernt? Müller: Ich kannte bis dahin Hans Scholl nicht persönlich: Ich kannte ihn nur als HJ- Führer. Vielleicht hatte er mich in dieser Funktion sogar mal angesprochen oder mich sogar angepfiffen, das weiß ich nicht mehr. Sophie Scholl sah ich nur im Kontext mit der Schwester von Hans Hirzel, also mit Susanne Hirzel, die dann ja auch verurteilt worden ist. Aber auch dabei habe ich sie nicht näher kennen gelernt. Mit 16, 17 Jahren sprach man damals ein junges Mädchen, das etwas älter war als man selbst, nicht an – so gern man das vielleicht sogar getan hätte. Lindenmeyer: In Schwaben tat man das nicht. Müller: In Schwaben, in Ulm, tat man so etwas auf jeden Fall nicht. Wir waren einfach gehemmt. Außerdem war sie ja eine "Lutherische". Lindenmeyer: Der Dreißigjährige Krieg hat also in Ulm immer noch ein klein wenig eine Rolle gespielt zu der Zeit. Müller: Ja, immer noch, das war immer noch da. In Ulm, in dieser alten Reichsstadt, war das klarerweise so. Dort steht ja in der Mitte, und das ist durchaus wichtig, raumgreifend, ständig beeindruckend und ständig präsent das Ulmer Münster mit diesem Riesenkirchturm und diesen Riesenglocken. Dieses Münster war ja eigentlich viel zu groß für diese Stadt: Die Ulmer hatten sich eine Kathedrale gebaut, in der sie nach Ende der Bauzeit auf einen Schlag ihre komplette Bevölkerung mindestens drei Mal hätten unterbringen können - und dann wäre immer noch Platz gewesen in dieser Riesenkirche. Dies lässt schon nicht unerheblich auf den Geist in dieser Stadt schließen. Und auch auf die Geldfülle, die vorhanden war. Man darf dabei ja auch nie die Konkurrenz zu Augsburg, das ja ganz in der Nähe liegt, vergessen. Man war also katholisch oder lutherisch in Ulm, aber man war nicht so wie die Augsburger. Lindenmeyer: Die Augsburger waren ja eine Stadt der Parität, Stichwort "Augsburger Religionsfrieden". Wir springen jetzt, wir springen jetzt direkt in dieses Verfahren vor dem so genannten Volksgerichtshof. Erinnern Sie sich noch, mit welchen Gefühlen Sie diesem Prozess entgegengesehen haben? Müller: Ich erinnere mich an einen oder zwei Tage vorher. Ich bekam, in einer Zelle sitzend, von einem Wachtmeister ein Blatt Papier in die Hand gedrückt. Ich war in einem sehr schlechten Zustand: Durch den Mangel an Ernährung war mein körperlicher Zustand schon ziemlich schlecht geworden. Ich war ja in Frankreich als Soldat verhaftet worden. Aus dem Grund habe ich quasi wohl trainiert meine Haft angetreten, aber dieser Zustand sollte sich dann schnell ändern. Lindenmeyer: Waren Sie überraschend verhaftet worden? Oder hatten Sie schon damit gerechnet? Müller: Meine Mutter hatte mir noch einen Brief geschickt mit dem Abdruck des Todesurteils gegen die Scholls, das dann am 22. Februar 1943 vollstreckt wurde. Darunter hatte meine Mutter geschrieben: "Hoffentlich hast du nichts damit zu tun!" Von da ab habe ich mich auf meine Verhaftung vorbereitet. Wie ich das gemacht habe, ist wiederum eine eigene Geschichte. Ich hatte die Absicht gehabt und dann sogar den vielleicht untauglichen Versuch gemacht, in die Résistance zu kommen. Dies ist aber eine Geschichte für sich. Ich wollte jedenfalls nicht tatenlos warten, bis man mich zur Schlachtbank führt. Mit der Verhaftung hatte ich also schon gerechnet. Lindenmeyer: Und dann? Hatten Sie auch mit einem Todesurteil gerechnet? Müller: Dieses Urteil hatte ich natürlich erwartet. Mir war klar, dass ich als "Volksschädling" verurteilt werden würde. Wer solche Dinge verbreitet, und das hatte ich ja gemacht bzw. dabei mitgemacht, der erfüllte ganz klar den Nazi-Paragraphen der Feindbegünstigung, des Hochverrats usw. Das waren alles Paragraphen, die im Regelfalle Todesurteile nach sich zogen. Ich musste also ebenfalls mit dem Todesurteil rechnen. Ich habe in dieser Zelle dieses Blatt Papier, von dem ich vorhin erzählte, durchgelesen. Ich habe zunächst einmal überhaupt nicht verstanden, was da in dieser Anklageschrift steht. Ich fragte mich: Wo habe ich denn Verrat begangen? Hochverrat meint aber, dass man gegen die eigene Regierung konspiriert und ihre Ablösung betreibt. Das wusste ich damals jedoch nicht. Ich merkte aber, dass das ganz klar eine Bedrohung meines Lebens war. In diesem Moment hätte ich natürlich einen Beistand gebraucht: in dieser kalten Zelle auf dem Boden hockend im Gefängnis Neudeck. Dieses Gefängnis wird, wenn ich das richtig weiß, bis heute als Frauengefängnis betrieben. Ich befand mich also, wie ich schon sagte, in einem körperlich sehr schlechten Zustand und ich hatte keinen Rat. Ich habe diese Anklageschrift immer wieder durchgelesen und konnte mir keinen Reim darauf machen. Wo hatte ich den Feind begünstigt? Ich war doch bei der gewesen. Was soll das also? Einige Tage später hat sich dann ein Mensch bei mir gemeldet, der Klein hieß. Der Wachtmeister sagte zu mir: "Rauskommen!" Es stand dann ein recht großer Mann vor mir, der sich mit dem Namen "Klein" vorstellte und zu mir sagte, er sei mein Rechtsanwalt. Sein Kommentar zu dieser Anklageschrift lautete jedoch nur: "Viel kann ich da nicht machen. Ich werde Sie der Gnade des Gerichts empfehlen." Dann ging ich wieder in meine Zelle zurück. Das war natürlich bitter. Lindenmeyer: Und dann? Müller: Und dann hatte ich mich damit auseinander zu setzen, dass mich demnächst, also am 19. April 1943, der Volksgerichtshof verurteilen würde. Mir war klar, dass meine Chance, dabei mit dem Leben davon zu kommen, nur äußerst gering war. Nun war es aber nicht so, dass der Tod damals für einen Soldaten in Frankreich sehr weit weg gewesen wäre. Wenn ich bei meiner Truppe geblieben wäre - wir waren eine Gruppe von 14, 15 jungen Männern bei der schweren Artillerie –, dann wäre ich vermutlich in diese ganzen Stalingrad-Geschichten hineingeraten. Vielleicht nicht direkt nach Stalingrad, aber doch in dieses ganze Desaster. Meine Truppe ist nämlich im Süden von Stalingrad eingesetzt worden. Später habe ich erfahren, dass aus dieser meiner Gruppe – wir waren alle erst um die 18 Jahre alt - mindestens die Hälfte gefallen ist. Das müssen Sie sich mal vorstellen! Diese Kerle sind da in diesen Schlamassel hineingeraten und hatten keinerlei Fronterfahrung, als die Russen ihren Gegenangriff starteten. Der Tod war also in jedem Fall sehr nahe gewesen. Nur eine Verwundung wäre fast schon ein Glück gewesen. Lindenmeyer: War in dieser Zeit nach der Verhaftung die Mutter ein Beistand für Sie? Hat sich der Vater um sie gekümmert? Müller: Mein Vater hat sich durch meine Mutter um mich gekümmert. Aber er hat mir z. B. keinen Brief geschrieben, als ich da diese zwei Monate beim Militär gewesen bin. Ich hatte aber durchaus das Gefühl, dass er zu mir stand. Er war jedoch Angestellter beim "Reichsnährstand". Das war die Bauernorganisation, die übrigens dafür sorgte, dass die Deutschen während des Kriegs nicht hungerten, indem sie den Bauern Auflagen machte, wie viel sie abzuliefern hätten usw. Das hat funktioniert: Die Deutschen kannten nämlich während des Krieges in der Tat keinen Hunger. Mein Vater hatte dort eine kleine, organisatorische Aufgabe: Er war nicht eigentlich eine wichtige Figur dort. Er sprach aber immer von sich mit den Worten: "In meiner Stellung muss ich vorsichtig sein!" Diese Aussage kam dann nach dem Krieg auch wieder, nur kam er da dann aufgrund seines Sohnes doch sehr schnell wieder hinein in den Beruf, obwohl er doch in der Partei gewesen war. Für mich war das immer eine Art tolerierende Haltung auf Seiten meines Vaters: Ich habe nie mit ihm politisch diskutiert. Aber das Merkwürdige dabei war doch, dass ich mit ihm zusammen - nicht oft, aber mindestens einmal in der Woche - Radio London gehört habe. Lindenmeyer: Also die BBC. Müller: Ja. Das war doch schon etwas! Er traute also diesem Burschen, diesem "Österreicher", wie er immer sagte, nicht über den Weg. Er sagte immer: "Das kann nicht gut gehen mit dem! Der versteht doch vom Krieg nichts!" Lindenmeyer: War denn Ihr Vater nach dem Krieg zu irgendeiner Zeit stolz auf Sie, auf Ihre Nähe und Mittäterschaft in der Widerstandsbewegung "Weiße Rose"? Müller: Ich habe ihn das nie gefragt, aber ich vermute schon. Lindenmeyer: Warum haben Sie nie mit ihm darüber gesprochen? Müller: Da haben Sie eine gute Frage gestellt. Mein Vater hat mich zwei Mal im Gefängnis besucht. Das erste Mal im Gestapo-Gefängnis hier in München. Das war damals im Wittelsbacher-Palais, das heute nicht mehr steht. Dort hat ihn damals einer der übelsten Verhörer der Gestapo namens Mahler hereingelassen. Ich wurde aus der Zelle geholt und durfte dann an einer Treppe mit meinem Vater sprechen. Mein Vater hatte extra sein Parteiabzeichen angelegt. Herr Mahler trug ebenfalls das Parteiabzeichen. Ich glaube, er hat meinen Vater auch mit "Parteigenosse" angeredet, denn er sagte: "Parteigenosse Müller, Sie haben drei Minuten! Mehr haben Sie nicht. Diese drei Minuten nehme ich auf meine Kappe, denn das darf ich eigentlich nicht." Mein Vater stand also vor mir und fing nach einigen Momenten an zu weinen. Er fragte mich, wie es mir geht, und ich antwortete "gut", obwohl ich doch in einer Zelle eingesperrt war, die dreifach überbelegt war usw. Das war die eine Sache. In einem späteren Gefängnis hat er mich dann ebenfalls besucht. Es hat also sehr wohl einen Kontakt gegeben. Dieser Kontakt war aber für ihn, wie ich nachher erfahren habe, immer sehr, sehr schwierig gewesen, weil er immer Angst hatte, dass das in seiner Dienststelle bekannt werden könnte. Wenn dem so gewesen wäre, dann wäre er dort natürlich sofort hinausgeworfen worden. Dann hätte er keine Arbeit mehr gehabt und die Familie wäre in Not geraten. Dies muss man ihm ganz einfach zubilligen. Lindenmeyer: Er hatte also vorher im Faschismus Angst und er hatte nachher in der Demokratie Angst. Müller: Nun, die Angst später nach dem Krieg ließ sich doch recht gut überwinden, denn das lief ja alles sehr schnell und sehr gut wegen des Oberbürgermeisters Scholl und auch meinetwegen: Er wurde sehr schnell entlastet. Scholl sagte nämlich: "Die Erziehung, wie sie der Franz Müller in seiner Familie erfahren hat, kann nicht schlecht gewesen sein. Im Gegenteil, sie muss sehr gut gewesen sein. Seinen Vater können wir also nicht als Nationalsozialisten bezeichnen, wenn sein Sohn so geraten ist!" So war Scholls Argumentation, woraufhin dann mein Vater von der Spruchkammer als "nicht belastet" eingestuft worden ist. Lindenmeyer: Sie selbst sind in diesem Verfahren vor dem so genannten Volksgerichtshof nicht zum Tode verurteilt worden. Sie saßen dann aber im Gefängnis - oder im Zuchthaus? Müller: Im Gefängnis! Lindenmeyer: Befreit wurden Sie dann von den Amerikanern. Wie kamen Sie denn als junger Mann nach der Befreiung zurecht? Sie mussten sich ja entscheiden, was Sie in Ihrem Leben werden wollen. Sie sind bzw. waren bei den Sozialdemokraten aktiv. Müller: Nein, nicht ganz. Ich war lange Jahre bei der Vereinigung der verfolgten Sozialdemokraten, also bei denjenigen, die im Dritten Reich im Gefängnis, im Zuchthaus oder im KZ gewesen waren. Ansonsten war ich in der SPD nicht aktiv. Lindenmeyer: Sie mussten sich jedenfalls nach dem Krieg entscheiden, was Sie werden. Sie wollten nicht Historiker werden, nicht Politiker werden. Sie haben Philosophie, Geschichte und Jura studiert, und zwar in Tübingen, Basel und Freiburg, also im schwäbisch-alemannischen Umfeld. Mit welcher Berufsvorstellung haben Sie diese Fächer studiert? Müller: Mit keiner, außer mit derjenigen, dass ich mich um das kümmern muss, was in Deutschland schief gelaufen ist. Diese vielen Todesurteile und dieses ungezählte Leiden darf man nicht auf sich beruhen lassen. Das war mir sehr schnell klar, denn es hat sich ja in den ersten Jahren der Bundesrepublik überhaupt nichts bewegt auf diesem Gebiet. Diese Urteile aus dem Dritten Reich wurden ganz einfach als gültig angesehen. Deswegen hatte ich wohl auch meine Neigung zu Jura. In diesem Fach habe ich dann ja auch mein Staatsexamen gemacht. Philosophie und all die anderen Fächer habe ich unmittelbar in den ersten Jahren nach dem Krieg studiert. Ich kann mich noch genau daran erinnern, dass der Erste überhaupt, der eine Rede auf die "Weiße Rose" gehalten hat, der damals sehr bekannte Romano Guardini gewesen ist. Bereits im Jahr 1945 hat er an der Münchner Universität diese Rede gehalten: Er hat damit Dinge angesprochen, die mich unglaublich interessiert haben. Diese Dinge nenne ich jetzt mal der Einfachheit halber den philosophisch-theologischen Komplex. In diese Richtung habe ich also zunächst studiert. Wir mussten ganz einfach wieder auf die Beine kommen, das war alles. Wir mussten wieder auf die Beine kommen, um Boden unter die Füße zu bekommen. Das war der Boden, von dem aus wir unsere Aktionen gestartet hatten. Genau dieses Bodens mussten wir uns gleich nachher jedoch erst noch versichern. Lindenmeyer: Auch die Republik kam dann auf die Beine. Es hatten in dieser Republik allerdings auch alte Nationalsozialisten bis in hohe Regierungsämter hinein ihre Funktionen. Den "Persilschein" hatte es nämlich nicht nur für Mitläufer, sondern auch für viele Mittäter gegeben. Worin sehen Sie eigentlich von heute aus betrachtet das größte Versäumnis im Nachkriegsdeutschland, in dieser damals neu entstandenen Republik? Müller: Das ist eine schwere Frage, denn fast alle Deutschen waren ja durch den Nationalsozialismus sehr schwer beschädigt: manche direkt, weil sie dabei aktiv gewesen waren, manche, weil sie keine andere Meinung gehört und gekannt hatten. Man musste also mit einer Art einfachster Aufklärung anfangen. Das war sehr, sehr schwierig. Denn es waren ja nur wenige, die zurückkamen, die wirklich lebendig zurückkamen. Ein kleines Beispiel dafür: In unserem kleinen Dorf in der Nähe von Ulm gab es am Samstag oder Sonntag Stammtische, an denen einfach Kriegsgeschichten erzählt wurden. Da hieß es: "Das war unsere große Zeit!" Solche Dinge geschahen ja fast bis in unsere Gegenwart hinein. Hier also hineinzukommen und Einfluss zu nehmen, war sehr schwer. Ich wurde im Dorf und unter meinen Bekannten doch als Exot angesehen. Lindenmeyer: Waren Sie für einige sogar ein Nestbeschmutzer? Müller: Ja, auch das habe ich ein oder zwei Mal gehört. Aber das ist lange her. Ich war auf jeden Fall in keiner Weise akzeptiert. Ich war nur dadurch akzeptiert, dass Vater Scholl Oberbürgermeister war. Der Rest in Ulm waren Einheimische oder Flüchtlinge, wie man sie damals nannte, für die ich ein Exot gewesen bin. Diese Leute hatten keinerlei Verständnis allgemeiner Art für die Dinge, die z. B. ich erlebt hatte. Die Flüchtlinge erzählten nur von ihrem gewiss schweren Schicksal und interessierten sich überhaupt nicht für den Widerstand, der im Dritten Reich geleistet worden war. Die Nazis sagten eh nur: "Na ja, es war ja nicht alles falsch, was der Führer gemacht hat. Dass der Krieg verloren ging, ist natürlich ein Riesenunglück." So sah die Stimmungslage aus. Lindenmeyer: Wir kommen nun langsam in die Schlussrunde: Sie sind 1945 angetreten, das Vermächtnis der "Weißen Rose" wach zu halten. Sie haben die Stiftung "Weiße Rose e. V." gegründet, über die wir heute nicht ausführlich gesprochen haben. Aber das kann ja auch ein anderes Mal geschehen. Sie sind aber zugleich auch mit der ganz deutlichen Forderung angetreten, dass sich so etwas niemals wieder ereignen dürfe. Das heißt, sie hatten und haben durchaus ein politisch-ethisch-humanistisches Ideal. Müller: Ja, und diese Grundkonstellation erstreckte sich auch auf diese ganze Zeit danach. Mit dem Kommunismus, und vor allem mit dem Kommunismus stalinistischer Prägung, hatte ich natürlich so wenig am Hut wie mit Hitler und Konsorten. Absolute Diktaturen, aber auch Ideologien, die die Freiheit, die Diskussion und vor allem die Information nicht an oberste Stelle setzen, sind mir mehr als suspekt. Zu dieser Möglichkeit, informiert zu sein, muss ich noch kurz ein Wort verlieren. Man musste im Dritten Reich ja beinahe mit Todesstrafe rechnen, wenn man regelmäßig Informationen haben wollte, wenn man während des Kriegs Auslandssender hörte. Ich glaube, alleine in München sind damals 18 Leuten die Köpfe abgeschlagen worden von den Nazis, weil sie sich Informationen verschaffen wollten, weil sie so genannte Feindsender hörten. Es war also nach dem Krieg zunächst einmal wichtig, über das Radio, über die Zeitungen – das Fernsehen gab es ja zunächst einmal noch nicht – all diese Informationen zu verbreiten und den Deutschen einmal klar zu machen, was in diesem Dritten Reich eigentlich geschehen war. Danach kamen dann noch einige Filme hinzu, die ebenfalls viel Bewegung in diese Sache brachten. Lindenmeyer: Wer wird denn die Geschichte der "Weißen Rose" erzählen, wenn Sie diese Geschichte nicht mehr erzählen können? Müller: Nun, z. B. die Tonbänder werden sie erzählen. Unsere Unterhaltung hier wird diese Geschichte erzählen usw. Darüber hinaus stehen wir ja mit der Stiftung in unglaublicher Korrespondenz z. B. mit vielen, vielen Schulklassen nicht nur aus Deutschland, sondern aus der ganzen Welt. Sie kommen zu uns oder wir fahren zu ihnen. Fast jeden Monat sind bei uns italienische oder französische Schulklassen. Ich selbst komme z. B. gerade von einer solchen Reise aus Lyon zurück. Diese Geschichte ist also da und sie ist auch aufgezeichnet. Wir werden demnächst in der Universität München, wo ja die "DenkStätte Weiße Rose" ihren Platz hat, auch eine Hörstation eröffnen: Dort können dann all die Tonbänder verwendet werden für die Schüler, die zu uns kommen. Ich nehme an, dass auch dieses Gespräch zwischen uns beiden dort mit dabei sein wird. Deswegen wird es Dank dieser technischen Mittel selbstverständlich eine Fortsetzung geben. Lindenmeyer: Sie haben sich über 60 Jahre lang persönlich engagiert und dabei für die "Weiße Rose" sogar ihr Leben riskiert. Später haben Sie die Erinnerung an diese Zeit hochgehalten selbst Leuten gegenüber, die ihre Ohren überhaupt nicht mehr öffnen wollten, um diese Geschichten noch einmal zu hören. Sie haben für Ihr Engagement viele Auszeichnungen bekommen, u. a. die Auszeichnung "München leuchtet" und die Yad-Vashem-Medaille. Welche Auszeichnung ist Ihnen die wichtigste und warum? Müller: Zweifelsohne ist die Auszeichnung mit der Yad-Vashem-Medaille die wichtigste Auszeichnung gewesen. Ich durfte dort damals ja auch selbst sprechen. Lindenmeyer: Das ist eine israelische Auszeichnung. Müller: Ja, und wir sind dort in der Ausstellung in Yad Vashem als einzige deutsche Gruppe vertreten: weil wir eben 1942 in unserem Flugblatt vom Mord an den Juden berichteten. Lindenmeyer: Yad Vashem ist eine Gedenkstätte, die daran erinnert, die an die Menschen erinnert, die im Widerstand waren und die Juden geholfen haben. Müller: Ja. Lindenmeyer: Das war ein Gespräch mit Franz Josef Müller. Meine Damen und Herren, es gibt einen wichtigen Satz von Sebastian Haffner in seinem Buch "Anmerkungen zu Hitler": "Die deutsche Geschichte mit Hitler ist nicht zu Ende. Wer das Gegenteil glaubt und sich womöglich darüber freut, weiß gar nicht, wie sehr er damit Hitlers letzten Willen erfüllt." Auch deshalb hat dieses Gespräch heute stattgefunden. Ich danke Ihnen, dass Sie uns Ihre Aufmerksamkeit geschenkt haben. Ihnen, Herr Müller, vielen Dank für dieses Gespräch. Müller: Ich danke Ihnen.

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