Die Annullierte Literatur. Nachrichten Aus Der Romanlücke Der Deutschen Aufklärung
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Wolfram Malte Fues DIE ANNULLIERTE LITERATUR. NACHRICHTEN AUS DER ROMANLÜCKE DER DEUTSCHEN AUFKLÄRUNG 2017 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN Die Druckvorstufe dieser Publikation wurde vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstützt. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Titelei des Werkes Antiphrastus, Der vergnügte Ritter in der Einöde. Oder: Wunderbare Begebenheiten des Edlen Herrn von Liebensburgs, Frankfurt 1755. © bpk/ Staatsbibliothek zu Berlin. © 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Anja Borkam, Jena Umschlaggestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Satz: Bettina Waringer, Wien Druck und Bindung: General Druckerei, Szeged Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50738-1 INHALT 5 Inhalt 7 Vorrede 9 Vorbericht 77 Erzählen im Angang 197 Wiedergänger 279 Volks Roman. Eine dichotomische Geschichte 343 Schillers Ästhetik und der Bürgerliche Roman 392 Nach- und Hinweise 393 Titelregister der im Text behandelten literarischen Werke VORREDE Den Wanderer auf der breiten Strasse lockt zuweilen ein interessanter Ausblick rechts oder links, abbiegend ihm nachgehend, näher zu sehen, was ihm merkwürdig oder auf- fallend zu sein scheint. Der Historiker der Literatur, der Analytiker einer Kultur wird es sich nicht genügen lassen, nur in die Augen fallenden Phänomenen Aufmerksamkeit zu schenken. Er kann auf abseitigen Wegen oft finden, was ihm eine Erscheinung auf der breiten Bahn wie mit Einem deutlicher macht. Grosses und Kleines ist ja in der Wirk- lichkeit des Gegenwärtigen nicht geschieden; solches tut erst die zeitlich spätere ordnen- de Einsicht. Franz Blei VORBERICHT Wer sich als literaturgeschichtlich informierte, aber nicht spezialisierte LeserIn fragt, wie weit ihre/seine Kenntnis des deutschen Romans im 17. Jahrhundert reicht und wo diese im 18. wieder beginnt, wird zumeist antworten: Der spätes- te mir bekannte deutsche Roman des 17. Jahrhunderts ist Grimmelshausens Simplicius Simplicissimus (1668/69) und der früheste des 18. Jahrhunderts Wie- lands Geschichte des Agathon (erste Fassung, zwei Bände, 1766/67). Wer die Namen Zigler und Lohenstein, Beer und Weise, Bohse und Hunold, Schnabel und Gellert in die Geschichte des deutschen Romans einzuordnen weiß, nähert sich schon dem Spezialistentum, einem Archiv, dessen Räume zwar unmittelbar hinter Kolonnaden des Kanons1 liegen, dessen Türen aber selten bis nie geöffnet werden. Zwischen Grimmelshausen und Wieland klafft die bekannte, beinahe auf das Jahr genau einhundert Jahre währende ,Romanlücke‘, und in eben diese Lücke fallende Werke (oder: Nicht-Werke?) wollen die hier folgenden (und viel- leicht später noch weitere) Untersuchungen vorstellen. Ist ein solches Projekt aber für die Geschichte des Romans in der deutschen Literatur überhaupt nötig und nützlich? Ist es sinnvoll, eine Reihe von (vielleicht ganz zu Recht) verges- senen Romanen wieder zu vergegenwärtigen, den Lebensumständen ihrer Auto- rInnen sowie den sozial- und ideologiegeschichtlichen Bedingungen ihrer Ent- stehung nachzuforschen? Ihre literarische Gestalt, ihre Strukturen und ihre 1 Zum Bedenken und zu den Bedenklichkeiten des Kanons um den Anfang des 21. Jahrhunderts siehe Jan Gorak, The making of the modern canon. Genesis and crisis of a literary idea, London 1991, Gerhard Kaiser/Stefan Matuschek, Hg., Begründungen und Funktionen des Kanons. Bei- träge aus der Literatur- und Kunstwissenschaft, Philosophie und Theologie, „Jenaer Germanis- tische Forschungen“, N. F. 9, Heidelberg 2001, sowie Simonetta Sanna, Hg., Das Kanon in der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, „Akten des 4. Kongresses der italienischen Ger- manistenvereinigung“, Bern 2009. Zum Problem des Kanons in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts siehe den komplexen und sorgfältig abwägenden Aufsatz von Klaus Manger, Bestseller des 18. Jahrhunderts. Ein Überblick, in: Anett Lütteken/Matthias Weishaupt/Cars- ten Zelle, Hg., Der Kanon im Zeitalter der Aufklärung. Beiträge zur historischen Kanonforschung, Göttingen 2009, S. 17–45. Diejenige Literatur, die uns hier beschäftigen wird, bleibt freilich auch bei ihm unberücksichtigt. Siehe außerdem Uwe Hentschel, Vom Lieblingsautor zum Aus- senseiter. Ein Beitrag zur Kanondebatte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2015 (genauer gesagt: im 18. Jahrhundert). 10 Vorbericht Figuren der LeserInnenschaft und der Forschung wieder in Erinnerung zu rufen und damit zu beginnen, ihre Erzählweise zu analysieren und ihren gattungsge- schichtlichen Eigentümlichkeiten nachzugehen? Lohnt sich die Wiederent- deckung, oder gibt es da nichts Lohnendes zu entdecken? Die Germanistik richtet sich, soweit ich sehe, bei aller methodischen Vielfalt und allem kulturgeschichtlichen Eifer hauptsächlich nach der folgenden Fest- stellung: Die Geschichte des neueren deutschen Romans im 18. Jahrhundert beginnt mit Wie- lands ersten Romanen: ,Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva‘ [erschienen 1764] und der ,Geschichte des Agathon‘. Diese beiden Erzählungen unternehmen als erste den Versuch, die europäische Kunstform des Romans in die deutsche Literatur zu übernehmen. Gewiss finden sich auch vor Wieland in Deutschland Romane: zwischen die wenigen Höhepunkte des deutschen Barockromans mit Anton Ulrich von Braun- schweig und Caspar Daniel von Lohenstein auf der höfischen und mit Grimmelshau- sen auf der pikaresken Seite und den großen neuen Beginn nach der Mitte des 18. Jahr- hunderts lagert sich das breite, wuchernde und kaum überschaubare Terrain des galanten Romans, in dem auf niedrigstem literarischem Niveau das heruntergewirt- schaftete Barockrepertoire an Handlungskonventionen und Stilgepflogenheiten zu immer neuen und doch gleichen Mustern zusammengestellt wurde. Dazu gesellten sich je nach der Mode zahllose Robinsonaden und englische Familiengeschichten. Entfernt lässt sich wohl auch in diesen Produkten die Wandlung des europäischen Publikumsgeschmacks von den vielbändigen heroisch-politischen Liebesromanen in der Art der Madame de Scudéry und des Sieur de Calprenède zu den kurzatmigeren und bürgerlich-sentimentalen Familiennovellen des frühen und mittleren 18. Jahr- hunderts feststellen, ohne dass aus diesen Derivaten auf eine innerdeutsche Entwick- lung der Romanform geschlossen werden könnte. Stärker als in England sind der Ba- rockroman und der Gefühlsroman des 18. Jahrhunderts in Deutschland durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt. Erst mit Wieland erreicht die Nachahmung europä- ischer Vorbilder als bewusste Nachschöpfung eigenständige und nun selbst vorbild- liche Geltung.2 2 Norbert Miller, Die Rolle des Erzählers. Zum Problem des Romananfangs im 18. Jahrhundert, in: ders., Hg., Romananfänge. Versuch zu einer Poetik des Romans, Berlin 1965, S. 43f. Siehe dazu auch Dieter Kimpel, Der Roman der Aufklärung (1670–1774), 2., völlig neu bearb. Auf- lage Stuttgart 1977. Kimpel gibt auf den S. 41ff. sowie 104ff. je eine Liste mit Titeln aus der oben genannten „unüberbrückbaren Kluft“, geht aber nicht auf Einzelnes ein und schließt sich Vorbericht 11 Ich fasse zusammen: Es gibt eine europäische – will sagen: französische und englische – Kunstform des Romans. Der deutsche Roman wird erst wieder zur Kunst, als es ihm gelingt, diese Form zu übernehmen und sich anzueignen. An ihrer Entwicklung ist er nicht beteiligt. Neben der französischen und der engli- schen Erzählkultur mit ihren extensiven und intensiven Ordnungen wuchert das deutschsprachige Erzählen in einem epischen Wildwuchs, dessen Dickicht alle ästhetische und ideologische Ordnung verwirrt und zerstört. Wenn das so ist – weshalb ist das so? Wie lässt sich dieses seltsame Nebeneinander erklären? Genügt es, die sattsam bekannte ökonomische und politische Rückständigkeit Deutschlands seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges bis in die zweite Hälf- te des 18. Jahrhunderts anzuführen, um aus ihr auf diejenige der Erzählliteratur zu schließen? Bewahrt vielleicht eben diese scheinbare Rückständigkeit im Medi- um des Romans Rückstände epochaler Mentalität auf, die in fortgeschritteneren Gesellschaften bereits untergegangen und verstummt sind? Wir brauchen, um diese Fragen zu beantworten, einen Begriff, bescheidener: eine Vorstellung, genauer: ein Modell der eigentümlichen Art und Weise, in der die Epoche der Aufklärung3 von ihren Anfängen im Rationalismus bis zu ihrer Aufhebung in Klassik und Idealismus ihre Momente aufeinander bezieht, des Bezuges, der dem allgemein negativen Urteil der Literaturwissenschaft an. Siehe im weiteren Jürgen Jacobs, Das Verstummen der Muse. Zur Geschichte der epischen Dichtungsgattungen im 18. Jahrhun- dert, „Arcadia“ 10 (1975), S. 129–146, sowie Werner Rieck, Zur Vielfalt deutscher Romanlite- ratur zwischen Barock und Frühaufklärung, „Studia Germanica Posnaniensia“ 24 (1999), S. 23–36. – Millers Darstellung der Geschichte des deutschen Romans zwischen 1670 und 1770 hat eine Parallele schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Johann Joachim Eschen- burg nennt, was den deutschen Roman betrifft, in seiner 1788–1795 angelegten Beispielsamm- lung einige Titel des „historischen und