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RALF KLAUSNITZER „So gut wie nichts publiziert, aber eine ganze Generation von Germanisten beeinflußt“. Wissenstransfer und Gruppenbildung im Kreis um (1903–1989)

„Der Germanist Gerhard Scholz, zuerst in Wei- mar, dann an der Humboldt-Universität tätig, war gleichfalls Emigrant. Er sammelte um sich

einen Kreis junger Leute. Aber ich kannte ihn nicht. Ich erlebte ihn nur einmal“, erinnert sich der erste Direktor des Zentralinstituts für Lite-

raturgeschichte an der Akademie der Wissen-

schaften der DDR, Werner Mittenzwei: „Als mir 1970 der Lessing-Preis verliehen wurde, hielt er die Laudatio. Obwohl er über eine Stun- de sprach, kamen in seiner Rede die Preisträ- ger nur in einem Nebensatz vor. Seine Rede galt dem Bildnis Lessings auf der Medaille, die ich

verliehen bekam. Was er sagte, empfand ich als gescheit, originell, aber er sprach wie traumver- loren. Er hat in seinem ganzen Leben so gut wie nichts publiziert, aber eine ganze Generation Abb. 1 von Germanisten beeinflußt. Als Lehrer muß er eine sokratische Ausstrahlung gehabt haben. Mir blieb dieser Einfluß immer unver- ständlich.“1 Es gibt zahlreiche ähnliche Äußerungen über den 1903 in Liegnitz geborenen und 1936 aus Nazi-Deutschland geflüchteten Literaturforscher, der nach dem tschecho- slowakischen und schwedischen Exil 1946 in die Sowjetische Besatzungszone zurück- kehrte und bildungspolitisch aktiv war, bevor er 1949 die Nachfolge von Hans Wahl als Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs in antrat und hier 1950/51 einen legendär gewordenen Germanistenlehrgang für Nachwuchswissenschaftler leitete, um schließlich von 1959–1969 als Professor für Neuere und Neueste deutsche und nor- dische Literatur an der Humboldt-Universität zu lehren. Hans Mayer, auch er „West- Emigrant“ und drei Jahre nach Kriegsende einem Ruf an die Leipziger Universität gefolgt, begegnet Scholz im November 1948 auf einem von der SMAD einberufenen Treffen der Hochschulgermanisten in . Er erinnert sich an einen bemerkenswer-

1 Petra Boden, Dorothea Böck: Interview mit Werner Mittenzwei. In: Dies. (Hrsg.): Modernisierung ohne Moderne. Das Zentralinstitut für Literaturgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR (1969 bis 1991), Heidelberg 2004, S. 53–77, hier S. 58. 340 Ralf Klausnitzer ten Pädagogen, der „ersichtlich beauftragt worden war, einen Kreis neuer, marxistischer Germanisten zu erziehen“ – und zwar vorerst jenseits der Universitäten:

Scholz kam aus schwedischem Asyl: die nordische Gesellschaft hatte ihn ähnlich geprägt wie mich die französische. Ich hatte von ihm gehört, nun lernte ich ihn kennen. Er war herzlich

und zutraulich. Leider ging es ihm, nach einem Wort meines längst verstorbenen Großonkels Ludwig so, daß er ‚es nicht von sich geben konnte‘. Scholz improvisierte in endlos verschlunge-

nen Satzgebilden, den Blick visionär nach oben gerichtet. Was er vortrug, war durchaus hörens-

wert, wenn man auf diese Art eines Denkens und Formulierens mit seltenen und seltensten Fremdwörtern vorbereitet war. Das konnte man vom anwesenden Professorengremium kaum behaupten.2

Während Mayer im ehemaligen Angehörigen der Jugendbewegung und SAP-Mitglied, der 1946 in die SED eingetreten war, später auch den „rechtgläubigen Guru“ und „ideo- 3 logischen Besserwisser“ zu erkennen glaubt, erscheint er dem anfänglich am Weima- rer Theaterinstitut studierenden Gerhard Kaiser als „genialischer Chaot“, der „im Irr- garten der Parteistrategie und Personalpolitik herum taumelte“ und vergeblich gegen (eigene) Blockaden ankämpfte:

Er hatte vielerlei studiert und besaß ein großes, weit ausstrahlendes, aber unorganisiertes Wis-

sen. Als Leiter eines weltberühmten Archivs war er völlig ungeeignet, weil unfähig zur Re- präsentation. Seine öffentlichen Reden versandeten in mäandrierenden Satzgerinnseln. Zu alledem litt er an einer qualvollen Schreibhemmung. Da ihm jegliche Zeitökonomie fehlte,

wurde in seinem Dunstkreis fast Tag und Nacht – wenn auch mit relativ geringem Wirkungs- grad – gearbeitet, und es konnte schon einmal vorkommen, daß, weil sonst kein Platz in der Nähe war, in gefährlichster Nähe zu den wertvollen Handschriften Goethes oder Schillers

nebenbei gefrühstückt oder Kaffee getrunken wurde. Der Arbeitsstil eines Dauerpalavers er- zeugte Erschöpfungszustände, und manchmal rang Gerhard Scholz, am Schreibtisch halb schla- fend, tief in der Nacht mit Hilfe seiner Nachwuchsleute um Formulierungen, wobei aus der allgemeinen Dumpfheit zuweilen noch ein Geistesblitz sprang. Und plötzlich konnte es zu dem kommen, was man heute Brainstorming nennt und bewusst herbeizuführen sucht.4

In der Beschreibung ähnlich, in der Bewertung ganz anders fallen dagegen die Dar- stellungen jener von Werner Mittenzwei erwähnten „jungen Leute“ aus, die sich um

Scholz sammelten und seit der Ablösung „bürgerlicher“ Wissenschaftler Ende der

1950er, Anfang der 1960er Jahre die Geschicke des Faches in der DDR bestimmen sollten. , Angehörige des legendären Weimarer Germanisten-Lehr- gangs von 1950/51 und nach der Promotion beim „bürgerlichen“ Lehrstuhlinhaber Joachim Müller seit 1965 Professorin für Neuere und Neueste Literaturgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität , würdigt Scholz 1969 als „Lehrer und wissen- schaftliche[n] Schrittmacher und Anreger, dessen Lebenswerk sich nicht in besonders zahlreichen und umfangreichen gedruckten Publikationen konzentriert, dessen Wir- kung auf Mitarbeiter und Schüler gleichwohl vielfältig und unbestritten nachhaltig

2 Hans Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen, Bd. II, Frankfurt a. M. 1984, S. 100 f. 3 Ebenda, S. 103. 4 Gerhard Kaiser: Rede, dass ich dich sehe. Ein Germanist als Zeitzeuge, , München 2000, S. 55. Wissenstransfer und Gruppenbildung im Kreis um Gerhard Scholz 341 ist“.5 Dieter Schiller, Scholz-Schüler der zweiten Generation, berichtet von „lebendi- gen Debatten in Arbeitskreisen und Lehrgängen für junge Leute unter Leitung des charismatischen Professors“6; Eva-Maria Nahke preist die von Scholz geprägte „Atmo- sphäre, die reich war an gegenseitigem Gedankenaustausch und fachlichen Anregun- 7 gen“. Durchgehend alle Schüler sprechen in fast schwärmerischen Tönen von einem Lehrer, der in seinen Lektionen „erratische Blöcke von Gebilden, die des Syntakti- schen entbehrten, ins Auditorium schleuderte“, „in diesen Gebilden einleuchtende und leuchtende Einblicke und Ausblicke formulierte“ und „recht eigentlich die ästheti- schen Figuren ausarbeitete, an denen wir [Schüler] literarische Texte unsererseits – jedenfalls in unseren besten Fällen – zum Leuchten bringen konnten“.8 Übereinstimmend schildern diese Äußerungen einen Hochschullehrer, der sehr spe- zielle Vermögen zur Vermittlung von Wissen besessen haben muss: Die Gabe einer Rede, die trotz Zugangsschwierigkeiten beeindruckte und überzeugte, die Befähigung zur Generierung von Ideen im mündlichen Austausch, das Potential zur Integration unterschiedlicher Akteure in kollektive Arbeitszusammenhänge. Aussagen von Scholz-

Schülern fixieren zugleich die Rolle ihres Lehrers in der Wissenschaftslandschaft der noch jungen Republik. Sie liefern eine Deutung, der sich später auch retrospektive Erforscher der Fachgeschichte anschließen werden: dass der aus der Jugendbewegung der 1920er Jahre herausgewachsene und in der S AP politisch beheimatete Scholz, der nach seiner Rückkehr aus schwedischem Exil 1946 in die SED eingetreten war, als

Wegbereiter bzw. „Pionier“ beim Aufbau einer neuen, marxistisch geschulten Wis- senschaftler-Generation in der DDR wirkte.9

Ebenso deutlich benennen diese Äußerungen eine Besonderheit seines Wirkens, die als Auslöser nachhaltiger Irritationen auch von externen Beobachtern vermerkt wur- de und vor allem im Betrieb der modernen Wissenschaft ungewöhnlich scheint: Es ist das weitgehende Fehlen substantieller wissenschaftlicher Publikationen bei gleich- wohl beeindruckender schulbildender Wirksamkeit. Zwar verzeichnet eine Veröf- fentlichungsliste von Gerhard Scholz aus dem Jahr 1961, die im Zusammenhang mit seiner Berufung an die Humboldt-Universität erstellt wurde, insgesamt 24 Titel; doch ergibt sich diese Zahl nur deshalb, weil sie auch Artikel für Tageszeitungen aufnahm

5 Ursula Wertheim: Die marxistische Rezeption des klassischen Erbes. Zur literaturtheoretischen Position von Gerhard Scholz. In: W. Mittenzwei (Hrsg.): Positionen. Beiträge zur marxistischen Literaturtheorie in der DDR, Leipzig 1969, S. 473–527, hier S. 473. 6 Dieter Schiller: „Faszinierender als eine geschriebene Literaturgeschichte“. In: Helle Panke e.V. (Hrsg.): Gerhard Scholz und sein Kreis. Zum 100. Geburtstag des Mitbegründers der Literaturwissenschaft in der DDR, 2004, S. 31–48, hier S. 31. 7 So Eva-Maria Nahke: Was ein wissenschaftlicher Terminus unerwartet auslöste. In: Ebenda, S. 27–30, hier S. 29. 8 Günter Wirth: Vom moralischen Gewinn. Erinnerungen eines ehemaligen Studenten. In: 100 Jahre Ger- manisches Seminar in Berlin. Internationales Kolloquium, Berlin, 25. und 26. November 1987, S. 289–296, hier S. 294 f. 9 So noch Olaf Reincke: Pionier der Germanistik in der DDR. Dem Literaturwissenschaftler Gerhard Scholz zum 85. Geburtstag. In: v. 1.10.1988; ähnlich auch Titel und Tenor der vom Verein „Helle Panke“ herausgegebenen Publikation (wie Anm. 6). Stellvertretend für die externe Beobachtung vgl. Jens Saadhoff: Germanistik in der DDR. Literaturwissenschaft zwischen „gesellschaftlichem Auftrag“ und disziplinärer Eigenlogik, Heidelberg 2007, S. 123–132. 342 Ralf Klausnitzer und qualitativ ungleiches Material zu wissenschaftlichen Beiträgen erhob.10 Dieses De- fizit hat denn auch entsprechende Interpreten auf den Plan gerufen. Während Jens Saadhoff in seiner Darstellung zur Germanistik in der DDR noch vorsichtig mitteilt, es lägen „nur wenige Publikationen von Scholz vor, die sich zudem [. . .] häufig nicht durch außergewöhnliche kognitive Innovativität auszeichnen“,11 formuliert es Reinhard Hahn drastischer: „Festzuhalten bleibt: Scholz hat keine einzige Publikation vorgelegt, die als wissenschaftlich gelten könnte, weder als Direktor des Weimarer Archivs noch als Professor der Berliner Humboldt-Universität.“12

Nun kann man es sicherlich bedauern, „dass Wichtiges seiner Einsichten nicht ver- schriftlicht, nicht für eine größere Fachöffentlichkeit lesbar wurde“.13 Man kann den geringen publizistischen Output des Gerhard Scholz psychologisch zu erklären ver- suchen und dafür eine „unüberwindliche Abneigung“ vor dem dauerhaft fixierenden 14 Wort heranziehen. Wichtiger aber scheint die Klärung von Fragen nach den Voraus- setzungen, den Konditionen und den Konsequenzen dieser Rückkehr zu den Varianten einer mündlichen Direktkommunikation und personal gebundenen Wissenserzeugung bzw. Wissensvermittlung, die sich mit seiner Persönlichkeit sowie seiner Lehrtätigkeit verbanden und von Werner Mittenzwei mit dem Attribut der „sokratischen Ausstrah- lung“ umschrieben worden waren. Denn möglicherweise stellt dieses besondere For- mat wissenschaftlichen Wirkens nicht weniger dar als eine Reaktivierung spezifischer (vormoderner) Formen der Erkenntnisproduktion und -distribution, die näher zu be- stimmende Gründe hatte und in einer besonderen historischen Konstellation überaus folgenreich werden konnte. An dieser Stelle sollen also nicht noch einmal die Mythen um Gerhard Scholz und 15 seinen Schülerkreis dekonstruiert werden. Auch eine weitere Studie zur Geschichte der Germanistik in der DDR unter besonderer Berücksichtigung einer ihrer zentra- len Figuren ist nicht beabsichtigt. Im Zentrum der nachfolgenden Überlegungen ste- hen vielmehr die Konditionen und Verlaufsformen des Transfers von (wissenschaftlichem) Wis- sen in einer Phase tiefgreifender bildungs- und hochschulpolitischer Umbrüche, die auch für die Humboldt-Universität nachhaltige Bedeutung gewinnen sollten. Am Bei- spiel des Literaturforschers Gerhard Scholz und seines für die Fachentwicklung in der

10 Vgl. Leonore Krenzlin: Gerhard Scholz und sein Kreis. Bemerkungen zu einem unkonventionellen Entwurf von wirkender Literatur und Literaturwissenschaft. In: L. Ehrlich, G. Mai (Hrsg.): Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht, Köln u. a. 2000, S. 195–217, hier S. 195; wieder in Helle Panke (wie Anm. 6), S. 5–26, hier S. 5. Dürftig ist auch die Liste von Scholz’ wissenschaftlichen Publikationen in Wertheim (wie Anm. 5), S. 672–673. Dieses im Jahr seiner Emeritierung erstellte Schriftenverzeichnis bezieht ebenfalls die zumeist nur sehr kurzen Beiträge in Tages- und Wochenzeitungen ein und umfasst 20 Titel. 11 Saadhoff (wie Anm. 9), S. 123. 12 Reinhard Hahn: „Sein Einflußpotential bestand in seinen Schülern“. Gerhard Scholz und sein Kreis. Zur Schulenbildung in der Germanistik der DDR. In: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 12 (2009), Stuttgart 2009, S. 133–156, hier S. 142. 13 So Dieter Schlenstedt: Beispiele für Anstöße. Beitrag zur Diskussion über meinen Lehrer. In: Helle Panke (wie Anm. 6), S. 60–64, hier S. 61. 14 So Ursula Püschel: Gerhard Scholz und die Faust-Gespräche – ein wissenschaftliches und politisches Ver- mächtnis. In: Ebenda, S. 52–59, hier S. 52: „Er war ein Gelehrter mit einer offenbar unüberwindlichen Ab- neigung, seine Arbeiten zu fixieren.“ 15 Dazu jetzt umfassend Hahn (wie Anm. 12). Wissenstransfer und Gruppenbildung im Kreis um Gerhard Scholz 343

DDR bedeutsamen Schülerkreises lassen sich nicht nur zentrale Fragen nach den Rah- menbedingungen und Verlaufsformen epistemischer Transferprozesse klären, deren Re- konstruktion zum tieferen Verständnis der Wissensproduktion in den textinter- pretierenden Disziplinen beitragen kann. Eine genauere Observation von (freilich nur schwer greifbaren) Formaten und Funktionsweisen dieser Lehrtätigkeit vermag zugleich jene Prozesse aufzudecken, in und mit denen Wissensbestände in kommunikative Zu- sammenhänge eingespeist und aktualisiert, diskutiert und modifiziert, festgeschrieben oder verworfen werden – und so einen Beitrag zur Klärung allgemeiner wissenschafts- theoretischer und wissensgeschichtlicher Fragen leisten. Dazu sollen zunächst die bildungs- und kulturpolitischen Rahmenbedingungen für das Wirken des Hochschullehrers Gerhard Scholz an der Berliner Universität skizziert werden, bevor in einem zweiten Schritt die besonderen Qualitäten seiner durch Mündlichkeit und Direktkommunikation charakterisierten Lehr- und Forschungstätig- keit rekonstruiert werden. In einem dritten Abschnitt sind die Wirkungen dieses spezi- fischen Wissenstransfers auf die nachfolgenden Wissenschaftler-Generationen zu charak- terisieren. Entfaltet und überprüft werden soll schließlich die leitende These, nach der die besonderen Formen der mündlichen Vermittlung von Wissen einer besonderen epistemischen und historischen Konstellation korrespondierten – so dass die von

Gerhard Scholz favorisierten Vermittlungsformen mehr manifestieren als nur eine defiziente Arbeitsorganisation.

I. Als Gerhard Scholz am 11. Juli 1946 nach 10-jährigem Exil in der Tschechoslowakei und in Schweden im sowjetischen Sektor eintrifft, kehrt er in zerstörtes und von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs bereits verplantes Land zurück. Mit fast 43 Jahren steht er vor einem Neuanfang. Sein zwischen 1925 und 1932 in Tübingen und Heidelberg, Berlin und Breslau absolviertes Studium, in dessen Verlauf er ein später vielfach gerühmtes Wissen akkumulierte und u. a. die Hochschullehrer Friedrich Gun- dolf, Friedrich Meinecke und Eduard Spranger erlebte, hat er 1932 mit dem Staats- 16 examen für das höhere Lehramt abschließen können. An eine wissenschaftliche Kar- riere aber war für den Funktionär der sozialdemokratischen Jugendbildungs- und Gewerkschaftsarbeit nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten nicht mehr zu den- ken gewesen; die begonnene Dissertation über Christoph Georg Lichtenberg fiel 1936 einer Hausdurchsuchung in Breslau zum Opfer. Vor drohender Verhaftung geflohen, hatte er in Prag an der von und Konrad Falke herausgegebenen Zeit- schrift Maß und Wert mitgearbeitet und sich an der Gründung der Thomas-Mann-Gesell- schaft deutscher Emigranten in Prag und der Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend beteiligt. Seit 1938 in Schweden, hatte er hier als Fabrikarbeiter und Schulungsleiter von Gewerkschaftskursen seinen Lebensunterhalt verdient, später an der Universität

16 Scholz studierte als Werkstudent, d. h. ohne elterliche Unterstützung, Germanische Philologie, Geschichte, Philosophie, Kunstgeschichte und Religionswissenschaften, wobei die Reihenfolge die Bedeutung dieser Fä- cher für ihn anzeigt; vgl. Ursula Püschel: Eine Zeitung, ein Autor, ein Buch. In: Dies. (Hrsg.): Gerhard Scholz: Faust-Gespräche, Leipzig 1983, S. 291–322, hier S. 303. Das letztgenannte Fach besaß für ihn auch lebens- geschichtliche Relevanz, wie eine von Püschel zitierte Selbstcharakteristik („Ich komme aus der religiösen Bewegung“) belegt. 344 Ralf Klausnitzer

Stockholm als wissenschaftlicher Assistent am Humanistischen und Historischen Se- minar sowie als Dozent am sozialwissenschaftlichen Institut gelehrt. Doch was kann er mit diesen Kompetenzen im zerstörten Berlin anfangen, in das er den zweiten Trans- port aus der skandinavischen Emigration führt? Sein Vater, ein Volksschullehrer, und seine Mutter sind im letzten Kriegsjahr verstorben; der Geburtsort Liegnitz – in dem er frühzeitig Kontakt zur Jugendbewegung und zu sozialistischen Organisationen ge- sucht hatte – gehört nun ebenso zu Polen wie die Stadt Breslau, in der er das Staats- examen ablegte und die Promotion vorbereitete. Die akademischen Lehrer sind ver- streut oder nicht mehr am Leben. Paul Merker, der als Pionier einer „sozialliterarischen Methode“ einen noch näher zu bestimmenden Einfluss auf Scholz nahm und mit re- gen akademischen Kontakten zu nordischen Ländern das Interesse an Skandinavien geweckt hatte, ist 1945 in Stolpen in Folge des Bombenangriffs auf Dresden gestorben; der gleichfalls in Breslau lehrende Sprachwissenschaftler Theodor Siebs, an dessen Schle- sischem Dialektwörterbuch Scholz zwischen 1932 und 1934 mitarbeitete, ist bereits seit 1941 tot. In dieser Situation wird die am 29. Januar 1946 wiedereröffnete Universität im Zen- trum Berlins ein erster Anlaufpunkt. Im Oktober 1946 beginnt Scholz eine Tätigkeit als Assistent an der neu gegründeten Pädagogischen Fakultät. In dieser Einrichtung – die Reformvorstellungen linksorientierter Pädagogen aus der Zeit der Weimarer Re- publik aufnimmt und mit der Vorstudienanstalt als „rote Insel“ der Universität gilt – soll nicht mehr nur die Ausbildung von Gymnasiallehrern, sondern die Lehrerausbildung insgesamt zu einer Hochschulangelegenheit gemacht werden. Dekan dieser Fakultät ist Wilhelm Heise, ein Deutschlehrer und alter Kommunist, der zugleich die Fach- richtung Deutsch-Methodik leitet und in seinen Literaturseminaren einen marxistisch 17 fundierten Umgang mit Texten und Kontexten vermittelt. Zugleich bildungspolitisch aktiv, ist Heise so beansprucht, dass er seine Impulse für neue Umgangsformen mit der literarischen Überlieferung nur selten in Schriftform, sondern „fast ausschließlich 18 über persönliche Ausstrahlung und persönliche Anregungen vermittelt“ – und auch darin zu einem Muster für Gerhard Scholz wird. Seine Lehrveranstaltungen, die vor allem die moderne Literatur behandeln und gerade erschienene Werke wie Hermann

Hesses Glasperlenspiel und Thomas Manns Doktor Faustus einbeziehen, entwickeln eine solche Attraktivität, dass auch marxistisch orientierte Germanistik-Studenten der Philo- sophischen Fakultät an ihnen teilnehmen. Edith Braemer und Lore Kaim, Eva-Maria

Remmlinger (verh. Nahke), Ursula Wertheim und Hans Kaufmann bilden neben Inge Diersen (die sich 1947 an der Pädagogischen Fakultät immatrikuliert hatte, weil an der Philosophischen Fakultät keine Studienplätze mehr vorhanden waren) den Stamm für den ab 1948 tätigen „Literatursoziologischen Arbeitskreis“, der auch für Scholz’ weiteres Wirken wichtig werden soll.

17 Materialien zur Geschichte der marxistischen germanistischen Literaturwissenschaft in der DDR. Gespräch mit Inge Diersen. In: ZfGerm 4 (1983), S. 290–298, hier S. 290. 18 Inge Diersen: Zum Wirken von Wilhelm Heise. In: 100 Jahre Germanisches Seminar in Berlin. Internatio- nales Kolloquium, Berlin, 25. und 26. November 1987, S. 269–271, hier S. 269. Wissenstransfer und Gruppenbildung im Kreis um Gerhard Scholz 345

Gerhard Scholz ist aber nicht nur an der Pädagogischen Fakultät aktiv. Nach oder auch parallel zu der bis zum Dezember 1947 währenden Tätigkeit an der Berliner

Universität – die Angaben in den Lebensläufen und Personalfragebögen sind nicht ein- deutig – wirkt er als ordentlicher Mitarbeiter am Marx-Engels-Lenin-Institut sowie als persönlicher Referent für den Präsidenten der Deutschen Verwaltung für Volks- 19 bildung, Paul Wandel. In diesen Funktionen kann er sehr genau die aktuellen Schwie- rigkeiten des eigenen Faches innerhalb der allgemeinen politisch-kulturellen Umbruch- situation beobachten. Es ist vor allem der Mangel an qualifizierten und politisch unbelasteten Hochschullehrern, mit denen das Germanische Seminar in Berlin sowie die Seminare an den anderen sechs Universitäten in der SBZ, die der im Herbst 1945 wiedereröffneten Universität Jena folgen und in den darauf folgenden Monaten ihre

Pforten öffnen, zu kämpfen haben. Während in Leipzig mit dem Sprachwissenschaft- ler Theodor Frings und dem Literaturhistoriker Hermann August Korff zwei renom- mierte Gelehrte zur Verfügung stehen, die dem Alter nach zwar bereits zu emeritie- ren sind, jedoch weiter lehren wollen und als politisch unbescholten gelten, sind in Berlin alle vier Lehrstühle vakant, nachdem Franz Koch, Hans Kuhn und Hans Pyritz wegen Parteimitgliedschaft entlassen wurden und der Altgermanist Julius Schwietering sich nicht zurückgemeldet hatte. In Jena ist die neuere Abteilung unbesetzt, da sich der bisherige Stelleninhaber Arthur Witte vor dem Einmarsch der sowjetischen Trup- pen das Leben genommen hatte; der Ordinarius der älteren Abteilung Carl Wesle gilt wegen eines zweifachen Aufnahmeantrags in die NSDAP als untragbar. In Halle be- hält der politisch unbelastete Ferdinand Josef Schneider seinen seit 1921 besetzten Lehr- stuhl (hat allerdings wie die seit 1925 amtierenden Leipziger Professoren Korff und

Frings die Altersgrenze erreicht); der Altgermanist Georg Baesecke hingegen war 1933 in die NSDAP eingetreten und soll deshalb nicht weiterlehren. In Rostock bleibt die neuere Abteilung unbesetzt, nachdem Willi Flemming durch den Wechsel in den Wes- ten seiner Entlassung zuvorkam; in Greifswald sind die Ordinarien Leopold Magon und Hans Friedrich Rosenfeld „belastet“.

Diese komplizierte Personalsituation markiert einen Ausgangspunkt für die Entwick- lung der germanistischen Literaturforschung in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der 1949 gegründeten Deutschen Demokratischen Republik. Sie stellt zugleich die

Weichen für den weiteren Weg des Gerhard Scholz, der zwar über eine philologische

Ausbildung verfügt und sich mit Assistententätigkeit in der Pädagogischen Fakultät sowie durch Vorträge im 1948 begründeten ,Literatursoziologischen Arbeitskreis‘ in das langsam wieder in Gang kommende akademische Leben einführt, doch noch kei- ne Nachweise für die Qualifikation zum Hochschullehrer erbringen kann. Berufun- gen gehen vorerst an fachexterne Kandidaten, die sich gleichwohl bereits ausgewiesen haben. Der Remigrant Hans Mayer, der 1948 als ordentlicher Professor für Kultur-

19 Vgl. den Personalfragebogen v. 15.6.1959, zitiert nach Krenzlin (wie Anm. 10), S. 9: „1946/48 Pers. Refe- rent des Ministers/Volksbildung 1948/49 Assistent, Pädagog. Fakultät Germanistik 1948/49 Marx-Engels- Institut, ordentlicher Mitarbeiter“. Die bereits im Oktober 1946 beginnende Tätigkeit an der Pädagogi- schen Fakultät der Berliner Universität wird aus einem Schreiben an den Verwaltungsdirektor v. 17.12.1946 deutlich; vgl. Krenzlin (ebenda). 346 Ralf Klausnitzer soziologie, Geschichte der Nationalliteraturen und Deutsche Literaturgeschichte an die neuerrichtete Gesellschaftswissenschaftliche Fakultät der Leipziger Universität berufen wird und während seines fruchtbaren Wirkens als Hochschullehrer später bedeutsame

Intellektuelle wie Volker Braun und Adolf Dresen, Hans Dahlke und Walter Dietze,

Werner Hecht und Thomas Höhle, Alfred Klein und Leo Kreutzer, Eike Middell, Günter Mieth und Siegfried Streller, Irmtraud Morgner und Fritz J. Raddatz, Jürgen

Teller und Christa Wolf unterricht, ist promovierter Jurist; sein im Exil verfasstes Buch Georg Büchner und seine Zeit erkennt die Philosophische Fakultät der Universität Leipzig

1948 als habilitationsgleiche Leistung an, um seine Berufung zu ermöglichen. Auch Alfred Kantorowicz, der aus dem USA-Exil zurückkehrt, 1949 durch das Ministerium für Volksbildung zum Professor an der Berliner Humboldt-Universität ernannt und hier zum akademischen Lehrer von Inge Diersen und Klaus Hermsdorf wird, ist juris- tisch promoviert.20 Marxistische Überzeugung und akademische Qualifikation zum Hochschullehrer auf literaturwissenschaftlichem Gebiet hat dagegen der Romanist

Werner Krauss aufzuweisen, der als aktiver Widerstandskämpfer gegen das NS-Re- gime 1943 zum Tode verurteilt worden war. Nach der von Kollegen erwirkten Be- gnadigung und Befreiung aus Zuchthaushaft unterrichtet er seit dem Wintersemester 1947/48 in Leipzig und wird hier – neben dem Kollegen Hans Mayer und dem spä- ter in Weimar und Berlin wirkenden Gerhard Scholz – zur dritten schulenbildenden Instanz in der Literaturwissenschaft der DDR.

Der Mangel an geeigneten Akteuren macht die von Besatzungsmacht und politi- schen Instanzen angestrebte Umgestaltung des Bildungs- und Wissenschaftssystems zu einem langwierigen und widerspruchsreichen Prozess. Den Kulturoffizieren der SMAD wie den Politikern in der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung, an der Scholz zwischen 1946 und 1948 wirkt, wird rasch klar, dass die angestrebte Ersetzung der bisherigen politischen und kulturellen Eliten durch ausgewiesene Marxisten, die eine antifaschistische Umgestaltung und den Aufbau des Sozialismus vorantreiben sollen, nur mittel- bzw. langfristig realisierbar sein wird. Die personelle Verfassung des Hochschulsystems ist infolge des Krieges und einer zunächst rigorosen Entnazifizierungs- politik so desolat, dass an den meisten Universitäten der SBZ nicht einmal die

Mindestanforderungen zur Aufnahme des Lehrbetriebs gedeckt werden können. Dem- entsprechend wandelt sich die Strategie. Gegenüber verbliebenen „bürgerlichen“ Wis- senschaftlern demonstriert man Offenheit und Toleranz (zumal die Hoffnung besteht, auch diese Forscher für den Aufbau einer neuen Gesellschaft gewinnen zu können). Das Ziel einer rückhaltlosen „Säuberung“ des gesamten Bildungs- und Erziehungs- systems von nazistisch belasteten Lehrern und Professoren wird im Interesse eines rei- bungslosen Funktionierens des akademischen Betriebs relativiert und später ganz auf-

20 Zum Wirken des promovierten Juristen Alfred Kantorowicz als Hochschullehrer an der Berliner Universi- tät vgl. Klaus Hermsdorf: Kafka in der DDR. Erinnerungen eines Beteiligten, hrsg. v. Gerhard Schneider, Frank Hörnigk, Berlin 2006, S. 9 f. Hermsdorf bescheinigt seinem Vorgesetzten, der kurz vor der Berufung des (zuvor jahrelang in Greifswald tätigen) Leopold Magon nach Berlin durch das Ministerium für Volks- bildung zum Professor („mit Lehrauftrag für Neueste deutsche Literatur“) ernannte wurde, dass dieser „we- der unter uns Studenten noch in der Wissenschaftsverwaltung in besonderem Ansehen stand“. Wissenstransfer und Gruppenbildung im Kreis um Gerhard Scholz 347 gegeben.21 Publizistische Plattformen wie die international ausgerichtete Kulturzeit- schrift Sinn und Form oder die auf Ausgleich bedachte Zeitschrift Ost und West de- monstrieren Toleranz; sie übernehmen zugleich eine wichtige Vermittlungsfunktion 22 zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Zugleich setzen gezielte Maßnahmen zur Umgestaltung des kulturellen Lebens wie zur Schaffung einer marxistisch geschulten Wissenschafts-Elite ein. Da deren Ange- hörige aus dem Kreis der Arbeiter und Bauern kommen sollen, um den Charakter der Hochschulen als Bildungsstätten der Besitzenden zu brechen, werden schon 1948

Vorstudienanstalten bzw. Arbeiter- und Bauernfakultäten gegründet, die einen aufgrund seiner Klassenzugehörigkeit vermeintlich politisch besonders zuverlässigen Kaderbestand auf seine universitäre Ausbildung vorbereiten sollen. Die Ausbildung an den Hoch- schulen wird durch außeruniversitäre Seminare und Lehrgänge ergänzt, die einen ausge- wählten Teilnehmerkreis mit neuen Gegenständen und Verfahren vertraut machen sol- len. Einer der Aktivisten dieses Kurssystems wird Gerhard Scholz. Schon 1948 hält er

Vorträge vor dem Arbeitskreis für Literatursoziologie für Nachwuchswissenschaftler und

Studenten an der Berliner Universität, der sich zumeist im Anschluss an die Vorlesungen von Wilhelm Heise versammelt und am Germanischen Seminar verankert ist. Ständi- ge Teilnehmer dieses „Literatursoziologischen Arbeitskreises“ sind neben der Initiatorin

Eva Remmlinger (verh. Nahke) u. a. Heinz Stolpe, Manfred Jelenski, Lore Kaim, Manfred Häckel, Gerhart Hartwig, Edith Braemer, Erich Kühne, Knut Borchard, Inge Diersen, Hans Kaufmann; zeitweilig erscheinen Klara Blenkle, Otto Brandstätter, Horst Eckert, 23 Wolfgang Heise, Heinz Nahke. Aus diesem Arbeitskreis gehen Publikationen hervor, die einen intensiven und produktiven Dialog zwischen Lehrenden und Studierenden dokumentieren, so eine 1949 im Verlag Volk und Wissen Berlin veröffentlichte Samm- lung von Goethe-Gedichten („In Zusammenarbeit mit einer studentischen Arbeits- gemeinschaft der Universität Berlin herausgegeben von Lore Kaim“), eine Goethe- Auswahl für die Schule („Herausgegeben von Gerhard Scholz. Bearbeitet von Fritz

Weiske in Verbindung mit Arnold Bergelt“) sowie eine von Edith Braemer und

21 Schon im Juni 1946 erfolgt die Berufung von Leopold Magon zum ordentlichen Professor für Germanistik an die Universität Greifswald; der gleichfalls aufgrund seiner Mitgliedschaft in der NSDAP belastete Ordinarius Georg Baesecke ist bereits unmittelbar nach Wiedereröffnung der Universität Halle im November 1945 in sein Amt zurückgekehrt. Joachim Müller, wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft 1945 aus dem Schuldienst entlassen, wird 1951 als Professor für Neuere und Neueste Literaturgeschichte an die Universität Jena berufen. 22 Die Geschichte beider Periodika wirft auch ein bezeichnendes Licht auf die (begrenzte) kulturelle Öffent- lichkeit in der SBZ/DDR. Peter Huchel, der 1949 die Redaktion von Sinn und Form auf Wunsch von DDR-Kulturminister Johannes R. Becher übernommen hatte, erregt mit seiner unorthodoxen Editions- politik zunehmend offiziellen Unwillen und gibt nach schweren Vorwürfen 1962 seine Tätigkeit ab. Der Begründer der Zeitschrift Ost und West Alfred Kantorowicz (1899–1977) wird nach deren verordneter Ein- stellung 1949 mit einer universitären Position abgefunden: Seine Professur für Neueste deutsche Literatur an der HU ist eine der ersten Stellen für Gegenwartstexte und Kantorowicz – persönlich mit zahlreichen emigrierten Schriftstellern bekannt sowie Begründer des Heinrich-Mann-Archivs an der Berliner Akade- mie der Künste – avanciert zu einem Pionier der literaturwissenschaftlichen Exil-Forschung. Nachdem er sich geweigert hatte, eine Resolution gegen den ungarischen Aufstand zu unterzeichnen, verlässt er im Au- gust 1957 die DDR und widmet sich bis zu seinem Tod 1979 in der Erforschung der Exilliteratur. 23 Vgl. Elisabeth Stoye-Balk: Antifaschistisch-demokratische Umgestaltung am Germanischen Seminar (1945 bis 49). In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. Gesellschaftswissenschaftliche Reihe 36 (1987), S. 848–854, hier S. 853. 348 Ralf Klausnitzer

Hedwig Voegt gestaltete Artikelserie Die Forderung des Tages. Ein Goethebild für den deutschen Werktätigen, die im Juli und August 1949 in der Täglichen Rundschau sowie als Separatdruck erscheint.

Nachdem Gerhard Scholz 1948/49 ein studentisches Winterlager in Masserberg an- geleitet hatte, wird unter seiner Führung 1950/51 der vielfach als „legendär“ bezeich- nete Germanistenlehrgang in Weimar stattfinden, aus dem zahlreiche Repräsentanten des Universitätsfaches und des kulturellen Lebens in der DDR hervorgehen sollen – doch dazu später ausführlicher. Denn bevor Scholz diese Bildungsaufgaben für die nach- rückende Wissenschaftlergeneration übernimmt, macht er Karriere. Am 15. Mai 1949 tritt er die Nachfolge des überraschend verstorbenen Hans Wahl als Direktor des

Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar an und erhält mit dem Titel eines Professors am Theaterinstitut Weimar zugleich die Aufgabe, „eine schon in Angriff genommene, aber kulturhistorisch-konventionelle Ausstellung bürgerlich-musealer Observanz über Goethe und seine Zeit auf der Grundlage einer marxistischen Konzeption wissenschaft- lich neu auszuarbeiten und museumspädagogisch zu gestalten“.24 Der in der akade- misch-kulturellen Öffentlichkeit des noch ungeteilten Landes erst wenig bekannte Scholz präsentiert sich in diesem Jahr auch publizistisch. Nachdem vom 30. Juni bis zum 2. Juli 1949 in Leipzig die Goethe-Tage der deutschen Studenten stattfanden, zu de- nen der Studentenrat der Universität Leipzig Vertreter aller deutschen Hochschulen eingeladen hatte, erscheint in der Zeitschrift Forum zusammen mit der Berichterstat- tung über diese Tagung sein Aufsatz Zur Lage der akademischen Goethe-Rezeption in

Deutschland. In diesem knappen Text resümiert Scholz den Goethe-Kult von seinen Anfängen bis zur aktuellen Debatte zwischen Ernst Robert Curtius und Karl Jaspers; zugleich demonstriert er in Terminologie und Argumentationsfiguren seine Teilnah- me am beginnenden ideologischen Grabenkampf. „Mit Beginn des Imperialismus wer- den auf deutschem Boden die letzten schwachen Wurzelfäden gelöst, welche die Ge- stalt Goethes an den Mutterboden frühbürgerlicher nationaler und demokratischer Bewegung knüpfen“, heißt es hier apodiktisch, um dann schlagwortartig abzurechnen:

Inhaltlich bedeutet die mit Beginn des Imperialismus neue, heute für Existenzialisten wie

Jaspers charakteristische Wendung zum subjektiv Okkassionellen zum mythisierenden Aperçu:

Goethes Bild wird zum Mythos eines vom realen historischen Weg des Volkes zur Nation radikal sich abkehrenden kosmopolitischen „Einzelnen“.25

Als Leiter der Weimarer Institute agiert Scholz rastlos und umtriebig; die Resultate seiner Arbeit aber werden zwiespältig aufgenommen. Einerseits gelingt mit der Kompo- sition der Ausstellung Gesellschaft und Kultur der Goethezeit die markante Präsentation eines neuen, marxistisch begründeten Bildes von Literatur, das ästhetische Kommunika- tion als Reflex gesellschaftlicher Konditionen auffasst und in ihren Zusammenhängen mit sozialen Konflikten deutet. „Dankbarkeit für das Licht, das uns aufging“, bekundet Ursula Püschel, die mit ihrer Berliner Seminargruppe das Museum besuchte:

24 Wertheim (wie Anm. 5), S. 476 f. 25 Gerhard Scholz: Zur Lage der akademischen Goethe-Rezeption in Deutschland. In: Forum 8/9/1949, S. 284. Wissenstransfer und Gruppenbildung im Kreis um Gerhard Scholz 349

Hier war von dem die Rede, wonach auch Brechts lesender Arbeiter gefragt hatte, von den Bau- leuten und von den Soldaten und den Köchen und wer diese Spesen bezahlte. Und wir er- kannten: Goethe stand uns näher, als wir das nach unserem bisschen Bildung in alten deut-

schen Schulen hätten ahnen können. [. . .] Wir konnten dort wahrnehmen, wie die Kunstwerke in einem dichten Gespinst von Bezügen und Beziehungen, materiellen und geistigen, natio- nalen und internationalen, existieren.26

Die Resonanz der Ausstellung ist groß. Zu ihren Besuchern zählen neben dem DDR-

Präsidenten Wilhelm Pieck (der eine Präsentation in allen Hauptstädten der bis 1952 noch existierenden Länder in der DDR empfiehlt) und zahlreichen internationalen

Gästen u. a. auch Helene Weigel und Bertolt Brecht, der von Scholz statistisches Ma- terial zu Lenz’ Hofmeister erbittet, das dieser in seinem „Institut so vorzüglich zusam- mengestellt“ hatte.27

Andererseits schafft Scholz es nicht, die bereits vor seinem Amtsantritt vorhandenen

Mängel in der Archivarbeit abzustellen und die erhoffte Integration breiter gesell- schaftlicher Kreise – auch über die inzwischen staatliche Grenze hinweg – zu realisie- ren.28 Zugleich erfassen ihn die Mühlen einer Parteibürokratie, die mit seinem un- orthodoxen und nicht auf vorgegebener Linie operierenden Marxismus wenig anfangen 29 kann. Als durch eine Regierungsverordnung am 6. August 1953 die Nationalen For- schungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (NFG) gegründet werden, setzt das Sekretariat des ZK der SED nicht Gerhard Scholz als deren Direktor ein, sondern den Leiter der aufgelösten Staatlichen Kommission für Kunstangelegenhei- ten, Helmut Holtzhauer. Ihm gelingt nicht nur die Konsolidierung und Erweiterung der Weimarer Memorialorte; in Abstimmung mit deren Präsidenten Andreas B. Wachs- muth rettet er auch die Goethe-Gesellschaft – in der Scholz weitgehend glücklos agiert hatte – durch mehrere Krisen und bewahrt diese gesamtdeutsche wissenschaftlich-kultu- 30 relle Vereinigung vor der Spaltung.

26 Püschel (wie Anm. 16), S. 310. 27 Brief v. Bertolt Brecht an Gerhard Scholz v. 17.7.1950. In: Goethe-Schiller-Archiv Nr. 117, zitiert nach Püschel (ebenda), S. 311. 28 Prägnant dazu Lothar Ehrlich: Die Goethe-Gesellschaft im Spannungsfeld der Deutschland- und Kulturpo- litik der SED. In: Ehrlich, Mai (wie Anm. 10), S. 251–281, hier S. 257: „Der ideologische und wissenschaft- liche Rigorismus des neuen Direktors [Gerhard Scholz] behinderte zugleich die Durchsetzung der deutsch- landpolitischen Konzeption wie die internen Bestrebungen, das Bildungsbürgertum in der frühen DDR für die sozialistischen Ziele zu gewinnen, so daß ihm 1953 nicht die Leitung der neu gegründeten NFG über- tragen wurde.“ Zum archivarischen Kontext von Scholz’ Wirken in Weimar vgl. Volker Wahl: Die Über- windung des Labyrinths. Der Beginn der Reorganisation des Goethe- und Schiller-Archivs unter Willy Flach und die Vorgeschichte seines Direktorats. In: J. Golz (Hrsg.): Das Goethe- und Schiller-Archiv 1896–1996. Beiträge aus dem ältesten deutschen Literaturarchiv, Weimar u. a. 1996, S. 71–103. 29 Symptomatisch sind die im November 1953 in Thüringer Tageszeitungen veröffentlichten Artikel von Theo Piana, der zu dieser Zeit als Mitarbeiter der Deutschen Akademie der Künste beim Aufbau der NFG in Wei- mar tätig ist und dem Kollektiv um Gerhard Scholz attestiert, gescheitert zu sein: „Die Aufgabe, den groß- artigen literarisch-künstlerischen Besitz zu pflegen, war nicht gelöst worden. Der gutgemeinte und mit großer Energie unternommene Versuch, durch ein gesellschaftswissenschaftliches ‚Goethezeitmuseum‘ die Erstarrung der Goethepflege zu überwinden und unser klassisches Erbe zu einer lebendig wirkenden Kraft werden zu lassen, hat nicht zum erwünschten Erfolg geführt [. . .].“; zitiert nach Püschel (wie Anm. 16), S. 321. 30 Vgl. Ehrlich (wie Anm. 28), S. 267. 350 Ralf Klausnitzer

Gerhard Scholz aber gerät nach dem Scheitern seiner Tätigkeit als Direktor des Wei- marer Archivs ins Abseits. Weiter in der Klassikerstadt lebend, leitet er zwar einen hier 1952 gegründeten Goethe-Arbeitskreis im Kulturbund der DDR, der sich opposi- tionell zu den NFG und zur Goethe-Gesellschaft verhält und monatlich Veranstaltungen durchführt. Doch wird er zwischen den Instanzen der Kultur- und Wissenschaftspolitik zunehmend zerrieben. Alfred Kantorowicz erlebt ihn während der Weimarer Schiller- feiern von 1955 und schildert ihn in seinem Deutschen Tagebuch als einen „hilflosen, schrecklich verprügelten und durchgedrehten Professor“, der mit dem Kulturminister 31 Johannes R. Becher öffentlich über dessen Verteidigung der Poesie disputieren muss; sein Schüler Hans Kaufmann erinnert sich an eine Marginalisierung, die so weit ging,

„daß er überhaupt kein Geld hatte, in seinem teuren Weimarer Haus saß und die Miete nicht bezahlen konnte“.32

Es sind seine Schüler, die ihn von der Weimarer Peripherie schließlich wieder zurück ins Zentrum befördern. Der seit 1955 in Rostock lehrende Erich Kühne – er hatte im

März 1933 in Wien einen Aufnahmeantrag in die NSDAP gestellt, war 1937/38 Lektor in der Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des nationalsozialistischen Schrift- tums und danach Referent im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, bevor er 1948–1951 eine Aspirantur an der Humboldt-Universität absolvierte und am Weimarer Germanisten-Lehrgang unter Scholzens Leitung teilnahm – promoviert seinen nur sechs Jahre älteren Lehrer 1957 mit einer ungedruckt bleibenden Arbeit über den 33 dramatischen Stil des jungen Schiller. Der nach Alfred Kantorowiczs Grenzübertritt als

Professor und Institutsdirektor an der Humboldt-Universität tätige Hans-Günther Thal- heim – auch er ehemaliges NSDAP-Mitglied und nach Arbeit als Neulehrer und ABF-

Dozent 1951/52 als Assistent von Scholz am Weimarer Archiv aktiv – setzt schließlich seine Berufung an die Humboldt-Universität zu Berlin durch, an der Scholz von 1959–1969 als Professor für Neuere und Neueste deutsche und nordische Literatur unterrichtet.34

In diesem Jahrzehnt führt Scholz seine Tätigkeit für die Ausbildung einer neuen, marxistisch geschulten Wissenschaftlergeneration fort. Diese Angehörigen der „wissen- schaftlich-technischen Intelligenz“ (so die offizielle Sprachregelung) sollen nicht nur dem Einfluss der „bürgerlichen“ Wissenschaft entzogen, sondern zugleich durch neue

Loyalitäten gebunden werden. Auch wenn der wenig orthodoxe Marxist Gerhard Scholz diesen Prozess nicht aktiv forciert, ist er doch daran beteiligt, dass mit Beobachtungs- verfahren und Deutungsprinzipien auf der Grundlage einer sich selbst als „wissenschaft-

31 Alfred Kantorowicz: Deutsches Tagebuch. Zweiter Teil, München 1961, S. 551. 32 Petra Boden, Dorothea Böck: Interview mit Hans Kaufmann. In: Boden, Böck (wie Anm. 1), S. 133–173, hier S. 140. Drastisch heißt es hier auch: „Scholz war dann ein Niemand. [. . .] Das lief so lange, bis Thalheim ihn nach Berlin geholt hat.“ 33 Der Titel von Scholz’ Dissertation lautet: Der Dramenstil des Sturm und Drang im Lichte der dramaturgischen Arbeiten des jungen : Stuttgarter Aufsatz von 1782 und Mannheimer Rede 1784. Inter- pretation unter Berücksichtigung der frühen Dramen der sogenannten „Klassischen Periode“. Das Verfah- ren wird im Januar 1958 abgeschlossen. 34 Die Berufung von Gerhard Scholz sichert zugleich den institutionellen Zusammenhang zwischen Germanistik und Nordistik bzw. Skandinavistik, der in den Jahrzehnten nach 1945 an den Universitäten in der DDR wie in der BRD erhalten geblieben war: Schon Leopold Magon aus Greifswald war 1950 an die 1949 umbenann- te HU als Professor für Neuere deutsche und nordische Philologie und Theaterwissenschaft berufen worden. Wissenstransfer und Gruppenbildung im Kreis um Gerhard Scholz 351

lich“ verstehenden Weltanschauung politisch-ideologische Normen und Werte imple- mentiert werden: Ausrichtung der Wissensproduktion auf gesellschaftlichen Nutzen, Überzeugung von der führenden Rolle einer staatstragenden Partei, Orientierung am sowjetischen Vorbild. Die sich seit Ende der 1940er Jahre zuspitzende Blockkonfron- tation und die Gründung zweier deutscher Staaten haben diesen Prozess beschleunigt. Im Zuge des 1951 verkündeten „Aufbau des Sozialismus“ verschärfen die SED und die von ihr dominierten Institutionen nach einer zunächst liberalen Politik ihre An- strengungen, den Marxismus-Leninismus als Bildungs- und Erziehungsideal sowie als ideologisches Fundament des Wissenschaftssystems zu etablieren. Dazu werden insti- tutionelle Weichenstellungen vorgenommen, die den Lehr- und Forschungsbetrieb in der DDR nach sowjetischem Vorbild gestalten: Die Einführung des 10-monatigen Stu- dienjahres, die Übernahme der Aspirantur zur Förderung des Nachwuchses und die Entwicklung staatlicher Studienpläne, die Lehrstoffe und Leistungsanforderungen für die Studierenden eindeutig fixieren, geben Muster der universitären Ausbildung vor, die (unter partiellen Modifikationen) bis zum Ende der DDR bestimmend bleiben sollten. Zwar wird die Einheit von Forschung und Lehre nicht gänzlich aufgegeben, doch verlagern sich Forschungsaktivitäten zunehmend an die angesehene Akademie der Wissenschaften sowie an die von der SED geschaffenen Parteiinstitute. Ein wesentliches Mittel zur Umsetzung der seit Beginn der 1950er Jahre verfolgten Strategie, die Literaturwissenschaft in eine marxistisch-leninistische Gesellschaftswis- senschaft umzuwandeln und mit entsprechendem akademischem Nachwuchs zu versor- gen, ist die Schaffung publizistischer Foren. Doch zeigen sich auch hier Differenzen.

Während man in Weimar 1955 die Reihe Beiträge zur deutschen Klassik begründet (in der Scholz-Schülerinnen wie Edith Braemer und Ursula Wertheim ihre Qualifikations- schriften publizieren, die aber durch den Jenaer Professor Joachim Müller promoviert werden), geben der in Leipzig lehrende Hans Mayer und der später an der Berliner

Wissenschaftsakademie wirkende seit 1955 die Schriftenreihe Neue Bei- träge zur Literaturwissenschaft heraus, von der bis 1963 insgesamt 19 Bände erscheinen.

Die Scholz-Schüler Hans Kaufmann und Hans-Günther Thalheim initiieren dagegen die Reihe Germanistische Studien, die zwischen 1964 und 1984 erscheint. In dieser Buch- reihe wird auch die Festschrift zum 65. Geburtstag des inzwischen in Berlin lehrenden Lehrers veröffentlicht, in dem die Beiträger und Herausgeber („die sich als Literatur- wissenschaftler und Hochschullehrer ihrer Funktion als aktive Träger ideologischer Pro- zesse innerhalb der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung in der Deutschen Demokra- tischen Republik bewusst sind“) nun ihrem „Kollegen, Lehrer, Freund und Genossen

Gerhard Scholz“ danken – und zwar für „Anregungen, Hinweise und Anleitungen, den Marxismus als Weltanschauung und Methode im literaturwissenschaftlichen Be- reich fruchtbar zu machen und eine sozialistische Germanistik entwickeln zu helfen“.35

Für die Verstetigung der wissenschaftlichen Kommunikation ist gleichfalls gesorgt.

Im Jahr 1955 wird die Zeitschrift Weimarer Beiträge als das zentrale Periodikum für „Theorie und Geschichte der deutschen Literatur“ gegründet; ab 1957 führt sie den

35 Hans-Günther Thalheim, Ursula Wertheim (Hrsg.): Studien zur Literaturgeschichte und Literaturtheorie. Ger- hard Scholz anlässlich seines 65. Geburtstages gewidmet von seinen Schülern und Freunden, Berlin 1970, S. 9. 352 Ralf Klausnitzer

36 Nebentitel Zeitschrift für deutsche Literaturgeschichte. Ihr Titel ist ebenso mit Bedacht gewählt wie ihr Herausgeberkollektiv. Analog zu den auch in der DDR öffentlich ze- lebrierten Dichter-Ehrungen (1949 Goethe, 1953 Herder, 1954 Lessing, 1956 Heine und 1959 Schiller) und zur Gründung der NFG stellen die Weimarer Beiträge das huma- nistische Erbe der deutschen Literatur und namentlich die als progressiv erachteten Leistungen der Klassik ins Zentrum. Erste Herausgeber sind der Schriftsteller Louis Fürnberg, der 1946 aus palästinensischem Exil in die C&SR zurückgekehrt und 1954 nach Weimar übergesiedelt war, und der bei Scholz ausgebildete, doch 1954 bei Joachim

Müller in Jena promovierte Hans-Günther Thalheim, der als Lehrer an der so genannten

Vorstudienanstalt der Leipziger Universität 1951 zum Weimarer Germanisten-Lehr- gang delegiert worden war. Die so auch auf personaler Ebene symbolisierte Koalitions- politik prägt denn auch das Erscheinungsbild der ersten Jahrgänge: Neben Texten mar- xistischer Nachwuchswissenschaftler wie Edith Braemer und Hans Jürgen Geerdts, Hans

Kaufmann und Ursula Wertheim werden Beiträge des „bürgerlichen“ Professors Joachim

Müller und z. T. umfangreiche Arbeiten westlicher Wissenschaftler wie etwa des in

Cambridge lehrenden Walter H. Bruford veröffentlicht. In den Weimarer Beiträgen er- scheint auch einer der wenigen genuin fachwissenschaftlichen Texte von Gerhard

Scholz, der 1974 in einem Sammelband der Schriftenreihe Scriptor Taschenbücher Literatur- 37 wissenschaft im Kronberger Athenäum-Verlag wieder abgedruckt wird.

Doch neben diesem Text und den Faust-Gesprächen, die Scholz auf später noch nä- her zu bestimmende Weise „abgerungen“ und zuerst 1964/65 in der Studentenzeitung Forum veröffentlicht wurden, publiziert der Literaturforscher auch im Jahrzehnt seines Wirkens als Hochschullehrer an der Humboldt-Universität nur sehr wenig. Ein Grund dafür können außer der dokumentierten Schreibhemmung zunehmende institutionelle Verpflichtungen gewesen sein. Scholz, der weiterhin über gute Kontakte zu Gelehrten in Skandinavien verfügt und sich an führender Stelle in der damaligen Deutsch-Nordi- schen Gesellschaft betätigt, wird zum 1. Dezember 1960 Leiter der nordischen und nieder- ländischen Abteilung; er übernimmt zugleich den Lehrstuhl für Neuere Skandinavistik. Die im November 1960 anlässlich der universitären Jubiläumsfeierlichkeiten am Ger- manistischen Institut durchgeführte Konferenz Militarismus und Krieg in der Spiegelung des kritischen und sozialistischen Realismus seit Fontane und Hauptmann wird von ihm we- sentlich mitvorbereitet und durch ein (weithin beachtetes) Referat zu Strindbergs 38 Friedensnovelle strukturiert; seine Vorlesungen – insbesondere zu Goethe, aber auch

36 Vgl. Gunter Schandera, Heidrun Bomke, Dagmar Ende, Dieter Schade, Heike Steinhorst: Die „Weimarer Beiträge“ zwischen 1955 und 1971. Eine Zeitschrift auf dem Weg zum „zentralen Organ der marxistischen Literaturwissenschaft in der DDR“? In: P. Boden, R. Rosenberg (Hrsg.): Deutsche Literaturwissenschaft 1945 bis 1965. Fallstudien zu Institutionen, Diskursen, Personen, Berlin 1997, S. 261–330; Wolfgang Adam, Hol- ger Dainat, Dagmar Ende (Hrsg.): Weimarer Beiträge. Fachgeschichte aus zeitgenössischer Perspektive. Zur Funktion und Wirkung einer literaturwissenschaftlichen Zeitschrift, Frankfurt a. M. u. a. 2009. 37 Gerhard Scholz: Zur Epochenchiffre bei Fichte und den deutschen Klassikern. In: Weimarer Beiträge 10 (1965), S. 163–184; erneut in H. Kaufmann (Hrsg.): Positionen der DDR-Literaturwissenschaft, Bd. 1, Kron- berg/Ts. 1974, S. 199–220. 38 Dazu Frank Wagner: Die Konferenz „Frieden – Krieg – Militarismus im kritischen und sozialistischen Rea- lismus“ 1960. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. Gesellschaftswissen- schaftliche Reihe 36 (1987), S. 871–877. Wissenstransfer und Gruppenbildung im Kreis um Gerhard Scholz 353 die den Expressionismus rehabilitierenden Lektionen zur Literatur an der Schwelle zum Imperialismus – finden öffentlich Beachtung.39 1965 initiiert er an der Humboldt-Univer- sität Tage der schwedischen Literatur und wirkt als Vizepräsident der Deutsch-schwedischen Gesellschaft. Dazu kommt die Betreuung zahlreicher Diplomarbeiten und Dissertationen. Eigene Schriften aber bleiben aus.

So lässt sich letztlich auch für das Jahrzehnt seines Wirkens an der Berliner Hochschu- le konstatieren, dass Gerhard Scholz seine Kenntnisse fast ausschließlich im unmittelbaren mündlichen Austausch vermittelte – und also im Modus einer Kommunikation, de- ren spezifische Züge nun näher zu bestimmen sind.

II. Ein Wissenschaftler ohne Werk? So scheint es zumindest bei der Durchsicht von

Gerhard Scholz’ wenigen und z. T. nur schwer zugänglichen Publikationen. Doch wie verträgt sich dieser Befund mit den zahlreichen Würdigungen seiner schulbildenden

Qualitäten? Wie gelang es dem offenkundig nur schwer zu einer schriftlichen Darstel- lung seines Wissens findenden Philologen, ein Wirkungspotential zu entfalten, das „nicht nur erheblichen Einfluss auf die literaturwissenschaftliche Ausbildung an den Univer- sitäten der DDR ausübte, sondern auch in einem für Universitätsprofessoren unge- wöhnlichen Grade in die kulturelle Praxis hineinzuwirken vermochte“40? Und wie schaffte es der von Ideen und Anregungen überbordende Forscher, ein „eigenständiges, durchaus marxistisches, jedoch dem offiziellen Klassik-Konzept der DDR entgegen- arbeitendes Modell für den Umgang mit der Literatur“ zu entwickeln und „sehr ef- fektiv in Umlauf “41 zu bringen, wenn ihm doch wesentliche Eigenschaften für die wissenschaftliche Modellbildung wie kategoriale Ordnung und Systematik fehlten? Ein Grund für die erfolgreiche Proliferation seiner Ideen bei weitgehendem Fehlen druckschriftlicher Äußerungen kann in den Mustern und Verlaufsformen eines spezifi- schen Wissenstransfers vermutet werden, der sich hier in gleichsam exemplarischer Prägnanz studieren lässt. Denn wenn die Leistung des in Berlin und Weimar wirkenden Hoch- schullehrers in jener für den modernen Wissenschaftsbetrieb unabdingbaren Weiter- gabe von Kenntnissen und Verfahren an die nachwachsende Wissenschaftlergeneration bestand, substantielle Publikationen aber nicht realisiert wurden bzw. ausblieben, dann sind für seinen Erfolg andere Bedingungen und Beweggründe auszumachen. Folgt man den Darstellungen beteiligter Akteure und retrospektiver Beobachter, lassen sich als die besonderen Qualitäten dieses Wissenstransfers spezifische Eigenschaften ermitteln, die durch weitgehende Substitution druckschriftlich bzw. medial vermittelter Kommunika- tion gekennzeichnet sind: Die von Gerhard Scholz realisierten Prozesse der Wissensver- mittlung vollziehen sich als mündliche Verständigungsleistungen bei physischer Ko-Präsenz und tendenziell symmetrischer Partizipation der Teilnehmer, in deren Rahmen verbale Instruktionen gemeinsame (kollektive) Erkenntnisprozesse initiieren und vorantreiben. Eine Rekonstruktion dieses durch gemeinsame Präsenz und unmittelbare Interaktion, mündlichen Kontakt und direkte Verbalkommunikation gekennzeichneten Wissens-

39 Olaf Reincke: Die Vorlesung „Literatur an der Schwelle zum Imperialismus“ von Gerhard Scholz. In: Ebenda, S. 863–870. 40 Krenzlin (wie Anm. 10), S. 195. 41 Ebenda, S. 195. 354 Ralf Klausnitzer transfers fällt nicht leicht. Denn dazu ist man vor allem auf die Erinnerungen seiner Schüler und Kollegen angewiesen; und diese Zeugnisse sind – wie alle von beteiligten

Akteuren stammenden Aussagen – nicht vor der Gefahr der subjektiven Wahrnehmung und Verzeichnung gefeit. Sind schon die Unterschiede in der Visibilität der wissen- schaftlichen Kommunikation angesichts schriftlicher Zeugnisse eine Herausforderung, so wachsen diese Schwierigkeiten einer retrospektiven Rekonstruktion von Kommu- nikationszusammenhängen innerhalb einer scientific community bei dieser spezifisch ein- geschränkten Überlieferungslage: Die in Lehrveranstaltungen und persönlichen Dis- kussionen ausgetauschten Argumente sind – nicht zuletzt aufgrund der Viskosität des wissenschaftlichen Austauschs – nur eingeschränkt in authentischer Weise zu ermitteln; ein durch exemplarische Beispiele und Imitation erworbenes Verfahrenswissen bleibt (nicht allein in historiographischer Hinsicht) ein nur schwer fixierbarer epistemischer Bestand.

Bestimmung und Bewertung von Argumenten und praktizierten Verfahren werden so zu einer wissenschaftshistorisch wie wissenssoziologisch herausfordernden Aufgabe. Doch auch wenn die hier nur angedeuteten Bedingungen die Rekonstruktion die- ses Wissenstransfers erschweren, machen Aussagen von Angehörigen der „Scholz-Schu- le“ einen ersten tentativen Zugriff möglich. In ihnen erscheinen die Wirkungen des akademischen Lehrers als Resultate intellektueller Habitusformen, deren Ausprägun- gen von einem eigentümlichen rhetorischen Charisma bis zur „Entwicklung kollekti- 42 ver Arbeitsweisen“ reichen und die in spezifischer Weise auf Konditionen des mo- dernen Lehr- und Forschungsbetriebs reagieren. Punktuelle Bemerkungen zu ihnen müssen genügen, um die singulären Qualitäten dieses habituellen Dispositivs und der davon geprägten Formen der Wissensvermittlung zu skizzieren und so die Basis für allgemeinere Aussagen zu den Voraussetzungen und den Konsequenzen von Wissens- transferprozessen unter den Bedingungen epistemischen Wandels zu schaffen. Zuvor ist jedoch noch auf die komplexen Bedingungen dieses (zumindest auf personaler Ebene erfolgreichen) Transfers von Konzepten und Methoden durch Gerhard Scholz hinzu- weisen – bilden sie doch eine zugleich rahmenbildende wie intern strukturierende Kondition für die Entfaltung seiner besonderen Lehr- und Forschungstätigkeit. Diese rahmenbildende und zugleich strukturierende Kondition des hier zu beobach- tenden Wissenstransfers stellt jene institutionengeschichtliche Konstellation dar, die den universitär erst wenig profilierten Gerhard Scholz 1949 aus dem Berliner Zentrum an die Peripherie nach Weimar führt. Mit der Aufgabe betraut, eine „bislang kulturhisto- risch-konventionelle Ausstellung bürgerlich-musealer Observanz über Goethe und seine Zeit“ nun auf Basis einer marxistischen Konzeption „wissenschaftlich neu auszuarbei- ten und museumspädagogisch zu gestalten“,43 kommt Scholz an die Ilm. In Distanz zu den bildungs- und kulturpolitischen Institutionen einer zunehmend autoritär auf- tretenden Staatsmacht gestaltet er die Ausstellung Gesellschaft und Kultur der Goethezeit zu einem „Experimentierfeld“ und literaturwissenschaftlichen „Lehrkabinett“, das zu- gleich zur „organisatorischen, wissenschaftlichen, kulturpolitischen und museumspäda- gogischen Ausgangsbasis für den neuen marxistischen Forschungsansatz im Bereich der

42 Wertheim (wie Anm. 5), S. 482. 43 Ebenda, S. 476 f. Wissenstransfer und Gruppenbildung im Kreis um Gerhard Scholz 355

44 deutschen klassischen Literatur“ avanciert. Die besondere Verknüpfungsleistung dieses, seines Programms ist noch einmal hervorzuheben: Sie besteht zum einen in der (expe- rimentellen) Vernetzung von Forschung, Lehre und öffentlicher Präsentation, zum ande- ren in der Integration dieser Trias in den Bildungsprozess einer neuen Wissenschaftler-

Generation. Denn Scholz bezieht die zentralen Wissensorte und Repräsentationsstätten

Weimars in die gemeinsame Tätigkeit von ausgebildeten Mitarbeitern und promovie- renden bzw. noch studierenden Nachwuchskadern ein: Goethe- und Schiller-Archiv, das Goethe-Nationalmuseum sowie andere Gedenkstätten mit ihren Memorialgegen- ständen und Sammlungsschätzen werden zu Zentren, an denen Promovierende und

Studierende wissenschaftliche Forschungsaufgaben mit museumspädagogischen Aktivi- täten verbinden können. Die wichtigste Sammlungsstätte der Überlieferungen der klas- sischen deutschen Literatur fungiert nun als „Archiv mit Schaufenster“45, während die Lehrschau im konzipierten „Goethezeit-Museum“ neue Untersuchungsergebnisse und Thesen performativ umsetzt und spezialisierte Forschungen initiiert.46 Die so entwickelte Form einer kooperativen Forschungs- und Lehrtätigkeit prägt auch den im Winter 1950/51 durch das Ministerium für Volksbildung bzw. das Staats- sekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen organisierten Germanistenlehrgang für

Nachwuchswissenschaftler und Lehrer der Arbeiter- und Bauernfakultäten, der später mehrfach zum „legendären“ Geburtsort der marxistischen Literaturforschung in der

DDR stilisiert werden soll. Das hier realisierte System kollektiver Arbeitsweisen hatte

Scholz – so jedenfalls erklärt es die Teilnehmerin Ursula Wertheim später – bereits während des schwedischen Exils vorbereitet und „theoretisch gut durchdacht“; sein Programm kursierte in den Kreisen der deutschen Emigranten und sei auch von Bertolt Brecht, dem Scholz im Mai 1939 erstmals begegnet war, mit Interesse wahrgenom- 47 men worden. Dieses Konzept leitet die Schulung von ca. 40 Teilnehmern, deren Ge- meinsamkeit vor allem in einer (auch sozial begründeten) Offenheit gegenüber neu- artigen Lehr- und Lernformen bestehen sollte: Unter den Eingeladenen befinden sich

Lehrende an Vorstudienanstalten bzw. Arbeiter- und Bauern-Fakultäten wie Hans-

Günther Thalheim, Angehörige des wissenschaftlichen Nachwuchses bzw. Doktor- aspiranten wie Hans Kaufmann (vgl. Abb. 2), z. T. noch Studierende wie Lore Kaim und Inge Diersen.48 Das Programm des Lehrgangs verschränkt konventionelle wie in- novative Formate. Wöchentlich findet eine als „Vollversammlung“ bezeichnete Vorle- sung statt, die unter Scholz’ Leitung „zentrale und grundsätzliche, alle Arbeitsgruppen angehende theoretische und ideologische Probleme“ behandelt.49 In „Lehrseminaren“ werden Kenntnisse vermittelt und vertieft, während die Teilnehmer in „wissenschaft-

44 Ebenda, S. 482. 45 So Manfred Jelenski: Archiv mit Schaufenster. Besuch im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv. Verstaubte Dokumente werden aktuell. In: Berliner Zeitung v. 17.5.1950. 46 Einblick in Konzeption und Aufbau der Ausstellung gibt Wertheim (wie Anm. 5), S. 496 ff. Die museums- pädagogischen Vorstellungen von Gerhard Scholz sind niedergelegt in den Texten Gesellschaft und Kultur der Goethezeit und Funktion einer Zentralstelle für den Aufbau eines Museums der Geschichte der deutschen Natio- nalliteratur, veröffentlicht als Anhang zum Beitrag von Schiller (wie Anm. 6), S. 39–43, 44–48. 47 Wertheim (wie Anm. 5), S. 483. 48 Vgl. die auf den Akten des GSA beruhende Auflistung bei Krenzlin (wie Anm. 10), S. 211 f. 49 Wertheim (wie Anm. 5), S. 483. 356 Ralf Klausnitzer

lichen Arbeitsgemeinschaften“ konkrete Forschungsaufgaben auf produktive Weise zu bewältigen haben. Diese von Gerhard Scholz und seinen noch nicht graduierten As- sistenten Heinz Stolpe, Eva Nahke, und Heinz Nahke betreuten Forschungsaufgaben weisen starke Berührungspunkte und partiell sogar Überschnei- dungen auf, was jedoch zu kreativen Friktionen führt.

Abb. 2: Auszug aus dem Studienbuch von Hans Kaufmann Wissenstransfer und Gruppenbildung im Kreis um Gerhard Scholz 357

Es gibt Arbeitskreise zu ökonomischen und sozialen Problemen des 18. Jahrhunderts, zu

Strukturen und Wirkungen geselliger Kreise und Freundschaftsbünden der so genanten literarischen Intelligenz sowie zu den von Scholz besonders präferierten Themen

„Nationenproblem“ und „Nationalbewusstsein“. Eine vierte Arbeitsgruppe analysiert spezielle Struktur- und Genrefragen; eine fünfte Gruppe widmet sich übergreifenden Struktur- und Genrefragen des „klassischen“ und des „bürgerlichen Realismus“, seinen Traditionen und seiner „Umfunktionierung“ in späteren Literaturperioden.50

Auch wenn es in retrospektiver Sicht schwerfällt, Aussagen über die Qualität der hier gewonnenen und vermittelten Wissensansprüche zu treffen, lassen sich doch we- sentliche Parameter dieser Veranstaltungsformen feststellen. Neben die erwähnte Ver- bindung von Lehre und Forschung tritt die Bearbeitung übergreifender theoretischer und methodologischer Fragestellungen, die auf ausgewählte historische Konstellatio- nen zu beziehen sind. Ergänzt wird diese Verknüpfung von Literaturtheorie und Lite- raturgeschichte durch Anwendungsorientierung und Stimulierung kollektiver Aktivi- täten. Diskutiert werden jedoch nicht nur längerfristig tradierte literaturtheoretische und -geschichtliche Fragestellungen, sondern auch aktuelle Themen: Noch bevor 1952 die deutsche Übersetzung von Marietta Shaginians Goethe-Buch erscheint, werden ihre Thesen in den Debatten der Plenarsitzung debattiert.

Wie die von Scholz angeleitete Vermittlung methodischer Textumgangsformen kon- kret abläuft, beschreibt Hans Kaufmann, Teilnehmer des Weimarer Germanisten-Lehr- gangs und später Professor in Jena, im Rückblick:

Bei Scholz haben wir gelernt, uns intensiv in das historische und literar-historische Material

einzuarbeiten, die Texte ernst zu nehmen und sie aus marxistischer Sicht genau zu befragen. Allgemeine Redensarten und unbegründete, vorschnelle Urteile, zu denen wir manchmal neig-

ten, langweilten ihn; man spürte das bald ohne viel Worte. Methodisch bestand die eigentliche

Stärke von Gerhard Scholz darin, darzutun, wie sich die berühmten Werke der literarischen

Klassiker aufbauen auf eine außerordentlich vielfältige und differenzierte Vorgeschichte. Das war

ein weitgehender Unterschied z. B. zu Georg Lukács. In Lukács’ Analysen standen die Gipfel- leistungen der europäischen Literatur in relativer Isolierung da. In dem Kursus von Gerhard Scholz hätte sich niemand getraut, sich einfach hinzustellen und Meisterwerke zu interpretieren.

Die Aufmerksamkeit lag vielmehr darauf, die Prozesse zu studieren, auf denen diese Werke basierten, deren literarisch-ästhetische Synthese sie gewissermaßen waren. Da wurden Karteien

angelegt über die Entwicklung von Begriffen und Vorstellungskomplexen, Seminare wurden

abgehalten, z. B. über die Veränderungen im Gebrauch des Wortes Nation im 18. Jahrhundert.

[. . .] Bäuerliche Beschwerden wurden ausgegraben, in denen elementar ausgedrückt war, welche Klagen die Bauern gegen ihre Feudalherren haben. Und dann wurde danach gefragt, welchen 51 Widerhall all dies in den literarischen Werken, speziell in denen des Sturm und Drang, fand.

50 Eine vollständige Themenliste des „im gewissen Sinne gegen die Universitäten“ gerichteten Lehrgangs fin- det sich bei Püschel (wie Anm. 16), S. 306 f. Krenzlin (wie Anm. 10, S. 211) nennt fünf wissenschaftliche Kurse zu den Themen „Nation und Kosmopolitismus“, „Bürgerlicher und sozialistischer Realismus“, „Öko- nomische und soziale Quellen“, „Theorie der Gesellschaft (Gesellige Kreise)“. Hier erwähnt werden auch zwei pädagogische Kurse, in denen ein Lehrplan für den Deutschunterricht an den ABF ausgearbeitet so- wie museumspädagogische Fragen erörtert werden sollten. 51 Materialien zur Geschichte der marxistischen germanistischen Literaturwissenschaft in der DDR. Gespräch mit Hans Kaufmann. In: ZfGerm 3 (1982), H. 3, S. 158–171, hier S. 160 f. 358 Ralf Klausnitzer

Die so ablaufende Einführung in die regelgeleitete Beobachtung von Texten und Kon- texten verdient nähere Aufmerksamkeit, berührt doch das von Gerhard Scholz ver- mittelte Verfahren der „Einarbeitung“ in das literaturgeschichtliche Material ebenso wie das Prinzip, „die Texte ernst zu nehmen und sie aus marxistischer Sicht genau zu befragen“, ein zentrales Problem des interpretativen und des historischen Umgangs mit

ästhetischer Kommunikation. Ohne die vielfältigen Traditionen von Auslegungslehren hier auch nur andeuten zu können, ist auf den konzeptionellen Voraussetzungsreichtum und die methodologischen Konsequenzen dieser Textungsformen hinzuweisen. Denn die Auffassung von Werken als „literarisch-ästhetischer Synthese“ vorgängiger Pro- zesse geht ebenso wie das Programm einer umfassenden historischen Kontextbildung von einem Verständnis ästhetischer Kommunikation aus, das die mehrfachen Dimen- sionen poetischer Artefakte akzentuiert und ihr komplexes Gefüge durch genetische Rekonstruktionen zu erhellen sucht. Sie implizieren zugleich eine Schrittfolge, die ei- nen komplexen Interpretationsvorgang leiten soll und dazu den Umgang mit Wissen von und aus Texten reguliert. Um einen Text als einen frag-würdigen ästhetischen Ge- genstand zu konstituieren und ihn „aus marxistischer Sicht“ bearbeiten zu können, muss der Philologe zunächst spezifizierte Wissensbestände erwerben und diese in einem nächsten Schritt anwenden: Zum einen hat er (in nicht selten aufwendigen Verfah- ren) Erfahrungs- und Kenntnisbestände zu akkumulieren, die sowohl historischen Au- toren und ihren Zeitgenossen zugänglich waren; zum anderen hat er diese Kenntnisse mit seinen eigenen, aus der retrospektiven Position erwachsenden Informationsüber- schüssen und weltanschaulich fundierten Deutungsprinzipien zu verknüpfen.

Die zeitintensiven Prozeduren für den Gewinn eines umfassenden Wissens über Texte und Kontexte werden in den Erinnerungen des aktiv beteiligten Hans Kaufmann klar markiert: Wort- und begriffsgeschichtliche Ermittlungen erlauben die Rekonstruk- tion diskursiver Felder; archivalische Recherchen legen konkrete sozialhistorische Kondi- tionen kultureller Prozesse frei. Die leitende Frage nach dem „Widerhall“ dieser gesell- schaftlichen Konditionen in den literarischen Werken selbst aber legt die hochgradige

Theorie-Abhängigkeit dieser Textumgangsformen mitsamt dem ihr eingeschriebenen zirkulären Charakter bloß: Ausgang und Zielpunkt dieser Bemühungen ist die Über- zeugung, literarische Texte als Ausdruck und Reflex sozio-ökonomischer Verhältnisse beschreiben und erklären zu können. Diese Überzeugung entstammt jedoch keineswegs nur der marxistischen Gesellschaftstheorie, sondern prägt unterschiedliche Ansätze zu einer gesellschaftsbezogenen Thematisierungsweise von Literatur, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter Bezeichnungen wie „sozialliterarische Methode“ (Paul Mer- ker), „psychogenetische Literaturwissenschaft“ (Fritz Brüggemann), „Geschmacks- geschichte“ (Levin Schücking) oder „soziologische Literaturgeschichtsforschung“ (Alfred Kleinberg) firmieren. Stark vereinfacht ausgedrückt, besteht der gemeinsame Nenner dieser – nicht zuletzt von Karl Lamprechts universaler Kulturgeschichtsschreibung inspi- rierten – Ansätze in dem Versuch, geistig-kulturelle Vorgänge aus wirtschaftlichen und 52 sozialen Verhältnissen zu erklären. Nachdem der Philosoph Erich Rothacker bereits

52 Nach Erhebung seiner Disziplin zu einer exakten Wissenschaft strebend, hatte der in Leipzig lehrende His- toriker die Geschichte nicht als Folge von Ereignissen, sondern als gesetzmäßigen Ablauf materialer Ent- Wissenstransfer und Gruppenbildung im Kreis um Gerhard Scholz 359

1912 Lamprechts Verdienste gewürdigt und Anschlussmöglichkeiten der Geisteswis- senschaften aufgezeigt hatte,53 ist es Gerhard Scholz’ Breslauer Lehrer Paul Merker, der in seiner Programmschrift Neue Aufgaben der deutschen Literaturgeschichte von 1921 die Fruchtbarkeit von Lamprechts Geschichtsauffassung für eine veränderte Untersuchungs- perspektive betont:

An Stelle des Einzelwerkes und der Einzelpersönlichkeit, die sonst im Vordergrund des Interesses

steht und den Ausgangspunkt, vielfach aber zugleich auch den Endpunkt der Betrachtung bil- det, liegt hier der Schwerpunkt auf der societas litterarum, auf der allgemeinen geistigen und literarischen Struktur einer Epoche.54

Zur Erfassung dieser „geistigen und literarischen Struktur einer Epoche“ sollen neben biologischen und sozialen Bindungen des Autors weitere Faktoren des literarischen

Lebens wie Publikum, poetische Theoriebildung und Einfluss ausländischer Dichtungen untersucht und in ein umfassendes Tableau von Wirkungszusammenhänge integriert werden. Wären so die für alle kulturellen Produktionen gültigen „sozialpsychologischen Grundlagen“ ermittelt, könnten „höhere kulturpsychologische Gesetzmäßigkeiten“ er- gründet und zu einer überzeugenden Periodisierung vorgedrungen werden.55 Neben den an Lamprechts Kulturgeschichte orientierten Varianten sozialhistorischer Literatur- betrachtung formiert sich in der vom Anglisten Levin L. Schücking begründeten Sozio- logie der literarischen Geschmacksbildung (München 1923, revidiert 31961) ein Forschungs- programm, das eine Publikumssoziologie unter besonderer Berücksichtigung von 56 Produktions- und Distributionsbedingungen anbietet. Doch während diese Ansätze in den 1920er Jahren nur begrenzte Wirksamkeit erfahren und das von marxistischen Theoretikern entwickelte Programm einer materialistischen Literatursoziologie über- haupt keine Chance hat, die deutsche Universitätsgermanistik zu beeinflussen, ändert sich diese Situation mit dem gesellschaftlichen Umbau nach 1945. Seit den 1930er Jahren war in der Sowjetunion das marxistische Basis-Überbau-Modell zu einem ka- nonisierten Erklärungsmuster ausgebaut worden. Der unter dem Einfluss des Marxis- mus zu einem materialistischen Kulturtheoretiker gewandelte Georg Lukács wird nun zu einem Pionier für die historische Analyse künstlerischer Prozesse, die sich gleich- wohl auf qualitativ ausgezeichnete Manifestationen richtet: Widmet sich der aus Un- garn stammende Philosoph vorrangig kanonischen Meisterwerken der europäischen

wicklungsstufen in Wirtschaft und Gesellschaft beschrieben. Eine gewisse Attraktivität gewannen auch die Kategorien der von Wilhelm Wundt entwickelten „Sozialpsychologie“, die der Literaturwissenschaft die Möglichkeit bot, ihre Grundlagen kulturhistorisch zu erweitern; vgl. Oskar Benda: Der gegenwärtige Stand der Literaturwissenschaft. Eine erste Einführung in ihre Problemlage, Wien, Leipzig 1928, S. 20–25. 53 Erich Rothacker: Über die Möglichkeit und den Ertrag einer genetischen Geschichtsschreibung im Sinne Karl Lamprechts, Leipzig 1912. 54 Paul Merker: Neue Aufgaben der deutschen Literaturgeschichte, Leipzig, Berlin 1921, S. 49. 55 Ebenda, S. 64. Vgl. auch den späteren Beitrag von Paul Merker: Individualistische und soziologische Literatur- geschichtsforschung. In: Zeitschrift für deutsche Bildung 1 (1925), S. 15–27. 56 In der 1929 veröffentlichten Untersuchung Die Familie im Puritanismus setzt Schücking diese theoretischen Überlegungen am konkreten historischen Beispiel um: Von den sozialen Hintergründen der Familien- theokratie im England des 17. Jahrhunderts ausgehend, wies er ihren Einfluss auf den Roman der Folgezeit anhand puritanischer Hauszuchtbücher nach. 360 Ralf Klausnitzer

Literatur, die er widerspiegelungstheoretisch verallgemeinernd behandelt, formieren

Gerhard Scholz und sein Schülerkreis ein auf die Texte der deutschen Literatur (und insbesondere den Sturm und Drang und die Klassik) bezogenes Verfahren, das in sozial- geschichtlicher Empirie wurzelt – auch wenn es noch nicht gelingt, plausible Modelle für eine sozialhistorisch fundierte Beschreibung und Erklärung des Zusammenhangs von Gesellschaft und literarischer Kommunikation bereitzustellen und terminologi- sche Anleihen an Abbild- und Widerspiegelungstheoremen notwendig werden.

Gleichwohl fühlt sich die Mehrzahl der in Weimar versammelten Teilnehmer des

Germanistenlehrgangs als wissenschaftliche Avantgarde. „Indem es um die Sache, die wissenschaftliche Wahrheitsfindung über ein von elitärem Olympierkult zu befreien- des Goethebild und darüber hinaus ein historisch wahres Bild der gesamten Literatur- epoche ging, wurden alle Teilnehmer mobilisiert, von ihrem individuellen und speziellen Forschungs- und Interessenansatz her die geistige Enttrümmerung mit zu leisten, die gesamte literarische Um- und Mitwelt, das ganze national- und sozialgeschichtliche

Bezugssystem in den Aufhellungsprozeß am konkreten literarischen Text einzubezie- 57 hen“, fasst die beteiligte Ursula Wertheim später zusammen. Diese Aussage versam- melt die wesentlichen Parameter eines emphatischen Fortschrittsbewusstseins: die Be- schwörung einer „wissenschaftlichen Wahrheitsfindung“, die nicht weniger garantieren soll als ein „historisch wahres Bild der gesamten Literaturepoche“; den Anspruch auf „geistige Enttrümmerung“ und damit auf dezidierte Exklusion vorhergehender Positio- nen; schließlich die Universalisierung der eigenen Methode, die nun auf die „gesamte literarische Um- und Mitwelt, das ganze national- und sozialgeschichtliche Bezugs- system“ anzuwenden ist.

Was diese Aussagen über den Weimarer Germanistenlehrgang und den hier prakti- zierten Wissenstransfer so brisant macht, ist nicht allein das Faktum eines heterogenen Teilnehmerkreises: Neben überzeugten Gegnern und Opfern des NS-Regimes wie dem Lehrgangsleiter Gerhard Scholz und seinen Schülerinnen Edith Braemer (die vor den Nazis nach Shanghai flüchten musste) oder Lore Kaim (die in der NS-Zeit Fami- lienmitglieder verlor, Blumenbinderin wurde und erst 1947 das Studium an der Berli- ner Universität beginnen konnte) befinden sich in diesem Zirkel ehemalige NSDAP- 58 Mitglieder wie Erich Kühne und Hans-Günther Thalheim; eine Liste verzeichnet auch Paul Stapf, der beim überzeugten NS-Parteigänger Franz Koch in Berlin pro- moviert worden war und als Lektor im Amt für Schrifttumspflege der Reichsleitung der NSDAP gearbeitet hatte.59 Gleichfalls irritierend sind offenkundige Organisations- probleme bzw. Zweifel am Erfolg dieser Veranstaltungsform, die bei den wissenschafts- politischen Institutionen aufkommen: Dem angeblich so erfolgreichen Lehrgang, der

57 Wertheim (wie Anm. 5), S. 485. 58 Vgl. Hahn (wie Anm. 12), S. 144 (zu Kühne), S. 146 (zu Thalheim). 59 Paul Stapf, nach den erpresserischen Interventionen seines Doktorvaters Franz Koch als Mitarbeiter der Histo- risch-kritischen Jean-Paul-Ausgabe an die Preußische Akademie der Wissenschaft gekommen, war 1945/46 als Leiter der Vorsemesterkurse an der Universität Heidelberg tätig, bis die Militärregierung intervenierte. Danach wirkte er als Direktor des Museums Schloss Bernburg. Im September 1952 wechselte er in die Bundesrepublik und 1959 in die USA: Zunächst lehrte er als Visiting Professor an der Catholic University in Washington D. C., 1964–1974 als ordentlicher Professor an der University of Kentucky, Lexington. Wissenstransfer und Gruppenbildung im Kreis um Gerhard Scholz 361 im Februar 1951 endet, folgt eine Fortsetzung in -Sanssouci, die schon nach wenigen Wochen abgebrochen werden muss, weil Scholz in Weimar weilt und kein für das 20. Jahrhundert kompetenter Leiter gefunden werden kann.60 Wesentliches Charakteristikum und sowohl positive Leistung wie gravierendes Manko des von Gerhard Scholz realisierten Wissenstransfers bleibt die Bindung an eine Lehrer- persönlichkeit, die der Bindungskraft von Schrift durch freien Vortrag und Assozia- tion im Medium des gesprochenen Wortes zu entkommen sucht: „Nichts Fertiges wurde geboren, sondern man erlebte die Verfertigung seiner Gedanken beim Reden“, erin- nert sich Dieter Schiller, der den Weimarer Germanistenlehrgang nicht absolvierte, sondern Gerhard Scholz später kennenlernte:

Er sprach frei, auch wenn ein Manuskript vor ihm lag. Es schien mir, als fühle er sich gefesselt

von niedergeschriebenen Formulierungen, die doch nie die Fülle von Assoziationen und Quer-

verbindungen aufnehmen konnten, die ihm die Bedeutsamkeit eines Vorgangs, einer Tatsache, eines Zusammenhangs erschließen konnten. Das machte ihm das Schreiben so schwer und

seine komplexen Texte für den Leser nicht leicht zu entziffern. Einen Text von Scholz zu

lesen hieß immer, sich in eine Art Labyrinth zu begeben, das vielleicht einen Ausgang hat, aber möglicherweise auch viele oder keinen.61

Diese von Dieter Schiller und zahlreichen anderen Schülern und Zeitgenossen be- zeugten Eigenschaften erlauben es schließlich, drei untereinander verbundene Parameter einer Lehrtätigkeit zu benennen, um so das von Werner Mittenzwei konstatierte Phä- nomen der „sokratischen Ausstrahlung“ präzisieren und den spezifisch vormodernen

Status dieses Wissenstransfers genauer erfassen zu können. (1.) Gegen die schriftliche und also dauerhafte Fixierung eines gedruckten Textes ermöglichen gesprochenes Wort und freie Rede jene gleichsam offene Kommunikationssituation, die Vorläufigkeit und Revidierbarkeit ebenso einschließt wie Flüchtigkeit und Unbeständigkeit. (2.) Der

Denk- und Vermittlungsstil in Form des freien Assoziierens erlaubt es, Gedankengänge ohne eine dogmatische Festlegung von Ergebnissen zu verfolgen, wobei diese aufgrund des Verzichts auf dauerhafte Fixierung nur in eingeschränkter Weise nachvollziehbar und überprüfbar sind. (3.) Die mehrfach bezeugte Nutzung von seltenen Fremdworten bzw. „Kenn-“ und „Fahnenwörtern“, die seinen Mitarbeitern und Hörern geläufig wurden und also eine Art „wissenschaftlicher Kurzsprache“ bildeten, stellen einen Ver- such dar, ausdifferenzierte Sachverhalte oder komplizierte gedankliche Konstrukte in verkürzter Form auf- bzw. abzurufen: Sie funktionieren als verbale Abbreviaturen, die den Umgang mit Komplexität regulieren – freilich mit dem Risiko, aufgrund des Fehlens einheitlicher Regeln zu Missverständnissen zu führen. Denn eben weil die von Scholz verwendeten „Fahnenwörter“ individuell gebildet wurden, war es seinen Schü- lern nicht immer möglich, diese Abbreviaturen eindeutig aufzulösen. Die Konsequenzen eines solchen Lehrstils für die Schüler wie für die nachfolgende Wissenschaftsentwicklung in der DDR sind nicht zu unterschätzen und noch einmal zusammenfassend zu benennen.

60 Gespräch mit Hans Kaufmann (wie Anm. 51), S. 138. 61 Dieter Schiller: Meine Erinnerung an Gerhard Scholz, den schwierigen Lehrer. Unveröffentlichtes Manus- kript; zitiert nach Krenzlin (wie Anm. 10), S. 196 f.; wieder in Helle Panke (wie Anm. 6), S. 5–26, hier S. 6. 362 Ralf Klausnitzer

Zum einen erweist sich der von Gerhard Scholz praktizierte Wissenstransfer als im- mens voraussetzungsreich. „Vor allem musste man arbeiten, wenn man ihm folgen wollte – entlegene Schriften lesen, deren längst absolvierte Lektüre er vorausgesetzt hatte, schier unauffindbaren Zitaten nachjagen, auf die er sich wie selbstverständlich bezog, histori- sches und kulturgeschichtliches Detailwissen zusammensuchen und den eigenen Ver- stand gebrauchen“, erinnert sich Leonore Krenzlin.62 Die Bezugnahmen auf kaum kano- nisierte Texte und wenig bekannte Quellen sichern aber nicht nur ‚freiere‘ und von Traditionen weniger belastete Umgangsweisen mit der kulturellen Überlieferung. Sie stiften zugleich ein Bewusstsein für die Weite des kulturellen Raums und die Relativität der eigenen Wahrnehmungen, die sich als irritations- und lernfähig erweisen.

Mehrfach dimensionierter Voraussetzungsreichtum und der zumindest postulierte

Verzicht auf Absolutheitsansprüche bilden aber nur eine Seite der „sokratischen Aus- strahlung“. Ein anderer wesentlicher Aspekt betrifft die immer wieder vermittelte Not- wendigkeit eigenen Nachdenkens. Die undogmatische und scheinbar ergebnisoffene Wissensvermittlung im Medium der oralen Kommunikation animiert zu selbständiger intellektueller Anstrengung. Eine später noch genauer zu bezeichnende Pointe dieser an den mündlichen Diskurs gebundenen Wahrheitssuche besteht in einer Freiheit, die gleichwohl virtuell bleibt: Die Initiierung des Schülerkreises in den kategorialen Ap- parat und den Denkstil des Lehrers erfolgt durch (scheinbar) gemeinsame Bewegun- gen auf neuartigen konzeptionellen und methodischen Bahnen, die ausprobiert und getestet werden können – solange das geltende Paradigma nicht zur Disposition steht.

Die Verbindung dieser epistemischen Dispositive mit der konkreten sozialen Situa- tion des intellektuellen Neubeginns nach 1945 trägt zur Entstehung jener vielfach be- schworenen Aura bei, von der Gerhard Scholz’ Schüler jahrzehntelang und bis zu den Feierlichkeiten anlässlich des 100. Geburtstages des „Meisters“ schwärmen. Zentrales

Moment dieser Gruppenbildung aber ist nicht nur die gemeinsame Arbeit an einer

„sozialistischen Germanistik“, sondern auch der Verbund einer Schüler-Gruppe, die durch gemeinsame Verstehens-Bemühungen – nicht zuletzt in Bezug auf die erra- tischen Äußerungen ihres Lehrers – zusammengeschweißt wurde. Auch in dieser Hin- sicht lässt sich die „Scholz-Schule“ möglicherweise als ein „Denkkollektiv“ (Ludwik

Fleck) beschreiben, das durch spezifische Bindung von Wissen, Erfahrungen und Ge- wohnheiten einen von anderen epistemischen Gruppen abgrenzbaren „Denkstil“ aus- bildete. Ein solcher wissenssoziologischer Zugriff kann es möglich machen, bislang un- berücksichtigte Aspekte dieser Gruppenbildung auf einer allgemeineren Ebene (so in

Bezug auf die Kontextdeterminiertheit der Wahrheitsprädikation, die Theorieabhän- gigkeit von Beobachtungen und die Existenz de facto unthematisierter, nicht explizit formulierter oder gar unpropositionalisierbarer Hintergrundannahmen) genauer zu dis- kutieren – was im folgenden Abschnitt geschehen soll.

III. „Für die Anfänge der DDR-Germanistik bleibt die Scholz-Schule sehr aufschluß- reich“, erklärt Werner Mittenzwei im historischen Rückblick und trifft sich darin mit den von beteiligten Akteuren stammenden Einschätzungen, die in den Prozessen der

62 Krenzlin (wie Anm. 10), S. 197. Wissenstransfer und Gruppenbildung im Kreis um Gerhard Scholz 363

Wissenserzeugung und des Wissenstransfers nach 1945/49 eine Initialzündung für die Entstehung einer eigenständigen Literaturforschung unter sozialistischen Bedingungen sehen.63 Zugleich präzisiert und relativiert er die Position dieses spezifischen „Denk- kollektivs“, wenn er einräumt, auch Hans Mayer und Werner Krauss hätten eine „Schule“ gebildet und damit zur kognitiven Binnendifferenzierung der Literaturwissenschaft in der DDR beigetragen. Schließlich verweist er auf die nicht zu vergessenden historischen

Parameter wissenschaftlicher Gemeinschaftsbildungen, in denen prägende Wirkungen in zeitlich limitierten Perioden und mit wechselnden Schwerpunkten erfolgen.64

In der Tat ist mit Gerhard Scholz’ Wechsel an die Humboldt-Universität Ende der

1950er Jahre eine Veränderung seiner Lehr- und Forschungsschwerpunkte verbunden. Zwar beschäftigt ihn weiterhin das klassische Erbe, dessen marxistische Rezeption er bereits in den 1940er Jahren und in seiner Weimarer Zeit begonnen hatte und dessen Erforschung von seinen Schülern fortgeführt wird. Daneben erschließt er mit der lite- rarischen Thematisierung von Krieg und Frieden einen Gegenstandsbereich, dessen veränderte Bearbeitung in den Gewinn neuer Perspektiven – nicht zuletzt auf die nach der Exil-Debatte umstrittene Kultur des Expressionismus – mündet.

Die weiterreichenden Wirkungen des von Gerhard Scholz praktizierten Wissens- transfers auf neue Wissenschaftler-Generationen können an dieser Stelle nur angedeutet werden. Doch bleibt festzuhalten, dass seine Schüler – die sehr zeitig ihre Karrieren beginnen – seit Ende der 1950er Jahre zu vielfältig tätigen Multiplikatoren seines Pro- gramms avancieren. Hans-Günther Thalheim, der als Lehrer der Leipziger Vorstudien- anstalt nach Weimar delegiert worden war und über Winckelmann promoviert hatte, wird 1957 und also im Alter von 33 Jahren Professor an der Humboldt-Universität; er habilitiert sich 1961 mit einer Arbeit über den jungen Schiller und steigt 1965 zum

Institutsdirektor in der Akademie der Wissenschaften auf. In den Jahren seiner universi- tären Tätigkeit macht er das Germanistische Institut zu einem Zentrum der Goethezeit-

Forschung, aus dem bedeutsame Arbeiten hervorgehen, nicht zuletzt die 1969 publi- zierte und Aufsehen erregende Dissertation von Peter Müller Zeitkritik und Utopie in

Goethes Werther. Die gleichfalls von Joachim Müller in Jena promovierte Edith Braemer habilitiert sich 1957 bei Erich Kühne in Rostock, wo sie 1958 Dozentin und ein Jahr später Professorin wird; 1964 übernimmt sie einen Lehrstuhl in Leipzig. Ursula Wer t- heim, auch sie durch Scholz geschult und von Joachim Müller promoviert, unterrich- tet von 1965–1979 als Hochschullehrerin in Jena.

Doch Scholz beeinflusst nicht nur Literaturwissenschaftler, zu denen u. a. Inge Diersen, Eva Kaufmann, Peter Müller, Dieter Schlenstedt, Silvia Schlenstedt, Siegfried Streller und Peter Weber gehören. Im Zuge eines umgreifenderen Generationswechsels Ende der 1950er Jahre gelangen seine Schüler nun in Schlüsselpositionen der sich ausdiffe-

63 Boden, Böck (Anm. 1), S. 59. 64 Vgl. ebenda: „Auch die Schulen haben Entwicklungen durchlaufen, die Scholz-Schule wie auch die Hans- Mayer-Schule und die Werner-Krauss-Schule. Die Schüler erlebten ihre Lehrer meist nur in bestimmten Phasen, in denen sie durch die Persönlichkeit, die Methode ihres Lehrers beeinflußt wurden.“ Die beson- deren Wirkungen des in Leipzig tätigen Romanisten Werner Krauss auch auf Germanisten wie etwa Claus Träger (der seinerseits schulbildende Qualitäten gewinnen sollte) sind ein Desiderat der Forschung; vgl. dazu Leonore Krenzlin: Gespräch mit Claus Träger. In: ZfGerm 4 (1983), H. 2. 364 Ralf Klausnitzer renzierenden kulturellen Öffentlichkeit der DDR. Zu ihnen gehört die bereits genannte Lore Kaim, die 1916 in einer jüdischen Familie geboren wurde, die NS-Zeit als Blu- menbinderin überlebte und im Sommersemester 1947 das Studium an der Berliner

Universität begann. Die Teilnehmerin des „Literatursoziologischen Arbeitskreises“ und des Weimarer Lehrgangs wird 1956 (nun mit dem neuen Familiennamen Kloock) Chef- lektorin im Verlag Rütten & Loening; sie sorgt dafür, dass hier im Sommer 1961 – mit 3.000 gedruckten Exemplaren in ungewöhnlich hoher Auflage – Klaus Hermsdorfs 65 Dissertation mit dem Titel Franz Kafka. Weltbild und Roman erscheint. Ein anderer

Aktivist des kulturellen Umbruchs ist Heinz Nahke, der während des Weimarer Lehr- gangs Assistentenfunktionen übernommen hatte: Er wird Chefredakteur der Zeitschrift Forum, in der 1964/65 auch die Faust-Gespräche erscheinen, die Ursula Püschel dem widerstrebenden Scholz abringt. Günter Wirth schließlich, ein späterer Schüler aus Scholz’ Berliner Zeit, wirkt zwischen 1973 und 1990 als Chefredakteur bzw. Heraus- geber der evangelischen Monatszeitschrift Standpunkt und zeitweilig auch als Hono- rarprofessor für Neue und Neuere Kirchengeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er liefert eine einleuchtende Erklärung für die ungewöhnlich breite Wirk- samkeit seines Lehrers: Nach seinen Erinnerungen sind es nicht nur marxistische Über- zeugung und universale Bildungsbestände sowie die Erfahrungen der Emigration, mit denen der weitgehend schriftlos wirkende Wissenschaftler seine Hörer beeindruckt, sondern auch seine „stupende Kenntnis bürgerlichen Denkens und theologischer Re- 66 flexion“. Durch seine Bekanntschaft mit dem Prager Theologen Josef L. Hromádka und seine (bis in die Jugendzeit in Liegnitz zurückreichende) Freundschaft mit dem später in der Haftanstalt Plötzensee beschäftigten Gefängnispfarrer Harald Poelchau sei Scholz „mit den Subtilitäten und Nuancen theologischen Denkens so vertraut, daß er in seine literaturwissenschaftlichen Analysen und die Formulierung seiner ästhetischen Topoi auch das bürgerlich-demokratische Erbe und theologische Reflektieren früh und 67 gültig aufnehmen konnte“. – Wie weitreichend die Wirkungen dieses Reflexions- vermögens waren, zeigt etwa die Feststellung Wirths, dass seine eigenen Analysen der religiösen Inhalte und Formen im Werk Heinrich Bölls, die ihm Frank Wagner und Klaus Hermsdorf „verordnet“ hatten, ohne die konzeptionelle und methodische Schu- lung durch Scholz nicht möglich gewesen wären.

Die von Gerhard Scholz vermittelten Wissensbestände sind also keineswegs als dok- trinär zu bezeichnen. Im Gegenteil. Innovative und umwertende Qualitäten demons- trieren insbesondere die Expressionismus-Vorlesungen an der Humboldt-Universität, die nach der Debatte zwischen Alfred Kurella und Ilja Fradkin 1961 und ihrer Reak- tivierung alter Aversionen entstanden. In einer Zeit, in der das öffentliche Urteil über diese literarisch-künstlerische Bewegung festzustehen schien – noch 1962 hieß es in der Zeitschrift Junge Kunst im Anschluss an Georg Lukács, dass der Expressionismus

65 Zu Lore Kaims Biographie vgl. Hermsdorf (wie Anm. 20, S. 116), der freimütig mitteilt, dass die Publika- tion seiner Dissertation drei Faktoren zu danken sei: „Hans Kaufmann und Lore Kaim, bei näherer Betrach- tung dem Scholz-Kreis und bei einem weiteren Blick der Stellung der Berliner Germanistik unter den literaturwissenschaftlichen Institutionen der DDR während der Ulbricht’schen Kulturrevolution“. 66 Wirth (wie Anm. 8), S. 295. 67 Ebenda. Wissenstransfer und Gruppenbildung im Kreis um Gerhard Scholz 365

Wegbereiter des Faschismus gewesen sei – hält Scholz eine Vorlesung, die eben diese

Urteile revidiert. Damit setzt (nicht allein, doch in besonderer Weise von ihm ange- stoßen) eine Neubewertung der expressionistischen Literatur ein: Aus dem „Erbe“ der sozialistischen Kultur ausgeschiedene Bestände vom Anfang des 20. Jahrhunderts wer- den nun überprüft und neu gesichtet; zugleich können die expressionistischen Anfän- ge führender Autoren der so genannten proletarisch-revolutionären Literatur – die oft verdrängt worden waren – nun umfassender bestimmt werden. Verknüpft damit ist eine Neujustierung des Realismus-Begriffs. Seine Separation von einer bestimmten

Darstellungsart macht die Akzeptanz von Themen und Motiven, Formen und Schreib- weisen möglich, die bislang als „dekadent“ ausgegrenzt worden waren.68 Doch nahezu alle diese kognitiven Innovationen realisiert Scholz im Medium des gesprochen Wortes und nicht in Form von Monographien, Aufsätzen oder Rezensio- nen. Auch die Faust-Gespräche, die in der vom Zentralrat der FDJ herausgegebenen Zeitschrift Forum und später als Buch erscheinen, stellen nur die Fixierung vorgängiger

Dialoge dar. Als Anreger und Ideengeber aber bleibt Gerhard Scholz bis zum Ende seiner Wirkungszeit an der Berliner Alma Mater unentbehrlich – und wird auf diese besondere Weise auch zu einem Initiator von Klaus Hermsdorfs Habilitationsschrift, die 1968 u. d. T. Thomas Manns Schelme. Figuren und Strukturen in der „Tapetenreihe“ des Verlages Rütten & Loening erscheint. Die Geschichte dieser Anregung ist ebenso kurz wie typisch: In Vorbereitung der Konferenz Frieden – Krieg. Militarismus im kriti- schen und sozialistischen Realismus 1960 erörtert Scholz mit Hermsdorf und dem gera- de nach Jena gewechselten Hans Kaufmann das Schema eines komischen Konflikts, das er Friedrich Georg Jüngers kleiner Schrift Über das Komische von 1936 entnom- men hatte. Diese mündlich und im Modus der direkten Kommunikation vermittelten Hinweise geben den „zunächst richtungslosen Studien“ des als Kafka-Forscher hervor- getretenen Hermsdorf „ein Ziel und einen umrissenen Gegenstand“.69 Scholz’ Hinweise tragen also Früchte. Auch wenn er selbst kaum zur Ernte kommt. Abschließend bleibt die Frage zu klären, ob und mit welchen Ergebnissen die von

Gerhard Scholz initiierten Transferprozesse als Bildungselemente eines „wissenschaft- lichen Denkkollektivs“ und eines spezifischen „Denkstils“ erfasst und beschrieben wer- den können. Die Anwendung dieser von Ludwik Fleck geprägten Kategorien zur wissenssoziologischen Analyse hat freilich weitreichende Konsequenzen – sind doch nach Auffassung des polnischen Wissenschaftshistorikers nicht nur die Behauptungen von epistemischen Geltungsansprüchen, sondern auch die Möglichkeiten zu Beobach- tungen überhaupt an die Praxis von Gruppen gebunden, in denen Wissenschaftsakteure ausgebildet werden und forschend agieren. Doch mehr noch. „Die Objektivität wis- senschaftlicher Beobachtung beruht einzig auf ihren Bindungen mit dem ganzen Vor- rat an Wissen, Erfahrung und traditionellen Gewohnheiten des wissenschaftlichen Denk- 70 kollektivs“, postuliert Fleck und behauptet zugleich, dass auch die Aufstellung von

68 Gespräch mit Inge Diersen (wie Anm. 17), S. 293 f. 69 Hermsdorf (wie Anm. 20), S. 230. 70 Ludwik Fleck: Sehen, schauen, wissen [1947]. In: Ders: Erfahrung und Tatsache, hrsg. v. Lothar Schäfer, Thomas Schnelle, Frankfurt a. M. 1984, S. 147–174, hier S. 166 f. 366 Ralf Klausnitzer

Tatsachenbehauptungen „vom gemeinschaftlichen Denkstil abhängig“ sei.71 Die kollektivspezifische „Harmonie der Täuschungen“ tendiere schließlich dazu, „Wider- spruch undenkbar, unvorstellbar“ zu machen.72

Fasst man den Begriff „Denkstil“ nicht primär als kollektivspezifische Theorie- abhängigkeit auf und die Initiierung von (neuen) Wissensproduzenten nicht als Mo- mente eines „alogischen“ Verzerrungs- und Verblendungszusammenhangs, sondern nimmt diese Aspekte als Produktionsfaktoren von Beobachtungsergebnissen und Tat- sachenbehauptungen ernst, wird eine weitere und nicht leicht zu erschließende Kompo- nente der oben skizzierten Vermittlungsleistungen im Kreis um Gerhard Scholz erfassbar. Eben weil die Generierung von Erkenntnissen abhängig von „Erfahrung“ und „Ge- 73 schicklichkeit“ bleiben, „die sich nicht durch Wortformeln ersetzen lassen“, ist die

Einführung von Nachwuchswissenschaftlern in Theorie und Praxis rekursiver Um- gangsformen mit spezifischen Problemlagen ein zeitinvestiver Vorgang, in dem vor al- lem die Verfahren eines zielgerichteten Wahrnehmens zu vermitteln sind: Erst durch die

Einübung in die mitunter schwer zu verbalisierenden Akte des „Sehens“ (von Arte- fakten und ihren Teilen, Zusammenhängen, Konstellationen etc) werden neue Ange- hörige des Wissenschaftssystems mit den Grundlagen ihrer Disziplin vertraut gemacht. Eine besondere Pointe von Ludwik Flecks wissenssoziologischen Überlegungen be- steht nun darin, dass diese Lernprozesse (und im besonderen das „Sehen lernen“) stets in konkreten sozialen bzw. kollektiven Zusammenhängen erfolgen: Wissenschaftliche

Adepten lernen die Kategorien und Verfahren eines disziplinären Wissens in der Form- und Gestaltgebung durch ihren Lehrer bzw. durch das von ihm gebildete und repräsen- tierte „Denkkollektiv“ kennen. Zwischen disziplinären Wissensbeständen und dem Wis- sen von „Denkkollektiven“ besteht demnach ein Wechselverhältnis: Erst das innerhalb eines Kollektivs erworbene, unter Umständen nur implizite oder schwer propositiona- lisierbare (Vor-)Wissen erlaubt die Generierung eines disziplinspezifischen wissenschaft- lichen Wissens, während ein disziplinäres Wissen die Grundlagen für die innerhalb des „Denkkollektivs“ ablaufenden Initialisierungsprozesse bildet. Wesentliche Parameter eines solchen „Denkkollektivs“ wurden in der Erläuterung von Wissenstransferprozessen im Kreis um Gerhard Scholz bereits genannt. Sie finden sich nicht nur in ähnlichen bzw. analogen Fragestellungen, Konzepten und Thesen ei- ner druckschriftlichen Kommunikation (die aufgrund der nur schmalen Textbasis des Kollektivbegründers schwer zu rekonstruieren sind), sondern vor allem auch in vor- und nichtbegrifflichen Arbeitsweisen, in den Habitus- und Praxisformen. Noch einmal zu unterstreichen sind ihre nicht zu unterschätzenden Funktionen innerhalb eines arbeitsteilig organisierten Wissenschaftssystems: Da „Sehen“, Erkennen und Wissen nach Fleck ausschließlich als kollektive Handlungen möglich sind, erweist sich die Separation von Gruppen als epistemologisches Faktum; sie manifestiert sich auf individueller Ebe- ne in Vorgängen der Schulung bzw. Prägung zu gerichteten Gestalt-Wahrnehmungen

71 Ebenda, S. 167. 72 Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv [1935], Frankfurt a. M. 1980, S. 41. 73 Ludwik Fleck: Über die wissenschaftliche Beobachtung und die Wahrnehmung im allgemeinen [1935]. In: Fleck (wie Anm. 70), S. 59–83, hier S. 60. Wissenstransfer und Gruppenbildung im Kreis um Gerhard Scholz 367 und wird ermöglicht wie vorangetrieben durch eine kollektive „Ausbildung und Ein- übung des Beobachtens“.74 75 Die Bereitschaft zu „gerichtetem Wahrnehmen“ , das den Einzelnen und das ihn sozialisierende Kollektiv verbindet, hat noch eine weitere und nicht zu vernachlässi- gende Komponente: Es ist die „disziplinierte gemeinsame Stimmung“76, die sich in integrierenden Verhaltensformen – von der Angleichung der eigenen Meinungen an geteilte Überzeugungen bis zur Subordination individueller Intentionen unter die Weis- heit des Kollektivs – manifestiert. Diese „disziplinierte gemeinsame Stimmung“ ist freilich nur schwer bzw. unter starken Einschränkungen ermittelbar. Und dennoch il- lustriert dieser Faktor die Integrationsleistungen und Bindungskräfte eines kollektiven

Verbundes, dessen Identität durch bis in subtile Formen der Verhaltensmodellierung reichende Erzeugung von Übereinstimmung hergestellt und garantiert wird. Vor dem Hin- tergrund solcher auch emotional wirksamen Übereinstimmungen wird schließlich der

Umstand verständlich, dass „stilvolle [d. h. einem spezifischen Denkstil entsprechende] Arbeiten“ bei einem Mitglied des entsprechenden Denkkollektivs „sofort“ eine „soli- darische Stimmung“ erweckten, die ihn bereits „nach einigen Sätzen das Buch zu schät- 77 zen zwingt“. An dieser Stelle kann vermutet werden, dass die dargestellten Kom- munikationsakte von Gerhard Scholz aufgrund ihrer beschriebenen Qualitäten eine solche Loyalität mit dem gleichsam zwanglosen Zwang der unmittelbaren Evidenz im Modus des kollektiv geteilten Denkstil erzeugten: so dass seine mehrfach erwähnten Wirkungen als Indizien für eine „disziplinierte solidarische Stimmung“ innerhalb des „Denkkollektivs“ gelten können. Wichtig für eine historische Beschreibung wie für eine systematische Erklärung der hier nur knapp umrissenen Prozesse des Wissenstransfers und der Gruppenbildung blei- ben nicht allein die spezifischen Konditionen der Wissenschaftslandschaft in der DDR, die innerhalb einer weitgehend monoparadigmatischen Konstellation diverse Differen- zierungen aufwies und jene „Denkkollektive“ hervorbrachte, wie sie im Kreis um

Gerhard Scholz in exemplarischer Form zu studieren sind und durch Vergleich mit anderen Schulen (wie der Krauss- und der Mayer-Schule) weiter zu vertiefen wären.78 Deutlich wurde, dass mit und in der Person des weitgehend schriftlos wirkenden Schul-

Begründers und seines spezifischen Wissenschaftsstils jene Parameter zur (gruppenbil-

74 Ebenda, S. 67. 75 Fleck (wie Anm. 72), S. 188. 76 Ebenda, S. 189. 77 Ebenda, S. 189. Die kollektive Separierung zieht zugleich Konsequenzen nach sich, die am Beispiel des Scholz- Kreises gleichfalls zu studieren sind: Die Resistenz eines „Denkstils“ gegenüber „fremden“ Konzepten und Verfahren bietet zwar Vorraussetzungen für die Produktivität des Kollektivs, ist aber zugleich verantwort- lich für Beharrungstendenzen und die Verhinderung von Neuerungen, in dem das Spektrum möglicher Forschungspfade limitiert wird. 78 Zu Differenzierungen innerhalb einer monoparadigmatischen Wissenschaftskonstellation vgl. Lutz Danneberg, Wilhelm Schernus, Jörg Schönert: Die Rezeption der Rezeptionsästhetik in der DDR. Wissenschaftswandel unter den Bedingungen des politischen Systems. In: G. P. Knapp, G. Labroisse (Hrsg.): 1945–1995. Fünfzig Jahre deutschsprachige Literatur in Aspekten, Amsterdam, Atlanta 1995, S. 643–702; dazu auch Rainer Ro- senberg: Die sechziger Jahre als Zäsur in der deutschen Literaturwissenschaft. In: Ders., I. Münz-Koenen, P. Boden (Hrsg.): Der Geist der Unruhe. 1968 im Vergleich. Wissenschaft-Literatur-Medien, Berlin 2000, S. 153–179, hier S. 174. 368 Ralf Klausnitzer

denden) Wirkung kamen, die Wissenschaft als arbeitsteilige Kommunikation zur re- kursiven Bearbeitung spezialisierter Problemstellungen überhaupt auszeichnen – und die neben der Einübung des Nachwuchses in einen kollektiven „Denkstil“ und „ge- richtetes Wahrnehmen“ vor allem auch die Inkorpierung von Normen und Werten umfasst. * * *

Klaus Hermsdorf, der 1954 eine Assistentenstelle am Germanistischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin angetreten und seine folgenreiche Dissertation über

Franz Kafka begonnen hatte, war dem Wissenschaftler ohne Werk zuerst als einem „anregenden, wenngleich oft geistig verwirrten Haupt der seit dem Goethe-Jahr 1949 79 in Weimar ansässigen und um Einfluss ringenden Scholz-Schule“ begegnet. Dessen Schülerin Lore Kaim verdankt er die Drucklegung seines Kafka-Buches, ihm selbst zielführende Hinweise für das Habilitationsprojekt. Als 1983 der 80. Geburtstag des inzwischen emeritierten Germanisten ansteht, soll er – inzwischen selbst Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin – die Glückwünsche des Ministers für Hoch- und

Fachschulwesen überbringen. Das Erlebnis des geistigen Verdämmerns des ehemals so regsamen Wissenschaftlers hat er in seinen Erinnerungen festgehalten:

Gerhard Scholz saß uns gegenüber in einem Lehnstuhl, daneben ein rundes Tischchen mit

Blumen und etwas Gebäck. Er saß reglos in seinem Stuhl, scheinbar schlafend. Trotzdem be-

deutete mir Frau Scholz, mit der Verlesung zu beginnen. Ich las konzentriert und schnell. Ich stockte, als sich Gerhard Scholz schräg in seinem Sessel aufrichtete und mit leiser Stimme ein

Liedlein zu singen anfing. Ich beschleunigte meinen Vortrag und kam zum Ende. Fassungslos und stumm wandte ich mich zu Frau Scholz, die sich und uns aber weitere Erklärungen ver- sagte und – wie begütigend – zu mir sagte: „Dort, wo er jetzt ist, ist er glücklich“.80

Von Gerhard Scholz bleiben vor allem die Zeugnisse seiner Schüler: Texte von Wis- senschaftlern, die den charismatischen Forscher ohne Werk kannten und von ihm lern- ten. Das scheint nicht eben viel. Doch die Erinnerungen und die in den Werken der Schüler bewahrten Leistungen des Lehrers gehören als unverzichtbarer Bestandteil zu einer Geschichte des universitären Wissens – und zwar eines Wissens, das mehr ist als nur die Summe publizierter Texte.

Abbildungsnachweis

Abb. 1: Gerhard Scholz, GSA Weimar. Abb. 2: Studienbuch von Hans Kaufmann. Privatarchiv.

Anschrift des Verfassers: PD Dr. Ralf Klausnitzer, Humboldt-Universität zu Berlin, Phi- losophische Fakultät II, Institut für deutsche Literatur, D–10099 Berlin

79 Hermsdorf (wie Anm. 20), S. 10. 80 Ebenda, S. 110.