10.3726/92129_339 339 RALF KLAUSNITZER „So gut wie nichts publiziert, aber eine ganze Generation von Germanisten beeinflußt“. Wissenstransfer und Gruppenbildung im Kreis um Gerhard Scholz (1903–1989) „Der Germanist Gerhard Scholz, zuerst in Wei- mar, dann an der Humboldt-Universität tätig, war gleichfalls Emigrant. Er sammelte um sich einen Kreis junger Leute. Aber ich kannte ihn nicht. Ich erlebte ihn nur einmal“, erinnert sich der erste Direktor des Zentralinstituts für Lite- raturgeschichte an der Akademie der Wissen- schaften der DDR, Werner Mittenzwei: „Als mir 1970 der Lessing-Preis verliehen wurde, hielt er die Laudatio. Obwohl er über eine Stun- de sprach, kamen in seiner Rede die Preisträ- ger nur in einem Nebensatz vor. Seine Rede galt dem Bildnis Lessings auf der Medaille, die ich verliehen bekam. Was er sagte, empfand ich als gescheit, originell, aber er sprach wie traumver- loren. Er hat in seinem ganzen Leben so gut wie nichts publiziert, aber eine ganze Generation Abb. 1 von Germanisten beeinflußt. Als Lehrer muß er eine sokratische Ausstrahlung gehabt haben. Mir blieb dieser Einfluß immer unver- ständlich.“1 Es gibt zahlreiche ähnliche Äußerungen über den 1903 in Liegnitz geborenen und 1936 aus Nazi-Deutschland geflüchteten Literaturforscher, der nach dem tschecho- slowakischen und schwedischen Exil 1946 in die Sowjetische Besatzungszone zurück- kehrte und bildungspolitisch aktiv war, bevor er 1949 die Nachfolge von Hans Wahl als Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar antrat und hier 1950/51 einen legendär gewordenen Germanistenlehrgang für Nachwuchswissenschaftler leitete, um schließlich von 1959–1969 als Professor für Neuere und Neueste deutsche und nor- dische Literatur an der Humboldt-Universität zu lehren. Hans Mayer, auch er „West- Emigrant“ und drei Jahre nach Kriegsende einem Ruf an die Leipziger Universität gefolgt, begegnet Scholz im November 1948 auf einem von der SMAD einberufenen Treffen der Hochschulgermanisten in Leipzig. Er erinnert sich an einen bemerkenswer- 1 Petra Boden, Dorothea Böck: Interview mit Werner Mittenzwei. In: Dies. (Hrsg.): Modernisierung ohne Moderne. Das Zentralinstitut für Literaturgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR (1969 bis 1991), Heidelberg 2004, S. 53–77, hier S. 58. 340 Ralf Klausnitzer ten Pädagogen, der „ersichtlich beauftragt worden war, einen Kreis neuer, marxistischer Germanisten zu erziehen“ – und zwar vorerst jenseits der Universitäten: Scholz kam aus schwedischem Asyl: die nordische Gesellschaft hatte ihn ähnlich geprägt wie mich die französische. Ich hatte von ihm gehört, nun lernte ich ihn kennen. Er war herzlich und zutraulich. Leider ging es ihm, nach einem Wort meines längst verstorbenen Großonkels Ludwig so, daß er ‚es nicht von sich geben konnte‘. Scholz improvisierte in endlos verschlunge- nen Satzgebilden, den Blick visionär nach oben gerichtet. Was er vortrug, war durchaus hörens- wert, wenn man auf diese Art eines Denkens und Formulierens mit seltenen und seltensten Fremdwörtern vorbereitet war. Das konnte man vom anwesenden Professorengremium kaum behaupten.2 Während Mayer im ehemaligen Angehörigen der Jugendbewegung und SAP-Mitglied, der 1946 in die SED eingetreten war, später auch den „rechtgläubigen Guru“ und „ideo- 3 logischen Besserwisser“ zu erkennen glaubt, erscheint er dem anfänglich am Weima- rer Theaterinstitut studierenden Gerhard Kaiser als „genialischer Chaot“, der „im Irr- garten der Parteistrategie und Personalpolitik herum taumelte“ und vergeblich gegen (eigene) Blockaden ankämpfte: Er hatte vielerlei studiert und besaß ein großes, weit ausstrahlendes, aber unorganisiertes Wis- sen. Als Leiter eines weltberühmten Archivs war er völlig ungeeignet, weil unfähig zur Re- präsentation. Seine öffentlichen Reden versandeten in mäandrierenden Satzgerinnseln. Zu alledem litt er an einer qualvollen Schreibhemmung. Da ihm jegliche Zeitökonomie fehlte, wurde in seinem Dunstkreis fast Tag und Nacht – wenn auch mit relativ geringem Wirkungs- grad – gearbeitet, und es konnte schon einmal vorkommen, daß, weil sonst kein Platz in der Nähe war, in gefährlichster Nähe zu den wertvollen Handschriften Goethes oder Schillers nebenbei gefrühstückt oder Kaffee getrunken wurde. Der Arbeitsstil eines Dauerpalavers er- zeugte Erschöpfungszustände, und manchmal rang Gerhard Scholz, am Schreibtisch halb schla- fend, tief in der Nacht mit Hilfe seiner Nachwuchsleute um Formulierungen, wobei aus der allgemeinen Dumpfheit zuweilen noch ein Geistesblitz sprang. Und plötzlich konnte es zu dem kommen, was man heute Brainstorming nennt und bewusst herbeizuführen sucht.4 In der Beschreibung ähnlich, in der Bewertung ganz anders fallen dagegen die Dar- stellungen jener von Werner Mittenzwei erwähnten „jungen Leute“ aus, die sich um Scholz sammelten und seit der Ablösung „bürgerlicher“ Wissenschaftler Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre die Geschicke des Faches in der DDR bestimmen sollten. Ursula Wertheim, Angehörige des legendären Weimarer Germanisten-Lehr- gangs von 1950/51 und nach der Promotion beim „bürgerlichen“ Lehrstuhlinhaber Joachim Müller seit 1965 Professorin für Neuere und Neueste Literaturgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, würdigt Scholz 1969 als „Lehrer und wissen- schaftliche[n] Schrittmacher und Anreger, dessen Lebenswerk sich nicht in besonders zahlreichen und umfangreichen gedruckten Publikationen konzentriert, dessen Wir- kung auf Mitarbeiter und Schüler gleichwohl vielfältig und unbestritten nachhaltig 2 Hans Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen, Bd. II, Frankfurt a. M. 1984, S. 100 f. 3 Ebenda, S. 103. 4 Gerhard Kaiser: Rede, dass ich dich sehe. Ein Germanist als Zeitzeuge, Stuttgart, München 2000, S. 55. Wissenstransfer und Gruppenbildung im Kreis um Gerhard Scholz 341 ist“.5 Dieter Schiller, Scholz-Schüler der zweiten Generation, berichtet von „lebendi- gen Debatten in Arbeitskreisen und Lehrgängen für junge Leute unter Leitung des charismatischen Professors“6; Eva-Maria Nahke preist die von Scholz geprägte „Atmo- sphäre, die reich war an gegenseitigem Gedankenaustausch und fachlichen Anregun- 7 gen“. Durchgehend alle Schüler sprechen in fast schwärmerischen Tönen von einem Lehrer, der in seinen Lektionen „erratische Blöcke von Gebilden, die des Syntakti- schen entbehrten, ins Auditorium schleuderte“, „in diesen Gebilden einleuchtende und leuchtende Einblicke und Ausblicke formulierte“ und „recht eigentlich die ästheti- schen Figuren ausarbeitete, an denen wir [Schüler] literarische Texte unsererseits – jedenfalls in unseren besten Fällen – zum Leuchten bringen konnten“.8 Übereinstimmend schildern diese Äußerungen einen Hochschullehrer, der sehr spe- zielle Vermögen zur Vermittlung von Wissen besessen haben muss: Die Gabe einer Rede, die trotz Zugangsschwierigkeiten beeindruckte und überzeugte, die Befähigung zur Generierung von Ideen im mündlichen Austausch, das Potential zur Integration unterschiedlicher Akteure in kollektive Arbeitszusammenhänge. Aussagen von Scholz- Schülern fixieren zugleich die Rolle ihres Lehrers in der Wissenschaftslandschaft der noch jungen Republik. Sie liefern eine Deutung, der sich später auch retrospektive Erforscher der Fachgeschichte anschließen werden: dass der aus der Jugendbewegung der 1920er Jahre herausgewachsene und in der S AP politisch beheimatete Scholz, der nach seiner Rückkehr aus schwedischem Exil 1946 in die SED eingetreten war, als Wegbereiter bzw. „Pionier“ beim Aufbau einer neuen, marxistisch geschulten Wis- senschaftler-Generation in der DDR wirkte.9 Ebenso deutlich benennen diese Äußerungen eine Besonderheit seines Wirkens, die als Auslöser nachhaltiger Irritationen auch von externen Beobachtern vermerkt wur- de und vor allem im Betrieb der modernen Wissenschaft ungewöhnlich scheint: Es ist das weitgehende Fehlen substantieller wissenschaftlicher Publikationen bei gleich- wohl beeindruckender schulbildender Wirksamkeit. Zwar verzeichnet eine Veröf- fentlichungsliste von Gerhard Scholz aus dem Jahr 1961, die im Zusammenhang mit seiner Berufung an die Humboldt-Universität erstellt wurde, insgesamt 24 Titel; doch ergibt sich diese Zahl nur deshalb, weil sie auch Artikel für Tageszeitungen aufnahm 5 Ursula Wertheim: Die marxistische Rezeption des klassischen Erbes. Zur literaturtheoretischen Position von Gerhard Scholz. In: W. Mittenzwei (Hrsg.): Positionen. Beiträge zur marxistischen Literaturtheorie in der DDR, Leipzig 1969, S. 473–527, hier S. 473. 6 Dieter Schiller: „Faszinierender als eine geschriebene Literaturgeschichte“. In: Helle Panke e.V. (Hrsg.): Gerhard Scholz und sein Kreis. Zum 100. Geburtstag des Mitbegründers der Literaturwissenschaft in der DDR, Berlin 2004, S. 31–48, hier S. 31. 7 So Eva-Maria Nahke: Was ein wissenschaftlicher Terminus unerwartet auslöste. In: Ebenda, S. 27–30, hier S. 29. 8 Günter Wirth: Vom moralischen Gewinn. Erinnerungen eines ehemaligen Studenten. In: 100 Jahre Ger- manisches Seminar in Berlin. Internationales Kolloquium, Berlin, 25. und 26. November 1987, S. 289–296, hier S. 294 f. 9 So noch Olaf Reincke: Pionier der Germanistik in der DDR. Dem Literaturwissenschaftler Gerhard Scholz zum 85. Geburtstag. In: Neues Deutschland v. 1.10.1988; ähnlich auch Titel und Tenor der vom Verein „Helle Panke“ herausgegebenen Publikation (wie Anm. 6). Stellvertretend für die externe Beobachtung vgl. Jens Saadhoff: Germanistik in der DDR. Literaturwissenschaft zwischen „gesellschaftlichem Auftrag“ und disziplinärer Eigenlogik, Heidelberg 2007, S. 123–132. 342 Ralf Klausnitzer und qualitativ ungleiches
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