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5 Mohamed Turki Convivencia und Toleranz in Al-Andalus 27 Rosa María Menocal Hasdai ibn Shaprut: Ein Großwesir in Córdoba 37 Antolín Sánchez Cuervo Américo Castro und das interkulturelle Gedächtnis von Al-Andalus 49 Andalusien Mohamed Mesbahi Aspekte des philosophischen Andalusien in der zeitgenössischen arabischen Kultur 77 Europa und das philosophische Erbe von Andalusien Andreas Speer im Gespräch mit Mohamed Turki 85 Helmut Danner Patrick Chabal: »The End of Conceit: Western Rationality after Postcolonialism« 99 Rezensionen & Tipps 142 IMPRESSUM 143 polylog bestellen Mohamed Mesbahi Aspekte des philosophischen Andalusien in der zeitgenössischen arabischen Kultur

Übersetzung aus dem Arabischen von Sarhan Dhouib und Ina Khiari-Loch

»Andalusien ist kein Land, das wir »Was von unserem philosophischen erobert und dann wieder verloren ha- Erbe bleibt, das heißt was in der Lage ben, es ist vielmehr ein Symbol für die dazu ist, mit uns in der Gegenwart Vernunft, die wir oft vernachlässigt und zu überleben, kann nur das Erbe von schlecht behandelt haben und die uns Rushd­ sein.«2 daraufhin verließ. Die Vernunft jedoch Mohamed Mesbahi ist Professor kennt zum Glück keine Rache. Sie wird am Institut für Philosophie zu uns zurückkehren, sobald wir wieder der Universität Mohamed V in zu uns gekommen sind und unsere Feh- Rabat (Marokko). ler anerkennen.«1

2 Mohammed Abed al-Jabri: Naḥnu wa at-turāth: 1 Abdallah Laroui: Al-īdiyūlūğīyā al-‘arabīya al- qirā’āt mu‘āṣira fī at-turāth (Wir und das kulturelle Erbe: mu‘āṣira (Die zeitgenössische arabische Ideologie), 2. Aufl., Zeitgenössische Lesarten des kulturellen Erbes), 6. Aufl., Casablanca 1999, S. 43. Die Monografie erschien zu- Casablanca 1993, S. 49. Eine deutsche Auswahlüber- erst 1967 auf Französisch unter dem Titel: L’idéologie setzung erschien 2009 unter dem Titel: Kritik der ara- polylog 32 arabe contemporaine. Essai critique, Maspero: Paris. bischen Vernunft. Die Einführung, Perlen Verlag: Berlin. Seite 49 Mohamed Mesbahi:

Einleitung: Andalusien als Dieses Ausnahmecharakteristikum ermu- inspirierendes Kulturmodell tigte einige Forscher dazu, von einer »kultu- rellen andalusischen Identität« zu sprechen, Andalusien legte ein kulturelles Gesamtmo- deren Leuchtkraft den Mythos Bagdad im dell vor, welches die Philosophie, die Natur-, Maschrik4 herausforderte. Auf die vorrangige Rechts-, Sprach-, Literatur- und Musikwis- Stellung der andalusischen Kultur weist ihre senschaften sowie die Architektur umfasste. Verteidigung der Vernunft und der Rationali- Im arabischen Sprach- und Kulturraum stellt tät hin, da sie nicht von der Wissenschaft der ... ermutigte einige Forscher dieses Kulturmodell ein Symbol für die Tole- Kalām [Theologie] (‘ilm al-kalām) ausgeht, wie dazu, von einer »kulturellen ranz zwischen den Religionen (Christentum, es etwa die Schule der Mutaziliten5 im Ma- andalusischen Identität« zu Judentum, Islam), für das Zusammenleben schrik tat, sondern von der Philosophie und sprechen, deren Leuchtkraft den der Sprachen (Arabisch, Latein, romanische den mit ihr verbundenen Naturwissenschaf- Mythos Bagdad im Maschrik Sprachen, Hebräisch) und für die Wechsel- ten. Der spanische Forscher Miguel Cruz herausforderte. seitigkeit zwischen unterschiedlichen Ethnien Hernandez unterstreicht den herausragenden und Kulturen dar. Der Einfluss der andalu- Charakter der andalusischen Genialität so- sischen Kultur beschränkte sich dabei nicht wie ihre Verschiedenartigkeit zur arabischen nur auf die zeitgenössische arabische Kultur, Kultur des Maschriks.6 Auf die gleiche Weise sondern hatte sich bereits seit dem 13. Jh. auf verfuhr der arabische Forscher Mohammed die europäische Kultur ausgedehnt.3 Die An- Abed al-Jabri7, der die qualitativ überlegene ziehungskraft der andalusischen Kultur geht Stellung der andalusisch-maghrebinischen auf ihre Originalität und Einzigartigkeit zu- Kultur hinsichtlich der östlich-arabischen rück, ihre Feinheit und Gewandtheit, mit der Kultur zu seiner zentralen These machte, sie alle Bereiche des schöpferischen Lebens denn sie beinhalte einen umfassenden ideo- prägten, sowie auf ihre Rationalität, ihre To- logischen und epistemologischen Bruch mit leranz und ihre Offenheit gegenüber anderen letzterer. So begann Andalusien mit seinen Kulturen. 4 D.h. der östliche Teil der islamischen Welt, im Gegensatz zum Maghreb, dem westlichen Teil der is- 3 Es ist bekannt, dass der Einfluss des andalusi- lamischen Welt. schen Renaissance-Modells auf die europäische Re- 5 Mu‘tazila, eine islamisch-theologische Schule. naissance viel größer war als sein Einfluss auf die 6 Vgl. Miguel Cruz Hernandez: Historia de la moderne arabische Renaissance, da es zur Auslösung Filosofia Espanola: Filosofia Hispano-Musulmana, Bd. 2, der europäischen Renaissance-Ansätze seit dem 12. Alianza editorial: Madrid 1957, S. 40–42; Historia del Jh. in den Bereichen der Naturwissenschaft, Medizin, pensamiento en mundo islamico, Bd. 2, Alianza editorial: Pharmazie und Philosophie beitragen konnte. Europa Madrid 1981, S. 127–129; , un andalusi univer- hatte Aristoteles, Hippokrates, Galenos, Ptolemäus, sal, Distancia, Bd. I, UNED: Madrid 1987. polylog 32 Ibn Badjja (), , Ibn Rushd (Aver- 7 Moḥammad ‘Ābid Al-Ğābirī, marokkanischer Phi- Seite 50 roes), Al-Bitruschi (Alpetragius) u.a. rezipiert. losoph (1935–2010). Aspekte des philosophischen Andalusien in der zeitgenössischen arabischen Kultur

Merkmalen des Rationalismus, des Realismus, phische Aussagen einfließen ließen und den des Humanismus und der Demokratie seiner Neuplatonismus in den Aristotelismus infilt- Ansicht nach eine kulturelle und philosophi- rierten. Auch bei Ibn Arabi11 findet sich ein sche Identität zu verkörpern, die einzigartig Widerhall dieses Konfliktes: In einer seiner ist. Sie ist einzigartig in ihrem Bestreben, die Abhandlungen unterstreicht er die Führungs- Unabhängigkeit der Philosophie gegenüber rolle des Maghreb gegenüber dem Maschrik der Religion – und deren Erscheinungsfor- im Bereich der politischen Herrschaft und des men wie der Wissenschaft des Kalām und Sufismus. Somit waren die Kulturgüter An- dem Sufismus – zu verteidigen sowie in ihrem dalusiens nicht mehr die gleichen wie die des Vielmehr bildet die andalu- Bestreben, die aristotelische Philosophie vom Maschrik. Auch wenn Sahib Ibn Abbad12 an- sische Kultur in den Zeiten der neuplatonischen Einfluss zu befreien. Dieses gesichts des Buches Die einzigartige Halskette13 arabischen Moderne eine Bestreben steht im Gegensatz zur kulturellen von Ibn Abd Rabbih14 mit seinem berühmten Inspirationsquelle für den Identität des Maschriks, die vom Gnostizis- Ausspruch »Das sind unsere Güter, die zu uns Aufbau der neuen mus und der Ekstase auf der Ebene der Seins-, zurückkommen« Recht hatte, so wäre es ein kulturellen Renaissance. Geistes- und Wissenstheorien, von der An- Unrecht, wollte man mit dem gleichen Aus- passung zwischen Philosophie und Religion, spruch die gesamten philosophischen, wissen- von der Vermischung zwischen Philosophie, schaftlichen und musikalischen Schriften An- Kalām und Sufismus auf ideologischer Ebene dalusiens beschreiben. Die kulturellen Güter sowie von der Kombination zwischen Platon Andalusiens hatten sich von denen des Masch- und Aristoteles auf philosophischer Ebene be- riks entfernt und man kann nicht mehr von stimmt wurde. einer Abhängigkeit in Form und Inhalt spre- Diese Konkurrenz zwischen der Kultur chen. Vielmehr bildet die andalusische Kultur Andalusiens und der des Maschriks ist für die in den Zeiten der arabischen Moderne eine arabische Kultur in der heutigen Zeit nicht Inspirationsquelle für den Aufbau der neuen überraschend, vielmehr findet man ihre An- kulturellen Renaissance. zeichen bereits in der Vergangenheit. Erinnert Der Einfluss des andalusischen Kulturmo- sei hier an einige scharfe Aspekte jener Kri- dells auf die arabische Welt nimmt heute zahl- tik Ibn Rushds8 an Ibn Sina9 und Al-Ghazali10, reiche und verschiedenartige Formen an, da weil sie die ascharitische Kalām-Schule und seine Vertreter unter den Philosophen, den den sufistischen Gnostizismus in philoso-

8 Ibn Rušd, lat. Averroes, andalusischer Philosoph 11 Ibn ʿArabī, andalusischer, islamischer Mystiker (1126–1198). (1165–1240). 9 Ibn Sīnā, lat. , islamischer Gelehrter 12 Ṣāḥib Ibn ʿAbbād, Wesir der Buyiden-Dynastie in und Philosoph aus dem Maschrik (980–1037). Ray (Persien), gest. 995. 10 Abū Ḥāmid Al-G˙azālī, islamischer Theologe und 13 Originaltitel: Al-‘iqd al-farīd. polylog 32 Gelehrter aus dem Maschrik (1058–1111). 14 Ibn ʿAbd Rabbih, andalusischer Dichter (860–940). Seite 51 Mohamed Mesbahi:

Sufi und den Denkern, wie etwa Ibn Badjja15, Ebene der politischen Praxis Freiheit und Ibn Tufail16, Ibn Rushd, Ibn Maimun17, Ibn Sa- Meinungsvielfalt und auf der ideologischen bin18, oder Ibn Khaldun19 (als Nach- und kulturellen Ebene Offenheit, Toleranz fahre), unterschiedlichen Strömungen ange- und eine Verbindung zwischen Religion und hörten; sie nahmen diverse Untersuchungen Philosophie die Grundlage dieses Programms vor und bildeten verschiedenartige Ansichten bildeten. Die arabischen ideologischen und über die Welt aus. Allerdings spricht diese kulturellen Strömungen, Linke, Liberale, Vielfalt nicht gegen ein genuin andalusisches Nationalisten und reformistische Islamisten, Die arabischen ideologischen Modell, denn die Bekenntnisse seiner Theo- übertrugen die Metapher oder den Mythos und kulturellen Strömungen, retiker stimmen in ihren mannigfaltigen Aus- Andalusien auf ihre je eigene Art und Weise Linke, Liberale, Nationalisten sagen überein, dass »die Natur des Intellekts in die Gegenwart, um die Bevölkerung zu und reformistische Islamisten, sich das Ganze aneignet«20, sei der Intellekt mobilisieren und die kulturellen Werte der übertrugen die Metapher oder nun Natur, Diskurs oder Religion. Sie öffnen europäischen Moderne zu adaptieren, die als den Mythos Andalusien auf ihre sich gegenüber anderen Kulturen und Wissen- einzige Möglichkeit betrachtet wurden, einen je eigene Art und Weise schaften, und die Mystiker unter ihnen stim- Ausweg aus dem Dilemma der historischen in die Gegenwart. men darin überein, dass die Natur des Einzel- und kulturellen Rückständigkeit zu finden. nen immer in das Ganze mündet. Das Modell Andalusien bietet heute keinen Die modernen arabischen Intellektuellen Anlass mehr, es biologisch oder geographisch fanden im andalusischen Kulturmodell ein zu erfassen, wie in Ibn Rushds logischen und integriertes Programm für kulturelle Erneu- medizinischen Schriften21; ebenso wenig ist erung, politische Reformen und den gesell- der Rückgriff auf dieses Modell Ausdruck ei- schaftlichen Wandel, da auf der Ebene des ner Sehnsucht nach einer einmaligen kulturel- theoretischen Wissens Rationalität, auf der len, wissenschaftlichen und zivilisatorischen Erfahrung, die vorzeitig abgebrochen wurde. 15 Ibn Badjja, lat. Avempace, andalusischer Philo- Vielmehr wird Andalusien zum Vorbild und soph (1095–1138). zur Inspiration für einen Ausweg aus dem Nie- 16 Ibn Ṭufayil, andalusischer Philosoph (1110–1189). dergang des späten Mittelalters (beginnend 17 Ibn Maymūn, lat. Maimonides, andalusischer Phi- losoph (1135–1204). mit dem 13. Jh.). Das andalusische Modell 18 Ibn Sabʿīn, andalusischer Philosoph (1217–1269). ist zugleich islamisch-arabisches Saatgut, das 19 Ibn H․aldūn, tunesischer Historiker und Gelehrter (1332–1406). 21 Ibn Rushd hebt die geographische Stellung An- 20 Abu al-Walid Ibn Rushd: Tahāfut al-tahāfut (Die dalusiens mit der Aussage hervor: »Unser Land, das Inkohärenz der Inkohärenz), hg. v. Maurice Bouyges, 2. ist in der Hitze wie in der Kälte in der Mitte gelegen Aufl., Beirut: Dār al-Mašriq 1987, S. 451. Im Eng- zwischen dem Land Galenos’ und dem Land ar-Ra- lischen erschienen unter: The Incoherence oft the Inco- zis.« Ibn Rushd: Al-kullīyāt fī at-tibb. (Über die Uni- polylog 32 herence, übers. v. Van Den Berg, Cambridge: Gibb versallehre der Medizin), hg. v. Said Chiban u. Ammar Seite 52 Memorial Trust 2008. Talbi, Kairo 1989, S. 365. Aspekte des philosophischen Andalusien in der zeitgenössischen arabischen Kultur

in der europäischen Moderne aufgeht. Diese nannte. Ibn Badjja lehrt die Lebensführung Sicht erlaubt es dem Menschen im arabisch- eines einsamen Philosophen im Staat als Be- islamischen Kulturraum, an der Entwicklung freiung von den gesellschaftlichen, ideologi- der Moderne teilzunehmen und einen Ausweg schen und politischen Zwängen, ja sogar von aus ihrer historischen Krise zu finden. der Bindung zum Heimatland. Die zentrale Problematik, mit der sich Ibn *** Badjja beschäftigte, ist die Bestimmung des Selbst dieses Einsamen. Diese Bestimmung In diesem Beitrag wird nicht über die Formen des Selbst ähnelt der Reflexion des cartesia- Ibn Badjja geht davon der Erscheinung des »Mythos Andalusien« in nischen cogito ergo sum, insofern die Vernunft aus, dass »die Reflexion über der modernen arabischen Kultur im Allge- als Handeln ihr Selbst und ihre Wahrheit ist. Ibn den Menschen selbst« meinen gesprochen. Die Ausführungen wer- Badjja geht davon aus, dass »die Reflexion die vornehmste aller den sich vielmehr auf die Vorstellung einiger über den Menschen selbst« die vornehmste al- Wissenschaften sei. Aspekte des Einflusses der Philosophie Anda- ler Wissenschaften sei, insbesondere wenn ihr lusiens auf die arabische Kultur beschränken. Wissen unmittelbar ohne Einsatz von Sinnen Dies geschieht im Rückgriff auf einige origi- und Begriffen erfolgt.23 Die individualistische nelle Ideen der andalusischen Philosophen, in: Medieval Political Philosophy, hg. v. R. Lerner und wie beispielsweise Ibn Badjja, Ibn Tufail, Ibn M. Mahdi, Ithaka, Cornell University Press: New Rushd, Ibn Arabi und . Auch York 1972, S. 122–133; im Französischen unter: La wenn letzterer eigentlich Tunesier war, entwi- conduite de l’isolé et deux autres épîtres, hg. v. Ch. Gene- ckelte er sich doch an den östlichen Grenzen quand, Vrin: Paris 2010, S. 121–182. 23 Er trifft sich bei seiner Definition des Menschen Großandalusiens. Allerdings konzentriert sich mit einem anderen andalusischen Philosophen, Ibn die Arbeit auf Ibn Rushd, der die größte Auf- Sayyid al-Batliyusi (1052–1127), der sagte: »Das Ziel merksamkeit und den größten Einfluss in der der Wissenschaft vom Menschen ist das Selbst« ; Ibn zeitgenössischen arabischen Kultur genießt. Sayyid al-Batliyusi: Al-ḥadā’iq fī al-matālib al-ʿālīya al-falsafīya al-ʿawīṣa. (Die Gärten der hohen, schwierigen philosophischen Ansprüche), hg. v. Mohamed Radwan 1. Die Idee der Lebensführung des ad-Dāya, Dār al-Fikr: Damaskus 1988, S. 62. Aber Einsamen: Ibn Badjja und Ibn Tufail die Wissenschaft vom Selbst ist eine Wissenschaft vom Objekt, wie Ibn Rushd sagt, so konzentriert sich 1.1 Ibn Badjja ein anderer andalusischer Philosoph, Ibn Maimun Ibn Badjja beeindruckte die gegenwärtige ara- (1135–1204) in seiner Definition des Menschen auf bische Kultur durch seine Kühnheit, einen den Akt der Reflexion und nicht auf seinen Gegen- »neuen Ansatz« in seiner Schrift zu verkün- stand, wenn er sagt: »Der Akt jedes Intellekts ist sein Selbst.« ; Moses Ibn Maimun: Dalāla al-ḥā’irīn (Füh- den, den er Die Lebensführung des Einsamen22 rer der Unschlüssigen), 168: 18–25, im Deutschen 22 Originaltitel: tadbīr al-mutawaḥḥid; im Eng- erschienen unter: Führer der Unschlüssigen, Meiner: polylog 32 lischen erschienen unter The Governance of the Solitary, Hamburg, 2007. Seite 53 Mohamed Mesbahi:

Tendenz bei ihm führt zu seiner Überlegung es nun eine göttliche Philosophie oder ein all- der Einsamkeit, als ob der Mensch von Na- mächtiger Sufismus. Ibn Badjja spricht über tur aus kein politisches Wesen sei. Ibn Badjja die Lebensführung des Einsamen. Diese Le- lehnt jegliche Kommunikation zwischen dem bensführung ist Handeln und Leistung, aber Einsamen und seiner politischen Umgebung mit dem Ziel der Glückseligkeit des isolierten ab und bringt so sein großes Streben nach in- Individuums, das sich nicht mehr dafür inter- dividueller Freiheit und seine Furcht vor jeder essiert, was und wer es umgibt. Es strebt nicht sozialen und politischen Intervention in sein mehr danach, etwas in der Welt zu verändern Ibn Badjja lehnt jegliche Denken und seine Geistesübungen zum Aus- oder bleibende Spuren zu hinterlassen. Es ist Kommunikation zwischen dem druck. Diese Tendenz zur Einsamkeit gipfelte kein Wunder, dass diese Auffassung von einer Einsamen und seiner politischen jedoch in einer Art Wissenschafts- oder Welt- spezifischen Logik begleitet wird, auf die der Umgebung ab. bürgerschaft, das heißt einer Zugehörigkeit, Historiker nicht zurückgreifen kann. Denn die nicht für ein enges politisches Heimatland der Weise entscheidet sich zum Austritt aus gilt, sondern für die weite Heimat der Wis- der Zeit, der Geschichte und der Gesellschaft, senschaft und der Philosophie, die befreit von was kümmern ihn als Außenstehenden dann den Zwängen von Raum und Zeit existiert. noch die Angelegenheiten von ›Außerhalb‹? Die beiden Ideen, die Idee des rationalen Alles, was ihn interessiert, ist lediglich das in- Selbst und die des einsamen Selbst, riefen eine nere Bewusstsein.« 25 vielfältige Resonanz in der arabischen Welt Demgegenüber las al-Jabri das Buch Die Le- hervor, von ihrer lobenden Befürwortung bis bensführung des Einsamen auf eine positive Art hin zu ihrer Ablehnung. Abdallah Laroui24 und Weise. Er übertrug die Epistemologie Ibn zum Beispiel äußerte sich kritisch zur Lebens- Badjjas und die politische Lebensführung auf führung des Einsamen, da sie eine Aufforderung eine Ideologie mit »wissenschaftlich-säkula- zum Nichtstun und Nicht-Äußern sowie eine ren« Wesenszügen26; »wissenschaftlich« weil Nichtbeachtung der Bedeutung von Zeit, Ge- »[…] er das philosophische Schreiben nicht schichte und des Anderen sei. Sie riefe auch nur als Befreiung von den politischen Zwän- dazu auf, notwendige Reformen fallen zu las- gen […], sondern auch von den kulturellen sen. So fragt er: »Was passiert, wenn wir uns Zwängen, unter denen die Philosophie des von der Zeit, der Geschichte, der Arbeit und Maschriks seit ihrem Erscheinen litt, betrach- von dem, was mit all dem verbunden ist, los- tet […]. Wir [al-Jabri] meinen damit die epis­ sagen? Wir kehren zu uns selbst zurück, tren- temologischen Zwänge, welche dieser [Phi- nen uns von der Zeit, streifen alles von uns ab, losophie] von der spekulativen islamischen werden zum Einsamen […]; dieses sind große 25 Abdallah Laroui im Dialog mit der Zeitschrift Sätze aus dem Wörterbuch der Weisheit, sei an-Nahḍa, Ausgabe 8, 2014, S.23. polylog 32 24 ʿAbdallah al-ʿArwī, marokkanischer Historiker 26 Mohammed Abed al-Jabri: Naḥnu wa at-turāth, Seite 54 und Intellektueller (geb. 1933). (Fn. 2), S.174. Aspekte des philosophischen Andalusien in der zeitgenössischen arabischen Kultur

Theologie auf der einen Seite und von der ostarabischen Philosophen, d.h. der Philoso- Grundlage der Gnosis der östlich-arabischen phen der Erleuchtung, die ihre Schulen auf Form des Neuplatonismus auf der anderen einer Idee der Ekstase gründeten.«30 In seiner Seite vererbt wurden27. »Säkular«, weil sie positiven Auslegung der Lebensführung des Ein- bzgl. der Befreiung älter sei als die »Beschäf- samen geht er sogar so weit, dass die Verbin- tigung mit der »Versöhnung« zwischen der dung des Menschen mit dem aktiven Intellekt Religion und der Philosophie« und die »Phi- »auf eine ›kollektive‹ Art und Weise geschieht losophie als Philosophie und nichts anderes«28 und sich durch ihn der Staat vervollkomm- ausübe. Anstatt, dass er sich, wie die Philo- net […] und so befinden wir uns im Einklang Ibn Badjja befasste sich mit der sophen und die andalusischen Wissenschaftler zwischen dem erworbenen Intellekt und dem »Verwirklichung des Überein- mit der Versöhnung zwischen Religion und vollkommenen Staat wieder!«31; das heißt, kommens und der Harmonie Philosophie beschäftigte, befasste er sich mit dass »der erworbene Intellekt selbst, der eine zwischen den mathematisch- der »Verwirklichung des Übereinkommens und absolute ›kollektive Intellekt‹ ist, der sich astronomischen Ideen und den und der Harmonie zwischen den mathema- im vollkommenen Staat mittels selbigem ver- kosmologischen Vorstellungen tisch-astronomischen Ideen und den kosmo- wirklicht.« 32 bzw. zwischen der Naturwis- logischen Vorstellungen bzw. zwischen der senschaft und der Philosophie, Naturwissenschaft und der Philosophie, ohne 1.2 Ibn Tufail ohne jegliche theologische jegliche theologische Problemstellung.«29 Die Erzählung Ibn Tufails Hayy ibn Yaqdhan33, Problemstellung.« Trotz einer Tendenz zur Einsamkeit er- die eine Art Umsetzung der Abhandlung von schien Ibn Badjja für al-Jabri »weitestmöglich Ibn Badjja Die Lebensführung des Einsamen als Abdullas Laroui entfernt von den ›Befürchtungen‹ und ›Kämp- Novelle darstellt, bildete ebenso eine Inspi- fen‹ des Sufismus und den ›Phantasien‹ der rationsquelle für die zeitgenössische arabische 27 Und er fügt hinzu »Die Befreiung von der Wis- kulturelle Identität. Die Geschichte Hayy ibn senschaft des Kalām [Theologie] in Andalusien eman- Yaqdhan beginnt dort, wo Die Lebensführung des zipierte den philosophischen Diskurs, den Ibn Badjja Einsamen endet, d.h. bei einem Einsamen, der aus der Problematik der Versöhnung zwischen dem alle Anforderungen der gesellschaftlichen, re- Wissenstransfer und der Vernunft bzw. der Religi- ligiösen und kulturellen Identität abgelegt hat. on und der Philosophie entwickelt hatte; in gleicher Art emanzipierte die Befreiung vom »ost-arabischen Trotzdem ist er dazu imstande, mit seinen au- Modell« des Neuplatonismus denselben Diskurs von 30 Ebd. S. 200. der wissenschaftlichen Aufgabe, die Religion in die 31 Ebd. S. 201. Philosophie bzw. die Philosophie in die Religion ein- 32 Ebd. S. 201. zugliedern […], um die Wissenschaft wieder zu dem 33 Originaltitel: Hayy ibn Yaqzān (Lebender, Sohn des zurückzubringen, was sie nach Aristoteles war, das Erwachten); im Deutschen erschienen unter: Der Philo- Fundament, auf dem die Philosophie, die es erklärt, soph als Autodidakt. Ein philosophischer Inselroman, Mei- basiert.« Ebd. S.177–178. ner: Hamburg 2009; sowie unter: Hayy Ibn Yaqdhan: 28 Ebd. S. 191. Ein muslimischer Inselroman, Edition Viktoria: Wien polylog 32 29 Ebd. S. 179. 2007. Seite 55 Mohamed Mesbahi:

todidaktischen Ressourcen dieselben Kennt- trachtung den Untergang des Selbst und sogar nisse zu erreichen, welche die Gesellschaft via den Untergang des Betrachteten selbst. So en- Religion erhält. Der Unterschied zwischen det der Weg der Suche nach dem Selbst in ih- beiden Werken ist, dass der Protagonist die- rem Untergang im ersten Prinzip. ser Geschichte versucht, den Staat durch ein Diese originelle Geschichte und ihre Fähig- Bündnis mit ihrem Oberhaupt zu reformieren. keit die kulturelle Wirklichkeit zu erhellen, Er scheitert jedoch, denn die breite Masse erhielt vonseiten der arabischen Philosophen geht ein Bündnis mit den Rechtsgelehrten ein. zunächst keine große Aufmerksamkeit. Die So endet der Weg der Suche Demgegenüber interessiert sich der Einsame Gründe dafür mögen in einer Kultur der Lo- nach dem Selbst in ihrem bei Ibn Badjja nicht für eine Reform des Staa- yalität gegenüber dem Staat liegen. Trotzdem Untergang im ersten Prinzip. tes, weil er einzig um sein eigenes Gewissen findet man bei al-Jabri, dafür ist er bekannt, bemüht ist und einer Weltbürgerschaft ange- eine überraschende ideologische Auslegung hört, welche Einsame wie seinesgleichen um- für diese Geschichte, in der er behauptet: fasst. »Der Rahmen, in dem Ibn Tufail sie [die Er- Die Suche nach dem Selbst ist dieselbe, die zählung Hayy ibn Yaqdhan] konzipiert hatte, Hayy ibn Yaqdhan dazu bewegt, eine Erkenntnis ist derselbe Rahmen, in dem sich Ibn Rushd der physischen und der metaphysischen Welt bewegte, nämlich der einer Trennung von Re- einzufordern. Nach zwei Versuchen der Annä- ligion und Philosophie«34. Und dies sei wie- herung an die Realität seines Selbst als Körper derum »ein deutlicher Hinweis Ibn Tufails auf oder als Kraft im Körper, kommt er schließlich Ibn Sinas Schrift ›Die orientalische Weisheit‹35, dazu, die Vernunft als sein wahres Selbst anzu- in welcher die Religion in die Philosophie sehen, da er dank ihr das Prinzip der Prinzi- eingliedert und eine religiöse Philosophie pien begreift: Gott. Trotzdem gibt er sich mit oder philosophische Religion errichten wer- diesem Selbst nicht zufrieden, weil es das erste den soll.« 36 Al-Jabri zieht daraus den Schluss, Prinzip nicht unmittelbar, sondern mittels Na- dass die Geschichte Hayy ibn Yaqdhan darauf men, Vorstellungen und Begriffen erfasst, und abzielt, für einen säkularen Staat zu plädieren weil das Selbst eines Erkennenden während und weist darauf hin, dass der Versuch des des Erkennens des ersten Prinzips anwesend Protagonisten der Geschichte (Hayy) die Phi- bleibt. Er führte seine Geistesübungen und losophie an die Religion anzunähern, zugleich psychischen Kämpfe fort, bis er in sich selbst sein Scheitern besiegelt und ihn dazu veran- eine rätselhafte Kraft entdeckte, die weder Identität noch Namen hatte und dazu fähig war, 34 Mohammed Abed al-Jabri: Naḥnu wa at-turāth, das erste Prinzip unmittelbar »genießend zu (Fn. 2), S. 254. 35 Originaltitel Al-ḥikma al-mašriqīya, dt. Titel vgl. betrachten« – und dies geschah frei von jegli- Ibn Tufail: Der Philosoph als Autodidakt, (Fn. 33) S. 11. polylog 32 cher Rivalität seitens des betrachtenden Selbst. 36 Mohammed Abed al-Jabri: Naḥnu wa at-turāth Seite 56 Jedoch forderte die Verwirklichung dieser Be- (Fn. 34), S. 254. Aspekte des philosophischen Andalusien in der zeitgenössischen arabischen Kultur

lasst, wieder in sein einsames Leben auf seiner stand Ibn Tufails und seiner Novelle Hayy ibn Insel zurückzukehren. Yaqdhan.« 38 Er verurteilt diese Denkweise als Auch bei Laroui findet man zwei flüchti- hinderlich, weil sie zu »einer Oberflächlich- ge Hinweise für eine mögliche Deutung der keit und Nachlässigkeit gegenüber dem gele- Geschichte: In einem ersten Hinweis unter- senen Text« führe und leicht übersehe, »dass streicht er die Idee der Priorität der Vernunft das Aussehen zwar gleich, aber das Gesehene und der Geschichte vor dem religiösen Gesetz unterschiedlich ist«39. ebenso wie die Idee, dass die Scharia bzw. die Religion nicht für die ganze Menschheit maß- 2. Ibn Rushd als Symbol des ... dass sich im Westen in geblich sei. An diesen beiden Ideen stören sich andalusischen Modells in der verschiedenen Momenten der jedoch die Vertreter des Kalām.37 Der zwei- modernen arabischen Kultur Moderne aus diversen Motiven te Hinweis kommt in Form der Verurteilung und Zielen heraus schon ein einer spezifischen Denkweise daher, nämlich Die beeindruckende Rückkehr Ibn Rushds in intensives Interesse an Ibn einer Denkweise, in der jedes Mal, wenn sich die arabische Welt dokumentiert eine Aktua- Rushd entwickelt hatte, bevor Ähnlichkeiten zwischen dem arabischen Leser lisierung seiner Person als bedeutender Ver- die arabische Welt begann, sich und den europäischen Modernisten finden, treter des andalusischen Modells, dem jedoch für ihn zu interessieren. auch das kulturelle Erbe Andalusiens hinzu- ganz kontroverse kulturelle Bedeutungen zu- gezogen wird. Denn dies wäre so, als ob man, geschrieben werden. Dabei sei darauf hinge- wenn »man [bei Jean-Jacques Rousseau] liest, wiesen, dass sich im Westen in verschiedenen dass ein Individuum einsam war oder auf ei- Momenten der Moderne aus diversen Motiven ner abgelegenen Insel als Einsiedler lebte, sich und Zielen heraus schon ein intensives Inter- unmittelbar zurück versetzt fühlte in den Zu- esse an Ibn Rushd entwickelt hatte, bevor die 37 Abdallah Laroui sagt: »Ibn Rushd schlägt nach arabische Welt begann, sich für ihn zu inte- Ibn Tufail ein geistiges Experiment vor, indem er ressieren. Dies wird z.B. aus den Arbeiten sagte: Wir müssen uns einen einsamen Menschen von S. Munk, E. Renan, L. Gauthier und A. vorstellen und das, was er allein mittels der Geset- Alonso bis hin zu L. Brunschvicg, M. Cruz ze der Natur vermag, beleuchten, was werden wir Hernandez, G. Nogalis, Alfred L. Ivry, Ch. E. entdecken? Diese Vorstellung stößt jedoch nicht auf Butterworth, G. Endress, A. de Libera und J. die historische Wirklichkeit. Gibt es denn etwa kei- ne lange Geschichte vor der Offenbarung? Existierte Puig Montada ersichtlich. Aus diesem Grund nicht eine Menschheit, die noch nicht die Offenba- existieren in der modernen westlichen Kultur rung ereilte? Das ist der Punkt, der die Gelehrten vielfältige und unterschiedliche Vorstellun- des Kalām aufbrachte und nach einer Beseitigung gen von Ibn Rushd: So wurde er als Andalu- bzw. einer Verkürzung der Geschichte verlangte, bis sier betrachtet, der in erster Linie für Europa dass das vorgeschlagene Experiment nur noch eine unbedeutende Farce sein würde.« Abdallah Laroui: 38 Abdallah Laroui: Einleitung der Übersetzung Es-sunna wa al-islah (Die Sunna und die Reform), Casab- des Buches Dīn al-fitra( Naturreligion), S. 18. polylog 32 lanca: 2008, S. 12. 39 Ebd. Seite 57 Mohamed Mesbahi:

geschaffen war (bspw. bei A. R. de Mendiz- mit konnten sich eine Vielzahl von Interpre- abal40); andere schwanken zwischen seiner tationsrichtungen und Lesarten seines Den- Beschreibung als Philosoph mit spanischer kens etablieren. Dementsprechend bildeten Prägung und als universalistischer Andalusi- sich viele divergierende Vorstellungen seines er (bspw. bei M. Cruz Hernandez41); wieder kulturellen Wirkens in unterschiedlichen andere verbinden ihn mit einer westlichen Momenten der arabischen Renaissance und Tradition, die lateinisch bzw. jüdisch »Averro- Moderne heraus (wie in der Arabischen Re- ismus« genannt wird (bspw. bei E. Renan42). naissance (an-Naḥḍa), der Revolutionszeit, der Farah Antuns Verbundenheit Darüber hinaus gibt es solche, die ihn mit Niederlage von 1967, der Zeit der Verbreitung mit Ibn Rushd geht auf seine Aristoteles verbinden43 und andere betrach- des Salafismus und Fundamentalismus). Die- Überzeugung zurück, dass die ten ihn als renommierten Rationalisten im Is- se divergenten Vorstellungen gehen ihrer- Rückkehr zur Vernunft den lam (bspw. bei R. Arnandez44), während sich seits aus heterogenen kulturellen, dogmati- Schlüssel für die arabische manch andere wiederum damit begnügen, ihn schen, wissenschaftlichen, ideologischen und Renaissance biete. in den Kontext seiner Zeit, d.h. ins Zeitalter politischen Motiven hervor, sie sind liberal, der Almohaden des 12. Jahrhunderts, einzu- aufgeklärt, säkular, marxistisch, offen isla- ordnen (bspw. bei A. Hasnawi45). misch-salafistisch oder dogmatisch islamisch- In der arabischen Welt jedoch entstand das salafistisch. Im Folgenden sollen kurz drei Interesse an dem Philosophen von Córdoba Momentaufnahmen des kulturellen Einflusses ab Mitte des 19. Jahrhunderts und wurde von von Ibn Rushd auf die moderne arabische Kul- Jahr zu Jahr umfassender und komplexer. So- tur dargestellt werden: sein Einfluss auf das Verständnis der »reinen Rationalität« und der 40 Zu Beginn der 1970er Jahre erschien das Buch des spanischen Forschers Allendem Rafael de Men- »religiösen Rationalität« sowie seine Bestim- dizalbal: Averroes, un andaluz para Europa, I.D.E.A. : mung der Grenzen der Rationalität. Madrid 1971. 41 Vgl. Fn 6. 2.1 Die reine Rationalität 42 Vgl. : Averroès et l’averroïsme, in: Farah Antun46 initiierte die Rückkehr Ibn ders., Œuvres complètes, Bd. III, Calmann-Lévy: Rushds in die arabische Welt, da er ihn als Paris 1949. Vgl. dazu ebenfalls: Ibn Rushd in the Wes- tern Tradition, Textes and studies I., Collected by Fuat prägnante Verkörperung des andalusischen Sezgin, Frankfurt: 1999. Modells betrachtete, welches als Rationalität, 43 Vgl. Gerhard Endress: Averroes and the Aristote- Säkularität, Toleranz und Offenheit gegen- lian Tradition: Sources, Constitution and Reception of the über dem Anderen beschrieben wird. Antuns Philosophy of Ibn Rushd (1126–1298), Brill: Leiden 1999. Verbundenheit mit Ibn Rushd geht auf seine 44 Vgl. Roger Arnaldez: Averroes. Un rationaliste en Überzeugung zurück, dass die Rückkehr zur Islam, Balland: Paris 1998. Vernunft den Schlüssel für die arabische Re- 45 Vgl. Ahmad Hasnawi (Hg.): La lumière et l’intel- polylog 32 lect: la pensée scientifique et philosophique d’Averroès dans naissance biete, die Ablehnung der Vernunft Seite 58 son temps, Peeters: Leuven 2011. 46 Faraḥ Anṭūn, syrischer Reformer (1874–1922). Aspekte des philosophischen Andalusien in der zeitgenössischen arabischen Kultur

hingegen als Ursache für den kulturellen se verkörpern lediglich Ibn Rushds Absicht, Niedergang der Araber angesehen werden der konservativen Strömung seiner Zeit zu müsse. Diese Lesart zog zahlreiche arabische schmeicheln, um sich vor deren Machenschaf- Denker und Forscher an, wie Zaki Naguib ten zu schützen. Vielleicht veranlasste dieser Mahmoud47, Atef al-Iraki48, Mourad Wah- Standpunkt Laroui dazu, über den einsamen bah49, Majid Fakhry50, Zaineb Al-Khouderi51, Mensch zu sagen, dass »er allein Kraft der Abdelmajid al-Ghannouchi52 oder Jamal-Ad- Naturgesetze in der Lage ist, zu entdecken«, din Al-Aloui53. was die Offenbarung beinhaltet. Der Enthu­ Für diese aufgeklärte und säkulare Strö- siasmus eines der arabischen Intellektuellen ... wird die These vertreten, dass mung umfasst die Rationalität eine Reihe bei der Verteidigung der Rationalität Ibn Rus- der wahre Standpunkt Ibn Rush- von grundlegenden Ansprüchen und Bedeu- hds reichte sogar so weit, dass er sie als Er- ds aus seinen Kommentaren zu tungen, und führt u.a. zu einer größeren gebnis einer streng demonstrativen und axiomati- Aristoteles und nicht aus seinen Gewichtung des rationalen und wissenschaftlichen schen Tendenz betrachtete. Al-Jabri war es, der islamisch-rechtlichen und Aspekts im Denken Ibn Rushds gegenüber sei- die Rationalität des Philosophen aus Córdoba -theologischen Abhandlungen nen islamisch-theologischen und -rechtlichen als eine »Tendenz« beschrieb, »die aus einem hergeleitet werden sollte. Werken. In dieser aufgeklärten Lesart wird kritischen wissenschaftlichen Geist hervor- daher die These vertreten, dass der wahre geht und einem rationalen Denksystem ange- Standpunkt Ibn Rushds aus seinen Kommen- hört, das sich auf die axiomatische Sichtweise taren zu Aristoteles und nicht aus seinen stützt, welche die Dinge durch die Totalität, islamisch-rechtlichen und -theologischen Ab- zu der sie gehören, sowie durch die Funktion, handlungen54 hergeleitet werden sollte. Die- die sie innerhalb dieser Totalität einnehmen, 47 Zakī Nağīb Maḥmūd, ägyptischer Philosoph und betrachtet«55. Diese Tendenz zur umfassen- Intellektueller (1905–1993). den Totalität manifestiere sich in den Bemü- 48 ʿĀṭif al-Irāqī, ägyptischer Philosoph und Intellek- hungen Ibn Rushds, »die demonstrative Me- tueller (1935–2012). thode sowohl im Bereich der Theorie als auch 49 Murād Wahba, ägyptischer Philosoph und Intel- der Jurisprudenz anzuwenden. Damit würden lektueller, geb.1926. 50 Māğid Fakhrī, zeitgenössischer libanesischer For- und übers. v. F. Schupp, Meiner: Hamburg 2009). scher und Philosoph. Manāhiğ al-’adilla, im Dt. ersch. als: Die Untersu- 51 Zaynab al-Khudayrī, zeitgenössische ägyptische chung über die Methoden der Beweise, Stuttgart: Reclam Philosophieprofessorin. 2010; Tahāfut at-tahāfut (Die Inkohärenz der Inkohärenz); 52 ʿAbd al-Magid al-G˙annūchī, war tunesischer Philo- Bidāya al-muğtahid (Über die Rechtsfindung in der islami- sophieprofessor. schen Jurisprudenz) und Talkhīṣ al-mustaṣfa (Kommentar 53 Ğamāl ad-dīn al-ʿAlwī, war marokkanischer Philo- zur Methodenlehre). sophieprofessor. 55 Mohammed Abed al-Jabri: At-turāth wa al- 54 Der Autor bezieht sich auf die Schriften: Faṣl ḥadātha, dirāsāt wa munāqašāt (Das Erbe und die Moderne. al-maqāl, (Dt. Averroes: Die entscheidende Abhand- Studien und Diskussionen), Casablanca-Beirut 1991, S. polylog 32 lung, übers. v. P. Schärer, Reclam: Stuttgart 2010; 202. Seite 59 Mohamed Mesbahi:

diese Bereiche von der ›Doxa‹ zur Gewissheit die der Natur innewohnende Rationalität in sowie von der Annahme zur Bestimmtheit Form von Prinzipien und Gesetzen des Wis- übergehen«56, unter Berücksichtigung »aller sens zum Ausdruck kommt. Drittens wird ihrer Prinzipien und Ursprünge«57. Bei ihm erkannt, dass die Einheit der Vernunft eine baut somit die Rationalität im Bereich der re- Gültigkeit der Vernunft in der Aussage ge- ligiösen Wissenschaften auf der »Intention des währleistet, insbesondere wenn das Gesagte Gesetzgebers« auf, während sie im Bereich der aufrichtig und Ausdruck der Einheit der Ver- theoretischen Wissenschaften auf der Idee der nunft, des Vernunftgeleiteten und des Ratio- Ein Aspekt der Rationalität »natürlichen Kausalität« beruht.58 Mit diesen nalen ist. Daraus resultiert, dass die Ordnun- bei Ibn Rushd, für den sich Zuspitzungen beabsichtigte al-Jabri die zeitge- gen der Vernunft, des Diskurses und des Seins die aufgeklärten arabischen nössische arabische Kultur dazu zu ermuntern, einander bedingen und gleichberechtigt sind. Intellektuellen maßgeblich sich die demonstrative axiomatische Vorge- Viertens lässt sich diese Theorie der Einheit interessierten, ist seine These hensweise Ibn Rushds anzueignen, um sich der Vernunft auch gegen einen spezifischen von der Einheit der Vernunft. an der Entwicklung der Kultur der Moderne Eurozentrismus verwenden, der behauptet, effektiver beteiligen zu können. allein jene Vernunft zu besitzen, aus der allein Ein Aspekt der Rationalität bei Ibn Rushd, Wissenschaft, Philosophie und Kultur hervor- für den sich die aufgeklärten arabischen Intel- gehen. lektuellen maßgeblich interessierten, ist seine Allerdings konnte diese Begeisterung für These von der Einheit der Vernunft. Das Inter- die These der Einheit der Vernunft die Vertre- esse an dieser These ist wesentlich auf ihren ter dieser aufgeklärten Strömung nicht daran Appell zurückzuführen, alle Menschen, Kul- hindern, Ibn Rushds Einteilung der mensch- turen und Zivilisationen in ihrer Teilhabe an lichen Vernunft in drei Arten besonders her- den Prinzipien der Vernunft und Methoden vorzuheben: (1) die Vernunft der breiten Mas- des Denkens als gleich anzusehen. Zweitens se, d.h. die rhetorische, poetische Vernunft, hebt diese These hervor, dass die Vernunft in (2) die Vernunft der Vertreter des Kalām (die der Natur gültig ist, was einen Dialog zwi- Theologen), d.h. die dialektische Vernunft, schen beiden einschließt und dazu führt, dass sowie (3) die Vernunft der Philosophen und 56 Ebd., S. 203. Wissenschaftler, d.h. die demonstrative Ver- 57 Ebd. nunft. Die arabischen Rationalisten schätzen 58 Er sagt über den axiomatischen Vergleich zwi- diese Einteilung, da sie zur Anerkennung schen dem Prinzip der Rationalität der Religion und zweier Prinzipien der Kultur der Post-Moder- dem Prinzip der Philosophie: »So wie die Rationalität ne führt: Pluralismus und Differenz.59 in den Naturwissenschaften sowie in der Theologie und Philosophie auf das Prinzip der Kausalität auf- 59 Über die Idee der Differenz sagte Ibn Rushd: baut, so gründet es sich in der Rationalität der juristi- »Wer alle Menschen anlässlich der Belehrung aus- polylog 32 schen Wissenschaften auf das Prinzip der Absichten nahmslos gleich behandelt, der würde einem entspre- Seite 60 des Gesetzgebers.« Ebd., S. 209. chen, der sie auch in Bezug auf irgendeine beliebige Aspekte des philosophischen Andalusien in der zeitgenössischen arabischen Kultur

Ein weiterer wichtiger Aspekt der Rationa- verse in demonstrative Bedeutungen zu trans- lität bei Ibn Rushd, der das kulturelle Klima formieren; dies soll ohne Raum für Wider- in der arabischen Welt bewegte, ja spaltete, ist sprüche geschehen, d.h. die Transforma­tion seine Verteidigung des Rechts der Philosophie auf von Symbolen, allegorischen Versen, Wun- eine Existenz neben dem der Religion. Diese dern, Erzählungen und islamisch-rechtlichen Verteidigung geschieht zunächst in Form einer Mythen soll in wissenschaftliche Verfahren Bestätigung der Einheit der Wahrheit, die in und Erkenntnisse münden. Es gab zahlreiche Ibn Rushds bekanntem Ausspruch »Die Wahr- und vielfältige Antworten der modernen ara- heit setzt der Wahrheit nichts entgegen«60 er- bischen Intellektuellen auf Ibn Rushds Aufruf ... die demonstrative Inter- sichtlich wird. Diese Einheit wurde zwischen zu dieser Art von demonstrativer Interpre- pretation, die eine Form der der islamisch-rechtlichen Wahrheit und der tation. Einige Intellektuelle betrachten das Verteidigung der Legitimität philosophischen Wahrheit aufgebaut, welche Monopol der Philosophen auf das Recht zur der Philosophie bei Ibn zwar von dem Wunsch nach einer Verbindung Interpretation der religiösen Texte, das mit Rushd darstellt, zielt darauf zwischen beiden, jedoch auch von dem Ziel, dem Ausschluss des Volkes von diesem Inter- ab, allegorische Koranverse in keine Versöhnung bzw. Vermischung zwischen pretationsverfahren einhergeht, als eine Mar- demonstrative Bedeutungen zu beiden zu bezwecken, ausgeht. ginalisierung der sozialen Funktion der Philo- transformieren; Jedoch kann der Glaube an die Einheit zwi- sophie.61 Andere haben Ibn Rushds Aufruf als schen der religiös-rechtlichen und der philo- eine Interpretation einer Art »Verborgenheit« sophischen Wahrheit nicht die Widersprüche gesehen, welcher die zwei Seiten der Wahr- zwischen den Urteilen der Scharia und den heit zwischen der äußeren Erscheinung und Beweisführungen der Vernunft leugnen. Von dem Inneren vertritt […]. Es gibt zudem eine diesen Widersprüchen ausgehend, entwickelt große Gruppe von arabischen Intellektuellen, sich die Notwendigkeit der demonstrativen die die demonstrative Interpretation als einen Interpretation, welche Ibn Rushd wie keinem Schutz des Korantextes vor einem dialekti- anderen Philosophen eigen ist. Sein Aufruf an schen Zugriff und den Streitigkeiten der Ver- die Philosophen, die demonstrative Interpreta­tion treter des Kalām betrachten, die mit ihren wi- auszuüben, die eine Form der Verteidigung dersprüchlichen und sterilen Interpretationen der Legitimität der Philosophie bei Ibn Rushd die Einheit der Nation bedrohten. Zugleich darstellt, zielt darauf ab, allegorische Koran- schütze die demonstrative Demonstration die Tätigkeit ausnahmslos gleich behandelt. Dies alles Gelehrten vor einer Einschüchterung durch widerspricht­ sowohl dem, was von den Sinnen, als die ungebildete Meinung der breiten Masse. auch dem, was vom Intellekt erfasst wird.« Aver- roes: Die Untersuchung über die Methoden der Beweise, Reclam: Stuttgart 2010, S. 142. 61 Nassif Nassar: Al-išārāt wa al-masālik, min’īwān 60 Averroes: Die entscheidende Abhandlung und die Ibn Rušd’ilā rihāb al-ʿilmāniya (Hinweise und Methoden. Urteilsfällung über Verhältnis von Gesetz und Philosophie, Aus Ibn Rushds Palast in die Weiten des Säkularismus), Bei- polylog 32 Meiner: Hamburg 2009, S. 19. rut 2011, S. 26. Seite 61 Mohamed Mesbahi:

Neben dem Anliegen, Religion und Phi- Philosophie und der Religion, damit »die Re- losophie zu verbinden, an der insbesondere ligion innerhalb der Religion und mit ihren die Vertreter der modernistischen Lesart ein eigenen Mitteln, genauso wie die Philosophie großes Interesse hatten, gab es ein anderes, innerhalb der Philosophie und mittels ihrer beinahe entgegengesetztes Bestreben, das eigenen Prämissen und Absichten verstan- ein großes Interesse hervorrief, nämlich die den wird. Dies ist der Weg zur Erneuerung Notwendigkeit, zwischen einer philosophischen und innerhalb der Religion und der Philosophie einer religiösen Rationalität zu unterscheiden und und so sollten wir diese Methode von ihm »Dies ist der Weg zur Erneue- diese wiederum von einer theologischen (Kalām) und [Ibn Rushd] übernehmen, um unsere Authen- rung innerhalb der Religion und sufistischen Rationalität. Hinsichtlich der Un- tizität zu modernisieren und unsere Moderne der Philosophie und so sollten terscheidung zwischen Religion und Kalām authentisch zu machen.«62 Um den Gegensatz wir diese Methode von ihm [Ibn vertreten einige Autoren eine klare Trennung zwischen den beiden Modellen – dem des Ma- Rushd] übernehmen, um unsere zwischen beiden, da sie befürchten, dass eine schrik und dem andalusisch-maghrebinischen Authentizität zu modernisieren Vermischung zur Transformation der reli­ – hervorzuheben, praktiziert al-Jabri drei und unsere Moderne authen- giösen Texte und zum Schauplatz eines Kon- Herangehensweisen, eine historische, eine tisch zu machen.« fliktes zwischen Ansichten und Rechtsschu- ideologische und eine erkenntnistheoretische, len führe […]. Doch die Trennung zwischen aus denen er drei Erkenntnisordnungen ablei- Mohammed Abed al-Jabri dem Verständnis der Scharia und dem der tete: die der demonstrativen Beweisführung Philosophie bzw. »die Trennung der Scharia (bayān), die der Gnostik (ʿirfān) und die der von der Weisheit« wird von vielen Vertretern Rhetorik (burhān). Nach ihm sei die Rationali- der Aufklärung auch als Genese der »Tren- tät des historischen Andalusien als demonstra- nung der Religion vom Staat« (Säkularisie- tiv zu charakterisieren, während sich die Rati- rung) betrachtet, als ob die Politik, d.h. die onalität des Maschriks in die rhetorische (der Errichtung eines neutralen Staates gegenüber Abassiden) und die gnostische (der Fatimiden) den verschiedenen religiösen Glaubensrich- Erkenntnisordnung spaltet. So kommt al-Jabri tungen des Volkes, das Ziel von Ibn Rushds zu dem Ergebnis, dass die Hoffnung der ara- philosophischem Projekt gewesen wäre. In bischen Welt eng mit der andalusischen Kul- diesem Zusammenhang vertritt der Autor des tur verknüpft sei, denn sie ist in der Lage, die Werkes Kritik der arabischen Vernunft, al-Jabri, arabische Vernunft von der Nicht-Kausalität die These, dass »die Trennung zwischen Phi- der islamischen Theologie und dem Irrationa- losophie und Scharia« eines der Kriterien für lismus der islamischen Mystik zu befreien und die Unterscheidung zwischen der Philosophie den Weg in die Rationalität der Moderne zu im Maschrik (Farabi und Ibn Sina) […] und ebnen. Nach al-Jabri sind wir in der heutigen der andalusisch-maghrebinischen Philosophie Zeit entweder Averroisten oder wir verlieren polylog 32 (Ibn Badjja und Ibn Rushd) sei. Denn letzte- 62 Mohammed Abed al-Jabri: Naḥnu wa at-turāth Seite 62 re unterscheide zwischen den Bereichen der (Fn. 2), S. 51. Aspekte des philosophischen Andalusien in der zeitgenössischen arabischen Kultur

uns zwischen der Nicht-Kausalität der speku- wie die meisten Philosophen, Wissenschaftler lativen Theologie im Islam und dem Gnostizis- und Theologen, mit denen er sich auseinan- mus der Sufis […]. Mit anderen Worten, wir dersetzte (wie beispielsweise Platon, Galenos, sollten einen »zeitgenössischen arabischen Hippokrates, Ptolemäus, Themistios, Alexan- Averroismus« entwerfen, der im Bereich der der von Aphrodisias, Nikolaos von Damaskus Erkenntnistheorie auf der demonstrativen Be- oder Porphyrios). Unter den muslimischen weisführung und im Bereich der Politik und Philosophen kritisierte Ibn Rushd sowohl Al- Ideologie auf Demokratie und Rationalität ba- Farabi, Ibn Sina und Al-Ghazali als auch Ibn siert. Die Bedingung für all dies ist jedoch die Badjja. Überdies richtete sich seine scharfe Denn relevant an den Wissen- Beständigkeit in der eigenen Tradition, d.h. Kritik auch an die spekulativen Theologen schaften und den Instrumenten der Ausgangspunkt ist die Verankerung der (Mutakalimun), die sufistischen Mystiker und sind nach Ibn Rushd allein Begriffe und Werte der Moderne im eigenen die islamischen Rechtsgelehrten. deren Gültigkeit und Fähigkeit, Erbe, damit deren Akzeptanz vonseiten des Die arabischen Denker zogen jedoch auch wissenschaftlich zu sein, der arabischen Denkens der Gegenwart nicht er- Nutzen aus Ibn Rushds Fatwa über die Pflicht Glaube spielt dabei keine Rolle. schwert werde. Unter dieser Beständigkeit in zur Philosophie und die Pflicht, von dem wis- der Tradition wird nichts anderes verstanden senschaftlichen Erbe zu profitieren. Sie bezo- als die Beständigkeit im andalusischen Modell gen sich auf Ibn Rushds Fatwa in Die entschei- der Rationalität, vor allem im Modell der Art dende Abhandlung, um die Offenheit gegenüber nach Ibn Rushd. einer anderen Kultur zu rechtfertigen, auch Aber auch die kritische Herangehenswei- wenn sich diese von der Religion des Islam se Ibn Rushds fand bei einigen aufgeklärten unterscheidet. Denn relevant an den Wissen- arabischen Intellektuellen Beachtung, mit schaften und den Instrumenten sind allein de- der Absicht, die Fähigkeit zu einer Änderung ren Gültigkeit und Fähigkeit, wissenschaftlich in der arabischen Kultur zu bestärken.63 In zu sein, der Glaube spielt dabei keine Rolle. der Tat praktizierte Ibn Rushd die Kritik in Zweifellos bestätigt die These der Notwen- umfassender Form, denn seine kritischen digkeit zur Offenheit gegenüber den Wis- Anmerkungen betreffen die meisten Unter- senschaften, Kulturen und zivilisatorischen suchungsgegenstände, die rationalen und Erfahrungen der Anderen zugleich, dass der religiös-rechtlichen Wissenschaften ebenso Glaube und die Kultur bzw. die Scharia und das Wissen im Islam zwei unterschiedliche 63 Es gibt eine große Zahl an Schriften, die sich mit Dinge sind. Jede Vermischung zwischen bei- dem kritischen Denken bei Ibn Rushd befassen. Vgl. den muss zu katastrophalen Ergebnissen so- als Beispiel den Artikel von Atef al-Iraki:»Al-ḥiss an- wohl im Bereich der Religion als auch im Be- naqdī ʿind al-faylasūf Ibn Rušd« (Das kritische Empfinden reich der Wissenschaft und der Kultur führen. beim Philosophen Ibn Rushd), in der Zeitschrift ʿĀlim al-fikr (Die Welt des Denkens), April–Juni 1999, Die islamische Theologie wird beispielsweise polylog 32 S. 67–102. in Bezug auf die islamische Literatur, die isla- Seite 63 Mohamed Mesbahi:

mische Wissenschaft und die islamische Wirt- arabische Kultur, sich über ihre lokalen Gren- schaft irrelevant, denn sie würde nur einen zen hinwegzusetzen und nach einer globalen Deckmantel darstellen, der das freie Denken Perspektive zu streben. und das Recht auf Kreativität behinderte so- wie die wissenschaftliche Tätigkeit kontrol- 2.2 Die religiöse Rationalität lierte. Dies würde sowohl die Religion als Neben den rationalistischen Lesarten mit ih- auch die Forschungsgegenstände und Wissen- ren unterschiedlichen Varianten entstand in schaften aus ihrem natürlichen Fluss bringen der arabischen Welt eine kulturelle Strömung, Daraus folgt, dass die und sie in leere Ideologien wandeln. die Ibn Rushd religiös interpretiert. Diese Lesart Strömung der Aufklärung unter Daraus folgt, dass die Strömung der Auf- versteht die eigentliche Problemstellung Ibn den arabischen Intellektuellen klärung unter den arabischen Intellektuellen Rushds als die der Versöhnung zwischen Philo- von der demonstrativen von der demonstrativen Herangehensweise sophie und Religion und zieht die Offenbarung Herangehensweise abhängig abhängig ist, die im universalistischen und der Vernunft und die Religion der Philosophie ist, die im universalistischen allumfassenden Charakter des Denkens von vor.65 Bei den Vertretern dieser Lesart wird und allumfassenden Charakter Ibn Rushd begründet ist. Nach der Meinung Ibn Rushd vor allem als islamischer Rechts- des Denkens von Ibn Rushd vieler Vertreter dieser Strömung richtete der gelehrter (faqīh) verstanden, der die Scharia begründet ist. Philosoph von Córdoba seinen philosophi- verteidigt und für eine gläubige Rationalität schen und wissenschaftlichen Diskurs an die plädiert, welche die Philosophie in den Dienst gesamte Menschheit und nicht nur an eine der Religion stellt. Einige unter ihnen gingen bestimmte Kultur, Religion oder Epoche. bei ihrer Beschreibung Ibn Rushds sogar so Daher habe sein Erbe es verdient, als global weit, ihn einen »sunnitischen Rechtsgelehr- zu gelten. Laroui bringt diese Idee wie folgt ten bzw. einen Salafisten [zu nennen], der die zum Ausdruck: »Wir sprechen von Ibn Rushd­ Philosophie hasst und sich von jeglicher me- als Horizont, weil sein Denken die höchste taphysischer Reflexion distanziert. Ibn Rushd Stufe erreichte, zu der die denkende Mensch- untersuche nur ›nach dem, was zum Handeln heit der damaligen Zeit […] gelangt ist. Kei- ner ist bei der Erforschung der Probleme, zu Paradoxien), Casablanca-Beirut 1996, S. 33. In Erin- nerung an die Tagung zum Thema Al-’ufuq al-kawnī fī denen er vordrang, weiter gekommen als er. fikr Ibn Rušd (Der universelle Horizont des Denkens von Ibn Aus diesem Grund fühlten sich die Juden wie Rushd), die ich in Marrakesch im Jahr 1998 organi- die Christen zu ihm hingezogen. Das Wissen, siert habe. Die Akten dieser Tagung wurden im Jahr das Ibn Rushd bereitstellte, war alles, was 2001 in Rabat herausgegeben. für die Menschheit in seiner Epoche verfüg- 65 Als Pionier dieser religiösen Rationalität gilt bar war. […] Ibn Rushd ist einer der Pfeiler Muḥammad ʿAbduh (1849–1905). In seiner Linie stehen direkte sowie indirekte Schüler wie Maḥmūd der Universalgeschichte«.64 Dies ermutigt die Qāsim (1913–1973), Muḥammad Bīṣār (1910–1982), polylog 32 64 Abdallah Laroui: Mafhūm al-ʿaql: maqāla fī al- Muḥammad ʿAmāra (geb. 1931) und Ḥassan Ḥanafī Seite 64 mufāraqāt (Der Begriff der Vernunft: Abhandlung über die (geb. 1935). Aspekte des philosophischen Andalusien in der zeitgenössischen arabischen Kultur

motiviert‹, wie der Imam Malik sagte«!66 Im spektierte er die grammatischen und seman- Unterschied zur aufklärerischen Strömung tischen Regeln der arabischen Sprache.70 Es betrachten die Vertreter dieser Lesart ande- ist vielmehr so, dass »die philosophische Spra- re Abhandlungen67 Ibn Rushds als Referenz- che nur dann das Niveau einer erfolgreichen werke, d.h. als solche, denen man sich wid- Mitteilung erreichen kann, wenn sie auf die men sollte, um das wirkliche Denken von Ibn Anforderungen des pragmatischen Bereiches Rushd erfassen zu können. In diesen Werken des Adressaten reagiert«.71 Somit »lebte Ibn würde er sich zu einer gläubigen Rationalität Rushd zwar unter uns, aber er schrieb für die bekennen und Partei für die Rechtsgelehrten, anderen«.72 Das ist der Grund für die Ableh- »[...] lebte Ibn Rushd zwar unter die Sufi und die Vertreter des Kalām, insbe- nung seiner philosophischen Abhandlungen, uns, aber er schrieb für die sondere für al-Ghazali, ergreifen. Die Denker die in einer Sprache verfasst sind, die den reli- anderen.« dieser Interpretation betonen zudem, dass der giösen, semantischen und sprachlichen Raum, Richter von Córdoba eher vom Platonismus für den sie geschrieben wurden, nicht respek- Taha ʿAbd Ar-Rahman beeinflusst wurde als von Aristoteles68 und tiert. Darüber hinaus sei er im tiefsten Inne- eher von der islamischen Theologie und dem ren ein Befürworter der Tradition im Bereich Sufismus als von der Philosophie. der Philosophie und des Glaubens.73 Im Gegensatz dazu steht die Lesart von Taha Abd al-Rahman69, der zum Ergebnis 2.3 Grenzen des Rationalismus bei Ibn Rushd kommt, dass eine derartige Aktualisierung Neben diesem einen Vertreter der religiösen Ibn Rushds nicht zielführend sei. So beachtete Rationalität finden wir mehr als einen auf- Ibn Rushd weder den pragmatischen Bereich geklärten Denker, der die These vertritt, es der Scharia, denn er versuchte nicht, seine sei nicht zielführend, auf Ibn Rushd zurück- Sprache der des Korans anzupassen, noch re- zugreifen, um einen Ausweg aus der histori- 66 ʿAbd al-Mağīd Aṣ-ṣagīr: »Al-minhağ ar-rušdī schen und kulturellen Krise zu finden, in der wa ’athruhu fī al-ḥukm ʿalā Ibn Rušd ladā magāriba wir uns derzeit befinden. al-qarnīn as-sādis wa ath-thālith ʿašar lil-hiğra (Ibn Rushds Methode und ihre Wirkung für das Urteil über Ibn Rušd bei den Maghrebinern des 12. und 19. 70 Vgl. Ṭaha ʿAbd Ar-Raḥmān: Lugat Ibn Rušd al- Jahrhunderts)«, in: Aʿmāl nidwa Ibn Rušd wa madrasatihi falsafīya min khilāl ʿarḍihi li-nazarīya al-maqūlāt (Die fī al-garb (Akten der Tagung zu Ibn Rušd und seiner Schule philosophische Sprache Ibn Rushds in seiner Darstellung im islamischen Westen), 2. Aufl., Rabat 2013, S. 337. der Theorie der Kategorien), in: Ḍimna aʿmāl nidwa Ibn 67 Der Autor nennt die Schriften: Die entscheidende Rušd wa madrasatihi bil-garb al-’islāmī (Akten der Abhandlung, Die Untersuchung über die Methoden der Be- Tagung zu Ibn Rushd und seiner Schule im islami- weise und Die Inkohärenz der Inkohärenz. Vgl. Fn. 5. schen Westen), 2. Aufl., Rabat, 2013, S. 199–201. 68 Über den Einfluss des Platonismus bei Ibn Rushd 71 Ebd., S. 207. Über die Bedeutung des Verhältnisses vgl. ebd., S. 323. der Sprache der Philosophie zu der des Korans, vgl. ebd. 69 Ṭaha ʿAbd ar-Raḥmān, marokkanischer Philosoph 72 Ebd. polylog 32 und Theologe, geb. 1944. 73 Ebd., S. 207 f. Seite 65 Mohamed Mesbahi:

Als Beispiel sei hier Abdallah Laroui ge- tionalität von Ibn Rushd von seinem Aufruf, nannt. Trotz seiner tiefen Bewunderung für einen radikalen Schnitt mit dem Erbe zu voll- den Philosophen von Córdoba, sei es wegen ziehen, nicht ausnimmt, solange die arabische seines Bezugs auf das Buch der Physik von Welt danach strebt, an der Moderne teilzuha- Aristoteles, um islamisch-rechtliche und me- ben. Um den Schnitt mit der Kultur der Ver- taphysische Probleme zu überwinden74, oder gangenheit umsetzen zu können, warnt Laroui wegen seiner reformistischen Vorhaben, die vor einer Vermischung von modernen Begrif- auf »einer schlichten, klaren und aufrichti- fen mit denen in der andalusischen Tradition, Laroui warnt vor einer Vermi- gen Überzeugung basieren, die Vernunft und wie beispielsweise »der Intellekt« (al-ʿaql) von schung von modernen Begriffen emotionales Empfinden in Einklang bringt Ibn Rushd, »die Freiheit« (al-ḥurrīya) von Ibn mit denen in der andalusischen sowie für den Einzelnen ein Sicherheitsgefühl Arabi, »der Staat« (ad-dawla) von Al-Schati- Tradition [...], denn es gebe und für die Gemeinschaft die Einheit und bi78 oder »die Geschichte« (at-tārīkh) bei Ibn keine Beziehung zwischen Stabilität garantiert«75, Laroui zögerte nicht, Khaldun, denn es gebe keine Beziehung zwi- den Bedeutungen, die diese ihn mehrmals aus unterschiedlichen Perspek- schen den Bedeutungen, die diese Begriffe in Begriffe in der [europäischen] tiven scharf zu kritisieren. Er war vor allem der [europäischen] Moderne annehmen, und Moderne annehmen, und den mit Ibn Rushds Vorzug »der Logik gegenüber den in der [andalusischen] Tradition vorherr- in der [andalusischen] Tradition der Lust«76 völlig unzufrieden, aber auch mit schenden Bedeutungen, vielmehr existiere ein vorherrschenden Bedeu- seiner widerstandslosen Akzeptanz der Logik fundamentaler Unterschied zwischen beiden, tungen, vielmehr existiere ein des Absoluten, da »der Philosoph Ibn Rus- nämlich ihre »historische Umsetzung«79. Da- fundamentaler Unterschied hd« Aristoteles auf die gleiche Weise kom- her sollten die aus der Tradition überlieferten zwischen beiden, nämlich ihre mentiere wie »der Rechtsgelehrte Ibn Rushd Begriffe als »unvollendet« betrachtet werden, »historische Umsetzung«. die Muwatta [Hadith-Sammlung] von Malik im Vergleich zu den »vollendenden Begriffen«, kommentiert«.77 welche die Moderne schuf. Ferner warnt La- Es ist daher nicht verwunderlich, wenn roui vor einem »Spiel« der Aktualisierung Ibn Laroui die realistische und reformistische Ra- Rushds bzgl. der Rousseau’schen These über die zwei Seiten der Gottesverehrung. Denn 74 Über die Rezeption des Buchs der Physik von solche oberflächlichen Vergleiche sind nach- Aristoteles bei Ibn Rushd vgl. As-sunna wa al-’islāḥ (Die Sunna und die Reform) (Fn. 37), S. 176. teilig und führen zur »Oberflächlichkeit und 75 Über die Methodik des Vergleichs zwischen den Banalisierung des gelesenen Textes« sowie westlichen und den muslimischen Schriften vgl. Ab- zum »Übersehen der neuen Bedeutungen, dallah Laroui: Dīn al-Fiṭra, li-Ğān Ğāk Rūsū (Naturre- welche den Ausdrücken Sicherheit, Zuverläs- ligion, von Jean-Jacques Rousseau), Übersetzung, Casab- lanca 2012, S. 6. 76 Abdallah Laroui: Min dīwān as-sīyāsa (Aus dem Diwan der Politik), Casablanca 2009, S. 108. 78 Aš-Šāṭibī, andalusischer Gelehrter, gest. 1388. polylog 32 77 Abdallah Laroui im Dialog mit der Zeitschrift 79 Siehe Abdallah Laroui: Mafhūm al-ʿaql (Fn. 64), Seite 66 an-Nahḍa, Ausgabe 8, 2014, S.17. S. 15–16. Aspekte des philosophischen Andalusien in der zeitgenössischen arabischen Kultur

sigkeit, Selbstverständlichkeit und Aufrichtig- Ibn Rushd »die Verfassung der Vereinten Staa- keit verleihen«80. ten lesen und deren Anwendung in der Rea- Damit »das, was wir sagen, gleich dem ist, lität beobachten würde. Unsere Vorstellung was die anderen sagen«81, sollten wir uns eine von seiner eventuellen Auffassung könnte uns »neue Selbstverständlichkeit«82 aneignen, die dann dem, was er sagte, näher bringen«86. nur durch einen epistemischen und methodi- Nassif Nassar argumentiert ähnlich, wenn schen Schnitt mit dem zu erreichen ist, »was er Ibn Rushds Vorstellung von Philosophie der Horizont Ibn Rushds ausmachte« »damit vorwirft, sie lasse sich von der Religion ein- dieser Horizont nicht zu einer Grenze«83 für schränken, denn der Gegenstand der Philo- Nassif Nassar argumentiert uns wird. Mit anderen Worten, wenn sich sophie sei nach Ibn Rushd die Schöpfung und ähnlich, wenn er Ibn Rushds Mohammed Abduh84 bei seiner Antwort auf der Schöpfer und nicht etwa das Sein und die Vorstellung von Philosophie die vom modernen Westen an ihn gestellte seienden Dinge.87 Außerdem beschränke er vorwirft, sie lasse sich von der Frage nur auf »das Denken Ibn Rushds« bezieht, seine Suche nach dem wahren Wissen, ohne Religion einschränken, denn der »verwandelt sich der Horizont von ersterem das wahre Handeln mit einzubeziehen und sei Gegenstand der Philosophie sei in ein Hindernis für den letzteren. So gibt es an die Idee der Vollkommenheit der Wahrheit nach Ibn Rushd die Schöpfung eine Grenze, an der Abduh hält, manchmal er- bei Aristoteles gefesselt. Doch trotzdem »for- und der Schöpfer und nicht kundet er, was hinter dieser Grenze liegt, aber er derte Ibn Rushd keine vollständige Adaption etwa das Sein und die seienden wird sie nie überwinden können.« 85 Das mache des Aristotelismus und deren Anpassung an Dinge. es unmöglich, Ibn Rushd für die Erneuerung die koranische Sichtweise auf die Werte und unserer Kultur, unseres Staates und unserer das Leben.«88 Nassif Nassar meint jedoch, dass Geschichte in Anspruch zu nehmen, insofern »die rushd’sche Theorie über das Verhältnis wir uns lediglich mit seinem Kommentar zu von Philosophie und Religion die intellektu- Platons »idealem Staat« in der Politeia begnü- ellen Anforderungen unseres Zeitalters nur in gen. Dennoch könne sich Laroui vorstellen, geringem Maße erfüllt«89, denn tatsächlich dass Ibn Rushd für uns heute relevant wäre, führte er keine Trennung zwischen der Re- jedoch nur in Konfrontation mit der Gegen- ligion und der Philosophie durch. Denn sein wart, etwa wenn wir annehmen würden, dass Hauptanliegen in der Schrift Die entscheiden- 80 Über die Aktualisierung der Schriften von west- 86 Abdallah Laroui: Min dīwān as-sīyāsa (Fn. 76), lichen und muslimischen Wissenschaftlern siehe sei- S. 107. ne Einleitung zum Buch Dīn al-Fiṭra (Naturreligion), 87 Es scheint, dass Nassif Nassar sich bei dieser S. 18. These nur auf die rational-theologisch genannten 81 Ebd., S.18. Schriften von Ibn Rushd stützt und nicht auf seine 82 Ebd., S. 9–10. Kommentare zu Aristoteles, in denen verschiedene 83 Ebd., S. 33. Themen der Philosophie ausführlich vorgestellt wer- 84 Muḥammad ʿAbduh, ägyptischer Reformer den. (1849–1905). 88 Nassif Nassar: Al-išārāt wa masālik (Fn. 61), S. 9. polylog 32 85 Ebd., S. 33. 89 Ebd., S. 37. Seite 67 Mohamed Mesbahi:

de Abhandlung war, zu »einer Bestimmung der in einen starren und abgeschlossenen Appell Verbindung zwischen der Religion und der zu verwandeln. Philosophie« zu gelangen.90 Doch obwohl Ibn Rushd die Philosophie dadurch, dass er sie mit *** der Religion verband, ärmer machte, stellte er sie nicht unter das Diktat der Theologie, wie Aus dieser flüchtigen Darstellung des Einflus- das etwa bei Ibn Maimun und Thomas von ses von Ibn Rushd auf die moderne arabische Aquin geschah. Kultur wird ersichtlich, dass sein Einfluss Dieser vielschichtige Einfluss ist Diese intellektuelle Strömung aufgeklärter weder konstant noch einseitig war, vielmehr eine ungeheure Bereicherung Denker, so ließe sich zusammenfassen, sind wurde er von sehr unterschiedlichen, sich des kulturellen Raums und demnach davon überzeugt, dass Ibn Rushd mit widersprechenden Denkweisen, wie dem nährte zahlreiche kulturelle seiner Problemstellung und seinen Lösungen, Rationalismus und dem Irrationalismus, von Bewegungen in der arabischen die uns heute kaum mehr nutzen können, der religiösen und säkularen Denkrichtungen, Welt, so dass Ibn Rushd aus je- Vergangenheit angehöre, da zwischen unse- von Marxismus oder Salafismus, in Besitz ner Entwicklung der arabischen rem gegenwärtigen Zeitalter und dem von genommen. Dieser vielschichtige Einfluss ist Kultur nicht weggedacht Ibn Rushd eine große Distanz hinsichtlich eine ungeheure Bereicherung des kulturellen werden kann. der Erkenntnisse, Methoden und Sichtweisen Raums und nährte zahlreiche kulturelle Be- besteht. Mehr noch, sogar seine Denkwei- wegungen in der arabischen Welt, so dass Ibn se könne uns heute nicht mehr von Nutzen Rushd aus jener Entwicklung der arabischen sein, denn der Intellekt, von dem Ibn Rushd Kultur nicht weggedacht werden kann. Aller- spricht, kann nicht dem Vernunftbegriff der dings sind die Intellektuellen in Hinblick auf Moderne gleichgesetzt werden und die von Ibn Rushd geteilter Meinung: Einige betrach- ihm verwendete Methode (demonstrative Be- ten ihn als islamischen Rechtsgelehrten und weisführung) unterscheidet sich stark von den spekulativen Theologen91, andere wiederum Methoden der zeitgenössischen Philosophen sehen ihn als Philosophen und Wissenschaft- (repräsentative Methoden). Trotzdem sollte ler92. Wieder andere, wie al-Jabri, charakteri- uns dieser Unterschied nicht daran hindern, sieren ihn mit Blick auf den von ihm initiier- uns mit Ibn Rushd vertraut zu machen und ten Bruch zwischen dem Maschrik und dem ihn als ein Symbol für den Willen zur Öff- Maghreb als formellen Rationalisten, und es nung, Erneuerung und Kritik zu betrachten, gibt auch solche, die sein Denken in eine Kon- ohne jedoch seine demonstrative »Methode« 91 Der Autor nennt als Beispiele die folgenden arabi- 90 Ebd., S. 38: »Aber führte Ibn Rushd wirklich schen Intellektuellen: Mohammed Abdah, Mahmoud eine Trennung zwischen der Religion und der Philo- Kacim, Abdelmagid Triki, Abdelmagid Sgayar, Taha sophie durch? War sein Hauptanliegen in der Schrift Abderahman und Abu Yaareb Marzouki. polylog 32 Faṣl al-maqāl nicht eher die Bestimmung von dem, 92 Der Autor gibt als Beispiele: Farah Antun, Majid Seite 68 was die Religion und die Philosophie verbindet?« Fakhry und Atef al-Iraki. Aspekte des philosophischen Andalusien in der zeitgenössischen arabischen Kultur

tinuitätslinie mit dem Maschrik stellen. Eini- vität sowie als Widerstand gegen Abhängigkeit ge Wissenschaftler sehen ihn als Anwalt einer und Nachahmung sowie gegen mystische und »doppelten« (religiösen und philosophischen) irrationale Erklärungen der Naturphänomene Wahrheit, während andere ihn als Vertreter und des Menschen einsetzt, bleibt er ebenfalls der Säkularisierung einordnen. Somit bildet aktuell. Somit ist der Einfluss von Ibn Rushd Ibn Rushd einen Ausgangspunkt für eine rei- umfassend, insofern er den theoretischen und che kulturelle und ideologische Renaissance. praktischen, den religiösen und philosophi- Was jedoch besonders wichtig erscheint, schen Bereich abdeckt. Grund dafür ist, dass ist, dass Ibn Rushd von modernistischen und Ibn Rushd die Liebe zur Religion und die zur ... dass Ibn Rushd die Liebe zur fortschrittlichen Richtungen in Anspruch ge- Philosophie in seiner Person vereinte. Das Religion und die zur Philosophie nommen wurde. Und zwar mit der Intention, heißt, er vereinte seinen Leitsatz »Die Wahr- in seiner Person vereinte. ein umfassendes kulturelles Projekt aufzubau- heit ist der Wahrheit nicht entgegengesetzt« en, dessen Grundlage (1) die Rechtfertigung des und seine These von der demonstrativen Vorhabens einer philosophischen Bildung in der ara- Wahrheit, die einer die Natur deutenden Ver- bischen Welt ist, die eine notwendige Voraus- nunft entspricht. Dieses Programm bildet ei- setzung für die Entwicklung des islamischen nen Mittelweg zwischen zwei oppositionellen Rechts sowie für die Auseinandersetzung mit dem Denkweisen: einer traditionellen Denkweise Irrationalismus und Fundamentalismus darstellt. in all ihren Erscheinungen und einer moder- Dieses Projekt steht zudem (2) im Widerstand nistischen Denkweise, die so weit geht zu be- zu den orientalistischen Denkrichtungen, welche haupten, dass ein Ausweg aus unserer histo- die Überzeugung verbreiten, dass die isla- rischen und geistigen Rückständigkeit nur in misch-arabische Vernunft unfähig sei, rational einer überstürzten Adaptation der westlichen zu denken. Es belegt im Gegensatz dazu, dass Moderne ohne Rücksicht auf traditionelle (3) Araber und Muslime dazu fähig sind, eine Identität möglich sei. alternative arabische Renaissance aufzubauen, die der europäischen Moderne entsprechen 3. Ibn Arabi könnte. So wird der Philosoph von Córdoba auch in der Gegenwart aktuell bleiben, um Im Allgemeinen galt Ibn Arabi, der eine an- den Appell für die Einheit der menschlichen Ver- dere Erkenntnis (Gnosis) propagierte, welche nunft sowie die Gleichstellung aller Menschen nicht in Gestalt einer Suche oder gründlichen in ihrem Zugang zu ihr zu unterstützen. In der Untersuchung, sondern als Geschenk oder Verbindung zwischen göttlicher und mensch- Gabe dem Menschen zukommt, in der arabi- licher Weisheit, welche die Öffnung gegen- schen Welt weithin als eine symbolische Fi- über Menschen mit anderem Glauben oder gur für Irrationalität. Trotzdem kann man bei anderen Überzeugungen fördert und sich für ihm auf anregende Gedanken stoßen, die un- polylog 32 die Kritik als Weg zur Schöpfung und Kreati- entbehrlich für die Gründung einer modernen Seite 69 Mohamed Mesbahi:

Kultur sind, wie die Idee der religiösen Tole- doch nicht seine Befürchtungen hinsichtlich ranz, seine Wertschätzung der Vorstellungs- des sufistischen Mantels der Dialektik. Denn kraft und sein Konzept von Dialektik. es bestehe die Gefahr »einer Verfälschung Auf die Bedeutung der Dialektik wurde La- der Dialektik und ihrer Nötigung zur Gewis- roui in den 1960er Jahren im Kontext seiner sensklärung, welche sich einen widersinnigen Frage nach der historischen Rückständigkeit Mantel überstülpt. Die alten Araber hatten aufmerksam, die sich auf die Unfähigkeit des jedoch schon eine Erfahrung durchlaufen, arabischen Geistes bezieht, Zwiespältigkeiten welche sie zur Enthüllung der frühesten dia- ... kann man bei Ibn Arabi auf und Widersprüche zu überwinden. Vielerorts lektischen Denkweisen führte. Aber diese Er- anregende Gedanken stoßen, galt die These, dass die Dialektik aufgrund fahrung wurde nicht abgeschlossen, sondern die unentbehrlich für die Grün- ihrer Fähigkeit, Widersprüche zu vereinen abgebrochen und irrt nun in der Einöde des dung einer modernen Kultur und zugleich zu überwinden, die einzige Lo- Sufismus umher. Die Verfälschung der Dialek- sind, wie die Idee der religiösen gik sei, die zur Behandlung dieser Rückstän- tik in eine sufistische Logik – die Verleugnung Toleranz, seine Wertschätzung digkeit imstande sei. Nach Laroui könne die der Natur und der Geschichte – in der Art, der Vorstellungskraft und sein Dialektik jedoch nur ein wirksames Mittel für wie wir es in der Vergangenheit getan haben, Konzept von Dialektik. die Überwindung der Widersprüche im arabi- ist die Gefahr, in der wir uns derzeit befin- schen Denken und insbesondere für den Wi- den, eine Gefahr, die alle Anstrengungen, die derspruch zwischen kultureller Authentizität wir unternehmen, um unser Selbst über ein und liberalem Anspruch sein, wenn sie bereits dialektisches, d.h. zugleich rationales und ob- im arabischen Denken anzutreffen sei. Eine jektives, Verständnis zu begreifen, scheitern derartige Dialektik wäre in der Lage, »eine sie jemals als Methode verwenden zu können? Das ist andere Art unseres Verhaltens und Denkens das Problem, mit dem wir momentan konfrontiert zu entdecken«93, nämlich im Sufismus und sind. Die These, dass die Dialektik ihre Existenz in in der Romantik.94 Dabei verbirgt Laroui je- unserer Kultur verliere, wird nie wahr werden, auch nicht unter unseren heutigen Bedingungen, wie vie- 93 Abdallah Laroui: Al-īdiyūlūğīyā al-‘arabīya al- le behaupten. Sie existiert, jedoch im Gewand des mu‘āṣira (Fn. 1), S. 191. Sufismus und in besonderer Form beim islamischen 94 Ebd., S.191: »Viele der angelsächsischen Wis- Lehrmeister.«, ebd. S. 197; »Eine andere Seite der senschaftler charakterisieren die zeitgenössische dialektischen Denkweise bildet die Wissenschaft arabische Denkweise als romantisch, die religiösen der Kalām bei den Mutaziliten, die versuchten, mit Orientalisten beschreiben sie als sufistisch und beide dem abstrakten Intellekt und nicht mit den Emo- Zuschreibungen sind hoch problematische Aussagen. tionen, alle innewohnenden Elemente zu vereinen.« Grund dafür ist, dass die dialektische Logik zuerst in Ebd. S.191–192; So äußert sich Laroui, dass Muha- Europa unter verschiedenen Namen, wie Mystik und sibi »[…] sich in der damaligen Zeit für die Methode Romantik, erschien […]« Die Dialektik existiert in des dritten Weges entschloss, sowohl weit ab von der unserer Kultur und in unserem kulturellen Erbe in Naivität der Anhänger der Überlieferung des Prophe- polylog 32 Form des Sufismus: »Sind wir dazu verurteilt, die ten als auch fern von der rationalen Interpretation der Seite 70 Dialektik als Lehre und Dogma anzunehmen, ohne Mutaziliten.« Ebd. S. 194. Aspekte des philosophischen Andalusien in der zeitgenössischen arabischen Kultur

zu lassen droht.«95 Laroui befürchtet dem- was mit der allmählichen Vereinigung des Ichs nach, dass sich die Dialektik umwandelt »in (d.h. der Tradition) und des Nicht-Ichs (d.h. dem ein Genießen der Worte, in einen Anspruch, Westen) zusammenhängt. die Geheimnisse der Buchstaben zu erkennen, Aus diesem Grund sind wir von der Erfah- kurz gesagt in bloßen Zeitvertreib und reines rung der Vergangenheit fasziniert. Genau- Spiel. Die Historiker des Sufismus unterschei- er gesagt nehmen wir vor dem Hintergrund den normalerweise zwischen dem Zeitalter unserer gegenwärtigen und unserer früheren Muhasibis und dem Zeitalter Ibn Arabis, aber Erfahrung auf eine imaginäre Art an, dass unse- es ist sinnvoller, sie als Ergänzung zu verste- re Tradition über eine Dialektik, ja sogar über Es ist jedoch unumgänglich hen. Die sich auf die Methode der Spekula­tion eine materialistische Dialektik, verfügt. Diese zu wissen, was man machen stützenden Ausführungen Muhasibis haben imaginäre Art stützt sich auf eine Methode der soll, damit dieser Abbruch der zum Zweck, die Verletzungen der kollektiven Verwandtschaft und der Bedeutungsübertragung.«98 Erfahrung von Gestern uns im Seele zu heilen. Doch je mehr sich die Verlet- Man fragt sich, ob die dialektische Logik das- Heute nicht erneut bedroht, zungen verbreitern und vertiefen, desto län- selbe »ideologische« Bestreben verfolgte99 wie ohne dass wir uns vor ihm ger wird die Behandlungszeit und umso mehr die sufistische Dialektik in der Vergangenheit, schützen könnten. Behandlungsmittel werden erforderlich.«96 d.h. den Weg vom Ich zum Nicht-Ich (der Wes- Doch »sogar das Gerede Ibn Arabis hat einen ten), um sich in ihm nach der Anerkennung Nutzen, indem es uns zur Wachsamkeit und Vor- seiner historischen Überlegenheit aufzulö- sicht aufrief, zur Notwendigkeit des Überschrei- sen.100 Aber was auch immer die Gefahren tens der Selbstverständlichkeit mit dem ihr inne- wohnenden Bewusstsein und seinem Erhalt.«97 Es 98 Ebd., S. 196. 99 Ebd., S. 197: »…und öffnet dadurch den Weg zu ist jedoch unumgänglich zu wissen, was man einer ideologischen Nutzung der dialektischen Logik, machen soll, damit dieser Abbruch der Erfah- deren Aufgabe es ist, den endgültigen Übergang vom rung von gestern uns im Heute nicht erneut traditionellen Ich zum Nicht-Ich zu erleichtern … « bedroht, ohne dass wir uns vor ihm schützen 100 Über die Gefahr eines Sich-Auflösens des tradi- könnten. Der Sufismus stellt in der Tat eine tionellen Ichs im westlichen Nicht-Ich sagt er: »Aber sprachlich-rhetorische Lösung des wirklichen Prob- die dialektische Logik als Überwindung wird von der Geschichte als offensichtlicher Widerspruch zur lems dar, denn er war die Logik eines emoti- Gegenwart umgesetzt. Erstens, spielt sie die gleiche onalen Prozesses, der auf die Frage nach der Rolle? Sie erkennt die historische Überlegenheit des Vereinigung des Ichs – mit dem was Ich nicht bin, Westens als Nicht-Ich an und bleibt bei ihrer Behaup- abzielte und zwar in Form einer Vorstellung tung, jedoch in einer anderen, gegenwärtigen, provi- und Analogie und nicht in Form des Begriffs. sorischen, vorläufigen Form. Aber das kostbare Ich Heute stehen wir vor dem gleichen Problem, des Herzens, verborgen im Glauben, in der Kultur oder in der Sprache, die dialektische Negation wird 95 Ebd., S. 191. es auflösen, um unserer Verblendung ein Ende zu 96 Ebd., S. 195. setzen. Es ist also ganz und gar nicht ausreichend zu polylog 32 97 Ebd., S. 196. wissen, dass es unsere Situation verlangt, die dialek- Seite 71 Mohamed Mesbahi:

sind, man sollte »zumindest die hier und da Einfluss Ibn Rushds auf Philosophie und deren unter uns bereits ausgesäte Saat der Dialektik Beziehung zur Religion. retten«101, und lernen, »wie man die Aufrich- Die Bewunderung, die Ibn Khaldun vonsei- tigkeit in der Vorstellung mit der Genauigkeit ten der modernen arabischen Denker genießt, der Ausführung verbindet.«102 ist auf seine »zivilisatorisch-kulturelle Sicht- weise«, d.h. eine historische und humanwis- 4. Ibn Khaldun senschaftliche Sichtweise der menschlichen Existenz zurückzuführen. Wurde dem Men- Ibn Khaldoun sorgte dafür, Wir müssen erkennen, dass die geschichtli- schen zuvor meist eine religiöse und nur sel- dass das Bewusstsein für die che Dimension (mit ihren Grundsätzen wie ten eine rationale Identität zugesprochen, so historische Dimension in der der Möglichkeit, der Freiheit und der Dia- erhielt der Mensch in dieser Sichtweise nun andalusischen Philosophie lektik) bei den andalusischen Philosophen nur zum ersten Mal eine »zivilisatorisch-kultu- nicht fehlte. schwach vertreten war, im Gegensatz zu ih- relle Identität«, die ihn in die Lage versetzte, rem Interesse an der Metaphysik (mit ihren Gewerbe, Wissenschaft und Politik vor dem Grundsätzen wie der Notwendigkeit und der Hintergrund einer Reflexion über historische demonstrativen Beweisführung). Aber am Akteure, Ereignisse und Phänomene zu be- Ende der andalusischen Ära erschien Ibn Khal- treiben.104 dun, der für die breite Resonanz der andalu- Aufgrund dieser neuartigen zivilisatorisch- sischen Zivilisation steht, die ihre Einflüsse in kulturellen Sichtweise auf die Existenz, in östlicher Richtung bis nach Tunesien ausdehn- der der Mensch zum Mittelpunkt wurde, da te, und der dafür sorgte, dass das Bewusstsein er ein historisches Wesen darstellte, das die für die historische Dimension in der andalusi- Natur in eine Zivilisation und Kultur (ʿumrān) schen Philosophie nicht fehlte.103 So konkur- verwandelt, entwickelte und vervielfältigte rierte Ibn Khalduns Einfluss auf Zivilisation, sich die menschliche Vernunft. Bei Ibn Khal- Kultur (ʿumrān) und Gesellschaft mit dem dun begann der Mensch nun jedes Mal eine neue Vernunft zu entfalten, wenn er sich neue tische Methode anzuwenden, um uns selbst zu verste- Kenntnisse aneignete, sei es durch experi- hen, wir müssen uns vielmehr vergewissern, ob nicht jene Situation selbst verlangt, dass wir die Dialektik mentelle Erfahrung, kulturelle Öffnung oder in einer Art interpretieren, die uns eher ein Mittel durch Einsichten der theoretischen Wissen- gegen die Ohnmacht der Seele bietet, als einen Weg schaften. Auf diese Weise kann der Mensch zur Führung der Vernunft.« Ebd. S.196–197. 101 Ebd. S. 198–199. 104 Dies ohne die Dimension des Jenseits in der 102 Ebd. khaldunischen Perspektive auf die Welt zu verges- 103 Eine deutsche Übersetzung der Muqadimma von sen, denn die Handlungen der doppelten Identität Ibn Khaldun liegt vor. Vgl. Ibn Khaldun: Die Mu- des Menschen entstehen nicht aufgrund des Lebens polylog 32 qadimma: Betrachtungen zur Weltgeschichte, Beck: Mün- im Diesseits, sondern in Hinblick auf das Leben im Seite 72 chen 2011. Jenseits. Aspekte des philosophischen Andalusien in der zeitgenössischen arabischen Kultur

zu einer distinktiven, einer experimentellen ten nur noch selten in Widerspruch mit den und einer theoretischen Vernunft gelangen. existentiellen Angelegenheiten«107. Al-Jabri Darüber hinaus erringt er manchmal eine fasste die andalusische kulturelle Sichtweise über die Vernunft hinausreichende Kraft, mit wie folgt zusammen: »Es sind kurz gesagt die der er die Seele in unmittelbarer und augen- Kennzeichen des demonstrativen Verfahrens in blickshafter Wahrnehmung schlafend oder in der maghrebinischen und andalusischen Kul- seltenen Wachzuständen in Verbindung mit tur, das Verfahren, das die Gewissheit in den der Welt des Übersinnlichen erkennen kann. theoretischen Wissenschaften, die Klarheit in Im Rahmen dieser Evolutionsperspektive ent- den Rechtswissenschaften und die Angemes- Der Denker Nassif Nassar be- wickelt sich die Vernunft der Menschen und senheit der Charakteristika der Zivilisation trachtete das, was Ibn Khaldun menschlichen Gemeinschaften proportional und Kultur in den historischen Überlieferun- erarbeitete, als »gewaltigen zur Stufe und Art ihrer Dispositionen, ihrer gen einfordert. Das demonstrative Verfahren Schritt auf dem Weg zum Erfahrungen und ihrer wissenschaftlichen fördert den Aufbau der Rationalität in die- Wiederaufbau des politischen und kenntnisbezogenen Errungenschaften. sen Kenntnisbereichen ausgehend von ihren Denkens in der arabischen Da der Einfluss Ibn Khalduns auf die ara- Gründen, Absichten und Universalien. Es ist Kultur.« bische Kultur nicht zu übersehen ist, begnü- eine wissenschaftliche Vorgehensweise […] gen wir uns hier mit zwei Beispielen, nämlich die sich wie eine Revolution gegen das erhob, Mohamed Abed al-Jabri und Nassif Nassar105. was die arabische Kultur an erfahrungsmäßi- Al-Jabri verteidigte Ibn Khaldun als Denker, gen Sichtweisen, theologischen Disputen und der die Rationalität in die Geschichte einführ- religiös-rechtlichen Widersprüchen, die sich te, als er über die Charakteristika der Zivili- auf Trugschlüssen und fehlgeleiteter Dialek- sation und Kultur sprach, welche die gesell- tik stützten, beherrschte.«108 Darüber hinaus schaftlichen »Universalien« darstellen, die in kann die »Herauskristallisierung des andalusi- einer Zivilisation und Kultur durch das Prin- schen Kulturmodells« auch als eine ideologische zip der Kausalität auftreten.106 »Dank dieser und politische Notwendigkeit verstanden Kausalität stehen die religiösen Angelegenhei- werden, denn es war in der Lage, sich selbst als historische Alternative zum abbasidischen 105 Nāṣīf Naṣār, zeitgenössischer libanesischer Phi- losoph. und fatimitischen Projekt anzubieten«109, und 106 Über die »Charakteristika der Zivilisation und zwar derart, dass es die Blockade gegenüber Kultur« sagt er: »Die Charakteristika der Zivilisation der Philosophie aufhob. und Kultur sind folglich die gesellschaftlichen ›Uni- Der Denker Nassif Nassar betrachtete das, versalien‹, da sie in der Zivilisation und Kultur ent- was Ibn Khaldun erarbeitete, als »gewalti- stehen unter dem Anspruch von deren Eigenschaft, gen Schritt auf dem Weg zum Wiederaufbau im Sinne ihres obligatorischen Geschehens, und sie sind dem kausalen Prinzip unterworfen.«, Mohamed 107 Ebd., S. 214. Abed al-Jabri: At-turāth wa al-ḥadātha (Das kulturelle 108 Ebd., S. 215. polylog 32 Erbe und die Modernität), S. 213. 109 Ebd., S. 186. Seite 73 Mohamed Mesbahi:

des politischen Denkens in der arabischen tur und Geschichtswissenschaft«112 – dadurch, Kultur.«110 Tatsächlich ist der Wiederaufbau dass er »dem existentiellen Sachverhalt« den der Politik nicht weniger bedeutend als der Vorrang vor dem »religiösen Sachverhalt« ein- Wiederaufbau der Vernunft, und somit der räumte und das religiöse Recht vom König Wiederaufbau der Kultur. Allerdings verlangt und sogar vom Khalifat trennte, insbesondere der Wiederaufbau der Politik, der eine der da letzteres aus einem Konsens entsteht, der grundlegenden Forderungen der modernen eine menschliche Handlung darstellt.113 arabischen Kultur auf zivilen und rationalen Interessant ist, dass in unserer Grundlagen darstellt, die Trennung von Re- Fazit Auseinandersetzung mit dem ligion und Staat. Bei dieser Aufgabe kann uns andalusischen Kulturmodell Ibn Khaldun helfen, denn die Politik begann Aus unserer kurzen Erörterung der Einflüsse Themen der Universalität und angesichts seiner neuen Idee von der mensch- einiger philosophischer Modelle der anda- Toleranz im Vordergrund stehen, lichen Zivilisation und Kultur eine spezifisch lusischen Zivilisation auf die zeitgenössische nicht jedoch die Sorge menschliche Handlung zu werden, welche der arabische Kultur wird ersichtlich, dass diese um Identität und Notwendigkeit des Zusammengehörigkeitsge- Einflüsse multidimensional waren: sie haben Religionszugehörigkeit. fühls (ʿaṣabīya) und der Macht unterstellt war, eine rationale, eine historische und eine su- aber auch der Notwendigkeit der Vernunft fistische bzw. mystische Dimension. Auch die und der Interessen sowie dem Einfluss der Re- Ziele dieser zeitgenössischen Rezeption in der ligion. Das bedeutet, dass die Logik einer na- arabischen Kultur sind vielfältig: es ging um türlichen Notwendigkeit, eines gesellschaft- die Bestätigung des universellen Charakters lichen Kampfes sowie der individuellen und der »arabischen Vernunft«, deren Fähigkeit zur kollektiven Interessen für die Erklärung der Moderne sowie deren Fähigkeit, Religion und Politik ausreichend ist. Das göttliche, religiöse Philosophie auf der Zweckebene zu vereinen Gesetz ist dagegen nicht mehr notwendig für die Existenz der Politik, denn die Politik exis- 112 Ebd., S. 69. tierte und existiert noch in Nationen, die kein 113 »Diese [ist] die Politik, auf die sich die Spezia- von Gott offenbartes Buch haben und kein re- listen der Gesellschaft hinsichtlich der noch verblie- benen muslimischen und ungläubigen Könige auf der ligiöses Recht von Allah.«111 Somit unternahm Welt beziehen. Allerdings verfahren die muslimi- Ibn Khaldun »den entscheidenden Schritt, im schen Könige dabei gemäß ihren Anstrengungen nach radikalen Sinne, beim Übergang von der po- den Anforderungen der islamischen Scharia; deren litischen Vernunft in der Sprache der islami- Gesetze sind folglich aus Urteilen der Scharia, dem schen Rechtswissenschaft hin zur politischen moralischem Benehmen den und natürlichen Geset- Vernunft in der Sprache der Zivilisation, Kul- zen in der Gesellschaft zusammengesetzt, sowie aus Dingen unter Berücksichtigung der šawka (Macht) und 110 Ebd., S. 69. ʿaṣabīya (Zusammengehörigkeitsgefühl).« Ibn Khal- polylog 32 111 Nassif Nassar: Al-išārāt wa al-masālik (Fn. 61), doun: Al-muqaddima (Al-Muqaddima/Die Prolegomena), Seite 74 S. 68. hg. v. Abd al-Wāhid Wāfī Kairo, 1962, S. 712. Aspekte des philosophischen Andalusien in der zeitgenössischen arabischen Kultur

um sie auf der methodischen Ebene zugleich zu ziehen können. Vergangen ist jene Zeit, in trennen. Interessant ist, dass in unserer Aus- der Ibn Rushd mit dem Ausspruch einandersetzung mit dem andalusischen Kul- verspottete: »Es kann nicht sein, dass der In- turmodell Themen der Universalität und Tole- tellekt unterschiedliche Eigenschaften besitzt, ranz im Vordergrund stehen, nicht jedoch die wie Ibn Hazm fälschlicherweise imaginiert.« Sorge um Identität und Religionszugehörigkeit. Eine Vernunft, die intolerant ist, die nicht in In der Auseinandersetzung mit dem abbasidi- Verhandlung tritt, keine unterschiedlichen schen salafistischen Modell verbreitet sich hin- Gestalten annimmt und sich nicht einmal mit gegen der Appell an konfessionelle, ethnische Kulturen, die ohne eine oder vor einer Ent- Die Notwendigkeit, von und kulturelle Besonderheiten, es brechen reli- wicklung der Aufklärung dastehen, verstän- einer Vielzahl an Lichtern bzw. giöse Gewalt und kulturelle Intoleranz aus. digt, kann in der heutigen Zeit nicht immun Aufklärungen zu profitieren, das Was das andalusische Philosophiemodell gegen ihre Widersacher sein. ist die Lehre, die wir aus dem aufgrund seines dialogischen und dialekti- Die Kombination zwischen Ibn Rushd und andalusischen Modell ziehen schen Charakters auszeichnet, ist seine Offen- Ibn Arabi, zwischen Ibn Badjja und Ibn Khal- können. heit gegenüber jeglicher Rationalität, sei sie dun, zwischen der philosophischen Rationalität demonstrativer, juristischer, historischer oder und der gnostischen »Rationalität«, zwischen gnostischer Art, für die sie einen gemeinsa- der Lebensführung des Einsamen und der Le- men Raum zu schaffen bemüht ist. Doch eini- bensführung eines gegenüber den Angelegen- ge kulturelle Strömungen in der zeitgenössi- heiten der Gesellschaft Verpflichteten, das ist schen arabischen Welt haben das Gefühl, dass die notwendige Aufgabe einer lebendigen zu- eine genaue Kenntnis des andalusischen Mo- künftigen Kultur. Es ist nicht ausreichend, dass dells nicht genug sei, vielmehr sei es unum- die philosophische Rationalität den Menschen gänglich, es für die Gegenwart zu adaptieren. vom Individuum in ein vernünftiges Selbst ver- Der andalusische Rationalismus begnügte wandelt. Vielmehr ist es unumgänglich, dass sich nicht allein mit dem Licht114 der Vernunft, die zivilisatorisch-kulturelle Rationalität ein- d.h. mit dem natürlichen Licht, das unser greift, um das vernünftige Selbst in ein poli- Selbst und die Welt um uns herum erleuchtet, tisches Selbst umzuwandeln, d.h. in ein Selbst sondern er war auch offen für das Licht des der Bürgerschaft, das der Pflicht der Teilhabe Glaubens und des Gewissens sowie das Licht an der Staatsführung nachkommt und seine an- der Geschichte, der Zivilisation und Kultur. dauernde Modernisierung garantiert. Die Notwendigkeit, von einer Vielzahl an Lich- Die Entwicklung zur kulturellen Reife tern bzw. Aufklärungen zu profitieren, das ist die der Araber wird jedoch nicht vollendet wer- Lehre, die wir aus dem andalusischen Modell den, wenn ihre Offenheit gegenüber Anderen nicht realisiert wird, denn, so gibt Mohamed 114 Das arabische Wort nūr (pl. anwār) kann man in diesem Absatz sowohl als »Licht« als auch als »Auf- Aziz Lahbabi zu bedenken: »In dem Maße wie polylog 32 klärung« lesen. eine Kultur lebendig und reich erscheint, in Seite 75 Mohamed Mesbahi: Aspekte des philosophischen Andalusien in der zeitgenössischen arabischen Kultur

dem Maße öffnet sie sich der gegenseitigen frontation mit der konservativen Idee, die die Befruchtung und dem Austausch mit anderen Aufklärung, das Licht der Vernunft, bekämpft Kulturen.«115 Das ist dieselbe Idee, die Ibn und frenetisch den Anspruch der Anderen auf Rushd auf metaphysische Weise zum Ausdruck die Aufklärung verteidigt. Ganz im Gegen- brachte, indem er sagte, dass das Selbst unse- satz dazu sehen wir, dass der Austritt aus der res Intellekts »nichts anderes ist als der Intel- Unmündigkeit, wer auch immer sie verschul- lekt der Seienden, die außerhalb dieses Selbst det hat, das erste Prinzip bleibt, welches das stehen«116. Jalal Eddine Rumi117 drückte sich Selbst bewegt. Die Arbeit daran macht es zur »In dem Maße wie eine Kultur in der mystischen Sprache der Sufis wie folgt Hauptquelle der Wahrheit, der Tugend, der lebendig und reich erscheint, in aus: »Als ich aus mir selbst herausging, fand ich Veränderung und der Kritik, wobei diese Kri- dem Maße öffnet sie sich der mich selbst.« 118 Die Selbsterkenntnis kann so- tik die Kritik der Vernunft selbst einschließt, gegenseitigen Befruchtung und mit nur durch die Erkenntnis des Anderen ab- um Instrumente für das Verständnis der Ver- dem Austausch mit anderen geschlossen werden, seien diese Anderen nun nunft, der Methoden ihres Denkens und der Kulturen.« westliche Aufklärer unterschiedlicher Rich- Verfahren ihrer Beeinflussung zu entwickeln tungen oder Aufklärer aus der eigenen Traditi- und um den Realitäten und Werten Relativi- Aziz Lahbabi on in ihren lokalen Färbungen. Vor dieser oder tät und Historizität zu verleihen. jener Öffnung gegenüber den neuen Aufklä- Zweifellos ist eine Rückkehr nach Andalu- rern muss sie sich aber zunächst gegenüber ih- sien eine Rückkehr zu den Ursprüngen, da- ren verschiedenen kulturinternen Welten, ih- mit man das kulturelle Selbst der arabischen ren Wissenschaften, Horizonten, Hoffnungen Gemeinschaft wieder aufbauen kann, jedoch und Grenzen öffnen, um eine Mobilisierung nur um von dort aus weiter nach Außen zu der gesamten Gesellschaft für den Eintritt in gehen, um für jedes neue kulturelle Vorha- einen umfassenden Dialog zu erreichen, um zu ben, in dem das Recht der Philosophie an der einer globalen Rationalität zu finden. Existenz eine bedeutende Stellung einnimmt, Das bedeutet aber nicht, dass wir versuchen, eine historische Legitimität zu gewährleisten. eine Rationalität auszubilden, die derart flexi- Selbstverständlich gibt es keine Inspiration bel ist, dass sie ihre Fähigkeit zur Konfronta- für den Aufbau unserer zeitgenössischen Kul- tion und zum Konflikt verliert, etwa die Kon- tur vonseiten des andalusischen Modells ohne 115 Mohamed Aziz Lahbabi: Du clos à l’ouvert, 2. Bewusstsein für die historische Differenz zwi- Aufl., Sned: Algier, 1971, S. 155. schen der andalusischen Zivilisation und der 116 Ibn Rushd: Talkhīṣ kitāb an-nafs (Kommentar zum westlichen Moderne, ohne einen Verzicht auf Buch über die Seele), hg. A. Īfrī, Kairo, 1994, S. 128–129. die Idee der Übereinstimmung zwischen ih- 117 Ğalāl ad-Dīn Muḥammad Rūmī, persischer Mysti- nen und ohne die Eröffnung eines Raumes für ker (1207–1273). die Rehabilitierung der arabischen Kultur, um 118 Jalal ed-Dine Rumi: Rubāʿīyāt (Vierzeiler), über- polylog 32 setzt von A. Aissa al-Akub: Damaskus 2004, Vierzei- ein Niveau der Kommunikation und Kontinu- Seite 76 ler Nr. 15, S. 24. ität mit den modernen Kulturen zu erreichen.