Ganz Im Süden Des Tessins Liegt Das Verwunschene Valle Di Muggio Im Dornröschenschlaf. Wanderer Dürfen Es Wecken, Ganz Sanft
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1 TEXT & FOTOS: IRIS KÜRSCHNER 2 ls würde ein Vorhang aufge- viel zu wichtig, um geschlachtet zu wer- hen, den Betrachter um Jahrzehnte zurück- den«, sagt die resolute 71-Jährige. Über vier Aversetzen, als noch kaum Autos auf den Stunden lässt sie das Fleisch in seinem Saft Straßen fuhren, die Dörfer noch ohne Neu- schmoren, es fällt förmlich vom Knochen. FERN DER bausiedlungen auskamen und vor jedem Dazu reicht sie Polenta aus der Mühle von Haus ein üppiger Bauerngarten gedieh. So Bruzella. Um den Magen zu schließen, wirkt es, wenn man es durch das Straßen- tischt Peria Käse auf, wie man ihn sonst nir- gewirr und die Einkaufszentren zwischen gends kennt. Zu gering ist die Ausbeute, um Mendrisio und Chiasso im südlichsten Zip- ihn zu vermarkten. Zwischen den formag- HEKTIK fel des Tessins geschafft hat. Hinein ins Val- 3 gini alti – kleinen, säuerlich schmeckenden le di Muggio. Weil jeder möglichst schnell Frischkäseleibchen von den Alpen des Mon- die hässlichen Verbauungen passieren mag te Generoso – fällt der Zincarlin ins Auge. gen Süden oder Norden, biegt kaum jemand Der kegelförmige, gepfefferte Rohmilchkä- Ganz im Süden des Tessins liegt das verwunschene ab in das 37 Kilometer lange Seitental, das se wird während seiner Reifezeit zwei Mo- die Einheimischen Val da Mücc nennen. nate täglich mit Weißwein eingerieben, Valle di Muggio im Dornröschenschlaf. Wanderer Dort, hinter dem Chaos und der Hektik, ver- was ihm einen eigentümlichen, deftigen dürfen es wecken, ganz sanft und mit Gelassenheit. steckt sich eine völlig andere Welt – eine Geschmack verleiht. In Kombination mit stille, archaische. Es ist vielleicht der wil- Honig mildert sich seine Schärfe, und er be- deste, mit Sicherheit aber der am wenigs- schert dem Gaumen eine Geschmacksex- ten schweizerische Winkel des Landes. Wo plosion. 2004 wurde er als erstes Slow-Food- man es mit der Pünktlichkeit der Postauto- Produkt der Schweiz ausgezeichnet. linien, der Ausschilderung der Wege und Piera und ihr Mann Guerino betreiben den Öffnungszeiten von Restaurants nicht nicht nur die Osteria, sondern auch noch ganz so genau nimmt. einen Krämerladen im selben Haus. Nach Das verschwiegene Tal gipfelt im Monte 4 dem zweiten Weltkrieg, als sich Chiasso Generoso, den jeder Tessin-Fan kennt. und Mendrisio zu wirtschaftlichen Zentren Schließlich klettert eine Zahnradbahn von entwickelten, kam die große Landflucht. Capolago auf den fulminanten Aussichts- Die Schule von Scudellate, in der einst 40 berg, seit 2017 gekrönt mit der »Steinblume« Kinder die Schulbank drückten, gleich ne- vom Tessiner Stararchitekten Mario Botta. ben der Osteria, dient heute als Jugendher- Den Berg jedoch über seinen Sonnenhang berge. Es liegt fast auf der Hand: Piera und vom Valle di Muggio hinauf zu erobern ge- Guerino sind die Herbergseltern. schieht in völliger Einsamkeit. Schon der Auch Silvia Ghirlanda kommt immer Ausgangspunkt Scudellate wirkt, als würde wieder gerne für einen Schwatz und ein gu- man am Ende der Welt stehen. Ein paar tes Essen in die Osteria Manciana. Manch- Steinhäuser klemmen am Steilhang, wind- mal wandert sie von hier ein Stück Rich- schiefe Fensterläden, Rosenranken klettern tung Monte Generoso: den ersten Teil des über abblätternden Putz, Moos krallt sich in Weges ab Scudellate bis nach Erbonne. Das das Kopfsteinpflaster der engen Gassen, in Dorf liegt bereits in Italien und ist nur zu die kaum ein Sonnenstrahl einzudringen Fuß erreichbar. Silvias Augenmerk liegt vermag. An vorderster Front steht die Oste- 5 beim Wandern auf der Geschichte der Re- ria Manciana – das Herz des 20-Seelen-Dor- gion. Mit ihrem Mann Paolo Crivelli zählt fes. Piera Piffaretti, die Wirtin, hat ein offe- sie zu den Pionieren des Museo etnografico nes Ohr für alle Sorgen und Freuden. Und della Valle di Muggio (MEVM) mit Sitz in sie kocht wunderbar. In ihre Kochtöpfe der Casa Cantoni, einem prächtigen Palaz- 1| Brotzeit im B&B »In Val« im Talort Cabbio. kommt nur, was Garten und Tal hergeben. zo in der Ortschaft Cabbio. Besucher be- 2| Drei Brüder teilen sich die Almarbeiten auf La cucina povera: einfach und bodenstän- der Alpe Nadigh. 3| Kühlschrank nach alter kommen dort eine Idee, was für historische dig. Legendär sind ihre Ossobuchi. Sie Väter Sitte: Der letzte Schnee des Jahres hielt in Schätze es im Valle di Muggio zu entdecken Wie in der guten alten Zeit: nimmt dafür keine Kalbshaxen, wie in Ita- der »Nevèra« die Milch frisch. 4| Überall finden gibt: zum Beispiel die Graa, die Dörrhäuser, Auf der Alpe Nadigh wird lien beim Ossobuco üblich, sondern die vom sich Plätzchen für ein Picknick. 5| Blick vom die Nevère, die Schneekeller, oder die Roc- traditionell gewirtschaftet. Schwein. »Kühe waren, aufgrund der Milch, Monte Generoso zum italienischen Ort Erbonne. coli, die Vogelfangtürme. Und sie können in 40 outdoor-magazin outdoor-magazin 41 1 die Landschaft ziehen und die Gebäude sel- hier Bergtouren angehen. Die schönste Zeit ber entdecken, für deren Erhalt das MEVM zum Wandern an den Sonnenhängen des sich einsetzt. Sylvia sagt: »Vor allem woll- Monte Generoso, schwärmt Silvia, sei je- ten wir auch den Einheimischen zeigen, doch Ende Mai, Anfang Juni. Dann leuch- wie wertvoll und schützenswert ihr Tal ist. ten die weißen Blütenkerzen des Affodill Sie dafür gewinnen, traditionell zu renovie- aus den artenreichen Trockenwiesen her- ren und nicht alle möglichen Stile einzu- aus, und die in dieser Höhe so seltenen wil- führen, wie diese geschmacklosen Beton- den Pfingstrosen bilden rosafarbene Meere. 2 klötze in Morbio am Eingang des Tals.« Den außergewöhnlichen floralen Reichtum Monte-Generoso-Wanderer stoßen kurz des Monte Generoso begründen Geologen nach Scudellate auf eine vom MEVM restau- mit seiner Inselfunktion während der Eis- rierte Trockenmauer, die den einsamen Pfad zeiten. Weil den Voralpenberg kein Glet- nach Erbonne begleitet. Im Frühsommer scher bedeckte, konnten auch diverse rare wachsen wilde Erdbeeren in den Ritzen. Ah- Arten überleben. So gestaltet sich der nungslose Wanderer wundern sich über das schweißtreibende Weg zum 1701 Meter ho- steinerne »Hochhaus«, das sich auf halber hen Gipfel ungemein abwechslungsreich. Strecke im Wald versteckt. »Um das Überle- Rund um die Bergstation bleibt der übli- ben zu sichern, musste man hier in vieler- che Rummel nicht aus, doch es gibt auch 3 lei Hinsicht erfinderisch sein«, erzählt Sil- stille Aussichtsplätze entlang des bizarr via. Ein gutes Zubrot brachte der Vogelfang. modellierten Gipfelkammes, sobald der ei- Mit Lockvögeln verführte man die Zugvögel ne oder andere Pfad einen sicheren Tritt vo- zur Rast im Baumhain vor dem Turm und raussetzt. Der Blick nach Westen steht ganz erschreckte sie dann derart, dass sie in auf- im Kontrast zur Sonnenseite. In senkrech- Typisch Tessin: freundliche gespannte Netze flogen. Wer den Roccolo, ten Felsfluchten stürzen zerklüftete Kalk- Begegnungen zwischen das dreistöckige Turmhaus des Vogelfän- wände in die Tiefe, wie ein Krake gräbt der Mensch und Tier. gers, besichtigen möchte, kann sich den Lago di Lugano seine stahlblauen Wasser- Schlüssel in der Osteria Manciana besorgen. arme ins Vorgebirge ein. Jenseits drapieren Auf dem Weg zum Monte Auch auf dem weiteren Weg bleibt es sich die Walliser Viertausender, das Monte- Generoso öffnen sich immer spannend. Die Route führt über kahle Hän- Rosa-Massiv sticht als weiße Torte heraus. wieder Traumaussichten. ge, die den Weitblick bis zur grünen Poebe- Bei dieser Rundumschau hat man den 4 ne öffnen. Im Südosten stechen Sasso Monte Generoso selten für sich allein. Gordano und Monte Bisbino ins Auge, auch Aber schon ein paar Minuten unterhalb diese beiden Berge mit ihren Kämmen und der Bergstation auf dem Weg zur Alpe Na- Panoramen seien dringend als Wanderzie- digh dünnen sich die Ausflüglermassen im- le empfohlen. Zum Sasso Gordano startet mer mehr aus – es herrschen wieder Stille man im Talort Cabbio, zum Monte Bisbino und Frieden. Gelber Ginster säumt den Weg. in Bruzella und streift unterwegs archai- Spitze Steinplatten ragen senkrecht aus sche Alpsiedlungen. dem Boden. »Damit trennte man das Vieh Am Weg zum Monte Generoso fallen von den Weiden, die für das Abmähen be- kreisrunde Gebäude auf. Wer hineinlugt, stimmt waren«, weiß Silvia, die sich mit ih- sieht, dass sie zu drei Vierteln in den Unter- rem Paolo auf der Alpe Génor eine Oase für grund gebaut sind, kunstvoll in Trocken- den Lebensabend aufbaut. Einen Kühl- 5 mauermanier, also ganz ohne Mörtel. In schrank hat die Alpe von Haus aus schon diese Nevère schaufelten die Bergbauern fest installiert, denn gleich zwei Nevère ge- einst den letzten Frühjahrsschnee. Gepresst hören zum Grundstück. und verdichtet diente er bis in den Herbst Ist man nach Scudellate zurückgekehrt, zum Kühlen der Milch. Eine geniale Lösung würde man vielleicht gerne ein Bierchen für das Karstgebirge, in dem kühlendes trinken. Aber die Osteria Manciana kann 1| Freiauslauf für freie Hühner! Das macht die Quellwasser fehlt. »Kreisrunde Schneehäu- sich verschlossen zeigen. Piera und Gueri- Eier doppelt lecker. 2| Vom Monte Bisbino sieht man sogar die Walliser 4000er. 3| Marialuce ser – und dann noch so dicht beieinander – no kennen da kein Pardon. Sie gönnen sich Valturini vom Käsekeller Salorino weiß noch, gibt es sonst nirgends in der Schweiz«, be- ihre wohlverdiente Siesta. Und öffnen dann, wie man Zincarlin herstellt – Rohmilchkäse mit tont Silvia. Das MEVM inventarisierte rund wann es ihnen beliebt. Zeit genießt hier Weißweinhülle. 4| Verlaufen unmöglich. 5| Hö- 70 solcher Nevère, manche an die 200 Jahre eben einfach eine andere Dimension – und henweg zwischen den Alpen Génor und Nadigh. alt. Schon frühzeitig im Jahr lassen sich das ist auch gut so. 42 outdoor-magazin outdoor-magazin 43 Das Valle di Muggio besitzt te Genero Zürich die höchste machten Tessiner Gerichte werden DIE TOP-TOUREN IM VALLE DI MUGGIO Mon so Erbonne hauptsächlich Produkte des Mug- 1700 m Dichte an kreis- Melano Scudellate SCHWEIZ rund gebauten giotals verwendet. Erfreulich auch 1 MONTE GENEROSO pelle von Cascina d’Armirone in die Rondagno Genf Nevère. die Lage im Grünen außerhalb von Lago di 1384 m Roncapiano o Gord Teerstraße mündet.