Sendung vom 27.6.2017, 20.15 Uhr

alpha-Forum extra 125 Jahre Bayern SPD Dr. Hans-Jochen Vogel, Renate Schmidt, Dr. Michael Stephan und Rudolf Erhard im Gespräch mit Dr. Dieter Lehner

Lehner: Herzlich willkommen, verehrte Zuschauer, heute zu einer Extra-Ausgabe des alpha-Forums. Der Anlass ist ein erfreulicher, ein Jubiläum, ein Geburtstag, denn eine Partei, nämlich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, also die SPD, feiert ihren 125. Geburtstag, und zwar die bayerische SPD. Der Gründungsparteitag war damals in Reinhausen, einem kleinen Ort bei Regensburg, den kaum jemand kennt. Georg von Vollmar war der erste Vorsitzende der bayerischen SPD. Herr Dr. Vogel, ich darf Sie herzlich begrüßen in dieser Runde. Ich glaube, ich muss Sie nicht groß vorstellen, jeder kennt Sie. Vogel: Für die jungen Leute wäre es wahrscheinlich schon notwendig. Lehner: Um nur ein paar Eckdaten aus Ihrem Leben aufzuzählen: Sie waren Oberbürgermeister in München, Sie waren Regierender Bürgermeister in Berlin, Sie waren Landesvorsitzender und Bundesvorsitzender der SPD, Sie waren Bundesminister in mehreren Kabinetten. Ich darf zu meiner Linken Frau Renate Schmidt vorstellen, eigentlich auch allen bekannt. Auch Sie war in den 90er Jahren zehn Jahre lang Landesvorsitzende der SPD in Bayern und ebenfalls Bundesministerin. Ich darf ebenfalls herzlich begrüßen Dr. Michael Stephan. Er ist von der Ausbildung her Historiker und arbeitet als Stadtarchivar in München. Davor war er in den bayerischen Staatsarchiven unterwegs und hat sich dort mit den bayerischen Ministerpräsidenten beschäftigt, ist also in diesem Thema absolut zu Hause. Und last but not least darf ich den inzwischen ehemaligen Kollegen Rudolf Erhard begrüßen, der ebenfalls allen Menschen in Bayern bekannt ist. Er war jahrzehntelang Landtagskorrespondent des Bayerischen Rundfunks und ist ein wirkliches Urgestein des BR. Er hat hinter den Kulissen natürlich auch viel erfahren und war extrem gut vernetzt – und ist das sicherlich heute auch noch, obwohl er seit Kurzem im Ruhestand ist. Herzlich willkommen Sie alle. Herr Dr. Vogel, ich darf vielleicht mit Ihnen beginnen. Dieser Gründungsparteitag fand 1892 also in Reinhausen statt und eigentlich liegt das doch im Nebel der Geschichte, denn 125 Jahre sind einfach eine ewig lange Zeit. Sie selbst sind 1950 in die SPD eingetreten. Haben Sie denn noch irgendeinen Bezug zu diesem historischen Datum? Vogel: Ja, ich habe insofern einen gewissen Bezug, als mir damals schon klar war, dass das etwas Besonderes gewesen ist. Dass in den damaligen

Ländern SPD-Landesverbände gegründet wurden, stand nicht in der Satzung der Gesamtpartei, sondern das war etwas Besonderes und eine besondere Initiative von Georg von Vollmar. Das war schon ein Zeichen dafür, dass die bayerische SPD besondere Leistungen erbracht hat, aber auch besondere Schwierigkeit zu bewältigen hatte. Insofern ist mir also dieses Ereignis, ist mir dieses Datum durchaus im Bewusstsein. Außerdem darf ich ganz bescheiden – ich war ja früher mal immer der Jüngste – daran erinnern, dass ich bereits mehr als die Hälfte dieser 125 Jahre der Partei angehöre, nämlich 67 Jahre. Das verbindet mich auch ein kleines bisschen mit diesem Ereignis, dessen wir heute gedenken. Lehner: Frau Schmidt, Sie sind deutlich später in die SPD eingetreten … Schmidt: Nun, ich bin ein klein wenig jünger als Hans-Jochen Vogel. Lehner: Was waren denn damals Ihre persönlichen Beweggründe? In welcher Zeit sind Sie eingetreten? Ich denke, dass damals, als Sie aktiv wurden, dieses Datum 1892 keine Rolle gespielt hat, dass das höchstens später irgendwann einmal aufgepoppt ist. Schmidt: Das hat keine Rolle gespielt. Als ich 1972 eingetreten bin, spielten stattdessen Willy Brandt und das Misstrauensvotum gegen ihn eine große Rolle. Ich hatte zwar davor auch schon immer SPD gewählt, aber das war dann der letzte Kick, dass ich mir gesagt habe: "Jetzt reicht es nicht mehr, nur außen zu stehen und Beifall zu klatschen oder 'buh' zu rufen, sondern jetzt muss man mitmachen!" Deswegen bin ich damals eingetreten, in der Zwischenzeit ist das aber auch schon wieder 45 Jahre her. Wie gesagt, das waren damals die wesentlichen Beweggründe. Wenn man aber, wie das bei mir dann etwas später der Fall gewesen ist, Verantwortung übernimmt in der Partei, beschäftigt man sich selbstverständlich auch mit der Geschichte einer solchen Partei. Ich erinnere mich z. B. noch sehr genau an das 100. Gründungsjubiläum, das wir am 26. März 1992 in Regensburg gefeiert haben. Damals waren Rudolf Scharping und Gerhard Schröder als neue Ministerpräsidenten anwesend und es sollte deutlich werden: Mit Renate Schmidt kommt dann auch die künftige neue Ministerpräsidentin von Bayern. Damals war auch der letzte noch lebende Reichstagsabgeordnete bei dieser Jubiläumsfeier mit dabei, nämlich Josef Felder. An diese Feier erinnere ich mich noch sehr gut. Lehner: Auf Josef Felder kommen wir sicherlich noch zu sprechen. Herr Dr. Stephan, die SPD feiert gerne ihre Geburtstage, nämlich nicht nur am 26. Juni 2017 diesen 125. Geburtstag, sondern sie feierte dazwischen auch schon den 110., den 120., den 80., den 90. Geburtstag und teilweise ist bei diesen Feiern sogar die Konkurrenz zu Gast. war beim letzten Mal in Regensburg an diesem historischen Ort mit dabei. Warum feiert die SPD so oft und so gerne Ihren Geburtstag? Was bedeutet diese Historie? Hat sie sonst nichts zu feiern in Bayern? Stephan: Die SPD ist die älteste und traditionsreichste Partei, die heute noch ihren ursprünglichen Namen trägt. Sie kann mit Recht stolz sein auf diese Tradition. Es ist natürlich auch ein Antrieb für alle, die in dieser Partei engagiert sind, auf diesen Wurzeln aufzubauen und die Geschichte der SPD weiter voranzutreiben. Die Forderungen nach mehr demokratischer Mitbestimmung haben ja eine lange Geschichte in Deutschland, eine

Geschichte, in deren Verlauf die SPD ein gestaltendes Element gewesen ist. Darauf kann man sehr wohl stolz sein und daraus kann man auch Zukunftsperspektiven entwickeln. Vor fünf Jahren war in der Tat dieses 120. Jubiläum, bei dem sogar der bayerische Ministerpräsident dieser Partei seinen Respekt gezollt hat und Auge in Auge stand mit dem damaligen Kandidaten Christian Ude. Lehner: Rudolf Erhard, Sie sind wie erwähnt seit Jahrzehnten medialer Beobachter der Politiker in Bayern. Die weiß-blaue SPD hat ja eigentlich schon immer, nämlich von Beginn an eine Sonderrolle gespielt: zuerst im Kaiserreich, dann in der Weimarer Republik, in der Bundesrepublik und heute im vereinten Deutschland. Es gab ganz am Anfang bereits Auseinandersetzungen zwischen Bebel und von Vollmar und es gibt aus dieser Zeit den berühmten Spruch, den Bebel zu Vollmar gesagt hat: "Hüte sich, wer unter den Maßkrügen wandelt!" Schon damals kam also dieses bayerische Klischee zum Vorschein, weil Bayern auch damals schon ein bisschen reformistischer gewesen ist und auch ein bisschen separatistischer. Was ist denn das Besondere an der weiß-blauen SPD? Wie unterscheidet sie sich von der SPD im übrigen Deutschland? Erhard: Die Bayern-SPD hat immer sehr darunter gelitten, dass sie sich so einem monolithischen schwarzen Block gegenübersah im Bayerischen Landtag. Seit 1982 beobachte ich die SPD quasi hautnah und auch aus erster Hand. Die Bayern-SPD und vor allem auch die SPD- Landtagsfraktion waren immer unverdrossen: Sie hat eigentlich immer die richtigen Themen gesetzt, wenn auch nicht immer zum richtigen Zeitpunkt. Sie hat sich nie unterkriegen lassen, auch wenn sie es sich zwischendurch in der Opposition auch mal ein wenig gemütlich gemacht hat. Ich weiß nicht, ob das für alle SPD-Landesverbände in Deutschland gilt, aber die SPD hat sich in Bayern leider oft auch selbst ein Bein gestellt, hat selbst die Fallstricke gelegt, die ihr dann nicht zugutegekommen sind. Herr Dr. Vogel, Sie wissen das ja alles noch viel besser als ich, ich erwähne da z. B. nur die Querelen im Unterbezirk München der SPD in den 70er Jahren. Aber auch in der Landtagsfraktion gab es immer wieder Geschichten, bei denen man als Beobachter gedacht hat: "Mein Gott! Bei der CSU kommen die Affären von außen, während dies bei der SPD so gut wie nie der Fall ist. Dafür macht sie sich intern welche." Damit machte sich die SPD in Bayern natürlich das Leben immer wieder sehr schwer. Bei aller Unterstützung, die ein unabhängiger Journalist natürlich auch der Opposition geben muss – vor allem, wenn sie so einer starken Staatsregierung gegenübersteht –, habe ich doch sehr oft den Kopf geschüttelt und mir gedacht: "War das jetzt wirklich nötig?" Lehner: Herr Dr. Vogel, diesen Ball kann man ja gleich weiterspielen. War das wirklich nötig? Warum hat sich die SPD gerade in Bayern immer wieder selbst ein Bein gestellt? Vogel: Lieber Herr Lehner, ich würde doch lieber einen anderen Gesichtspunkt in den Vordergrund rücken wollen. Dieses Jubiläum ist ein Anlass, sich mit Dankbarkeit an die Männer und auch an die Frauen zu erinnern, die die Demokratie und die Gerechtigkeit und die Solidarität in unserem Gemeinwesen immer wieder ein Stück nach vorne gebracht haben. Da nenne ich als Namen zuerst einmal Georg von Vollmar, da nenne ich

Albert Roßhaupter, der in Bayern bei der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes dieselbe Rede gehalten hat wie Otto Wels in Berlin. Da nenne ich Waldemar von Knoeringen, der weit in die Zukunft gesehen hat und der damals schon die politische Bildung als notwendig für die Erhaltung und Verteidigung der Demokratie erkannt hat. Da nenne ich , den Vater der Bayerischen Verfassung, und da nenne ich auch , der nicht kommunismusnah gewesen ist, wie gelegentlich behauptet wird, sondern dem wir den Übergang von der Monarchie in die Republik und in die Demokratie verdanken. Ich könnte diese Liste durchaus noch lange fortsetzen, z. B. mit den Männern, die auf der kommunalen Ebene viele Dinge vorwärts gebracht haben. Ich nenne da z. B. nur Thomas Wimmer, aber ich könnte selbstverständlich noch viele andere aus anderen bayerischen Städten nennen. Ich meine, das sollte bei so einem Jubiläum im Vordergrund stehen: die Dankbarkeit und auch ein gewisser Stolz. Und es sollte die Frage an uns im Vordergrund stehen, was wir tun können, um deren Maßstäben standhalten zu können. Ich muss hier aber auch noch unbedingt eine Frau erwähnen, nämlich Toni Pfülf: Sie war eine der Frauen, die dem Nationalsozialismus am härtesten widerstanden haben. Sie hat sich am Ende selbst das Leben genommen, weil auf der Reichsebene die Partei etwas getan hat, was ihr überhaupt nicht recht gewesen ist: Die Partei hatte nämlich einer Friedensresolution zugestimmt, die von der damaligen NSDAP in Koalition mit der Deutschen Volkspartei eingebracht worden war. Toni Pfülf hat sich daraufhin leider das Leben genommen. Wer hat die Demokratie und die Republik gegen die Nazis so verteidigt, wie es Sozialdemokraten getan haben mit Hunderten von Menschen, die dafür ins KZ kamen oder dabei ihr Leben opferten? Das war ja nicht nur Toni Pfülf alleine. Schmidt: Ich erwähne z. B. auch noch die fränkisch-bayerische Bundesministerin Käthe Strobel, die für ein neues Familienbild und für Aufklärung auch im sexuellen Bereich geworben hat und die dies dann auch durchgesetzt hat. Oder man sollte sich mal anschauen, was die SPD in Bayern über all die Jahrzehnte hinweg für ein modernes Frauenbild getan hat. Ich erinnere mich noch gut an so manche Sitzung im Bayerischen Landtag, als wir von den Konservativen mit Hohn und Spott überhäuft wurden, weil wir für ein solches modernes Frauenbild eingetreten sind. In der Zwischenzeit ist dieses Frauenbild natürlich Konsens, d. h. wir haben etwas bewegt, auch wenn wir in Bayern nicht regiert haben. Die Sonderrolle der Bayern-SPD ist ja bereits angesprochen worden. Sie kommt ja nicht von ungefähr und manchmal glauben die anderen SPDler im übrigen Bundesgebiet, dass die SPD in Bayern das halt selbst nicht bewerkstelligen könne. Ja, wir sind in einer Sonderrolle, wir stehen einer konservativen Partei gegenüber, die gleichzeitig Regionalpartei und Bundespartei ist, die z. B. auch drei Mal Wahlkampfkostenerstattung bekommt: für die Europawahlen, für die Bundestagswahlen und für die Landtagswahlen. Die Bayern-SPD bekommt nur einmal Wahlkampfkostenerstattung. Das hat natürlich ein Ungleichgewicht in personeller und in finanzieller Hinsicht zur Folge. Aber auch in politischer Hinsicht hat das ein Ungleichgewicht zur Folge, weil nämlich diese konservative Bundespartei in den Medien deutlich häufiger vorkommt als

die Landespartei SPD. Dieses Ungleichgewicht wird einfach zu wenig begriffen, wird teilweise auch in der Bundes-SPD zu wenig begriffen. Vogel: Wenn ich da kurz etwas einwerfen darf. Willy Brandt hat mir gegenüber – allerdings mehr spaßeshalber – einmal den Gedanken entwickelt, ob wir nicht eine völlig eigenständige bayerische SPD ins Leben rufen sollten, die sich dann auch auf Bundesebene tummelt. Wir haben diesen Gedanken allerdings sofort wieder beiseitegelegt. Aber das ist … Schmidt: Er taucht bis heute immer mal wieder auf. Vogel: … in der Tat ein wichtiger Grund, das ist richtig. Lehner: Die SPD hat ja auch in Bayern mehrere Ministerpräsidenten gestellt, auch wenn das inzwischen bereits eine gewisse Zeit her ist, Herr Stephan. Kurt Eisner war der erste bayerische Ministerpräsident, er gehörte allerdings der USPD an, sozusagen einer linken Abspaltung, die sich damals von der Mehrheits-SPD abgespalten hatte. Stephan: Sein unmittelbarer Nachfolger war dann Johannes Hoffmann. Dieser Johannes Hoffmann von der SPD ist heute komplett vergessen, es gibt in München noch nicht einmal eine Straße, die nach ihm benannt ist. Lehner: Ist das tatsächlich so? Stephan: Ja, es ist wirklich so. Lehner: Woran liegt das? Denn er war dann ja der erste frei gewählte Ministerpräsident in Bayern. Stephan: Genau, er hat davor als Kultusminister bereits im Kabinett von Eisner gesessen. Nach der Landtagswahl am 12. Januar 1919 wurde er zum Ministerpräsidenten gewählt. Er musste dann aufgrund des Drucks der Rätebewegung nach Bamberg ausweichen, blieb jedoch bis 1920 bayerischer Ministerpräsident. Er wird tatsächlich oft vergessen. Unvergessen ist jedoch ein Mann wie Wilhelm Hoegner … Lehner: … der 1945 zuerst einmal von den Amerikanern als bayerischer Ministerpräsident eingesetzt worden ist. Vogel: Und dann wurde er gewählt. Lehner: 1954 wurde er dann frei gewählt. Stephan: Genau, ab 1954 gab es dann unter Hoegner diese berühmte Vierer- Koalition. Von diesen Zeiten kann man in der bayerischen SPD heute aber nur träumen. Ich habe ja auch eng mit Franz Maget zusammengearbeitet: 2008 wäre diese Situation rein rechnerisch ja erneut vorhanden gewesen. Aber bei dieser Landtagswahl war die SPD eben auf einen historischen Tiefstand abgerutscht, denn sie konnte unter Franz Maget nur mehr gut 18 Prozent holen. Für einen Führungsanspruch innerhalb einer Viererkoalition hat das eben nicht gereicht. Und es war dann ja auch so, dass damals die FDP leider ins Bett der CSU geschlüpft ist, wenn ich das mal so salopp ausdrücken darf. Aber die Bürger haben ihr dafür fünf Jahre später auch die Rechnung präsentiert, denn bei der Landtagswahl 2013 flog sie aus dem Landtag raus. 2008 hätte es also rein rechnerisch noch einmal diese Option wie im Jahr 1954 gegeben. Fakt ist jedoch, dass es seit 1957 keinen bayerischen Ministerpräsidenten mehr gegeben hat von der SPD.

Lehner: Seit 1957 ist die SPD in der Opposition. Das war damals von 1954 bis 1957 eine Viererkoalition, u. a. mit der Bayernpartei, die dann in diese Spielbankenaffäre verwickelt war. Stephan: Mitglieder dieser Koalition waren die SPD, die Bayernpartei, der BHE, also der "Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten", und die FDP. Der Architekt dieser Koalition war der bereits erwähnte Waldemar von Knoeringen … Vogel: Man darf auch nicht den damaligen Präsidenten des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes Ebert vergessen, weil es damals nämlich u. a. um die Frage ging: Bekenntnisschule oder christliche Gemeinschaftsschule? Eine weitere wichtige Frage war die Akademisierung des Lehrerberufs. Das waren die beiden Sachstreitthemen zwischen den Parteien. Im Übrigen hat die CSU zum Zustandekommen dieser Viererkoalition damals einen wesentlichen Beitrag geleistet, denn sie hatte ja eigentlich einen großen Wahlerfolg erzielt und bei den Wählerstimmen um zehn Prozent zugelegt. Aber sie hat dann diese drei kleineren Parteien in einer Art und Weise von oben herab behandelt, dass diese als Reaktion auf das Verhalten der CSU gesagt haben: "So lassen wir nicht mit uns umgehen!" Mir ist diese Zeit u. a. deswegen in Erinnerung, weil ich ja damals in der Staatskanzlei tätig gewesen bin, nämlich von Ende 1954 bis 1958. Lehner: Renate Schmidt, wie haben Sie dann dieses Remake erlebt, als erneut diese Chance bestand, die CSU in Bayern in der Regierungsverantwortung abzulösen und eine Viererkoalition zu bilden? Schmidt: Ich habe das im Jahr 2008 nicht als eine wirkliche Chance begriffen, weil die FDP eigentlich von vornherein nicht auf einer Linie gewesen ist, dass das gegangen wäre – mal abgesehen vom bescheidenen Wahlergebnis, das die SPD damals erzielt hat. Ich hatte das ja bereits 1994 versucht, wenn die FDP im Landtag geblieben wäre, denn dann wäre uns das u. U. gelungen. 1994 hatten wir mit 30 Prozent ein ganz anständiges Wahlergebnis und mit Margarete Bause von den Grünen und dem leider schon verstorbenen Max Stadler von der FDP gab es ein gutes Einvernehmen. Wir hatten auch versucht, optisch immer wieder klarzumachen, dass wir zusammen die Regierung stellen wollen, wenn das auch nur irgendwie möglich wäre. Aber das Pech war eben, dass die FDP bei dieser Wahl die Fünfprozenthürde leider nicht geschafft hat. Deswegen war das also leider Gottes nicht möglich. Aber so eine Chance wird es hoffentlich immer wieder mal geben. Ich hoffe, dass bald mal wieder eine kommen wird. Erhard: Es war ja so, dass die CSU 1994 sehr geschwächt war und richtig Angst hatte. Lehner: Das war damals diese Nach-Streibl-Zeit und der Übergang zu . Erhard: Ja, die CSU hatte die Amigo-Affäre zu überstehen, die zum Zeitpunkt der Wahl noch nicht ganz beendet gewesen ist. Edmund Stoiber war ja ebenfalls in all diese alten Strauß-Geschichten mit verwickelt gewesen. Ich habe Renate Schmid bei ihrem Wahlkampf 1994 für eine lange Sendung begleitet – genauso wie selbstverständlich auch Edmund

Stoiber – und ich kann mich daran erinnern, dass ihre Popularitäts- und Kompetenzwerte knapp an Edmund Stoiber dran waren. Da gab es in der CSU wirklich ein Zittern. Aber der Wähler in der Wahlkabine hat dann eben gesagt: "Ja, ja, die Renate Schmidt selbst wäre ja toll!" Aber dann hat er auf seine Bezirkslisten geschaut, ob er jemanden von der SPD kennt. Nebendran auf der Bezirksliste der CSU standen hingegen die allmächtigen Minister und Staatssekretäre zuhauf. Und so hat halt der Wähler wie so oft gesagt: "Na ja, dann machen wir halt doch lieber mit der CSU weiter, obwohl dieses Mal die SPD mit der Renate Schmidt durchaus eine Alternative wäre." Aber so mutig war der bayerische Wähler dann eben nie, obwohl das die SPD gerade zu diesem Zeitpunkt sehr wohl verdient gehabt hätte. Das war in all den Jahren, in denen ich sie beobachtet habe, ja nicht immer der Fall. Schmidt: Ich erinnere mich noch, wie Sie beim Politischen Aschermittwoch – das muss 1992 gewesen sein – rasch von Passau zu uns nach Vilshofen rübergekommen sind und mich gefragt haben, was ich jetzt dazu sage, dass der Max Streibl mich "Krampfhenne", "Sprüchamsel" und "Mäuschen" genannt hat. Ich war darüber dann doch etwas erstaunt und habe gesagt, dass ich mir die Herren, die mich "Mäuschen" nennen dürfen, selber auszusuchen pflege und dass Herr Streibl nicht dazugehört. Erhard: Das war aber auch der Anfang vom Ende seiner politischen Karriere, denn das war selbst der CSU dann zu viel an Denunzierung der Frauen. Lehner: Herr Stephan, Herr Dr. Vogel hat ja vorhin die Verdienste der SPD im Widerstand gegen den Nationalsozialismus sehr engagiert erwähnt: Viele Sozialdemokraten sind damals ins KZ gekommen und ermordet worden oder mussten wie z. B. Wilhelm Hoegner oder Waldemar von Knoeringen, fliehen, um dann aus dem Ausland weiter gegen Hitler zu kämpfen. Viele Sozialdemokraten haben damals unter Gefahr für Leib und Leben Widerstand geleistet. Warum werden heute all diese Verdienste der SPD für die Demokratie – und das ist ja nur eines von vielen Beispielen, wenn auch ein sehr gewichtiges – nicht entsprechend gewürdigt in breiten Teilen der Bevölkerung? So zumindest hat es ja den Anschein, wenn man sich die Wahlergebnisse anschaut. Stephan: Ich glaube nicht, dass die mangelnde Würdigung ihrer historischen Verdienste der Grund dafür ist, warum die SPD in Bayern nicht zu Potte kommt. Heute haben wir ganz andere Rahmenbedingungen und im Bund regiert die SPD ja mit. Es ist also nicht so, dass die SPD komplett unerfolgreich wäre. Ein Thema, das die SPD immer voranträgt, ist ja die soziale Gerechtigkeit, aber vielleicht fehlt da halt noch ein bisschen was anderes. Denn der Wähler will eben auch, dass für ihn wirtschaftlich und finanziell etwas dabei rüberkommt: Es kann also sein, dass der SPD nicht diese ökonomische Kompetenz zugesprochen wird wie vielleicht anderen Parteien. Das müsste also in Zukunft stärker Hand in Hand gehen: soziale Gerechtigkeit plus ökonomische Kompetenz. Und natürlich muss sie sich auch anderen Herausforderungen der heutigen Zeit stellen, das ist klar. Ich nenne hier z. B. die ökologische Umgestaltung der Industriegesellschaft. Hier müsste die SPD schon auch Personalangebote und Inhalte bieten. Wenn sie das schafft, dann, glaube ich, wird man wieder sagen können: "Ohne bzw. gegen die SPD

kann man nicht weiterregieren können." Dann wird die SPD wieder ganz stark Mitgestalter sein. Lehner: Hans-Jochen Vogel, Sie waren ja Vorreiter in Sachen Ökologie, denn Sie haben sich schon ganz früh gegen die Kernkraft ausgesprochen, nämlich noch bevor es die Grünen gegeben hat. Eigentlich wäre doch damit dieses Feld von der SPD besetzt gewesen. Als dann aber doch die Grünen kamen, war das, wenn man so will, ein erster massiver Aderlass für die SPD, denn viele Grün-Wähler waren eigentlich klassisches SPD- Wählerpotenzial. Vogel: Herr Lehner, da muss ich jetzt eine kleine Fußnote anbringen. Erstens darf man auch bei einer solchen Gelegenheit wie heute nicht verschweigen, dass die Sozialdemokratie auch ernsthafte Irrtümer in ihrer Geschichte hat. Ich war zwar kein Delegierter, aber ich war beim Bundesparteitag im Jahr 1956 sehr wohl mit dabei, als sich die Partei zu 100 Prozent für die Nutzung der Kernkraft ausgesprochen hat. Waldemar von Knoeringen hat das sehr befürwortet, ein Staatssekretär aus Nordrhein-Westfalen hat eine überzeugende Rede gehalten und so kam es, dass wir damals alle der Meinung waren, dass die Atomkraft das Mittel zur Lösung großer Probleme sei – und zwar nicht nur bei uns, sondern weltweit. Das darf man durchaus erwähnen, denn dann hat man auch das Recht, die Irrtümer der anderen mit Deutlichkeit anzusprechen. Zweitens ist es so, dass die Grünen bereits 1983 ins Parlament gekommen sind: Das war ja auch einer der Gründe dafür, warum mein Ergebnis bei der Bundestagswahl 1983 um vier Prozent schlechter war als das letzte von Helmut Schmidt im Jahr 1980. Ich lag bei 38 Prozent, während Helmut noch bei 42 Prozent gelegen hatte. Es hat dann aber einige Zeit gedauert bis zu dieser Katastrophe in Tschernobyl in der Ukraine. Ich habe zwei oder drei Wochen nach dieser Katastrophe als Fraktionsvorsitzender der SPD im Bundestag in einer Rede, die man durchaus heute noch lesen kann – ich habe da aber keine einsame Entscheidung getroffen, sondern ich habe das selbstverständlich vorher mit der Fraktion und der Partei abgestimmt –, gesagt: "Wir müssen aus der Kernenergie aussteigen!" Und einer der Gründe, die ich angeführt habe, war etwas, was ich mit Blick auf das Jahr 1956 im Nachhinein wirklich nur noch schwer verstehen kann: dass man wegen der Beseitigung des Atomabfalls und Atommülls keine klaren Vorstellungen hatte, dass man eigentlich gar keine Vorstellungen hatte. Und deswegen habe ich damals den Ausstieg aus der Kernenergie verlangt. Gerhard Schröder hat sich dem bald angeschlossen. Unter der Regierung Schröder ist es dann ja zum Ausstieg aus der Kernenergie gekommen. Danach ist dann aber die Regierung Merkel zusammen mit der FDP aus dem Ausstieg wieder ausgestiegen – um nach Fukushima innerhalb von wenigen Tagen in den Ausstieg wieder einzusteigen und für diesen endgültigen Ausstieg eine schlechtere Regelung zustande zu bringen, als sie die rot-grüne Regierung Schröder/Fischer vorher getroffen hatte. Das ist ein Beispiel dafür, dass wir früher aus einem Irrtum gelernt haben als andere. Ich will aber in keiner Weise bestreiten, dass die Grünen bei dieser Entwicklung einen maßgeblichen Impuls gegeben haben. Lehner: Renate Schmidt, in den 60er Jahren hatte es für die SPD in Bayern unter der Führung von Volkmar Gabert eigentlich noch ganz gute

Wahlergebnisse gegeben. Damals wurden ja auch diese Volksbegehren initiiert, die auf Landesebene sehr erfolgreich waren. Rudolf Erhard, damals gab es ja auch ein Volksbegehren für die Rundfunkfreiheit, denn bereits in den 60er Jahren hat man versucht, den Bayerischen Rundfunk zu schwächen. Es gab damals, Herr Dr. Vogel hat das vorhin bereits angesprochen, auch in Sachen christliche Bekenntnisschule ein erfolgreiches Volksbegehren. Diese Vorgehensweise hat sich dann auch über die Jahre hinweg fortgesetzt. Eigentlich wäre das doch ein ganz guter Hebel gewesen, sich landespolitisch stärker zu profilieren. Trotz der Erfolge dieser Volksbegehren hat das jedoch nicht so ganz funktioniert. Haben Sie eine Erklärung dafür? Schmidt: Ich glaube, dass es nicht reicht, in der Opposition gute Ideen zu haben. Ich bin nämlich der Meinung, dass die SPD diese guten Ideen über all diese Jahre und Jahrzehnte hinweg sehr wohl gehabt hat – sicherlich nicht flächendeckend auf allen Gebieten, aber das hatten die anderen ja auch nicht. Erhard: Und viele gute Ideen der SPD wurden ja auch fleißig kopiert von der CSU. Schmidt: Das stimmt, teilweise wurden Anträge und Initiativen von uns im Landtag abgelehnt, um dann vier Wochen später unter lediglich einer anderen Überschrift fröhliche Urständ zu feiern. Daran lag und liegt es also nicht, sondern ich bin der festen Überzeugung, dass man nur dann die Chance hat, die Regierung zu übernehmen oder in der Regierung zu sein, wenn die Wähler und Wählerinnen die amtierende Regierung satthaben, wenn sie sagen: "So geht es nicht weiter! So können wir nicht weitermachen! Wir sind unzufrieden!" Man kann der CSU ja vieles vorwerfen, aber eines nicht: Sie hat ein Gespür dafür, wenn eine Person nicht mehr geeignet ist, wenn sie feststellt, dass sie mit einem bestimmten Thema nicht mehr zu Potte kommt. Die CSU sagt dann halt einfach: "Ach, was interessiert uns unser Geschwätz von vorgestern. Jetzt machen wir das, was notwendig ist." Das kritisiere ich nicht, sondern ich sage: Da hat die CSU wirklich ihr Ohr an der Bevölkerung und ändert dann eben ihren Kurs. Ich erinnere z. B. ganz aktuell an den Landesentwicklungsplan: Da werden dann eben diejenigen Punkte geändert, bei denen die CSU feststellt, dass es Widerstände gibt. Und wenn man bei der CSU feststellt, dass man mit einer Person nicht mehr zurande kommt – ob diese nun Streibl oder Stoiber heißt –, dann wird diese sofort abserviert. Und dann wird eine neue Person aufgebaut. Dadurch hat es die Opposition in Bayern natürlich schwer. Es liegt also nicht an der Blödheit der SPD, sondern es liegt schon auch an der, wenn ich das mal so nennen darf, Wendigkeit der CSU, dass es schwierig ist. Und ich erwähne noch einmal die Sondersituation, die ich vorhin schon geschildert habe: dass wir als einzige Untergliederung der Bundes-SPD einer Bundespartei, die gleichzeitig Regionalpartei ist, gegenüberstehen. Erhard: Frau Schmidt, Sie haben, glaube ich, ein wichtiges Stichwort erwähnt: als politische Partei das Ohr nahe an der Bevölkerung zu haben. Es ist der SPD eben in weiten ländlichen Teilen nicht gelungen, das Sprachrohr der Bevölkerung zu sein, weil man dort genau hingehört hätte. Die SPD hat zumindest in den 35 Jahren, in denen ich sie direkt beobachtet habe, nie einen namhaften Vertreter aus der bis heute wichtigen Klientel der

Landwirtschaft hervorgebracht. Für die Landwirtschaft hatte die SPD nie ein Ohr, sie war und ist dort nicht verankert. Ich wohne zwischen Oberaudorf und Kiefersfelden: Kiefersfelden ist ja an sich ein Industrieort, aber nach der Schließung des Zementwerks, nach der Schließung des Marmorwerks, nach der Abschaffung der Zolleinrichtungen hat die SPD dort unglaublich viele Wähler verloren. In Kiefersfelden war die SPD bis vor einigen Jahren sogar die stärkste Fraktion gewesen im Gemeinderat. In Oberaudorf, in einer eher bäuerlichen Gemeinde, hat es lange gedauert, bis ein Sozialdemokrat überhaupt in den Gemeinderat gekommen ist. Und er kam nur deshalb in den Gemeinderat, weil er Fußballtrainer war. Engagierte SPDler sind auf dem Land doch eher dünner gesät als diejenigen von der CSU. Das ist zwar nur ein einfaches Beispiel, aber es zeigt doch, dass es der SPD im Gegensatz zur CSU eben nicht gelungen ist, diesen Wandel vom Agrarstaat zum Industriestaat und den Verlust von gewerkschaftsnahen Wählern hinzubekommen. Es ist so ein bisschen ein bayerisches Problem, dass man in der ländlichen Verankerung eben nicht so stark ist wie oft in den Städten. Denn dass die Leute einem Sozialdemokraten nicht zutrauen würden, ihre Kommune, ihre Großstadt führen zu können, ist ja vielfach widerlegt: Die Menschen wählen selbstverständlich auch einen SPDler, wenn da die richtige Person steht. Auch ein CSUler wird von den Wählern wirklich weggefegt, wenn er von der Person her, vom Charakter, vom Renommee her die Menschen in den Städten nicht überzeugen kann. Dafür gibt es ja viele, viele Beispiele. Lehner: Der einzige Politiker, der je in zwei verschiedenen deutschen Millionenstädten Oberbürgermeister bzw. Regierender Bürgermeister gewesen ist, ist Hans-Jochen Vogel. Was Rudolf Erhard soeben erwähnt hat, ist ja stichhaltig und plausibel: Die SPD kann auf dem flachen Land draußen, also bei den Bauern bzw. insgesamt bei der ländlichen Bevölkerung nicht so richtig Fuß fassen. Liegt es auch ein bisschen am Personaltableau, warum sie in der Stadt so erfolgreich ist und auf dem Land draußen weniger? Vogel: Da müssten wir uns jetzt sehr in die Einzelheiten hineinbegeben. Ich erinnere mich noch an Zeiten, in denen wir z. B. in Orten wie Miesbach, Frontenhausen oder Altötting den Landrat oder den Bürgermeister stellten. Das war nichts Ungewöhnliches. Wenn ich mich richtig erinnere, war der Schwiegervater von Herrn Huber, dem ehemaligen Parteivorsitzenden der CSU, der sozialdemokratische Bürgermeister von Frontenhausen gewesen. Aber ich will noch einen anderen Gesichtspunkt ansprechen, der nahe an dieser Frage dran ist. Wissen Sie, eine Opposition hat es schwerer, wenn sie auf vielen Gebieten gegen gute Zahlen kämpfen muss. Und die bayerischen Zahlen z. B. bei der Arbeitslosenrate, bei der Kriminalität, der Sicherheit usw. waren eben jeweils so, dass sie nicht wie in anderen Bundesländern Anlass gaben, zu opponieren. Das ist nicht ein Alleinverdienst der jeweiligen Regierung, denn dazu haben viele beigetragen, auch die SPD als Opposition. Aber Bayern hat es halt auch geschafft, aus einem Nehmerland – die meisten wissen gar nicht mehr, dass Bayern beim Länderfinanzausgleich noch bis zu Strauß ein Nehmerland gewesen ist – zum heute größten Geberland zu werden.

Schmidt: Bis ungefähr 1990 war Bayern ein Nehmerland. Vogel: So etwas macht es der Opposition nicht leichter. Wenn sie auf steigende Arbeitslosenzahlen, auf steigende Kriminalitätszahlen verweisen könnte, wäre das etwas anderes. Ja, wir konnten in bestimmen Regionen in Bayern den Zeigefinger heben, aber das war dann eben auch eine bayerische Besonderheit. Stephan: Mit diesem kommunalpolitischen Pfund kann die SPD wirklich wuchern. Man braucht schon mehr als zwei Hände, um aufzuzählen, in welchen Städten, in welchen Kommunen die SPD in Bayern den Oberbürgermeister bzw. den Bürgermeister stellt. Trotzdem ist es zwei Mal erfolglos probiert worden, nämlich 1974 und 2013, diese guten Erfahrungen und diese Erfolgsbilanz als Münchner Oberbürgermeister landespolitisch umzusetzen. 1974 war die CSU durch die Gebietsreform eigentlich recht geschwächt, weil diese … Lehner: … auf dem Land in weiten Kreisen sehr viel Kritik erfahren hat. Stephan: Und trotzdem fuhr Goppel damals ein sensationelles Ergebnis ein – und das trotz des guten Gegenkandidaten. Das heißt, eigentlich kann man sich solche Sachen manchmal überhaupt nicht erklären. Lehner: Es ist vielleicht auch ein gewisses Maß an Tradition oder von Macht der Gewohnheit, die da dahinterstehen. Renate Schmidt, Sie waren ja immer frauenpolitisch aktiv, u. a. als Bundesministerin. Später haben Sie sich auch sehr für die Belange der Jugend eingesetzt und sind heute noch in vielen, vielen Ehrenämtern tätig, in so vielen, dass man sie gar nicht alle aufzählen kann. Wie könnte sich die SPD Ihrer Meinung nach wieder nach vorne begeben, damit sie aus diesem – zumindest gemäß den Wahlergebnissen – Tief wieder herauskommt? Müssen da die jungen Leute wieder stärker angesprochen werden? Die jungen Leute engagieren sich heute ja sehr zahlreich, z. b. bei Attac, bei Greenpeace, bei verschiedenen anderen NGOs. Nur in der SPD nicht. Wie schafft man es, diese jungen Leute wieder näher an die SPD zu bringen? Schmidt: Ich bin vergleichsweise hoffnungsfroh. Es gab ja eine Zeit, in der ich mir gedacht habe: "Um Himmels willen, wo geht das hin? Junge Leute glauben offensichtlich, dass es reicht, auf Facebook oder sonst irgendwo nur noch ein 'like' anzuklicken. Aber ihren Hintern bringen sie nicht hoch, wenn es darum geht, sich selbst zu engagieren oder in die Wahlkabine zu gehen." Ich glaube, das hat sich inzwischen geändert, ich kann da nur sagen: "Trump sei Dank" und "Brexit sei Dank". Die jungen Leute heutzutage merken nämlich – und das hat jetzt zuerst einmal nicht nur etwas mit der SPD zu tun, aber eben auch mit der SPD zu tun –, dass so ein rein virtuelles Verhalten eben doch nicht reicht, dass es nicht reicht, sich nur irgendwo digital zu äußern und dass man schon auch selbst etwas tun muss, dass man u. U. auch mal auf die Straße gehen muss. Ich denke da z. B. an diese Demonstrationen für Europa. Und die SPD muss sich das einfach zunutze machen, dieses neue Interesse an Politik, und zwar an einer Politik, die in Zukunft schon auch ein Stückchen anders stattfinden wird als in der Vergangenheit. Ob das alles künftig noch in den altehrwürdigen Ortsvereinen stattfindet, weiß ich nicht, ich mache da eher ein großes Fragezeichen. Die Ortsvereine sind auch in Zukunft notwendig, aber sie können nicht die einzige Anlaufstelle sein,

sondern es braucht andere Anlaufstellen, die den jungen Leuten und deren Befindlichkeiten näher sind. Klar ist jedenfalls: Die jungen Leute wollen was tun, wollen auch was verändern. Und wenn ich mir die großen Probleme anschaue, die wir heute haben, dann stelle ich fest, dass das vor allem drei ganz große Probleme sind. Das ist erstens die Globalisierung und die damit verbundene, immer noch weiter zunehmende Ungleichheit. Das ist zweitens die Digitalisierung, die natürlich viele, viele positive Seiten hat, die aber auch verbunden ist mit dem Verlust einer Menge von Arbeitsplätzen. Und in Deutschland ist das dritte große Problem die demografische Entwicklung mit dieser Zunahme von älteren und der Abnahme von jüngeren Menschen und der Frage, wie wir hier die Lasten gerecht verteilen. Wenn man das alles mit jungen Leuten diskutiert, und zwar so, dass sie es kapieren, dann sagen diese auch: "Dafür lohnt es sich, sich zu engagieren!" Wenn wir als SPD den jungen Menschen also darlegen können, was unsere modern durchdeklinierte Form von Gerechtigkeit ist, dann kann das meiner Meinung nach gelingen. Ansonsten würde ich ungern mehr Ratschläge aus dem Off geben. Erhard: Ich bin hier doch ein bisschen anderer Meinung, denn ich bin, wenn ich mit jungen Menschen spreche, manchmal richtiggehend negativ erstaunt darüber, wie weit sich diese bereits von den etablierten Parteien entfernt haben. Ich frage mich, welchen Impuls es eigentlich geben muss, damit die jungen Leute wieder zur Wahl gehen und diese wunderbare repräsentative parlamentarische Demokratie mit ihrer Stimme sozusagen adeln. Schauen wir nach Frankreich, dort hat es doch soeben diesen Marsch von Macron gegen die etablierten Parteien gegeben. Da müsste man jetzt mal die Wahlbeteiligung genauer analysieren, denn ich weiß momentan nicht, ob auch die jungen Leute massenweise zur Wahl gegangen und die Alten zu Hause geblieben sind. Auf diesem Gebiet sehe ich also ein gewisses Problem: Die älteren Semester werden sozusagen zugeballert von ihrer Heimatzeitung mit den Erfolgen der CSU vor Ort und überall. Lesen denn die jungen Leute heutzutage noch eine kritische Tageszeitung, die ihnen sagt, was für eine wichtige Rolle die SPD in diesem politischen Gefüge der Bundesrepublik spielt? Ich bin da ein bisschen besorgter und würde am liebsten allen Gymnasien in Bayern anbieten, zu ihnen in den Unterricht zu kommen und unsere parlamentarische Demokratie zu lobpreisen. Schmidt: Oh, da haben Sie jetzt aber was angestellt. Da werden Sie viel zu tun haben künftig. Lehner: Das wird ein anstrengendes Ehrenamt, Herr Erhard. Erhard: Ich durfte nicht wählen mit 18 Jahren! Ich bin sozusagen ein in der Wolle gefärbter 68er und habe als Schülerzeitungschefredakteur flammende Leitartikel für die Absenkung des Wahlalters auf 18 Jahre geschrieben, sodass meine Mitschreiber irgendwann gesagt haben: "Jetzt hör endlich auf damit!" Aber ich durfte dann wirklich erst mit 21 Jahren wählen. Ich wäre auch dafür – die SPD propagiert das ja auch –, dass man bereits mit 16 Jahren wählen kann, zumindest auf der Ebene der Kommunen. Wir müssen wirklich ran an die jungen Leute, aber auch mir fällt kein Rezept ein, wie ich deren Politikmüdigkeit bekämpfen könnte.

Schmidt: Ich glaube schon, dass man die neuen Medien nutzen muss … Erhard: Aber das ist doch alles "wisch und weg", oder? Schmidt: Ich nenne diese neuen Medien ungern "soziale Medien", denn so sozial sind sie ja nicht. Aber klar ist, diese neuen Medien muss man nutzen. Man muss aber auch über diese neuen Medien deutlich machen, dass das alleine nicht reicht. Ich glaube schon, dass das gelingen kann. Lehner: Herr Dr. Vogel, Digitalisierung und Globalisierung wurden bereits erwähnt von Renate Schmidt. Sie selbst haben über diese tiefgreifende Veränderung der Gesellschaft ebenfalls schon geschrieben. Kann die SPD, kann die bayerische SPD diese Veränderungen nutzen oder ist auch das nur ein weiteres Stück Weg in die Vereinzelung, in die Entsolidarisierung? Vogel: Erstens einmal glaube ich, dass allmählich auch der jüngeren Generation klar wird, dass Demokratie und Frieden in Europa nichts Selbstverständliches sind. Es ist halt über die Jahrzehnte hinweg das Gefühl entstanden, dass man da selbst gar nichts mehr machen müsse, weil das ja selbstverständlich ist. Heute erkennt man, und es sind ja bereits einige Gründe dafür genannt worden, dass das keineswegs selbstverständlich ist. Ich bin da auch etwas optimistischer, weil ich mir beispielsweise diese Demonstrationen für Europa an den Sonntagen am Max-Joseph-Platz selbst angesehen und dort auch schon ein paar Worte gesprochen habe. Stephan: Sie haben eine flammende Rede gehalten. Vogel: Na ja, wissen Sie, wenn man mal wieder am Rednerpult steht oder das Mikrofon in die Hand gedrückt bekommt, dann fallen alle körperlichen Probleme, die man hat, auf einmal vorübergehend weg und man befindet sich quasi in einem anderen Zustand. Ja, das hat mich schon ein bisschen ermutigt. Und es ist auch so, dass die politische Bildung nicht nur eine Aufgabe für diese hervorragende "Akademie für politische Bildung" ist. Übrigens ist auch sie eine sozialdemokratische Gründung: Waldemar von Knoeringen vor allem und auch Wilhelm Hoegner sind hier als Initiatoren zu nennen. Nein, wir müssen auch in unserem Schulunterricht die politische Bildung viel stärker nach oben bringen. Das darf nicht nur ein kleiner Abschnitt im Geschichtsunterricht sein, sondern sie muss insgesamt im Unterricht vertreten sein, damit klar wird: Demokratie kann nur existieren und ihre Früchte bringen, wenn sich jeder Einzelne mitverantwortlich fühlt. Und da muss man dann eben auch an die Vergangenheit erinnern, da muss man daran erinnern, warum Weimar zugrunde gegangen ist. Und man darf bei dieser Gelegenheit gerade auch in Bayern wieder daran erinnern: Wer hat damals die Republik verteidigt und wer hat sie zerstört? Zerstört wurde sie nämlich auch unter Mithilfe derer, die dann später ihr Stimmverhalten am 23. März 1933 als schweren Irrtum erklärt haben. Lehner: Herr Dr. Stephan, die SPD ist nun in Bayern seit 60 Jahren in der Opposition: Ist das ein Fall für die Geschichtsbücher? Stephan: Wie meinen Sie das jetzt?

Lehner: Gab es das schon einmal in einer Demokratie, dass eine Partei so lange in der Opposition war und ist? Stephan: Ja, schon … Vogel: Denken Sie an Nordrhein-Westfalen. Stephan: Dort gab es in den letzten 60 Jahren doch immer wieder mal einen Wechsel. Die Situation der SPD in Bayern mit ihren 60 Jahren in der Opposition ist schon eine Besonderheit. Das heißt aber nicht, und wir haben das ja schon erwähnt, dass die SPD über all diese Jahrzehnte völlig machtlos gewesen wäre. Über Volksbegehren und Volksentscheide und letztlich sogar Verfassungsänderungen und auch über ihre aktive Tätigkeit in verschiedensten Untersuchungsausschüssen hat die SPD auch aus der Opposition heraus viel bewirkt. Klar, es ist natürlich schon etwas anderes, ob man selbst regiert oder Dinge quasi nur über die Hintertür durchsetzen kann. Insofern ist es dann schon eine Besonderheit und damit auch ein Fall für die Geschichtsbücher. Erhard: Ich bewundere ja die Sozialdemokraten im Bayerischen Landtag immer wieder dafür, wie sie unverdrossen lästig bleiben und dass sie sich nicht dem Frust ergeben, auch wenn es zwischendurch immer mal wieder kurze Phasen gegeben hat, in denen es so gewesen ist. Nein, sie ergeben sich nicht dem Frust und fangen immer wieder von neuem an. Positiv ist übrigens, dass es auch Quereinsteiger gibt in diese Partei, dass man sich nicht erst über Jahrzehnte nach oben arbeiten musste, sondern dass man in der SPD durchaus eine schnelle Karriere machen kann, wenn man der richtige Typ dafür ist. Schmidt: Unsere neue Vorsitzende Natascha Kohnen ist ein Beispiel dafür. Lehner: Herzlichen Dank, wir sind am Ende unserer Sendung angekommen. Eines haben wir, glaube ich, aus dieser Gesprächsrunde mitnehmen können: Die SPD in Bayern gehört noch lange nicht zum alten Eisen. Schmidt: Im Gegensatz zu uns! Lehner: Ich danke sehr herzlich für die angeregte und anregende Diskussion. Verehrte Zuschauer, das war ein alpha-Forum extra zum 125. Geburtstag der bayerischen SPD. Auf Wiedersehen.

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