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Romantik als Phänomen – Romantik als Diskurs

Stefan Matuschek

Es ist seit langem ein Topos der Romantik-Diskussion, mit Arthur O. Lovejoy darauf hinzuweisen, dass der Romantik-Begriff durch seine Vieldeutigkeit nichtssagend geworden sei. Er werde auf so viel Verschiedenes bezogen, dass kein gemeinsamer signifikanter Inhalt mehr bleibe und der Begriff dadurch bedeutungslos, leer werde.1 Wer wollte dem widersprechen? Schon im histori- schen Material, in den Verwendungen um 1800, zeigt sich diese Vieldeutigkeit. Sie hat damit zu tun, dass die Ausdrücke ‚Romantik‘ und ‚romantisch‘ sowie ihre fremdsprachigen Entsprechungen in Europa in den programmatischen und oft auch polemischen Diskursen der Zeit immer wieder nach den je eige- nen Bedingungen und Zielen neu verwendet und definiert werden. Die breite Wirkung von August Wilhelms Schlegels Vorlesungen Über dramatische Kunst und Literatur und Madame de Staëls De lˊAllemagne gibt zwar eine gewisse gemeinsame Orientierung, hält aber die Begriffsverwendungen nicht zusam- men. Das liegt an der Differenz der jeweiligen Kontexte: Die durch revolutionierte Universitätsphilosophie, woran die deutsche Frühroman- tik anschließt, eröffnet einen anderen Problemhorizont als etwa der akade- misierte literarische Klassizismus, gegen den sich die Romantiker in Italien oder Frankreich stellen. Das schlägt bis auf die Begriffsbildung durch. Der Ita- liener Giovanni Berchet und der Franzose meinen mit ‚romantico‘ und ­‚romantisme‘ das zeitgemäß Volkstümliche, das in der intellektuell esote- rischen Jenaer Rede vom ‚Romantischen‘ keine Rolle spielt. Dort geht es ganz unpopulär um avantgardistische Vorstellungen imaginierter Transzendenz, mit denen das moderne Subjekt durch eigene Fantasie die Funktion der tra- ditionellen Metaphysik und Religion übernehmen soll. Je nachdem, ob man damit um die Konsequenzen der Transzendentalphilosophie oder gegen die klassizistische Literaturnorm stritt, bedeuteten die Ausdrücke ‚romantisch‘, ‚romantico‘ und ‚romantique‘ also etwas anderes. Die Differenzen betreffen aber nicht nur den historischen Wortgebrauch; sie betreffen vielmehr schon die Frage, ob das Wort ‚romantisch‘ überhaupt in programmatischer Absicht verwendet wird. Denn es ist in der Literatur- geschichtsschreibung schon seit Langem Gewohnheit, auch diejenigen zu den Romantikern zu zählen, die sich – wie zum Beispiel die englischen Lake

1 Vgl. Arthur O. Lovejoy, „On the Discrimination of Romanticisms“, in: PMLA 39 (1924), S. 229–253.

© VERLAG FERDINAND SCHÖNINGH, 2019 | doi:10.30965/9783506788092_006

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­Poets – gar nicht als solche bezeichnen oder – wie – sogar mit Nachdruck gegen die programmatischen Romantiker gestellt haben. Diffe- renzen zeigen sich auch bei der Einschätzung, wer als kanonischer Autor an- zusehen sei. Die italienischen Romantiker etwa entdecken das für sie epochal Neue und Interessante gerade bei den deutschen Autoren, die weder im dama- ligen noch im heutigen Deutschland als Romantiker gelten: u. a. bei Friedrich Gottlieb Klopstock, Johann Joachim Winckelmann, , Christoph Martin Wieland und Gottfried August Bürger.2 , oder werden dagegen nicht zur Kenntnis genommen. Als exemplarischer romantischer Dichter aber gilt aus italienischer Sicht, wie Berchets Lettera semiseria belegt, Bürger. Er war zwar der Lehrer des älteren Schlegel, aber kein Lehrer der Romantik im programmatischen Sinne. Genau das aber wird er für Berchet, und zwar durch seine Volkstümlichkeit, die insbe- sondere in seiner Emotionalität und seinem Bezug zum Wunderglauben des populären Christentums liege. Diese Merkmale definieren Berchets Begriff der romantischen Poesie als „poesia popolare“ und „poesia de’ vivi“3. Bürgers ­Lenore und Der Wilde Jäger sind deren kanonische Belege. Die Verschiedenheit der europäischen Romantiken ist damit so groß, dass die Verwendung des Sin- gulars, also die Rede von der europäischen Romantik, nur eine vage Sammel- bezeichnung ohne begriffliche Einheit ist. In wort- und begriffsgeschichtlicher Perspektive lässt sich das Verschie- dene allerdings wieder zusammenbringen. In dieser Hinsicht haben Bürgers Balladen durchaus etwas mit ‚Romantik‘ zu tun. Denn sie schaffen genau die literarische Vorstellungs- und Stimmungswelt, auf die das Adjektiv ‚roman- tisch‘ ­ursprünglich bezogen ist: abenteuerlich-fantastische Ritterlichkeit mit christlich frommem und auch abergläubischem Wunderbarem. Dass beide Gedichte in der Tradition der spanischen Romanze stehen, markiert diesen Zusammenhang gattungsterminologisch. Wenn man Bürgers Balladen des- halb ‚romantisch‘ nennen will, kann man das allerdings nur im historisch langen Sinne des Wortes tun, wie ihn die Literarhistoriker Schlegel auch de- finiert haben: als zu derjenigen Literatur gehörig, die sich mit und seit der mittelalterlich-­christlichen Ritterdichtung entwickelt hat. ‚Romantisch‘ steht dann im komplementären Gegensatz zu ‚antik‘ und beide zusammen ergeben

2 Vgl. Elena Polledri, „Giacomo Leopardi und die scrittori romantici tedeschi Italiens. Romanti- cismo oder Romantik?“, in: Leopardi und die europäische Romantik, hg. v. Edoardo Costadura/ Diana Di Maria/Sebastian Neumeister, Heidelberg, 2015, S. 35–64, bes. S. 36–46. 3 Giovanni Berchet, „Sul Cacciatore feroce e sulla Eleonora di Goffredo Augusto Bürger. Lettera semiseria di Grisostomo al suo figliuolo“, in: Manifesti romantici e altri scritti della polemica classico-romantica. A cura di Carlo Calcaterra, nuova edizione ampliata a cura di Mario Scot- ti, 2. Aufl., Torino, 1979, S. 423–486, hier S. 437 u. 440.