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Ich will keinem Mann nachtreten. Einleitende Überlegungen

Sophie von La Roche hat in der Literaturgeschichte drei Orte: Sie ist die Freundin Christoph Martin Wielands1, sie ist die „Großmutter der Brentanos“2 und sie ist die erste deutsche Frauenschriftstellerin. Alle drei Zuordnungen sind wichtig und beschreiben je eine Facette von Sophie von La Roches Schrift- stellerinnenleben, sie stellen aber jeweils einen Aspekt in den Fokus und verein- fachen damit nicht nur, sondern entwickeln zugleich eine Hierarchie, die La Roches Schreiben immer nur als zweitrangiges Phänomen sieht. Bettine von Arnim lässt sich weitaus schwieriger kategorisieren und dennoch hat es auch in ihrem Fall Einschreibungen ins kollektive Gedächtnis gegeben, die ihrem Werk nicht gerecht werden. Sie wird gerne als Vorzeigeromantikerin angesehen, da diese literaturgeschichtliche Verortung das Zusammendenken der Heterogenität ihres Werkes scheinbar anbietet.3 Wie leicht und unreflektiert sich literaturge- schichtliche Wertungen tradieren, zeigt eine Einschätzung von Joseph von Eichendorff im Rahmen seiner Abhandlung Der deutsche Roman (1851), die als Stimmungsbild aus der Mitte des 19. Jahrhunderts gelesen werden kann:

Seltsam, während die Laroche die geistige Ahnfrau jener süßlichen Frauenge- schichten geworden, ist sie, wie zur Buße, zugleich die leibliche Großmutter eines völlig andern genialen Geschlechts, und nimmt sich dabei wie eine Henne aus, die unverhofft Schwäne ausgebrütet hat, und nun verwundert und ängstlich das ihr ganz fremde Element umkreist, auf welchem diese sich wiegen und zu Hause sind.4

Das Bild der Großmutter-Enkel-Beziehung hat er damit entscheidend geprägt. In kaum einem literaturwissenschaftlichen Beitrag zu diesem Generationenver- hältnis fehlt dieses Zitat.5 Dass hingegen auch die Enkelin Bettine von Arnim in

1 Ludmilla Assing: , die Freundin Wieland’s. Berlin 1859. 2 Werner Milch: Sophie La Roche. Die Grossmutter der Brentanos. Frankfurt a.M. 1935. 3 Vgl. z.B. Gert Mattenklott: Romantische Frauenkultur. zum Beispiel. In: Frauen. Literatur. Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegen- wart. Hrsg. von Hiltrud Gnüg und Renate Möhrmann. Stuttgart 1985, S. 123-143; Barbara Becker-Cantarino: Schriftstellerinnen der Romantik. Epoche – Werke – Wirkung. München 2000, S. 226-258. 4 Joseph von Eichendorff: Der deutsche Roman. In: ders.: Sämtliche Werke des Freiherrn von Eichendorff. Historisch-kritische Ausgabe begründet von Wilhelm Kosch und August Sauer, hrsg. von Hermann Kunisch. Bd. 8.2 Abhandlungen zur Literatur. Auf- grund von Vorarbeiten von Franz Ranegger hrsg. von Wolfram Mauser. Regensburg 1965, S. 1-245, hier S. 91. 5 Barbara Becker-Cantarino: Meine Liebe zu Büchern. Sophie von La Roche als professionelle Schriftstellerin. Heidelberg 2008, S. 223; Walter Schmitz: Kommentar zu ’s Frühlingskranz und Die Günderode. In: Bettine von Arnim: Werke und Briefe in vier Bänden. Hrsg. von Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff. Bd. 2: Clemens Brentano’s Frühlingskranz. Die Günderode. Hrsg. von Walter Schmitz. Frank- 8 Miriam Seidler & Mara Stuhlfauth der Wertung Eichendorffs nicht die hier anklingende positive Würdigung erfährt, wird in der Forschungsliteratur selten erwähnt. Im Rahmen der Kritik der weiblichen Poesie, die sich durch „bloße Repräsentation“, durch „den Schein des Seins, die glänzende Oberfläche des Lebens streifend, mit geistreichen Ueberhinfahren seiner Tiefen“6 auszeichne, stellt Eichendorff Leben und Werk von Großmutter und Enkelin ein weiteres Mal gegenüber:

Sophie von Laroche sodann sitzt ein halbes Jahrhundert lang unverrückt auf dem Throne conventioneller Grazie und hält mitten in dem schrecklichen Tosen und Getümmel der Kraftgenies zarten Minnehof der Sentimentalität mit reisenden Lite- raten, die liebeselig ihre langweiligen Correspondenzen vorlesen. Und wenn endlich Rousseau einmal sagt: ›Nicht Einem Weibe, aber den Weibern spreche ich die Talente der Männer ab‹, so erinnert uns dies Eine Weib hier unwillkürlich an Sophi- ens Enkelin Bettina. Bettina ist in neuerer Zeit eine so anomale Erscheinung, daß sie allerdings als Ausnahme nur die den Frauen gestellte Regel bestätigen würde, wenn sie nicht, genauer betrachtet, dennoch eben dieser Regel selbst anheimfiele. Denn wo sie in ernsten, und namentlich in religiösen oder politischen Dingen, den Männern ins Handwerk pfuscht, ist sie durchaus ungenügend, weil unklar und phantastisch. Die Wurzel auch ihrer Poesie ist doch wieder nur das Gefühl; sie ist wie eine wunderbar gestimmte Aeolsharfe, welche von den oft entgegengesetztesten Winden der neuern Bildung wie von unsichtbarer Hand gespielt wird.7

In einem vernichtenden Rundumschlag wird hier sowohl Sophie von La Roches kulturpolitische Wirkung8 als auch Bettine von Arnims Eindringen in die Sphäre der männlichen Literatur kritisiert. Wird einerseits die Frauenliteratur als gefühlsselige Eintagsfliege abgetan, wird andererseits Bettines eigenwillige Suche nach einer eigenen Formsprache nicht anerkannt.9 Dem Etikett ›Frauen- literatur‹ scheinen beide Autorinnen auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht entkommen zu können.

furt a.M. (Bibliothek deutscher Klassiker 12), S. 749-977, hier S. 760; Gerhard Sauder: Ansichten der Empfindsamkeit im Werk Sophie von La Roches. In: „Ach, wie wünschte ich mir Geld genug, um eine Professur zu stiften.“ Sophie von La Roche im literarischen und kulturpolitischen Feld von Aufklärung und Empfindsamkeit. Hrsg. von Gudrun Loster-Schneider und Barbara Becker-Cantarino unter Mitarbeit von Bettina Wild. Tübingen 2010, S. 11-26, hier S. 11. 6 Eichendorff, Der deutsche Roman, S. 224. 7 Ebd., S. 221f. 8 Vgl. zu La Roches gesellschaftlichen Wahrnehmung auch den Beitrag von Gesa Dane in diesem Band. 9 Für die Abwertung von Bettines literarischem Schaffen gibt es weitere zum Teil recht konträre Ansätze. Ein Beispiel findet sich in Friedrich Sengles umfangreicher Unter- suchung zur Biedermeierzeit aus dem Jahr 1972. Er kommt in Bezug auf den Stil von „Bettines Fälschungen“ zu dem Ergebnis, dass in Bettines Schreiben „die Stillagen schwanken sogar sehr stark zwischen ›naiver‹ Gegenständlichkeit oder Geschwätzigkeit und dithyrambischer Verklärung. Aber die Register werden bewußt gezogen, so daß ohne Zweifel von Kunst die Rede sein darf, in einem verhältnismäßig traditionellen Sinne sogar.“ Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. 3 Bde. Stuttgart 1972, S. 211. Einleitende Überlegungen 9

Und dennoch stellt sich noch immer die Frage: Hat Eichendorff Recht? Ist Sophie von La Roches in der Empfindsamkeit zu verortendes Werk als „süß- liche“ Frauenliteratur abzutun, während die Schriften der Enkel als Ergebnisse eines genialen Schaffensprozesses, der bei Bettine gefühlvoll das Ziel verfehlt, zu bewerten sind? Stand Sophie von La Roches Schaffen tatsächlich im Schatten von Christoph Martin Wieland (1733–1813), der als poeta doctus die Verlobte und Freundin zum Schreiben anregte? Bettine von Arnim hätte weder der Bewertung des eigenen Werks noch der Kritik am Werk der Großmutter zugestimmt, nimmt sie sie doch in der Günde- rode gegen ihre Kritiker in Schutz:

Ei wie fein ist doch die Großmama, alle Menschen sehen gemein aus ihr gegenüber, die Leute werfen ihr vor sie sei empfindsam, das stört mich nicht, im Gegenteil findet es Anklang in mir und obschon ich manchmal über gar zu Seltsames hab mit den andern lachen müssen, so fühl ich doch eine Wahrheit meistens in Allem.10

Der am gesellschaftlichen Auftreten wie an der Literatur der Großmutter geübten Kritik der ›Empfindsamkeit‹ folgt Bettine hier nicht. Selbst wenn man bedenkt, dass die Darstellung ihrer Beziehung zur Großmutter durch eine starke Tendenz zur Harmonisierung geprägt ist, entwirft sie ein Zusammengehörig- keitsgefühl der beiden Frauen, das darin besteht, dass die Enkelin die wahren Zusammenhänge in Wesen und Werk der Großmutter versteht. Da Bettine von Arnims Werk sich durch eine geschickte Form der „epistolaren Erinnerungs- politik“11 auszeichnet, die auch ihre eigene Person betrifft, kann hier von einer bewussten Beeinflussung des Bildes der Großmutter-Enkelin-Beziehung ausge- gangen werden. Barbara Becker-Cantarino hat die Beziehung von Großmutter und Enkelin in ihrer Studie Meine Liebe zu Büchern. Sophie von La Roche als professionelle Schriftstellerin gewürdigt. Neben der Förderung der Karoline von Günderrode, Sophie Mereaus und des Enkels Clemens Brentano liegt ihr die Ausbildung ihrer Enkelinnen sehr am Herzen. Nicht nur die in Offenbach verbrachten Jugend- jahre, sondern auch das nicht immer einfache Verhältnis zur Großmama hat bei Bettine von Arnim zu einer intensiven Auseinandersetzung mit Leben und Werk der berühmten Großmutter geführt. Parallelen in Leben und Werk sieht Becker- Cantarino vor allem im kommunikationsfreudigen und geselligen Wesen der

10 Bettine von Arnim: Die Günderode. In: dies.: Werke und Briefe in vier Bänden. Hrsg. von Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff. Bd. 1: Clemens Brentano’s Frühlings- kranz. Die Günderode. Hrsg. von Walter Schmitz. Frankfurt a.M. 1986 (Bibliothek deutscher Klassiker 12), S. 297-746, hier S. 461. Im Folgenden werden die einzelnen Bände der Werkausgabe zitiert mit der Sigle BvA und der Angabe der Bandzahl in römischen Zahlen. 11 Wolfgang Bunzel: Lippen auf Marmor. Bettine von Arnims epistolare Erinnerungs- politik. In: Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung. Hrsg. von Detlev Schöttker. München 2008, S. 161-180. 10 Miriam Seidler & Mara Stuhlfauth beiden Frauen, in ihrer Neugier und ihrer „Lust an Erkundungen“12. Den Weg zur literarischen Produktion finden beide erst nach der Elternphase und der Ein- stieg fand bei beiden über den Brief als fiktive oder halbfiktive Textsorte statt.13 Aber es sind trotz des Generationenunterschiedes auch weitere lebens- geschichtliche Erfahrungen, die Großmutter und Enkelin teilen und die ihren literarischen Schaffensprozess auf je eigene Weise prägen. Ein biographischer Ansatz14 scheint uns daher sinnvoll zu sein, um die Entwicklung weiblicher Schreibstrategien von Großmutter und Enkelin im Spannungsfeld von Auf- klärung und Romantik nachzuvollziehen.

Männliche Vorbilder und Mentoren

Dass Bettine von Arnim als Frau zu einer eigenen literarischen Formsprache fand, liegt sicher auch darin begründet, dass Bettine von ihrem zwölften Lebens- jahr an eine Frau zum Vorbild nehmen konnte, nämlich ihre kulturell aufge- schlossene und schreibende Großmutter. Für Sophie von La Roche hingegen sind es von Kindesbeinen an Männer gewesen, die sich ihrer geistigen Erzieh- ung angenommen haben. Sophies erster Erzieher war ihr Vater, der seiner Tochter schon sehr früh Lesen und Schreiben beibrachte und sie wie es für eine Tochter des 18. Jahrhun- derts durchaus unüblich war, in verschiedensten Fächern unterrichten ließ. Die Erziehung durch den Vater wurde von Sophies erstem Verlobten Giovanni Ludovico Bianconi (1717–1781) abgelöst, der sie an die italienischen Dichter und Geschichtsschreiber sowie an Archäologie, Kunstgeschichte und Mathe- matik heranführte. Dass diese Bemühungen Bianconis in erster Linie dazu dienten, sich eine gebildete Gattin zu erziehen, macht die rückblickende Äußerung Sophies auf die Lösung des Verlöbnisses durch ihren Vater deutlich: „Er wird keine Frucht seiner verehrungsvollen delikaten Bemühung, seiner künftigen Gattin Kenntnisse und Talente zu geben, genießen.“15 Es ist ein anderer Mann, der von Sophies vielseitiger Bildung profitieren sollte: Christoph Martin Wieland. Großmutter und Enkelin führen in jungen Jahren Brieffreundschaften, die ihnen den Weg zur eigenen schriftstellerischen Tätigkeit ebnen. Während die Großmutter Zeit ihres Lebens großen Wert auf die Anerkennung ihres Brief- freundes Christoph Martin Wieland legt und in ihm einen Mentor findet, der ihre Texte lektoriert und veröffentlicht, befreit sich ihre Enkelin Bettine Brentano

12 Becker-Cantarino, Meine Liebe zu Büchern, S. 222. 13 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Katrin Burgdorf in diesem Band. 14 Vgl. zur Bedeutung der Biographie für Sophie von La Roches Schreiben: Gudrun Loster- Schneider: „Ich aber nähre mich wieder mit einigen phantastischen Briefen.“ Zur Problematik der schriftstellerischen Profession. Sophie von La Roche (1730–1807). In: Beruf: Schriftstellerin. Schreibende Frauen im 18. und 19. Jahrhundert. Hrsg. von Karin Tebben. Göttingen, S. 47-77, hier S. 50-52. 15 Sophie von La Roche: Melusinens Sommerabende. Hrsg. von C.M. Wieland. Mit dem Portrait der Verfasserin. Halle 1806, S. XIV. Einleitende Überlegungen 11 schnell von den erzieherischen Richtlinien ihres Bruders Clemens Brentano, zumal seine literarische Unterstützung Bettines nicht weit über Lektüreempfeh- lungen hinausgeht. Als Wieland Sophie kennenlernt, befindet er sich noch nicht ganz siebzehn Jahre alt im Zwischenraum; nicht mehr Schüler und noch nicht Student ist Wieland vollkommen fasziniert von seiner gebildeten Cousine und hat die (Zwischen-)Zeit sich dieser Faszination hinzugeben. 1750 kommt es zum Verlöbnis zwischen den beiden, die Hochzeit bleibt allerdings aus, da Wieland noch im Herbst desselben Jahres sein Jurastudium in Tübingen aufnimmt. Von 1750–1753 besteht die Beziehung aus einem intensiven Briefwechsel, in dem beide ihre gegenseitige Leidenschaft für die Literatur ausleben. Doch handelt es sich dabei nicht um einen literarischen Austausch auf Augenhöhe. Die gesell- schaftliche Situation Sophies ist prekär: Der inzwischen wieder verheiratete Vater Gutermann drängt zur Ehe seiner Tochter, Sophie lebt bei den Eltern Wielands ohne sich mit dessen Mutter zu verstehen und ihr Verlobter betreibt sein Jurastudium nur halbherzig. Wielands Mutter versucht die Eheschließung zu verhindern, indem sie die Briefe ihres Sohnes an die ungeliebte Schwieger- tochter zurückhält. Obwohl Sophie sich in ihrer Jugend sehr darüber geärgert hat, händigt auch sie ihrer Enkelin Bettine Jahre später nicht alle Briefe des Bruders Clemens aus, vielleicht gerade weil sie aufgrund der Erfahrung mit Wieland die seelische Verführung des poetischen Austauschs kennt und Bettine vor gesellschaftlichen Problemen bewahren möchte.16 Wieland möchte schreiben und es ist ausgerechnet Sophie, die ihn in ihren Briefen immer wieder darin bestärkt. Mit ihren Ermutigungen rückt Sophie die Möglichkeit einer Hochzeit mit Wieland immer weiter in die Ferne. Denn Wieland befindet sich in dem Dilemma, einerseits sein Studium ernsthaft und schnell betreiben zu müssen, um es sich finanziell erlauben zu können, Sophie zu ehelichen und eine Familie zu gründen, und andererseits seine Leidenschaft für die Poesie diesen Pflichten nicht unterordnen zu wollen. Wieland dichtete für Sophie, während er gerade um ihretwillen hätte fleißig studieren müssen.17 Wieland sollte Sophie ihre Ermutigungen zum Schreiben fünfundfünfzig Jahre später hoch anrechnen: „Nichts ist wohl gewisser, als daß ich, wofern uns das Schicksal nicht im Jahre 1750 zusammengebracht hätte, kein Dichter geworden wäre“18.

16 Sophie von La Roche teilt ihrer Enkelin Sophie Brentano ihre Bedenken über Clemens Umgang mit Bettine mit: „Il s’est enfermé avec Bettine qu’il imbibe de ses principes, je l’avoue, à mon grand charin.“ (Er hat sich mit Bettine eingeschlossen und durchtränkt sie mit seinen Grundsätzen, wie ich zu meinem großen Bedauern eingestehen muss.) Sophie von La Roche an Sophie Brentano am 25. August 1800. Zitiert nach: Das unsterbliche Leben. Unbekannte Briefe von Clemens Brentano. Hrsg. von Wilhelm Schellberg und Friedrich Fuchs. Jena 1939, S. 151. 17 Vgl. Irmela Brender: Christoph Martin Wieland mit Selbstzeugnissen und Bilddoku- menten. Hrsg. von Wolfgang Müller. Hamburg 1990, S. 17ff. 18 Christoph Martin Wieland an Sophie von La Roche am 20. Dezember 1805. In: Wielands Briefwechsel. Bd. 16.1: Juli 1802 – Dezember 1805. Hrsg. von Siegfried Scheibe. Berlin 1997, S. 515. 12 Miriam Seidler & Mara Stuhlfauth

Aber auch ein Blick in den Briefwechsel selbst zeigt ein deutliches Gefälle zwischen den Briefpartnern. Einerseits stilisiert Wieland Sophie zu seiner Muse, wie folgender Briefauszug zeigt: „Die Ode die ich Ihnen schicke, drückt etwas von der großen Empfindung aus, die mir Ihr letztes Schreiben erweckte“19. Andererseits besteht ein Lehrer-Schülerinnen-Verhältnis zwischen den beiden, in dem Wieland seiner literaturinteressierten Verlobten Lektüreempfehlungen schickt, um hinterher das Gelesene mit ihr diskutieren zu können. Besprochen werden u.a. die deutschen Schriftsteller Albrecht von Haller, Friedrich von Hagedorn, Johann Ludwig Wilhelm Gleim und Friedrich Gottlieb Klopstock, aber auch die Briefromane des Briten Samuel Richardsons. Dabei folgen die Briefe Wielands häufig dem Muster, eine Frage an Sophie – z.B. wie ihr dieser oder jener Text gefallen habe – nur als Aufhänger zu nehmen, um im folgenden auf mehreren Seiten seine eigenen Gedanken und Lehren zu Autor und Werk ausbreiten zu können.20 Zum Lehrer-Schülerinnen- Verhältnis gehört aber auch, dass Wieland Sophie seinerseits zum Schreiben ermutigt:

Wie erfreut bin ich nicht, Mein Engel, von Ihnen versichert zu seyn, daß Sie an edlem zärtlichen und tugendhaftem Herzen alle Dichter und Dichterinnen der ganzen Welt übertreffen, und daß in Ihrem Geiste alle die Fähigkeiten liegen, welche die göttliche Poesie erfordert. Kurz, Sie sind geschikt eine volkomne Dichterin zu werden; Sie haben mir davon Proben gegeben; und was kan mir ange- nehmer seyn, als zur Entwikklung und aufklärung Ihrer natürlichen ungemeinen Geschiklichkeit etwas beyzutragen, zumal da durch Ihre Zärtliche und Grosmüthige Liebe, die süssen Früchte davon von niemand mehr als von mir genossen werden können.21

An dieser an der Empfindsamkeit geschulten Versicherung, Sophie sei zum Dichten geboren, interessiert besonders der letzte Satz. Wieland ermutigt Sophie zu schreiben, versäumt es aber nicht, seine Rolle als poeta doctus zu betonen:

[…] die Uebung wird Sie so verschönern, daß Ihnen alle Französinnen weichen werden. Wie freue ich mich schon im Geiste, daß das Bildnis meiner Geliebten einst das Portrait einer Chatelet, Bassi, Gottschedin etc. so sehr überstrahlen wird. […] Die Fabel, welche Sie mir geschickt haben, ist ganz artig außer daß die Wörter „verbande, fande, erführe“ wider die deutsche Grammatik verstoßen. Es muß „verband“, „fand“ heißen das e ist unerlaubt. Doch dieses ist eine Kleinigkeit, die ich meiner liebenswürdigen Schwäbin, gar gern vergebe.22

19 Christoph Martin Wieland an Sophie Gutermann am 5. Juni 1752. In: Wielands Briefwechsel. Bd. 1: Briefe der Bildungsjahre. 1. Juni 1750 – 2. Juni 1760. Hrsg. von Hans Werner Seiffert. Berlin 1963, S. 84. 20 Vgl. Becker-Cantarino, Meine Liebe zu Büchern, S. 43. 21 Christoph Martin Wieland an Sophie Gutermann zwischen Januar und März 1751. In: Wieland, Briefe der Bildungsjahre, S. 13f. 22 Christoph Martin Wieland an Sophie Gutermann Ende Juli 1751. In: ebd., S. 19f. Einleitende Überlegungen 13

Dieser Auszug aus einem Brief vom Juli 1751 ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Wieland prognostiziert Sophie zwar einen übermäßigen Erfolg, misst ihre Dichtung aber ausschließlich an Texten schreibender Frauen – eine Rezeptionshaltung zu Texten von Schriftstellerinnen, die auch in seiner späteren Vorrede zu Sophies Fräulein von Sternheim zum Tragen kommen sollte – und versäumt es nicht, sich im selben Atemzug als der Geliebte und Entdecker dieser ›literarischen Perle‹ ins Rampenlicht zu setzen. Andererseits zeichnet sich hier schon seine spätere Lektorentätigkeit ab; immer wieder ›übersetzt‹ er ihre dem schwäbischen Dialekt entstammenden Formulierungen ins Hochdeutsch des 18. Jahrhunderts. Ein Jahr nachdem Wieland sein Jurastudium abgebrochen und der Einla- dung von (1698–1783) nach Zürich gefolgt ist, erkennt Sophie, dass

alle schönen Hofnungen meiner Verbindung mit Ihnen, und alles gute, so Sie und Ihre verehrungs würdige freunde jemahls vor mich gedacht haben, als ein schönes gebäu in einer Wildnus ansehen mußte, worinn mein Herz, so gut und unschuldig lebte, als ihm möglich war, aber weder sich, noch seiner Wohnung einigen Schutz geben könte.23

Sie löst die Verlobung und heiratet den Verwaltungsbeamten und Staatsmann Georg Michael Frank La Roche (1720–1788). Als Wieland nach längerer Pause bemüht ist, den Briefwechsel wieder aufzunehmen, haben sich die Verhältnisse geändert. Durch die Ehe mit La Roche gehört Sophie dem Adelsstand an und ist finanziell abgesichert. Auch jetzt ist sie diejenige, die Wieland unterstützt und das sowohl in privater wie in gesellschaftlicher Hinsicht: Sophie ermöglicht Wieland den Zugang zur umfangreichen Bibliothek des Grafen Stadion, unter- stützt ihn bei seiner Berufung als Professor und steht ihm bei seinen Liebes- wirren mit Julie Bondeli und Christine Hogel mit Rat und Tat zur Seite.24 Für Sophie von La Roches literarisches Schaffen sollte sich ihre langjährige Beziehung mit Wieland erst Jahre später auszahlen. Erst nach der Geburt von acht Kindern und nachdem ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen als Vor- leserin und Gesellschaftsdame des Grafen Stadion durch dessen Tod entfallen, kann sich Sophie ihrem eigenen literarischen Schaffen widmen. Wieland ist der erste Leser ihres in dieser Phase entstandenen Romans Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim und ist von der Lektüre sehr angetan. Er kritisiert jedoch an Sophies erstem Briefroman die empfindsame Gefühlsschwärmerei, die er selbst nach der Entstehung seiner frühen Werke unter dem Einfluss Bodmers hinter sich gelassen hatte. Sophie hingegen, die ihr Leben lang ihrer pietistischen Erziehung verhaftet bleibt, macht diese Entwicklung ihres Brief- freundes nicht mit. Trotz dieser Differenz lektoriert Wieland den Briefroman,

23 Sophie von La Roche an Christoph Martin Wieland am 17. Februar 1754. In: ebd., S. 193f. 24 Vgl. Becker-Cantarino: Meine Liebe zu Büchern, S. 50f.