A. Cartellieri: Tagebücher Eines Deutschen Historikers
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Alexander Cartellieri. Tagebücher eines deutschen Historikers: Vom Kaiserreich bis in die Zweistaatlichkeit 1899–1953, hrsg. v. Matthias Steinbach u. Uwe Dathe. München: Oldenbourg Verlag, 2014. 980 S. ISBN 978-3-486-71888-1. Reviewed by Gerhard A. Ritter Published on H-Soz-u-Kult (September, 2014) Alexander Cartellieri war ein stark national den Ersten Weltkrieg bis zu den ersten Jahren der ausgerichteter konservativer Repräsentant des DDR eine hervorragende Quelle. Cartellieri führte wilhelminischen Bildungsbürgertums. Als Histori‐ das Tagebuch vom 1. Januar 1878 bis zum Herbst ker war er als Spezialist für die französische Ge‐ 1954 zunächst fast täglich, ab 1903 als Sonntagsta‐ schichte des Mittelalters und Verfasser einer fünf‐ gebuch seit 1902 mit Schreibmaschine. Von den bändigen Weltgeschichte für die Zeit von 382 bis insgesamt 12.000 Seiten wurden im vorliegenden 1190 Alexander Cartellieri, Weltgeschichte als Band nur ein kleiner Teil veröffentlicht, begin‐ Machtgeschichte, 5 Bde., Bd. 1–4, München 1927– nend mit Cartellieris Lehrtätigkeit in Heidelberg 1941; Bd. 5, Aalen 1972. eher ein Außenseiter der 1899. Das Schwergewicht der Edition bildet der Zunft, der nach seiner frühen Berufung nach Jena Erste Weltkrieg, die Weimarer Republik und die 1902 zuerst als außerordentlicher Professor und NS-Zeit. 1904 als Ordinarius zu seiner großen Enttäu‐ Cartellieri stammte aus einer Ende des 18. schung – er verachtete die schlecht ausgestattete Jahrhunderts aus Mailand ausgewanderten Musi‐ Universität des „popeligen“ Jena als Produkt der kantenfamilie. In Deutschland wurden aus den von ihm verurteilten deutschen Kleinstaaterei – Musikanten Kaufleute. Sein Großvater väterli‐ keinen weiteren Ruf erhielt. cherseits war Stadtkämmerer in Pillau, sein Vater Die bewusst mit Blick auf die Nachwelt ge‐ für das jüdisch-armenische Bankhaus Ephrussi & schriebenen Tagebücher sind als Spiegel der Men‐ Co. zunächst in Odessa und Paris tätig, danach talität aber auch der sozialen Probleme deutscher war er selbstständiger Unternehmer. Cartellieri Geisteswissenschaftler, als Einblick in das innere wurde in Odessa 1867 geboren, kam 1872 nach Leben einer kleinen Universitätsstadt, als Arbeits‐ Paris und besuchte seit 1883 ein Gymnasium in journal für Cartellieris wissenschaftliche Pläne Gütersloh. Er wurde von seinem Vater – einem vor allem aber als laufender Kommentar zu den Bismarckverehrer – deutsch-national erzogen, be‐ politischen Entwicklungen vom Kaiserreich über herrschte Französisch als zweite Muttersprache H-Net Reviews und war der französischen wie italienischen Kul‐ er Wirtschafts-, Verfassungs- und Geistesgeschich‐ tur eng verbunden. In seinen Gymnasialjahren te bei aller Bedeutung, die er ihnen für den Staat und während des Geschichtsstudiums in Tübin‐ zumaß, bewusst ausgeklammerte. 1919 und 1922 gen, Leipzig und Berlin faszinierte ihn Ranke, der in erheblich erweiterter zweiter Auflage legte er „größte Geschichtsschreiber aller Völker und Zei‐ die „Grundzüge der Weltgeschichte“ vor, die von ten“ (S. 889), an dessen Konzept der Einheit der den altorientalischen Weltreichen bis zum Ersten germanisch-romanischen Kultur er zeitlebens Weltkrieg als einer auf großen Männern beruhen‐ festhielt. In seiner 1893 in der „Revue Historique“ den Geschichte von Ereignissen und ihren Wir‐ veröffentlichten Dissertation befasste er sich mit kungen reichen. Das Konzept einer auf Machtge‐ der Jugend des französischen Königs Philipp II. winn und -erhalt und damit auf den Primat der August (1165–1223), der im Zentrum seiner For‐ Außenpolitik ausgerichteten Geschichte vor allem schungen in den nächsten drei Jahrzehnten stand. der Beziehungen der Staaten zueinander liegt Seine vierbändige Biographie Alexander Cartellie‐ auch seinem fünfbändigen Werk „Weltgeschichte ri, Philipp II. August, König von Frankreich, 4 als Machtgeschichte“ zu Grunde. Der erste Band Bde., Bd. 1–3, Leipzig 1899/1900–1910; Bd. 4/1 und erschien 1927 und behandelte die germanisch- 4/2, Leipzig 1921–1922. schilderte diesen König arabischen Reichsgründungen von 382–911, der wegen der Durchsetzung der königlichen Macht letzte, „Das Zeitalter Barbarossas. 1150–1190“, gegen die Feudalherren und der Erweiterung sei‐ wurde 1972 postum herausgegeben. Die Entwick‐ ner Herrschaft als wohl bedeutendsten Monar‐ lung des Werks und seiner Grundkonzeptionen ist chen seiner Zeit, der die Grundlage für den fran‐ aus den Tagebüchern gut zu verfolgen. Dabei zösischen Durchbruch zur Großmacht legte. Da‐ stand dieses Projekt zunächst im Wettstreit mit bei zeichnete er ihn vor allem als Kämpfer gegen seinem schließlich aufgegebenen Plan, eine Ge‐ die Machtstellung Englands auf dem europäi‐ schichte des alten deutschen Kaisertums zu schen Kontinent. Cartellieris Biographie wurde in schreiben, das aber vor allem in den späteren Frankreich, wo der König mit deutlich antideut‐ Bänden seiner Weltgeschichte in Konkurrenz mit schem Akzent als Symbol für die Größe des eige‐ dem Aufstieg des Papsttums immer mehr in den nen Landes angesehen wurde, aber auch in Belgi‐ Mittelpunkt der Darstellung rückt. Neben der en, Großbritannien und den Vereinigten Staaten abendländischen Welt werden Ostrom und die is‐ insgesamt positiv gewürdigt, in Deutschland aber lamischen Weltreiche und deren Zurückdrängung nur wenig beachtet. Die weitgehende Abschottung und damit auch das Mittelmeer als wichtiger der deutschen Wissenschaft von der des westli‐ Raum der Geschichte in die Darstellung einbezo‐ chen Auslands seit dem Ersten Weltkrieg war für gen. Afrika, der Rest Asiens und der amerikani‐ Cartellieri nicht nur eine wissenschaftliche, son‐ sche Kontinent kommen nicht vor. Trotz dieser dern auch eine persönliche Tragödie, da seine kol‐ thematischen Begrenzung des Buchs und seiner legialen Kontakte, vor allem mit französischen Ge‐ weitgehend positivistischen Beschränkung auf die lehrten abrissen, seine Freundschaft mit dem gro‐ Rekonstruktion von Ereignissen und ihren Wir‐ ßen belgischen Historiker Henri Pirenne zerbrach kungen, stellt das Werk eine erhebliche For‐ und die Anschaffung ausländischer Quellen und schungsleistung dar, die aber von Historikern sei‐ Literatur schwierig wurde. Seine Arbeiten zur ner Zeit im In- und Ausland kaum gewürdigt wur‐ französischen Geschichte blieben nun fast ohne de. Cartellieri hat mit diesem Werk auch dazu bei‐ Echo. tragen wollen, die Weltgeltung der deutschen Cartellieri wandte sich seit dem Ersten Welt‐ Wissenschaft zu fördern und die geistige Grundla‐ krieg zunehmend seinem zweiten großen Thema ge für den späteren Aufstieg Deutschlands zu ei‐ zu, der Weltgeschichte als Machtgeschichte, wobei ner europäischen Groß- und Weltmacht zu legen. 2 H-Net Reviews Cartellieri war ein ausgesprochen politischer hoffte auf den deutschen Einheitsstaat und dar‐ Mensch, der aber im Unterschied zu anderen His‐ auf, dass ein Mann aus dem Volk – wie Jeanne torikern – wie etwa Friedrich Meinecke und Hans d’Arc Anfang des 15. Jahrhunderts in Frankreich, Delbrück – auch wegen seiner mangelnden jour‐ – Deutschland innerlich einigen und zu neuer nalistischen Begabung kaum publizistisch tätig Größe führen würde. Diesen „Führer“ fand er in war. Er teilte die politischen Grundüberzeugun‐ Hitler (S. 743), den er trotz einer gewissen elitär- gen und Vorurteile vieler konservativ-national ge‐ konservativen Distanz zur NSDAP und zum radi‐ prägter Historiker, war ein Verächter des Partei‐ kalen Antisemitismus – als großen Deutschen ver‐ wesens, des Parlamentarismus und des Liberalis‐ ehrte. Dabei hielt er auch in der NS-Zeit daran mus und verurteilte den Sozialismus und die fest, dass das Kaisertum „die für Deutschland ge‐ deutsche Sozialdemokratie scharf, deren Entwick‐ gebene Lebensform“ wäre und trotz seiner Ver‐ lung zum Revisionismus er in einer scharfsinni‐ achtung für Wilhelm II. ein Hohenzoller Kaiser gen Analyse einer Rede Bebels zur Marokko-Krise werden müsse (S. 758). Hitler folgte er bis zum bit‐ sehr klar registrierte (S. 121). Er war, wie auch teren Ende und erwartete völlig realitätsblind Meinecke, ein Anhänger von Friedrich Naumann noch am 25. März 1945 den Sieg durch deutsche und dessen Versuchen, dem Kaisertum eine breite Wunderwaffen. In den Nachkriegsjahren litt er soziale Basis zu geben und die Arbeiter für eine im russisch besetzten Jena an der deutschen Spal‐ zugleich nationale und soziale Politik zu gewin‐ tung, glaubte aber weiter „an den Wiederaufbau nen. Deutschlands“ (S. 874). Im Ersten Weltkrieg vertrat er ein ausufern‐ Die Tagebücher geben interessante Einblicke des Kriegszielprogramm und wurde zum Vereh‐ in die soziale Stellung des gebildeten, professora‐ rer Ludendorffs und vor allem Hindenburgs. Er len Mittelstands. Vor allem durch die Heirat mit hoffte bis zum Kriegsende auf einen deutschen der Tochter eines erfolgreichen Berliner Anwalts Sieg und lehnte einen Frieden ab, der auf Verstän‐ konnte er den Weg über die Habilitation zu Pri‐ digung und auf einem Gleichgewicht der Kräfte vatdozentur und Professur bestreiten und seine beruhte. Während der Weimarer Republik war er große Fachbibliothek aufbauen, die am Ende des ein radikaler Anhänger der Dolchstoßlegende. Weltkrieges etwa 18.000 Bände umfasste. Diese Der 9. November 1918 war für ihn „ein Tag un‐ machte ihn von den kargen Beständen der Jenaer auslöslicher Schande für Deutschland“, die nur Universitätsbibliothek weitgehend unabhängig „durch Blut abgewaschen werden“ könnte und kam auch seinen vielen Schülern zu Gute. (S. 389). Er räsonierte ständig über den nächsten Wie viele seiner Kollegen registrierte er in der In‐ Krieg, der Deutschland