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Werbeseite MNO DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung Betr.: Chefredaktion

Der SPIEGEL und seine Mannschaft, nun ist es endlich einmal gesagt, sind “satt, faul, arrogant“. Bild hat das letzte Woche enthüllt und wußte noch mehr: “Die Redaktion hockt auf den Trümmern und greint.“ Im “Olymp des deutschen Blätterwalds“, so erweiterte das RTL-Nachtjournal das schreckliche Szenario, “herrscht Götterdämmerung“. Aber es gab auch ernst zu nehmen- de, ernsthaft besorgte Beobachter einer Auseinander- setzung, die zwischen Herausgeber Rudolf Augstein und Chefredakteur Hans Werner Kilz geführt wurde – und die alle Mitarbeiter getroffen hat.

Kilz, so beschlossen die SPIEGEL-Gesellschafter, wird abgelöst. Sein Nachfolger ist Stefan Aust, bisher Chefredakteur von SPIEGEL-TV. Die fünf Geschäftsfüh- rer der Mitarbeiter-KG – der 50 Prozent - Anteile gehören – stimmten der Berufung mehrheitlich zu und traten nach dieser Entscheidung am Freitag vergangener Woche zurück.

Die Grundsatzfrage, die mit im Spiel war, stellte Zeit-Herausgeber Theo Sommer: ob sich die “Flaggschiffe des seriösen Journalismus auf die Dauer gegen die Flotte der Lustbarken und Vergnügungsdamp- fer behaupten“ können – “Frankfurter Allgemeine, Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung, die vie- len hochachtbaren Provinzblätter? Sonntagsblatt, der Rheinische Merkur, auch die Zeit?“ Denn: “Auch Se- riosität ist darauf angewiesen, ihre Kosten einzu- spielen. In jüngster Zeit ist das schwieriger gewor- den. Das Fernsehen knabberte am Werbekuchen; die Re- zession tat ein übriges. Daher rührt die Nervosität allenthalben, das angestrengte Nachdenken über neue Konzepte und Rezepte, die Unruhe in vielen Redaktio- nen – nicht nur im SPIEGEL.“

Die Götterdämmerung fand nicht statt. Besonderen Zu- spruch in schwieriger Zeit spendete – neben aller Kritik – die Vizepräsidentin des Deutschen Bundes- tags, Antje Vollmer, in der taz: Der SPIEGEL müsse intakt bleiben, weil er “Eigentum der ganzen Repu- blik ist“. Ja, so ist es wohl . . .

Die nächste SPIEGEL-Ausgabe wird wegen der Weihnachtsfeiertage in weiten Teilen Deutschlands bereits am Freitag, 23. Dezember, verkauft und den Abonnenten zugestellt. Bitte beachten Sie den Aushang bei Ihrem Zeitschriftenhändler.

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TITEL INHALT SPIEGEL-Umfrage „Was wissen die Deutschen?“ ...... 92 Die Ergebnisse aus 16 Wissensgebieten ...... 98 Die richtigen Antworten zum Fragebogen Bosnien: „Übergang gleitend“ Seiten 18, 22 im vorigen Heft ...... 115 Die Deutschen DEUTSCHLAND wollen sich an Panorama ...... 16 Nato-Einsätzen in Außenpolitik: Vorbereitung auf den Ernstfall ....18 Bosnien beteili- Risiken des Tornado-Einsatzes ...... 20 gen, aber keine Bundespräsident: SPIEGEL-Gespräch mit Kampftruppen Roman Herzog über Bosnien-Einsätze und schicken. Doch Vergangenheitsbewältigung ...... 22 zwischen Kämp- Nachrichtendienste: Der BND auf der Suche fern und Pionie- nach neuen Feinden ...... 25 ren bestehe ein Ein Ex-Oberst der HVA über den alten Feind ....26 „gleitender Über- FDP: Aus für Kinkel bei den nächsten gang“, meint Bun- Landtagswahlen? ...... 28 despräsident Her- CSU: Interview mit Staatsminister REUTER zog im SPIEGEL- Erwin Huber über Schwarz-Grün und Verwundeter bosnischer Soldat Gespräch. Ansprüche der Bayern an die CDU ...... 29 Parteien: PDS streitet um Stiftungsgelder ...... 32 Patrouille zwischen Ruinen Seiten 37, 38 Spekulanten: Die riskanten Dollargeschäfte der Magdeburger PDS ...... 33 Über 50 deutsche Polizisten patrouillieren durch die geteilte Rechtsextremisten: Justizurteile bosnische Stadt Mostar. Unter dem Kommando von EU-Admini- verunsichern die Szene ...... 34 strator Hans Koschnick versuchen sie, zwischen Ruinen und RAF: Bundesanwaltschaft will Mordfall zerschossenen Autowracks für Recht und Ordnung zu sorgen. Schleyer wieder aufrollen ...... 34 Telekom: Gericht schützt Telefonkunden vor überhöhten Rechnungen ...... 36 Bosnien-Hilfe: Interview mit Mostar-Verwalter Hans Koschnick „Erfolgreich und kaputt“ Seite 66 über deutsche Soldaten auf dem Balkan ...... 37 Deutsche Polizisten patrouillieren Sie hungern, überessen durch Mostar ...... 38 und erbrechen sich: Eß- Forum ...... 46 störungen wie Fett- und CDU: Schlammschlacht in ...... 50 Magersucht oder Buli- Umwelt: Holzschutzmittel verseuchen mie kommen, wie Medi- Kirchen und Pfarrhäuser ...... 51 ziner und Psychologen Wie eine Familie vergiftet wurde ...... 53 registrieren, gerade bei Arzneimittel: Pharmafirmen sollen jüngeren Männern im- Krankenkassen betrogen haben ...... 55 mer häufiger vor. Vor al- Verkehr: Kommt die City-Maut lem Aufsteiger führen für Autofahrer? ...... 58 Krieg gegen ihren Kör- Drogenhandel: Opium gegen Waffenelektronik ..62 per – „erfolgreich und

kaputt“, wie ein Betrof- H. KOELBL GESELLSCHAFT fener sagt. Eßgestörte bei Therapie Spectrum ...... 64 Psychologie: Männer zwischen Hungerkuren und Freßattacken ...... 66 Das Erbe der Treuhand Seite 78 Kirche: Pfarrer schreibt antiklerikalen Bestseller ...... 71 Sie war die mächtig- Software: Datennetz mit Tannengrün ...... 73 ste und umstrittenste Strafjustiz: Gisela Friedrichsen zum Tod Behörde des Landes, eines Häftlings in München-Stadelheim ...... 75 zum Jahresende löst sich die Berliner Treu- WIRTSCHAFT handanstalt auf. Sie hat die Volkseigenen Treuhand: Die mächtigste Behörde Betriebe der ehemali- des Landes löst sich auf ...... 78 gen DDR abgewik- Fernsehen: Wettlauf im All ...... 82 kelt, eine Industrie- Unternehmen: Ein US-Fonds kauft brache hinterlassen die Deutsche Waggonbau ...... 84 und gewaltige Schul- Manager: Kahlschlag beim Kaufhof ...... 85 den dazu. Doch hätte

Trends ...... 86 H. WESSEL sie tatsächlich mehr Computer: Streit um den Fehler Automobilwerke Eisenach (1990) erreichen können? im Intel-Chip ...... 87 Luftfahrt: Ärger mit Lufthansa-Express ...... 90

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AUSLAND Panorama Ausland ...... 116 Kaukasus: Moskaus Strafexpedition Jelzins Kaukasus-Abenteuer Seiten 118, 120 gegen Grosny ...... 118 Christian Neef über den Widerstand Rußlands Präsident der Tschetschenen ...... 120 befahl den Krieg ge- Frankreich: Chaotischer Kampf um den Elyse´e 122 gen das kleine Volk Europäische Union: Jean-Pierre Cheve`nement der Tschetschenen. über Irritationen im deutsch-französischen Doch hohe Militärs Verhältnis ...... 124 widersetzen sich dem Äthiopien: Kaisermord vor Gericht ...... 127 Abenteuer, das alte Kalifornien: Milliardenpleite Imperium zu restau- im Wohlstandsland ...... 128 rieren. In der belager- Kriminalität: Erstes elektronisches ten Tschetschenen- Fahndungsplakat ...... 129 Hauptstadt Grosny Australien: Dürre zwingt Farmer in die Knie ... 132 eint Widerstand ge- Großbritannien: Kein Pardon für die

P. KASSIN gen die Invasoren die „Moormörderin“ ...... 136 Russische Panzer vor Grosny Bevölkerung. KULTUR Kunst: Brutale Sittenbilder von George Grosz Spießerparade von Grosz in Berlin Seite 138 in der Berliner Neuen Nationalgalerie ...... 138 Theater: Der erfolgreiche Nachwuchs- Ein Volk „mit schlechten Säf- regisseur Matthias Hartmann ...... 143 ten und zu dicken Hüften“ – so Bücherspiegel ...... 150 sah George Grosz seine deut- Kino: SPIEGEL-Gespräch mit Arnold schen Landsleute, und so Schwarzenegger über Schwangerschaft, zeichnete und malte er sie. 35 seine Karriere und seinen neuen Film ...... 154 Jahre nach seinem Tod zeigt Szene ...... 161 die Nationalgalerie in Berlin Comics: Die Kultfigur „Tank Girl“ ...... 162 das Grosz-Pandämonium üppig Literatur: Heimliche Herrscher im wie nie zuvor: eine grelle Para- Büchergeschäft: Literaturagenten ...... 164 de der Spießer, Kommißköpfe, Bestseller ...... 166 Säufer und Lustmörder. Der Schauspieler: Die neue TV-Hoffnung Grosz der späteren Jahre ent- Nicolette Krebitz ...... 168 hüllt sich aber auch als gemüt- Architektur: Bauwettbewerb um das

voller Landschafter und platter VG BILD-KUNST Berliner Kanzleramt ...... 172 Pornograph. Grosz-Collage „Daum heiratet“ (1920) Fernseh-Vorausschau ...... 198

TECHNIK Prisma ...... 175 Schwarzenegger supersanft Seite 154 Strahlenbelastung: Radioaktive Erblast von der DDR-Grenze ...... 176 Muskelprotz Arnold Schwarzenegger ist in der Filmkomödie „Junior“ ein supersanfter, schwangerer Wissenschaftler. Der WISSENSCHAFT Kino-Macho im Gespräch: „Ich bin kein gewalttätiger Typ.“ Medizin: Heilsame Blutzellen aus der Nabelschnur ...... 180 Kernphysik: Auf der Suche nach den „Inseln der Stabilität“ ...... 181 Gammastrahlen von der Stasi Seite 176 Archäologie: Gelehrtenstreit um Rungholt-Funde ...... 182 Heimlich wurden Umwelt: Allergien durch Babyschnuller ...... 184 rund 15 Jahre lang Botanik: Nadelbäume aus der Dino-Zeit ...... 185 DDR-Besucher bei jedem Grenzüber- SPORT gang mit Gamma- strahlen durch- Justiz: Formel-1-Star Gerhard Berger leuchtet. 200 Stasi- kämpft für die Freilassung seines Vaters ...... 188 Fußball: Interview mit Profi Spezialisten über- Thomas Berthold über die neue Stimmung wachten die radio- in der Nationalelf ...... 190 aktiven Kontrollen. Affären: Wie Fußball-Millionär Maurizio Müssen einstige Gaudino die Versicherungen betrog ...... 192 DDR-Grenzgänger langfristig mit Ge- Briefe ...... 7

P. GLASER sundheitsschäden Impressum ...... 14 Grenzübergang „Checkpoint Charlie“ rechnen? Personalien ...... 194 Register ...... 196 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 202

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BRIEFE Zum feinen Pinkel erklärt. In welchem goldenen Käfig lebt der Mann eigentlich? (Nr. 48/1994, Essay: Klaus von Dohna- nyi: Der Mythos der SPD) Nersingen (Bayern) ROLAND EICHMANN Dohnanyi haut mit dem Holzhammer Dohnanyi will die Anrede „Genosse“ auf den Kopf der SPD (der ja künftig abschaffen. Damit sollen Leute von der denken soll) und sticht mit spitzem PDS zurückgewonnen werden? Er Messer in den Bauchspeck seiner eige- schreibt „links“ in Anführung! Was will nen Genossen. Dann also auf mit Doh- er in der SPD, wenn er nicht weiß, wo nanyi in den modernen, globalisierten links und rechts ist? Super-(Früh-)Kapitalismus. Der Ge- Bangkok THOMAS KLOUTH nosse mutiert zum feinen Pinkel und das Kürzel SPD zu PSD (Partei der so- zialen Demontage). Überschöne Jünglinge Berlin DR. HANSGÜNTER WALTHER (Nr. 49/1994, Titel: Vampire: Hollywoods Mit jener Perspektive wäre die SPD neue Lust am Grauen) anno 1998 wieder wählbar. Und das nicht nur für Lehrer und ÖTV-Klien- Warum so erstaunt über die neue Vam- tel. Der geschilderte Weg zur Sonne, pirwelle? Bedenkt man, daß der fließen- zur Freiheit erscheint plausibel und de Wechsel zwischen den Geschlechtern notwendig. die Zukunft unserer Sexualität zu sein St. Wendel (Saarl.) KLAUSPETER TONN scheint, so steht doch besonders der an- C. KELLER / GRÖNINGER Sozialdemokraten Scharping, Dohnanyi: Was ist links, was ist rechts?

Als langjähriges SPD-Mitglied mit ei- drogyne Vampir für diese Sehnsucht. ner genauen Kenntnis der „Binnen- Gerade der Biß, der Hunger und sexuel- struktur“ dieser Partei unterstreiche les Verlangen in sich vereinigt, verteilt ich nicht nur jeden Satz, sondern jedes die geschlechtlichen Rollen jedesmal Wort. neu, ohne auf das körperliche Ge- Bad Hönningen (Rheinl.-Pf.) N. BESGEN schlecht Rücksicht zu nehmen. Hamburg N. SEEHASE Dohnanyis in der theoretischen Sub- stanz erbärmlich naiver Wirtschaftsli- Es gibt doch wahrlich andere Titelthe- beralismus fällt nur auf, weil er mit der men als diesen Quatsch. Attitüde des besorgten Sozialdemokra- Berlin HERBERT REGELIN ten geäußert wird. München MICHAEL WENDL Darf ich fragen, warum Sie Anne Rice, eine Frau, die 15 Bücher veröffentlicht Unerträglich, wie hier ein „Sozialde- hat, seit ihrer Kindheit schreibt und sich mokrat“ über die millionenfache Ar- selbst sowie ihre Familie mit dieser Tä- mut und die Zerstörung unserer Welt tigkeit ernährt, als „schriftstellernde einfach hinweggeht und statt dessen Hausfrau“ und „dichtende Hausfrau“ die Steigerung der Unternehmensge- bezeichnen? winne zum gesellschaftlichen Hauptziel München TANJA KINKEL .

BRIEFE F. HOLLANDER / DIAGONAL Mutter mit Kindern am Computer: Schnellschüsse von Hobby-Programmierern

Wo Coppolas „Dracula“ wenigstens vi- lich, warum sich die Entwicklung der suellen Stil und Subtilität bewies, Po- Software für Fremdsprachenunterricht in lanskis „Tanz der Vampire“ wirkliche den letzten Jahren mehr oder weniger Ironie, spielt Jordan mit erzwungenem darauf beschränkt hat, Drill nett zu illu- Ekel und unadäquater Brutalität und strieren, statt zum Beispiel landeskundli- läßt seine unglaubwürdig wirkenden, che Informationen in simulierten Städten überschönen Jünglinge durch einen zu vermitteln. flach konstruierten Film lungern, der Norwich (Großbritannien) PETRA LOOTZ seine Kasse nicht durch Qualität, son- dern durch Titelstorys macht. Düsseldorf BIRTE GRABE Spitze Polemik (Nr. 49/1994, Kommentar von Rudolf Im wahren Leben Augstein: Herzogs Harris) (Nr. 49/1994, Software: Nachhilfe am Aus dem neuen Praeceptor Germaniae Computer – Welche Lernprogramme für namens Rudolf Augstein spricht manch- Kinder taugen) mal ein Schulmeister. Sein Vermerk, der Bundespräsident wisse bereits nach vier In der einschlägigen „scientific communi- Monaten Amtszeit, daß er nicht noch ein- ty“ gibt es längst die nachdrückliche For- mal kandidieren werde, klingt wie ein Ta- derung, konsequent didaktisch und lern- del im Herbstzeugnis. Andererseits psychologisch fundierte Maßstäbe anzu- warnt er den Präsidenten schon jetzt da- legen. Doch viele Lernprogramme sind vor, eine Rede zum Gedenken an die oft nur Schnellschüsse von Hobby-Pro- „Verfeuerung Dresdens“ vor 50 Jahren grammierern; die Fachleute bleiben au- zu halten, die erst in zwei Monaten fällig ßen vor. Offenbar muß erneut daran erin- wäre. Offenbar traut er dem Schüler Ro- nert werden, daß es in erster Linie um un- man Herzog rein gar nichts zu. sere Kinder geht. Diepholz (Nieders.) HORST KUTTIG Düsseldorf DR. GÜNTER KRAUTHAUSEN Die spitze Polemik gegen Roman Herzog Das Schlagwort „Kommunikation“ er- ist im betreffenden Fall völlig unver- hält unter Umständen eine gegenteilige ständlich. Bei allem Verständnis für an- Bedeutung, wenn die Kids nur mehr ih- glophile Grundeinstellungen kann es we- rem „Privatlehrer“ Fragen per Mausklick der aus sachlichen noch aus rechtlichen stellen und mit der Zeit die Fähigkeit ver- und schon gar nicht aus ethischen Grün- lieren, im wahren Leben miteinander zu den eine überzeugende Rechtfertigung reden oder Konflikte auszutragen. der mit eiskaltem Kalkül systematisch ge- Hirschberg (Bad.-Württ.) DIRK SCHMIDT gen die Zivilbevölkerung gerichteten Bomberstrategie der britischen Führung Warum können nicht Informatiker und geben. Die ungehemmte Bombardierung Didaktiker zusammen sinnvolle und an- der deutschen Städte gehört in die Reihe sprechende Programme entwerfen, die der großen Verbrechen unseres Jahrhun- nicht einfach Lehrbuchseiten auf den derts. Bildschirm zaubern? Mir ist unverständ- Hamburg OTTO SCHMIDT

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BRIEFE Klub der Arschlöcher 1990 kaufte ich auf der „Hanseboot“ in Hamburg (Nr. 45/1994, Hellmuth Karasek über eine holländische Motor- Marlon Brandos Biographie „Mein Le- yacht mit der Bedingung, ben“) für den Innenausbau keine Karasek irrt, wenn er Marlon Brandos Tropenhölzer (Standardan- Beschimpfung seines Vaters als „card- gebot: Mahagoni-Ausbau) carrying prick“ mit Sexualprotz über- zu verwenden. Es funktio- setzt. Prick ist zwar ein derber Ausdruck nierte: Zum Yachtinnen- für Penis, jedoch im Amerikanischen ausbau nahm man Eschen- vor allem ein Schimpfwort, das im Deut- holz hell. Allerdings mußte schen nur unzulänglich mit „Arschloch“ ich für mein umweltbewuß- verglichen werden kann. Ein „card-car- tes Handeln einen Aufpreis rying prick“ ist demnach sehr frei über- von 3500 Mark bezahlen. setzt ein „eingeschriebenes Mitglied im Erfreulicherweise stellt der Klub der Arschlöcher“ und hat mit Se- holländische Werftbesitzer xualprotz nichts zu tun. Vielleicht be- jetzt seine Schiffe mit In- wahrt das Karasek bei seiner nächsten nenausbau Esche bei den Amerikareise vor etwaigen Mißver- Messen aus. Bei allen ständnissen. Bootsausstellungen habe

Basel GEORG KREISLER ich übrigens von Green- DPA Amerikanisch-österreichischer Kabarettist peace diesbezügliche spek- Trauerfeier für Mauerschützen-Opfer (1989) takuläre Aktionen vermißt. Leugnen bis zum letzten Atemzug Berlin WALTER LOOSE Schutz in 6000 Jahren weder er wurde Republikflüchtling, wie ich zum Beispiel 1956, oder er mußte sich (Nr. 49/1994, Umwelt: Interessen-Poker anpassen. Es ist eine Unverschämtheit, bei der Artenschutzkonferenz in Fort Lau- Bis zum letzten Atemzug wenn Giordano die Mauerschützen mit derdale) (Nr. 49/1994, SPIEGEL-Essay von Ralph den KZ-Tötungsarbeitern vergleicht und Giordano: Der Preis der Versöhnung) Na prima. 900 Delegierte aus 119 Staa- nicht etwa mit schießenden Wehrmachts- ten treffen sich und bringen es nicht Die Worte Ralph Giordanos sind die be- angehörigen. fertig, eine einzige bedrohte Mahagoni- sten und wichtigsten, die zu diesem Teil- Ottobrunn DR. O. JÄNTSCH Baumart in den Anhang II des Arten- aspekt der deutschen Einheit je gesagt schutzübereinkommens aufzunehmen. wurden. Jedes Wort desEssays spricht den Opfern der ehemaligen DDR aus der Seele!Dem Bei über 3000 existierenden Baumspe- Hamburg HARTWIG BUNZEL zies wird bei diesem Tempo alle zwei ist fast nichts hinzuzufügen. Vielleicht Jahre vielleicht eine Baumart geschützt; Beim Vergleich von SED-Staat und NS- nur unsere Befürchtung, daß es eine Ver- alle Arten also in etwa 6000 Jahren. Da Staat gibt es schon erhebliche Unter- söhnung nie geben wird, weil die Täter ih- bleibt nur Selbsthilfe: Durch den Boy- schiede: Der NS-Staat wurde 1933 von re Schuld bis zum letzten Atemzug ver- kott zahlreicher Verbraucher und den den Deutschen selbst gewählt, der SED- leugnen werden. kommunalen Verzicht ist der Import Staat dagegen von einer Besatzungs- Bad Homburg UTE GÖRGE macht. Der NS-Staat hat bei seinem Un- von Tropenholz in den letzten Jahren Die Lösungskonzepte nach früheren Ge- immerhin um ein Drittel zurückgegan- tergang viele, viele Millionen Tote gefor- dert, der SED-Staat 1989 keinen einzi- waltregimen haben sich als ungerecht und gen. untauglich erwiesen. Der Täter-Opfer- Hamburg REINHARD BEHREND gen. Wer zufällig in der DDR lebte, hatte Rettet den Regenwald im wesentlichen zwei Möglichkeiten, ent- Ausgleich der Deutschen Bewährungs- hilfe e.V. und der Opferhilfe e.V. istviel- leicht ein Weg der Kuration. Dort versu- chen Mediatoren in Gegenüberstellung von Täter und Opfer auch den menschli- chen Schaden aufzuarbeiten. Berlin ORTRUD HAGEDORN

Nagel auf den Kopf (Nr. 49/1994, Kommentar von Olaf Ih- lau: Nato, Bonn und Bihac´) Die seit Jahren kursierenden Klischees über die großserbischen Aggressoren und die Untätigkeit der übrigen Welt werden auch von diesem Balkanexperten strapaziert. Neu ist nur die Bihac´-Aktua- lisierung. Es versteht sich wohl aus der Sicht der jetzt bedrohten Uno-Schutzzo- ne. Die Hinweise auf die Auswirkung der „Stinger“-Raketen im Afghanistan- Krieg, das Moralisieren über die Moral

W. STECHE / VISUM der Weltgemeinschaft, welche den bosni- Holzverladung in Ghana: Esche statt Mahagoni schen Moslems das Waffenembargo noch

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nicht (offiziell) aufhebt – auch wenn da- durch „zunächst die Leichenberge wohl noch wachsen“ würden –, ist ein weiteres Beispiel des aus der Latenz entlassenen zynischen Sadismus. Tübingen DR. Zˇ IVOJIN DACIC´ Ihlau trifft mit seiner Lagebeschreibung den Nagel auf den Kopf. Was fehlt, ist ei- ne Forderung nach Rücktritt oder Entlas- sung von Klaus Kinkel und die Aufforde- rung an den Kanzler, die Tornados umge- hend fliegen zu lassen. Hamburg DR. WILHELM HERDERING In der Tat heucheln westliche Politiker, wenn sie den Menschen vorgaukeln, die Nato könne die Neuaufteilung Jugosla- wiens verhindern. Berlin RAMIN RAD Unglaublich die Vorstellung, deutsche Militärjets könnten erneut die Dörfer der Opfer vonvor50Jahren zerbomben.Und jetzt noch dies: Afghanistan als positives Beispiel für die Wirkung von Waffenlie- ferungen, ein Land, in dem heute tiefster Friede herrscht. Hamburg THOMAS RAABE

Vermisse Qualität (Nr. 49/1994, Schriftsteller: SPIEGEL-Ge- spräch mit Peter Handke über das Aben- teuer des Schreibens) Im Gespräch mit Peter Handke behaup- ten Sie, daß ich bei Handke Balzac ver- misse. Hierzu Hand- ke: „Ich glaube nicht, daß er irgend etwas vermißt.“ Beide Äu- ßerungen sind falsch. Ich habe Balzac we- der bei Handke noch bei irgendeinem anderen zeitgenössi-

TEUTOPRESS schen Autor vermißt. Reich-Ranicki Wohl aber vermisse ich etwas in Peter Handkes neuem Buch, und zwar Intelli- genz und Temperament, Humor und Ironie, kurz: Qualität. Frankfurt a. M. MARCEL REICH-RANICKI

Schwache Seiten (Nr. 47/1994, Biographien: Säufer, Se- xualprotz, Chauvinist: der Heidedichter Hermann Löns) Auch Johann Wolfgang von Goethe war „kein Freund von Traurigkeit“, und Er- nest Hemingway war wegen seiner Al- kohol- und sonstiger Exzesse berühmt- berüchtigt. Deshalb käme aber kein Mensch auf die Idee, beide in den „lite- rarischen Papierkorb“ zu werfen. Große Geister haben oft schwache Seiten. Und im übrigen wird die Stadt Bayreuth sich

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BRIEFE MNO nicht von Richard Wagner lossagen, 20457 Hamburg, Brandstwiete 19, Telefon (040) 3007-0, Telefax (040) 3007 2247, Telex 2 162 477 weil dieser für die Nazis der Inbegriff CompuServe: 74431,736 . Internet: http://spiegel.nda.net/nda/spiegel „heldisch-germanischer Kunst“ war. HERAUSGEBER: Rudolf Augstein (005521) 275 1204, Telefax 542 6583 . Rom: Valeska von Auch Wagner konnte sich nicht gegen Roques, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (00396) 679 7522, Tele- CHEFREDAKTEUR: Stefan Aust fax 679 7768 . Stockholm: Hermann Orth, Scheelegatan 4, die Einvernahme durch die Nazis weh- . STELLV. CHEFREDAKTEURE: Joachim Preuß, Dr. Dieter Wild 11 223 Stockholm, Tel. (00468) 650 82 41, Telefax 652 99 97 ren. Warschau: Andreas Lorenz, Ul. Polna 44/24, 00-635 Warschau, REDAKTION: Karen Andresen, Ariane Barth, Dieter Bednarz, Wil- Tel. (004822) 25 49 96, Telefax 25 49 96 . Washington: Karl- Walsrode (Nieders.) helm Bittorf, Peter Bölke, Dr. Hermann Bott, Klaus Brinkbäumer, Heinz Büschemann, Siegesmund von Ilsemann, 1202 National DR. ERNST-WILHELM BUSSMANN Werner Dähnhardt, Dr. Thomas Darnstädt, Hans-Dieter Degler, Press Building, Washington, D. C. 20 045, Tel. (001202) Verband der Hermann-Löns-Kreise Dr. Martin Doerry, Adel S. Elias, Nikolaus von Festenberg, Uly 347 5222, Telefax 347 3194 . Wien: Dr. Martin Pollack, Schön- Foerster, Klaus Franke, Gisela Friedrichsen, Angela Gatterburg, brunner Straße 26/2, 1050 Wien, Tel. (00431) 587 4141, Telefax Henry Glass, Rudolf Glismann, Johann Grolle, Doja Hacker, Dr. 587 4242 Ja, da hat Hermann Löns nun mal Pech Volker Hage, Dr. Hans Halter, Werner Harenberg, Dietmar Hawra- ILLUSTRATION: Werner Bartels, Renata Biendarra, Martina Blu- nek, Manfred W. Hentschel, Ernst Hess, Hans Hielscher, Wolf- me, Barbara Bocian, Ludger Bollen, Katrin Bollmann, Thomas gehabt. Hätte dieser „exzessive Trun- gang Höbel, Heinz Höfl, Clemens Höges, Joachim Hoelzgen, Dr. Bonnie, Regine Braun, Martin Brinker, Manuela Cramer, Josef Jürgen Hohmeyer, Hans Hoyng, Thomas Hüetlin, Rainer Hupe, Ul- Csallos, Volker Fensky, Ralf Geilhufe, Rüdiger Heinrich, Tiina Hur- kenbold, hämische Frauenfeind und zü- rich Jaeger, Hans-Jürgen Jakobs, Urs Jenny, Dr. Hellmuth Kara- me, Claudia Jeczawitz, Antje Klein, Ursula Morschhäuser, Corne- gellose Chauvinist“ mit einer vergleich- sek, Sabine Kartte-Pfähler, Klaus-Peter Kerbusk, Ralf Klassen, lia Pfauter, Monika Rick, Chris Riewerts, Julia Saur, Detlev Petra Kleinau, Sebastian Knauer, Dr. Walter Knips, Susanne Scheerbarth, Manfred Schniedenharn, Frank Schumann, Rainer baren Vita als versoffener Literat in Koelbl, Christiane Kohl, Dr. Joachim Kronsbein, Bernd Kühnl, Sennewald, Dietmar Suchalla, Karin Weinberg, Matthias Welker, Dublin, als ausgeflipptes Mitglied der Wulf Küster, Dr. Romain Leick, Heinz P. Lohfeldt, Udo Ludwig, Monika Zucht Klaus Madzia, Armin Mahler, Dr. Hans-Peter Martin, Georg Mas- SCHLUSSREDAKTION: Rudolf Austenfeld, Horst Beckmann, Sa- viktorianischen Gesellschaft in London, colo, Gerhard Mauz, Gerd Meißner, Fritjof Meyer, Dr. Werner Mey- bine Bodenhagen, Dieter Gellrich, Hermann Harms, Bianca Hune- als spinnerter Philosoph in Paris oder als er-Larsen, Michael Mönninger, Joachim Mohr, Mathias Müller kuhl, Rolf Jochum, Karl-Heinz Körner, Inga Lembcke, Christa von Blumencron, Bettina Musall, Hans-Georg Nachtweh, Dr. Jür- Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Andreas M. Peets, Gero vergammelter Romancier in Manhattan gen Neffe, Dr. Renate Nimtz-Köster, Hans-Joachim Noack, Gunar Richter-Rethwisch, Thomas Schäfer, Ingrid Seelig, Hans-Eckhard gelebt: Er wäre von einem unserer deut- Ortlepp, Claudia Pai, Rainer Paul, Christoph Pauly, Jürgen Peter- Segner, Tapio Sirkka, Hans-Jürgen Vogt, Kirsten Wiedner, Holger mann, Dietmar Pieper, Norbert F. Pötzl, Dr. Rolf Rietzler, Dr. Fritz Wolters Rumler, Dr. Johannes Saltzwedel, Karl-H. Schaper, Marie-Luise Scherer, Heiner Schimmöller, Roland Schleicher, Michael VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Pan- Schmidt-Klingenberg, Cordt Schnibben, Hans Joachim Schöps, orama, Außenpolitik (S. 18), Bundespräsident, Nachrichtendien- Dr. Mathias Schreiber, Bruno Schrep, Helmut Schümann, Matthi- ste, FDP, CSU, Parteien: Dr. Gerhard Spörl; für Spekulanten, as Schulz, Hajo Schumacher, Birgit Schwarz, Ulrich Schwarz, Dr. Rechtsextremisten, RAF, Telekom, Forum, CDU, Umwelt (S. 51), Stefan Simons, Mareike Spiess-Hohnholz, Dr. Gerhard Spörl, Arzneimittel, Verkehr, Drogenhandel: Clemens Höges; für Außen- Olaf Stampf, Hans-Ulrich Stoldt, Peter Stolle, Barbara Supp, Die- politik (S. 20), Bosnien-Hilfe, Panorama Ausland, Kaukasus, ter G. Uentzelmann, Klaus Umbach, Hans-Jörg Vehlewald, Dr. Frankreich, Europäische Union, Äthiopien, Kalifornien, Austra- Manfred Weber, Susanne Weingarten, Alfred Weinzierl, Marianne lien, Großbritannien: Hans Hoyng; für Spectrum, Psychologie, Kir- Wellershoff, Peter Wensierski, Carlos Widmann, Erich Wiede- che, Comics, Fernseh-Vorausschau: Hans-Dieter Degler; für Soft- mann, Christian Wüst, Peter Zobel, Dr. Peter Zolling, Helene Zu- ware, Fernsehen, Kriminalität, Kiosk: Uly Foerster; für Treuhand, ber Unternehmen, Manager, Trends, Computer, Luftfahrt: Armin Mah- ler; für Titelgeschichte: Werner Harenberg; für Kunst, Bücherspie- REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND: Berlin: Wolf- gel, Kino, Szene, Literatur, Bestseller, Architektur: Dr. Mathias gang Bayer, Petra Bornhöft, Jan Fleischhauer, Dieter Kampe, Uwe Schreiber; für Prisma, Strahlenbelastung, Medizin, Kernphysik, Klußmann, Jürgen Leinemann, Claus Christian Malzahn, Walter Archäologie, Umwelt (S. 184), Botanik: Klaus Franke; für Justiz, Mayr, Harald Schumann, Gabor Steingart, Kurfürstenstraße Fußball, Affären: Heiner Schimmöller; für namentlich gezeichnete 72 – 74, 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91-0, Telefax Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Personalien, Register, Hohl- 25 40 91 10 . Bonn: Winfried Didzoleit, Manfred Ertel, Dr. Olaf spiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Thomas Ihlau, Dirk Koch, Ursula Kosser, Dr. Paul Lersch, Hans Leyen- Bonnie; für Gestaltung: Dietmar Suchalla; für Hausmitteilung: decker, Elisabeth Niejahr, Hartmut Palmer, Olaf Petersen, Rainer Hans Joachim Schöps; Chef vom Dienst: Norbert F. Pötzl (sämtlich Pörtner, Hans-Jürgen Schlamp, Alexander Szandar, Klaus Wirt- Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) gen, Dahlmannstraße 20, 53113 Bonn, Tel. (0228) 26 70 3-0, DOKUMENTATION: Jörg-Hinrich Ahrens, Sigrid Behrend, Ulrich Telefax 21 51 10 . Dresden: Sebastian Borger, Christian Hab- Booms, Dr. Helmut Bott, Dr. Jürgen Bruhn, Lisa Busch, Heinz Egle- be, Detlef Pypke, Königsbrücker Str. 17, 01099 Dresden, Tel. der, Dr. Herbert Enger, Johannes Erasmus, Dr. Karen Eriksen, Ille (0351) 567 0271, Telefax 567 0275 . Düsseldorf: Ulrich Bie- von Gerstenbergk-Helldorff, Dr. Dieter Gessner, Hartmut Heidler, ger, Georg Bönisch, Richard Rickelmann, Rudolf Wallraf, Oststra- Wolfgang Henkel, Gesa Höppner, Jürgen Holm, Christa von Holtz-

ße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. (0211) 93 601-01, Telefax apfel, Joachim Immisch, Hauke Janssen, Günter Johannes, Ange- SCHERL BILDARCHIV 35 83 44 . Erfurt: Felix Kurz, Dalbergsweg 6, 99084 Erfurt, Tel. la Köllisch, Sonny Krauspe, Hannes Lamp, Marie-Odile Jonot- Heimatdichter Löns (0361) 642 2696, Telefax 566 7459 . Frankfurt a. M.: Peter Langheim, Walter Lehmann, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig, Adam, Wolfgang Bittner, Annette Großbongardt, Ulrich Manz, Sigrid Lüttich, Roderich Maurer, Rainer Mehl, Ulrich Meier, Ger- Spinnerter Philosoph Oberlindau 80, 60323 Frankfurt a. M., Tel. (069) 71 71 81, Tele- hard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Christel Nath, Annelie- fax 72 17 02 . Hannover: Ansbert Kneip, Rathenaustraße 16, se Neumann, Werner Nielsen, Paul Ostrop, Nora Peters, Anna Pe- 30159 Hannover, Tel. (0511) 32 69 39, Telefax 32 85 92 . tersen, Peter Philipp, Axel Pult, Ulrich Rambow, Dr. Mechthild Rip- schen Jung-Literaturwissenschaftler si- Karlsruhe: Dr. Rolf Lamprecht, Amalienstraße 25, 76133 Karls- ke, Constanze Sanders, Petra Santos, Christof Schepers, Rolf G. ruhe, Tel. (0721) 225 14, Telefax 276 12 . Mainz: Birgit Loff, Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Marianne Schüssler, Andrea cherlich zum Genie hochgejubelt wor- Wilfried Voigt, Weißliliengasse 10, 55116 Mainz, Tel. (06131) Schumann, Claudia Siewert, Margret Spohn, Rainer Staudham- den. 23 24 40, Telefax 23 47 68 . München: Dinah Deckstein, An- mer, Anja Stehmann, Stefan Storz, Monika Tänzer, Dr. Wilhelm nette Ramelsberger, Dr. Joachim Reimann, Stuntzstraße 16, Tappe, Dr. Eckart Teichert, Jutta Temme, Dr. Iris Timpke-Hamel, Helmbrechts-Unterweißenbach (Bayern) 81677 München, Tel. (089) 41 80 04-0, Telefax 4180 0425 . Carsten Voigt, Horst Wachholz, Ursula Wamser, Dieter Wessen- HERMANN WIRTH Schwerin: Bert Gamerschlag, Spieltordamm 9, 19055 Schwe- dorff, Andrea Wilkens, Karl-Henning Windelbandt . rin, Tel. (0385) 557 44 42, Telefax 56 99 19 Stuttgart: Dr. BÜRO DES HERAUSGEBERS: Irma Nelles Hans-Ulrich Grimm, Sylvia Schreiber, Kriegsbergstraße 11, NACHRICHTENDIENSTE: ADN, AP, dpa, Los Angeles Times/Wa- Mein Vater Rudolf Lennert schrieb in 70174 Stuttgart, Tel. (0711) 22 15 31, Telefax 29 77 65 shington Post, Newsweek, New York Times, Reuters, sid, Time seinen 1986 erschienenen Erinnerungen REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND: Basel: Jürg Bürgi, Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 283 0474, Telefax SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG an das Dritte Reich: „Hin und wieder 283 0475 . Belgrad: Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, Abonnenten-Service: Tel. 0130-863006, Telefax (040) hörte man von Menschen, die lange als 11000 Belgrad, Tel. (0038111) 66 99 87, Telefax 66 01 60 . 30072898 Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg Brüssel: Heiko Martens, Marion Schreiber, Bd. Charlemagne ,Begriff von Deutschheit‘ gefeiert wor- . Abonnementspreise: Normalpost Inland: sechs Monate DM 45, 1040 Brüssel, Tel. (00322) 230 61 08, Telefax 231 1436 130,00, zwölf Monate DM 260,00, für Studenten (nur Inland) DM den waren, nun aber ins Dunkel der Jerusalem: Jürgen Hogrefe, 29, Hatikva Street, Yemin Moshe, . 182,00. Normalpost Europa: sechs Monate DM 184,60, zwölf Jerusalem 94103, Tel. (009722) 24 57 55, Telefax 24 05 70 Monate DM 369,20; Seepost Übersee: sechs Monate DM Ruhmlosigkeit versenkt wurden, weil Johannesburg: Almut Hielscher, Royal St. Mary’s, 4th Floor, 85 189,80, zwölf Monate DM 379,60; Luftpostpreise auf Anfrage. bekannt wurde, daß sie ,Mischlinge‘ Eloff Street, Johannesburg 2000, Tel. (002711) 333 1864, Tele- Verlagsgeschäftsstellen: Berlin: Kurfürstenstraße 72 – 74, fax 336 4057 . Kairo: Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, waren. Einen will ich mit Namen nen- . 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91 25/26, Telefax 25 40 9130; Muhandisin, Kairo, Tel. (00202) 360 4944, Telefax 360 7655 Düsseldorf: Oststraße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. (0211) Kiew: Martina Helmerich, ul. Kostjolnaja 8, kw. 24, 252001 nen: Hermann Löns. Er war 1914 in . 936 01 02, Telefax 36 42 95; Frankfurt a. M.: Oberlindau 80, Kiew, Tel. (007044) 228 63 87 London: Bernd Dörler, 6 Hen- 60323 Frankfurt a. M., Tel. (069) 72 03 91, Telefax 72 43 32; Frankreich gefallen. Als sein Grab in rietta Street, London WC2E 8PS, Tel. (004471) 379 8550, Tele- . Hamburg: Brandstwiete 19, 20457 Hamburg, Tel. (040) deutsche Hände kam, wurde beschlos- fax 379 8599 Moskau: Jörg R. Mettke, Dr. Christian Neef, Kru- 3007 2545, Telefax 3007 2797; München: Stuntzstraße 16, tizkij Wal 3, Korp. 2, kw. 36, 109 044 Moskau, Tel. (007502) . 81677 München, Tel. (089) 41 80 04-0, Telefax 4180 0425; sen, ihn in einem feierlichen Staatsakt 220 4624, Telefax 220 4818 Neu-Delhi: Dr. Tiziano Terzani, Stuttgart: Kriegsbergstraße 11, 70174 Stuttgart, Tel. (0711) 6-A Sujan Singh Park, New Delhi 110003, Tel. (009111) 226 30 35, Telefax 29 77 65 in die Lüneburger Heide zu überführen 469 7273, Telefax 460 2775 . New York: Matthias Matussek, 516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N. Y. 10036, Tel. Verantwortlich für Anzeigen: Horst Görner und dort beizusetzen. Als der Plan (001212) 221 7583, Telefax 302 6258 . Paris: Lutz Krusche, Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 48 vom 1. Januar 1994 plötzlich abgesagt wurde, weil sein Helmut Sorge, 17 Avenue Matignon, 75008 Paris, Tel. (00331) Postgiro-Konto Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 . 4256 1211, Telefax 4256 1972 Peking: Jürgen Kremb, Qi- Druck: Gruner Druck, Itzehoe; maul belser, Nürnberg ,jüdischer Einschlag‘ bekannt geworden jiayuan 7. 2. 31, Peking, Tel. (00861) 532 3541, Telefax war, hat die Wehrmacht ihn still über- 532 5453 . Prag: Jilska´ 8, 11 000 Prag, Tel. (00422) 24 22 VERLAGSLEITUNG: Fried von Bismarck 0138, Telefax 24 22 0138 . Rio de Janeiro: Jens Glüsing, Ave- MÄRKTE UND ERLÖSE: Werner E. Klatten nommen.“ nida Sa˜o Sebastia˜o, 157 Urca, 22291 Rio de Janeiro (RJ), Tel. GESCHÄFTSFÜHRUNG: Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel Berlin DR. THOMAS LENNERT DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $290.00 per annum. Distributed by German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. Second class postage is paid at Englewood, NJ 07631 and at additional mailing offices. Postmaster: Send address changes to: Eine Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ent- DER SPIEGEL, GERMAN LANGUAGE PUBLICATIONS, INC., P.O. Box 9868, Englewood, NJ 07631-1123. hält eine Beilage der Firma Eins & Eins, Monta- baur.

14 DER SPIEGEL 51/1994 Werbeseite

Werbeseite .

DEUTSCHLAND PANORAMA

Sparkassen für keinen Finger rühren. Be- gründet wurde die bis vor kur- Geld fürs zem geltende Raffke-Verein- barung mit der „Förderung Nichtstun der Belange der Anstalten“ Vorstandsmitglieder des durch die Sparkassen-Chefs. Sparkassen- und Giroverban- So kassierte das geschäftsfüh- des Hessen-Thüringen haben rende Vorstandsmitglied des jahrelang fragwürdige Zusatz- Sparkassen- und Giroverban- einkommen aus Versiche- des, Adolf Schmitt-Weigand, rungsgeschäften kassiert. Seit nach unwidersprochenen in- Monaten wird das delikate ternen Darstellungen allein Thema verbandsintern heftig 1992 zusätzlich 76 000 Mark

J. H. DARCHINGER debattiert. Auslöser des mas- zu seinem geschätzten Jahres- Schürmann-Bau siven Streits ist eine Be- gehalt von 750 000 Mark. schwerde des hessischen Hochwasserschaden Oberbürgermeisterin Bärbel CDU-Landrats Jochen Rie- DDR-Unrecht Dieckmann (SPD) vereinbar- bel. Der Jurist, für die Taunus Töpfer will te er die Sprachregelung, daß Sparkasse Mitglied im Ver- Wieder Richter „nur ein städtebaulich und ar- bandsvorstand, beklagte sich Rohling retten chitektonisch hochkarätiges bei der Aufsichtsbehörde, Bräutigam Bundesbauminister Klaus Ergebnis sowie eine erstklas- dem hessischen Wirtschafts- Der im Honecker-Prozeß Töpfer (CDU) will den sige Nutzung in Frage kä- ministerium, über die „Remu- gescheiterte Richter Hansge- Bonner Schürmann-Bau ret- men“. Demonstrativ suchte nerationen“ genannten Son- org Bräutigam wird voraus- ten. Im Unterschied zu sei- der Minister außerdem den derentgelte. Die Sparkassen- sichtlich im Frühjahr wieder ner Vorgängerin Irmgard Architekten Joachim Schür- Bosse erhielten aufgrund ei- ein Verfahren gegen SED- Schwaetzer (FDP), die den mann in dessen Büro auf. Der nes Vertrages von 1982 mit Spitzengenossen leiten. Vor vom Rhein-Hochwasser Bundestag, so Schürmann, den damaligen Hessisch-Nas- der 27. Strafkammer des überfluteten Rohling verkau- müsse zusätzlich zu den schon sauischen Versicherungen Berliner Landgerichts, des- fen und zum Abriß freigeben für den Abgeordnetenneubau beispielsweise Vergütungen sen Vorsitzender Bräutigam wollte, strebt Töpfer die Sa- bewilligten 674 Millionen für Haftpflicht-, Unfall- und ist, müssen sich namhafte nierung und den Weiterbau Mark – von denen 370 Millio- Sachversicherungen, die von Mitglieder des einstigen des Gebäudes für die jetzt in nen verbaut sind – 20 bis 40 einfachen Sparkassenmitar- SED-Politbüros wegen der Köln ansässige Deutsche Millionen Mark genehmigen, beitern verkauft wurden. Die Todesschüsse an der Mauer Welle an. Mit der Bonner um das Gebäude zu sanieren. Vorstandsherren mußten da- verantworten. Unter ihnen

Bundeswehr daß der Verteidigungsminister Tieffluggebiete festlegen kann, ohne überhaupt die betroffenen Gemeinden anhören zu müssen. Das ist ein Rückfall ins 19. Jahrhun- „Rückfall ins 19. Jahrhundert“ dert. SPIEGEL: Haben nach dem Urteil des Bundesverwaltungs- Der Berliner Staatsrechtler gerichtes Bürger überhaupt noch eine Möglichkeit, sich Ulrich Battis, 50, über die gegen Tiefflüge zu wehren? Tiefflug-Entscheidung des Battis: Das Urteil schränkt in erster Linie die Mitsprache- Bundesverwaltungsgerichtes rechte von Gemeinden ein. Bürger können gegen Tiefflü- ge klagen, werden aber nur Erfolg haben, wenn sie SPIEGEL: Professor Battis, ge- schwere Gesundheitsschäden durch die Flüge nachweisen hört der Himmel über Deutsch- können. Das ist sehr schwierig. land jetzt dem Verteidigungsmi- SPIEGEL: Hat eine Verfassungsbeschwerde der Gemein- nister? den gegen das Urteil Aussicht auf Erfolg? Battis: In dünnbesiedelten Ge- Battis: Sie hat gute Chancen. Denn die Selbstverwaltung bieten müssen Bürger damit der Gemeinden und die sich daraus ergebenden Mitspra- rechnen, daß jederzeit über ih- cherechte haben in unserer Verfassung einen hohen

ren Köpfen ein Tieffluggebiet U. REINHARDT / ZEITENSPIEGEL Rang. eingerichtet werden kann. Das Battis ergibt sich aus dem weiten Beur- teilungsspielraum, den die Richter der Bundeswehr zuge- sprochen haben. Die Entscheidungen der Militärs sind dann nur ganz begrenzt vor Gericht angreifbar. SPIEGEL: Wenn neue Autobahnen gebaut werden sollen, haben Bürger und Gemeinden Mitspracherechte, wenn aber das Militär entscheidet, müssen sie parieren. Wie ver- trägt sich das? Battis: Solche Beurteilungsspielräume sind an sich nichts Ungewöhnliches. Mit einem ähnlichen Argument schmet-

terten die Richter die Klagen gegen die Aufstellung der Per- T. RAUPACH / ARGUS shing-Raketen 1983 ab. Bedenklich ist allerdings, Protest gegen Tiefflüge

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sind Egon Krenz, Harry Tisch sowie Günter Scha- bowski. Im Verfahren gegen den inzwischen verstorbenen Staats- und Parteichef Erich Honecker hatte Richter Bräutigam den Vorsitz nie- derlegen müssen, nachdem er den Angeklagten um ein Autogramm für einen Er- satzschöffen gebeten hatte. Die Zuständigkeit von Bräu- tigams Kammer im jetzt an- stehenden Verfahren ergibt sich – laut Geschäftsvertei- lungsplan für 1995 – aus dem ersten Buchstaben im Namen des ältesten Beschul- digten Erich Mückenberger, 84.

Waffenhandel Neue Anklage gegen Schalck Die Berliner Staatsanwalt- schaft hat erneut Anklage ge- gen den früheren DDR-De- visenbeschaffer und Stasi-Of- fizier Alexander Schalck-Go- lodkowski erhoben. Die Er- mittler werfen ihm vor, auf Schleichwegen 100 Präzisi- F. HELLER / ARGUM Schalck-Golodkowski

onsschützengewehre der schwäbischen Waffenschmie- de Heckler & Koch in die da- malige DDR eingeführt und damit gegen das Kriegswaf- fenkontrollgesetz verstoßen zu haben. Gegen den Ex- Chef der ominösen Ost-Ber- liner Behörde „Kommerziel- le Koordinierung“ liegen be- reits Anklagen wegen Un- treue und wegen Steuerhin- terziehung in Höhe von 100 Millionen Mark vor. Weitere sollen Anfang des Jahres fol- gen. Wann es zu einem Pro- zeß gegen Schalck kommt, ist noch ungewiß. DEUTSCHLAND

Außenpolitik „KEIN HURRA GESCHRIEN“ Sobald die Nato den Befehl zur Intervention in Bosnien erhält, wird Deutschland zur Drehscheibe für den Aufmarsch der Alliierten. Deutsche „Tornados“, Pionierbataillone, Sanitätseinheiten, Transportkompanien und Funker sind dabei. Der Übergang zur kämpfenden Truppe ist fließend.

olker Rühe steckt in der Klemme. Kroatien „Die Lage ist paradox“, jammerte Vder Verteidigungsminister vorigen Gefährlicher Biha´c Banja Mittwoch bei der Nato-Tagung in Brüs- Rückzug Luka sel, „wir bereiten uns auf eine Situation Kroatien Tuzla vor, die niemand will.“ 50 km Bosnien-Herzegowina Mit Hochdruck planen Militärs eine Serbien Nato-Intervention auf dem Balkan. Serben Hebt der amerikanische Kongreß im Ja- Kroaten Zadar Bugojno Srebrenica nuar das Waffenembargo gegen die Bos- Moslems Zepa nier auf, wird der Rückzug der Uno- Sarajevo Blauhelme unvermeidbar. Das westli- Stationierungsorte Split Gorazˇde che Verteidigungsbündnis müßte ihn von Uno-Blauhelmen mit Waffengewalt sichern. von Serben Die Bundeswehr nimmt dann am Bür- kontrollierte Mostar gerkrieg auf dem Balkan teil – der erste Krajina wirkliche Kampfeinsatz deutscher Sol- Plocˇe daten seit Gründung der Nachkriegsre- mögliche Korridore Montenegro publik. Die Blauhelm-Exkursionen Sarajevo–Split nach Kambodscha, zur Kurdenhilfe im wichtige Dubrovnik Irak und ins Zeltlager in Somalia sind Verkehrsverbindung dagegen harmlose Manöverspiele gewe- sen. Blauhelme unter serbischem Beschuß in Sarajevo: „Schonung von Zivilisten und Für Kanzler Helmut Kohl ist die Ge- fechtslage eindeutig: „Wir können unse- re Freunde nicht im Stich lassen.“ In Brüssel exekutierte Verteidigungsmini- ster Volker Rühe gern die Vorgabe des Chefs: „Wir werden solidarisch sein, denn es geht um die Zukunft der Nato.“ Die Sozialdemokraten drängen der Regierung den Konsens in der Außen- politik geradezu auf. Rudolf Scharping bot dem Kanzler im Parlament bereit- willig Gespräche an. Die Mehrheit im Bundestag scheint verblüffend leicht zu haben zu sein. Zur Ironie des Einsatzes auf dem Bal- kan gehört, daß die Militärs vor den Ri- siken einer Intervention zugunsten der Uno-Blauhelme warnen. Das Balkan-Abenteuer könnte, so mahnen sie, ebensogut zu einem zwei- ten Vietnam mitten in Europa geraten. Der Nato-Oberbefehlshaber für Euro- pa, General George Joulwan, befürch- tet die „schleichende Änderung“ des Rückholauftrags. Wenn die Nato-Trup- pen erst einmal in Bosnien seien, kämen sie womöglich aus dem Schlamassel auf lange Zeit nicht mehr heraus. Stundenlang malten sich die General- stabschefs vorigen Dienstag das Wagnis

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aus. So könnten Serben wie bosnische nien, Italien, Frankreich, Großbritan- Moslems versuchen, die Positionen der nien und den USA stehen im Mittel- abrückenden Blauhelme einzunehmen, meer auf Abruf bereit. und deren Depots mit Waffen und ande- Präsident Bill Clinton hat maximal rem Kriegsgerät stürmen. Bei einem 25 000 Mann Kampftruppen verspro- Blutbad, so warnt selbst der deutsche chen. Sie bilden den Kern von „sieben Generalinspekteur Klaus Naumann, der bis neun leichten, mechanisierten Briga- den deutschen Einsatz befürwortet, sei den“, die Joulwan fordert. Die Deut- „Schonung von Zivilisten und Uno- schen werden aus „historischen Grün- Kräften kaum zu erwarten“. den“, so Kanzler Kohl, keine „Erdtrup- Die Generale fürchten zudem, Zivili- pen“ in Kampfverbänden nach Bosnien sten könnten abrückenden Blauhelmen schicken. den Weg versperren. Sollen Nato-Solda- Kaum entziehen können sich die ten Frauen und Kinder über den Haufen Deutschen der Anfrage nach Verbän- rennen oder schießen? Sollen Panzer die den, welche die kämpfende Truppe un- Barrikaden der Hungernden platt wal- terstützen sollen. Für manche Joulwan- zen? „Die CNN-Bilder werden fürchter- Anforderungen sind die Deutschen in- lich“, gruselt sich ein Nato-Planer, „das nerhalb der Nato sogar traditionell Spe- wird wie Saigon.“ zialisten. Das Trauma des fluchtartigen Rück- So verlangt der US-General „vier bis zugs aus Vietnam 1975, das „Saigon- sechs Pionierbataillone“, vorzugsweise Syndrom“, plagt die Amerikaner und „zum Brückenbau“. Er braucht „drei die Nato-Militärs noch immer. Ihre Fernmeldebataillone“ für „taktische Furcht: Fernsehbilder von einer neuen Funkverbindungen“ und „Satelliten-

„Niederlage der Völkergemeinschaft“ O. JANDKE / CARO kommunikation“, je zwei Transport- (Rühe) könnten die USA und ihre Part- Einsatzbefürworter Rühe kompanien für Treibstoffe, Munition ner nötigen, den Heimkehrauftrag ins „Es geht um die Zukunft der Nato“ und sonstigen Nachschub, eine Instand- Gegenteil zu verkehren – die Befrie- setzungskompanie für den Fuhrpark dung Bosniens im Gewaltstreich. Die Verbündeten haben Rühes Soli- und „bis zu zwei Bataillone Militärpoli- Die massive Militärpräsenz mit gut daritätsbekenntnis als feste Zusage zei“. funktionierenden Versorgungslinien deutscher Truppenkontingente verstan- Für fünf Flugplätze wünscht Joulwan könnte republikanischen Hardlinern im den. „Ein historischer Schritt“, lobt der „Betriebseinheiten“ vom Fluglotsen bis Washingtoner Kongreß den Vorwand Londoner Independent. zum Lademeister. Die Betreuung frem- liefern, mit den aggressiven Serben auf- Vorigen Freitag beschlossen die Spit- der Flugzeuge unter Kriegsbedingungen zuräumen. Dann sitzen Joulwans Trup- zen der Bonner Koalition endgültig, daß ist eine oft geübte Spezialität der deut- pen im Morast des Bürgerkriegs als sie dem Nato-Oberbefehlshaber diese schen Luftwaffe. Kombattanten fest – und die Bundes- Woche förmlich deutsche Hilfstruppen Eine ungenannte Zahl von „Sanitäts- wehr mittendrin. anbieten wird. einheiten“ soll Verwundete bergen und Die Nato plant den mit „Rettungshubschraubern“ ausflie- Uno-Kräften kaum zu erwarten“ Aufmarsch einer riesigen gen. „Verkehrsleitstellen“ sollen die Streitmacht. An die Truppenmärsche ordnen – eine Funkti- 40 000 Uno-Soldaten und on, die von der Bundeswehr für den Mitarbeiter ziviler Orga- Aufmarsch westalliierter Verstärkungen nisationen müßte sie aus in Mitteleuropa jahrzehntelang in Groß- Bosnien herauslotsen. manövern geübt wurde. Joulwans Faustregel: Pro Besonders heikel ist die Bitte, die be- Kopf ein Soldat plus Un- reits in Italien stationierte Nato-Luft- terstützungsverbände in flotte von 160 Maschinen um „bis zu 70 ganz Europa. Flugzeuge“ zu verstärken. Joulwan Der amerikanische Ge- wünscht Transporter, Jagdbomber, neral hatte ein DIN-A4- Aufklärer – und Spezialflugzeuge „zur Blatt mit seinen Truppen- Unterdrückung der feindlichen Luftab- wünschen verschickt. Ei- wehr“. nige Punkte von Joulwans Solche Maschinen hatte Joulwan be- Liste konnten Rühes Ge- reits Ende November in Bonn angefor- nerale schnell abhaken. dert. Das war auf einen „Wink“ des Weder ist Deutschland in deutschen Generalinspekteurs Klaus der Lage, ein „Führungs- Naumann geschehen, wie der Vorsitzen- schiff“ zu stellen, noch de des Nato-Militärausschusses, der bri- besitzt es eine „amphibi- tische Feldmarschall Sir Richard Vin- sche Einsatzgruppe“ mit cent, mittlerweile dem Nato-Generalse- Landungsschiffen und kretär Willy Claes gebeichtet hat. Hubschrauberträgern. Die Spezialflugzeuge des Typs Torna- Das machen die Ame- do-ECR (Electronic Combat and Re- rikaner jetzt selbst: 2000 connaissance) sollen serbische Flugab- Marineinfanteristen sind wehrraketen, die auch in der Einflug- schon an Bord des Lan- schneise nach Sarajevo stehen, ausschal- dungsschiffes „Nassau“ ten und Transportflugzeugen den Weg unterwegs in die Adria. freischießen (siehe Seite 20). Nur wenn

AFD / DPA Flugzeugträger aus Spa- alle Raketenstellungen unschädlich ge-

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DEUTSCHLAND

macht sind, will Joulwan seine Truppen Tatsächlich sind die Unterschiede sche Alleingänge der Deutschen unmög- in Marsch setzen. Erst dann will Rühe zwischen Kampftruppen und Kampfun- lich machen. auch die Hilfsflüge der Luftwaffen- terstützungstruppen fließend, erkennt Jetzt gilt die umgekehrte Logik: Die „Transall“ wieder erlauben. sogar der ungediente Bundespräsident Deutschen müssen sogar da mitma- Die Deutschen machen nun freiwillig Roman Herzog (siehe SPIEGEL-Ge- chen, wo sie sich am liebsten drücken auf dem Balkan mit. Es bleibt ihnen al- spräch Seite 22). Zudem sind deutsche würden. Unionsfraktionschef Wolfgang lerdings kaum anderes übrig. „Jeder Soldaten mittlerweile so fest in multina- Schäuble sieht es so: „Bei uns hat keiner deutsche Einsatz muß sorgfältig abge- tionale Verbände eingewoben, daß die- hurra geschrien, als die Truppenanfra- wogen werden, da er zu einer ganz be- se ohne Beteiligung der Bundeswehr ge kam.“ sonderen Belastung auf der serbischen nicht mehr einsatzbereit sind. Eine der tragenden Säulen für den Seite führen muß“, gibt Mostar-Verwal- Nun holt der Fluch der guten Tat die „Abzug in Sicherheit“ (Rühe) wird das ter Hans Koschnick zu bedenken (siehe Deutschen ein. Sie brachten mit dem Schnelle Eingreifkorps (Nato-Kürzel Interview Seite 37). Ende des Kalten Kriegs einen großen ARRC) mit Stammsitz in Mönchenglad- Kanzler Kohl und Außenminister Teil ihres Heeres in gemischte Nato- bach. In den Stäben sitzen viele deut- Klaus Kinkel versprechen nur noch, in Verbände ein. Hintergrund war damals sche Offiziere. Bundeswehrsoldaten Bosnien werde es keine deutschen Bo- die Sorge, die Alliierten könnten ihre sind für Aufbau und Betrieb der mobi- dentruppen geben. Truppen aus Deutschland abziehen. Zu- len Einsatzzentralen und Gefechtsstän- Wirklich? gleich sollte der Truppen-Mix militäri- de verantwortlich.

Am 17. Januar 1991, dem ersten Tag des Luftkriegs um Kuweit, wurde ein „Ursache unbekannt“ Tornado der englischen Royal Air Force (RAF) von einer irakischen SA- Drohen in Bosnien „Tornado“-Verluste wie im Golfkrieg? Rakete abgeschossen. Ihm folgten tags darauf ein italienischer, dann wieder ein englischer und schließlich ein sau- ebel steigt aus den Tälern um Bi- Die deutschen ECR-Tornados* hät- discher Tornado. Die italienische Ma- hac´. Die Hubschrauberbesatzung ten die Aufgabe, im Ernstfall Lücken schine war von einem nicht identifi- Ndes US-Marinekorps muß aufpas- in den Zaun der Serben zu reißen. Mit zierten Projektil getroffen worden, der sen. Karg und einsam gleiten Bergrük- ihrer Störelektronik sollen sie die Ra- zweite Briten-Tornado und der Saudi- ken vorüber. darwellen der Raketenbatterien unter- Kampfjet vermutlich von herkömmli- Oberstleutnant David Evans hat den drücken oder sogenannte Harm-Rake- cher Flak. Eindruck, durch Watte zu fliegen. ten abfeuern, die der gegnerischen Pei- Am nächsten Tag verlor die RAF „Man könnte in den Hügeln eine ganze lung folgen und im Ziel explodieren. den dritten Tornado, womöglich durch Panzerdivision verstecken“, murmelt Die Tornado-Besatzungen sind jah- Splitter einer Kraterbombe, die von er, „das machten die Deutschen damals relang darauf getrimmt worden, das der Maschine über einem Flugfeld der in den Ardennen.“ Feindradar zu unterfliegen – im Ar- Iraker abgeworfen worden war. Ein Vor 50 Jahren, am 16. Dezember dennen-Nebel Bosniens ein hochris- vierter Tornado stürzte kurz nach dem 1944, startete Hitler in dem Waldgebiet kantes Unterfangen. Start wegen eines technischen Defekts nordwestlich von Luxemburg seine letz- Wie gefährlich Tiefflüge mit dem ab. te große Offensive – und Evans fühlt Tornado sind, mußten die Verbände Am 22. Januar gab es den nächsten sich irgendwie daran erinnert: „Da lag der Alliierten schon im Golfkrieg ge- Totalverlust. „Tornado bohrt sich in auch Frühnebel, der den Boden be- gen den Irak erfahren. den Grund“, heißt es in einem Bericht, deckt.“ Die Luftwaffe der Amerikaner konnte damals nicht eingreifen. Werden über die Nebel und durch den Pulverdampf von Bosnien bald deutsche „Tornados“ jagen? In der rauhen Landschaft warten ge- fährliche Fallen. Die Armee der bosni- schen Serben hat begonnen, mitLuftab- wehrraketen eine Art Zaun zu ziehen, der bis in die Einflugschneise des Flug- hafens von Sarajevo reicht. „Unsere Einsatzfähigkeit wird da- durch deutlich eingeschränkt“, meint Michael Williams, Chefsprecher der Uno-Schutztruppe in Bosnien. Fast der ganze Luftraum über dem Gebirgsstaat könne von den SA-2- und SA-6-Rake- ten schon bestrichen werden.

* ECR = Electronic Combat and Reconnais-

sance (Elektronische Kriegführung und Aufklä- KAMAL / SIPA rung). Englischer „Tornado“ in Saudi-Arabien 1991: Sieben Maschinen verloren

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klar auf die Abwicklung des Abzugs be- schränkten und zeitlich begrenzten Auf- trag. In drei, spätestens in sechs Mona- ten will Joulwan seine Landser wieder daheim sehen. Er forderte von den Politikern das Recht, auf alle schießen zu dürfen, die sich seiner Truppe in den Weg stellen. Die Aufgabenstellung dürfe keinesfalls nachträglich während der Aktion verän- dert werden. „Wir müssen uns die Entscheidung sehr schwer machen“, erklärte Rühe nach dem Joulwan-Vortrag in Brüssel. Die Minister gelobten, dem Aufruf des Generals zu folgen. Sie wissen, daß es in ihren Parlamenten keine Mehrheiten für

DPA Abenteuer ohne absehbares Ende und Nato-General Joulwan: Den Einsatz öffentlichkeitswirksam aufbereiten mit unabsehbaren Kosten gibt. Pro Monat, besagen erste interne Schät- Joulwan hat sie schon berücksichtigt. zungen, koste der Einsatz eine Milliar- Nicht nur beim Blauhelm-Hauptquar- de Dollar. der für den Verteidigungsausschuß tier im kroatischen Zagreb soll, weitab Die politischen Kosten kann keiner des Londoner Parlaments angefertigt vom Schuß, eine Nato-Einsatzzentrale ermessen. Nach dem Abzug von Unpro- wurde. „Ursache unbekannt, Piloten entstehen. Auch in Sarajevo will er ein for droht der Bevölkerung eine „Kata- tot.“ Hauptquartier errichten. ARRC-Ge- strophe“ (Rühe). Die englische Luftwaffe beschloß, fechtsstände verlangen die Briten auch Das Brüsseler Horrorszenario: Die die Einsatztaktik zu ändern. Die Tor- in den wichtigsten Standorten der Uno- Moslem-Enklaven werden von der über- nados sollten nun eine Mindestflughö- Truppe (Unprofor) quer durch Bosnien. legenen serbischen Soldateska über- he von 100 Metern einhalten. Am 24. „Wie im Golfkrieg“, so ein Hardthö- rannt. Schon drohen die islamischen Januar jedoch geschah über Basra ein hen-Planer, soll Deutschland Dreh- Staaten mit massiver Intervention zu- weiteres Desaster: Kurz nach dem scheibe für den Aufmarsch der Alliier- gunsten der bosnischen Glaubensbrü- Ausklinken detonierte eine 500-Kilo- ten werden. Die Bundeswehr werde Bombe und zerfetzte den Tornado, „sozusagen frei Grenze“ Truppen und der sie getragen hatte; eine parallel Kriegsgerät mit Bahn, Schiff und Flug- „Wir müssen fliegende Maschine wurde schwer be- zeug in die „Bereitstellungsräume“ uns die Entscheidung schädigt. schaffen. Am 14. Februar ging ein weiterer Anders als 1991 wollen die Bonner ihr schwermachen“ Tornado verloren, wahrscheinlich Engagement diesmal an die große Glok- durch den Beschuß mit einer SA-Ra- ke hängen. Der Vorwurf der „Scheck- der. Das Balkan-Gemetzel gerät zu ei- kete. Insgesamt verlor die Royal Air buchdiplomatie“ wirkt nach. Vorigen nem unkontrollierbaren internationalen Force sieben der Kampfjets im Krieg Freitag beratschlagten deutsche Presse- Krieg – Moslems gegen Christen, Ser- gegen Saddam Hussein. offiziere in Brüssel mit Nato-Kamera- ben und Russen gegen die Nato. In Bosnien würden deutsche Torna- den, wie sich der Einsatz am besten öf- Das will keiner. dos vom gleichen Flak- und Raketen- fentlichkeitswirksam aufbereiten lasse. Amerika, verspricht Außenminister feuer wie im Irak erwartet – neben Von dem Tag an, da der Uno-Sicher- Warren Christopher nun, werde auf der den mehrfach schallschnellen SA-Ra- heitsrat den Abzug beschließt, sollen al- politischen Schiene seine Bemühungen keten vom gefürchteten Fliegerab- le Truppen unter Joulwans Kommando „verdoppeln“. Die gemeinsame Kon- wehrpanzer ZSU-23-4 mit Vierlings- kommen – auch die Blauhelme aus Ruß- taktgruppe mit Russen, Deutschen, flak (die unweit Sarajevos auch schon land oder Bangladesch. Franzosen und Briten sei zu Zugeständ- einen deutschen „Transall“-Transpor- Das Einsatzdrehbuch sieht vor, die nissen an die Serben bereit, wenn die ter traf) und vom Zwillingsrohr-Flak- Nato-Rettungstruppe zunächst in Italien den Friedensplan endlich akzeptierten. panzer ZSU-57-2. und Kroatien zusammenzuziehen. Nach Zähneknirschend willigte Clinton so- Die Suche nach den Raketenstel- dem Einmarschbefehl würden Fall- gar ein, daß sich Ex-Präsident Jimmy lungen der Serben hat in Bosnien schirmjäger und Grenadiere an Flug- Carter auf Wunsch des unberechenba- schon begonnen. Kurz nach dem alli- plätzen und zentralen Orten in Bosnien ren bosnischen Serbenführers Radovan ierten Angriff auf den Flugplatz Udbi- Brückenköpfe bilden. Dort sollen sich Karadzˇic´ an der Friedenssuche beteiligt. na Ende November, dem größten die Uno-Angehörigen sammeln. Der hatte mit einem Sechs-Punkte-Plan Luftschlag in Europa seit dem Zwei- Soweit sie kein Kriegsmaterial mit- ein neues diplomatisches Verwirrspiel ten Weltkrieg (39 Jagdbomber, 15 Be- nehmen müssen, will Joulwan die Blau- gestartet. gleitflugzeuge), schwärmten Amerika- helme ausfliegen. Nato-Schützenpanzer Nun soll die demonstrative „Stärkung ner und Briten erneut aus. würden Fahrzeugkonvois auf drei bis von Unprofor“ (US-Verteidigungsmini- Schwenkflügelmaschinen vom Typ vier Hauptrouten, die von Infanterie ster William Perry) den Kongreß über- EF-111, F/A-18- und F-15E-Jagdbom- und Kampfhubschraubern abgesichert zeugen, daß die so heftig kritisierte ber wollten Raketenstellungen der und von Kampfjets überwacht werden, Uno-Mission doch Erfolge bringt und Serben aufspüren. Bei der Fahndung zu fünf bereits ausgesuchten Adria-Hä- das Waffenembargo dann doch in Kraft feuerten sie auch Harm-Raketen ab, fen geleiten. Danach soll sich die Nach- bleiben kann. drei Radaranlagen wurden getroffen. hut der Retter zurückziehen. Scheitert der Versuch, bleibt den Vorsorglich wies Joulwan die Nato- Deutschen der Einsatz auf dem Balkan Minister darauf hin, er wünsche einen nicht erspart. Y

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SPIEGEL-Gespräch „Da bin ich ungeduldig“ Bundespräsident Roman Herzog über Bosnien-Einsätze und Vergangenheitsbewältigung der Deutschen

SPIEGEL: Herr Bundespräsident, sollen deutsche Soldaten zu Kampfeinsätzen ins frühere Jugoslawien entsandt wer- den? Herzog: Es zeigt sich, daß mit dem grü- nen Licht des Bundesverfassungsge- richts für Einsätze der Bundeswehr au- ßerhalb des Nato-Gebiets die Probleme nicht gelöst sind. Jetzt muß wirklich sehr sorgfältig der Einzelfall geprüft werden. Meiner Meinung nach wäre es äußerst mißlich, Bodentruppen einzusetzen in Bosnien-Herzegowina. Das würde wahrscheinlich der Sache, Frieden zu stiften, mehr schaden. Aber über die Einzelheiten von Lufteinsätzen – welche Tornados unter welchen Voraussetzun- gen – habe ich keine Ratschläge zu ge- ben. SPIEGEL: Sind Sie auch gegen den Bo- deneinsatz deutscher Soldaten in Sani- täts- oder in Transporteinheiten? Herzog: Nein, ich spreche natürlich zu- nächst von Kampftruppen. Aber Sie se- hen, welch gleitender Übergang das ist. Sanitäter auf der einen, Kampftruppen auf der anderen Seite – dazwischen gibt’s ja Spielarten, beispielsweise bei der Logistik, bei den Pionieren und der- gleichen. Das ist sehr schwer zu ent- scheiden. SPIEGEL: Sind Sie denn dafür, die am Boden eingesetzten Soldaten so zu be- waffnen, daß sie sich in einem gewis- sen Umfang selbst verteidigen kön-

nen? M. DARCHINGER Herzog: Das wird man wahrscheinlich Präsident Herzog beim SPIEGEL-Gespräch: „Ich weiß, was Krieg ist“ Soldaten, die man in eine solche Situati- on bringt, nicht verwehren können. Die Da muß mit wesentlich mehr Nach- SPIEGEL: Sie wollen am 13. Februar Sache wird dadurch zusätzlich er- druck, als es bisher geschehen ist, Auf- zum 50. Jahrestag des Bombenangriffes schwert. klärung betrieben werden. Zum Bei- auf Dresden durch alliierte, vor allem SPIEGEL: Sie raten den Deutschen we- spiel: Wie beginnt Antisemitismus, wie britische Kampfflugzeuge reden. Wer- gen der Wehrmachtsgreuel im Zweiten Totalitarismus? Es geht also schon um den Sie die Zerstörung Dresdens ein Weltkrieg auf dem Balkan zu größter die kleinen Dinge, mit denen das Übel Kriegsverbrechen nennen? Ist das nicht Zurückhaltung. Für die jüngeren Deut- beginnt. unvermeidbar, wenn es um geschichtli- schen, die lange nach 1945 geboren wur- SPIEGEL: Sie sehen die Gefahr, daß die che Wahrheit geht? den, ist der Krieg eine Sache der Groß- Vergangenheit folgenlos vergeht, weil Herzog: Es ist nicht unvermeidbar, denn eltern. Sie wollen diese Generation aber zu wenig gegen das Vergessen unter- es liegen 50 Jahre dazwischen. Wir ha- an das, was unter den Nazis geschehen nommen wird? ben zu den Briten ein ausgezeichne- ist, „neu“ heranführen. Was meinen Sie Herzog: Ja, das glaube ich. Jede spätere tes Verhältnis, wir haben die ganz gro- damit? Generation muß die Erfahrungen der ßen Vorbehalte abbauen können. Es Herzog: Ich will die Geschichte nicht früheren auf sich beziehen, muß begrei- werden hochrangige Repräsentanten neu deuten. Ich weiß noch, was Krieg fen, daß sie alles gegen eine Wiederho- der englischen Regierung anwesend ist. Meine Kinder aber wissen es nicht, lung zu tun hat. Das ist im Ablauf der sein. Ich habe überhaupt nicht vor, in denen muß es vermittelt werden. Diese Generationen sehr schwierig, aber es dieser Frage noch mal Öl ins Feuer zu nachwachsenden Generationen sind der muß getan werden. Die Jüngeren dürfen gießen. redlichen Überzeugung, ihnen könnte sich auch nicht insofern in die Tasche lü- so etwas, wie es den Großvätern oder gen, als sie einfach sagen, uns würde das Das Gespräch führten die SPIEGEL-Redakteure Urgroßvätern passiert ist, nie passieren. nicht passieren. Winfried Didzoleit und Dirk Koch.

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SPIEGEL: Sie wollen Rücksicht walten schungen sind in die- lassen? sem Punkt immer be- Herzog: Es gibt den Zwischenweg, der sonders heikel gewe- nahezu verpflichtend ist, nämlich die sen. Notwendig ist es, Wahrheit zu sagen, was geschehen ist, die strafrechtliche aber gleichzeitig hervorzuheben, wie Aufarbeitung mehr Deutsche und Engländer den Gegensatz dort zu betreiben, wo miteinander überwunden haben. Man es sich um Menschen- muß ja keine Formulierungen verwen- rechtsverletzungen den, die Emotionen hochtreiben. handelt, wie sie im SPIEGEL: Vor allem im Ausland könnte Zuchthaus Bautzen Ihre Rede als Versuch verstanden wer- oder in den KZ der den, Schuld aufzurechnen. Nachkriegszeit passiert Herzog: Derlei Mißverständnissen muß sind, und das muß Tä-

entgegengewirkt werden. Aber man ter wie Schreibtischtä- SÜDD. VERLAG kann das nicht vermeiden, indem man ter treffen. Was dann Wehrmacht in Jugoslawien (1943) Dinge, an die sich die Bevölkerung bei den weniger gra- Dresdens jahrzehntelang mit ihrer Lich- vierenden Straftaten „Ich habe nicht vor, in dieser Frage terprozession von der Kreuzkirche zu zu geschehen hat, muß Öl ins Feuer zu gießen“ den Ruinen der Frauenkirche erinnert politisch entschieden hat, plötzlich verschweigt. Ich werde in werden. den Weihnachtsferien diese Rede SPIEGEL: Sie sind also für eine Amne- Delikte begangen hat, etwa Diebstahl schreiben, die natürlich nicht minder stie? oder Bestechung eines westdeutschen schwierig ist als die Rede zum 50. Jah- Herzog: Über Amnestie muß beraten Beamten – das sind überall strafbare Ta- restag des Kriegsendes oder zur Befrei- werden, das müssen nun die Beteiligten, ten. Anders ist die Sache beim Spionie- ung des KZ Bergen-Belsen am 27. Opfer und Täter, unter sich diskutieren. ren allein. Wer nur nach Westdeutsch- April. Aber das muß jetzt eben geleistet Diese Diskussion findet im Augenblick land gefahren ist, hier mit Leuten gere- werden in unserer Generation. nicht statt. Ich halte ein Ja wie ein Nein det und einen Stimmungsbericht gege- SPIEGEL: Stirnrunzeln hat schon Ihr zur Amnestie für möglich, weil ich die ben hat, ist nachsichtiger zu beurteilen. Aufruf ausgelöst, man müsse wegkom- Situation nicht genau nachfühlen kann. SPIEGEL: Wie kann der Wille der Ost- men von der Geschichtsschreibung der Ich war nicht 40 Jahre in diesem Un- deutschen bei einer Amnestie in der Ge- Nationen, bei der zu sehr das jeweils rechtsregime. setzgebung berücksichtigt werden? Gute herausgestellt werde, und hinkom- SPIEGEL: Wolfgang Schäuble wollte Herzog: Wäre ich Bundestagsabgeord- men zu einer europäischen Zusammen- schon im Einigungsvertrag eine Amne- neter aus Westdeutschland, egal, in wel- fassung der einzelnen „Geschichten“. stie für Spione der DDR. Das ist ge- cher Fraktion, würde ich ein sehr ern- Auch das wurde als Versuch gedeutet, scheitert. Was halten Sie vom Grund- stes Gespräch mit den Kollegen aus den die Einmaligkeit der deutschen NS-Ver- satz der Gleichbehandlung west- und neuen Bundesländern führen und mich, brechen zu relativieren. ostdeutscher Nachrichtendienstler? wenn da nicht völlig unhaltbare Positio- Herzog: Wir kommen in Europa gar Herzog: Da bin ich in der Klemme, weil nen vertreten werden, denen anschlie- nicht darum herum, eine Geschichte un- die Sache beim Bundesverfassungsge- ßen. ter europäischen Aspekten zu schrei- richt liegt und bald entschieden werden SPIEGEL: Wie stehen Sie eigentlich heu- ben. Der eine Europäer versteht nichts soll. Die strafrechtliche Verfolgung der te zur PDS? Sie hätten Ihre Wahl zum vom anderen Europäer, wenn wir nicht Spione sollte nicht gerade im Vorder- Bundespräsidenten nicht angenommen, auch die Geschichte als eine gemeineu- grund stehen; aber es gibt da natürlich wenn Sie eine Mehrheit nur mit den ropäische Geschichte betrachten. Die auch andere Punkte. Wer dabei andere Stimmen der Radikalen links oder Frage, ob sich dabei je- rechts bekommen hät- der noch die positiven ten. Würden Sie es denn Seiten seiner Geschichte ablehnen, jemanden wie herauspicken kann – wie Gregor Gysi, den PDS- das in den nationalen Gruppenchef im Bundes- Geschichten natürlich in tag, zu einem offiziellen Deutschland und anders- Gespräch zu empfangen? wo geschehen ist –, steht Herzog: Nein, überhaupt für mich in der zweiten nicht. Ich bin nur noch Reihe. zu keinem Gespräch mit SPIEGEL: Um Schuld und ihm gekommen. Aber Sühne geht es auch für bei meinen Besuchen in das vereinte Deutschland Ostdeutschland bin ich beim Umgang mit dem ständig auch mit PDS- Unrecht der DDR-Zeit. Abgeordneten beieinan- Wie stehen Sie zu einer der gewesen. Ob ich eine Amnestie für Unrechts- Wahl annehme mit radi- taten minderen Ge- kalen Stimmen, ist etwas wichts? anderes als die Frage, ob

Herzog: Das ist sehr pro- DPA ich den Leuten die Hand blematisch. Es handelt Dresdner Gedenken an die Bombennacht vom 13. Februar 1945 gebe oder mit ihnen re- sich ja um ein Problem de. Ja warum denn der Bevölkerung in den „Jede spätere Generation muß die nicht? Das kann ja nur neuen Bundesländern. Erfahrungen der früheren auf sich beziehen“ einem Deutschen einfal- Westdeutsche Einmi- len, daß beide Fragen

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weise nicht sein: Die um den Abstand zu den niedrigen Löh- Europäer verzichten nen zu vergrößern? aufs Auto, und den Herzog: Ich will es so erläutern: Es gibt Chinesen wird es eben- zahlreiche denkbare Arbeitsplätze, die falls vorenthalten. Al- Langzeitarbeitslosen angeboten werden so muß doch eine dem könnten, um sie ins Arbeitsleben zu- Erdball wie den Ex- rückzuführen, allerdings nicht für Löh- portchancen dienende ne, mit denen sich eine siebenköpfige Lösung her, eine ver- Familie anständig ernähren läßt. Solche trägliche Form des Au- Arbeitsplätze sollten geschaffen wer- tomobils zu entwik- den, und wo die Entlohnung nicht keln. Da bin ich unge- langt, muß das andere draufgesattelt duldig. werden. Aber bei uns läuft’s ja leider SPIEGEL: Eines der so: entweder Sozialhilfe oder arbeiten.

T. HEIMANN / THIRD EYE schwierigsten Proble- SPIEGEL: Herr Bundespräsident, Sie Arbeitssuchende in Berlin-Wedding me in diesem Land ist sind schon mit Mahnungen und Anre- der verfestigte Sockel gungen an verschiedene Kreise der Ge- „Vom Anspringen der Konjunktur von Arbeitslosigkeit. sellschaft hervorgetreten. Man hört Ih- allein ist keine Abhilfe zu erwarten“ Muß der Preis der Ar- nen zu oder auch nicht, aber es passiert beit sinken und müs- nichts. Ist das mit ein Grund für Ihre sen alle Lohnersatzlei- Ankündigung, Sie stünden für eine nach dem gleichen Schema zu behandeln stungen sowie die Sozialhilfe abgesenkt zweite Amtszeit nicht zur Verfügung? seien. Die Zukunft der PDS ist für mich werden, damit die Leute auch schlechter Herzog: Nein. Das hängt mit der klaren allerdings derzeit nicht absehbar. Den bezahlte Jobs annehmen? Erkenntnis zusammen, daß der Mensch PDS-Vertretern habe ichgesagt, siemüß- Herzog: Die Konjunktur ist in Deutsch- mit 65 Jahren nicht nur das Recht hat ten sich irgendwann entscheiden: Wer- land auch deshalb angesprungen, weil aufzuhören, sondern auch wirklich auf- den sie eine demokratische Linkspartei, Unternehmen ihre Konkurrenzfähigkeit hören sollte. Hätte ich die Ankündi- oder kehren sie zum Schema SED zu- durch Senkung der Arbeitskosten, näm- gung erst in zwei Jahren gemacht, wür- rück? Davon wird sich meine Haltung zu lich durch Entlassungen von Arbeitneh- de es heißen, der glaubt nicht mehr dar- ihnen herleiten. mern, wiederhergestellt haben. Also, an, daß er in der nächsten Bundesver- SPIEGEL: Herr Präsident, Sie haben es zu vom Anspringen der Konjunktur allein sammlung eine Mehrheit hat. In einer einer Ihrer wichtigen Aufgaben erklärt, ist keine Abhilfe zu erwarten. Außer- Gesellschaft, die pausenlos diskutiert, geistige Besitzstände in Zweifel zu stel- dem: Die technischen Anforderungen ob die Politiker zu lange in ihren Äm- len. Hat die Reformfähigkeit dieser Ge- an die Arbeitnehmer werden immer hö- tern sind, hat’s mich aber doch sehr sellschaft in den letzten zehn Jahren gelit- her. Es besteht die Gefahr, daß eine amüsiert, daß es bei mir jetzt plötzlich ten? Schicht von 10 oder 15 Prozent der Be- heißt: Warum macht er nicht zehn Jah- Herzog: Ja, das glaube ich sehr wohl. Vor völkerung schon am Anfang ihres Be- re? allem ging es häufig nicht um die wirklich rufslebens sehen muß, für uns gibt’s kei- SPIEGEL: Sind Sie für eine Neuregelung wichtigen Themen. Sexualstrafrecht ist ne Verwendung mehr. Statt Sozialhilfe der Amtszeit? zwar auch wichtig, aber inder Einstellung zu zahlen, ist es hier billiger und men- Herzog: Eine einmalige Amtszeit des beispielsweise zu neuen Technologien ist schenwürdiger, Arbeitsplätze für diese Bundespräsidenten von sieben Jahren viel zuviel Unbeweglichkeit im Lande, Gruppe aus dem staatlichen Bereich zu ist wirklich eine Überlegung wert. obwohl es um unsere Zukunft geht. unterstützen. SPIEGEL: Außerdem haben Sie wohl bei SPIEGEL: Politiker wie Wirtschaftsführer SPIEGEL: Sie halten also nichts von der Ihren Vorgängern beobachtet, daß sie halten immer noch die Illusion aufrecht, Forderung, die Sozialhilfe zu senken, in ihrer ersten Amtsperiode, wenn sie alles ließe sich technisch denn zwei absolviert ha- managen. Ist aber nicht ben, besser waren als in in den Industrieländern der zweiten? längst eine bewußte Ent- Herzog: Ich will mich ab- scheidung für einen an- strakt ausdrücken: Kei- deren Lebens- und Wirt- ner kann von sich wissen, schaftsstil überfällig? wie er zwischen 66 und 70 Herzog: Soweit sind wir noch beieinander ist. Da noch nicht. Zum Beispiel ist es tatsächlich leichter, ist bei uns in der Ener- die Grenze im relativ frü- gieerzeugung, vor allem hen Lebensalter zu zie- aber beim Energiever- hen. Je älter man wird, brauch, noch lange nicht desto schwerer wird es, alles ausgereizt. Den Eu- sich selber treffend zu be- ropäern ist es lange Zeit urteilen. vergleichsweise wohl er- SPIEGEL: Plädieren Sie gangen. Jetzt sollten sie dafür, daß der nächste es anderen ermöglichen, Bundespräsident aus Ost- ein ähnliches Leben zu deutschland kommt?

führen, aber nicht mit W. SCHULZE Herzog: Das würde gut den verheerenden Fol- Hofgang im DDR-Gefängnis Bautzen passen. gen, die sich aus der SPIEGEL: Herr Bundes- Multiplikation unseres „Ich halte ein Ja wie präsident, wir danken Lebensstils ergeben. Die ein Nein zur Amnestie für möglich“ Ihnen für dieses Ge- Lösung kann beispiels- spräch. Y

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steckt ebenso wie andere Nachrichten- Nachrichtendienste dienste in der Krise. Die Feinde von einst, im Dienst der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), legten nach der Wende die Schwächen des BND bloß. Die Stasi war der Ecker- Still in der Ackerfurche mann, wußte über die geheimsten Inter- na der Pullacher genau Bescheid und BND in der Krise: den Feind verloren und einen Chef auf Abruf kannte fast alle Adressen. Der enttarnte Dienst mußte sich neue Decknamen und andere Tarnobjekte suchen. ie zwei steilen Falten, die sich von trauten sagt. Der Chef ist so zum Sinn- In Bonn gilt noch immer das Wort des den Nasenflügeln abwärts in Kon- bild für den Nachrichtendienst gewor- damaligen Bundeskanzlers Helmut Drad Porzners Gesicht gegraben ha- den. Im Inneren nagt der Zweifel, ob Schmidt, der „von diesem Dilettanten- ben, wirkten noch härter als sonst. In das alles noch Sinn macht, aber die Verein“ nicht viel hielt. Da lese er statt angestrengt ruhigem Ton trug der Chef Form muß gewahrt bleiben. Die Büro- dessen doch lieber gleich die Neue Zür- des Bundesnachrichtendienstes (BND) kratie geht weiter, nur der Nimbus ist cher Zeitung, hat Schmidt getönt. Er Anfang Dezember im Bundeskanzler- dahin. traute dem Dienst wie einem faulen amt den vertraulichen Bericht zur Si- Nach der Implosion des Ostblocks, Steg. cherheitslage vor. dem Ende des Kalten Krieges zwischen Den Bau der Mauer 1961 und den Es ging um die politische Entwicklung Ost und West, sind den Agenten die Sturz Erich Honeckers 1989 hat der in Ruanda und in Ex-Jugoslawien, um Feinde abhanden gekommen. Tsche- Dienst verschlafen, die Afghanistan-In- die allfälligen Gefah- vasion der Sowjets 1979 sowieso. ren für die dort leben- Leichtfertig überging der BND beste den Deutschen. Akri- Hinweise auf in der DDR abgetauchte bisch hatte sich Porz- RAF-Terroristen. Der Dienst konnte ner auf die Sitzung nicht einmal die vom Bundeskriminal- vorbereitet. Jedes De- amt gelieferten Adressen abklären. tail eine Bedrohung. Beim Wettlauf um das Material der Jede Bedrohung ein HVA in Ost-Berlin siegte die amerika- Aktenzeichen. nische CIA. Am meisten bedroht Doch es gibt auch eine Leichtigkeit ist derzeit allerdings der Vorverachtung. Beim Kampf gegen der vortragende BND- die Exporteure des Todes, die für Profit Chef. andere Staaten hochrüsten wollen, hat Eine Komparserie der BND erstaunliche Erfolge zu ver- anonymer Gegner aus zeichnen. Sogar ein Geheimdienstkriti- dem Dienst und in ker wie Bundestagsvizepräsident Burk- Bonn fordert seinen hard Hirsch (FDP) räumt ein: „Der Rücktritt: Porzner ha- BND hat auch Informationen besorgt, be weder Fortune von denen wir gewünscht hätten, daß noch Esprit; er sei eine diejenigen, für die sie bestimmt waren, Fehlbesetzung. Als sie ernster genommen hätten.“ Gemeint Nachfolger wird schon ist das Kanzleramt, wo die BND-Chefs Eckart Werthebach allemal Rapport erstatten. gehandelt, derzeit Prä- Weil Vorgaben von oben ausbleiben, sident des Bundesam- ist der Dienst in Pullach ein ideales tes für Verfassungs- Mistbeet für Gerüchte geworden. Ein schutz. Klima der Gereiztheit, Nervosität und Eine komplizierte enttäuschter Erwartungen bestimmt den Geschichte, auch für Ton. Von „Filzläusen und Natternge- die Profis in Bonn. zücht“ ist die Rede, von „Knallchargen“ Die Sozialdemokraten und „Schleimscheißern“.

würden der Rochade J. H. DARCHINGER Enttarnte Spione wie die BND-Regie- schon zustimmen, un- BND-Chef Porzner: Indianerspiele für Erwachsene rungsdirektorin Gabriele Gast oder ter Bedingungen na- BND-Aufklärer Alfred Spuhler lassen türlich. Werthebach gilt als angesehener chien, Ungarn oder Polen werden nicht das Mißtrauen weiterwuchern. Fachmann, Porzner hat unter den Par- länger mit Lauschgeräten ausgekund- Bitter beklagte sich die langjährige teifreunden kaum treue Anhänger; er schaftet. Nur der militärische Funkver- Vertreterin des BND-Residenten in pflegt eine geradezu viktorianische Dis- kehr im zerfallenen Sowjetreich und in Brüssel beim Personalrat über ihre Be- kretion. den baltischen Staaten wird noch wie ge- handlung in Pullach. Die Frau war Der Unions-Fraktionschef, Wolfgang wohnt eifrig im Auftrag der Bundes- durch einen obskuren Informanten, eine Schäuble, hingegen findet ihn vermut- wehr rund um die Uhr abgehört. Über jener Sumpfblüten, die branchenüblich lich gerade deshalb „vertrauenerwek- militärische Kurzwelle ist der russische sind, als Spionin verdächtigt worden. kend“, und der Kanzler läßt signalisie- Generalstab auf Programm. Angehörige der Abteilung 5/Referat 52 ren, daß er am BND-Chef zum jetzigen Für neue Aufträge fehlt es dem (Sicherheitsangelegenheiten) nahmen Zeitpunkt festhalte. Dienst an überzeugenden Konzepten. die Kollegin in die Mangel, ohne eigene Porzner nimmt das alles klaglos hin. Es mangelt an Gespür für die Themen, Nachforschungen anzustellen. Die Bun- Er bunkert sich ein, „leidet wie ein auch an geeignetem Personal. Der Bun- desanwaltschaft teilt der Beamtin am Hund“, wie einer seiner wenigen Ver- desnachrichtendienst, kein Zweifel, Ende schriftlich mit, daß keinerlei Ver-

DER SPIEGEL 51/1994 25 DEUTSCHLAND „Wir wußten Bescheid“ Ein ehemaliger Oberst der HVA über die Feinde beim BND

ast 30 Jahre lang habe ich in Bei den Deckadressen für ihre Panzerschränke, voll mit Material vielen Ländern für die Haupt- Agenten in der DDR waren sie der Abteilung IX (Gegenspionage), Fverwaltung Aufklärung (HVA) nicht einfallsreicher. Die Berichte haben wir absichtlich zurückgelas- gearbeitet. Immer war unser wurden oft an Orte rund um Mün- sen. Viele Interna über die CIA, Hauptgegner der BND. Wir haben chen, etwa in Wolfratshausen, Für- aber vor allem massenhaft Material uns um jedes Stück aus dem Innen- stenfeldbruck oder Altenerding, ge- über den BND. Wir wollten denen leben des Dienstes bemüht, kann- schickt. Wir kontrollierten jeden mal zeigen, wie gut wir wa- ten sogar die BND-internen Haus- Brief im Münchner Raum und ren. mitteilungen. Kein Detail war uns kannten die Geheimschriftmetho- Schon im Januar 1990 begann die zu gering. den genau. Agenten schrieben ihre Jagd auf uns. Das gehört zum Ge- Wir haben den Kalten Krieg ver- Botschaft mit einer Spezialflüssig- schäft. Am schnellsten waren die loren, aber ich habe jetzt Einblick keit, und zu lesen waren auffällig Amerikaner, Engländer und Israe- in beide Lager. Nach dem Ende belanglose Sätze wie: „Lieber On- lis. Aber die behandelten uns als unseres Ministeriums haben wir die kel, Vati geht es gut.“ Da wußten Kollegen. Der BND hingegen kam Feinde von einst kennengelernt. wir Bescheid. als Sieger. Ich weiß von Freunden, Bei den meisten erstaunte mich ih- In der frühen Zeit der DDR, zu- die massiv unter Druck gesetzt re Arroganz und Siegermentalität. gegeben, waren sie erstklassig. Da wurden. Bei uns kam in der Regel die saßen sie sogar im Vorzimmer des Gegen Geld und/oder Verzicht Elite zur HVA. Die Bezahlung war Ministerpräsidenten. Später haben auf Strafverfolgung sollten wir gut, und vor allem lockte die Mög- sie ihre Späher verheizt. Dutzend- unsere Quellen preisgeben. Das lichkeit, in andere Länder zu kom- weise hat unsere Abwehr Rentner macht kein Nachrichtendienstler. men. Auch waren wir von der Sa- und Lkw-Fahrer beim Zählen so- Wer nicht spurte, bekam Druck. che überzeugt. Die im Westen für wjetischer Militärkolonnen er- Einen ehemaligen Oberst, der im den Dienst arbeiten, sind erst ein- wischt. Die sind für nichts nach Westen versuchte, sich mit dem mal Beamte, und ich habe kapiert, Bautzen gekommen. Verkauf von Gerüstbauteilen über daß dort nicht immer die Besten Am bittersten muß für den BND Wasser zu halten, lockten sie, als beschäftigt sind. Mit der Offenle- gewesen sein, daß fast alle seine Kunden getarnt, ins Hotel „Vier gung unserer Akten kann die Qua- Quellen in Wahrheit für uns gear- Jahreszeiten“ nach Hamburg. Als lität des BND überprüft werden, beitet haben. Wir nannten das er nicht kooperieren wollte, und da sieht es wirklich nicht gut Nachrichten-Spiele und kannten die drohten sie ihm mit der Vernich- aus. Aufklärungsziele bei uns genau. tung seiner beruflichen Exi- Unsere Hauptabteilung III Sorgfältig haben wir nach dem stenz. (Elektronische Aufklärung) zum Zusammenbruch Blatt für Blatt der Einige meiner früheren Kollegen Beispiel hatte Computer- HVA-Akten vernichtet. Nur zwei sind übergelaufen, das ist für mich Disketten mit bis heute Verrat. Zehntausenden ab- Aber ich weiß, daß gehörter Telefonate auch sie desillusio- des BND. Wir niert sind. Sie sind kannten Klarna- von Dienst zu men, Decknamen, Dienst weiterge- Autokennzeichen reicht und aus- und Adressen, ein- gequetscht wor- fach alles. Die ha- den. ben gedacht, tech- Einer erzählte nisch lebten wir in neulich, er habe der Steinzeit, und sich mit denen vom haben am Telefon Bundesnachrichten- alles erzählt. Richti- dienst mal ausführ- ge Schwätzer. lich, unter Kolle- Ihre Agenten lie- gen gewisserma- ßen sie von West- ßen, über ihre Feh- Berliner Telefon- ler unterhalten zellen in Pullach an- wollen. Die Reak- rufen. Die haben tion sei sehr schroff gedacht, im Westen gewesen: „Sie ge- seien sie sicher. Uns hören zu den Ver- war es recht. Wir lierern, von Ihnen haben immer mitge- nehmen wir keinen hört. „Nicht nur, daß man arbeitslos ist – die ganze Romantik ist weg“ Rat entgegen.“

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dacht gegen sie bestehe, aber der Dienstherr mochte sich nicht entschuldi- gen. Die Spitze des Hauses hat andere Pro- bleme. Sie liefert sich seit Jahren einen Bürgerkrieg im kleinen. Porzner und BND-Vize Paul Münstermann (CSU), der im September „aus privaten Grün- den“ seinen Abschied nahm, hatten da- mit gleich am ersten Arbeitstag begon- nen. Eigenmächtigkeiten duldet Porzner nicht. Der fast legendäre Beschaffer Volker Foertsch mußte in eine andere Abteilung abrücken. Ein Unterabtei- lungsleiter konnte sich einem drohen- den Rauswurf durch die Flucht nach Washington entziehen. Nur seinen der- zeitigen Stellvertreter, Konteradmiral Gerhard Güllich, einen Parteifreund, zieht der BND-Chef gelegentlich ins Vertrauen. Porzner ist mißtrauisch, schottet sich ab und umgibt sich mit jungen Claqueu- ren. Die freitäglichen Abteilungsleiter- sitzungen verlaufen nach dem klassi-

schen Abschottungsprinzip. H. HÖRSELJAU Das „Sicherheitsgefühl dieses BND- Ehemalige Stasi-Abhöranlage (auf dem Brocken 1991): BND-Schwächen bloßgelegt Chefs“, sagt ein Insider, „ist auch für ei- nen Nachrichtenmann völlig übertrie- Bis B 4 (Leitender Ministerialrat) müs- Schalck-Golodkowski oder heimliche ben“. Porzner-Freunde aus Bonner Ta- sen Mitarbeiter Decknamen im Dienst Waffenlieferungen durch den Dienst ge- gen kennen das Syndrom. Der Sozialde- haben und mit doppelten Identitäten le- hen auch einer Regierung Kohl auf den mokrat und ehemalige deutsche Hand- ben. Nerv. ballmeister Konrad Porzner kann Ein Regierungsamtmann von der Dabei verkörpert Schmidbauer das schweigen wie sein früheres Alter ego Operativen Dienststelle 16c („Interna- Kontrastprogramm zu Porzner. Er will Herbert Wehner. tionaler Terrorismus“) wurde strafver- zupacken, zuschlagen, greift selbst ein Wie zu Wehners Zeiten ist der Dienst setzt, weil ihn seine Frau von einem und muß doch immer in der Furcht leben, mit rund 6300 hauptamtlichen Beschäf- feuchtfröhlichen Betriebsausflug abge- daß der irgendwo angesammelte Spreng- tigten, davon 3400 in Pullach, immer holt hatte und die Gesichter der Kolle- stoff in Bonn hochgehen wird. noch eine Größe. 235 Millionen Mark gen zu sehen bekam. Die meisten kann- Schmidbauer doziert liebend gern über weist der Etat aus, die tatsächlichen te sie zwar von privaten Festen, aber ge- die neuen Aufgaben des modernen Dien- Ausgaben liegen bei 830 Millionen heim ist geheim. stes und über den Kampf gegen die Dro- Mark. 600 Millionen sind in anderen Po- Am liebsten beschäftigt sich der gen, Mafia, Geldwäscher, Proliferation. sitionen des Bundeshaushalts versteckt. Dienst mit sich selbst. Soldaten und Zi- Von der „Intelligence Community“ Eine ordentliche Behörde, die zwei vile liefern sich einen Stellungskrieg um schwärmt Schmidbauer, aber sein Wider- Drittel des Etats gleich ans Personal – sacher von der SPD, der Parlamentari- Geheimdienstler und Geheimdienstler sche Geschäftsführer Peter Struck, kon- a. D. – weiterreicht. Der BND liefert dicke tert kühl: „Dampfplauderer“. Der verlorengegangene lautlose Krieg Studien, hat aber keine Der Dienst liefert, wenn Schmidbauer hat den Geheimdienst kalt erwischt. Tempo macht, dicke Studien über dieBe- „Die falschen Leute“, sagt ein BND-In- Mitarbeiter vor Ort kämpfung der Drogenkriminalität, aber sider, „sitzen auf dem falschen Posten.“ die Realität sieht düster aus. Eine Dele- Es fehlen Chemiker, Techniker und die besten Positionen in Pullach. Vor gation der Parlamentarischen Kontroll- qualifizierte Ingenieure; die Auswerter Verwaltungsgerichten laufen etliche kommission stellte nach einer Südameri- sprechen die falsche Sprache. Rund Konkurrentenklagen. Etwa zehn Pro- ka-Reise eine Mängelliste auf. 1100 Beschaffer sollen besorgen, was zent der Geheimdienstler kommen vom „In dem für den Drogenbereich so zwar bestellt wird, aber niemand mehr Militär, aber in einigen Fachbereichen wichtigen Land wie Kolumbien ist der braucht. Bei den Auswertern arbeiten besetzen sie fast jede zweite Führungspo- BND vor Ort nicht vertreten.“ Mit 350 an Militärprojekten und 250 für den sition. Der Ton ist zackig. „Ausnahme von Venezuela“ gebe es kei- gesamten Rest; da verstaubt vieles. Die Geheimdienste sind unberechenbar ne Zusammenarbeit der Rauschgiftver- technische Auswertung durch hochmo- und können Regierungen jederzeit eine bindungsbeamten des BKA und der derne Anlagen wurde sogar reduziert, Krise bescheren. Das weiß der langge- BND-Mitarbeiter. Berichte wurden weil die Auswerter nicht mehr mitka- diente Porzner genau, der sich mucks- nicht abgestimmt, jeder werkle vor sich men. mäuschenstill in die Ackerfurche legt. hin. Mit enormem Aufwand werden in Seine beiden letzten Vorgänger im Auch Schmidbauer kommt mitunter Pullach alte Indianerspiele für Erwach- Amt stürzten über Affären. Die zwei ins Grübeln. Wenn er wirklich Wichtiges sene gespielt. Obwohl Listen der Mitar- Kontrolleure, die vor Bernd Schmidbau- über Aktivitäten im Ausland erfahren beiter mit Anschrift und Telefon den er im Kanzleramt über den Dienst wach- wolle, berichtete er Vertrauten, greife er gegnerischen Geheimdiensten vorlie- ten, purzelten mit. Falsche Pässe für zur Neuen Zürcher Zeitung – wie einst gen, wird weiter finassiert und getrickst. den DDR-Devisenbeschaffer Alexander BND-Verächter Helmut Schmidt. Y

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tagswahlen vertagt. Und die Regierung als Kandidatin für das Amt des Bundes- FDP hat eine Gnadenfrist (siehe Interview tagsvizepräsidenten, kündigte gleichfalls Seite 29). die Loyalität. Sie wollte nicht länger Düster entschlossen war Kinkel schon Kinkels Stellvertreterin sein. vom Essener EU-Gipfel zum Parteitag Am Donnerstag abend setzte die Netter nach Gera gekommen. Dort mußte er Bonner Fraktion das Werk der langsa- dann erleben, daß die Delegierten ihn men Selbstzerstörung fort, weniger ge- mit eisiger Ablehnung empfingen und hässig als nachdenklich und ratlos. Kin- Dilettant gnadenlos niedermachten. kel war nicht erschienen. Er müsse aus- Wie erstarrt saß die Führungsriege in ländische Besucher in seinem Wahlkreis Die Liberalen haben ihre Führungs- langen Reihen auf dem Podium des Par- empfangen, ließ er sich entschuldigen. krise gerade noch einmal vertagt. teitags, während im Saal ein Scherben- Gisela Babel, Abgeordnete aus Mar- gericht über Kinkel niederging. burg, rief in Erinnerung: „Wir haben Aber was passiert, gehen auch die Nur die Ehrenvorsitzenden suchten doch gewußt, daß wir mit Kinkel einen nächsten Wahlen verloren? die Ehre des Angegriffenen zu retten. sympathischen Dilettanten wählten.“ Otto Graf Lambsdorff kann gut nach- Zumindest in der Fraktion waltet all- fühlen, wie Kinkel zumute ist. Als einer mählich die Einsicht, daß nicht alle Feh- laus Kinkel ist verbittert, und er der Hauptbeschuldigten hatte er den ler und Gebrechen immer nur Kinkel läßt es alle spüren. Wie es seine Kopf für die illegale Parteienfinanzie- anzulasten sind. Auch dessen Vorgän- KArt ist, macht er aus seinem Her- rung hinhalten müssen. Und Hans-Diet- ger Genscher, Lambsdorff oder Martin zen keine Mördergrube – ein Opfer der rich Genscher hatte nach dem Macht- Bangemann hatten sich nie für Program- Verhältnisse, das sich herausnimmt, Po- wechsel 1982 als Vorsitzender auch viele me interessiert. Auch sie kultivierten litik und Privates zu vermengen. Landtagswahlen verloren. Er trat als vorzugsweise die Rolle der FDP als un- Als Parteichef und Außenminister ha- Parteichef zurück, blieb aber Außenmi- entbehrliche Mehrheitsbeschafferin und be er sich bis an die Grenzen der physi- nister – ein Modell für Kinkel? nannten das Profilschärfe. schen Belastbarkeit verausgabt. Nicht Die Hilfsaktion der alten Kämpen Zudem hatte Genscher seinem Nach- einmal Zeit habe er gefunden, seinen blieb jedoch zwiespältig. Genscher ließ, folger im Außenministerium ein schwie-

Zuviel für Kinkel „Kritiker meinen, Klaus Kinkel sei durch seine Doppel- „Für welche politische Position steht belastung als Außenminister und Parteivorsitzender Ihrer Ansicht nach der FDP-Vorsitzende überfordert, er solle sich von einem Amt trennen. Klaus Kinkel am ehesten?“ Was meinen Sie, soll er... gesamt fdp-wähler ...beide Ämter behalten?“ 21 33 für Bürgerrechte und 32 Grundrechtsschutz 52 ...das Außenministe- 14 rium abgeben?“ 6 für günstige Bedingun- 43 36 ...den Parteivorsitz 34 gen der Wirtschaft abgeben?“ 31 14 für nationale Werte ...beide Ämter abgeben?“ 19 0 14

An 100 fehlende Prozent: keine Angabe; Emnid-Umfrage für den SPIEGEL, 1500 Befragte, 12. bis 14. Dezember 1994 K.-B. KARWASZ

Vater zu beerdigen, klagt er. Für die Se- als er vom Rednerpult zurückging, die riges Erbe vermacht. Als Kinkel seine rie von Wahlniederlagen in Ländern zaghaft ausgestreckte Hand Kinkels un- Ratschläge in den Wind schlug und eige- und Kommunen stehe er allein am Pran- beachtet. ne Wege ging, kühlten sich die Bezie- ger; das findet er zutiefst ungerecht. Kinkel machte einmal mehr die er- hungen merklich ab. Eine lange Liste voller Beschwerden nüchternde Erfahrung, daß keiner sich Immer wieder ließ Genscher durch- hat sich da angesammelt. Am vorigen gern für einen Verlierer schlägt. Seit die blicken, daß ein anderer seiner Zöglin- Montag bekam Kinkel im Präsidium der Partei zerfällt, sucht jeder nur sich selbst ge, Günter Verheugen, der zur SPD FDP wenigstens ein Minimum an Soli- aus den Trümmern zu retten. entlief, dem Ziehvater mehr Freude be- darität. Als einziger von drei Genscher-Zöglin- reitet als der amtierende Außenmini- Die Liberalen könnten es nicht ver- gen hat Kinkel politisch überlebt. Jürgen ster. Genscher freue sich, so wird eine kraften, beschworen ihn seine Partei- Möllemann verlegte er den Weg an die seiner typischen Bemerkungen kolpor- freunde, wenn er sie im Stich lasse. Sie Spitze der Partei, zerstörte ihm auch sei- tiert, „wenn mein richtiger Nachfol- führten ihm die chaotischen Auswirkun- ne Machtbastion in Nordrhein-Westfa- ger eines Tages ins Amt kommt“. Über gen vor Augen, die Turbulenzen für die len. In ihm hat Kinkel einen unversöhnli- solche Späße kann Kinkel gar nicht Koalition, wenn er alle Ämter niederle- chen Widersacher, der auf Revanche lachen. ge. Auch von „Staatskrise“ war die Re- sinnt und „die Geheimdienstmethoden“ Auch Wolfgang Gerhardts Auftritt in de. Kanzler Helmut Kohl bat telefo- des Vorsitzenden anprangert: „Wer ihn Gera hatte ihn nicht froh gestimmt. Ge- nisch darum, daß Kinkel jeden Ab- bedroht, wird erschossen.“ gen die Verdächtigungen, er habe sich schiedsgedanken fahren lasse. Irmgard Schwaetzer, verhinderte Par- mit seiner kritischen Rede auf dem Par- Doch das Verhältnis zwischen Kinkel tei- und Fraktionsvorsitzende, für einen teitag schon um den Parteivorsitz be- und seiner Partei ist zerrüttet. Die Krise Tag designierte Außenministerin, ge- worben, wehrte sich der Kinkel-Vize al- ist lediglich bis zu den nächsten Land- scheiterte Bauministerin, ausgebootet lerdings vehement. Es sei nicht seine

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Art, sich nach vorne zu drängen, be- hauptete er, deshalb seien auch seine CSU Verdienste nicht richtig aufgefallen. Aber der Argwohn bleibt, der „schnar- chende Löwe von Wiesbaden“, wie ihn Spötter nennen, halte sich begierig bereit „Ich kann die CDU – unterstützt von seinem hessischen Landsmann Hermann Otto Solms. Der Bonner Fraktionschef Solms ver- stand es bislang nahezu meisterlich, nur warnen“ überall mitzumischen, ohne dafür ver- antwortlich sein zu wollen. Schon seit Interview mit Staatsminister Erwin Huber über Schwarz-Grün und FDP langem gilt er als einer der unheilvollen Einflüsterer Kinkels. Er sei es, der, ho- fiert von Kanzler Kohl und dem Frakti- SPIEGEL: Herr Huber, auch in Ihrer Huber: Auch Glos hält politische Zu- onschef der Union, Wolfgang Schäuble, Partei ist Streit um den richtigen Um- sammenarbeit mit den Grünen für un- der FDP ständige Kompromisse aufnöti- gang mit den Grünen ausgebrochen. Sie möglich. Ich gehe weiter: CSU und Grü- ge, werfen ihm Fraktionsgegner vor. nannten die Ökos vor kurzem noch ne verhalten sich wie Feuer und Wasser, Auch Solms hält mittlerweile Distanz „extremistisch“. Michael Glos dagegen, da führt kein Weg zueinander, verläßli- zum doppelten Amtsträger Kinkel. Auf- der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe che Politik ist mit denen nicht zu ma- fällig fanden es viele Liberale, daß er in in Bonn, hält sie für „eine ganz normale chen. Viele Positionen der Grünen tra- Gera kein gutes Wort für Kinkel fand. Partei“. gen einen starken radikalen Zug und Der Fraktionschef habe ausdrücklich er- rütteln an den Grundfesten klärt, daß er nicht auf die Rednerliste unseres Staates. wollte, erfuhren sie zu ihrem großen Er- SPIEGEL: Über Schwarz- staunen nachträglich. Und in der Haus- Grün wird ja nur spekuliert, haltsdebatte des Bundestages vorige weil CDU und CSU Antje Woche überließ Solms die Verteidigung Vollmer zur Bundestagsvize- Kinkels ausgerechnet Helmut Kohl. präsidentin mitgewählt ha- Der Kanzler hatte allerdings nicht ben. Vorsorge getroffen, daß die angeschla- Huber: Ich sehe mit Sorge, gene FDP von der Union, die den Mitre- daß durch die Wahl von Frau genten unbedingt braucht, geschont Vollmer in der CDU eine wird. schwarz-grüne Diskussion in Daß CDU-Innenminister Manfred Gang gesetzt wurde. Ich Kanther in der Debatte wieder die alten kann die CDU nur warnen, Forderungen nach Lauschangriff und auf diesem Weg fortzufah- dem Einsatz von Geheimdiensten gegen ren. Diese Linksbewegung organisierte Kriminalität forderte, fan- würde die CSU auf keinen den die Liberalen „unverschämt“. Diese Fall mitmachen. Lieblingsvorhaben der Union waren in SPIEGEL: Wäre das der den Koalitionsgesprächen bewußt ausge- „Riß“, vor dem Bayerns Mi- klammert worden. nisterpräsident Edmund Stoi- Darüber werde er mit dem Kanzler ber warnt? sprechen, suchte Solms die Aufmüpfigen Huber: Ja. CDU und CSU zu beruhigen. „Was da hinter verschlos- können grundlegende Wei- senen Türen beredet wird“, höhnte Möl- chenstellungen nur miteinan- lemann, „wird die Öffentlichkeit sehr be- der treffen. Eine schwarz- eindrucken.“ grüne Koalition wäre ver- Immerhin raffen sich die Liberalen hängnisvoll. Sollte sich die nun zu guten Vorsätzen auf. CDU zu den Grünen hinwen- Im Januar ist die Abgrenzung zur Uni- den, ohne diesen Schritt vor- on Thema einer Fraktionssondersitzung. her mit uns zu erörtern, wäre Für den nächsten Parteitag im Juni ver- der Riß zwischen den Schwe- langt der von Ex-Innenminister Gerhart

M. DARCHINGER sterparteien da. Baum angeführte „Freiburger Kreis“ ei- SPIEGEL: Viel Zeit bleibt Ih- ne Diskussion über die Rolle von Solms. Erwin Huber nen nicht, einen neuen Koali- „Die Fraktion kann sich nicht einfach tionspartner zu suchen – die über die Partei hinwegsetzen“, so Baum, ist fast unbemerkt einer der wichtigsten Politi- Selbstzerfleischung der FDP „da gibt es erhebliche Spannungen.“ ker in der CSU geworden. Als Leiter der Münch- in Gera war doch nichts an- Wahrscheinlich werden dann aber grö- ner Staatskanzlei – zuständig auch für die Euro- deres als der Startschuß zum ßere Ereignisse die liberalen Gemüter papolitik – soll er das Scharnier sein zwischen Zerfall der Bundesregierung. bewegen. Gehen die Landtagswahlen in Parteichef Theo Waigel und Ministerpräsident Huber: Die Koalition steht. Hessen (19. Februar) und Nordrhein- Edmund Stoiber. Huber, 48, war 1987 als Abge- SPIEGEL: Noch. Westfalen (14. Mai) verloren, wird nie- ordneter von Franz Josef Strauß entdeckt wor- Huber: So wie Kinkel ist noch mand Kinkel vom Rücktritt zurückhal- den, stieg zum CSU-Generalsekretär auf. Zum kein Parteivorsitzender be- ten, ist die düstere Prognose – mit un- Jahreswechsel gibt der gelernte Finanzbeamte handelt worden. Wer seinen absehbaren Folgen: raus aus der Koali- und studierte Ökonom Huber sein Amt als Gene- eigenen Parteichef so demon- tion, ab in die Opposition, Große Ko- ralsekretär an Bernd Protzner ab. tiert, wird vom Wähler nicht alition? Y mehr ernst genommen.

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Union als konservative, bürgerliche, na- tionale und liberale Kraft die politische Mitte abdeckt und dabei bis an den äu- ßersten rechten Rand des demokrati- schen Spektrums geht. SPIEGEL: Dann müßten ja Geißler und Schäuble schleunigst ihre Flirts mit den Grünen einstellen? Huber: Für Geißler trifft das zu. Bei Schäuble, diesem strategischen Kopf, unterstelle ich, daß er für die eigene Mehrheit zu gewinnen ist. Ich warne die in der CDU, zum Beispiel in Bremen, in Nordrhein-Westfalen oder in der Jungen Union, die Schäubles taktischen Schach- zug als Koalitionsangebot interpretieren. Leider hat in der CDU eine falsche Dis- kussion begonnen. Die Grünen sind kei- ne wertkonservative, sondern eine links- radikale Partei. SPIEGEL: Was ist denn die Alternative zur absoluten Mehrheit – eine Große Ko- alition? Huber: Ich sehe hier aus der Nähe zu Österreich, wie sehr eine Große Koaliti- on ein Land lähmt. Das ist nicht wün- schenswert. Aber die SPD ist –anders als die Grünen – eindeutig eine demokrati- sche Partei, wenn auch mit einem star- ken, noch wachsenden linken Flügel. Und es gibt diese Vernunftbündnisse in

M. DARCHINGER Mecklenburg-Vorpommern, in Thürin- Huber-Parteifreunde Glos, Waigel, Grüner Fischer: Falsche Diskussion gen, in Berlin und in Baden-Württem- berg. SPIEGEL: Kommt der Regierung bald auch die mentale Bereitschaft aufbrin- SPIEGEL: Helmut Kohl will über 1998 der Außenminister abhanden? gen, für die eigene Mehrheit zu kämp- hinaus nicht mehr zur Verfügung stehen. Huber: Ich bin doch zuversichtlich, daß fen. Franz Josef Strauß hat von einer derarti- bei der FDP die vernünftigen Kräfte SPIEGEL: Das meinen Sie ernst? gen Botschaft aus Oggersheim immer ge- über die Lust am Chaos siegen. Wenn Huber: Keine Sorge, ich leide nicht unter träumt. Haben wir jetzt den Jubel aus die FDP diese Koalition zu Fall bringt, einem Hirngespinst. Wenn die FDP Bayern überhört? ist das nämlich ihr eigener Untergang. scheitert, haben wir eine völlig veränder- Huber: Das ist kein Grund zum Jubeln. SPIEGEL: Aber mit wem will die Union te Parteienlandschaft. Weder Reps noch Ich halte es für falsch, wenn ein Politiker koalieren, wenn die Liberalen ausfal- DVU noch PDS werden 1998 eine Chan- Jahre vorher ein Datum für die Beendi- len? ce haben. Dann gibt es noch vier Partei- gung seiner Arbeit nennt. Ich glaube, Huber: Für den Fall, daß die FDP in en im Bundestag: CDU, CSU, SPD und Helmut Kohl sieht das inzwischen auch weitere Schwierigkeiten gerät, müssen Grüne. so. SPIEGEL: Woher sollen die Prozente für eine absolute Mehrheit kommen ? „Die Union muß 1998 Huber: Vom jüngsten Bundestagswahler- die absolute gebnis der FDP – 6,9 Prozent – darf man mit Sicherheit drei Prozentpunkte Wäh- Mehrheit anstreben“ ler zurechnen, die mit der FDP nichts am Hut hatten, aber Kohl als Kanzler woll- CDU und CSU den Mut aufbringen, ten. Selbst wenn die FDP abtaucht, ge- die Bürger um eigene Mehrheiten zu hen diese Wähler nicht unter. Wenn sie bitten. uns wählen, sind wir von der eigenen SPIEGEL: Etwa bei vorgezogenen Neu- Mehrheit nicht mehr so weit weg. SPD wahlen? und Grüne werden, trotz aller Vorgänge Huber: Nein. Soweit wird es nicht in den letzten Wochen, in Zukunft im kommen. Aber für 1998 müssen wir Gleichschritt gehen. Deswegen müssen dann eine absolute Mehrheit für CDU/ wir das strategische Ziel der eigenen ab- CSU anstreben. soluten Mehrheit ins Auge fassen. SPIEGEL: Nach dürftigen 41,5 Prozent SPIEGEL: Muß sich dann die CDU nicht für die Union bei den Bundestagswah- von der Mitte nach links bewegen, wie es len 1994? Heiner Geißler schon lange fordert und Huber: Ich bin überzeugt, daß wir als Wolfgang Schäuble mit der Vollmer-

Union alleine stärker werden als Rot- Wahl erneut angestoßen hat? KARWASZ

Grün. Für die PDS wird der Trend Huber: Eine Bewegung von der Mitte K.-B. nach unten gehen. Wenn die FDP aus- nach links wäre sinnlos. Die eigene Christdemokrat Schäuble fällt, müssen CDU und CSU allerdings Mehrheit ist nur zu erreichen, wenn die „Einer der klügsten Köpfe“

30 DER SPIEGEL 51/1994 SPIEGEL: Verlangt die CSU von Kohl, ihr unverwechselbares Profil verliere. daß er das Ende seiner Dienstzeit hin- Aber vergessen Sie nicht: Wir sind nach ausschiebt? den jüngsten Wahlen so stark wie kaum Huber: Wir haben kein Recht, über jemals zuvor in der Nachkriegszeit. Kohls Lebensplanung zu verfügen. SPIEGEL: Davon ist nichts zu spüren. Aber wenn die CSU 1998 wie im Jahre Die CSU ist leise und handzahm gewor- 1994 meint, die Wahl sei nur mit Kohl den wie nie. zu gewinnen, werden wir ihm diese Ein- Huber: Das sehe ich anders. Die Koaliti- schätzung unterbreiten. Dann könnte onsvereinbarung läßt deutlich unsere ich mir vorstellen, daß er als Pflicht- Handschrift erkennen: schlanker Staat, mensch auch über 1998 hinaus zur Ver- klare Finanzpolitik, Schwerpunkt innere fügung steht. Sicherheit. Wir sind Realpolitiker, kei- SPIEGEL: Wird die CSU ansonsten eige- ne Maulhelden. ne Kandidaten nominieren? Oder findet SPIEGEL: Wäre die CSU als Landesver- sie sich damit ab, daß die CDU die band der CDU nicht besser aufgeho- Kohl-Nachfolge unter sich ausmacht? ben? Auf Schäuble, der schon als geschäfts- Huber: Wir sind kein Landesverband der führender Kanzler apostrophiert wird, CDU und werden nie einer werden. Die hat Kohl schon häufig mit dem Finger weiß-blaue Eigenständigkeit steht nicht gezeigt. zur Disposition. Davon profitiert auch

Die zoologische Sensation Kölner Stadt-Anzeiger

Huber: Ich sehe in dieser Sache weder Helmut Kohl. Als zu Jahresbeginn in einen Fingerzeig der Geschichte noch der CDU Zweifel aufkamen, ob die einen von Helmut Kohl. Schäuble ist ei- Unionsparteien mit Kohl die Wahlen ner der klügsten Köpfe in der deutschen gewinnen würden, hat die CSU jede Politik. Aber es gibt weder in der Ver- Personaldiskussion unterbunden und fassung noch de facto einen geschäfts- sich für Kohl engagiert. Als die CDU führenden Kanzler. Ich sehe Schäuble mit ihrem Präsidentschaftskandidaten nicht in dieser Position. Er ist auch kein Steffen Heitmann scheiterte, war es die Kronprinz, und in der Demokratie gibt CSU, die Roman Herzog präsentierte. es keine stille Erbfolge. Es ist schon Vorher hatten wir eine weitere CDU- mancher als Papst ins Konklave gegan- Idee verhindert, die Wahl eines Sozial- gen und als Kardinal herausgekommen. demokraten zum Staatsoberhaupt. Wenn die Zeit da ist, wird sich die CSU SPIEGEL: Sie sprechen von Schäubles kräftig zu Wort melden. Ohne Zustim- Vorschlag, den ostdeutschen Sozialde- mung der CSU gibt es keinen Unions- mokraten Richard Schröder zu wählen. kandidaten. Huber: Das wäre im Mai ein unmögli- SPIEGEL: Hat die CSU überhaupt geeig- cher strategischer Auftakt gewesen, nete Kandidaten? Von Theo Waigel wenn man im Juni, September und Ok- heißt es, er stehe nicht zur Verfügung. tober die Sozialdemokraten bekämpfen Huber: Theo Waigel hat von Schwierig- muß. Das verhindert zu haben ist ein keiten gesprochen, weil die CSU dann Verdienst der CSU. Y

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Parteien Düsteres Quartier Unionspolitiker wollen die Anerkennung einer PDS-nahen Stiftung verhindern.

ichael Glos, 50, Vorsitzender der CSU-Landesgruppe in MBonn, sieht die demokratische Grundordnung bedroht: Sozialistische „Kaderschulungen“, ahnt der Bayer, würden künftig „mit Steuergeldern“ fi- nanziert.

Schuld an den schlimmen Ahnungen VISIONS-PHOTOS ist die PDS. Die Truppe Gregor Gysis

fordert öffentliche Mittel für eine Stif- A. KULL / tung zur politischen Bildungsarbeit – so PDS-Bittsteller Gysi: Hilfe vom Verfassungsgericht? wie die anderen Bonner Parteien sie auch bekommen. Im übrigen, so befanden die Haushäl- „interessanten Programme“ mit „sach- Obwohl diese Art der mittelbaren ter, sei für das Begehren der PDS das kundigen Referenten“. Parteienfinanzierung seit Jahren verfas- Innenministerium zuständig. Ähnlich sieht es die Bonner Bundes- sungsrechtlich und politisch umstritten Dort ging ein Schreiben der PDS-na- zentrale für politische Bildung. In einem ist, beziehen die parteinahen Stiftun- hen Stiftung „Gesellschaftsanalyse und internen Bericht erhielten die Postkom- gen jährlich mehr als 600 Millionen politische Bildung e. V.“ von 1992 zu- munisten für ihre Bildungsarbeit das Mark aus dem Bundeshaushalt für po- nächst einmal verloren. Im April 1994 Prädikat „didaktisch einwandfrei“. Dar- litische Bildung im In- und Ausland, schließlich bestätigte das inzwischen um empfahl die Bundeszentrale, den für Entwicklungshilfe, Seminare und von Manfred Kanther (CDU) geführte PDS-nahen Berliner Verein „Helle Pan- die Förderung von wissenschaftlichem Haus den Eingang eines zweiten Schrei- ke e.V.“ ebenso wie andere politische Nachwuchs. Nun, da auch die PDS an bens. Bildungsvereine projektbezogen zu för- die Tröge will, ist der jahrzehntelang Mehr kam nicht. Auf Antwort und dern. gepflegte Deal der Bonner Parteien in Geld warten die PDS-nahen Stiftungs- In den Ost-Ländern werden regionale Gefahr. gründer, die in bescheidenen Räumen PDS-Stiftungen derzeit angemessen be- Denn Genossen von der PDS haben im dritten Stock der Redaktion des Neu- dient. Im CDU-regierten Sachsen erhält die Bonner Finanzpraktiken erneut da- en Deutschland zur Untermiete residie- die Landesstiftung der PDS jährlich hin gebracht, wohin sie nach Ansicht ren, bislang vergebens. rund 200 000 Mark aus Steuergeldern, von Kritikern lange gehören: zum Bun- Die Stiftung Gesellschaftsanalyse, die soviel wie die Stiftungen von Bündnis desverfassungsgericht. im April in „Rosa-Luxemburg-Stiftung“ 90/Die Grünen und FDP. Aus Karlsruhe erhoffen sich die umbenannt werden soll, lebt derzeit von Auch in Brandenburg stimmte die SED-Nachfolger Hilfe gegen die hart- Spendengeldern aus PDS-Kreisen und CDU einer Vereinbarung zu, nach der näckige Blockade ihrer Stiftungspläne. wirtschaftet mit einem schmalen Jahres- der PDS-nahe „Rosa-Luxemburg-Ver- Seit 1991 versucht die PDS vergebens, etat von 50 000 Mark. Zum Vergleich: ein“ jährlich 240 000 Mark für Seminare Fördergelder für ihre politische Bil- Der Stiftungsverband Regenbogen von und Veranstaltungen kassiert. In Berlin dungsarbeit zu bekommen. Bündnis 90 / Die Grünen erhält pro Jahr bekommt die „Helle Panke“, die in Pan- Gleich nach dem erstmaligen Einzug mehr als 25 Millionen aus Bundesmit- kow in einem Kellerquartier haust, jähr- in den Bundestag hatte Gysi den da- teln. lich 92 000 Mark aus Landesmitteln. maligen Innenminister Wolfgang Auch die PDS, deren geschätztes Alt- Normalität im Umgang mit den bil- Schäuble (CDU) schriftlich gebeten, vermögen von 1,8 Milliarden unter treu- dungswilligen PDS-Genossen empfiehlt ihm die Schritte zur Anerkennung ei- händerischer Verwaltung steht, kann Helmut Wieczorek, SPD-Bundestagsab- ner Stiftung zu erläutern. oder mag nichts in die Stiftung buttern. geordneter und neuer Vorsitzender des Schäuble verwies Gysi an den Haus- Wissenschaftler, die bei den Gesell- Haushaltsausschusses: „Eine Partei, die haltsausschuß. Doch dort stießen die schaftsanalytikern etwa über die „Viel- am demokratischen Leben in den Parla- Postkommunisten auf entschlossene falt marxistischen Denkens“ philoso- menten teilnimmt, kann man nicht von Ablehnung. Das Bundesverfassungsge- phieren oder Eindrücke über „China der politischen Bildungsarbeit ausschlie- richt, wurden die Bittsteller belehrt, heute“ vermitteln, erhalten so statt ei- ßen.“ billige lediglich den „dauerhaften, ins nes Honorars allenfalls die Fahrtkosten Die Sturheit hilft der Union voraus- Gewicht fallenden politischen Grund- erstattet. sichtlich wenig. Die PDS hat gute Chan- strömungen“ Stiftungsgelder zu. Die Dabei werden die Veranstaltungsan- cen, vom Bundesverfassungsgericht ih- „Dauerhaftigkeit der PDS“ so immer gebote auch von politischen Gegnern ren Anteil am Polit-Topf zu bekommen noch die Logik des CDU-Haushalts- der PDS geschätzt. Jens Reich, 55, in – auf Kosten der anderen. ausschußobmanns, Adolf Roth, sei der DDR Bürgerrechtler und Mitbe- Der PDS-Anwalt Nikolaus Piontek „nicht erwiesen“. gründer des Neuen Forums, lobt die erwartet, „daß das Bundesverfassungs-

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gericht bei dieser Gelegenheit Grund- DDR-Zeiten in der Wirtschaftsabtei- sätzliches zur Finanzierung von Stiftun- lung der SED-Kreisleitung Bernburg tä- gen sagt“. Womöglich droht den Partei- tig, fühlte sich kompetent und hoffte auf stiftungen eine komplette rechtliche 50 000 Mark Profit. Neuordnung ihrer Arbeit. Für rund 210 000 Mark, das sind zwei Piontek setzt darauf, daß das Bundes- Drittel des liquiden Parteivermögens in verfassungsgericht, traditionell streng Sachsen-Anhalt, sicherte er sich im Juni mit den Parteifinanzen, künftig auch Dollar-Optionen – in der Hoffnung, daß den Stiftungsfinanzen enge Grenzen es mit dem Klassenfeind, der amerikani- setzt. Y schen Wirtschaft, bergauf gehe. Doch der US-Imperialismus zeigte sich von seiner niederträchtigsten Seite – der Spekulanten Dollar-Kurs fiel. Bernhardts Option, Dollar zu einem bestimmten höheren Kurs zu kaufen, war kaum mehr etwas wert. Mist gebaut Optionsgeschäfte sind nur etwas für hartgesottene Spekulanten, sie gleichen Bei riskanten Dollar-Geschäften hat Wetten: Wer auf den steigenden Dollar die PDS in Sachsen-Anhalt zwei setzt, verliert seinen Einsatz, wenn der Kurs der US-Währung zum festgelegten Drittel ihres Vermögens verspielt. Zeitpunkt gesunken ist. Zerknirscht räumt Bernhardt, 41, olf Bernhardt hatte für seine Partei jetzt seinen Schreibtisch im Magdebur- stets „nur das Beste“ im Sinn. Als ger PDS-Hauptquartier. Am Dienstag Rein „seriöses Geldmakler-Unter- vergangener Woche trat der Landes- nehmen aus dem Stuttgarter Raum“, so schatzmeister von seinem Amt zurück. der PDS-Schatzmeister in Sachsen-An- Der gescheiterte Gehversuch im Ka- halt, ihm eine „interessante Offerte“ pitalismus trifft aber auch den PDS-Lan- machte, sah der Sozialist die Parteikasse desvorsitzenden Roland Claus. Er war schon anschwellen. offenbar früher über die riskanten Ge- In einem Werbebrief hatten die Fi- schäfte seines Kassenwartes informiert nanz-Jongleure aus Baden-Württem- als bisher zugegeben. Schon Anfang berg ausgerechnet dem früheren SED- September, sagt Claus inzwischen, habe Kreissekretär zu mehreren Dollar-Ter- Bernhardt „entsprechende Andeutun- mingeschäften geraten. Bernhardt, zu gen gemacht“. Damals, bestätigt auch Bernhardt, habe er seinem Chef zunächst vorsichtig ge- beichtet, „daß ich Parteigel- der angelegt habe, die sich kurzfristig nicht ohne Verlu- ste zurückholen lassen“. Über Details des dubiosen Deals wollte Claus jedoch nichts hören. Er gab Bern- hardt lediglich die Anwei- sung, die Panne bis zu einer geplanten Vorstandssitzung am 3. Dezember zu klären. Einen Tagvordiesem Termin offenbarte der Schatzmeister seinem Vorsitzenden das Ausmaß der Misere: „Ro- land, ich habe Mist gebaut.“ Claus, Kronprinz von PDS-Chef Lothar Bisky, sorgt sich nun eher um den politischen Schaden als um den finanziellen Verlust: „Die Sache hat eine verhee- rende Innenwirkung.“ Denn mit dem PDS-Parteipro- gramm sind solche Spekulati- onsgeschäfte schwer verein- bar. Bernhardt verteidigt sei- nen Verrat an der sozialisti- schen Lehre: „Wir leben

K. HOFFMANN / PRINT nicht mehr auf der Insel Rü- Ehemaliger Schatzmeister Bernhardt gen, wo abends der Damm Interessante Offerte hochgeklappt wird.“ Y

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gandadelikten wie Volksverhetzung – rem Land?“), ermittelt die Staatsan- Rechtsextremisten oder weil ihre Vereine illegal weiterge- waltschaft Frankfurt erneut gegen Dek- führt werden. kert. Nur selten machen sich die Funktio- Auch Christian Worch, 38, Kopf der näre selbst die Hände so schmutzig wie Nationalen Liste in Hamburg und einer Ein bißchen etwa der Ex-NPD-Vorsitzende von Ha- der wichtigsten Strippenzieher der deut- genow in Mecklenburg, Rüdiger Kla- schen Neonazis, sitzt voraussichtlich sen. Das Landgericht Schwerin hat ihn bald hinter Gittern. Weil er die Akti- stiller am Freitag vergangener Woche wegen onsfront Nationaler Sozialisten / Natio- versuchten Mordes zu dreieinhalb Jah- nale Aktivisten trotz Verbot weiterge- Die Führungsriege der Neonazis ren Haft verurteilt, weil er im Juli vor führt hatte, hat ihn das Landgericht kommt hinter Gitter. Neue Verbote zwei Jahren den Überfall auf ein Asyl- Frankfurt vor drei Wochen zu zwei Jah- bewerberheim organisiert hatte. ren Haft verurteilt. verunsichern die Szene weiter. Da sich die Angeklagten in der Regel Der Notargehilfe, so argumentierten als Überzeugungstäter präsentieren, se- die Richter, deren Entscheidung aller- wald Althans, 28, Yuppie unter den hen die Richter aber auch bei vorsichti- dings noch nicht rechtskräftig ist, sei ein Neonazis, gab sich stets siegesge- geren Kameraden keinen Anlaß mehr, Überzeugungstäter mit „pathologischer Ewiß. Ob zu Hause in München oder Milde walten zu lassen. Auf eine länge- Realitätsblindheit“. in Cottbusser Kaschemmen, allerorten re Haft vorbereiten muß sich deshalb In Berliner Untersuchungshaft sitzt beteuerte der Rechtsextremist seine seit vergangenen Donnerstag auch der seit August bereits Worchs Mitkämpfer „strikte Legalität“ und schwor, „niemals NPD-Vorsitzende Günter Deckert. Arnulf Winfried Priem, bis zum Verbot gegen Gesetze zu verstoßen“. Der Bundesgerichtshof verwarf die Ende 1992 Landeschef der Deutschen Die Demonstration rechter Recht- weltweit kritisierte Entscheidung des Alternative in der „Reichshauptstadt“. schaffenheit ist zu Ende: Das Landge- Landgerichts Mannheim, das Deckert Priem, der von seinem Anrufbeantwor- richt München I hat Althans ter MG-Salven ertönen läßt, muß we- unter anderem wegen Volks- gen NS-Propaganda mit mehreren Jah- verhetzung zu 18 Monaten ren Knast rechnen. Freiheitsstrafe ohne Bewäh- Doch selbst vor Gerichtsterminen ge- rung verurteilt. Althans habe, rieren sich manche Neonazis noch so die Richter am Donnerstag kämpferisch. So wird in Stuttgart dem- vergangener Woche, auf Pro- nächst wieder Michael Swierczek vor pagandavideos den Holocaust Gericht stehen, Chef der seit Dezember bestritten und verbotene NS- 1992 verbotenen Nationalen Offensive. Symbole wie Hakenkreuz und Der Staat, wettert Swierczek, wolle Hitler-Gruß gezeigt. seine rechten Gegner „in alter deut- Neben Althans stehen auch scher Tradition mit Richtern, Scharf- andere Kämpfer aus der richtern und Henkern fertigmachen“. Führungsriege der deutschen Doch dies, hofft der stramme Rechte, Rechtsextremisten vor mehr- bringe allenfalls „kurzfristig Entlastung jährigen Haftstrafen. Nach- für dieses System“. Zwar sei es an dem Richter und Staatsanwäl- der rechten Basis „ein bißchen still te jahrelang deutliche Nach- geworden“. Langfristig aber werde sicht gegenüber Rechtsextre- „die Sonne über der Szene nicht unter- misten haben walten lassen, gehen“. Y nutzen sie nun immer öfter die Schärfe des Gesetzes. Die hohen Haftstrafen ver- RAF unsichern nun auch die An- hänger der Nachwuchs-Füh- rer. Mit neuen Verboten gegen rechtsradikale Organisationen Neue will die Bundesregierung die Rechten jetzt noch weiter aus- einandertreiben. Beweise

So plant das Bundesinnen- W. M. WEBER ministerium, die Deutschen Neonazi Althans Mit einem neuen Terroristen-Pro- Nationalisten zu verbieten, da- Hakenkreuz und Hitler-Gruß zeß soll nach 18 Jahren der zu die Hilfsorganisation für na- tionale Gefangene und deren Angehöri- im Juni wegen Leugnung des Holocausts Mord an Arbeitgeber-Präsident ge, die Direkte Aktion/Mitteldeutsch- zu einer Haftstrafe von einem Jahr auf Schleyer aufgeklärt werden. land und die NPD-Jugendorganisation. Bewährung verurteilt hatte. Das Urteil Die rechtsextremistischen Gruppen mit sei zu milde, rügten die Karlsruher ihren insgesamt etwa 700 Mitgliedern Richter. ie Gäste im kleinen Pariser Hotel wettern gegen den „jüdischen Kapitalis- Weitere Verfahren könnten den Haft- „Flatters“ verhielten sich auffällig. mus“ und diffamieren die Bundesrepu- aufenthalt des NPD-Propagandisten DMal sprachen sie leise deutsch, mal blik als „kaputten Staat“. noch zusätzlich verlängern. Wegen eines flüsterten sie auf französisch, selbst tags- Die gegen sie verhängten Verbote diffamierenden Briefes an das Präsidi- über blieben sie auf ihren Zimmern. könnten Vorlagen für weitere Urteile umsmitglied des Zentralrates der Ju- Dort hatten sie optisches Spezialgerät liefern. Denn abgestraft werden rechte den in Deutschland, Michel Friedman in Stellung gebracht. Die Beamten des Anführer in aller Regel wegen Propa- („Was suchen Sie also noch hier in unse- deutschen Bundeskriminalamtes und

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der französischen Brigade criminelle ob- Im Frühling nächsten Jahres müßte So gab Werner Lotze, 42, den „Ein- servierten, schlecht getarnt als Touri- Hofmann entlassen werden. Kurz vor druck“ zu Protokoll, sie habe „zu den sten, eine Wohnung gegenüber, in der dem Ende der Strafzeit droht der ehe- Köpfen“ der Terrortruppe gehört. Rue Flatters Nummer 4. maligen RAF-Frau die neue Anklage, Deutlicher wurde Monika Helbing, 41; Nach mehreren Tagen, am 5. Mai die lebenslangen Freiheitsentzug bedeu- sie hatte jene Wohnung gemietet, die 1980, kam der Befehl zum Zugriff. Fünf ten könnte: Sieglinde Hofmann, 49, anfangs Schleyers Gefängnis war. Frauen aus Deutschland, drei von ihnen soll, so die Bundesanwaltschaft, 1977 Auf die Frage eines Ermittlers, ob terrorismusverdächtig und weit oben auf beim blutigen Schleyer-Attentat in Köln Schleyer getötet werden mußte, antwor- den Fahndungslisten, wurden festge- eine führende Rolle gespielt haben. tete Helbing, daß es nicht ihre Entschei- nommen – darunter auch Sieglinde Hof- Mit den Morden an dung gewesen sei, son- mann. Sie trug eine geladene Neun-Mil- Generalbundesanwalt dern die jener Leute, die limeter-Pistole, 14schüssig. Siegfried Buback und in der Gruppe das Sagen Ihren Fall will die Bundesanwalt- Banker Ponto war da- gehabt hätten. Vier Na- schaft nun wieder aufrollen. Kommt es mals der Terror eskaliert. men nannte sie, an zwei- zum Prozeß, würde der spektakulärste Schließlich verschlepp- ter Stelle stand Sieglinde Terrorakt der deutschen Geschichte ten Mitglieder der RAF Hofmann. nach 18 Jahren in einem neuen Anlauf Hanns Martin Schleyer Während die Bun- juristisch aufgearbeitet: der bislang und töteten ihn sechs desanwaltschaft nach nicht restlos aufgeklärte Mord an Hanns Wochen später. Drei den Geständnissen der Martin Schleyer, dem Präsidenten der Polizisten und sein Fah- DDR-Aussteiger neue Bundesvereinigung der Deutschen Ar- rer waren bei der Entfüh- Anklagen formulierte, beitgeberverbände. rung im Kugelhagel des blieb die Inhaftierte bis- Die Entscheidung darüber fällt aber RAF-Kommandos ge- lang unbehelligt. nicht in Karlsruhe, dem Sitz der Bun- storben. Denn bis heute gilt desanwälte. Das letzte Wort haben die Das Ziel, Kampfge- der völkerrechtliche Richter eines anderen Staates – Frank- nossen aus der Haft frei- Vorbehalt, unter dem reichs Justiz könnte nach dem interna- zupressen, erreichten sie Ex-Terroristin Hofmann sie 1980 von den Franzo- tionalen Auslieferungsrecht die neue freilich nicht. sen ausgeliefert worden Anklage blockieren. Starker Fahndungsdruck spaltete zu- war: Danach darf sie nur für Verbre- Zwei Monate nach ihrer Verhaftung dem bald nach dem Schleyer-Mord die chen bestraft werden, für die eine Aus- war Sieglinde Hofmann (Deckname: RAF. Mehrere Kommandomitglieder lieferung bewilligt wurde. Damals aber „Karo“) an die Bundesrepublik ausge- wurden gefaßt, drei bei Polizeieinsätzen mußten sich die Fahnder noch auf den liefert und 1982 zu 15 Jahren Haft verur- getötet, etliche blieben verschwunden – Fall Ponto und Hofmanns RAF-Mit- teilt worden – wegen Mitgliedschaft in sie waren in der DDR abgetaucht. gliedschaft beschränken. der terroristischen Vereinigung Rote Als der zerbröckelnde SED-Staat sie Vor weiteren Anklagen, so verlangt Armee Fraktion (RAF) und ihrer Betei- 1990 preisgab, packten die meisten aus – es das zwischenstaatliche Recht, muß ligung am Fall Jürgen Ponto, dem Chef in der Hoffnung auf eine großzügige eine neue Auslieferungsbewilligung er- der Dresdner Bank, der im Juli 1977 Kronzeugenregelung. Immer wieder be- teilt werden. Erst dann kann es zu ei- nach einer gescheiterten Entführung er- lasteten sie eine ehemalige Gefährtin: ner Mordanklage im Fall Schleyer schossen wurde. „Karo“ alias Sieglinde Hofmann. kommen. Vor fast vier Jahren hat Karlsruhe die ein- schlägigen Akten mit den belastenden Aus- sagen nach Paris gelie- fert. Ende Juni 1993 stimmte das Pariser Appellationsgericht dem deutschen Begeh- ren zu, drei Monate später bestätigte die zweite Instanz den Spruch. Im Juni dieses Jahres gab auch die Regierung ihr Plazet. Gegen diesen Ent- scheid hat Hofmann als letzte Instanz den Conseil d’Etat angeru- fen, das höchste fran- zösische Verwaltungs- gericht. Wann die Richter entscheiden, ist noch ungewiß. „Die zuständige Abtei- lung“, so eine Beam- tin, werde die Vorun- tersuchung „Ende Ja-

SVEN SIMON nuar, Anfang Februar Tatort der Schleyer-Entführung (1977): Geständnisse der Aussteiger 1995“ abschließen. Y

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ständig für das Inkas- Telekom so, überweist rund die Hälfte der Gebühren an die ausländischen Telefongesellschaften. Häufig naiv Diese führen einen An- teil an die Anbieter der Ein Gericht gab erstmals Servicenummern ab, Telefonkunden recht, die über- die ihre Dienste meist in Boulevardblättern höhte Rechnungen beklagten. annoncieren. Auf ihren eigenen er Kommunikationsriese Telekom Rechnungen blieb die erlebte Ende vergangener Woche Telekom allerdings in Deine Bestätigung von „Murphy’s vielenFällensitzen.Oft law“ – jenem Gesetz, nach dem alles hatten die Gauner mas- schiefgeht, was schiefgehen kann. senhaft Leitungen an- Nachdem am Ende vorvergangener gemietet und waren ab-

Woche bekanntgeworden war, daß die getaucht, als die ersten SEL Firma durch Manipulationen krimineller Zahlungsaufforderun- Telekom-Schaltzentrale: Freie Leitungen angezapft Banden und eigener Mitarbeiter vermut- gen eingingen. lich um viele Millionen Mark betrogen Geschädigt wurde nach dem Stand laut Urteil, daß „Manipulationen auch worden ist, geriet der Gigant unter massi- der Dinge also nur die Telekom. Hin- beider Telekomvorkommen können und ven Druck. Dauernd klingelten die Tele- weise darauf, daß die „Phreaks“ auch daß es sich dabei keineswegs um eine nur fone in der Bonner Firmenzentrale. auf Kosten normaler Kunden telefoniert theoretisch denkbare, praktisch aber zu Doch plötzlich zog peinliche Ruhe ein. haben, lägen bislang, so die Staatsan- vernachlässigende Möglichkeit handelt“. Kontakt zur Außenwelt konnten die Be- waltschaft Köln, nicht vor. Die Richter bemängelten auch, der schäftigten nur noch über eilends zusam- Gleich nach Bekanntwerden des Teilnehmer habe keine Möglichkeit zu mengesuchte Funktelefone halten. „Ein Skandals hatte sich der Verein der Tele- beweisen, daß er nicht telefoniert hat. Software-Fehler“, hieß es später klein- kom-Geschädigten in Essen gemeldet. Denn „ein Privatgutachter des Telefon- laut, habe das ganze System in der Fir- Seit Jahren wird geargwöhnt, daß ab- kunden“, so die Aachener Kammer, „hat menzentrale zusammenbrechen lassen. surd hohe Telefonrechnungen durch keinen Zutritt zu den Einrichtungen“ der Daß die Telekom ihre Technik bundes- Fehler im System zustande kommen. Telekom. weit nicht im Griff hat, haben nun erst- Obwohl Experten das für technisch Derart unter Druck, versuchte der Te- mals auch Richter festgestellt. Mitte ver- möglich halten, ließ die Telekom in der lefongigant vergangene Woche, sich mit gangener Woche entschied das Landge- Vergangenheit Tausende von Beschwer- Ankündigungen Luft zu verschaffen. richt Aachen im Sinne von Telefonkun- den abblitzen. In Dutzenden von Ge- Künftig soll den, die sich über zu hohe Rechnungen richtsverfahren bekam die Telekom i jede Vermittlungsstelle besser über- beklagt hatten. auch recht. Die Richter entschieden da- wacht werden; Nach dem Urteil wird die Monopolfir- bei nach dem Grundsatz des „An- i ein technisches Verfahren den Miß- ma künftig beweisen müssen, daß sie die scheinsbeweises“. Der fußt auf der An- brauch der Leitung durch Fremde aus- Gebühren richtig zählt. Beeinflußt hat nahme, daß die Systeme des Unterneh- schließen;

Zeitungsannoncen für Telefonsex-Dienste: Gestöhne gegen Rechnung

die Juristen offenbar auch die Affäre um mens korrekt arbeiten. Damit muß der i ein Frühwarnsystem den Kunden alar- die Sex-Telefone. Kunde beweisen, daß er die registrier- mieren, wenn ein vereinbartes Gebüh- Sicher ist bislang nur, daß kriminelle ten Gespräche nicht geführt hat. renlimit überschritten ist. Elektroniktüftler freie Telefonleitungen So einfach wird es die Telekom künf- Solche Überlegungen kämen viel zu der Telekom angezapft hatten. Mit elek- tig nicht mehr haben. Das Aachener spät, schimpft der Würzburger Professor tronischen Wählgeräten wurden Service- Landgericht verließ sich erstmals nicht Ulrich Sieber, Experte für Computer- nummern etwa in der Karibik stunden- mehr auf Technik und Treuherzigkeit Strafrecht. Bei der Einführung neuer lang automatisch angerufen – vor allem der Kabelfirma. Techniken werde deren Sicherheit solche, auf denen gegen Rechnung Ge- Die Kammer wies die Klage der Tele- grundsätzlich zu lasch überprüft. „Tech- stöhne zu hören ist. kom auf Zahlung einer Telefonrech- niker sind häufig naiv und sehen, was Bei diesen fingierten Gesprächen lau- nung von 12 721,27 Mark zurück (AZ technisch machbar ist. Die Mißbrauchs- fenenorme Kosten auf. Die Telekom, zu- 11 0 284/94). Denn die Richter glauben möglichkeiten erkennen sie nicht.“ Y

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Bosnien-Hilfe „Ein elendes Verhalten“ Interview mit Mostar-Verwalter Hans Koschnick über eine deutsche Beteiligung auf dem Balkan

SPIEGEL: Die Nato fordert den Einsatz zu früh kam – vor allem wegen der Ser- SPIEGEL: Aber die Schutzzonen der Uno deutscher Kampfflugzeuge über Bos- ben in der kroatischen Krajina, für die ei- würden wahrscheinlich überrannt. nien zum Schutz abziehender Uno-Sol- ne Autonomieregelung vorab hätte ge- Koschnick: In Bihac´ hat man zugelassen, daten. Was hat Vorrang – Bündnis- troffen werden müssen. daß die Krajina-Serben seit Mai die Hilfs- treue oder Zurückhaltung aus histori- SPIEGEL: Die Vereinten Nationen ste- konvois blockieren. Da hätte man doch schen Gründen? hen vor einem Fiasko. Von den 60 Reso- früher aufwachen können. Und als die Koschnick: Gemeinsam mit dem Bun- lutionen, die der Sicherheitsrat zum kroatischen Serben aus der Krajina Luft- deskanzler sage ich: Wir haben Jugo- Konflikt in Bosnien erlassen hat, konn- angriffe gegen Bihac´ flogen, hat nicht die slawien als ein Gebiet gesehen, in dem ten sie kaum eine einzige durchsetzen. Nato, sondern der Sicherheitsrat ent- unsere Truppen im Rahmen der Nato Wollen sie mit einem Rückzug ihr eige- schieden: Es darf bei dem Luftangriff auf wegen der geschichtlichen Belastung nes Versagen besiegeln? den Flughafen Udbina kein serbisches besser nicht eingesetzt werden sollten, Koschnick: Ich glaube nicht an einen Ab- Flugzeug gefährdet werden, kein Öltank schon gar nicht zu Kampfhandlungen. zug. Die Amerikaner wissen seit ihrer und keine Munition soll in die Luft flie- Aber ich schließe nicht aus, daß wir als Verabschiedung aus Saigon, wie verlust- gen. Nur der Beton mußte neu gemischt Teil einer humanitären Blauhelmaktion tätig werden können. Die Vorausset- zung dafür wäre, daß Großbritannien und Frankreich sich klar für eine Be- teiligung deutscher Truppen am Uno- Kontingent aussprechen. SPIEGEL: Also ja zu Blauhelmen für die Friedenssicherung, aber nein zu Kampfeinsätzen der Nato? Koschnick: Jeder deutsche Einsatz muß sorgfältig abgewogen werden, da er zu einer ganz besonderen Belastung auf der serbischen Seite führen wird. Nur: Wenn wirklich Partner von uns hier bedroht sind, dann können und wer- den wir nicht die pazifistische Flöte spielen. Dann haben wir die Pflicht zu helfen. SPIEGEL: Wollen denn Franzosen und Briten die Deutschen wirklich an der Front sehen? Koschnick: Die Integration in die Nato erfolgte seinerzeit, um die Bundesre- publik unter Kontrolle zu halten. Das ist zwar vorbei, aber wir können nicht so tun, als hätten unsere Nachbarn in den 50 Nachkriegsjahren einfach alles vergessen. Noch vor zwei Jahren hat- ten wir einen Riesenkrach wegen Gen-

scher – als uns Briten und Franzosen DPA vorwarfen, daß wir in Jugoslawien Hit- Aufbauhelfer Koschnick in Mostar: „Europa hat seine Mittel nicht genutzt“ ler-Politik betrieben. Fragen Sie mal Genscher, weshalb er nicht für das reich solche Aktionen sind. Und was ge- werden, um die Löcher in der Rollbahn Amt des Bundespräsidenten kandidiert schieht, wenn plötzlich Frauen und Kin- zu flicken. hat. der auf den Straßen sitzen und die Blau- SPIEGEL: Wäre es nach all diesem Zau- SPIEGEL: War die forcierte Anerken- helme zum Bleiben zwingen? dern nicht konsequenter, wenn die Uno nung Kroatiens, Sloweniens und Bos- SPIEGEL: Falls der Ernstfall dennoch abzöge und der Nato freie Hand gäbe? niens verkehrt? eintritt: Wer würde Mostar gegen die Koschnick: Ich persönlich habe das Ge- Koschnick: Ich hatte damals große Be- nahen Serben verteidigen? fühl, die Uno entwickelt sich immer mehr denken, aber der Bundestag drängte Koschnick: Mostar ist eine relativ stabile zum Völkerbund, der zwischen 1935 und auf die Anerkennung, weil wir nach Zone. Die serbische Seite hat die demi- 1937 einem schleichenden Tod entgegen- der deutschen Wiedervereinigung die litarisierte Stadt bisher weitgehend in ging. Aber Deutschland kann sich heute Wünsche anderer Völker nach Selb- Ruhe gelassen. Für die bosnischen Ser- nicht gleichzeitig um einen Sitz im Sicher- ständigkeit nicht ablehnen wollten. Wir ben sind die Straßen interessanter, die heitsrat bewerben und die Uno für über- wissen heute, daß diese Entscheidung zur Adria führen – oder nach Sarajevo. flüssig halten.

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dern, daß zusätzliche schwere Waffen ins Land kommen. Die Forderung der Moslems nach Aufhebung des Waffen- embargos ist eine reine diplomatische Grundsatzposition. Sie wollen deutlich machen, daß der Angegriffene benach- teiligt wird, während der Angreifer gar nicht unter dem Embargo leidet. SPIEGEL: Und wo sehen Sie als Mann vor Ort die Lösung? Koschnick: Ich habe keine Antwort. Außer dem Vorwurf, daß Europa seine politischen und wirtschaftlichen Mittel in den ersten drei Jahren dieses Kon- flikts kaum genutzt hat. Wir verlangen Embargomaßnahmen gegen Serbien von Bulgarien, Mazedonien, Rumänien und Ungarn. Die zahlen den Preis –

REUTER während wir im Westen Forderungen Serbische Freischärler: „Die Waffen kommen über die Nachbarstaaten“ erheben. Bis heute war niemand be- reit, diesen Staaten einen Ausgleich zu SPIEGEL: Würde die Nato die Aufgabe bände nicht neue Artillerie erhalten, sind zahlen. Ein elendes Verhalten. besser erfüllen? in Kroatien nicht Flugzeuge und Kampf- SPIEGEL: Also wird bis zum bitteren Koschnick: Die Nato ist ein Defensiv- hubschrauber stationiert – trotz Embar- Ende weitergeschossen? bündnis. Ob sie zu einem Sicherheits- go? Glauben Sie, daß die Abwehrwaffen Koschnick: Wenn der Brandherd auf bündnis umgeformt werden soll, um De- der Moslems hier gebaut wurden? Das dem Balkan weiter schwelt, werden die mokratie, Rechtsstaatlichkeit und Men- kommt alles über die Nachbarstaaten ins Menschen fliehen. Aber nicht nach schenrechte zu schützen – bitte, darüber Kriegsgebiet. Dennoch wäre eine Aufhe- Osten. Westeuropa steht dann vor kann man ja reden. Aber dann mit einer bung des Embargos fatal. zwei riesigen Fluchtbewegungen – ei- klaren Position. Im übrigen war die Nato SPIEGEL: Warum? ner aus Südosteuropa und einer aus in den letzten drei Jahren auch nicht Koschnick: Weil dann die serbische Seite Nordafrika. Das werden wir nicht mehr als ein Papiertiger; der Wegfall des sofort zuschlagen würde, um zu verhin- durchstehen. Feindbildes Sowjetunion hat ihre inne- ren Differenzen bloßgelegt. SPIEGEL: Serbenführer Karadzˇic´ spielte mit den Blauhelmen bislang Katz und Maus. Nun gelobte er wieder Besserung. Hat er sein Ziel erreicht und braucht die „Es muß klappen“ Blauhelme zur Absicherung der Beute? Koschnick: Karadzˇic´ spielt sein politi- Claus Christian Malzahn über deutsche Polizisten in Mostar sches Spiel – andere spielen ihres. Ich hal- te seines für das gefährlichste, weil er da- mit auch die Existenz seiner eigenen Na- en Tag, an dem ihm auf einem 100 Polizisten der Westeuropäischen tion, der bosnischen Serben, gefährdet. Berg bei Mostar die Jungfrau Ma- Union (WEU) in das stark zerstörte Ich glaube, daß er mit ein paar minimalen Dria erschien, wird Ivan Ostojic´ Mostar zurückgekehrt. Die Ordnungs- Zugeständnissen versuchen wird, die er- niemals vergessen. Es geschah am 24. hüter sollen im Auftrag der Europäi- oberten Gebiete zu halten. Und dann Juni 1981, abends in der Dämmerung. schen Union Wiederaufbauarbeit lei- stellt sich die Frage: Wie wird die interna- Wie jedes Jahr in den Sommerferien sten. tionale Gemeinschaft darauf reagieren? war der Sohn eines in Deutschland le- Doch der deutsche Polizist mit dem SPIEGEL: Und wie sollte sie Ihrer Mei- benden Kroaten in das Heimatdorf sei- kroatischen Namen Ostojic´ kann die nung nach reagieren? nes Vaters gereist. Ivan, damals 14, Stätten seiner Kindheit kaum wiederer- Koschnick: Nach meinen bisherigen Er- spielte gerade mit Freunden, als er auf kennen. Nur noch eine Ponton- und ei- fahrungen wird sie mit Resolutionen ant- der etwa 1000 Meter entfernten Anhö- ne Hängebrücke über den Fluß Neret- worten. Aber am Ende werden wir doch he eine „riesige Stichflamme“ sah. va verbinden den Westen und den vor der Alternative stehen: Riskieren wir „Guck mal, da oben brennt es“, ha- Osten miteinander, das historische Alt- den ganz großen, blutigen Schlag, dessen be er damals seinen Spielkameraden stadtzentrum liegt in Trümmern. „So Folgen nicht auf den Balkan beschränkt gesagt, erzählt Ostojic´ heute. In glei- schlimm“, sagt Ostojic´, 27, habe er bleiben würden? Oder werden wir am ßendes Licht gehüllt, sei die Jungfrau sich „das nicht vorgestellt“. Ende hier ein zypriotisches Regime stabi- Maria kaum erkennbar gewesen. Während der Straßenkämpfe hatten lisieren? Zypern hätte uns eine Warnung Millionen Katholiken pilgern seit- sich die Nachbarn gegenseitig massa- sein müssen, die Dinge nicht so lange dem in den Wallfahrtsort Medjugorje kriert. Scharfschützen zielten auf Alte treiben zu lassen, bis sie uns aus dem bei Mostar, um die Muttergottes zu und Kinder und schossen Einwohner Griff geraten. preisen. Die Botschaft aber, die Maria beim Wasserholen von den Brücken – SPIEGEL: Wie wäre es denn, einem ame- den Kindern angeblich unter heiligen im Straßenkampf zwischen Kroaten rikanischen Wunsch zu folgen und das Tränen mitzuteilen hatte, fand auf dem und Moslems kamen Tausende Mosta- Waffenembargo gegen die Moslems auf- Balkan kein Gehör: „Frieden soll herr- ris ums Leben. zuheben? schen zwischen den Menschen.“ Heute hält Ostojic´ mit seinen deut- Koschnick: Eine Aufhebung des Waffen- Ostojic´ will nun einen kleinen Bei- schen Polizeikollegen zwischen den embargos würde nur die Heuchelei durch trag zur Befriedung leisten. Vor weni- Häuserruinen Wache. „Vielleicht sind Realität ersetzen. Haben die Serbenver- gen Monaten ist er als einer von über im Bürgerkrieg aus meinen alten

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Freunden Feinde geworden“, rätselt ben oder Kroaten, nur Torwart, er. Stürmer und Elfmeterschützen. Die Geschichte der Stadt ist selbst Die kleinen Jungs, die Ivan für Balkan-Verhältnisse verworren. heute beim Patrouillengang Erst hatten die Serben Mostar bela- über den Weg laufen, haben gert. Moslemische und kroatische Ein- den Fußball mit nachgebildeten wohner konnten ihre Stadt nur unter Sturmgewehren vertauscht. Das großen Opfern gegen die Angreifer Altstadtviertel mit seinen Häu- halten. Doch im Mai 1993 brach dann serstümpfen, aufgebrochenen auch zwischen den Bewohnern ein er- Straßen und zerschossenen Au- bitterter Straßenkrieg los. towracks ist zum Spielplatz des Ein Jahr lang kämpften die Moslems Schreckens geworden. Die Kin- im Ostteil erbittert gegen die schwer- der toben durch ausgebrannte bewaffneten Kroaten im Westen um Wohnblocks, klettern in Bun- die Vorherrschaft in der Stadt. Dabei ker und befehligen verwaiste sind die verfeindeten Nachbarn, 50 000 Armeestellungen. Bewohner auf der Ostseite der Neretva Ivans Gewißheiten von ge- stern liegen wie die Stadt in Schutt und Asche. Eines aber Kinder toben glaubt er zu wissen: „Die nor- durch ausgebrannte malen Bürger haben vom Krieg die Schnauze voll.“ Wohnblocks Doch die Versöhnung zwi- schen Ost und West ist äußerst und 40 000 am Westufer des Flusses, oft schwierig. Inmitten der Trüm- nur am Vornamen voneinander zu un- merlandschaft haben die Euro- terscheiden. Polizisten Passierstellen einge- Im Wiederaufbauplan des im Juni von richtet. An solch einem der Europäischen Union (EU) einge- „Checkpoint“ läßt EU-Admini- setzten Administrators Hans Koschnick strator Koschnick am Tag nur spielen Ostojic´ und seine 55 deutschen 250 Moslems, auch Bosniaken Kollegen aus Polizei und Bundesgrenz- genannt, vorbei. „Werden es schutz jetzt eine entscheidende Rolle. mehr, kann ich nicht für Sicher- Sie sollen die noch immer in zwei Lager heit garantieren“, sagt der ein- gespaltene örtliche Polizei beraten und stige Bremer Bürgermeister. Er

helfen, sie wieder zu vereinigen. fürchtet etwa Racheakte von FOTOS: K. MEHNER Der Kölner Polizeimeister Ostojic´, Moslems, die von den Kroaten Deutsch-französische Polizeistreife der fließend serbokroatisch spricht, hat- aus West-Mostar vertrieben „Von Entspannung keine Rede“ te sich im Sommer für die heikle Mission wurden. beworben. Im Tal der Neretva, meint Die Zerstörungen im moslemischen Die Bosniaken drängen deshalb auf er, müsse nun ein Wunder der Versöh- Osten sind größer als auf der Westseite. eine schnelle Wiedervereinigung von nung geschehen. Bei den Moslems ist der Strom ratio- Verwaltung, Krankenhäusern und Poli- „Da drüben“, sagt Ostojic´ beim Strei- niert, auf den Straßen lagern die Be- zei. „Wir wollen nicht so lange warten fengang zu einem französischen Kolle- wohner Brennholz. Hunderte von Woh- wie die Ost-Berliner“, sagt Sefkija Dzi- gen, „haben wir Fußball gespielt.“ Da- nungen wurden verwüstet, ihre früheren ho, der moslemische Polizeichef. mals kickte er mit Freunden aus beiden Bewohner hausen in Kellern. Viele Ohne den Repräsentanten der EU Teilen der Stadt, wo immer ein Platz zu Menschen besitzen nur das, was sie am wären die Moslems in ihrer Stadtteil- finden war. Es gab keinen Moslem, Ser- Leibe tragen. Enklave auf der einen Seite den Kroa-

N KROATIEN Serben Mostar Bihac´ Moslems Eine geteilte Stadt BOSNIEN- Kroaten ist das südwestlich von Sarajevo gelege- HERZEGOWINA ne Mostar. Ein Jahr lang bekämpften Tuzla SERBIEN sich moslemische und kroatische Ein- Sarajevo wohner unerbittlich, jetzt sollen über Split 100 Polizisten, die von der Europäi- Mostar kroatischer Teil schen Union geschickt wurden, die MONTE- Stadt befrieden. DubrovnikNEGRO Dabei sind 55 deutsche Ordnungshüter, 50 km Dubrovnik die wie ihre westeuropäischen Kollegen Checkpoint dem deutschen Euro-Administrator Hans Koschnick unterstehen. Neben dem kroatisch-moslemische EU-Administration Schutz von Prominenten sowie der Bera- Frontlinie tung und Beobachtung der kroatischen und moslemischen Polizei sollen die Be- Neretva amten in den nächsten Wochen die moslemischer Teil Kollegen aus Mostar auch in Fragen des zerstörte historische Polizeihandwerks weiterbilden. Neretva-Brücke

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Werbeseite DEUTSCHLAND ten und auf der anderen den Serben aus- geliefert. Bei der Einweihung einer Sup- penküche fällt ein halbes Dutzend Kin- der dem Deutschen um den Hals. „Koschnick! Koschnick!“ rufen die Klei- nen, als wäre gerade der Weihnachts- mann erschienen. Das rührt auch den alten Polit-Profi an, der mit einem straffen Arbeitspro- gramm versucht, beide Seiten zum Han- deln zu treiben. Auf seinem Schreibtisch Splitterwesten und Helme im Kofferraum im Hotel Ero, einem Gebäude aus Titos Zeiten, hat Koschnick, 65, einen Foto- band aus Bremen aufgestellt. Der zeigt die vom Krieg zerstörte Hansestadt. Koschnick hat das Buch parat, „falls mal jemand behauptet, daß hier ein Checkpoint zwischen den Stadtteilen: 4000 bewaffnete Kämpfer Blinder von der Farbe redet“. Der Bremer ist als Kind selbst zwi- Längst fahren wieder Busse durch Auf dem Weg zum Elektrowerk, der schen Ruinen herumgeklettert: „Die Mostar-West, das Grollen der zehn Ki- kilometerlang an zerschossenen Wohn- Trümmerbilder haben sich mir für im- lometer entfernten bosnisch-serbischen häusern vorbeiführt, muß der ehemalige mer ins Gehirn gebrannt.“ Front ist nur schwach zu hören. Volkspolizist aus Oranienburg plötzlich In Mostar muß Koschnick vor allem Mit äußerster Vorsicht gehen Ost ans alte Honecker-Reich denken: „Als vermitteln. Denn den meisten Kroaten und West aufeinander zu. Auf der die Mauer fiel, standen bei uns in der geht die Versöhnung mit den Gegnern kroatischen Seite von Mostar sind in DDR Hunderttausende unter Waffen.“ von gestern zu schnell. Sie glauben, der Erde verbuddelte Stromleitungen Das Wendemanöver, glaubt er, „hätte auch ohne die Bosniaken bestens klar- geborsten, Elektriker aus dem bosni- auch schiefgehen können“. Koch und zukommen. schen Teil der Stadt sollen die Kabel Müller sehen sich schweigend an – auch Tatsächlich scheint im Westen das Le- flicken. Sicherheitshalber haben die sie sind sich noch fremd. ben schon fast normal zu sein. Bis zur Moslems zum Schutz ihrer Monteure Nachdem der Kabelfehler im Elektro- Polizeistunde um zehn Uhr abends sit- WEU-Polizei angefordert. Nun werden werk behoben ist, genehmigen sich die zen Gäste in den Bars und Restaurants die Elektriker vom westdeutschen Poli- Arbeiter, die aus beiden Teilen der auf dem Boulevard, ein freier Tisch ist zisten Detlef Koch und seinem ost- Stadt kommen, einen ordentlichen vor den Cafe´s nur schwer zu bekom- deutschen Kollegen Hardy Müller be- Schluck Trester aus der Pulle. „Wir ken- men. gleitet. nen uns noch gut von früher“, sagt ei- ner, „wir sind noch im- mer Freunde.“ Doch solche Szenen sind in Mostar selten. Zwar gilt die Stadt for- mell als entmilitarisier- te Zone. Bosnische und kroatische Trup- pen aber sind noch im- mer in den Straßen un- terwegs. Anstelle eines Stahl- helms tragen viele Sol- daten nun eine Polizei- uniform, Kalaschni- kows und Maschinen- pistolen Marke Uzi ge- hören zur normalen Dienstausstattung. Die deutschen Polizisten nennen die Waffen spöttisch „Kosch- nikows“. Etwa 4000 bewaff- nete Kämpfer streunen zwischen den Häusern umher. In den näch- Holzlager der Moslems: „Vom Krieg die Schnauze voll“ sten Wochen soll abge-

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den Vorfall. Doch er weiß, daß auch die Euro-Polizei der Frau kaum helfen kann. „Die Kroaten schalten auf stur.“ Ein halbes Jahr lang sollen die Polizi- sten aus Deutschland in Bosnien Dienst tun, ob es tatsächlich so lange dauert oder die WEU sich nach einem Abzug der Uno ebenfalls zurückzieht, ist völlig offen. Seit Ende November sind die deutschen Ordnungshüter stets zur Ab- reise bereit. Ganz in der Nähe von Mo- star hatten damals Serben gezielt auf Uno-Blauhelme geschossen. Ungefährlich ist der Dienst auch in Mostar nicht. Die Front, an der Bosnia- ken gegen Serben kämpfen, ist nur weni- ge Kilometer entfernt. Vor einigen Wo- chen kamen in einer Kirche zwei Kinder ums Leben, als serbische Granaten ein- schlugen, vier weitere wurden schwer verletzt. Vom nahe gelegenen Berg Velez˘ aus Polizisten Koch, Müller: „Die fangen wieder an zu ballern“ können die Serben noch immer fast jeden Ort der geteilten Stadt treffen. Vor allem rüstet werden: Pro Seite will die EU durchschauen. Den Spitznamen des die Verbindungsstraße in das nordöstlich dann nur noch 300 Polizisten erlauben, „Paten“ von Mostar aber kennt inzwi- gelegene Sarajevo wird ständig unter Be- die übrigen sollen, sagt Koschnick, schen jeder Europa-Polizist: „Stella“, ein schuß genommen. Bei Fahrten an den „dorthin, wo sie hingehören: in ihre Endvierziger mit hartem Blick und brei- Stadtrand haben Müller, Koch und Osto- Armeen außerhalb der Stadt“. tem Kreuz. jic´ stets Splitterwesten und Helme im Solange sich die Kämpfer in Ruinen Seine Bande, genannt Stelici, kontrol- Kofferraum. und Bunkern schwer bewaffnet gegen- liert das Niemandsland im Zentrum. Der Je länger die Polizisten in Mostar blei- überstehen, „kann von Entspannung WEU-Polizeichef, Oberst Jan Majvogel ben, desto mehr wünschen sie den Erfolg keine Rede sein“, glaubt Koch, der aus den Niederlanden, bescheinigt dem ihrer Mission. Wenn Koch Dienst am normalerweise im rheinischen Düren „charmanten Mann“ gute Verbindungen Checkpoint hat, versucht er, Bosniaken seinen Dienst versieht. Er ist sich si- zu allen Seiten, „auch in die Politik“. Ein und Kroaten in ein gemeinsames Ge- cher: „Wenn die WEU-Polizei hier ab- erfahrener Kripo-Beamter warnt: „Von spräch zu verwickeln. „Manchmal lachen zieht, fangen die sofort wieder an zu dem sollte man lieber die Finger lassen.“ sie sogar zusammen“, freut er sich und ballern.“ fügt leise hinzu: „Es Koch, Müller und Ostojic´ würden muß einfach klap- gern mehr tun, als zur Zeit möglich ist. pen.“ Ihre Arbeit beschränkt sich noch auf Doch beide Seiten Streifenfahrten und Patrouillengänge. mißtrauen dem deut- Eigentlich sollten die WEU-Polizisten schen „Kroaten“ Ivan den Kollegen aus Mostar das Polizei- Ostojic´. Die West- handwerk beibringen, ihnen bei Er- Mostaris wundern mittlungsarbeiten zur Seite stehen und sich, warum er bei der den Bürobetrieb mit organisieren. deutschen Polizei und Doch weder Kroaten noch Moslems nicht bei der kroati- lassen sich von den europäischen Hel- schen arbeitet. „Die fern in die Karten schauen. Bosniaken“, sagt Lediglich Polizeichef Sefkija Dziho Ostojic´, „glauben da- zeigt sich auf moslemischer Seite ko- gegen, daß ich mit der operationswillig. „Die Stadt ist zwar Mafia-Auto: „Die Kriminellen haben sich vereinigt“ anderen Seite zu tun geteilt“, sagt er, doch „die Kriminellen habe.“ haben sich längst vereinigt“. Im Osten So müssen Koch und Ostojic´ untä- Für den Sohn eines Kroaten und frü- gestohlene Autos tauchen im Westen tig bleiben, wenn Stella mit seinem Ja- heren Gastarbeiters hat der Aufenthalt auf – und umgekehrt. Westeuropäische guar an ihnen vorbeirauscht. Ihr in in Mostar „natürlich was mit meiner Fa- Kripo-Beamte vermuten allein 6000 Deutschland antrainiertes Rechtsemp- miliengeschichte zu tun“. Noch immer Diebeswagen in der Stadt. finden greift in Mostar nicht: Wer ist leben Freunde und Bekannte in Mostar In die krummen Geschäfte, glaubt schon kriminell in einer Stadt, in der und Umgebung. Er besucht sie, wenn es Dziho, sind vermutlich einheimische jeder ein Heckenschütze gewesen sein der Dienstplan zuläßt. Grenzpolizisten verwickelt: „Sonst kä- könnte? Als der junge Ivan Ostojic´ damals mit men die doch gar nicht rüber.“ Den Dem Gesetz der Willkür stehen die dem ausgestreckten Finger auf die Spit- Verdacht hegt auch Koch: „Es gibt deutschen Beamten ohnmächtig gegen- ze des Berges und die Stichflamme zeig- hier eine ganze Reihe von Spitzbuben, über. Auf Patrouillengang im Osten te, mochte ihm kaum jemand glauben. die an der Grenze von keiner Seite wird Polizist Koch von einer Frau an- Sein Freund hatte nur mit den Schultern kontrolliert werden.“ gehalten. Sie klagt über ihre Vertrei- gezuckt: „Ich sehe nichts.“ Die Grauzone zwischen örtlicher Po- bung aus dem Westteil der Stadt. In Heute blickt der Polizist aus Köln auf lizei und Mafia-Banden ist für die Kri- der Wohnung der Bosniakin leben nun die Trümmerlandschaft. „Das ist alles po-Beamten der WEU nur schwer zu kroatische Flüchtlinge. Koch notiert Glaubenssache hier“, sagt er. Y

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beim Bau städtischer Klär- GUS-Handel werke begonnen hat, weitet sich aus. Bislang haben die Strafverfolger 315 Ermitt- „Illegale Gelder“ lungsverfahren erledigt, ge- Die rheinland-pfälzische Landesregierung unterstützt ein gen 97 Beschuldigte haben fragwürdiges Bauprojekt. Weil die Umwandlung des frü- die Gerichte insgesamt 116 heren US-Fliegerhorstes Hahn im Hunsrück in einen Zi- Jahre Freiheitsstrafe ver- vilflughafen kaum vorankommt, setzen die Mainzer jetzt hängt. Mindestens 275 Ver- auf ein Geschäft, das nach Ansicht von Kritikern Mafiosi fahren mit mehr als 330 Be- aus den GUS-Staaten anlocken könnte: Ein in Mainz an- schuldigten stehen jedoch in- sässiger türkischer Unternehmer hat vom Wirtschaftsmi- zwischen an; ein Ende der nisterium die Lizenz für regelmäßige Flüge zwischen Affäre, bei der auch Konzer- Hahn und einigen Republiken der früheren Sowjetunion ne wie Siemens und AEG (Aserbaidschan, Georgien, Moldawien, Turkmenistan) Beamte bezahlt haben sollen, erhalten. Der Kaufmann will auf dem ehemaligen Mili- um Aufträge zu bekommen, tärflugplatz ein Einkaufszentrum errichten, in dem wohl- ist nicht in Sicht. „Wo wir habende GUS-Bürger Luxusgüter kaufen können. hinlangen“, sagt Dieter Em- In einem Schreiben an die Mainzer Grünen hat deshalb rich, Chef der Staatsanwalt-

ein Experte aus dem Bonner Auswärtigen Amt jetzt mas- A. J. SCHMIDT / ZERO schaft München I, „tun sich sive Bedenken geäußert: In den ehemals sowjetischen Uni-Mensa in Freiburg gleich zwei, drei neue Spuren Republiken gebe es als Folge organisierter Kriminalität auf.“ Eine siebenköpfige „eine ganze Reihe von ,neuen Reichen‘, die möglicher- Hochschulen Sondertruppe, die Emrich im weise ein Interesse daran haben, illegale Gelder ins Aus- Sommer auf den uferlosen land zu bringen“. Eine vorbeugende Kontrolle zur Ab- Druck auf Sumpf angesetzt hat, will die wehr möglicher Geldwäsche hält der Bonner Fachmann Ermittlungen nun beschleu- für problematisch, weil die Devisenbestimmungen der Dauerstudiosi nigen. Sie drängt auf eine betreffenden Staaten „in Schriftform kaum zugänglich“ Die Universität Freiburg pro- verbesserte Computervernet- seien. filiert sich mit entschlosse- zung der verschiedenen Be- nem Vorgehen gegen Lang- hörden, die an der Aufklä- zeitstudenten. Die Hoch- rung beteiligt sind, darunter Bahn schen München und Zürich. schule hat 98 Kommilitonen, Polizei, Stadtverwaltung, Der Bahn jedoch ist Abhilfe die mehr als 40 Semester lang Kartellprüfer, Wirtschaftsmi- Ruß im bisher zu teuer: Eine Umrü- eingeschrieben waren, die nisterium und Landesrech- stung würde – so die Bahn – je Rückmeldung zum Winterse- nungshof. Abteil Lok rund zwei Millionen mester verweigert und von Die Deutsche Bahn nimmt in Mark kosten. Erleichterung ihnen eine Stellungnahme ge- Kauf, daß Reisende in Zü- für hustende Passagiere könn- fordert. Zwei Drittel der Stu- gen, die von Dieselloks gezo- te eine Neuentwicklung denten verzichteten darauf- gen werden, gesundheits- der Friedrichshafener Firma hin auf ein weiteres Studium. schädlichen Rauch einatmen MTU bringen, die den Ruß- Nur 15 Studierende konnten müssen. Durch ein überalter- und Kohlenwasserstoffaus- einen Härtefall nachweisen, tes Frischluftsystem gelangen stoß um 80Prozent reduzieren zum Beispiel eine langwieri- die Abgasschwaden der Die- soll. Die Motoren würden zu- ge Krankheit oder einen Un- selloks, die vor allem auf dem bis zu 8 Prozent weniger fall mit gravierenden Folgen; nicht elektrifizierten Strek- Kraftstoff verbrauchen. Da- ihnen räumt die Uni nun eine ken fahren, direkt in die Zug- durch würde die Umrüstung Frist von vier Semestern ein, abteile. Beschwerden dar- unterm Strich nur noch weni- um ihr Studium abzuschlie- über häufen sich vor allem ge zehntausend Mark je Lok ßen. Die übrigen Dauerstu- auf der Eurocity-Strecke zwi- kosten. diosi wurden zwangsexmatri- kuliert. Im kommenden Se- mester will die Universität ihren Nachwuchs-Akademi- kern schon vom 20. Semester an Druck machen und sie zu ACTION PRESS einem Beratungsgespräch la- Zitat den. Betroffen wären mehr als 800 von insgesamt 24 000 „Die Stimmung im Studenten. Kabinett ist besser als der Eindruck, den wir Korruption vermitteln. Demnächst wollen wir uns sogar Uferloser wieder Sachthemen zuwenden.“ Sumpf Niedersachsens Innenminister Der Münchner Korruptions- Gerhard Glogowski (SPD) über die Regierung Gerhard Schröders, in skandal, der 1991 mit der der vier von elf Ministern heftiger

G. SAGORSKI / DIAGONAL Aufdeckung millionenschwe- Kritik ausgesetzt sind. Zug mit Diesellok rer Schmiergeldzahlungen

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CDU Blutdruck 230 Mit einer Schmuddel-Kampagne versuchen Berliner Christ- demokraten, ihren Bürgermeister Diepgen zu schwächen.

urz vor dem Dessert sollte Bernhard Servatius, Aufsichtsratschef des KAxel-Springer-Verlags, noch Aus- kunft geben: Warum denn die Springer- Presse über den RegierendenBürgermei- ster unappetitliche Gerüchte verbreite, wollte Tischnachbar Reinhard Führer,

CDU-Vizepräsident des Berliner Abge- ARIS / PHOENIX ordnetenhauses, wissen. Regierungschef Diepgen: „Sind die Whirlpool-Bilder schon aufgetaucht?“ Bei einem vorweihnachtlichen Abend- essen im Hotel Steigenberger mußte sich spicken die Hauptstadtpresse mit Halb- fehlt bislang jeder Beleg. Auch die Ur- Servatius einen gewagten Artikel der und Unwahrheiten. heber der „gezielten Desinformations- Bild-Zeitung vorhalten lassen,indem der So verbreiten sich führende Christde- kampagne“ (Senatskanzleichef Volker Berliner Regierungschef Eberhard Diep- mokraten gern über den angeblich Kähne) suchen Diepgen-Vertraute bis- gen, 53, angerempelt worden war. Das schlechten Gesundheitszustand ihres lang vergebens. Halb scherzhaft, halb Blatt unterstellte, Diepgen könne die Pi- Parteivorsitzenden. Seit Diepgen Mitte genervt fragte der Regierende kürzlich stole für ein Attentat auf Erich Honecker Oktober nach einem Schwächeanfall ins bei der Frühbesprechung: „Na, sind beschafft haben, das 1983 in Klosterfelde Krankenhaus mußte, warten sie nicht denn die Whirlpool-Bilder schon aufge- bei Berlin gescheitert war. nur mit Details zu seinem Kreislauf auf taucht?“ Der normale „Wald- und Wiesenjour- („Er hatte einen Blutdruck von 230“), Der Kreis möglicher Heckenschützen nalist“ sei manchmal einfach überfor- sondern auch mit der Ferndiagnose, er ist groß, und er wird täglich größer. dert, „Dichtung und Wahrheit zu unter- sei dauerhaft angeschlagen, ein Rück- Denn Grund für die Angriffe auf Diep- scheiden“, rechtfertigte Servatius den tritt stehe kurz bevor. gen ist der massive Zweifel vieler Partei- Text. Allerdings lande derzeit zur Person Dann wieder kolportieren CDU-Mit- mitglieder an seiner Führungsfähigkeit. Diepgens sogar bei ihm selbst einiges an, glieder angebliche Uraltkontakte Diep- Spätestens seit dem hohen Verlust der „was wirklich nicht von schlechten Eltern gens zum Rotlichtmilieu und dichten CDU in Berlin bei der letzten Bundes- ist“. Vieles stamme dabei „von Partei- ihm Abende im Kreise professioneller tagswahl gilt Diepgen als Verlierertyp. freunden“, setzte der Springer-Mann Damen an. Laut Flüsterpropaganda zir- Innerhalb von vier Jahren kamen der nach. kuliert bereits eine ganze Mappe pikan- Union in der Hauptstadt 180 000 Wäh- In der Berliner CDU tobt ein schmutzi- ter Fotografien, die den Bürgermeister ler abhanden. Im Ostteil der Stadt ist ger Gerüchtekrieg. Eifrig streuen Partei- im Whirlpool zeigen sollen. die „Berlinpartei“ (Diepgen) gewaltig funktionäre bizarre Klatschgeschichten Für die Tuschelthemen, die sich um geschrumpft. Nicht einmal 20 Prozent über ihren eigenen Spitzenmann und das Berliner Stadtoberhaupt ranken, der Ost-Berliner Wähler votierten im Oktober für die Christdemokraten, bei der Europawahl war die CDU gar auf 15 Prozent gesackt. Kaum einer traut Diepgen noch den Kraftakt zu, bei der im kommenden Herbst anstehenden Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus die Mehrheit zu ho- len. Viele Parteimitglieder hat Unter- gangsstimmung erfaßt. Der Regierende Bürgermeister sei „kein Ausstrahlungstäter“, stichelt ein Vorstandsmitglied; der Kohl-Vertraute Georg Gafron, Geschäftsführer des meistgehörten Berliner Privatradios „Hundert,6“, glaubt: „Die CDU mar- schiert sehenden Auges in die Katastro- phe.“ Selbst auf den Beistand seines Frakti-

FOTOS: A. SCHOELZEL onschefs Klaus-Rüdiger Landowsky Diepgen-Parteifreunde Scholz, Landowsky: Signale schwankender Loyalität kann sich Diepgen nicht mehr richtig

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verlassen. Der Banker sicherte als Mann mieindustrie wurden: Statt Weihrauch im Hintergrund seinem „Ebi“ die Mehr- Umwelt und Kerzenduft umwabern die Kleriker heit in Partei und Fraktion. und ihre Angehörigen in ehrwürdigen Jetzt driftet das Gespann jedoch aus- Kirchen und alten Pfarrhäusern Penta- einander. Mitarbeiter des Kanzleramtes chlorphenol (PCP), Lindan und Pyre- empfangen seit einigen Wochen „deutli- Bleierne throide. che Signale schwankender Loyalität“ – Mehr noch als Forsthäuser (SPIE- was Landowsky pflichtgemäß demen- GEL 46/1994), Schulen oder Kindergär- tiert. Zeit ten wurden Gotteshäuser in den siebzi- Erbost hat den Fraktionschef vor al- ger und achtziger Jahren mit gefährli- lem seine Wahlniederlage als Kandidat Kirchen und Pfarrhäuser sind bun- chen Giften behandelt. Um die oft jahr- für den Bundesvorstand auf dem CDU- desweit durch Holzschutzmittel hundertealten Balken und Möbel vor Parteitag Ende November. Von drei dem Holzwurm zu retten, verstrichen Berliner Bewerbern, neben Landowsky vergiftet – mit verheerenden Folgen Arbeiter in den geistlichen Gemäuern waren noch Finanzsenator Elmar für Geistliche und Gläubige. Holzschutzmittel kübelweise. Pieroth und Abgeordnetenhaus-Präsi- Das dreistöckige Jugendstilhaus, in dentin Hanna-Renate Laurien nomi- das Buchner 1985 zog, war vorher niert, hatte nur die konservative Vorzei- ewundert hatten sich die Christen gründlich renoviert worden. Sechs Jahre gefrau genügend Stimmen für einen der baden-württembergischen Ge- später maß der TÜV im Schlaf- und Vorstandsposten erhalten. Diepgen war Gmeinde Neuhengstedt schon län- Kinderzimmer sowie im Gemeindesaal vorsichtshalber gar nicht erst angetre- ger: Die Damen des Kirchenchors plag- so hohe Giftkonzentrationen, daß die ten. te häufig heftiger Kopfschmerz, nach Kirchenverwaltung das Gebäude umge- Das Desaster lastet Landowsky sei- den Proben im Gemeindesaal wurde hend sperrte. Buchners mußten alles zu- nem Duzfreund an. Diepgen habe es mancher Sängerin speiübel. rücklassen, sogar seine alte Bibel darf versäumt, mit anderen Landesverbän- der Pfarrer nicht mehr den Stimmabsprachen zu treffen, klagte benutzen. der Düpierte gegenüber Parteikollegen: Wie viele Pastoren „Eberhard hat mich im Stich gelassen.“ und Kirchenangestell- In wichtigen politischen Fragen befin- te bundesweit betrof- det sich das Duo mittlerweile auf Kolli- fen sind, darüber gibt sionskurs. Diepgen drängt auf eine Fusi- es bislang keine Stati- on von Berlin und Brandenburg zur stik, bekannt werden Jahrtausendwende und verspricht: „Der nur Einzelfälle. vereinbarte Fahrplan gilt.“ Landowsky Rund um Nürnberg hält voll dagegen: „Es gibt 1999 kein sind es allein sechs. Land Berlin-Brandenburg.“ Für ihn Pfarrer Winfried Win- sind die Diepgen-Pläne „Firlefanz“, die ter, 56, aus Langen- Hast laufe „gegen die Emotion der gan- zenn bei Nürnberg hät- zen Stadt“. te fast seine Enkel- Hilfe aus Bonn kann Diepgen im tochter verloren. Als Kampf gegen die innerparteilichen er mit seiner Frau Ilse Nörgler nicht erwarten. Kanzler Kohl im September 1988 in nimmt ihm persönlich übel, daß ausge- das frisch renovierte, rechnet in der Hauptstadt die PDS vier 500 Jahre alte ehema- Direktmandate erringen und so in den lige Klostergebäude Bundestag einziehen konnte. zog, habe für die Win- Längst existieren in Bonn und Berlin ters, sagt der Pfarrer, Planspiele für eine Zeit nach Diepgen. eine „bleierne Zeit“ Zwar will Kohl offenbar den Spitzen- begonnen. kandidaten vor der Abgeordnetenhaus- Die Familienmitglie-

wahl im kommenden Jahr nicht mehr M. STORZ / GRAFFITI der wurden von Mus- austauschen lassen. Verseuchte Pfarrei in Neuhengstedt kelkrämpfen geschüt- Sollte Diepgen bei der Wahl schei- „Immer Nebel im Haus“ telt und von Chlorakne tern, dürfte er jedoch politisch erledigt geplagt, büschelweise sein. Als möglichen Berliner Parteivor- Der Pfarrer, ein junger, kräftiger fielen ihnen die Haare aus. Das Enkel- sitzenden hat das Kanzleramt bereits Mann, wachte morgens häufig mit kind, das häufig zu Besuch war, legte Rupert Scholz ausgemacht. Aufmerk- Brechreiz auf, vergaß Namen, fand die die Mutter nichtsahnend in den am sam wurde in Bonn registriert, daß der einfachsten Wörter nicht. Irgendwann schlimmsten verseuchten Raum – der konservative Rechtsprofessor bei den schaffte er es nicht mal mehr, durch die Kehlkopf des Babys schwoll zu. Fast wä- letzten Berliner Vorstandswahlen fast offene Tür zu gehen, und taumelte ge- re das Kind erstickt. 20 Prozent mehr Stimmen erhielt als der gen den Rahmen. Die Ärzte rieten: Nichts wie weg. Ei- Bürgermeister. Die dreijährige Tochter des Pfarr- nen Winter lang schlief der Pfarrer im Scholz, 57, ist bislang bemüht, jeden Ehepaars konnte plötzlich nicht mehr Wohnwagen, dann fand die Kirche ein Verdacht zu zerstreuen, er bringe sich laufen, dann ließ ihre Sehkraft nach. neues Haus für die Familie. als Nachfolger in Stellung. Am Rande „Bei uns“, so klagte die kleine Julia, „ist Der Chemierausch der siebziger Jahre des CDU-Parteitags trafen die beiden immer Nebel im Haus.“ wurde auch der Restauratorin Gisela Berliner zu einer kurzen Aussprache Julias Vater, der evangelische Pfarrer Schreyögg zum Verhängnis. 30 Jahre aufeinander. „Eberhard“, so versuchte Hans-Thomas Buchner, 38, ist einer von lang hat die Rheinländerin „an die hun- Scholz den Rivalen zu beruhigen, „ich Hunderten von Geistlichen überall in dert Kirchen“ mit Holzschutzmitteln will deinen Job nicht.“ Y der Republik, die zu Opfern der Che- präpariert. „Alles, alles wurde damit ge-

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gen Holzwürmer gestrichen, die Beicht- sind dem Naturgift Pyrethrum nachemp- stühle, das Chorgestühl, die Orgeln“, funden, gelangen über Haut und At- sagt Schreyögg: „Xylamon wurde liter- mung in den Körper und greifen nach weise draufgeklatscht. Wir haben sogar den Erkenntnissen von Umweltmedizi- Altäre bepinselt, das mußte viel sein, nern das Nervensystem an. damit es auch tief einzog.“ „Fast überall, wo früher Lindan drin Als vor über 15 Jahren Lindan und war, sind heute Pyrethroide drin“, sagt PCP als gefährliche Gifte entlarvt wur- Beate Lift, Medizinsoziologin bei der den, reagierten die Kirchenleitungen Ingenieur-Sozietät für Umwelttechnik nur halbherzig. Zwar wurden zahlreiche und Bauwesen im hessischen Dreieich. Kindergärten entseucht, nicht aber Do- „Die Sachen sind genauso giftig wie frü- me, Kapellen, Gemeindeheime oder her – nur anders.“ Pfarrhäuser. Wieder sind vor allem Kirchenmitar- Die Industrie hat lediglich PCP und beiter die Opfer, zum Beispiel die Or- Lindan durch das Pilzgift Chlorthalonil gelbauerin Renate Ammer, 57, aus und durch Pyrethroide ersetzt. Chlor- Hamburg. Seit 1992 saniert Ammer in thalonil hat die US-Umweltbehörde den neuen Bundesländern marode Kir-

EPA bereits mit dem Verdacht belegt, A. OSTEN-SACKEN chenorgeln. Ende letzten Jahres brach möglicherweise Krebs zu erregen. Die Giftgeschädigte Schreyögg sie mit Verdacht auf Herzinfarkt und künstlichen Nervengifte Pyrethroide „Sogar Altäre bepinselt“ Lungenentzündung zusammen. Mona-

„Der Staat leistet Beihilfe“ Wie die Familie Zielke mit Holzschutzmitteln vergiftet wurde

er Mann ist von geradezu un- sie ihr Haus untersuchen, die Meß- strichen zu haben, die Farbenfirma heimlicher Ruhe. Er zwingt techniker wurden überall fündig. erklärt, sie habe das Holz nie behan- D sich zu einer beklemmenden Frau und Kinder quartierte Zielke delt. Sachlichkeit – dem letzten Schutz- sofort aus, er selbst schlief mitten im Fest steht: Holzschutzmittel für wall vor einer Flut der Verzweiflung. Winter bei offenen Balkontüren. die tragenden Teile waren vorge- „Wissen Sie“, fragt Jürgen Zielke, Das Haus mußten die Zielkes schrieben, Informationen über die 53, Bundeswehroffizier a. D., „daß schließlich aufgeben. Gefährlichkeit der Gifte hat Zielke wir die Familie mit den wahrschein- Die Ärzte haben andere Ursachen nie bekommen. Zielke verbittert: lich höchsten je gemessenen PCP- für die Krankheiten der Familie aus- „Ich habe eine vom Bundesgesund- Werten im Blut sind?“ Der offizielle geschlossen. „Man kann vermuten, heitsamt für unbedenklich gehaltene Grenzwert für PCP liegt bei 20 Mi- daß die gesundheitlichen Schäden Gaskammer gekauft, in der wir 15 krogramm je Liter Blut – bei Zielkes von der PCP-Belastung kommen“, Jahre lang vergast wurden. Der Tochter Monika, 19, wurden 1067 erklärt Laborarzt Helmut Dietrich Staat hat aktiv Beihilfe geleistet, daß Mikrogramm gemessen – mehr als Köster aus Bremen, der das Blut der meine Frau unter entsetzlichen Qua- 50mal soviel. Zielkes untersuchte. Die können je- len stirbt.“ Die Geschichte der Zielkes begann doch niemanden haftbar machen: Antje Zielkes Krebsleiden ist so wie die vieler Hausbesitzer. 1978 Die Herstellerfirma streitet ab, das weit fortgeschritten, daß sie nur kauften sie sich in Nordholz bei Cux- Blockhaus mit giftigen Farben ge- noch Wochen zu leben hat. haven ein Luxusholzhaus mit Sauna, Schwimmbad und 1900 Quadratme- ter Holzverschalung. Als „ausge- sprochen gesund“ pries der Herstel- ler sein Produkt, und Zielkes kratz- ten alle ihre Ersparnisse zusammen. Nach zwei, drei Jahren wurde die Familie von Infekten heimgesucht, der Offizier, zu Bundeswehrzeiten sogar Jet-tauglich, taumelte von ei- ner Erkältung in die nächste. Seine Frau Antje, 51, erkrankte an Stirn- höhlenkrebs – einer seltenen Krank- heit, die in der Regel nur Holzarbei- ter trifft. Erst da schöpfte die Familie Ver- dacht. Im Januar dieses Jahres ließen

* Vor ihrem ehemaligen Holzhaus in Nord- F. HOLLANDER / DIAGONAL holz. Giftopfer Monika Zielke, Vater Jürgen*: „Entsetzliche Qualen“

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telang war Ammer zuvor von Atembe- Gilt die Wirksamkeit eines Medika- schwerden, heftigen Kopfschmerzen Arzneimittel ments aber als wissenschaftlich begrün- und einer unerklärlichen Müdigkeit det, darf es in besonderen Fällen auch geplagt worden. Sie hatte an den schon vor der Zulassung durch das Bun- alten Orgeln das bis heute zugelassene desinstitut eingesetzt werden, wenn alle Holzschutzmittel Basileum der Erfindung zugelassenen Mittel keine Heilung Firma Desowag verstrichen – eimer- brachten. Dann übernehmen die Kassen weise. die Kosten auch für ein nicht zugelasse- Renate Ammer ist eine der 21 Pa- der Industrie nes Medikament. tienten, die Professor Holger Alten- Schon lange argwöhnen die Kranken- kirch in Berlin im Auftrag der Bundes- Bei Tests nicht zugelassener Medi- kassen, daß Pharmaunternehmen Mittel regierung auf mögliche Vergiftungen kamente an Patienten sollen unter dem Deckmantel dieses „individu- mit Pyrethroiden untersucht, darunter ellen Heilversuchs“ erproben. Hotelgäste, die das Gift aus einem Pharmafirmen die Krankenkassen So fand der AOK-Bundesverband Elektroverdampfer gegen Mücken ein- um Millionen geprellt haben. heraus, daß in den Geschäftsstellen aller geatmet haben, sowie Menschen, die gesetzlichen Kassen rund 450 Patienten unter den Ausdünstungen ihrer Teppi- Kostenerstattungsanträge für eine Haut- che leiden. rzte der Wuppertaler Hautklinik krebsbehandlung mit Fiblaferon gestellt Neurologe Altenkirch will das Er- am Arrenberg machten sich gerade hatten. Das Interferon-Produkt der Fir- gebnis seiner Nachforschungen im Ja- Äfertig für die morgendliche Visite, ma Dr. Rentschler im württembergi- nuar öffentlich machen. Bereits jetzt da bekamen sie selbst Besuch. Vier schen Laupheim ist zwar für die Thera- ist für ihn klar: „Es ist völlig unver- Staatsanwälte und drei Polizisten prä- pie bei schweren Viruserkrankungen ständlich, daß mit diesen Stoffen Laien sentierten ihnen einen gerichtlichen zugelassen, nicht aber für die Behand- umgehen dürfen.“ Durchsuchungsbeschluß. lung von Hautkrebs. Pro Krebspatient, Der Münchner Wis- schätzen Kassenexper- senschaftler Helmuth ten, koste der Fibla- Müller-Mohnssen, der feron-Einsatz 100 000 als erster bereits 1984 die Mark. Schädlichkeit von Py- „So viele Einzelfälle rethroiden an Fröschen sind schon auffällig“, nachwies, hat nach eige- sagt Uwe Repschläger, nen Angaben rund 600 Leiter des Krankenhaus- Fälle von Pyrethroidver- referates beim AOK- giftungen bei Menschen Bundesverband. Er ver- gesammelt. Er zählt eine mutet eine „gezielte ganze Litanei schwe- Strategie der Pharmaher- rer Schäden auf: Pilz- steller“. Vieles deute befall, Hautkrankhei- darauf hin, daß auch an- ten, Inkontinenz, Herz- dere Unternehmen die rhythmusstörungen und immensen Kosten einer Asthma. offiziellen Erprobung auf Müller-Mohnssen for- die Kassen abwälzten.

dert, Pyrethroide sofort M. SCHRÖDER / ARGUS So reichen die Patien- zu verbieten: „Kokain ist Virus-Medikament Fiblaferon: 100 000 Mark Kosten pro Patient ten häufig von Herstel- auch verboten, und diese lern vorformulierte Ko- Stoffe sind 100mal wirksamer als Ko- Die Strafverfolger wurden schnell stenübernahmeanträge ein. Ganz wie bei kain.“ Das Bundesgesundheitsministeri- fündig; mit Bergen beschlagnahmter angemeldeten Kliniktests schicken Ärzte um will im nächsten Jahr immerhin han- Akten verließen sie das Krankenhaus. oft auch Therapieberichte an die Firmen. deln. Die Verordnung, Pyrethroide vom Die Fahnder glauben sich einem Der Dank inbar oder Naturalien, so Kas- Markt zu nehmen, ist bereits fertig. Pharmaskandal auf der Spur. Ihr Ver- senexperten, sei ihnen gewiß. Umweltministerin Angela Merkel be- dacht: Ärzte und Medizinfirmen sollen Dies zu beweisen fiel den Versicherern reitet zudem ein Biozid-Gesetz vor: Die die Krankenkassen um mehrere hundert bislang allerdings schwer. Meist sind die Wirkstoffe zur Schädlingsbekämpfung Millionen Mark betrogen haben. Die Testpatienten so über die Republik ver- sollen staatlich geprüft und zugelassen Ermittlungen erstrecken sich auf 22 Kli- teilt, daß eine Häufung kaum auffallen werden. Bisher kann jeder Produzent niken im ganzen Bundesgebiet, in denen kann. In Wuppertal jedoch schöpften anbieten, was er will. Doch zwei, drei Mediziner nicht zugelassene Medika- AOK-Angestellte Verdacht, als sie Jahre wird es bis zu einer Verordnung mente an Hunderten von Patienten aus- gleich mehrere Anträge auf Kostener- noch dauern. „Wenn wir das Gesetz in probiert haben sollen. stattung für eine Hautkrebstherapie mit dieser Legislaturperiode durchbringen“, Der Wuppertaler Oberstaatsanwalt Fiblaferon bearbeiten sollten. so Wilfried Mahlmann vom Umweltmi- Herbert Mühlhausen, Chef der Ermitt- Als die Ärzte auf Anfrage gleichwohl nisterium, „sind wir glücklich.“ lungsgruppe, bewegt sich auf juristisch versicherten, es gebe keine klinische Er- Bis dahin raten die Experten, statt der schwierigem Terrain. Soll ein Präparat probung, erstattete die Kasse Anzeige. chemischen Keule Omas Hausmittel zu zugelassen werden, muß es laut Arznei- Bei der Durchsuchung im November benutzen. Lavendel statt Nexalotte ge- mittelgesetz in klinischen Tests an Pa- fanden die Staatsanwälte Unterlagen gen Motten, Fliegengitter statt Insek- tienten geprüft werden. Die Versuchs- über regelrechte Testreihen. Für Ermitt- tenspray, Moskitonetz statt elektrischer reihen müssen beim Bundesinstitut für ler Mühlhausen ein starkes Indiz dafür, Verdunster. Und fürs Holz Bienen- Arzneimittel angemeldet werden und daß die „Kasse zu Unrecht zur Kasse ge- wachs zur Verschönerung oder Holzes- sind wegen der Auflagen zum Schutz beten wurde“. sig bei akutem Befall durch natürliche der Patienten aufwendig und teuer für Jürgen Fergen, Verwaltungschef der Schädlinge. Y die Hersteller. Hautklinik, dementierte zurückhaltend:

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Werbeseite Beweise für einen Betrug seien „heute nicht erkennbar“. Auch Ernst-Wilhelm von Wedel von der Pharmafirma Dr. Rentschler vermag „Anzeichen für Unregelmäßigkeiten“ nicht zu er- kennen. Die Hautkrebsbehandlung mit Fiblaferon sei eine „offene Thera- piestudie“. Wenn Ärzte das Medika- ment gegen Krebs einsetzten, würde sein Unternehmen sie um Erfahrungs- berichte bitten: „Diese reine Doku- mentationstätigkeit wird den Ärzten vergütet.“ Krankenkassen und Staatsanwalt- schaft werten Rentschlers „offene The- rapiestudie“ allerdings als „Erfindung der Industrie“. Repschläger: „Wir sind uns mit dem Bundesgesundheitsmini- sterium einig, daß dieses Zwischending zwischen klinischer Erprobung und in- dividuellem Heilversuch nicht von den Kassen bezahlt werden muß.“ Während sich der Verdacht des Be- trugs nach Ansicht der Staatsanwalt- schaft verdichtet, dürfte der Nachweis der Körperverletzung schwerer fallen. Zwar könne Fiblaferon, so Ermittler Mühlhausen, „schwere Nebenwirkun- gen bis hin zu Depressionen“ haben. Die Ermittlungen stoßen jedoch an die Grenzen der ärztlichen Kunst. Mühlhausen: „Die meisten Patienten sind inzwischen verstorben.“ Y

Verkehr Zöllner im All Die Industrie möchte Geräte verkaufen, die Kommunen reizt das Geld – kommt die elektro- nische City-Maut für Autofahrer?

er Hamburger Grün-Alternative Martin Schmidt war rasch begei- Dstert von der neuen Inkasso-Idee: Da die Bundesregierung doch bereits zwischen Köln und Bonn elektronische Mautsysteme für Autobahnen testen lasse, preschte der grüne Verkehrsex- perte vor, „warum da nicht auch eine Maut für Innenstädte“ einführen? Parteifreunden macht Schmidt, 61, derzeit bundesweit sein kommunales Abkassiermodell einer City-Maut schmackhaft: Mit Hilfe gewitzter Elek- tronik könnten die Städte vom Moloch Verkehr gezielt entlastet werden. Soviel grüne Stadtfürsorge mußte ent- setzen: Der ADAC witterte vergangene Woche eine „Ausbeutung finanzschwa- cher Autofahrer“, der Hauptverband

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des Deutschen Einzelhandels beschwor die Vision verödeter Innenstädte: Weil autofahrende Käufer nur noch Ein- kaufszentren im Grünen ansteuern wür- den, wären die Läden in den Städten bald menschenleer. Doch trotz der Proteste könnte die City-Maut bis zum Ende dieses Jahr- zehnts zum Alltag gehören, weil ein- flußreiche Gruppen profitieren würden. So stellen die Pläne zum Kfz-Zoll den Kommunen ein finanzielles Zubrot in Aussicht, zudem sieht der Deutsche Städte- und Gemeindebund darin ein probates Mittel, um Verkehrsinfarkte in den Innenstädten vermeiden zu kön- nen. Niedersachsens Verkehrsminister Pe-

ter Fischer (SPD) wagte sich vorletzte T. RAUPACH / ARGUS Woche mit ähnlichen Vorstellungen Umweltproblem Verkehrsstau (in Hamburg): Infarkte in den Innenstädten nach vorn. Fischer würde gern die Ver- kehrsströme zur Weltausstellung Expo empfängt Signale von Satelliten des bezirke abgelegt werden. Der Chipkar- 2000 mit einem Verkehrsleitsystem „Global Positioning System“ (GPS). tenleser birgt eine Gebührenkarte nach durch Hannover führen lassen und kann Ursprünglich für das US-Militär ent- Art des Telefonplastiks. sich auch vorstellen, dabei Straßennut- wickelt, stehen die 24 GPS-Satelliten im Fährt ein Autohalter in einen maut- zungsgebühren zu kassieren. All weltweit zur gebührenfreien Ortsbe- pflichtigen Stadtbezirk, so erkennt der Der Industrie verheißen die „Telema- stimmung zur Verfügung. Die zivile Speicher mit Hilfe der Zöllner im All tiksysteme“ einen lohnenden Markt. See- und Luftfahrt und sogar Taxiunter- die gebührenträchtige Tour. Die Sum- Branchenexperten schätzen, daß die nehmen navigieren bereits mit Hilfe der me wird von der Chipkarte abgebucht. Unternehmen binnen zehn Jahren 200 himmlischen Pfadfinder. Dabei könnte auch zwischen Tag- und Milliarden Mark einnehmen könnten. Die Signale von jeweils drei Satelliten Mondscheintarif unterschieden werden. Firmen wie Mannesmann und die Tele- reichen aus, um den Standort eines Möglich wäre ebenfalls, den Verkehr zu kom-Tochter DeTeMobil haben bereits Schiffes, Flugzeugs oder Autos auf 100 kritischen Zeiten auf Einfallstraßen in Mautsysteme entwickelt, die zwar den Meter genau zu bestimmen. Auch Ge- Großstädte stärker mit Gebühren zu be- Autofahrer zur Kasse bitten, die Kom- schwindigkeit und Fahrtrichtung kön- lasten als auf der Gegenspur. munen aber kaum belasten würden. nen ermittelt werden. Diese Eigenschaf- Anders als herkömmliche Telefonkar- Sollte der City-Zoll bundesweit ein- ten würden die Mautsysteme für ihr Kfz- ten enthalten die Mautkärtchen einen geführt werden, müßte jeder Autobesit- Inkasso nutzen. Prozessor und einen beliebig oft be- zer ein Gerät nach Art und zum Preis Zur GPS-Elektronik fürs Auto gehö- schreibbaren Speicher. Ist das Karten- eines Autoradios erstehen. Herz der ren ein Speicher und ein Chipkartenle- guthaben aufgezehrt, könnte der Kar- „Fahrzeugeinheit“ der Maut-Geräte ist ser. Im Speicher können geographische teninhaber sein elektronisches Konto et- ein Satelliten-Empfänger mit etwa fünf- Daten über gebührenpflichtige Auto- wa an Bankautomaten oder Tankstellen markstückgroßer Antenne. Das Gerät bahnen, Umgehungsstraßen und Stadt- gegen Bezahlung auffrischen. Als einen Vorteil der GPS-Mautsy- stems nennen Experten die völlige An- Himmlisches onymität der Daten. Wohl können im Inkasso GPS-Satelliten Maut-Chip Streckenprofile gespeichert und etwa als Spesenbeleg für Dienst- fahrten genutzt werden. Da aber die GPS-Satelliten nur Daten abstrahlen, nicht aber empfangen können, bleiben die Bewegungsprofile bis zur Löschung in den Händen des Autofahrers. Nur um Schwarzfahrer müßten sich die städtischen Inkassobüros künftig 1 CHIPKARTEN sorgen. Es gibt lediglich eine Möglich- 2 keit, die Maut-Ehrlichkeit zu prüfen: über einen Mikrowellen-Sender, der Mautzone Teil der GPS-Einheit ist. Etwa von Poli- 3 zeifahrzeugen aus könnten die Mikro- wellen-„Transceiver“ abgefragt werden: Fehlt der elektronische Chip-Fahrschein 1 Kfz-Mautsysteme enthalten einen Satellitenempfänger, einen Chipkartenleser und einen oder steht das Maut-Konto auf Null, wä- Speicher mit einer Liste der gebührenpflichtigen Zonen und den jeweiligen Mautgebühren. re der Schwarzfahrer überführt. 2 Der Empfänger rechnet Signale von GPS-Navigationssatelliten um und bestimmt so Für den grünen Maut-Schwärmer den Ort des Wagens. Fährt ein Auto in mautpflichtige City-Zonen, so bucht der Speicher Schmidt sind GPS-Geräte als „Eintritts- den Wegezoll von der Chipkarte ab. karte für die City“ allen anderen Ver- 3 Der Kontostand der elektronischen Fahrscheine wird angezeigt und kann, etwa an Tank- kehrskontrollmethoden überlegen. „Ein stellen oder Bankautomaten, jederzeit wieder aufgefüllt werden. Monatsticket für Busse und Bahnen et- wa“, das jeder Kfz-Halter zwangsweise

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zu kaufen hätte, besteuere „nur das Au- Den großen Batzen freilich bekam Si- Schon zwischen 1989 und 1992 hatte to, nicht aber das Autofahren“. gurdsson nicht. Am 12. August, einen Kaschani nach Ermittlungen der Kieler An der Benzinsteuer stört den Cityzoll- Tag nach dem Treffen im Hamburger Staatsanwaltschaft seine Verbindungen Fan, daß sie jede Fahrt, gleichgültig ob Hotel Elysee, wurde der gebürtige Iraner zu Firmen auf dem Flugplatz Harten- auf Autobahnen oder in Innenstädten, mit dänischem Paß verhaftet. Der Dealer holm genutzt, um Ersatzteile für die ira- gleichermaßen belasten würde. Allein hatte eine Warenprobe, zwei Kilogramm nische Luftwaffe zu beschaffen. In die- die City-Maut erlaube es, Autoströme Opium, für 30 000 Mark an „Hans“ ver- sem Geschäft wollte sich offenbar auch gezielt zu lenken. kauft. Der jedoch entpuppte sich wenig Sigurdsson versuchen. Verkehrsexperten wie Franz-Josef Ra- später als verdeckter Ermittler des Bun- Im Mai wurde Sigurdsson wegen Ver- dermacher vom Ulmer Forschungsinsti- deskriminalamtes (BKA). dachts auf Waffenhandel mit dem ehe- tut für Anwendungsorientierte Wissen- Aber die Festnahme Sigurdssons er- maligen Jugoslawien von den Spaniern verarbeitung (FAW) teilen die Einschät- wies sich als voreilig, sie verdarb dem nach Dänemark abgeschoben. Zu dieser zung des Grünen. „Road-Pricing“ sei der BKA einen größeren Fang: Der Däne einzig gangbare Weg, den Verkehr inden sollte die Fahnder zu den Hintermännern Städten zu reduzieren, „ohne das Auto- eines großangelegten Handels mit Mili- Opium-Proben fahren gleich ganz zu verbieten“. tärelektronik und Drogen führen. Si- gelangten per Manchen Parteifreunden des Grünen gurdsson hatte dem BKA und der US- Schmidt leuchtet der Kompromiß nicht Drogenpolizei Drug Enforcement Ad- Luftpost nach Texas ein. Auf der letzten Sitzung der Bundes- ministration (DEA) umfangreiche Ge- arbeitsgemeinschaft Verkehr von Bünd- schäfte vorgeschlagen. Alle Deals sollten Zeit hatte der Däne aus dem Iran be- nis90/Grüne entrüsteten siesich über den nach Kenntnis der Ermittler über den reits Kontakte zu verdeckten Ermittlern technikfrommen Hamburger: Für viele, privaten Flugplatz Hartenholm im Hol- des BKA und der DEA. Die Beamten so Schmidt, sei die ganze Maut-Elektro- steinischen abgewickelt werden. dienten sich Sigurdsson als Partner für nik nichts als „Teufelszeug“. Y Vor illegalen Aktionen iranischer In- Drogen- und Waffengeschäfte an. vestoren in Hartenholm hatte schon im Sigurdsson soll sich nach BKA-Anga- Sommer das Kölner Bundesamt für Ver- ben erboten haben, regelmäßig größere Drogenhandel fassungsschutz die Landesregierung in Mengen Opium zu beschaffen. Proben Kiel gewarnt (SPIEGEL 45/1994). Auf des Stoffs schickte er per Luftpost nach dem Flugplatz nahe Bad Bramstedt füh- Houston in Texas. Im Gegenzug erbat ren seit September 1993 die beiden Ira- der Kaschani-Freund von seinen US- Panne ner Mehdi Kaschani und Mussa Chajir Kontakten 200 Radarkomponenten für Habibollahi Geschäftsregie. Kaschani, amerikanische F-5-Kampfflugzeuge der 50, ist nach Überzeugung des BKA iranischen Luftwaffe. im Elysee „einer der größten Waffenhändler in Eu- Das Opium sollte nach Ermittlungen ropa“. des Bundeskriminalamts über Öster- Mit Rauschgift wollte ein Iraner Bislang fand die SPD-Regierung in reich „auf dem Land- oder Luftwege zu Waffen für Teheran kaufen. Kiel aber keinen Hebel, die Iraner loszu- dem Privatflughafen Hartenholm ver- werden. Jetzt baten die Kieler die Bun- bracht werden“. Die Radarsysteme soll- Geplanter Tatort: der deutsche desregierung um Hilfe: Es wäre „not- ten die US-Partner an die Hartenholm- Flugplatz Hartenholm. wendig und hilfreich“, so die Landesre- Firma Nordair liefern. gierung, wenn Bonn „beim Iran darauf Am 18. Juli traf Sigurdsson seine Ge- hinwirken würde, das iranische Engage- schäftsfreunde im Sheraton Park Tower ls „Hans“ den Koffer öffnete, ment an dem Flugplatz zu beenden“. Hotel in London. Etwa sechs Stunden staunte sein Geschäftspartner. Er Dabei hätte Sigurdsson in Freiheit ver- palaverte er mit DEA-Agent „Steve“ Ahabe es nicht für möglich gehalten, mutlich behilflich sein können. Der Ge- über die Liefermodalitäten: Für die Ra- wunderte sich Parviz Sigurdsson, daß schäftsmann mit Wohnsitz in Marbella darteile wurde ein Preis von 13 000 750 000 Mark in einen so kleinen Koffer gilt spanischen Behörden als enger Ver- Dollar je Stück vereinbart; als Gegen- passen. trauter des Iraners Mehdi Kaschani. wert für einen Teil des umfangreichen Elektronikdeals avi- sierte Sigurdsson nach Angaben von Ermitt- lern die Lieferung von 100 Kilogramm Opium via Hartenholm. Das BKA war über den Gang der Geschäf- te bestens informiert – BKA-Beamte wohn- ten dem Londoner Treffen als stille Beob- achter bei. Warum BKA-Fahn- der durch ihren voreili- gen Zugriff trotzdem alles verdarben, erklä- ren Insider mit deut- scher Art: Schuld seien „bürokratische Pannen

DPA innerhalb des Bundes- Waffenhändler Kaschani, Flugplatz Hartenholm: Voreiliger Zugriff kriminalamts“. Y

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MODERNES LEBEN SPECTRUM

Satire der Band „Museen“ (FAB- tränke frei“) eine Auffüh- lung, hat Schwenkow mittler- Verlag, Berlin; 316 Seiten; 18 rung der „Gespenstersonate“ weile seine Anwälte mobili- Führer Mark) ein frei erfundenes mit dem Staatsschauspieler siert und einen Stempelauf- „Grundsteinmuseum“, das Bernhard Minetti in einem druck durchgesetzt: „Satire“. mit Phantasie angeblich sowohl Teile des „Berliner Künstlertheater“ Achtung, Humor. In der deutschen Hauptstadt „gesprengten Stadtschlosses“ angepriesen. Im „Entertain- hat es Satire schwer. Eine als auch ein eingemauertes ment“-Führer lassen die Bordelle Reihe frecher Berliner Sze- Stück Kautabak von Fried- FAB-Autoren den Berliner neführer für das Kulturleben rich dem Großen ausstelle Variete´-Veranstalter Peter der Dreieinhalb-Millionen- und in dem über den „Ein- Schwenkow in einer erspon- „Rote Laternen Metropole präsentiert neben fluß der Berliner Steinlaus“ nenen „Neuen Scala“ als zahlreichen seriösen Infor- geforscht werde. Im Band Transvestit („bis zum Jahre sind out“ mationen jeweils eine Phan- „Theater“ wird nachmitter- 2099“) auftreten. Empört Architekturstudenten der tasie-Institution. So enthält nächtlich („ab zwei Uhr Ge- über diese Verhohnepipe- Technischen Hochschule Darmstadt haben Entwürfe für ein selbstverwaltetes Lebensgefühl. Das doku- Bordell erarbeitet. Marc mentiert eine jetzt in Mün- Steinmetz, 25, ist einer der chen erschienene Monogra- Teilnehmer des Projekts phie mit über 300 Abbil- „Herz-Zentrum“. dungen und Texten von Szenestars wie Paloma Pi- SPIEGEL: Herr Steinmetz, casso. In den Sixties prägte wie sieht der Puff der Zu- Antonio Pop Art und kunft aus? Trompetenhosen, Hippie- Steinmetz: Hell, sauber und Kult und die aufkommende sicher vor allem. Die Prosti- Sexualisierung mit. Seine tuierten brauchen bessere Models der Siebziger don- Arbeitsplätze. Außerdem nern im Easy-Rider-Stil da- sollte sich ein modernes her, mal als Comic strip, Freudenhaus selbstbewußt mal kollagiert aus Fotos im Stadtbild zeigen. Jeder und Zeichnungen. Opulenz sollte dazu stehen können, und Farbenpracht vereint wenn er hingeht. Nach mei-

FOTOS: SCHIRMER / MOSEL der 1987 an Aids gestorbe- nem Plan besitzt der Kon- Lopez-Werbezeichnung für den Möbelhersteller Cassina ne Künstler in seinem letz- taktbereich zur Straße hin ei- ten Lebensjahrzehnt zu ba- ne Glasfläche. Rote Later- Mode rocken Tusche-Gemälden. Sein Schönheits- nen und dunkle Ecken sind ideal, teilweise mit enormen Nasen und ei- out. nem lebenstrotzigen Gefühlsausdruck der SPIEGEL: Was bietet das Schön enorm Gesichter, schließt alle Rassen ein. Einer Haus innen? Seine Bilder Modezeichnungen zu nennen derzeit laufenden Ausstellungdes Zeichners Steinmetz: Die einzelnen ist so korrekt wie irreführend: Die Köpfe, im Pariser Muse´e de la Mode folgen 1995 Räume müssen je nach Körper und Szenen, die der Puertoricaner zwei weitere in München und Hamburg Wunsch der Kunden gestalt- Antonio Lopez in drei Jahrzehnten gemalt (Juan Eugene Ramos (Hrsg.): „Antonio 60, bar sein, von normaler Pro- hat, zeigen neben der Kleidung und dem 70, 80“. Schirmer/Mosel Verlag, München; stitution über Sadomaso-An- Make-up ihrer Zeit auch das dazugehörige 311 Abbildungen, 215 Seiten; 98 Mark). gebote bis zu homosexueller Bedienung. Dazu brauchen die Frauen unbedingt Perso- nalräume, private Zimmer zum Ausspannen, zum Re- den und Kaffeekochen. Drin- gend notwendig ist auch ein gut ausgestatteter Hygiene- Bereich für die Freier, das fehlt in den meisten Eros- Zentren. SPIEGEL: Was halten Prosti- tuierte von Ihrem Entwurf? Steinmetz: Ich habe vor Be- ginn der Arbeit ausführlich recherchiert, mich eingelesen und einschlägige Etablisse- ments im Frankfurter Bahn- hofsviertel besichtigt. Ent- sprechend gut sind die Reak- tionen. Die Prostituiertenor- ganisation „Huren wehren Lopez-Zeichnungen für Vogue, Fashions of the Times, Vanity Nr. 1 sich gemeinsam“ war begei- stert.

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GESELLSCHAFT

Psychologie „GIER NACH MEHR LEBEN“ Sie träumen davon, auszusehen wie die schlanken Schönlinge aus der Parfümwerbung, und ruinieren ihre Gesundheit mit Hungerkuren und Freßattacken: Gerade junge Männer, so registrieren Mediziner und Psychologen, leiden immer häufiger unter Eßstörungen wie Fett- und Magersucht oder Bulimie.

chon beim Frühstück hatte Werner Hilgers Srichtig hingelangt und jede Menge Würstchen, Eier und Toast verdrückt. Doch nun, kaum eine Stun- de danach, ist der Hunger wieder da. Auf der Fahrt zum Flughafen läßt Hilgers das Taxi halten und kauft vier Tüten Chips und eine Packung Schokoriegel. Hilgers schwitzt, das Jackett spannt über seinem gewaltigen Bauch. Er will nicht auf diese Computer- fachtagung nach Berlin, wo er mit anderen Experten an einer Fernsehsendung teil- nehmen soll. „Ich hoffe nur, daß sie jemanden ein- geladen haben, der dicker ist als ich“, sagt er leise. Hilgers, 34, ißt seit zwölf Jahren, mechanisch, wie ein Automat. Er ver- schlingt ungeheure Men- gen, ohne Genuß, ohne Wahrnehmung, ohne Kon-

trolle – wie ein Süchtiger. H. KOELBL Daß sein Verzehrzwang Eßgestörte Patienten Eckart, Georg*, Jochen: Bei Übergewicht sinkt das Jahreseinkommen krankhaft sein könnte, kam ihm lange nicht in den Sinn. Erst von 3000 Männern in Ost und West rund als später den Löffel ab. Heute aber ist vor einigen Wochen konstatierte sein zehn Prozent aller deutschen Männer Dicksein verpönt. Hausarzt eine „endogene Depression“ für eßgestört. In den Chefetagen der Wirtschaft be- und schickte ihn in die medizinisch-psy- Zwar sind Pudels Zahlen wegen diffu- stimmen drahtig-asketische Typen wie chosomatische Klinik Roseneck am ser Befragungs- und Diagnosekriterien Edzard Reuter das Bild des erfolgrei- Chiemsee. Dort lautet die Diagnose umstritten, Einigkeit besteht unter Ex- chen Managers. Dynamisch und schlank „Eßstörungserkrankung“. Hilgers Mit- perten aber über die Tendenz: Vor al- hat ein Unternehmer zu sein, und der patienten sind magersüchtige und buli- lem bei jungen Männern zwischen dem US-Psychiater Albert Stunkard behaup- mische Männer. Komisch, sagt er, „ich 10. und 25. Lebensjahr haben Eßstörun- tet gar: „Pro Pfund Übergewicht sinkt dachte immer, Eßstörungen wären so gen erheblich zugenommen. das Jahreseinkommen amerikanischer ’ne Art Weiberkrankheit“. Die Gründe dafür sind vielfältig, als Führungskräfte um 1000 Dollar.“ Das dachten bis vor kurzem auch Me- eine Ursache führen Psychologen einen Fitneßwahn und Werbung setzen in- diziner. Ihnen gelten ein Prozent aller Wandel des Männlichkeitsbildes an. In zwischen die Maßstäbe. War der Mann weiblichen Teenager als magersüchtig den fünfziger Jahren, als ein machtvol- in Anzeigen früher meist Nebensache, und rund drei Prozent aller Frauen zwi- ler Mann wie etwa Ludwig Erhard als ist er heute sinnliche Verheißung, ein schen 15 und 35 Jahren als Bulimikerin- attraktiv und stattlich galt, war Leibes- Lustobjekt, das sich verführerisch im nen. Doch neuerdings tauchen in den fülle ein Wohlstandssymbol: Der Sup- Wasser räkelt oder auf einer Schaukel Spezialkliniken für Eßgestörte auch pen-Kaspar, so wurde dem eßunwilligen sein strammes Hinterteil zeigt. Die mo- Männer auf, Tendenz steigend. Der Nachwuchs eingebleut, gibt eher früher dernen Schönlinge sind muskulös und Göttinger Ernährungswissenschaftler erotisch, jung sowieso und neuerdings Volker Pudel hält nach einer Befragung * Beim Kochen in der Klinik Roseneck. auch noch nackt.

66 DER SPIEGEL 51/1994 Wer ein wackeliges Selbstwertgefühl die Dunkelziffer hoch ist, darüber hat, ist für Schönheitsideale besonders sind sich Leibl und seine Kollegen anfällig. Und so berichten viele eßgestör- in Beratungs- und Therapiezen- te Männer, daß sie bestimmte Reklame- tren einig. Vor allem jüngere Beaus toll fänden – Models für Rasier- Männer kommen und gestehen, wasser, Zigaretten oder Unterwäsche. daß sie eß-, brech- oder mager- Diäten können Einstiegsdrogen sein, süchtig sind. für Frauen wie für Männer. Doch wenn Hilgers, ein melancholischer Männer erst mal hineingeraten sind in Mann, braucht auch Hilfe, das eine Magersucht oder Bulimie, tun sie weiß er inzwischen. „Der Hunger sich viel schwerer, Hilfe zu suchen. Und ist immer da“, sagt er. Andere viele Mediziner tun sich schwer, bei verstünden das nicht. Es sei ein Männern die entsprechende Diagnose Hunger, erklärt Hilgers, für den es zu stellen. keine Sättigung gebe, eine „Gier Wer gilt als krank? Als eßgestört be- nach mehr Leben“, einem besse- zeichnen Fachleute nicht jene zufriede- ren Leben, nach Intensität, nach Gefühl. „In meinem Dasein“, sagt er bitter, „ist alles ein bißchen zu laut, zu groß, zuviel. Nichts außer sinnloser Wichtigtuerei.“ Er habe sich die letzten Jahre immer mehr in Schuld und Isolation zurückge- zogen und zuletzt in einer durch und durch vergifteten Einsamkeit Männer-Model: Muskulös, erotisch, nackt gelebt. Seine Frau predigte immer wieder: Essen. Hunger und Sättigung können Hör auf mit der Fresserei. Du kriegst sie nicht mehr wahrnehmen, auf jedes sonst noch ’nen Herzinfarkt. Und wenn Gefühl, sei es Freude, Frust oder Wut, schon, dachte er. Was für ein blödes, reagieren sie mit essen. Die Entste- sinnloses Leben, das sich nur zwischen hungszusammenhänge sind bislang we- dumpfer Fresserei, zwischen Kauen und nig erforscht – lieblose, wenig „nähren- Verdauen abspielt. Er schaute ungern de“ Eltern, die ihre Kinder wegschie- in den Spiegel, weil er den Anblick die- ben, tauchen in den Erinnerungen Be- ses fetten Mannes, der ihm da entge- troffener ebenso auf wie solche, die har- genstierte, nicht ertragen konnte. Mei- monieversessen sämtliche Gefühle nur stens ekelte er sich an. Oder er tat sich über Essensrituale inszenieren und ab- leid. reagieren. Er war kein dickes Kind. Aber seine Mit den einzelnen Krankheitsbildern Eltern überboten sich gegenseitig mit gehen unterschiedliche Persönlichkeits- Diäten und sprachen abfällig über Leu- typen einher. Seine adipösen Klienten te, die nicht gertenschlank waren. Aus- seien geduldig, fügsam und würden sehen war wichtig, das bedeutsamste meist von ihren dominanten Ehefrauen Thema in dieser vertrockneten Ehe, zur Therapie angemeldet, erklärt ein zwischen zwei sich kasteienden, ewig Frankfurter Psychotherapeut, der seit mißgelaunten Menschen. Jahren mit eßgestörten Männern arbei- Richtig dick wurde Hilgers mit 16, tet. Seine dicken Patienten, beruflich „als das mit den Mädchen und den er- meist in einflußreichen Positionen, seien von Führungskräften sten Verliebtheiten so losging“. Viel- privat oft „aggressionsgehemmt und in- mehr losgehen sollte, aber nicht so fantil, asexuell und ohne Eigenverant- nen Dicken, die lustvoll und gern essen, recht klappte. „Ich war nicht häßlich“, wortung“ – emotionale Riesenbabys, sondern zwanghafte Esser, die Adipö- sagt er, „aber wohl auch nicht attrak- die nur auf der oralen Ebene in Kontakt sen, wie Fettsüchtige im Fachjargon hei- tiv.“ Da war mal eine, daran erinnert er mit ihren Trieben seien. ßen. Männer, die sich untergewichtig bis sich genau, die war süß und ziemlich Auch Bulimiker gelten als sehr tüch- hin zur Magersucht hungern, gehören schlank. Leider wollte sie nichts von tig, dazu energisch und durchsetzungs- dazu und die Bulimiker, die Eßanfälle ihm wissen. Er wollte hübscher und stark. „Bulimie ist die Krankheit der Er- bekommen und sie anschließend unge- schlanker werden – für sie. folgreichen“, glaubt Verena Vogelbach- schehen machen wollen: Sie stecken So fing es an: Hilgers hungerte und Woerner vom Frankfurter „Zentrum für sich den Finger in den Hals, nehmen hungerte, Eierdiät, Spargeldiät, Ana- Eßstörungen“. Bulimiker hätten eine bis zu hundert Abführtabletten oder nasdiät. Er nahm ab, 5 Kilogramm, 10 große Sehnsucht nach Kontakt und hungern tagelang. Bis zur nächsten Kilogramm. Dann nahm er wieder zu. fürchteten ihn gleichzeitig. Das mache Eßattacke. Explosionsartig. 5 Kilogramm, 10 Kilo- die Behandlung schwierig. „Die fressen Auch der Psychiater und Psychothe- gramm, 15 Kilogramm. So ging es eine und kotzen die Therapie genauso wieder rapeut Carl Leibl, stellvertretender Di- ganze Weile, bis der Mann entnervt den raus wie ihr Essen“, sagt Vogelbach- rektor in Roseneck, hält Pudels Zahlen ganzen Diätzirkus bleiben ließ und nur Woerner. für „deutlich zu hoch“ – es gebe bislang noch aß. Und schließlich bei einer Grö- Und wie ein Junkie verlieren sie zu- keine repräsentative Untersuchung über ße von 1,82 Metern 170 Kilogramm nehmend den Kontakt zu Familie und eßgestörte Männer und somit kein soli- wog. Freunden. „Bulimie ist Selbstmord auf des Zahlenmaterial. Ob übergewichtig, magersüchtig oder Raten“, meint Vogelbach-Woerner. Daß aber mehr Männer zu ihnen bulimisch – gemeinsam ist allen Eßge- Auch wenn die Todesursache so gut kommen als noch vor zwei Jahren und störten eine zwanghafte Fixierung aufs wie nie Bulimie heiße, sondern Nieren-

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insuffizienz oder Herz-Kreislauf-Ver- essen, brechen. Danach fiel er in einen sagen. Zustand tiefer Erschöpfung. „Ja, kann schon stimmen, erfolgreich Bulimiker brauchen Geld, viel Geld, und kaputt“, sagt Fritz, 34, Kamera- und sind deshalb nicht selten verschul- mann aus Berlin, ein hübscher schlanker det. Ein Freßanfall kostet durchschnitt- Mann. Mit 22 fing er an zu erbrechen; lich 70 Mark, rechnet Therapeutin Syl- eine sichere Methode, um schlank zu via Baeck vom Berliner Zentrum „Dick bleiben, dachte er. Dick wurde er denn & Dünn“ vor. Manche Bulimiker haben auch nicht, aber krank. Heute hat er zehn Freßanfälle täglich. Stoffwechselprobleme, ihm droht ein Jochen, heute 25, hatte Tage, an de- Speiseröhrenriß. „Ich kann nicht mehr“, nen er sich zehn-, elfmal erbrach. Jahre- sagt er. Er ist innerlich am Ende, er hat lang. Er ist 1,80 Meter groß und auf kapituliert, er will den Krieg mit seinem kümmerliche 51 Kilogramm abgemagert Körper aufgeben. – anorektisch mit bulimischen Anteilen heißt das Krankheitsbild im Fachjargon. „Ich will zunehmen, mindestens vier Ki- logramm“, sagt er. Als Jochen in die Pubertät kam, hun- gerte er ausgiebig und fand seinen ausgemergelten Körper wunderschön. Selbst als man jede Rippe einzeln sehen konnte, fühlte er sich noch zu dick. Viel- leicht entstand seine Magersucht aus Protest gegen elterliche Bevormundung, er weiß es heute nicht mehr genau. Sei- ne Hungerei ließ sich jedenfalls nicht einfach als Pubertätstick abtun, wie sei- ne Eltern bald merkten. Jochen emp- fand seine Magersucht als Macht gegen- über anderen, sie gab seinem Leben ei- nen Inhalt, eine Ordnung. Das wochenlange Hungern mit einem Teelöffel Reis am Tag oder einem Keks als Abendessen wurde von schweren Eßattacken unterbrochen. Jochen, der inzwischen Student war und in einer schwäbischen Kleinstadt lebte, ging in rund 70 Bäckereien und Metzgereien, bat um altes Brot und Wurstabfälle. „Wir haben einen Bauernhof, ich

Suppen-Kaspar-Illustration: Gibt früh den Löffel ab

Bulimiker sind äußerlich unauffällig. brauch’ das für die Schweine“, log er Sie essen mit Geschäftspartnern im Re- den Angestellten vor. Heute spricht er staurant, auf Partys oder bei Betriebs- voller Abscheu von seinen einsamen feiern am Büfett meist diszipliniert. Spä- Eßorgien mit diesem „Schweinefraß“. ter erst, allein und unbeaufsichtigt, fut- „Was für eine Katastrophenexistenz“, tern sie den Kühlschrank leer. Oder fah- sagt er. ren zum Hauptbahnhof, zum nächsten Andere Bulimiker, die in Geldnöte Imbiß oder zur Tankstelle und kaufen geraten ob ihrer Sucht, plündern schon ein, als gelte es, eine vierköpfige Fami- mal den Kühlschrank bei Freunden, lie zu versorgen. stehlen in Supermärkten und machen Sie essen im Auto oder zu Hause im sich – wenn es ganz schlimm kommt – Stehen: halbe Hähnchen, Pizzen, Steaks über Mülleimer her. und Koteletts, pfundweise Käse, Sala- „Eßgestörte Männer geben sich mie, Erdnüsse, Schokolade, Marmela- selbstbewußt, haben aber keinerlei denbrote, Kuchen. „Aber ich konnte Selbstwertgefühl“, sagt Diplompsycho- nichts im Bauch behalten, die Vorstel- loge Andreas Schnebel vom Münchner lung war mir unerträglich“, sagt Fritz. „Anad-Zentrum“. Die Werbefachleute Er kotzte alles raus. Diese Tortur wie- und Schauspieler, die sich bei ihm be- derholte er manchmal dreimal an einem handeln lassen, wüßten oft nicht, wer Abend: essen, brechen; essen, brechen; sie sind. Ihre Identität sei die Eßstö-

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GESELLSCHAFT

rung. Wenn sie ihre Krankheit aufge- reich und Spanien zum Grab des heili- ben, so ihre fixe Idee, könnten sie auf- gen Jakobus nach Santiago de Compo- hören zu existieren. Damit Männer in stela. ihrem vertrauten Arbeitsalltag einen ge- Auf dem 42tägigen Marathonmarsch sünderen Umgang mit Essen lernen, über die Pyrenäen kam ihm seine „beste will Anad jetzt die erste Wohngruppe Idee“: Er wollte einen verteufelt reali- für Männer anbieten. stischen „kirchlichen Zukunftsroman“ Letztlich, so Schnebel, können Män- schreiben, um Sprengstoff wider Papst ner, unzufrieden mit sich und ihrem und Klerus zu zünden. Körper, in jede Art von Eßstörung hin- „Der kleine Bischof“ war geboren, ei- eingeraten – und jede sei gleich proble- ne revolutionäre Figur*. Der undankba- matisch. Auch wenn Bulimiker und Ma- re Pfarrer Oliver Maß, der im Jahr 2000 gersüchtige von Außenstehenden oft überraschend Bischof von Würzburg mehr bedauert würden, weil ihr Schick- wird, entwickelt sich zum Stachel im sal dramatischer wirke und, wie Schne- Fleisch des Vatikans: Er verzichtet auf bel vermutet, „das Elend der Dicken Mitra und Stab und zieht aus dem bi- keiner wahrnehmen will“. schöflichen Palais in eine einfache Woh- Die Betroffenen bewerten die Eßstö- nung am Stadtrand Würzburgs, er wei- rungen anders. So ist etwa der adipöse gert sich, zölibatsbrechende Pfarrer ab- Hilgers einigermaßen erleichtert, daß er zuberufen, und entschuldigt sich gar bei weder ein magersüchtiges Hemd ist Schwulen für die jahrhundertelange Kir- noch die Kotznummer drauf hat. Er chenausgrenzung. fühlt sich dadurch einigermaßen nor- Zuerst tauchte dieser Robin Hood mal. vom Steigerwald häppchenweise im Georg, ein Schwergewicht von 180 Blättchen der Schweinfurter 1400-See- Kilogramm, ein junger Mann, der seit len-Gemeinde St. Michael als „aktueller Monaten in Roseneck ist, sieht das an- Fortsetzungsroman“ auf. Dann gab ders. „Wir haben mehr mit den Dünnen Breitenbach, von seiner Gemeinde er- Breitenbach-Roman gemein, als uns lieb ist.“ Zum Beispiel mutigt, die Serie als Buch heraus. Inner- Über 100 000 Exemplare verkauft wolle er, Georg, mit seinem Gewicht halb von fünf Tagen war die erste Aufla- auf sich aufmerksam machen. Und sein ge (5000 Exemplare) vergriffen. spendet Breitenbach vollständig der von Klinikkollege Eckart, 30, magersüchtig Mittlerweile hat sich „Der kleine Bi- ihm gegründeten Arbeitsloseninitiative mit 42 Kilogramm, wolle das unbewußt schof“ klammheimlich zum Kultroman „1,5 Prozent“, in der eine Gruppe von eben auch. der Katholikenszene entwickelt: Über Kirchenmännern Arbeitsplätze finan- Georg und Eckart machen Einzel- 100 000 Exemplare sind verkauft, ob- ziert. und Gruppengespräche mit, Tanzthera- wohl der Verlag keinerlei Werbung be- Die Leserschaft besteht laut Breiten- pie und Selbstsicherheitstraining. Beide treibt. Den Erlös des kleinen Bestsellers bach vorwiegend aus „erbosten Pfarrern essen normal, der eine nimmt ab, der und Menschen, die un- andere zu. Georg wird bald entlassen. ter der Kirche leiden“ – Wer sich wohl am meisten freue, wenn eine offenbar wachsen- er abnehme, fragt Oberarzt Leibl ihn. de Gruppe. Auf Lese- „Meine Mutter“, sagt Georg ohne Zö- reisen durch katholi- gern. Das Dumme sei nur, fügt er hinzu sche Pfarrsäle und und grinst spitzbübisch: „Der gönn’ ich Volkshochschulen ern- es eigentlich überhaupt nicht.“ Y tet der wortgewaltige Priester Beifallsstürme. In einer schlichten Kirche Sprache, die auch von einfachen, arglos gläu- bigen Gemütern ver- standen wird, tritt der Sieg des geistliche Provokateur als Provinzausgabe von Eugen Drewermann Hinterteils auf. Seine Spezialität sind Ein klerikaler Zukunftsroman deftige Attacken auf ist unter kritischen Katholiken die Amtskirche: „Die kirchliche Sexualmoral zum Kultbuch geworden. ist unglaubwürdig und menschenfeindlich, die enn der Gottesmann Roland bischöflichen Konfe- Breitenbach, 59, in den Urlaub renzen ergeben nicht Wgeht, nimmt er das meist wört- viel anderes als den lich. Auf Fußmärschen, am liebsten wo- Sieg des Hinterteils chenlang, erholt er sich von den Mühen über den Geist, der Va- des Gemeindealltags und meditiert über * Roland Breitenbach: „Der die Weisheit des Heiligen Stuhls. So pil- L. KIENLE kleine Bischof“. Reimund gerte der robuste Schweinfurter Pfarrer Pfarrer Breitenbach Maier Verlag, Schweinfurt; 1989 über 1500 Kilometer durch Frank- „Die kirchliche Sexualmoral ist menschenfeindlich“ 216 Seiten; 26,80 Mark.

DER SPIEGEL 51/1994 71 Werbeseite

Werbeseite GESELLSCHAFT tikan ist zu einem Instrument der der Technischen Universität München Macht entartet, das das Gewissen der Software entworfen. Die Adventsfächer werden Christen und der Seelsorger um jeden erst jeweils am Vorabend digital ge- Preis zum Schweigen bringen will. Die füllt – Just-in-time-Weihnachtsproduk- päpstliche Moraltheologie stammt aus tion. dem letzten Jahrhundert.“ Völlerei Die Informatiker setzen damit eine Solche Sätze machen Ärger. Schon Tradition fort, die Datenfreaks und maulen Schweinfurter Pfarrer über den Softwarehäuser in den USA schon seit Gottesdiensttourismus. Ihre Schäfchen mit Sauriern einigen Jahren pflegen: Der Computer, strömen lieber zum Kollegen Breiten- Arbeitsgerät und Lieblingsspielzeug bach in dessen ungewöhnlich gutbe- Tannengrün im Datennetz, Advents- von Millionen, wird zum Advent in- suchte Sonntagsmessen. 800 bis 1200 kalender auf dem Bildschirm: und auswendig mit allerlei Schnick- Christen kann der Romancier allsonn- schnack geschmückt. täglich begrüßen, das weckt den Neid Es weihnachtet im Computer. In den USA bietet ein ganzjährig ge- der geistlichen Konkurrenz. öffnetes Weihnachtsversandhaus sein Um anonymen Denunzianten und bi- dventskalender sind inzwischen Sortiment inzwischen sogar in einem il- schöflichen Disziplinierungen vorzu- schokofrei und zahnfreundlich ge- lustrierten Online-Katalog feil (http:// beugen, greift der clevere Breitenbach Aworden, sie haben zwar noch Tür- www.noel.com/xmas/), der vom PC aus zu einer List. All seine Bücher und Ar- chen, die sich aber nur virtuell öffnen über die Telefonleitung angewählt wer- tikel schickt der renitente Pfarrer vor- lassen: auf dem Computermonitor. den kann. sorglich seinem Bischof Paul-Werner Mit dem gekalauerten Weihnachts- Höchste Zeit für den Weihnachts- Scheele, der den widerborstigen Refor- wunsch „Frohe Festplatte“ hat Soft- mann, sich ebenfalls eine schicke E- mator bislang kommentarlos gewähren ware-Primus Microsoft ein adventliches Mail-Adresse im Internet zu besorgen; läßt. PC-Programm mit Reklamefüllseln Anschrift für elektronische Wunschzet- Dafür melden sich die Fans des klei- tel: http://north.pole. nen Bischofs mit hymnischen Erklärun- org/santa/. Dort fin- gen: „Es ist die freie Luft des Evange- den Datenreisende liums, die wir endlich atmen dür- einen Vorrat an fen . . . Der kleine Bischof ist für mich Schmuckgrafiken, mit wie der kleine Prinz von Saint-Exupe´- denen sie sich am ry. Von dieser Unschuld und Zartheit Bildschirm einen vir- geht eine Kraft aus, die mein Leben tuellen Weihnachts- bestätigt . . . Hätte ich es früher gele- baum zusammenba- sen, wäre ich vielleicht nicht aus der steln können. katholischen Kirche ausgetreten . . . Besonders frohe Ich bin gespannt, wann Ihnen der Vati- Weihnachten erwar- kan die Rübe abhackt.“ tet Computerbenut- Noch ist es nicht soweit, noch wiegt zer, die bereits seit sich Breitenbach dank seiner vollen dem letzten Fest Kirche in Sicherheit: „Mein Bischof ist ein PC-Laufwerk für kein Dyba. Mit dem Herrn aus Fulda Compact Discs (CD- würde ich ernsthaft Ärger bekommen.“ Rom) haben. Daten- Er dichtet weiter. 20 Werke, vom völlerei verspricht der Kinderbuch bis zum Eheführer, mit ei- BHV Verlag mit einer ner Gesamtauflage von 300 000 hat der „Weihnachts-CD“: spätberufene Vielschreiber seit 1984 Geboten werden etwa veröffentlicht. Seine klerikale Phan- „Rezepte, Video-Clips tasie „Eine kleine weiße Feder“ als Erläuterung“ so- beispielsweise handelt von Papst wie „Weihnachtslieder Petrus II., der im Jahr 2011 Rom de- (mit Text am Bild- monstrativ verläßt und im peruani- Münchner Internet-Angebot: Virtuelle Füllsel schirm)“ und Ge- schen Lima eine Gegenkirche aufbaut, schenktips. weil der Vatikan zu einem „Museum herausgebracht, das auf dem Rechen- Die Präsente werden anschließend in und schwerwiegenden Hindernis bei knecht bisWeihnachten jeden Tag ein an- Weihnachtspapier aus dem PC-Druk- der Neuorientierung der Kirche“ ge- deres Spielchen anbietet: Eine Maus ker eingewickelt, das sich mit „Clip- worden ist. sucht im Labyrinth ihren Käse, Nonsens- Arts Weihnachten“, einer Speicherdisc Köstliche Zukunftsvisionen für Brei- Tips für PC-Schmuck oder Saurier- voller festlicher Computergrafiken, tenbach, der sich auf keinen Fall aus schwanzbraten-Rezepte werden gebo- ausdrucken läßt. Die Motive stammen seiner Kirche hinausekeln lassen will. ten. von dem ungarischen Zeichner Peter „Wenn ich hinwerfen würde, gäbe es Verglichen mit dem ersten deutschen Balassa, der den digitalen Advents- einen Skandal, aber nach ein paar Wo- Cyberspace-Adventskalender im glo- wahn auf die Spitze getrieben hat. Er chen wäre alles wieder vergessen. Den balen Computernetz Internet mutet läßt auf dem Bildschirm Weihnachts- Gefallen tue ich dem Kirchenapparat die Diskette allerdings ähnlich altbak- männer auftreten, die sich wenig artge- nicht.“ ken an wie Weihnachtsplätzchen vom recht verhalten: Sie bemalen Oster- Zumal der Mann noch an Wunder vergangenen Jahr. Die Bildschirmtüren eier. Y glaubt: „Unsere Kirche St. Michael ist (Netzadresse: http://www.informatik.tu- ein grauer Betonwürfel, der jetzt nach muenchen.de/misc/wkal/), hinter de- „Die BHV Weihnachts-CD“. BHV Verlag, Korschen- 30 Jahren bröckelt. Vielleicht zeigen nen sich Gedichte von Heinrich Heine broich; 24,80 Mark. „Frohe Festplatte“. Micro- soft, Unterschleißheim; Werbegeschenk. Peter auch die Betonköpfe in Rom langsam und Kurt Tucholsky sowie bunte Post- Balassa: „ClipArts Weihnachten“. Systhema, Risse.“ Y kartenmotive verbergen, wurden an München; 29,90 Mark.

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Strafjustiz „Fragen S’ ned so blöd“ SPIEGEL-Reporterin Gisela Friedrichsen zum Tod eines Häftlings in München-Stadelheim

ie Schöffen, zwei Männer mittle- ihm auf der Umgangsebene ren Alters, schmunzeln. Denn der schlichter Menschen gut aus- DRichter verliest Zeitungsberichte kommen läßt. Er schöpft, aus dem Sommer 1989. Wozu? wenn es kompliziert wird, ein- Die Schöffen begreifen. Wie sehr die fach aus dem Schatz der Volks- Sache damals doch aufgebauscht wurde: weisheit. Er schweift ab ins „Häftling stirbt nach Schuß aus Gaspi- Menschliche, Allzumenschli- stole.“ Der Richter macht „huhuhuhu“ che. Und manchmal ist er dann und zitiert weiter: „Schieber, Schurken, unversehens im Unmenschli- Schläger“. chen. Odysseus nannte sich Niemand, bevor Richter Wenning verhandelt er den einäugigen Riesen Polyphem die Sache zur Unkenntlichkeit, blendete. Könnte der Türke Ibrahim er rast durch den Stoff. Mit Bayraktar, 37 Jahre alt, als er starb, dem ersten Verfahren hat das noch gefragt werden, wer ihm das ange- zweite keine Ähnlichkeit tan hat, müßte auch er wie Polyphem mehr. Daß ein Mensch tot ist, antworten: „Niemand.“ ja mei. Der zeitliche Abstand Denn alle Personen, die in die Vorfäl- zur Leiche hat sie längst im le involviert waren, die letztlich zum Nebel verschwimmen, ja ver- Tod des Häftlings führten, wurden in schwinden lassen. Die Ver- der vergangenen Woche von jeglicher säumnisse des Anstaltsperso- Schuld freigesprochen, selbst die, die im nals, die Schlampereien, die Februar dieses Jahres noch vom Amts- Feigheiten und Unaufrichtig- gericht München wegen unterlassener keiten, die in erster Instanz Hilfeleistung, Körperverletzung im Amt von dem Amtsrichter Dr. oder fahrlässiger Körperverletzung zu Manfred Meyer, 51, noch mit Freiheits- und Geldstrafen verurteilt großem Ernst zur Sprache ge- worden waren. bracht worden waren – bei Der Vorsitzende Richter am Landge- Richter Wenning machen sich richt München I, Wilhelm Wenning, 58, auch die Aussagen in Windes- gilt in München als eines jener bayeri- eile in den Herbstnebel davon:

schen Originale (mit Schwielen an den „Im Endeffekt hat halt nie- W. M. WEBER Fingerspitzen), die langsam aussterben. mand etwas gesehen. Im End- Vorsitzender Richter Wenning Es mag zutreffen, daß es sich mit effekt war es in der Zelle arg „Schieber, Schurken, Schläger“ duster.“ Arg düster ist das Bild in der Tat je- Von 1986 an war Bayraktar wegen Ein toter Häftling desmal, wenn die Ereignisse zur Spra- dieser psychischen Krankheit arbeitsun- che kommen, die im Sommer 1989 zu ei- fähig und bezog in Holland Rente. beschäftigt die bayerische Justiz nem tragischen Tod führten. Bayraktar, Im Juli 1988 ließ er sich von einem zum zweitenmal. Abgesondert in 1952 in Bulgarien geboren, sein Vater Landsmann überreden, einen Karton einer menschenunwürdigen Zelle war Landarbeiter, besuchte nur vier mit Lebensmitteln in seinem Auto nach war der psychisch kranke Türke Jahre lang eine Schule. 1970 kam er in Deutschland zu transportieren. Bayrak- 1989 in einen Zustand geraten, an die Türkei, 1973 verschlug es ihn in die tar bestritt vor Gericht, gewußt zu ha- dem er vier Wochen später zugrun- Niederlande. 1975 heiratete er eine Frau ben, daß sich in einer Thermoskanne im de ging. In erster Instanz wurden aus seiner Heimat, die ihm drei Söhne Karton Heroin befand. Ob das stimmt die diensthabende Ärztin der Ju- gebar. Den Unterhalt für die Familie oder ob er nur nicht die Kraft zum Nein- stizvollzugsanstalt München-Sta- verdiente er in einer Textilfabrik. sagen hatte – ein ausgekochter Rausch- delheim und drei Vollzugsbeamte 1980 erkrankte der Mann. Ein türki- gifthändler war der Türke nicht. verurteilt (SPIEGEL 11/1994). In scher Arzt in Izmir diagnostiziert eine Das Landgericht Augsburg, das Bay- der Berufung wurden jetzt alle frei- „major depression“, eine schwere Kon- raktar 1989 zu sechs Jahren Freiheits- gesprochen. Die Justiz verspricht taktstörung. Einem psychiatrischen strafe verurteilte, stellte verhängnisvolle sich viel von Generalprävention Sachverständigen berichtete Bayraktar Weichen. Die psychische Erkrankung durch Strafurteile. Dieser Frei- in Deutschland, er leide unter „innerli- des Angeklagten wurde übergangen, da spruch hält niemanden im Straf- chem Druck“, Schlaflosigkeit, Ängsten, das Gericht einen planvollen Tatablauf vollzug zu größerer Aufmerksamkeit Kopfschmerzen. Er habe oft das Ge- unterstellte. Bayraktar galt nach dem gegenüber den Häftlingen und fühl, ein Flugzeug im Kopf zu haben. Urteil als „voll schuldfähig“. Für die Be- auch nicht zu mehr Respekt vor Im Übergang zwischen Wachen und amten im Vollzug war er gesund. dem Strafvollzugsgesetz an. Schlaf sehe er bisweilen weiße Gestal- Am 28. Juli 1989 soll Bayraktar von ten. Augsburg nach Straubing verschubt

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werden. Er schlägt auf Mitgefangene auch nicht, wie hätte er es denn machen stens ihre Inkompetenz hätte sie sich an- ein. In einer der Durchgangszellen von sollen mit den Händen am Rücken. Spä- gesichts eines wohl psychiatrischen Falls München-Stadelheim, der Zwischensta- ter, als seine Hände nach vorn gefesselt eingestehen müssen. Am vierten Tag, tion, greift er nachts einen Mann an und wurden, wühlte er im Klo. den der Türke in der Absonderungszelle erwürgt ihn fast. Er reagierte auf nichts. „Verständi- verbrachte, hatte sie frei. Dieser Mitgefangene berichtete spä- gung ist unmöglich“ stand auf dem Doch zu dem Zeitpunkt war es wohl ter: „Er war wunderlich und aggressiv. Transportzettel. Der Vorsitzende der bereits zu spät. „Mir ham des grad um- Er kam barfuß und verlangte meinen Bundesgemeinschaft der Ärzte und Psy- gerechnet“, sagt Richter Wenning nach Paß zu sehen. Er wollte mit dem türki- chologen im Strafvollzug, Rainer Rex, einer Mittagspause, „dem Mann ham ja schen Ministerpräsidenten sprechen und der in zweiter Instanz hinzugezogen 25 Weißbier gefehlt.“ Dann wäre es die Polizei umbringen.“ wurde, erklärte, daß ein Häftling nach vielleicht nicht zu dem Nierenversagen Bayraktar wird daraufhin in eine so- einem Dreivierteljahr in Deutschland in gekommen, an dessen Folgen der Häft- genannte Absonderungszelle geschleift. der Lage sei zu verstehen, wenn er ange- ling vier Wochen später starb. Im Handgemenge reißt der Tobende ei- sprochen werde. Hat Herr Rex aus Ber- Der Amtsrichter Meyer hatte in erster nem Beamten die Gaspistole aus dem lin einmal einen bayerischen Vollzugs- Instanz nicht um das Fehlverhalten ein- Holster und schießt viermal. Ein Voll- beamten „deutsch“ reden gehört? zelner herumgeredet. Dabei ging es ihm zugsbeamter feuert zweimal zurück. Bayraktar warf sich auf den Steinbo- auch um das Ansehen der Justiz, die den, auf den Bettsockel. Er schlug mit nicht zulassen darf, daß ein Mensch im dem Kopf gegen die Wände. Er schmet- Gefängnis verdurstet oder so verprügelt Absonderungszellen terte sich die Handschellen ins Gesicht. wird, daß er die Folgen nicht überlebt. sind Löcher Die in erster Instanz zu sieben Mona- Der Richter am Landgericht Wenning ten wegen unterlassener Hilfeleistung dagegen meinte, die Frau Dr. Rohde wie fürs Vieh verurteilte Anstaltsärztin Dr. Ursula habe eben nicht erkannt, daß sie hätte Rohde, 50: „Mir war die Ursache für Hilfe leisten müssen. Und: „Was hätte Der damalige Abteilungsleiter Dr. sein auffälliges Verhalten nicht klar. sie denn schon tun können?“ Hans-Jochen Menzel, bereits zum Wo- Handelte es sich um das Vortäuschen Vielleicht habe sich der Häftling, ein chenende am Chiemsee, ordnet telefo- geistiger Verwirrtheit, um nicht zur Ver- Mohammedaner, von einer Frau nicht nisch an, daß dem Häftling die Hände antwortung gezogen zu werden wegen untersuchen lassen mögen, spekuliert auf den Rücken zu fesseln seien und daß der Schüsse auf die Beamten?“ der Richter. Vielleicht hat er sich ja er in den hinteren fenster- und lichtlosen Teil der Zelle zu sperren sei. Gegen Menzel wurde seinerzeit er- mittelt. Aber dann wurden die Ermitt- lungen eingestellt, und inzwischen ist er aus dem Schneider, weil die Sache ver- jährt ist. Das Schlimmste für ihn war ei- gentlich, daß er als Zeuge von Richter Wenning wegen seiner Windjacke ge- maßregelt wurde: „Das ist ja wohl nicht die Dienstkleidung eines Regierungsdi- rektors, sogar die Angeklagten erschei- nen hier mit Krawatte.“ Dann läßt der Richter ihn seine pflichtgemäße Amts- führung betonen und schreitet nicht ein, als Menzel eine Verteidigerin an- herrscht: „Fragen S’ ned so blöd.“ Absonderungszellen sind Löcher wie fürs Vieh. Menschen werden dort hin- eingesperrt, deren Rechte bereits hart eingeschränkt sind und die doch eine Würde haben. In Stadelheim gibt es in diesen Zellen nichts außer einem ge-

mauerten Bettsockel und einem Abtritt W. M. WEBER im Boden für die Notdurft. Angeklagte Rohde, Verteidiger Amelung: „Vortäuschung geistiger Verwirrtheit?“ Ach ja, einen Notrufknopf gab es in Stadelheim auch. Wenn der gedrückt Ursula Rohde ist keine durchset- auch selbst ums Leben bringen wollen, wurde, kam – vielleicht – ein Beamter zungsfähige Frau. Martin Amelung ver- „schließlich wußte er, daß er noch eine draußen vorbei und betätigte die Spü- teidigte sie. Sie ist in einem Milieu wie Strafe aufs Dach kriegt wegen der lung des Klolochs. dem Knast überfordert. Sie habe sich Schüsse“. Oder er wurde schon in Augs- Bayraktar drückte in der ersten Nacht auf die Auskunft eines Beamten verlas- burg so verprügelt oder in Stadelheim oft. Ein Beamter kippte einen Eimer sen, Bayraktar trinke aus dem Klo. Ver- von den Beamten, die sich revanchieren Wasser in die Zelle: „Weil’s mir halt traut mit der Örtlichkeit, muß sie ge- wollten („Einen Nachweis gibt’s natür- g’stunka hat, daß der dauernd auf wußt haben, daß dies nicht möglich war. lich nicht“), daß seine Nieren versag- d’ Glockn druckt hat. I hab’ ja eh schon Sie hat sich nicht gegen einen Dr. ten? alle halbe Stund’ neischaung miass’n.“ Menzel durchgesetzt, dem es darum Nach dem Urteil trifft der Richter Was von da an alles passierte – und ging, den aufsässigen Häftling zu bestra- Wenning den Vertreter der Nebenklage was nicht –, ja mei. 18 Beamte für 1800 fen. Sie hat sich nicht getraut, den ab- in der Cafeteria. Verschmitzt lachend, Gefangene am Wochenende. Unklare sonderlichen Mann so zu untersuchen, klopft er ihm auf die Schulter: „Sie müs- Vorschriften. Erst bekam der Häftling daß sie ein klareres Bild von seinem Zu- sen schon mehr trinken, Herr Rechtsan- gar nichts zu essen. Trinken konnte er stand hätte gewinnen können. Wenig- walt, ned bloß so a Wasser.“ Y

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WIRTSCHAFT

Treuhand ABSCHIED EINES BUHMANNS Als Plattmacher war die Treuhand im Osten verschrien und als Handlanger des westdeutschen Kapitals. Nun löst sich die umstrittenste Institution Deutschlands auf, zurück bleibt ein weitgehend deindustrialisiertes Ostdeutschland. Doch gab es zur Arbeit der Privatisierungsbehörde überhaupt eine ernsthafte Alternative?

ur noch wenige Tage, dann frage war meist schnell geklärt. Daß Nein, sagt die Treuhand und verweist schraubt Birgit Breuel das Schild die Wirtschaft im Osten zusammen- auf die Bilanz ihrer viereinhalbjährigen N vom Eingang der Berliner Treu- brach, daß sich Millionen Arbeiter auf Tätigkeit: Sie hat, bis auf kleine Restbe- handanstalt und nimmt es mit nach Hau- der Straße wiederfanden – für all das stände, die ostdeutsche Wirtschaft ver- se – als Souvenir. wurde die Berliner Behörde verant- kauft, rund 1,5 Millionen Arbeitsplätze Das war’s. Am 1. Januar gibt es sie wortlich gemacht. gerettet, 65 Milliarden Mark erlöst und nicht mehr, die mächtigste und zugleich Das böse Wort vom Plattmachen Investitionen in Höhe von gut 200 Milli- umstrittenste Behörde des Landes. Kein haftet der Treuhand seither an, und arden angestoßen. Fest, kein Pomp, kein Glitter – fast ge- die vielen Skandale und Skandälchen Eine schöne Bilanz, aber sie zeigt nur räuschlos tritt die Treuhand ab, sie hört waren nicht dazu angetan, das Image einen Teil der Wahrheit. Gewiß, der einfach auf zu existieren. der Anstalt zu verbessern: Allzu leicht Großteil der ostdeutschen Unterneh- So unspektakulär ist eine vergleichbar machte es die Treuhand windigen Ge- men ist verkauft. Am Leben blieben je- mächtige Institution wohl noch nie von schäftsleuten aus dem Westen, aber doch meist Mini-Betriebe. Eine eigen- der Bühne verschwunden. Fast scheint auch ehrbaren Anwälten, Konkursver- ständige ostdeutsche Industrie gibt es es, als hätten die Akteure ein schlechtes waltern und Beratern, zum Teil zwei- nicht mehr. Gewissen. Wahrscheinlicher ist, daß die stellige Millionenbeträge abzuzocken, Viele der privatisierten Betriebe Einsicht siegte, eine große Feier könnte allzu leichthändig ging sie mit Millio- kämpfen ums Überleben. Vor allem die die Gefühle der Ostdeutschen verletzen. nen und Milliarden um. sogenannten Management-buy-outs, Noch immer sehen viele in der Treu- Doch was hat die Treuhand tatsäch- Firmen, die vom eigenen Management hand die Schaltzentrale der westdeut- lich erreicht, und was hätte sie errei- übernommen wurden, arbeiten am Ran- schen Kolonialherren, die deren ost- chen können? Wäre der Absturz der de des Konkurses. deutsche Konkurrenz rücksichtslos nie- ostdeutschen Wirtschaft zu verhindern Und was sind das eigentlich für Ar- derwalzte. Wann immer in den vergan- gewesen, hätten mehr Betriebe und beitsplätze, die angeblich gerettet wur- genen Jahren ein ehemals Volkseigener mehr Arbeitsplätze gerettet werden den? Sind das Jobs in Beschäftigungsge- Betrieb geschlossen wurde – die Schuld- können? sellschaften, die, von der Bundesanstalt H. WESSEL K. MEHNER DDR-Betrieb Robotron (1988), Automobilwerk Eisenach (1990): Vorzeigekombinate entpuppten sich als Industriemuseen

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Reichlich zugezahlt D. KONNERTH / LICHTBLICK Treuhand-Einnahmen und - Ausgaben in Milliarden Mark Treuhand-Zentrale in Berlin: Beispiellose Machtfülle EINNAHMEN 12,3 Zeitraum 500 Milliarden Das ist die andere, die weniger schöne 7,7 11,6 8,5 Mark. Seite der Treuhand-Bilanz. Doch war, 1,6 Von den vereinbarten unter den gegebenen Umständen, viel Kaufpreisen werden Ende mehr zu erreichen? Gab es eine Alter- 2.Halbjahr 1990 1991 1992 1993 1994 des Jahres erst 28 Milliar- native zur Arbeit der Anstalt? den Mark eingegangen Tatsächlich hat ja die Treuhand kei- 5,9 sein. Zwar sind noch nicht neswegs die konsequente Politik betrie- 27,6 alle Kaufpreise fällig, viele ben, die ihr immer unterstellt wird. können auch in Raten ge- Vielmehr hinkten die Verantwortlichen 41,2 AUSGABEN 46,6 zahlt werden, aber Treu- mit ihren Versuchen, eine eigene Linie 49,8 hand-Chefin Breuel räumt zu finden, stets hinter den Ereignissen ein, daß ein zweistelliger her. Learning by doing, sagen Frau Milliardenbetrag aussteht. Breuel und ihre Mitstreiter, habe ihr für Arbeit finanziert, alte Werkshallen Die Einnahmen sind bescheiden, ver- Handeln bestimmt. Zu fragen ist also, abreißen? Oder Teilzeitstellen? glichen mit den Ausgaben der Anstalt. ob aus den unvermeidlichen Fehlern die Die Statistik läßt da viel Spielraum für Selbst wenn alle Käufer den vereinbar- richtigen Konsequenzen gezogen wur- den, der sie gestaltet. Die Treuhand hat ten Preis zahlen werden, woran erhebli- den. ihn genutzt. So gingen in ihre Statistik che Zweifel bestehen, wird die Treu- Als die Mauer fiel, hatte niemand ei- auch Arbeitsplätze ein, die dort über- hand ihre Arbeit mit einem Schulden- ne Vorstellung, wie eine Plan- in eine haupt nichts zu suchen haben. stand von 275 Milliarden Mark abschlie- Marktwirtschaft umgewandelt werden Die Firma Ascota aus Chemnitz, her- ßen. Und niemand weiß, ob diese gigan- konnte. Zunächst mühte sich die DDR- vorgegangen aus dem Buchungsmaschi- tische Zahl sich nicht noch weiter er- Regierung um die Marktwirtschaft; und nenwerk Karl-Marx-Stadt, beschäftigte höht. weil ihr das naturgemäß schwerfiel, 8000 Menschen, bevor 1991 die Liquida- tion beschlossen wurde. Das Grund- stück ging an einen Immobilien-Inve- stor, der dort den Einkaufs- und Gewer- bepark Chemnitz errichtet. 4000 Ar- beitsplätze hat er den Treuhändern zu- gesichert, und die haben die schöne Zahl gleich in ihre Statistik aufgenom- men. Die Stadt Chemnitz will ihr techni- sches Rathaus in diesem Park ansiedeln, das bringt, zum Ruhme der Treuhand, rund 1500 Arbeitsplätze. Die wären auch ohne den Gewerbepark entstan- den, und ohne die Treuhand sowieso. Aber wer kann schon unterscheiden, welche Arbeitsplätze von der Treuhand geschaffen wurden und welche auch oh- ne deren Hilfe entstanden wären? Bei den Investitionen ist das nicht viel an- ders. Über 200 Milliarden wollen die Treu- hand-Betriebe investieren. Das haben sie zugesagt, und so steht es in der Er- folgsbilanz der Anstalt. Realisiert wurde bisher nur ein Bruchteil. Die gesamten

Investitionen der deutschen Wirtschaft C. JUNGEBLODT / THIRD EYE in Ostdeutschland betrugen im selben Protest gegen Treuhand (1992): Die Bonner Regierung stellte sich taub

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WIRTSCHAFT

gründete sie, in der Tradition ihrer zen- tum bescheren. Diese Illusion beruhte Tauschbeziehungen, neue Bestellungen tralistischen Wirtschaftsverwaltung, die auf einer, auch im Westen gern verbrei- blieben aus: Die Abnehmer hatten kein Treuhandanstalt. teten, Propagandalüge – der Legende Geld. Und wenn sie schon in harter Mit wenigen Änderungen ging das von der DDR als zehntstärkster Indu- Währung bezahlen mußten, warum soll- von der Regierung de Maizie`re neu for- strienation der Welt. ten sie da einen Trabi oder einen Com- mulierte Treuhand-Gesetz in den Eini- Hatte die DDR nicht den höchsten puter von Robotron kaufen? gungsvertrag ein. Die Anstalt ist damit, Lebensstandard unter den Ländern des Es dauerte eine ganze Zeit, bis den so Wolfgang Seibel, Professor für Poli- Ostblocks? Exportierte sie nicht erfolg- Verantwortlichen das Ausmaß des De- tik- und Verwaltungswissenschaft an der reich Waren, etwa die Praktika-Kame- sasters deutlich wurde. „Der ganze Salat Universität Konstanz, „das einzige be- ra, in das kapitalistische Ausland? Und ist 600 Milliarden wert“, hatte Detlev deutende institutionelle Erbe der Karsten Rohwedder, der damalige Prä- DDR“. sident der Treuhandanstalt, noch im Das neue Treuhand-Gesetz trat am 1. Der Kampf gegen Herbst 1990 den Wert des DDR-Ver- Juli 1990 in Kraft, am Tag der Wäh- die Zeit war mögens taxiert. Zwischen dieser salop- rungsunion. Nun übernahmen Fachleu- pen Schätzung und der (vorläufigen) te aus dem Westen die führenden Funk- nicht zu gewinnen Endabrechnung der Treuhand liegt im- tionen, aber der Gewalt, die die D- merhin ein Minus von 870 Milliarden Mark entfesselte, hatten weder sie noch herrschten nicht geradezu paradiesische Mark. das Gesetz etwas entgegenzusetzen. Zustände mit Vollbeschäftigung und so- Rohwedder, der Ex-Hoesch-Chef und Wenn es denn je einen Plan für einen zialer Absicherung? SPD-Mann, schien der Regierung der sanften Übergang von der Plan- in die Auch westdeutsche Manager hatten richtige Mann, um die einmalige Aufga- Marktwirtschaft gegeben hätte: Mit der dieses Bild vor Augen, als sie nach dem be zu meistern. Zunächst als Chef des Währungsunion wäre er gegenstandslos Fall der Mauer das neue Terrain erkun- Treuhand-Verwaltungsrats angetreten, geworden. deten. Sie lockte vor allem der giganti- drängte Rohwedder den offenkundig Die alten Volkseigenen Betriebe der sche Markt in Osteuropa, den die DDR- überforderten Treuhand-Präsidenten DDR verloren über Nacht ihre Kunden. Kombinate bisher nahezu exklusiv be- Reiner Maria Gohlke, den früheren Niemand wollte mehr ihre Waren ha- dient hatten. Nun wollten die Westkon- Chef der Bundesbahn, aus dem Amt, ben, nun gab es, dank der D-Mark, die zerne mit Hilfe der alten Ostbetriebe um es selbst zu übernehmen. Glitzerwaren aus dem Westen zu kau- das Geschäft machen. Das war der zwei- Der Neue gab dem chaotischen Hau- fen. te Irrtum. fen eine Struktur und versuchte, die Ar- beit der Treuhand auf eine pro- fessionelle Basis zu stellen. Er verzichtete, unter Bruch des Treuhand-Gesetzes, auf die Gründung der vorgesehenen Aktiengesellschaften und schuf statt dessen regionale Treu- hand-Niederlassungen, für die er mit Hilfe von Anzeigen und Headhuntern im Westen Füh- rungskräfte suchte. Es war ein Kampf gegen die Zeit, und der war nicht zu ge- winnen. Die Industrieprodukti- on im Osten brach zusammen, Massenarbeitslosigkeit drohte – und an allem war, so schien es, die Treuhand schuld. Daß die

VARIO PRESS U. BAUMGARTEN / VARIO PRESS P. LANGROCK / ZENIT Anstalt zum „Watschenmann Treuhand-Präsidentin Breuel (r.), Vorgänger Gohlke, Rohwedder: „Watschenmann der Nation“ der Nation“, wie Rohwedder klagte, wurde, lag aber auch an Gleichzeitig aber mußten die Betriebe Illusion Nummer eins verflüchtigte dem unnahbaren Manager, der bei sei- die Löhne in harter Währung zahlen. sich um so mehr, je häufiger die Unter- nen Auftritten Kälte und Arroganz aus- Und all die Milliarden, die sie dem alten nehmer aus dem Westen die Objekte ih- strahlte. Staat aufgrund planwirtschaftlicher Be- rer Begierde besuchten. Selbst Vorzei- Die Rolle des Buhmanns hatte die sonderheiten schuldeten, galten nun als gekombinate der stolzen Industrienati- Regierung der Treuhand offenbar von echte Verbindlichkeiten. on DDR entpuppten sich als Industrie- Anfang an zugedacht: Die Anstalt wur- Am Morgen des 1. Juli 1990 war die museen, ihre Produktivität lag auf dem de mit einer Machtfülle ausgestattet, die Volkswirtschaft der ehemaligen DDR Niveau eines Dritte-Welt-Landes. Zwar in einem parlamentarischen System zu- quasi pleite – doch keiner wußte es. Die hatten alle offiziell Arbeit, aber nur we- mindest ungewöhnlich ist. Sie ersetzte Währungsunion mag politisch notwen- nige wirklich etwas zu tun. Die DDR, so nicht nur ein Aufbauministerium Ost, dig gewesen sein, ökonomisch verur- zeigte sich nun, hatte, ökonomisch wie sie hatte auch weit mehr Macht als die sachte sie ein Desaster. ökologisch, von der Substanz gelebt. neuen Landesregierungen. Aber noch immer existierte in den Als die Mauer fiel, war die Substanz Formal aber war die Treuhand nach Köpfen der Verantwortlichen die Illusi- aufgezehrt; als die D-Mark kam, brach der Vereinigung nur eine Anstalt des öf- on eines neuen Wirtschaftswunders. das Potemkinsche Dorf der DDR-Wirt- fentlichen Rechts im Geschäftsbereich Wie in Westdeutschland nach dem schaft zusammen. des Finanzministeriums. Sie durfte so- Zweiten Weltkrieg sollte auch im Osten Die Währungsunion machte auch den gar selbst Schulden machen und war der marktwirtschaftliche Urknall der Traum vom Ostgeschäft zur puren Illusi- nicht einmal über das Budgetrecht des Währungsunion permanentes Wachs- on. Die alten Geschäfte beruhten auf Parlaments kontrollierbar.

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Doch was konnte die Treuhandanstalt tat- sächlich entscheiden? Den institutionellen Rahmen hatte der Ge- setzgeber festgeschrie- ben, den ökonomi- schen die Währungs- union. Strategische Richtungsentscheidun- gen, folgert der Politik- wissenschaftler Seibel, konnten nicht mehr ge- troffen werden. Rohwedder verfolgte immerhin das ehrgeizi- ge Ziel, die Unterneh- men fit zu machen für den bevorstehenden Verkauf. Hätte er, der erfahrene Sanierer, ge- schafft, was seine Nachfolgerin gar nicht erst versuchte? Viele, die zu Roh- wedders Lebzeiten des-

sen Treuhand-Kurs A. HAMPEL scharf kritisiert haben, Chemiewerk in Buna (1990): Der verseuchte Standort soll mit allen Mitteln gerettet werden bejahen diese Frage. Rohwedder wurde im April 1991 von Rohwedder hatte in einem Schreiben an Berlin. Wer immer einen ostdeutschen Terroristen ermordet, ein erfahrener seine Mitarbeiter, intern „Oster-Brief“ Betrieb haben wollte, konnte ihn haben. Manager aus der Industrie fand sich für genannt, den Kurs der Treuhand genau Geld war nicht notwendig, der Ver- seine Nachfolge nicht. so definiert; er hatte wohl eingesehen, kaufspreis wurde, wenn nicht gestri- So kam Birgit Breuel, die CDU-Poli- daß der angebliche Wert des Volksver- chen, dann wenigstens gestundet. tikerin und frühere Finanzministerin mögens Ost bestenfalls gegen Null ten- Auf diese Weise fiel etwa die Bagger-, von Niedersachsen, an die Treuhand- dierte. Bugsier- und Bergungsreederei Rostock Spitze. Sie verfolgte von Anfang an ei- Im Verlauf des Jahres 1991 brachen unter die Räuber. Der Käufer schaffte nen klaren Kurs: „Privatisierung ist die immer mehr Betriebe zusammen, und 17 Millionen Mark auf die Seite, das beste Sanierung.“ immer mehr Investoren, die den Erwerb Unternehmen, das einmal 2600 Mitar- Der Satz, der ihr viel Kritik eintrug, einer Treuhand-Firma prüften, schreck- beiter beschäftigte, gibt es nicht mehr. stammt allerdings von ihrem Vorgänger. ten zurück. Das Landgericht Rostock verurteilte Birgit Breuel drückte des- den Investor zu einer Haftstrafe von halb aufs Tempo. Allein die sechs Jahren. Schuldmindernd führten Ende des Schlußverkaufs Zahl der Verkäufe zählte, es die Richter allerdings das Verhalten der Die Treuhand-Bilanz gab nur ein Motto: Weg um je- Privatisierer an: Die hatten es dem Be- trüger und seinen Helfershelfern allzu Gesamtbestand an Unter- den Preis. Das – und nicht die nehmen: 12370; davon: grundsätzliche Privatisierungs- leicht gemacht. strategie – unterschied sie von Eine Kontrolle fand nicht statt. In Zugesagte ihrem Vorgänger. Halle führte eine ganze Niederlassung Voll privatisiert: Investitionen: Fehler waren bei diesem ein kriminelles Eigenleben, im Direkto- Kurs unvermeidlich, sie wur- rat Abwicklung wurden Millionenauf- den ebenso in Kauf genom- träge en gros an ehemalige Mitarbeiter men wie der unausweichliche vergeben. 7853 206,5 Preisverfall. Die Investoren Einzelfälle, behauptet die Treuhand. Milliarden Mark schraubten ihre Forderungen Verglichen mit der Gesamtsumme aller immer höher: Die Treuhand Privatisierungen und Liquidationen mag Arbeitsplatz- mußte die Schulden überneh- das stimmen. Richtig ist aber auch, daß Zusagen: men, die Umweltrisiken und die Kontrollen unzureichend waren, Sonstige*: schließlich auch die Anlaufver- weil sie das Ziel der schnellen Privatisie- 536 luste. Spätestens da war klar, rung nur behindert hätten. daß die Anstalt ihre Arbeit mit Selbst unseriöse Investoren durften einem dicken Verlust abschlie- weitermachen; Sanktionen blieben auch Liquidiert : ßen würde. dann aus, wenn der Kaufpreis nicht oder 3713 „Es wurde relativ regellos, aus dem Vermögen der gekauften Firma mitunter willkürlich und bezahlt wurde. Solches Verhalten muß- manchmal kriminell privati- te windige Geschäftemacher geradezu Restbesitz: siert“, kritisiert Jan Priewe, anlocken. 268 1 487 281 Professor für Volkswirtschafts- Immer wieder gab es Proteste gegen lehre an der Fachhochschule diese Politik der Treuhand, aber die *Vollständig kommunalisierte und mehrheitlich privatisierte Betriebe für Technik und Wirtschaft Bonner Regierung stellte sich taub. Wie

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WIRTSCHAFT

locker die Anstalt mit den Milliarden umging und wie großzügig sich die Mit- Fernsehen arbeiter der Treuhand selbst versorgten, schreckte auch den Bundesrechnungs- hof auf, Gehör fanden seine Mahnun- gen in Bonn nicht. Schielende Hinter diesem Verhalten steckte Me- thode: Die Regierung wollte das Pro- blem der Ostbetriebe so schnell wie Schüssel möglich loswerden, und sie wollte mit der Beseitigung des Problems möglichst Wettlauf im All um Hunderte neuer nichts zu tun haben. TV-Satellitenkanäle: Alleinherrscher Daran gemessen hat die Treuhand überaus erfolgreich gearbeitet. Sie hat Astra bekommt Konkurrenz. es geschafft, neben der Regierung und quasi über den Parteien zu stehen. Op- rst diente das Chaˆteau de Betzdorf positionspolitiker und Gewerkschafter einem Stahlindustriellen als Land- wurden als Mitglieder des Verwaltungs- Esitz, dann dem Erbgroßherzog Jean RUPPENTHAL rats eingebunden. von Luxemburg als Residenz, später be-

So mühte sich der Treuhand-Untersu- hinderten Kindern als Pflegeheim. Heu- FOTOS: R. chungsausschuß des Bundestages, den te arbeitet dort, rund 20 Autominuten Astra-Chef Werner die SPD nach langem Zögern gefordert östlich der Stadt Luxemburg, geballte „Der Appetit ist groß“ hatte, zwar durchaus erfolgreich, die All-Macht. Skandale der Treuhand aufzuarbeiten. Von dem Schlößchen und den angren- den“, kündigt Giuliano Berretta, 54, Di- Politisch aber stieß er ins Leere. zenden, glasverspiegelten Neubauten rektor beim Konkurrenten Eutelsat, sei- Eine klare Alternative zur Treuhand aus werden vier Weltraumsatelliten der nen Angriff im Weltall an. Das klingt gab es nie, und ob es sie hätte geben Marke Astra gesteuert, die fast ganz Eu- ganz so, als ob Berretta, der von seinem können, erscheint zumindest zweifel- ropa mit Fernsehprogrammen versor- Büro im 54. Stock des Pariser Montpar- gen. Weitere Himmelskörper sollen fol- nasse Tower auf den Eiffelturm blickt, gen. vom Höhenrausch befallen wäre. Auch nach dem Ende Über 50 Millionen Haushalte von Por- Denn im Vergleich zur SES ist Eutel- der Treuhand tugal bis Polen und von Italien bis Norwe- sat, seit 1977 ein Zusammenschluß von gen kommen durch die Astra-Trabanten staatlichen wie privaten Post- und Tele- bleibt noch viel zu tun zu ihren TV-Erlebnissen, dank Direkt- kommunikationsunternehmen aus mehr empfang oder Kabelanschluß. Die So- als 40 Ländern, im Satellitenfernsehen haft. Daß eine staatliche Sanierungshol- cie´te´ Europe´enne des Satellites (SES), eine „alte Tante“, wie SES-Manager ding, wie sie der damalige IG-Metall- getragen vom Staat Luxemburg, der scherzen. Chef Franz Steinkühler vorschlug, am deutschen Telekom sowie einem Kon- Rund acht Millionen Haushalte holen Ende erfolgreicher oder gar billiger ge- sortium europäischer Firmen und Ban- sich hierzulande ihre Lieblingsprogram- arbeitet hätte, glauben wohl nur wenige. ken, ist nicht einmal zehn Jahre nach ih- me über Parabolantennen selbst aus Die große Plattmacherin, als die sie in rer Gründung Marktführer des Konti- dem Orbit (siehe Grafik). Nahezu alle weiten Teilen des Osten gilt, war die nents beim Satellitenfernsehen. Jahres- Antennen sind auf die Astra-Satelliten- Treuhand ja ohnehin nie. Als der politi- gewinn 1993: rund 145 Millionen Mark. familie ausgerichtet, Position 19,2 Grad sche Schaden zu groß zu werden drohte, Allein in Deutschland beherrscht die Ost. Noch nicht einmal ein Fünftel die- schuf Bonn jene industriellen Kerne, die SES 90 Prozent aller Satellitenempfän- ser Haushalte leistet sich aber das Ver- mit vielen Milliarden und wider die öko- ger. „Wir genießen den Erfolg“, sagt der gnügen, mit einem Zusatzgerät an der nomische Vernunft am Leben erhalten Verwaltungsratschef und frühere luxem- Schüssel auch noch das bescheidene TV- wurden. Andernfalls hätten sich die burgische Ministerpräsident Pierre Wer- Angebot von Eutelsat auf 13 Grad Ost Proteste der Werktätigen wohl zum so- ner, 80. zu empfangen. zialen Flächenbrand ausgeweitet. Das soll sich nun ändern. „Wir wollen Das hat seinen Grund. Die vier Astra- So soll das verseuchte Chemiedreieck die Nummer eins in Zentraleuropa wer- Satelliten 1 A bis 1 D bieten „volles Pro- Leuna-Buna-Bitterfeld mit allen Mitteln gerettet werden. In mehreren Manage- Deutschsprachige Programme auf Astra und Eutelsat ment-KG versucht die Treuhand schon Konkurrenz im Orbit seit geraumer Zeit, nicht sehr erfolg- reich allerdings, einige unverkäufliche ASTRA Vier Satelliten, EUTELSAT Zwei Satelliten, Ostbetriebe zu sanieren. Position 19,2° Ost Position 13° Ost Es bleibt noch viel zu tun, auch wenn Astra 1A Astra 1B Astra 1C Astra 1D Eutelsat II-F1 Hot Bird 1 es die Treuhand nicht mehr gibt. Ihre ab ab 1995 * ** 1995 Nachfolgegesellschaften müssen die RTL ARD ZDF Arte Kabel 1 MTV Restbestände sanieren, die Einhaltung Sat 1 Nord 3 Bayern 3 Kabel 1* Dt. Welle TV Frauenkanal der geschlossenen Verträge über viele Pro Sieben DSF MDR Super RTL Euronews Jahre hinweg kontrollieren und den ge- RTL 2 n-tv Südwest 3 Eurosport *bisher Kabelkanal waltigen Immobilienbesitz veräußern. **Musikkanal Vox Premiere WDR 3 RTL Die Selbstauflösung zum Ende dieses (englisch) ** Jahres war das politische Ziel, die Treu- 3Sat MTV RTL2 hand hat es erreicht, auf ihre Weise: Ihr Teleclub Viva Ende ist, wie so vieles in ihrer Erfolgs- Eurosport MTV** bilanz, eine geschickte Inszenierung – auch ohne große Feier. Y

82 DER SPIEGEL 51/1994 gramm“, verkünden das Versandhaus Satellitenkanäle an einige wenige Me- stiegen sind, sicherte sich die RTL-Mut- Quelle und andere Händler beim Ver- dienmagnaten schnelle Rendite zu ma- tergesellschaft Compagnie Luxembour- kauf der Antennenanlagen. chen. Schließlich werde bei der Bestel- geoise de Te´le´diffusion (CLT) zwei Ka- Alle großen und auch viele kleine lung jedes neuen Satelliten ein „enormes näle bei Eutelsat – die verlangt im Sender in Deutschland und anderen Risikokapital“ eingesetzt, argumentier- Schnitt nur sieben Millionen Mark. Ländern bedienen sich der SES-Dien- te ein Mitglied des Verwaltungsrats. RTL-Chef Helmut Thoma hatte zuvor ste. Das Konzept, mehrere Satelliten Die große Mehrheit der Aktionäre mehrfach vor einem Satellitenmonopol auf einer Orbitalposition zusammenzu- plädierte aber dafür, das Astra-System gewarnt. ziehen und so dem Zuschauer viele Ka- auch für andere TV-Veranstalter offen- Auch RTL sendet nun nicht nur via näle gleichzeitig zu offerieren, geht in- zuhalten, und warnte davor, sich von Astra, sondern auch über Eutelsat. Der zwischen auf. einzelnen Konzernen abhängig zu ma- Hot Bird 1 ist inzwischen ausgebucht. Doch des Erfolgs wird die SES nun chen. Für den Hot Bird 2, behauptet jeden- nicht mehr Herr. Die 14 Übertragungs- Es kam zum Streit mit Generaldirek- falls Berretta, seien auch schon fast alle kanäle auf Astra 1 D, der schon im All tor Pierre Meyrat, 57, dessen autokrati- Transponder langfristig an Sender aus stationiert ist und in den nächsten Tagen scher Führungsstil vielen Anteilseignern Deutschland, Italien, Skandinavien und in Betrieb geht, „hätten wir doppelt ver- ohnehin nicht mehr paßte. Ex-Kirch- den Beneluxländern vermietet. mieten können“, sagt Firmensprecher Manager Meyrat mußte gehen. Das bis Was allerdings noch fehlt, sind zusätz- Yves Feltes. dahin so glänzende Ansehen der SES liche attraktive Programme bei Eutel- Selbst um die nächsten Satelliten 1 E bekam eine Schramme ab. Satelliten, die bisher zum Beispiel mit und 1 F, die dank digitaler Übertra- gungstechnik zusammen Platz für mehr als 300 Programme bieten sollen, ist schon ein erbitterter Wettkampf ent- brannt. Werner: „Der Appetit ist groß.“ Deutschlands Film- und Fernsehkönig Leo Kirch, 68, und andere Medienma- gnaten wie der Australo-Amerikaner Rupert Murdoch, 63, wollen sich immer neue Kanäle sichern. Das Hindernis, mit dem digitalen Fernsehen wieder bei Null anfangen zu müssen, schreckt die Konzerne nicht. Für den Empfang digi- tal ausgestrahlter Programme benötigt jeder Zuschauer teure Zusatzgeräte. Der Heißhunger ist leicht zu erklären. Um Hunderte neuer Übertragungskanä- le zu füllen, braucht es nicht einmal fri- scher Programme. Deutschlands einzi- ger Abo-Kanal Premiere (Mitgesell- schafter: Kirch) will künftig den Service „Video-near-on-Demand“ anbieten. Bei diesem Verfahren mietet ein Be- treiber zahlreiche Satellitenkanäle, auf denen zeitversetzt dieselben Programme gesendet werden. Damit wird den Zu- schauern ermöglicht, jederzeit in einen Spielfilm einzusteigen, der zum Beispiel Luxemburger Astra-Zentrale: „Wir genießen den Erfolg“ alle 15 Minuten neu beginnt. Ebenso wie Kirch will auch Murdoch Vor allem aber befiel einige Fernseh- Viva, NBC Super Channel und Euro- im großen Stil beim digitalen Fernsehen veranstalter plötzlich die Furcht, die news aufwarten. Exklusive Ware einsteigen. Nach Angaben von Bran- SES könne bei der Verbreitung von di- braucht Marketingchef Christian Zippel chenexperten plant er eine Sendevarian- rekt empfangbaren Satellitenprogram- als Anreiz für die Zuschauer, um soge- te für Fußballspiele, die von seinen men eine Alleinherrschaft errichten. nannte Multi-Feed-Antennen (Bran- Sportsendern übertragen werden. Das „Monopolstellungen laden offenbar chenspott: „Schielende Schüssel“) am gleiche Match liefe, mit unterschiedli- zum Mißbrauch ein“, kritisierte etwa Markt durchzusetzen. chen Blickwinkeln, auf mehreren Kanä- der ARD-Vorsitzende Jobst Plog. Damit lassen sich die Satellitensyste- len – die Fans könnten so zwischen Vielen Medienunternehmen kommt me Astra und Hot Bird gleichzeitig unterschiedlichen Kameraeinstellungen deshalb der Angriff von Eutelsat auf die empfangen. Clou dieses Angebots: Es wählen. SES zupaß. Der Konkurrent will nach wäre pro System oft auch nicht teurer Schon die bisherigen Programmange- dem Vorbild von Astra einen Satelliten- als das Zusatzgerät, das die meisten Sa- bote von Kirch und Murdoch, zu neuen park im Weltall aufbauen. Zum Eutelsat tellitenhaushalte für den künftigen Paketen zusammengestellt, reichten al- II-F 1 soll Anfang 1995 der Hot Bird 1 Empfang von Astra 1 D brauchen. so für die Belegung der digitalen Satelli- hinzukommen, in den nächsten Jahren Den für viele Zuschauer wohl interes- tenkanäle bei der SES. Zur Berliner ergänzt von Hot Bird 2 und 3. Die neu- santesten neuen Sender in Deutschland, Funkausstellung 1995 soll der erste digi- en Erdtrabanten sind vor allem auch für Super RTL von CLT und Disney, muß tale Astra-Satellit 1 E betriebsbereit Osteuropa interessant. Zippel für eine Exklusivpromotion frei- sein. Über Mangel an Kunden kann sich lich abschreiben: Der Sender, der mit Manchen der rund zwei Dutzend Berretta nicht beklagen. Nachdem die Comics und Filmen demnächst starten SES-Aktionäre lockte die Aussicht, mit SES-Mietpreise für einen Astra-Kanal will, hat einen Kanal auf dem Astra 1 D der frühzeitigen Vermietung künftiger auf zwölf Millionen Mark jährlich ge- gebucht. Y

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WIRTSCHAFT

danach bleibt alles offen. Spätestens im Alsthom mehr und mehr Aufträge ab. Unternehmen Jahr 2004 soll Advent dann den Rest des Schon nächstes Jahr könnte sie wieder Unternehmens an der Börse verhökern Gewinne abwerfen. – „ein finanz- und beschäftigungspoliti- Doch Treuhand-Präsidentin Birgit scher Skandal“, meint der Gewerkschaf- Breuel wollte der Bundesregierung die Bloße Taktik ter und DWA-Aufsichtsrat Hartmut Verantwortung wohl aus Prinzip nicht Tölle. hinterlassen. Nur mit der Advent-Pri- Die Treuhand will die ostdeutsche Die Umstände des Advent-Geschäfts vatisierung, rechtfertigt ihr Sprecher, Waggonbau einem US-Investment- zur Vorweihnachtszeit erscheinen in der finde die DWA den richtigen Partner, Tat anrüchig. Schon die finanziellen Be- um zum Weltmarkt-Anbieter von fonds zum Discountpreis über- dingungen des vorgesehenen Kaufver- High-Tech-Bahnsystemen aufzusteigen. lassen – im Auftrag von Siemens? trags klingen phantastisch. Den Weg dahin soll allerdings ausge- Demnach zahlt der US-Fonds für die rechnet der größte Konkurrent ebnen: Übernahme der DWA zunächst ledig- Siemens. Der Münchner Technologie- ein, diese Fabrik werde „kein Bau- lich 28 Millionen Mark, obwohl die treu- Konzern, so verspricht die Treuhand, ernopfer“ bei der Konzernsanie- handeigenen Gutachter dem Konzern werde eine „strategische Allianz“ mit Nrung, versprach Sachsens Landes- einen mehr als 20mal höheren Substanz- der DWA eingehen und für deren Stra- vater Kurt Biedenkopf der Betriebsver- wert von 594 Millionen Mark attestie- ßen- und S-Bahnen sowie Güterwag- sammlung des Werkes Niesky der Deut- ren. Allein die zugehörigen Immobilien gons und Hotelzüge günstig die Elek- schen Waggonbau AG (DWA). „Sie könnten weit über 200 Millionen ein- tro- und Antriebsausrüstungen liefern. werden auch künftig Arbeit haben.“ bringen. Der Rest des ohnehin niedri- „Zur Stabilisierung“ dieser Partner- Das war vor der Landtagswahl im gen Kaufpreises in Höhe von insgesamt schaft sei später auch „die Veräuße- letzten September. Aber der Regie- 112 Millionen soll dennoch erst nach rung von bis zu 25,1 Prozent“ an Sie- rungschef wird das Versprechen kaum dem Börsengang in zehn Jahren nachge- mens vorgesehen, berichtete der Treu- halten können. Gegen den Widerstand zahlt werden. hand-Vorstand dem Verwaltungsrat in aus Dresden beschlossen Vorstand und Das unternehmerische Risiko ist für der vertraulichen Beschlußvorlage. Verwaltungsrat der Treuhand vergange- die Advent-Investoren äußerst gering. Doch merkwürdig: Siemens-Chef Heinrich von Pierer bestritt letzte Wo- che jedes Interesse an einem engeren Zusammengehen mit der DWA. Nur die bisherigen Gemeinschaftsprojekte wie die Neigetechnik-Schnellzüge und einige neue ICE-Züge sollten fortge- führt werden. Treuhand-Sprecher Wolf Schöde qualifizierte das Dementi aus München dagegen als „bloße Taktik“. Mit der Tochter Duewag in Krefeld und mit einem Gemeinschaftsunterneh- men mit der österreichischen SGP ver- fügt der Konzern schon jetzt über mehr Waggonfabriken, als er auslasten kann. Siemens könne bei der DWA nur ein Ziel verfolgen, vermutet der Bahnex- perte Hinrich Krey vom Hamburger Ingenieurbüro für Verkehrstechnik: „die lästige Konkurrenz kleinschrump- fen“. Genau dies, so unterstellen Kritiker, solle für Siemens nun die Advent erle- digen. Verdachtsmomente für diesen Vorwurf liegen vor. So halten beide

A. SCHOELZEL Unternehmen gemeinsam einen maß- Waggonbau in Görlitz: „Die lästige Konkurrenz kleinschrumpfen“ geblichen Anteil an der Münchner Techno Venture Management. Die Fir- ne Woche im Eilverfahren, die DWA Die Treuhand übernimmt nicht nur die ma verwaltet Beteiligungen in ganz Eu- mit ihren bisher noch über 6000 Be- Altschulden und bisherigen Sozialplan- ropa im Wert von mehreren hundert schäftigten dem amerikanischen Invest- kosten in Höhe von 470 Millionen Millionen Mark. mentfonds Advent International zu Mark, sie sichert dem US-Fonds auch Deren Geschäftsführer Waldemar übergeben. noch einmal 500 Millionen für die vorge- Jantz versichert zwar, seine Firma habe Die Fondsmanager aus Boston, so sehene Sanierung zu. mit dem DWA-Deal nichts zu tun. Das heißt es in der bislang geheimen Be- Angesichts solchen Milliardenauf- gemeinsame Engagement belegt aber, schlußvorlage der Treuhand, werden wands zu Lasten der Steuerzahler hätte daß der Bostoner Fonds nicht so nur für den Erhalt der Werke in Görlitz der Staat die DWA auch gleich selbst bis „unabhängig von spezifischen indu- und Bautzen sowie Ammendorf in Sach- zur Börsenreife behalten können, meint striellen Interessen ist“, wie die Treu- sen-Anhalt garantieren. Die Standorte der sächsische IG-Metall-Chef Hasso hand in die Beschlußvorlage schrieb. Niesky und Dessau kommen gar nicht Düvel. All diese Widersprüche, hofft DWA- mehr vor. Möglich wäre das schon. Die DWA Aufsichtsrat Tölle, „müssen in den Gerade noch 2400 Arbeitern und An- ist nicht mehr von den Reisezuglieferun- nächsten Wochen geklärt werden“. Ge- gestellten sichert der Plan in den näch- gen nach Rußland abhängig und jagt der linge das nicht, so der Gewerkschafter, sten sechs Jahren Arbeit, für die Zeit West-Konkurrenz von AEG bis GEC „dann kommt die Schlacht erst“. Y

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wie Selbstbedienungs- Manager Flaues Geschäft läden aus. Umsätze der Kaufhäuser Da meldete sich der von Januar bis Oktober Mann aus Zug. Con- gegenüber dem radi befürchtete, nach Wie ein der Übernahme von Vorjahreszeitraum Hertie durch Karstadt in Prozent käme langfristig der Stiefkind ganze City-Handel in die Fänge der Essener. Großreinemachen beim –4,7 Karstadt-Chef Walter Deuss setzt „voll auf Kaufhof: Fast der gesamte die zu beobachtende Vorstand muß gehen. Rückwanderung der –6,8 Kunden“ von den Su- ein Domizil im Schweizer Steuer- permärkten auf der Fachmärkte paradies Zug hat für Metro-Chef 26,3 grünen Wiese in die SErwin Conradi einen „wichtigen –7,4 Innenstädte. Standortvorteil“. Weit weg von den Conradi kennt kei- gesellschaftlichen Verpflichtungen der ne Rücksichten. Der deutschen Wirtschaftselite findet er in –8,1 kleinste unter den Wa- der Sauna und danach beim Wandern renhauskonzernen soll über die Berghöhen „die Zeit zu strate- Beispiel Kaufhof: Touristik 8,7 jetzt den großen Bru- gischen Überlegungen“. der aus Köln auf Trab Geschäftsfelder des bringen. Horten hat So entstand das gigantische Metro- Konzerns, Umsätze Großhandel Konglomerat aus Handelsfirmen aller von Januar bis 0,2 mit seinem Galeria- Vertriebstypen mit einem Umsatz von September gegen- Konzept großen Er- rund 70 Milliarden Mark: Aus einsamen über dem –1,3 andere Dienst- folg. Der Kunde wan- Einfällen entwickelten sich die blitzarti- Vorjahreszeitraum –6,2 leistungen delt durch das Waren- in Prozent –8,4 haus wie in einer gen Überfälle. Kaufhof, Asko, Massa Waren-/Kaufhäuser oder Huma kamen in das Metro-Imperi- Versandhandel innerstädtischen Ein- um. Zuletzt verleibte sich Kaufhof den kaufsgalerie mit zahl- Konkurrenten Horten ein. reichen Fachgeschäf- Nun hat Conradi wieder eine Ent- ten. Nach diesem sogenannten Shop-in- scheidung getroffen, und die ist ziemlich Shop-System sollen die großen Kaufhö- einmalig: Oft wird nach einer Fusion das fe umgekrempelt werden. Management des übernommenen Un- Auch in Odewalds Lieblingssektor ternehmens gefeuert, noch nie aber wird aufgeräumt. Mitte vergangener wurde fast der komplette Vorstand der Woche trennte er sich von seiner wich- übernehmenden Firma ausgetauscht. tigsten Firma für Finanzdienstleistun- Den Vorstandschef der Kaufhof Wa- gen. Die Service Bank ging zu 80 Pro- renhaus AG, Michael Goebel, traf es zent an ein Unternehmen des US-Kon- besonders hart. Nach einer Odyssee zerns General Electric. vom Kaufhof über Horten zum Touri- Die Kaufhof-Bank betreut rund stikriesen TUI, den er leitete, war Goe- 100 000 Kundenkarten im Metro-Reich bel vor zweieinhalb Jahren wieder bei – zuwenig, um rentabel zu sein. Hertie seinem ersten Arbeitgeber gelandet. hat mit seiner „Goldenen Hertie-Karte“ Doch unter Goebels Führung fiel das fünfmal so viele Kunden. nach Karstadt zweitgrößte Warenhaus Die Versandhäuser werden wohl auf- zurück. Er fand kein Konzept, um den gegeben. Oppermann und Wenz er-

Kundenschwund in den knapp hundert R. BRAUN reichten nie die von den Kaufhof-Strate- Filialen aufzuhalten. Seit Jahresbeginn Metro-Chef Conradi gen angestrebten Umsatzgrößen. Nun verlor der Kaufhof 8,1 Prozent Umsatz Blitzartige Überfälle aus der Schweiz sollen sie bei guter Gelegenheit verkauft – ein trauriger Spitzenreiter unter den werden. großen vier. gebaut wurden. Diese Strategie zahlte Wie immer bei Umstrukturierungen Das lag nicht nur am Warenhauschef sich durchaus aus. 1993 war das rendite- wird auch kräftig Personal abgebaut. Goebel und an der allgemeinen Kon- stärkste Jahr des Kaufhofs, und Fach- „Unsere Mitarbeiter“, sagt Odewald, sumflaute, die alle Händler traf. Der märkte wie Saturn-Hansa, Media-Markt „sind unser größtes Kapital.“ Im neuen Einzelhandel wird im laufenden Jahr oder Vobis machten in den ersten neun Kaufhof-Blättchen „Konzern intern“ Umsatzeinbußen von 2,6 Prozent hin- Monaten dieses Jahres einen Umsatz- begrüßt er die „10 000 Horten-Mitarbei- nehmen müssen. sprung von 26 Prozent. ter“. Doch Entlassungen in allen Berei- Es gab auch hausgemachte Fehlein- Trotzdem bringen die vernachlässig- chen des Konzerns sind beschlossene schätzungen. Konzernchef Jens Ode- ten Warenhäuser immer noch mehr als Sache. Als erstes wird die vor knapp wald hatte den Warenhaussektor, so ein ein Drittel des Konzernumsatzes. Kon- vier Jahren neugebaute Horten-Haupt- interner Kritiker, „wie ein Stiefkind“ kurrent Karstadt steckte hohe Millio- verwaltung dichtgemacht. behandelt. nenbeträge in die Modernisierung der Darin ist der neue Kaufhof dem Kon- Der Kanzlerfreund setzte einseitig auf Filialen und die Warenpräsentation, kurrenten aus Essen voraus: Die Hertie- den Ausbau von Finanzdienstleistun- Kaufhof baute Verkaufsflächen und Zentrale in Frankfurt wird erst später gen, Fachmärkten und die Vermietung Personal ab. Manche Großstadthäuser bis auf wenige Etagen an Fremde ver- von Verkaufsräumen, die zu Büros um- sehen nach Ansicht von Experten schon mietet. Y

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WIRTSCHAFT TRENDS

nachten und Neujahr neue Mercedes Russen-Geschäfte gestatten. Der Grund für die Eile: Im nächsten Jahr verdoppeln Gründe für Lothringen sich die Hermes-Gebühren, Weltweit hatten sich über 70 Städte als da die Rückzahlung der Standort für den geplanten Bau des Öko- Kredite immer unsicherer Autos beworben, das Mercedes gemein- wird. sam mit dem Schweizer Unternehmer Ni- colas Hayek bauen will. Als vergangene Telekom Woche durchsickerte, daß die Mercedes- Manager offenbar das lothringische Ham- Aufsichtsrat bach favorisieren, brach Protest – von Be- ohne Necker triebsräten bis hin zu einflußreichen CDU- R. REUTER / SYGMA Politikern – aus. Aller Voraussicht nach Modell des Öko-Wagens Aus Verärgerung über zu wird sich der Konzern, der seine Entschei- starken Einfluß der Politik dung am Dienstag dieser Woche fällt, nicht günstiger sind als jenseits des Rheins; der will Tyll Necker, scheidender umstimmen lassen. Die Empörung über lothringische Ort liegt zudem günstig zu Präsident des Bundesverban- den französischen Standort ist wenig ver- den Entwicklungszentren in Stuttgart und des der Deutschen Industrie, ständlich: In Lothringen, wo der spritspa- im schweizerischen Biel. Auch wichtige nun doch nicht dem Auf- rende Zweisitzer montiert werden soll, Zulieferer und die künftigen Absatzmärk- sichtsrat der Telekom ange- werden nur 2000 Arbeitsplätze geschaffen, te sind gut erreichbar – gerade Franzosen hören. In einem Brief an weit weniger als in Deutschland. Von bevorzugen Kleinwagen aus heimischer Bundespostminister Wolf- knapp 7000 Jobs, die bei Zulieferern für Produktion. Zweite Wahl der Mercedes- Hambach entstehen sollen, entfällt mehr Manager sind ein Ort bei Eisenach und als die Hälfte auf bereits bestehende Mer- die französische Atlantik-Stadt La Ro- cedes-Fabriken in Deutschland. Die Stutt- chelle. In Hambach kommt Mercedes bil- garter votieren für Hambach, weil dort lig an Gelände – ab drei Mark pro Qua- Lohn- und Energiekosten rund ein Drittel dratmeter.

Konjunktur sten Jahr verbessern wird, Rußland-Handel und nur 2 Prozent glauben an Düstere Aussicht eine Verschlechterung. In Bonn will Deutschland beispielsweise für Arbeitslose stieg der Anteil der Optimi- weiter zahlen Durchweg optimistisch beur- sten von 34 Prozent im Mit vier Milliarden Mark teilen Europas Unternehmer Herbst 1993 auf nunmehr 60 muß der Bund nach internen das nächste Jahr. Nach einer Prozent. Für Europas Ar- Schätzungen des Finanzmini- Umfrage des internationalen beitslose aber gibt es wenig steriums 1994 bei der Hermes Kurier-Unternehmens Uni- Hoffnung: In allen Ländern Kreditversicherung einsprin- ted Parcel Service (UPS) un- außer Großbritannien wollen gen, weil die ehemaligen

ter Spitzenmanagern in den die Firmenchefs eher ihr Per- GUS-Länder ihre Schulden KETTLER / ACTION PRESS wichtigsten EU-Staaten ge- sonal abbauen als aufstok- nicht mehr pünktlich zahlen. Necker hen 72 Prozent der Befragten ken. Besonders düster sind Obwohl sich die Zahlungs- davon aus, daß sich die Lage die Aussichten für deutsche moral der Russen zuneh- gang Bötsch (CSU) begrün- ihres Unternehmens im näch- Arbeitslose. mend verschlechtert, will das det er seine Entscheidung Bundeswirtschaftsministeri- mit der Besetzung der Auf- um den Russen bis Silvester sichtsräte. Necker befürchtet Mehr Aufträge – weniger Jobs neue Exportkredite aufdrän- erhebliche Konflikte, weil Auf die Frage, ob ihre Firma in den kommenden zwölf Monaten gen, um ostdeutsche Unter- Vertreter des Ministeriums mit zu- oder abnehmendem Personalbedarf rechnet, nehmen zu fördern. Da Ruß- einerseits die Bedingungen gaben die Spitzenmanager land die international übliche für den Wettbewerb in der folgende Antworten: Staatsgarantie für die Rück- Telekommunikation festle- zahlung nicht unterschreibt, gen und andererseits gleich- (in Prozent) verlangen die Banken vor der zeitig die Interessen bei der Finanzierung eines Exportge- Telekom vertreten sollen. ZUWACHS:1520222328 schäfts vom Bund eine Frei- Mit der Umwandlung der stellungserklärung, daß ih- Telekom zur Aktiengesell- ABBAU: 53 18 37 29 25 nen dies „im Schadensfall“ schaft sollen eine Reihe von Politikern und Ministeriums- Quelle: UPS Europe nicht entgegengehalten wer- Business Monitor de. Bisher haben die Russen vertretern in das Kontroll- dieses Jahr nur Hermes- gremium einziehen, darun- Bürgschaften von 900 Millio- ter die Staatssekretäre Ger-

Italien nen Mark in Anspruch ge- hard O. Pfeffermann, Rai- nommen. Da ihnen aber 2,5 ner Funke, Gert Haller und Frankreich Deutschland Niederlande Milliarden Mark zustehen, der ehemalige Forschungs- Großbritannien will ein interministerieller minister Paul Krüger Ausschuß zwischen Weih- (CDU).

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WIRTSCHAFT

nalcomputern mit dem Pentium-Chip. Computer „Für Intel“, meint Karl-Heinz Dittber- ner von der Technischen Universität Berlin, „ist das der Super-GAU.“ Seither steht Intel weltweit am Pran- Nur fünf ger. Besorgte PC-Benutzer bombardie- ren die Firma mit Anfragen, verunsi- cherte EDV-Leiter fordern den soforti- Stellen gen Austausch der fehlerhaften Chips. Mit dem gleichen Ziel ruft Dittberner Ein kleiner Fehler im Pentium-Chip die PC-Benutzer zu einer weltweiten In- bringt die US-Firma Intel in Schwie- ternet-Petition auf. Eben erst hat die Firma mit einer gi- rigkeiten: Ihre Kunden sind empört. gantischen Werbekampagne ihr Renom- mee als führende High-Tech-Firma auf- nifflige Rechenaufgaben sind die gebaut, nun machen Witze und Persifla- Lieblingsbeschäftigung von Tho- gen auf den Slogan „Intel inside“ die Kmas Nicely. Der Mathematik-Pro- Runde. Da ist von der Fußballmann- fessor am Lynchburg College im US- schaft mit 10,99999378 Spielern die Re- Staat Virginia entwickelte sogar eine de, berechnet auf einem Pentium-PC. neue Methode zur Berechnung von Neuester Branchenspott: „Intel inside –

Primzahlen. REUTER can’t divide.“ Im Frühjahr wollte Nicely das Verfah- Intel-Chef Grove, Pentium-Chip Streng genommen, ist die Macke im ren nochmals verfeinern. Doch die Re- Alle 27 000 Jahre ein Fehler Superchip, von dem Intel seit Mai ver- sultate irritierten den Professor: Auf gangenen Jahres rund sechs Millionen den neuen Computern im College ver- bei den Pentium-Vorgängern „i386“ und Stück in vier verschiedenen Versionen sagte das von ihm entworfene Rechen- „i486“, die anfangs ebenfalls nicht ganz verkauft hat, von marginaler Bedeu- programm bisweilen. fehlerfrei waren, sollte die Macke still- tung. Beim Design des Chips, der auf Der Mathematiker hatte sich nicht schweigend behoben werden. seiner markstückgroßen Oberfläche verrechnet. Die falschen Ergebnisse lie- Diesmal ging der Plan daneben. Als rund drei Millionen mikroskopisch klei- ferte der Computer, ausgestattet mit Nicely den Flop Anfang November in ne Transistoren vereinigt, wurden ein dem superschnellen Pentium-Chip, dem einem Fachblatt publik machte, war der paar Schaltelemente vergessen. modernsten und leistungsfähigsten Mi- überarbeitete Chip zwar schon fast se- Der Fehler steckt im sogenannten kroprozessor des US-Herstellers Intel. rienreif, wichtige Großkunden konnten Coprozessor, der riesige Zahlenkolon- Was zunächst wie die spleenige Ent- sofort mit einem neuen Vorserienmo- nen besonders schnell berechnen kann. deckung eines zahlenbesessenen Profes- dell beruhigt werden. Bei Textprogrammen, Computerspielen sors aussah, entwickelt sich mehr und Aber die Nachricht von Nicelys Ent- oder Multimedia-Anwendungen tritt er mehr zu einer Krise des größten Chip- deckung verbreitete sich in Windeseile nicht auf; bei komplexen mathemati- herstellers der Welt. Die erfolgsge- über das weltumspannende Internet. In schen Programmen, umfangreichen Ta- wohnte US-Firma (Jahresumsatz: elf der vergangenen Woche stoppte der bellen oder Konstruktionsplänen könn- Milliarden Dollar), deren Mikroprozes- EDV-Multi IBM mit einer lautstarken te es allerdings problematisch werden. soren in etwa 80 Prozent aller weltweit Ankündigung den Verkauf von Perso- In solchen Programmen nimmt es der produzierten Personalcom- puter stecken, muß um ih- ren guten Ruf fürchten und eventuell auch noch eine peinliche Rückrufaktion verkraften. Geschätzte Ko- sten: 2,5 Milliarden Dollar. Im Juni hatte sich Profes- sor Nicely mit seiner folgen- schweren Entdeckung an die Intel-Zentrale im kali- fornischen Santa Clara ge- wandt. Kleinlaut mußten die Chipingenieure nach vielen Tests den eingebau- ten Rechenfehler in ihrem Renommierprodukt einge- stehen. Die Intel-Manager nah- men das Problem nicht allzu wichtig. Schließlich hatte sich außer Nicely noch kein Kunde über mangelnde Re- chenkünste des Pentium be- schwert. Intel beschloß, den ver-

meintlichen „Milli-Fehler“ C. I. PHOTOGRAPHY geheimzuhalten. Wie schon Chip-Produktion bei Intel: Ein paar Transistoren wurden vergessen

DER SPIEGEL 51/1994 87 WIRTSCHAFT

Pentium bei der Division (Maschinenbe- fehl FDIV) von ganz bestimmten Zah- lenkombinationen nicht immer so ge- nau. Statt mit der üblichen Genauigkeit von 16 Stellen rechnet er nur 5 Stellen exakt aus, was bisweilen zu falschen Er- gebnissen führen kann. Offiziell entzündet sich der Streit dar- an, wie häufig die Fehler auftreten und wie bedeutsam sie in der Praxis sind. In- tel-Chef Andy Grove behauptet, der Fehler trete nur einmal innerhalb von neun Milliarden Rechenoperationen auf. Bei normalem Gebrauch komme es deshalb nur alle 27 000 Jahre zu einem falschen Ergebnis. Der Computermulti IBM, der vergan- gene Woche den Pentium-Verkauf stoppte, macht eine andere Rechnung Für IBM kommt die Pentium-Panne ganz gelegen auf. Nach Ansicht von IBM-Forschern tritt der Defekt schon bei 100 Millionen Divisionsvorgängen auf. Bei der Kalkulation von Tabellen lie- fere der PC deshalb alle 24 Tage ein fal- sches Resultat. Ein Unternehmen, das 500 Pentium-Rechner installiert habe, warnte IBM, müsse täglich sogar bis zu 20 Fehler einkalkulieren. Das saß. An vielen Forschungsinstitu- ten wurden die Pentium-Rechner für wissenschaftliche Berechnungen ge- sperrt. Die US-Raumfahrtbehörde Nasa soll sogar einen Großauftrag für Penti- um-Rechner storniert haben. Möglicherweise aber dachten die IBM-Techniker bei ihrem Horrorszena- rio nicht allein an das Wohl der Kunden. Der Computerkonzern IBM ist seit lan- gem besorgt über die wachsende Ab- hängigkeit von Intel und die knallharten Geschäftsmethoden des Branchenfüh- rers. Zudem konkurriert IBM seit kur- zem auch direkt mit Intel. Gemeinsam mit dem Außenseiter Apple und dem High-Tech-Konzern Motorola hat IBM ein Konkurrenzpro- dukt zum Pentium entwickelt. Der Chip namens PowerPC steckt in mehreren Apple-Rechnern und soll 1995 auch von IBM in dessen Personalcomputer einge- baut werden. Er ist dem Pentium zwar technisch überlegen, findet aber längst nicht so viele Abnehmer. Da kommt die Intel-Panne ganz gelegen. Grove bestreitet die von IBM verbrei- teten Horrorzahlen nicht. Doch ein nor- maler Anwender werde eher von einem Meteor erschlagen als von einem Penti- um-Fehler betroffen, behauptet der Fir- menchef. „Wenn man weiß, wo ein Me- teor einschlägt, und genau dorthin geht“, sagt Grove, „kann man natürlich eher getroffen werden.“ Y

88 DER SPIEGEL 51/1994 Werbeseite

Werbeseite .

WIRTSCHAFT

Luftfahrt Einen Tick freundlicher Preis-Wirrwarr und mangelhafter Service – das neue Express- Konzept der Lufthansa verärgert viele Stammkunden. B. BONDZIO Lufthansa-Express-Flug: Mit knurrendem Magen durchgestanden n seinen Lufthansa-Flug nach Düs- seldorf vor einigen Wochen denkt schimpft der Headhunter, der sich auf len sich vernachlässigt. Sie weichen auf Ader Münchner Unternehmensbera- ein Frühstück im Flugzeug eingestellt andere Fluglinien oder auf die Bahn aus. ter Frank Beyer, 37, nur ungern zurück hatte, „habe ich mit knurrendem Magen Wer auf den Express-Strecken fliegt, – es war sein vorläufig letzter mit der durchgestanden.“ bekommt vor dem Flug nichts, was ihm deutschen Fluggesellschaft. Seither fliegt der Bayer mit der Deut- das Warten erleichtert, keinen Kaffee, Der Geschäftsmann hatte ein Ticket schen BA, dem Konkurrenzunterneh- kein Brötchen und keine Zeitung. Der der teuren Business-Class, die für viel men der Lufthansa. „Dort gibt es immer Business-Flieger soll dafür an Bord mit Geld guten Service verspricht. Doch als ausreichend Plätze in der Busi- einem Imbiß auf Porzellan und mit brei- Beyer 15 Minuten vor Abflug am Gate ness-Class“, lobt er, „außerdem sind teren Sitzen entschädigt werden. ankam, waren die besseren Plätze schon die Stewardessen einen Tick freundli- Kernstück der Reform ist jedoch ein vergeben. cher.“ ausgeklügeltes Buchungssystem, das die Der Zwei-Meter-Mann mußte sich in Das war ganz anders gedacht, als die Maschinen besser auslasten soll. Nur so, die billige Holzklasse quetschen, wo es Lufthansa ihr Express-Konzept Anfang glauben Lufthansa-Chef Jürgen Weber nur Kaffee und Saft, aber nichts zu es- September einführte. Die umworbenen und sein Verkaufsvorstand Hemjö sen gibt. „Meinen ersten Termin“, Geschäftsleute sollten besser bedient, Klein, läßt sich die Gesellschaft nachhal- die Economy-Klasse tig sanieren. zu Billigpreisen – aber Die Passagiere müssen sich mit einem Konkurrenz über den Wolken bei abgemagerten Ser- komplizierten und wenig kundenfreund- Flugstreckennetz der Billigflüge von Lufthansa vice – aufgefüllt wer- lichen Tarifsystem herumschlagen. Die und Deutsche BA den. Express-Verbindungen sind in einer Lufthansa-Express Sonderbroschüre nach verkehrsschwa- Hamburg verkehrt inzwischen chen und verkehrsstarken Zeiten aufge- auf sieben innerdeut- führt. Das Heftchen wird zur Zeit alle schen Strecken (siehe zwei Monate geändert und neu aufge- Berlin Grafik). Mit dem neu- legt. Selbst Vielflieger verlieren da leicht en Flugplan sollen den Überblick. im Frühjahr weitere Das Lockvogelangebot, 99 Mark pro Düsseldorf Strecken dazukom- Strecke, gilt nur für ein begrenztes Platz- men. angebot in schwachbesetzten Maschi- Das neue System nen. Dennoch stellten die Lufthansa- Köln/Bonn sollte von Anfang an Manager das Schnäppchenticket in An- ein voller Erfolg wer- zeigen und Werbespots groß heraus. den – rein wirtschaft- Nun sind die Billigplätze über Monate Lufthansa lich betrachtet. Zwar hinaus ausverkauft. Deutsche BA gewann die Fluggesell- Auch die Reisebüros sind unzufrieden schaft tatsächlich neue mit dem neuen Preissystem. Vor allem Billigkunden, aber kleinere Betriebe fühlen sich mit der Bu- Stuttgart Stammkunden wie der chung und Abwicklung oft überfordert. Vielflieger Beyer füh- „Wir brauchen für die Beratung zehn- München mal soviel Zeit wie früher“, klagt der Lufthansa-Flugpreise auf Express-Strecken in Mark Deutsche-BA-Flugpreise Kölner Reisebürobesitzer Hans-Fried- rich Graf von Beust, „trotzdem bleibt Hauptverkehrs- nachfrage- Sondertarif* Normalpreis Bär-Ticket* am Ende weniger hängen“. zeiten schwächere (einfach) (einfach) (hin und zurück) (einfach) Zeiten Um die aufgebrachten Kaufleute zu (einfach) besänftigen, setzten die Luftfahrtmana- ger einfach die Stornogebühren dra- Business- Business- Class 369,– 249,– – Class 260,– – stisch herauf. Die Reisebüros erhalten ein Drittel der Summe. Das Nachsehen Economy- 299,– 199,– 99,– Economy- 180,– 280,– haben die Kunden. Wer ein Ticket zu- Class Class rückgeben will, zahlt pro Strecke 100 * nur begrenzt verfügbar * nur begrenzt verfügbar Mark. Das gilt auch für ein 99-Mark-Tik- ket.

90 DER SPIEGEL 51/1994 Die hohe Stornopauschale sei nötig, um den Verwaltungsaufwand gering zu halten, meinen die Verantwortlichen bei der Lufthansa. Alles andere seien Kinderkrankheiten, die demnächst be- seitigt würden. „Wir sind lernfähig“, versichert Marketing-Vorstand Klein. Da kommt eine Menge Arbeit auf ihn zu. Viele Unstimmigkeiten und Unge- reimtheiten des Systems werden nur schwer auszumerzen sein, solange der Lufthansa-Express nur wenige Strecken bedient. Wer in Städten wie München oder Berlin wohnt, profitiert vom neuen Preissystem. Von dort kosten Trips nach Düsseldorf oder Stuttgart zu nachfrage- schwachen Zeiten 199 Mark in der Eco- nomy- und 249 Mark in der Business- Klasse. Zu den übrigen Zeiten verlangt die Lufthansa in der Holzklasse 100 Mark und in der Komfort-Klasse 120 Mark mehr. Wer dagegen von Bremen, Frankfurt oder Leipzig zu innerdeut- schen Zielen startet, zahlt noch immer die alten, weitaus höheren Preise. Das sorgt für Ärger. Der PR-Fachmann Michael Rodzy- nek fliegt mehrmals pro Monat von Viele Geschäftsleute sitzen mißmutig hinter dem Vorhang

Hamburg nach Düsseldorf. Seine Kurz- trips kosten ihn hin und zurück stolze 675 Mark – fast soviel wie ins doppelt so weit entfernte München. „Für rund 800 Mark“, empört sich der Vielflieger, „düse ich mit der KLM nach Amsterdam, bekomme dafür aber einen Superservice.“ Seine Lufthansa-Vielflie- ger-Karte hat er inzwischen unter Pro- test zurückgegeben. Bei den Express-Flügen sollen in der Business-Class breitere Sitze für mehr Bequemlichkeit sorgen. Pech für die Lufthansa: Der Lieferant, die Rem- scheider Firma Keiper Recaro, kommt mit der Produktion nicht nach. So gibt es im vorderen Teil der Ma- schine, in der teuren Klasse, bisher meist nur 25 Plätze. Montags und frei- tags, wenn viele Topmanager zwischen ihrem Wohn- und Einsatzort pendeln, reicht das bei weitem nicht aus. Viele Geschäftsleute hocken mißmutig hinter dem Vorhang – neben schreienden Kleinkindern und Rucksacktouristen. Wie es mit dem Lufthansa-Express- Konzept weitergeht, liegt deshalb nicht nur am Management der Fluggesell- schaft, auch der Betriebsrat der Firma Recaro redet ein gewichtiges Wort mit: Die Arbeitnehmervertreter müssen die Überstunden genehmigen, die zum Bau der begehrten Business-Class-Sitze nö- tig sind. Y

DER SPIEGEL 51/1994 91 marathon-start

die „buddenbrooks“ – tv-serie nach dollar – thomas mann us-währung seit 1792

„hammelsprung“ – stimmauszählung im bundestag pablo picasso Umfrage-Themen: Auf vielen Gebieten ist Halbwissen normal LÜCKEN UND LEERE „Blechtrommel“ und „Buddenbrooks“, Bremswege und Vorfahrtregeln, „Zauberflöte“ und „Unvollendete“, Mona Lisa und Heike Henkel – so breit war eine SPIEGEL-Umfrage über die Kenntnisse der Deutschen angelegt. Welches Wissen gehört heute zur Allgemeinbildung? Zu diesem Thema liefert die Untersuchung reiches Material.

wei Welten trafen in dem Fragebo- Das stimmte so nie, aber ist es damit Computerbegriffen wie Joystick und Me- gen des Bielefelder Emnid-Instituts nun ganz vorbei? Und wenn Bildung und nü, nach Pop-Größen wie Queen und Ma- Zzusammen: Frage 16 galt dem Ka- Wissen geschrumpft sind, was ist dann donna. Sie ließen ein Diktat schreiben, te- tegorischen Imperativ, bei Frage 17 ging geblieben? Wie schlau oder wie dumm steten die Kenntnis des Vaterunsers und es um Nintendo. sind die Deutschen? erkundigten sich nach den Preisen für Diesen Imperativ gibt es schon seit Das sollte eine Untersuchung klären, Benzin und Butter. 1788, als ihn der deutsche Philosoph Im- die der SPIEGEL bei Emnid in Auftrag Noch niemandem ist es gelungen zu manuel Kant definierte: „Handle so, daß gab. Zählt man nur die Hauptfragen, so klären, welches Wissen heutzutage zur die Maxime deines Willens jederzeit zu- waren es knapp hundert – so viele, daß sie Bildung gehört. Ist jemand ungebildet, gleich als Prinzip einer allgemeinen Ge- auf zwei Fragebögen verteilt und je 1000 wenn er bei Gesprächen über Autos oder setzgebung gelten könne.“ Männern und Frauen gestellt wurden. De- Computer stumm bleiben muß wie ein Die japanische Firma Nintendo ist seit ren Antworten, in der Zeit vom 5. Oktober Dorfdepp? Oder wenn er nicht weiß, ob einigen Jahren ein Riese auf dem Markt bis 4. November vor Ort gesam- in Sachsen-Anhalt die CDU oder die der Videospiele. melt, sind repräsentativ für SPD regiert? Und wie viele Grundverschieden war auch die Reak- alle Bundesbürger von 14 Deutsche „bilden“ sich nur tion der Männer und Frauen, die sich ge- Jahren an, mithin für 63 noch am Bildschirm? genüber den Emnid-Interviewern mit ei- Millionen. Die Emnid-Untersuchung genen Worten zu den beiden Begriffen Das Ganze beginnt war breiter angelegt als ir- äußern sollten. bei Pontius Pilatus und gendeine andere zuvor; das Die eine Frage ließ die meisten ver- endet bei Lothar Mat- Institut arbeitete außerdem stummen („weiß nicht“), die andere löste thäus. Auf 16 Gebieten mit anderen Methoden, als eine Flut von Antworten aus; von „Game wurden jeweils so sie in der Demoskopie und der Boy“ und „Produzent von Computer- viele Fragen gestellt, Testpsychologie üblich sind. spielen“ bis zu „Super Mario“ und daß die Antworten für Die Teilnehmer konnten „Donkey Kong“. ein Urteil über den Wis- zumeist nicht zwischen Sozialforscher sprechen von einer Nin- sensstand reichten. mehreren Antworten wählen tendo-Generation, weil viele Kids mit Einige wenige und durch Raten das Game Boys mehr Zeit verbringen als mit Gebiete hätten ge- Auf Seite 115 stehen für die Leser, die Richtige treffen. Bevor- Freunden und lieber an den winzigen Dis- nügt, wäre es nur im vorigen Heft den Fragebogen aus- zugt wurden sogenannte plays spielen, als für die Schule lernen. um Allgemeinbil- gefüllt haben, die richtigen Antwor- offene Fragen, bei denen Andere, größere Bildschirme sind dung gegangen, wie ten, und zwar in der gleichen Reihen- die 2000 Männer und längst ein Bildungsproblem der Erwach- Konservative sie folge – zum Vergleich mit ihren Frauen zu Worte kamen senen geworden. Denen wird nachgesagt, verstehen: Literatur eigenen Antworten. Es handelte sich und nicht nur Kreuze sie säßen fast nur noch vor der Glotze und und Geschichte, im vorigen Heft um einen Auszug, Alle machten. kaum noch über Büchern. Kunst und klassi- übrigen Fragen werden zusammen mit Einige Ergebnisse be- Gern hörten die Deutschen vieler Ge- sche Musik, dazu den Ergebnissen erst in diesem Heft stätigen gängige Meinun- nerationen, sie lebten in einem Land der noch das eine oder veröffentlicht. gen, andere werden selbst Dichter und Denker. Und sie widerspra- andere Schulfach. Fachleute überraschen. chen nicht, wenn jemand meinte, sie stün- Die Emnid-Interviewer fragten aber Nur sehr wenigen Deutschen (je 7 Pro- den mit ihren Landsleuten Schiller und auch nach den Rechten von Asylbewer- zent) sind der heutige Kant-Kollege Jür- Goethe, Kant und Hegel auf vertrautem bern, Schwangeren und Zeugen, nach gen Habermas und der Schriftsteller Bo- Fuße. Bremswegen und Vorfahrtregeln, nach tho Strauß („Anschwellender Bocks-

92 DER SPIEGEL 51/1994 martin luther pop-gruppe queen französische revolution – sturm auf die bastille

gesang“) ein Begriff. Und kaum mehr In der Literatur sind die Hürden nicht Deutsche wissen, daß die Unvollendete so hoch. Da reicht es, 16 von 27 Fragen von Franz Schubert und das berühmteste richtig zu beantworten, um zur Wissens- Loreley-Gedicht von Heinrich Heine Elite zu zählen. Um die Kenntnisse der stammen. Mehrheit ist es noch deutlich schlechter Umgekehrt kennen die meisten Fiesta bestellt: Auch mit nur 9 Richtigen sackt und Omega, Mona Lisa und die Compu- man noch nicht zu den „Schwachen“ ab. ter-Maus. Und sie wissen um die Pflich- Wer auf jede zweite Frage eine Antwort ten, die Bundestag und Bundesverfas- weiß, ist auf mehreren Gebieten weder goethes faust – plakat zur gustaf-gründgens-inszenierung sungsgericht den Schwangeren bei einer „schlau“ noch „schwach“. Halbwissen ist Abtreibung auferlegt haben. typisch für den Durchschnittsdeutschen. Mehrere Ergebnisse lassen daran zwei- Geradezu eine Bildungskatastrophe feln, daß die Schule ihre Aufgabe erfüllt. tritt bei der Minderheit der „Schwachen“ So können die meisten Bundesbürger zutage. Da sind nur wenige Wissensrui- nicht feststellen, ob 13,99 : 10 eine höhere nen aus der Schulzeit geblieben, und da- Zahl ergibt als 3,99 : 3 – jedenfalls dann nach kamen kaum neue Kenntnisse hinzu. nicht, wenn die Aufgabe „eingekleidet“ Diese Minderheit lebt ohne Vergangen- und die Zeit knapp ist. heit. Ihr Blick zurück reicht allenfalls bis Nicht etwa einzelne, sondern jeweils zur Hitler-Zeit, dann wird es dunkel. mindestens 10 Prozent der Deutschen Sie lebt, ohne mehr zu lesen als die Zei- verlegen die Photosynthese aus dem Grü- tung und ohne zu schreiben. Eine Zusatz- nen in die Dunkelkammer; ordnen Kants frage zeigte, daß die meisten keine Briefe Imperativ der Grammatik zu und nicht verfassen, sondern allenfalls Kartengrü- der Philosophie; gönnen der Billion nur ße aus dem Urlaub schicken. neun Nullen; erklären Frankfurt zur Auch wenn es um den Alltag, um Prei- Hauptstadt Hessens und New York zur se und Gebühren, Zins und Steuer geht, asylbewerber in hannover Hauptstadt der USA; meinen, 100 oder weiß diese Minderheit weniger als die an-

TRANSGLOBE (2), DARCHINGER, ENGELMEIER (2), BILDARCHIV PREUSSISCHER KUTURBESITZ (2), W. SCHMIDT/NOVUM, AKG TRANSGLOBE (2), DARCHINGER, ENGELMEIER BILDARCHIV PREUSSISCHER KUTURBESITZ W. 1000 Bits ergäben ein Byte, während deren Deutschen. Dabei sind auch die big mäc doch 8 genügen. eher schlecht als recht orientiert. Und lediglich 19 (in Worten: Ärger noch sind die Lücken bei politi- neunzehn) von 1004 Teilneh- schen Fragen. Die Einstellung der Bun- mern überstanden vier desbürger zu Ausländern ist seit Jahren Rechtschreib-Tests mit null ein brisantes Thema, aber die meisten Fehlern. Deutschen wissen nicht, wie gering die So aufschlußreich die Er- Chancen auf Asyl seit dem einschlägigen gebnisse im einzelnen sind, zu Beschluß des Bundestages vom 26. Mai einem Gesamtbild fügen sie vorigen Jahres sind. Auf die entsprechen- sich auf den ersten Blick nicht. de Frage des Emnid-Instituts fanden 66 Emnid zählte deshalb auf je- Prozent der „Schlauen“, aber nur 17 Pro- dem Gebiet per Computer drei zent der Durchschnittsdeutschen und Gruppen aus: etwa 20 Prozent, 3 Prozent der „Schwachen“ die richtige die überdurchschnittlich viel Antwort. wissen, die Mehrheit von etwa 60 Während es bei den „Schlauen“ wech- Prozent sowie 20 Prozent, die weniger selnde Minderheiten gibt (zum Beispiel wissen als die meisten. Jeder kann prüfen Literatur stark, Mathematik schwach und (auf den Seiten 98 bis 114), ob er auf dem umgekehrt), bleiben auf der Gegenseite jeweiligen Gebiet zur Minderheit der etwa 20 Prozent der Deutschen unter sich, „Schlauen“ gehört, oder zur Mehrheit die auf fast allen Gebieten geringe oder und damit zu den Durchschnittsdeut- gar keine Kenntnisse haben. schen, oder aber zur Minderheit der Heterogener zusammengesetzt ist le- „Schwachen“*. diglich die Minderheit, die von Compu- In Geographie und Kunst können die * Emnid bewertete bei der Computer-Auszählung „Schlauen“ fast jede Frage beantworten, die Antworten nach einem Punktsystem, zum Bei-

GAMMA/STUDIO X, CHRISTOPH KELLER/GRÖNINGER (2), und auch auf einigen anderen Gebieten spiel die Kenntnis des „Blechtrommel“-Autors hö- muß man ganz schön Bescheid wissen, her als die Kenntnis einer Asterix-Figur. Auf den Seiten 98 bis 114 zählen alle „richtigen Antworten“ will man sich zu dieser Minderheit gleich, um dem Leser die Umrechnung in Punkte zu zählen. ersparen.

DER SPIEGEL 51/1994 93 tyrannosaurus greift triceratops an Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite tern sowenig weiß wie Analphabeten Berühmte Worte wurden herrenlos vom Lesen und Schreiben. Zu ihr gehören auch einige Kenner der Literatur und der Zu vier Aussprüchen wurde gefragt: „Von wem stammt er?“ schönen Künste, denen dieses neumodi- sche Zeug zuwider ist. richtiger richtige „weiß Aber es sind relativ wenige. Diese Ausspruch Name Antworten nicht“ Technikfeindlichkeit ist auch unter den Bundesbürgern mit guter herkömmlicher Bildung nicht weit verbreitet. „Ich bin ein Berliner.“ John F. 86 12 Umgekehrt ist der Computerfreak Kennedy nicht so auf seinen Bildschirm be- „Ich wasche meine Pontius schränkt, wie oft behauptet wird. Er hat Hände in Unschuld.“ Pilatus 20 72 in der Regel ein solides, wenn auch kein glänzendes Allgemeinwissen. Schwächen entdeckte Emnid bei ihm „Wer zu spät kommt, Michail dort, wo sie kaum vermutet werden. Dem den bestraft das Leben.“ Gorbatschow 41 54 typischen Freak ist die Computer-Theorie michail gorbatschow fremd. „Expertensysteme“ zum Beispiel

„Hier stehe ich, Martin AKG, SIPA hält er für einen Begriff, der „mit Compu- ich kann nicht anders.“ Luther 14 76 tern nichts zu tun“ hat. Dabei ist dies ein Kerngebiet der Künstlichen Intelligenz, des jüngsten Zweigs der Informatik. Vor allem die Aussprüche des Statthalters Pilatus und des Reformators Martin Luther Auf drei Gebieten ist die Unkenntnis wurden oft anderen zugeschrieben, so „Hände in Unschuld“ Uwe Barschel, Cäsar, He- der meisten so groß, daß eher von Leere rodes, Jesus, Judas und Nixon, „Hier stehe ich...“ Goethe, Faust und Hamlet. als nur von Lücken die Rede sein muß. Pop-Musik hören fast nur Jüngere. Und auf Fragen nach Beethoven und Brahms blieben die meisten stumm, weil sie taub sind für klassische Musik. Stirbt Goethe in den Schulen? In der Rechtschreibung machen sogar die „Schlauen“ bei den vier „Welche Werke Goethes fallen Ihnen ein, ohne lange nach- Tests im Schnitt 7 Fehler. Mit dieser zudenken? Nennen Sie möglichst drei.“ Die Antworten zei- Quote zählt man durchaus noch zur gen, daß Goethe – das Bildungsidol vieler Generationen, Elite, legt man die Maßstäbe der zumindest von Schulmeistern – den meisten Deutschen nur Duden-Redaktion und der Kultus- noch dem Namen nach bekannt ist. minister an. So schwer machen es goethe in der campagna, 1787 deren abstruse Regeln den Deut- Es nannten: Meistgenannt wurden nach „Faust“ jene Titel, schen, Deutsch richtig zu schreiben. die seit vielen Generationen Schulstoff sind: Kann man zufrieden sein mit dem kein Werk 34 Halbwissen, das in der Bundesrepublik Die Leiden des jungen Werthers vorherrscht? Doch allenfalls in dem Sin- nur ein Werk Götz von Berlichingen ne, wie einst Bundeskanzler Helmut (fast immer „Faust“) 33 Egmont Schmidt mit der Zeitung: Sie sei schon Erlkönig gut, wenn in ihr nur die Hälfte stimme. Zauberlehrling Im buchstäblichen Sinne liefert die zwei Werke (fast immer Osterspaziergang SPIEGEL-Umfrage die Basis für eine „Faust“ und ein anderes) 18 Bildungsdebatte, die volksnäher sein Iphigenie auf Tauris kann als alle vorangegangenen. „Sah ein Knab ein Röslein stehn“ drei Werke (fast immer Erstmals geht es nicht um eine Minder- „Faust“ und zwei andere) 15 Goethe zugeschrieben wurden unter anderem heit von sogenannten Bildungsbürgern, „Hamlet“, die „Zauberflöte“ und die „Weber“, stillschweigend waren bislang zumindest am häufigsten die „Räuber“ und die „Glocke“. alle Deutschen ohne Abitur ausgeklam- mert. Und die neue Debatte soll auch nicht in der Höhenlage stattfinden, in der seit Bildungs-Urvater Wilhelm von Hum- richtige Antworten „...daß ich so traurig bin“ boldt (1767 bis 1835) bislang die meisten Bundesbürger West- Ost- geführt wurden. insgesamt deutsche deutsche Nur die Kultusminister stiegen in die Niederungen des Schulalltags hinab, Die Loreley ist ein Felsen. Wo steht er? 79 79 80 wenn sie versuchten, sich auf einen Bil- am Rhein dungskanon zu einigen. Gelungen ist es Es gibt ein berühmtes Gedicht über die ihnen selten. Loreley. Kennen Sie den Anfang? 35 34 39 So ist denn bis heute offengeblieben, „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, welche Kenntnisse und Erkenntnisse die daß ich so traurig bin“ Schule vermitteln soll. Umstritten ist so- gar, ob es überhaupt mehr geben darf als Kennen Sie den Autor dieses Gedichts? 14 11 26 allgemeine und deshalb ziemlich unver- Heinrich Heine bindliche Richtlinien. Über Bildung und Allgemeinbildung werden viel zu viele Bücher und Aufsätze

96 DER SPIEGEL 51/1994 geschrieben. Zuweilen mit klugen Wor- Die Ergebnisse der Umfrage wurden ten, oft in schaurigem Deutsch wird stets unter vielen Aspekten ausgezählt und Arabella und Reich-Ranicki betont, daß Wissen allein nicht genügt, analysiert. Einige Erkenntnisse: gleichauf um als gebildet zu gelten, und daß die Sport ist für Deutsche aller Bildungs- Schule keinesfalls nur Kenntnisse vermit- schichten die wichtigste Nebensache. Emnid nannte 17 Namen: „Sagen teln, sondern in erster Linie erziehen soll. Knapp ein Drittel der Männer gehört zu Sie zu jedem, was Ihnen einfällt, Da wird dann von Selbstfindung und den Fans, die jeden Namen kennen und ein kurzes Stichwort, entweder Identitätsentfaltung, von Problemlö- alle Tore zählen, wenn es um Fußball den Beruf oder etwas anderes.“ sungskompetenz, Teamfähigkeit und von geht. Den Beruf oder ein anderes unendlich vielem anderen geredet. Ostdeutsche wissen auf den meisten richtiges Stichwort nannten: Das blieb bei der Emnid-Untersuchung Gebieten so gut Bescheid wie Westdeut- alles außen vor. Aus sche, in der Literatur Klaus Kinkel zwei Gründen: sogar besser. Daß die Außenminister 90 Die Bildungsexper- Zu den Ergebnissen: Deutschen vier Jahr- ten dieser Art leben in zehnte lang getrennt Auf den folgenden Seiten wer- Götz George ihrer eigenen, abstrak- den diese Zeichen verwendet: voneinander gelernt ten Welt, die sich und gelesen haben, Schauspieler 89 schlichteren Deutschen = richtige Antwort wirkt sich noch immer kaum erschließen läßt. aus: Im Osten ist die Michael Schumacher Auch vielen Lehrern ist = falsche Antwort „Blechtrommel“, im Rennfahrer 88 sie fremd. = „weiß nicht“ Westen das „Siebte Und: Zu groß wäre Kreuz“ der DDR- bei solchen Themen, Autorin Anna Seghers Claudia Schiffer selbst wenn sie dem Alle Umfrageergebnisse in weißen kaum bekannt. Fotomodell 86 Volk verständlich ge- Kästchen in Prozent: 40 Frauen wissen soviel macht werden könnten, wie Männer. Die Heike Henkel die Gefahr, daß sich Auf den Seiten 98 bis 114 werden die Kenntnisse sind nicht Leichtathletin 76 allzu viele Befragte zu Ergebnisse aus den 16 Wissensgebieten auf allen Gebieten hehren Idealen beken- veröffentlicht. Kästen mit roten Säulen gleich, aber es gibt Hans Meiser nen, ohne daß in ihren (siehe unten: Kasten „Geschichte“) bie- auch in früheren Män- TV-Moderator 76 Köpfen sitzt, was ihnen ten eine weitere Information. nerdomänen wie Ma- über die Lippen Emnid hatte die Befragten auf jedem der thematik und Au- kommt. 16 Gebiete in drei Gruppen geteilt: to/Verkehr keine signi- Johannes Mario Simmel Daß es zwar Wissen eine Minderheit von etwa 20 Pro- fikanten Unterschiede Romanautor 69 ohne Bildung, aber zent, die überdurchschnittlich viel mehr. keine Bildung ohne weiß (die „Schlauen“), Höhere Schulbil- Manfred Kanther Wissen gibt, mag trivi- eine Mehrheit von etwa 60 Prozent dung führt zwar zu Innenminister 59 al sein, aber nun kann mit durchschnittlichem Wissen, besseren Ergebnissen; anhand der Emnid- aber von den Deut- Ergebnisse konkret er- eine Minderheit von etwa 20 Pro- schen mit Abitur weiß Ulrich Wickert zent, die weniger weiß als die ande- TV-Moderator 56 örtert werden, welches ren (die „Schwachen“). nur jeder zweite, daß Wissen zur Bildung Thomas Mann die gehört. In den Kästen stehen jeweils die Zahl „Buddenbrooks“ ge- Tanja Szewczenko Einige Themen wur- der Fragen und dazu die Zahl der richti- Eiskunstläuferin 44 gen Antworten dieser drei Gruppen. schrieben hat, und so- den nicht etwa in die gar nur jeder fünfte Umfrage aufgenom- Geschichte kennt den Kategori- Eugen Drewermann men, um sie zum Bil- 11 Fragen schen Imperativ. Theologe 35 dungsgut zu erklären. 11 Auch auf die Frage, Im Gegenteil: Wer 9 ob Fernsehen dumm Marcel Reich-Ranicki Hans Meiser nicht 6 macht, liefert die kennt, hat mehr freie SPIEGEL-Untersu- Literaturkritiker 32 Zeit für seine Bildung chung eine Antwort. als derjenige, der sich 1 Allerdings mußte sich Arabella Kiesbauer diesen Fernsehmode- 0 Emnid auf die Selbst- TV-Moderatorin 31 rator täglich anschaut. auskünfte der befrag- Mit Fragen nach ten Männer und Frauen solchen TV-Stars und verlassen, wie lange sie Johannes Dyba anderen Prominenten wurde belegt, was täglich vor dem Bildschirm sitzen. Erzbischof 11 oft behauptet wird: daß es kaum noch Po- Das Ergebnis: Je länger jemand fern- pularität ohne Bildschirm gibt. sieht, desto geringer ist sein Wissen. Das Bruno Ganz Der Fuldaer Erzbischof Johannes Dyba gilt durchgängig für alle Gebiete, außer Schauspieler 10 zum Beispiel gelangt mit seinen konser- für Sport. vativen Aus- und Einfällen oft in die In einem einzigen Punkt sind sich die Jürgen Habermas Schlagzeilen der Zeitungen und ist im- meisten Deutschen einig, ganz egal, wie Philosoph 7 merhin bekannter als jeder andere Bi- oft und wie lange sie fernsehen, ob sie zu schof. Trotzdem kennen ihn nach elf den „Schlauen“ oder zu den „Schwa- Amtsjahren weit weniger Deutsche als chen“ oder zu den Durchschnittsdeut- Botho Strauß Arabella Kiesbauer, die seit einem halben schen gehören: Schriftsteller 7 Jahr allnachmittäglich bei einer Pro- „Allgemeinbildung wird immer wich-

Sieben-Talkshow auftritt. tiger.“ ACTION PRESS (3), STILLS/STUDIO X, A. SCHOELZEL

DER SPIEGEL 51/1994 97 GEOGRAPHIE

Grünes Herz am falschen Fleck Zuviel Ehre für Rostock und Frankfurt Wo Thüringen (Werbeslogan: „Das grüne Herz Deutschlands“) Von 2 Bundesländern sollten die Hauptstädte liegt, wissen die meisten Deutschen nicht. Auf einer Deutsch- genannt werden. landkarte waren die 16 Bundesländer eingezeichnet, aber nur Die Hauptstadt von mit Buchstaben markiert. 4 sollten genannt werden. Die Hauptstadt von Hessen? Mecklenburg-Vorpommern? Wo liegt Thüringen? richtig: Wiesbaden 41 richtig: Schwerin 41 Das Ergebnis: Frankfurt 26 Rostock 9 richtige Antwort: 45 falsche Antworten: 35 davon 16 Prozent: Kassel 4 andere Orte 6 verwechselt mit Sachsen 12 Prozent: andere Orte 3 „weiß nicht“ 44 mit Sachsen-Anhalt 3 Prozent: mit Brandenburg „weiß nicht“ 26 „weiß nicht“ 20 Die Antworten der Ost- und Westdeutschen unterschieden sich deutlich. Es kennen Westdeutsche Ostdeutsche die Hauptstadt Hessens 45 24

NIEDERSACHSEN die Hauptstadt Mecklenburg-Vorpommerns 32 74 BRANDENBURG Die anderen Bundesländer wurden besser geortet: Nie- dersachsen von 68 Prozent, Baden-Württemberg von 60 und Brandenburg von 58 Pro- THÜRINGEN Nur Washington als Hauptstadt bekannt zent der Befragten. Von 4 Ländern sollten die Hauptstädte genannt werden. Zahl der richtigen „weiß Land Hauptstadt Antworten nicht“ USA Washington 75 7 BADEN- WÜRTTEMBERG Afghanistan Kabul 38 60

Geographie Lettland Riga 38 57 11 Fragen 11 10 Bosnien Sarajevo 45 47 6 Gewertet wurde auch die Frage nach dem 2 Standort der Loreley Häufigste falsche Antworten: New York als Hauptstadt der USA, 0 (siehe Seite 96). Zagreb als Hauptstadt von Bosnien.

AUTO/VERKEHR Es ordneten den Typen gut bekannt Typ Hersteller Typ richtig zu Aufgeführt wurden in einer Liste 6 Autotypen (ohne Fotos), Fiesta Ford 90 anhand einer Liste mit 10 Firmen sollte der Hersteller benannt werden. Omega Opel 90 Die Antworten der Autofahrer Tipo Fiat 76 (= Führerscheinbesitzer): Carina Toyota 69 Twingo Renault 52

ferrari Testarossa Ferrari 45 testarossa H. D. SEUFERT

98 DER SPIEGEL 51/1994 Nur jeder zweite weiß, was er darf Mit Vorfahrtregeln vertraut „Dürfen Sie in dieser Situation rechts an dem Lkw vorbei in „Wer fährt in dieser Situation als erster, wer als zweiter, die Autobahn einfahren?“ Die Antworten der Autofahrer: wer als dritter?“ Die Antworten der Autofahrer: richtige Reihenfolge: C B A richtig: ja 48 A C nein 46 76 21 3 „weiß nicht“ 6 B

richtige Reihenfolge: B C A B Bremsweg überschätzt? A „Wie lang ist der Bremsweg eines Pkw bei 50 Stundenkilo- metern unter normalen Bedingungen, also auf trockener, 80 17 3 ebener Straße?“ Die Antworten der Autofahrer: C „mehr“: Auto/Verkehr 10 Fragen richtig: 25 Meter 23 bis 30 Meter 10 10 9 weniger 19 bis 50 Meter 16 7 Gewertet wurden mehr 41 bis 100 Meter 11 nur die Antwor- 3 ten der Führer- „weiß nicht“ 17 über 100 Meter 4 scheinbesitzer (= Autofahrer). 0

ALLTAGSWISSEN/WIRTSCHAFT Spitzensteuer im Nebel Seinen Stromtarif kennt nur jeder dritte Nun geht es um Zinsen und Steuern. „Es geht um Preise und Kosten. Bitte nennen Sie je- richtige Zahl der richtigen „weiß weils den Betrag in DM, den Sie aufwenden müssen.“ Antwort Antworten nicht“ Als richtig gewertet Zahl der Wie hoch ist die wurden Antworten richtigen Mehrwertsteuer? 15 Prozent 74 5 im Bereich: Antworten Schachtel Zigaretten, Wie hoch ist der 19 oder 20 Stück, normal 4,50 bis 5,00 70 Zinssatz bei einem Angaben zwischen Überziehungskredit 10,00 und 13,99 Liter Benzin, bleifrei, auf dem Girokonto? Prozent 35 31 normal 1,40 bis 1,59 66 VW Golf, Standard 6 Prozent der Befragten schätzten den Zinssatz niedriger, ohne Extras, 60 PS 28 Prozent schätzten ihn höher ein. (zur Zeit: 22 430 DM) 20 000 bis 24 999 31 Wie hoch ist der Stück Butter Einkommensteuer- (ein halbes Pfund) 1,68 bis 2,09 76 satz bei Spitzen- Dollar 1,40 bis 1,59 41 verdienern? 53 Prozent 853 Fernsehgebühr für ARD und ZDF, monatlich (zur Zeit: in den 21 Prozent der Befragten nann- alten Bundesländern 23,80 DM, ten andere Zahlen zwischen 50 in den neuen 22,20 DM) 22,00 bis 23,99 13 und 59 Prozent und zeigten Alltagswissen/Wirtschaft Bahnfahrt 2. Klasse Ham- sich damit einigermaßen orien- 12 Fragen tiert. 15 Prozent der Befragten burg–München, 800 Kilo- 12 meter, ohne Bahncard hielten den Steuersatz für zu oder andere Vergünsti- niedrig (unter 50 Prozent), 3 7 gungen, ohne IC-Zuschlag Prozent überschätzten ihn (60 5 (zur Zeit: 197 DM) 180 bis 219 16 Prozent und höher). 2

Kilowattstunde Strom 0,17 bis 0,30 32 0

einfacher Hamburger 2,00 bis 2,49 14

DER SPIEGEL 51/1994 99 COMPUTER

Die Maus ist populär An jedem zweiten Bildschirm sitzt ein Freak Gehören Computerbegriffe zur allgemeinen Bildung, oder Auf die Frage nach Besitz und Benutzung von kennen sie nur die Deutschen, die selbst am Computer sit- Computern zu Hause antworteten: zen? Emnid nannte 15 Begriffe: „Welche haben mit Computern zu tun, welche nicht?“ „habe keinen Computer“ 59 hat mit Computern zu tun „habe einen Computer“ 41 hat nichts mit Computern zu tun Über deren Nutzung sagten die Computerbesitzer richtige Antworten andere (= 100 Prozent gesetzt): Begriff Computerfreaks* Befragte „Benutze ihn... Betriebssystem 87 58 ...täglich oder fast täglich“ 32 Errorcode 71 43 ...ein- bis zweimal wöchentlich“ 17 Expertensystem 18 19 ...ein- bis zweimal monatlich“ 10 Byteproducer 22 9 ...ein- oder mehrmals im Jahr“ 5 exponieren 65 37 formatieren 81 41 ...selten oder nie“ 36 Fenster 80 33 Tür 79 53 Joystick 86 52 Computer wahren ihr Geheimnis kompatibel 74 38 „Im Alltag rechnet man mit Zahlen im Zehner- oder Dezi- Maus 95 64 malsystem, also den zehn Ziffern von 0 bis 9. Computer multiple choice 47 22 arbeiten mit einem anderen System. Mit welchem?“ Schnittstelle 64 31 Computer- andere CPU* 53 23 freaks Befragte richtige Antworten: Menü 92 48 z.B. „Binäres System“, „0 und 1“ 18 9 *Computerfreaks: Befragte, die einen Computer zu Hause vage richtige Antworten: haben und ihn täglich oder zumindest wöchentlich benutzen. z.B. „Duales System“, „digital“ 25 11 * CPU: Central Processing Unit falsche Antworten 9 5 „weiß nicht“ 48 75 1 Byte = ? Bits Auf die Frage, wie viele Bits ein Byte hat, antworteten Computerfreaks andere Befragte Computer 17 Fragen richtige Antwort: 8 29 8 17 100 oder 1000 19 5 13 andere falsche Zahlen 13 6 8 „weiß nicht“ 39 81 1 0

MATHEMATIK

Zu viele Nullen Teurer Einkauf Kleine Unbekannte Die Staatsschulden sind auf über eine Billi- „Was ist preisgünstiger beim Kauf eines „Kennen Sie die Primzahlen on gestiegen. Wissen die Deutschen noch, Waschmittels, ein 10-Kilo-Paket für 13,99 zwischen 1 und 10?“ worum es geht? Emnid fragte:„Wie viele DM oder ein 3-Kilo-Paket für 3,99 DM, Es nannten... Nullen hat eine Billion?“ Die Antworten: oder sind beide Pakete gleich günstig?“ Es durfte schriftlich gerechnet werden. richtig: weniger als 9 8 4 Primzahlen (2,3,5,7) 13 9 15 3 Primzahlen 23 „10-Kilo-Paket ist günstiger“ 40 2 Primzahlen 6 10 bis 11 8 1 Primzahl 2 richtig: 12 46 richtig: „3-Kilo-Paket ist günstiger“ 38 keine 56 mehr 5 „beide sind gleich günstig“ 16 „weiß nicht“ 18 „weiß nicht“ 6

100 DER SPIEGEL 51/1994 KUNST Guernica: berühmt, aber nicht bekannt Von 6 Kunstwerken sollten die Befragten sagen, „wie das Bild heißt oder wen es darstellt“ und „wer es gemalt hat“. Die Namen der Maler standen auf einer Liste. VG BILD-KUNST, BONN, 1994 VG BILD-KUNST, Betende Albrecht Marilyn Andy Hände Dürer Monroe Warhol 60 63 70 46 64 46 34 33 26 48

Selbst- bildnis Vincent Mona Leonardo Der arme Carl (van Gogh) van Gogh Lisa da Vinci Poet Spitzweg 44 56 77 68 30 56 13 59 17 5 55 41 18 23 53 39

Kunst 12 Fragen 12 11

VG BILD-KUNST, BONN, 1994 VG BILD-KUNST, 7 Pablo Guernica Picasso 1 749 0 16 7 77 44

Viele kommen mit Zins nicht klar An schwierigen Reihen gescheitert „Wie viele Zinsen gibt es für ein Sparguthaben von Es sollten Reihen von 7 Zahlen mit der 16 000 DM in drei Monaten, bei einem Zinssatz von 8. Zahl fortgesetzt werden. Zahl der richtigen 5 Prozent pro Jahr?“ Antworten

richtige Antwort: 200 DM 45 Mathematik 0134679 es folgt: 10 55 12 Fragen falsche Antworten: 4 Primzahlen = 4 Fragen 50 weniger 10 1247111622 es folgt: 29 12 10 mehr 15 0325476 es folgt: 9 48 „weiß nicht“ 30 5 0214263 es folgt: 8 39 1 0 0109 18162421 es folgt: 28 25

DER SPIEGEL 51/1994 101 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite KLASSISCHE MUSIK POP-MUSIK Einst unvollendet, heute unbekannt Genannt wurden 8 Werke der klassischen Musik und 10 Komponisten. „Von wem stammt was?“ Bundesbürger West- Ost- häufigste falsche Werk Komponist insgesamt deutsche deutsche Antwort Zauberflöte Mozart 61 59 67 Beethoven Aida Verdi 56 51 73 Puccini Schwanensee Tschaikowski 45 38 71 Wagner Bolero Ravel 43 46 35 Puccini Meistersinger von Nürnberg Wagner 42 39 53 Brahms Così fan tutte Mozart 24 23 28 Puccini Eroica Beethoven 21 20 26 Brahms BILDARCHIV PREUSSISCHER KULTURBESITZ Die Unvollendete Schubert 10 9 15 Beethoven ludwig van beethoven

Klassische Musik 8 Fragen Frag keinen über 30 Wegen vieler „weiß nicht“- Genannt wurden 8 Werke aus Rock und Pop sowie 12 Inter- Antworten andere Grup- pen als sonst: preten. „Wer gehört zu wem?“ Richtige Antworten: 47 % Alter der Befragten 30 und 35% Titel Interpret 14 bis 29 älter 18% We are the Champions Queen 71 28 She loves you Beatles 70 50 GAMMA/STUDIO X 0 bis 2 3 bis 5 6 bis 8 roxette Thriller Michael Jackson 59 23 richtige Antworten Satisfaction Rolling Stones Pop-Musik, 8 Fragen 56 33 43% Another brick in the wall Pink Floyd 52 25 27 % 28% Wegen vieler „weiß Material girl Madonna 50 18 nicht“-Antworten ande- re Gruppen als sonst, Streets of Philadelphia Bruce Springsteen 50 14 und zwar für die Befrag- Crash! Boom! Bang! Roxette 48 11 ten unter 30 Jahren. 0 bis 2 3 bis 5 6 bis 8 richtige Antworten

RELIGION

Bergpredigt? Nie gehört Bergpredigt 27 24 49 Es wurden 4 Namen und Begriffe aus der Bibel genannt: Laut Matthäus-Evangelium von Jesus gehalten; wegen der „Können Sie damit irgend etwas verbinden?“ Seligpreisungen und Weisungen ein Kernstück des Neuen Te- staments. (Als „richtig“ genügte „Ansprache Jesu“.)

Bethlehem 90 1 9 Vaterunser: vielen vertraut Stadt in Palästina, laut Bibel Geburtsort Jesu. (Als „richtig“ galten auch „Weihnachten“ oder „Krippe“.) „Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name.“ So beginnt das Vaterunser. Pilatus 48 17 35 Wie geht es weiter? Römischer Statthalter in Judäa (26 bis 36). Überließ Dein Reich komme. laut Bibel Jesus dem jüdischen Hohen Rat. richtige Antwort: wörtlich 69 30 Silberlinge 54 2 44 vage 10 Laut Matthäus-Evangelium der Lohn des Jüngers Judas falsche Antwort 1 dafür, daß er Jesus verriet. „weiß nicht“ 20

104 DER SPIEGEL 51/1994 SPORT Frauen kennen nur Lothar Noch immer Männersache Es wurden 4 Spieler und 10 Fußballvereine genannt: Es wurden 6 Fußballvereine genannt: richtige Antworten „Wer gehört wohin?“ „Welche spielen in der 1. Bundesliga?“ Männer Frauen

richtige Antworten Lothar Matthäus Bayern München 73 55 Männer Frauen Stefan Kuntz 1. FC Kaiserslautern 40 12 VfL Bochum 63 40 Andreas Köpke Eintracht Frankfurt 36 13 Toni Polster 1. FC Köln 35 11 1860 München 64 38 Bayer Uerdingen 59 35 Länger laufen Die drei anderen Vereine waren die Absteiger des Spieljahres 1993/94. Am häufigsten wurde der 1. FC Nürnberg noch in „Wie lang ist die Strecke beim Marathonlauf?“ der 1. Bundesliga vermutet (29 Prozent Männer, 27 Prozent Frauen), seltener der VfB Leipzig und Wattenscheid 09. richtige Antwort: 42,195 km oder 42 km 37 falsche Antworten: kürzer 15 Falsche Höhen länger 18 „Wo liegt der Weltrekord im Hochsprung der Männer?“ „weiß nicht“ 28 richtige Antwort: 2,45 Meter 21 Als richtig gewertet wurden auch andere Zahlen von 2,40 bis 2,49 Meter. Irr-Tour falsche Antworten: „Die Tour de France führte dieses Jahr nicht nur durch Frankreich, sondern auch in ein anderes Land. In welches?“ niedriger 20 höher 13 richtige Antwort: England 8 „weiß nicht“ 46 falsche Antworten 38 „weiß nicht“ 54

Oft gesehen, nie gezählt Sport 14 Fragen Spiele im Hallenhandball wer- richtige Antwort: 7 32 14 den häufig im Fernsehen über- falsche Antworten: 11 Gewertet wurden tragen. Emnid fragte: auch die Fragen weniger 14 nach Heike Henkel, „Wie viele Spieler gehören zu ei- 6 Michael Schu- ner Mannschaft im Hallenhand- mehr 18 2 macher und Tanja ball, einschließlich Torwart?“ „weiß nicht“ 36 Szewczenko 0 (siehe Seite 97).

Zehn Gebote: Dritter Platz: „Vater und Mutter ehren“ Wenige kennen alle „Bitte nennen Sie eines der Zehn Gebote.“ „Wie viele der Zehn Gebote kennen Sie?“ Es nannten: ein Gebot 92 „keines“ 8 Religion kein Gebot 8 8 Fragen 1 bis 3 14 8 7 4 bis 6 36 Am häufigsten wurden genannt: 7 bis 9 16 4 „Du sollst nicht töten“ 35 alle 10 26 2 „Du sollst nicht stehlen“ 17 0 „Du sollst Vater und Mutter ehren“ 12

„Du sollst nicht ehebrechen“ 11 AKG Gewertet wurden auch die Fragen bergpredigt nach Eugen Drewermann und Kein anderes Gebot wurde von Johannes Dyba (siehe Seite 97). Nicht gewertet wurde die Frage, mehr als 3 Prozent genannt. wie viele Gebote man kenne: Die Antworten entsprachen der eige- nen Einschätzung, nicht unbe- dingt dem eigenen Wissen.

DER SPIEGEL 51/1994 105 LITERATUR Nur Obelix fast allen vertraut Ostdeutsche kennen Heine und Lessing besser Genannt wurden 10 Namen: „Welche gibt es in Asterix- Genannt wurden 7 Werke und 10 Autoren: Geschichten oder -Filmen, sind also ,echt‘, welche nicht?“ „Wer hat was geschrieben?“ Die Kenntnisse der West- und Ostdeutschen differieren stark. echt Figur als „echt“ bzw. falsche „weiß nicht echt „nicht echt“ erkannt Antwort nicht“ richtige Antworten Bundesbürger West- Ost- Obelix 79 1 20 Werk Autor insgesamt deutsche deutsche Fürchtenix 37 19 44 Die Blechtrommel Günter Graß 46 51 24 Krawallnix 39 12 49 Ansichten Heinrich Böll 26 31 10 eines Clowns Gutemine 25 28 47 Das siebte Anna Seghers 23 10 73 Methusalix 37 18 45 Kreuz Schlumpfine 50 8 42 Der UntertanHeinrich Mann 19 12 47 BuddenbrooksThomas Mann 42 43 41 Majestix 47 12 41 Nathan der Gotthold Yellowsubmarine 10 47 43 Weise Ephraim Lessing 41 33 69 Rumpelfix 42 8 50 Deutschland, ein Heinrich Wintermärchen Heine 28 17 70 Schreibnix 43 7 50

Literatur, 27 Fragen Literatur ohne Comics, 17 Fragen Comics, 10 Fragen 27 17 10 Gewertet wurden hierfür auch die Fragen 16 nach Goethes Werken und nach der Loreley 11 5 (siehe Seite 96) sowie nach Bruno Ganz, 5 4 9 Marcel Reich-Ranicki, Johannes Mario 3 Simmel und Botho Strauß (siehe Seite 97). 1 2 0 3 Werke Goethes = 3 Antworten. 0 0

POLITIK Böhmische Dörfer an Elbe und Neckar Sprung ohne Hammel „Gehört in den folgenden 5 Bundesländern der „Erklären Sie kurz, aber möglichst genau, Ministerpräsident der CDU oder der SPD an?“ was mit den folgenden Begriffen gemeint ist.“ Zahl der richtigen Antworten Aussperrung richtige Bundesbürger West- Ost- Kampfmittel im Arbeitskampf: Arbeitgeber lassen Arbeitnehmer Land Antwort insgesamt deutsche deutsche nicht zur Arbeit zu und zahlen ihnen keinen Lohn. Sachsen-Anhalt SPD 44 38 66 richtige Antwort: präzise 17 Rheinland-Pfalz SPD 54 56 46 vage 35 Berlin CDU 64 62 72 Schleswig-Holstein SPD 65 68 53 Hammelsprung Baden-Württemberg CDU 58 62 42 Abstimmung im Bundestag, bei der die Abgeordneten den Saal durch Türen für „Ja“, „Nein“ oder „Enthaltung“ betreten.

Europaparlament verlegt richtige Antwort: präzise 5 Genannt wurden 5 Städte. „Welche ist der Sitz vage 18 des Europäischen Parlaments?“ Politik 10 Fragen Bei der Frage nach dem Hammel- Brüssel 49 10 9 sprung gab es relativ viele falsche Den Haag 4 Antworten (10 Prozent). Es trat ein Rateeffekt ein. Antwort-Beispiel: Luxemburg 3 6 Gewertet wurden auch die Fragen „Tierisches Vergnügen“. Paris 1 2 nach Manfred Kan- ther und Klaus Kin- richtig: Straßburg 34 0 kel (siehe Seite 97). „weiß nicht“ 9

106 DER SPIEGEL 51/1994 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite GESCHICHTE

Was geschah in den folgenden Canossa, 1789, Dolchstoß: Fehlanzeige Jahren/an den folgenden Tagen?

Was versteht man unter... „1789?“ 36 4 60 „Gang nach Canossa?“ 22 21 57 Beginn der Französischen Revolution, Sturm auf die Bastille, Erklärung der Menschenrechte. 1077 suchte König Heinrich IV. (späterer Kaiser) Papst Gregor VII. in Canossa auf und erreichte „1848?“ 27 10 63 die Aufhebung des Kirchenban- nes, der seine Untertanen vom Märzrevolution in Deutschland, Nationalversammlung Treueid entbunden und seine in der Paulskirche. Herrschaft gefährdet hatte. Wur- de früher als „schmachvolle De- mütigung des Königs“ geschil- „20. Juli 1944?“ 60 10 30 dert („Mußte drei Tage barfuß Attentat auf Hitler, verübt von Stauffenberg. und in härenem Gewand auf die Gnade des hartherzigen Papstes warten“), gilt aber heute als Er- folg Heinrichs IV. (Als „richtige „17. Juni 1953?“ 67 9 23 Antwort“ genügte zum Beispiel „Streit Papst/Kaiser“.) Aufstand in der DDR, von 1954 bis 1990 war der 17. Juni als „Tag der deutschen Einheit“ in der Bundesrepublik ein Feiertag. AKG heinrich iv. in canossa

„Nürnberger Prozesse?“ 73 4 23 Verfahren vor dem Internationalen Militärgerichtshof und ameri- kanischen Militärgerichten gegen NS-Kriegsverbrecher 1945 bis AKG 1949. volksaufstand in der ddr

„Reichskristallnacht?“ 78 8 14 Lebte Luther vor dem Drei- richtig: vorher 50 ßigjährigen Krieg, während während 8 Am 9. November 1938 Zerstörung von Synagogen und dieses Krieges oder nach die- jüdischen Geschäften im Deutschen Reich. sem Krieg? nach 19 „weiß nicht“ 23

„Dolchstoßlegende?“ 17 16 67

Führte die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg auf Verrat und Revolution der „Linken“ in der Heimat zurück, wurde von Hindenburg und Hitler aufgegriffen. Wer erfand den Buchdruck? 61 3 36 Johannes Gutenberg „Potsdamer Abkommen?“ 53 5 42 (gestorben 1468) Am 2. August 1945 unterzeich- net von US-Präsident Truman, Stalin und dem Briten-Premier Attlee. Teilte Deutschland auf Geschichte und regelte andere Nachkriegs- 11 Fragen fragen. 11 9 6

1 druckerpresse 0 gutenbergs

(rekonstruktion) AKG

DER SPIEGEL 51/1994 109 RECHT Zeugin: Rechte unterschätzt Paragraph 218: Was ist Frauen erlaubt? „Frau Schwarz saß bei einem Autounfall neben Herrn „Wozu ist eine Frau bei einem Schwangerschaftsabbruch Weiß und wird als Zeugin vor Gericht geladen. Angeklag- nach heutigem Recht verpflichtet, wozu nicht?“ ter ist Herr Weiß. Wann darf Frau Schwarz die Aussage verweigern?“ richtige falsche richtige falsche Aussage Aussage Aussage Aussage trifft zu Wenn sie verheiratet ist, muß sie Wenn Herr Weiß ihr Onkel ist. 45 das Einverständnis des Eheman- nes nachweisen. 32 50 18 Wenn er ihr Chef im Betrieb ist. 7

Sie darf die Schwangerschaft Wenn sie gar nicht gesehen hat, nur in den ersten drei Monaten was passiert ist. 30 abbrechen. 86 68 Wenn sie sich mit einer Aussage womöglich selbst belasten würde. 56 Sie muß einen Grund nennen. 68 19 13 Wenn Herr Weiß ihr Verlobter ist. 36 Sie muß sich in einer Beratungs- Sie darf die Aussage überhaupt stelle beraten lassen. 83 98 nicht verweigern. 6

Sie muß den Arzt entscheiden lassen, ob ein Grund für einen Staubsauger aufgeschwatzt Abbruch vorliegt. 32 52 16 „Frau Y hat an der Haustür vom Vertreter X einen Staub- Sie muß eine Spende an eine sauger gekauft. Kann sie den Kauf rückgängig machen?“ karitative Organisation leisten. 3 77 20 richtige Antwort: Auf jeden Fall. 68 Sie muß bei entsprechendem Ein- kommen die Kosten des Abbruchs 45 27 28 Wenn sie den Staubsauger woanders selbst tragen. billiger bekommen könnte. 8 Wenn sie das Geld nicht zur Verfügung hat. 8

Asyl: Chancen überschätzt Sie kann den Kauf nicht rückgängig machen. 13 „Ein Algerier kommt aus Paris auf dem Flughafen Frankfurt an und stellt dort einen Antrag auf Asyl. Was geschieht?“ Mit 18 in den Bundestag Der Antrag wird ohne Prüfung abgelehnt. 24 „Das Alter ist für Rechte und Pflichten von Belang. Wie alt muß man sein, um... Der Antrag wird geprüft. Wird er abge- Jahre lehnt, ist die Entscheidung endgültig. 28 12 14 16 18 21 ...über seine Religion Der Antrag wird geprüft. Wird er abge- selbst zu entscheiden“ 7 43 10 24 1 lehnt, kann der Algerier ihn von einem ...einen Eid zu schwören“ 7 74 8 Gericht überprüfen lassen. 32 ...volljährig zu sein“ 90 8 „weiß nicht“ 16 ...sich an der Bundestags- wahl zu beteiligen“ 93 5 ...in den Bundestag ge- 29 58 wählt zu werden“ Äpfel in Nachbars Garten „Auf Herrn Dicks Grundstück steht ein Apfelbaum. Recht Einige Äpfel fallen auf das Grundstück des Nachbarn 21 Fragen Dünn. Wem gehören die Äpfel?“ 21 16 Herrn Dick 12 12 richtig: Herrn Dünn 82 7

„weiß nicht“ 6 0

110 DER SPIEGEL 51/1994 RECHTSCHREIBUNG Jeder zweite hu-stet falsch Nur jeder 50. vergaß kein Komma In 9 Wörtern sollten die Silben getrennt werden. richtige es trennten In den folgenden Text sollte „an den richtigen Stellen“ Trennung richtig ein Komma gesetzt werden. Katze Kat-ze 80 Sie bestiegen den Wagen und fuhren nach Hause. Nach kurzer Becher Be-cher 63 Zeit begann der Wagen zu stottern. Die Tankuhr stand auf voll, und die Batterieanzeige war in Ordnung. Der Wagen war eigent- ausufern aus-ufern 73 lich viel zu neu als daß er schon einen Defekt haben durfte. Als Dienstag Diens-tag 58 sie ein gelbes Schild mit der Aufschrift Tankstelle sahen, hielten Husten Hu-sten 52 sie an. Der Tankwart, ein blonder Bayer, sah sich den Motor an, warum war-um 72 und sein Mechaniker holte die Werkzeugtasche. Sie konnten ih- ren Heimweg nicht fortsetzen, weil ihr Auto repariert werden muß- Hexe He-xe 69 te, und riefen ein Taxi. Interesse In-ter-es-se 61 Problem Pro-blem 78

Es waren 8 Kommas einzusetzen, als Fehler zählten Pro Wort gab es nur 1 Fehler. Maximale Fehlerzahl: 9. auch Kommas an falscher Stelle. Das Ergebnis: Das Ergebnis insgesamt:

0 Fehler 2 0 Fehler 6 1 Fehler 10 1 Fehler 22 2 Fehler 15 2 Fehler 33 3 Fehler 26 3 Fehler 20 4 Fehler 18 4 Fehler 12 5 und mehr Fehler 29 5 und mehr Fehler 7

Entgelt so schwer wie Rhythmus Am „Besten“ und „besten“ scheiterte fast jeder Die Emnid-Interviewer diktierten den Ein Diktat bestand aus einem Satz: Befragten 7 Wörter. In bezug auf Tennis wäre es das beste, so richtige häufigste falsche bald wie möglich die Spiele wiederaufzuneh- Schreibweise: Schreibweise: men, um den Besten zu ermitteln.

Rhythmus 31 Rhytmus und Rythmus häufigste Fehler: endgültig 70 entgültig Bezug statt bezug Entgelt 37 Entgeld das Beste das beste Lebensstandard 60 Lebensstandart sobald wie so bald wie Satellit 51 Satelit und Sattellit wieder aufzunehmen wiederaufzunehmen den besten den Besten selbständig 62 selbstständig Joghurt 69 Jogurt das Ergebnis: 0 Fehler 8 Pro Wort gab es nur 1 Fehler, wie falsch es auch geschrieben 1 Fehler 12 wurde. Maximale Fehlerzahl mithin 7. Das Ergebnis insgesamt: 2 Fehler 20 3 Fehler 32 0 Fehler 9 4 Fehler 26 1 Fehler 15 5 und mehr Fehler 2 2 Fehler 18 3 Fehler 19 Rechtschreibung Zahl der Fehler: 4 Fehler 16 5 und mehr Fehler 23 16 Anders als auf den anderen 12 Gebieten lassen sich hier nicht die richtigen Antwor- 7 ten, sondern nur die Fehler vergleichen. Und es gibt nur in zwei der vier Tests eine „Höchstzahl“ der Fehler.

DER SPIEGEL 51/1994 111 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite NATURWISSENSCHAFTEN „Was ist eine Photosynthese?“ Nur den Tyrannosaurus kennen die meisten Chemische Reaktion, bei der grüne Pflanzen aus Kohlendioxid Genannt wurden 6 Namen von Dinosauriern: „Welche Ar- und Wasser unter Einwirkung von Sonnenlicht Sauerstoff und ten kommen in Büchern und Filmen vor, gab es also wohl Glucose bilden – „einer der wichtigsten biochemischen Vorgänge wirklich, und welche Namen sind erfunden?“ auf der Erde“ (so Lexika und Biologiebücher). Nur 21 Prozent gab es gab es nicht sagten ein mehr oder minder treffendes Stichwort, als richtig wurden auch allgemeine Antworten („Biologie“) gewertet.

Tyrannosaurus 72 5 23 49 11 40 Duodocus 32 10 58 Stegosaurus 34 19 47 Genosaurus 28 14 58 Nur eine Formel geläufig Styracosaurus 29 14 57 Gefragt wurde nach den chemischen Formeln für... Triceratops 30 14 56

Wasser (H2O) 75 5 20 Ruhm verblaßt spät Kochsalz (NaCl) 25 9 66

„Wer entwickelte... Kohlendioxid (CO2) 48 4 48

...den Viertaktmotor?“ Nikolaus Otto (1832 bis 1891) 69 7 24

...die Dampfmaschine?“ Gas in der Luft James Watt (1736 bis 1819) 27 8 65 „Welches Gas kommt weitaus am ...die Relativitätstheorie?“ häufigsten in der Luft vor?“ Albert Einstein (1879 bis 1955) 63 1 36 richtig: Stickstoff 23 Kohlendioxid 12 Licht ist langsamer Sauerstoff 51 „Wie lange braucht das Licht von der Sonne bis zur Erde?“ Wasserstoff 4 Präzise braucht das Licht 8 Minuten. „weiß nicht“ 10 1 bis 59 Sekunden 21 1 bis 5 Minuten 6 richtig: 6 bis 10 Minuten 11 Alle Maße im Kopf 11 bis 59 Minuten 5 Gefragt wurde nach den Maßeinheiten für... 1 bis 5 Stunden 3 länger 12 Gewicht (kg, g, t) 96 1 3 „weiß nicht“ 42 elektrische Spannung (Volt) 74 16 10 Lautstärke (Phon, Dezibel) 71 8 21 „Was ist ein Ginkgo?“ Baum mit fächerförmigen Blättern, bis zu 30 Meter hoch. Stammt aus Asien, dort in Tempelanlagen, in Deutschland in Naturwissenschaften Parks verbreitet. Als „richtig“ genügte „Baum“ oder „Pflanze“. 19 Fragen 19 14 9 33 15 52 4

0

114 DER SPIEGEL 51/1994 Zum Fragebogen im vorigen Heft: Die richtigen Antworten

SEITE 47 land, Nationalversammlung in der Äpfel in Nachbars Garten Paulskirche. 20. Juli 1944: Atten- Herrn Dünn Wen oder was zeigen die Bilder? tat auf Hitler, verübt von Stauffen- A: Selbstbildnis/van Gogh, berg. 17. Juni 1953: Aufstand in 1 – 2 – 4 – 7 – 11 und... B: Mona Lisa, C: Betende Hände, der DDR. Dolchstoßlegende: Führ- erste Reihe: 10, zweite Reihe: 29, D: Marilyn Monroe, E: Der arme te die deutsche Niederlage im Er- dritte Reihe: 9, vierte Reihe: 8, Poet, F: Guernica sten Weltkrieg auf Verrat und Re- fünfte Reihe: 28 6 Künstler für 6 Werke volution der „Linken“ in der Hei- A: van Gogh, B: da Vinci, mat zurück, wurde von Hinden- SEITE 53 C: Dürer, D: Warhol, E: Spitzweg, burg und Hitler aufgegriffen. Pots- Gas in der Luft F: Picasso damer Abkommen: Am 2. August Stickstoff 1945 unterzeichnet von US-Präsi- Wer druckte das erste Buch? dent Truman, Stalin und dem Bri- Kommas setzen Buchdruck: Johannes Gutenberg ten-Premier Attlee. Teilte Deutsch- Siehe Seite 111, links oben Viertaktmotor: Nikolaus Otto land auf und regelte andere Nach- Dampfmaschine: James Watt Silben trennen kriegsfragen. Gang nach Canossa: Relativitätstheorie: Albert Einstein Kat-ze, Be-cher, aus -ufern, 1077 suchte König Heinrich IV. Diens-tag, Hu-sten, war-um, Hammelsprung, Imperativ, (späterer Kaiser) Papst Gregor VII. He-xe, In-ter-es-se, Pro-blem Nintendo in Canossa auf und erreichte die Aussperrung: Kampfmittel im Ar- Aufhebung des Kirchenbannes; A wie Aida, Z wie Zauberflöte beitskampf – Arbeitgeber lassen richtig auch „Streit Papst/Kaiser“. Aida: 9, Bolero: 5, Così fan Arbeitnehmer nicht zur Arbeit zu Nürnberger Prozesse: Verfahren tutte: 3, Eroica: 1, Die Meister- und zahlen ihnen keinen Lohn; vor dem Internationalen Militärge- singer von Nürnberg: 10, richtig auch: „Arbeitskampf“. richtshof und amerikanischen Mi- Schwanensee: 8, Zauberflöte: 3, Hammelsprung: Abstimmung im litärgerichten gegen NS-Kriegsver- Die Unvollendete: 6 Bundestag, bei der die Abgeord- brecher 1945 bis 1949. Crash! Boom! Bang! neten den Saal durch Türen für She loves you: 1, Streets of Phila- „Ja“, „Nein“ oder „Enthaltung“ be- SEITE 51 treten; richtig auch: „Abstim- delphia: 12, Crash! Boom! Bang!: 11, Another brick in the wall: 7, mung“. Kategorischer Imperativ: Bits und Byte Philosophischer Satz von Immanu- Thriller: 4, We are the Champions: 1 Byte = 8 Bits; System der Com- 9, Satisfaction: 10, Material girl: 5 el Kant; richtig auch: „Kant“ oder puter: „Binäres System“, „Philosophie“. Nintendo: Japani- „0 und 1“, richtig auch: „Duales Asterix und Obelix sches Unternehmen, Hersteller System“, „digital“ echt: Obelix, Gutemine, Methu- von Videospielen; richtig auch: salix, Majestix, Yellowsubmarine „Computer“ oder „Spiele“. Photo- Preise Autoren gesucht synthese: Chemische Reaktion, VW Golf: 20 000 bis 24 999 bei der grüne Pflanzen aus Koh- Mark, Stück Butter: 1,68 bis 2,09 Die Blechtrommel: 3, lendioxid und Wasser unter Einwir- Mark, Dollar: 1,40 bis 1,59 Mark Ansichten eines Clowns: 1, Das kung von Sonnenlicht Sauerstoff siebte Kreuz: 10, Der Untertan: 8, und Glucose bilden; richtig auch: Steuern Buddenbrooks: 9, Nathan der „Biologie“. Mehrwertsteuer: 15 %, Einkom- Weise: 7, Deutschland, ein mensteuersatz bei Spitzenverdie- Wintermärchen: 4 SEITE 49 nern: 53 %, richtig auch: 50 bis 59% SEITE 55 Namen Bruno Ganz: Schauspieler, Götz 1 Billion Am Lkw vorbei? ja George: Schauspieler, Heike Hen- 12 Nullen Brems- und Lichtwege kel: Leichtathletin, Arabella Kies- Bremsweg: 25 Meter, das Licht bauer: TV-Moderatorin, Marcel Aussprüche braucht 8 Minuten, als richtig ge- Reich-Ranicki: Literaturkritiker, „Ich bin ein Berliner“: John F. Ken- wertet wurden 6 bis 10 Minuten Claudia Schiffer: Fotomodell, Tan- nedy, „Ich wasche meine Hände ja Szewczenko: Eiskunstläuferin, in Unschuld“: Pontius Pilatus, Sport: Wie lang, wie hoch? Johannes Mario Simmel: Roman- „Wer zu spät kommt, den bestraft Marathonlauf: 42,195 km oder autor, Botho Strauß: Schriftsteller das Leben“: Michail Gorbatschow, 42 km, Hochsprung: 2,45 Meter; Loreley „Hier stehe ich, ich kann nicht richtig auch: 2,40 bis 2,49 Meter, Am Rhein. „Ich weiß nicht, was anders“: Martin Luther Handball: 7, Tour de France: soll es bedeuten, daß ich so trau- England Goethe x 3 rig bin“. Heinrich Heine Sitz des Europaparlaments meistgenannt: Faust, Die Leiden Straßburg Hauptstädte des jungen Werthers, Götz von Afghanistan: Kabul, Bosnien: Berlichingen, Egmont, Erlkönig, Dinosaurier: Echt oder falsch? Sarajevo, Lettland: Riga, Hessen: Zauberlehrling, Osterspaziergang, es gab: Tyrannosaurus, Stegosau- Wiesbaden, Mecklenburg-Vorpom- Iphigenie auf Tauris, „Sah ein rus, Styracosaurus, Triceratops mern: Schwerin Knab ein Röslein stehn“ Vaterunser 16 Buchstaben für 16 Länder Zeugin vor Gericht „Dein Reich komme“ Baden-Württemberg: O, Branden- burg: G, Niedersachsen: D, Thürin- Wenn Herr Weiß ihr Onkel ist. Zehn Gebote gen: K Wenn sie sich womöglich selbst meistgenannt: „Du sollst nicht belasten würde. Wenn Herr Weiß töten“, „Du sollst nicht stehlen“, Canossa, 1789, Dolchstoß ihr Verlobter ist. „Du sollst Vater und Mutter eh- 1789: Beginn der Französischen ren“, „Du sollst nicht ehebrechen“ Revolution, Sturm auf die Bastille, Asyl in Frankfurt Erklärung der Menschenrechte. Der Antrag wird ohne Prüfung ab- Primzahlen 1848: Märzrevolution in Deutsch- gelehnt. 2, 3, 5, 7 DER SPIEGEL 51/1994 115 .

AUSLAND PANORAMA

müssen stolz sein, daß ande- Rußland testens in zehn Jahren erschöpft sein. Bis re Länder unser Material zum Jahr 2000 könnte deshalb die Förder- stehlen“, sagt ein ehemali- menge von jährlich 150 auf 25 Tonnen ab- ger Raumfahrtmanager, „das Goldberg schmilzt sacken, wenn nicht umgehend mindestens zeigt, daß wir in der Spitzen- Rußlands Vertrauen auf seine Goldvorräte 5,5 Milliarden Dollar in Erschließung neu- klasse angelangt sind.“ ist kaum noch zu rechtfertigen. Die Staats- er Fördergebiete und die Entwicklung neu- reserve, die zu Jahresbeginn mit 178,2 er Technologien investiert werden. Südafrika Tonnen auf gut ein Drittel des Vorrats von 1991 geschmolzen war, ist nach Meinung Gescheiterte von Experten aus dem Staatskomitee für Edelmetalle kaum wieder aufzufüllen: Er- Entwaffnung löse aus dem Verkauf, 850 Millionen Dol- Südafrikas Bürger rüsten auf: lar, reichen nur noch zur Finanzierung der Etwa 3,5 Millionen Einwoh- laufenden Goldproduktion. 350 000 Be- ner, meist Weiße, besitzen schäftigte in 600 Betrieben kämpfen allein eine Waffenlizenz. Hinzu darum, die Jahresförderung nicht weiter kommen mehr als drei Mil- sinken zu lassen. Zwar gelten die russi- lionen illegale Revolver, Pi- schen Goldvorräte als die drittgrößten der stolen und Gewehre; täglich Welt. Aber die Hälfte davon ist nach Ein- werden allein 40 Schußwaf- schätzung des Komitees gegenwärtig nicht fen geraubt. Die Folge: Das

rentabel abzubauen. Überdies werden JASMIN / GAMMA / STUDIO X Land steht an der Spitze der Vorkommen im nordöstlichen Sibirien spä- Goldförderanlage im Nordosten Rußlands weltweiten Kriminalitätssta- tistik. Vorige Woche ver- suchten Südafrikas religiöse Sudan che Moslemfraktion, die mit schaften des Erzfeindes Paki- und politische Führer, die anderen politischen Parteien stan, halten es jedoch auch Gewalt am Kap durch frei- Zweckbündnis eine Ablösung der Islami- für möglich, daß die russische willige Entwaffnung einzu- sten-Junta in Khartum be- Mafia eine Rolle spielt. Ver- dämmen. Geldpreise, Flug- gegen die Junta treibt, sicherte Garang eine dächtigt wird außerdem die tickets in die USA oder nach Die islamische Umma-Partei, Volksabstimmung zu. Nach europäische Raumfahrtorga- Singapur, Lebensmittelpake- stärkste Oppositionskraft im einem Sturz des weitgehend nisation Arianespace, die ei- te, Alarmanlagen sowie je- Sudan, einigte sich mit der vom Iran und von rei- nen um 40 Prozent billigeren weils eine Urkunde mit der militanten südsudanesischen chen Golfarabern finanzier- Konkurrenten im Satelliten- Unterschrift von Präsident Rebellenarmee SPLA, die ten Militärregimes können geschäft fürchten soll. „Wir Nelson Mandela winkten je- die Südsudanesen selbst darüber entscheiden, ob sie die Unabhängigkeit Totes Meer Kaum noch Fische in der Nordsee wollen. Angaben in tausend Tonnen britischer Fischfang Indien 700 restlicher Fischfang Gesamtbestand Spionage im 600 500 Raumfahrtzentrum 400 Gegen Sex und Geld sollen 300 hochrangige Wissenschaftler 200 aus dem südindischen Raum- 100 forschungszentrum in Valiya- 0 mala Tausende von Geheim- 1981 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 dokumenten ins Ausland ge- schafft haben. Neben ande- Die Briten müssen um ihr traditionelles Fast food Fish’n’ rem kauften mutmaßliche Chips fürchten. Nach einer vom Landwirtschaftsministe- rium zitierten Studie droht der britischen Fischfangflotte PETERSON / GAMMA / STUDIO X Strohmänner aus Frankfurt Rebellenführer Garang Informationen über Satelli- der Untergang: Kabeljau und Schellfisch werden im- ten- und Raketentests sowie mer rarer. Einige Reviere in der Nordsee sind islamische Rechtsprechung modernste U-Boot-Kommu- derart überfischt, daß es nicht mehr (Scharia) abzuschaffen und nikation. Nachdem die Er- lohnt, die Netze auszuwerfen. Den eine laizistische Republik Su- mittlungen auf hohe Polizei- EU-Agrarministern, die in dieser Woche die Quoten für dan auszurufen. Rebellen- und Provinzbeamte ausge- das kommende Jahr festsetzen, empfiehlt der Bericht, führer John Garang, dessen dehnt wurden, könnte der Schutzzonen einzurichten, in denen sich die Bestände er- Truppen seit 1983 gegen Spionageskandal die durch holen können, wissenschaftlichen Rat bei der Quotierung die Zwangsislamisierung und Finanzaffären angeschlagene einzuholen und Trawler zu kontrollieren, die den Fang zu -arabisierung der christlich- Regierung von Premiermini- Dünger verarbeiten. Verantwortlich für die Fischkrise animistischen Südprovinzen ster Narasimha Rao in Be- macht der Report nicht zuletzt die britische Regierung, einen verlustreichen Busch- drängnis bringen. Wer hinter der es kaum gelang, die Flotte zu verkleinern. Wird die krieg führen, erreichte in den dem High-Tech-Schmuggel Fangkapazität bis 1996 nicht um 19 Prozent gekappt, ver- Verhandlungen ein weiteres steckt, ist unklar: Indische lieren die Briten Gelder aus den EU-Strukturfonds. Zugeständnis: Die einflußrei- Ermittler vermuten Machen-

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nen, die ihre Waffen bei ei- ner von 150 Sammelstellen, in Kirchen, Hindutempeln, Moscheen und Polizeistatio- nen abgaben. Doch die Akti- on, bei der Besitzern von ille- galen Waffen Straffreiheit zugesagt wurde, hatte nur L. NXUMALO Südafrikanische Kinder, Spielzeugwaffen

mäßigen Erfolg. Hauptsäch- lich Kinder waren dem Auf- ruf gefolgt. Sie brachten Zehntausende Wasserpisto- len, Plastik-Kalaschnikows und Gummiflinten – oftmals das einzige Spielzeug der schwarzen Jungen und Mäd- chen aus den Elendsvier- teln.

Mexiko Bürger adoptieren Beamte Um die Korruption einzu- dämmen, wollen Bürger- rechtler Beamte oder ganze Ämter „adoptieren“. Weil die „staatlichen Kontrollin- stitutionen versagen“, be- schlossen Mitglieder der me- xikanischen Bürgerallianz, einer Gruppe von etwa 400 Initiativen, die Beamten ge- nauer zu beobachten: Wie gehen sie mit Bürgern um, werden Steuergelder ver- schleudert, inwieweit werden Wahlversprechen eingehal- ten? Mexikos Bürokraten warfen der Bürgerallianz vor, sie wolle mit der Aktion den Staat „destabilisieren“. In den Nachbarländern trifft die Idee auf Begeisterung. Vene- zuelas Innenminister Ramo´n Escovar Salom schlug vor, in- ternationale Finanzinstitute sollten Kredite nur noch ver- geben, wenn Korruptionsver- dacht ausgeschlossen sei. .

AUSLAND

Kaukasus JELZINS GRIFF NACH GROSNY Rußlands Präsident setzt gegen das kleine Volk der Tschetschenen seine Armee ein. Das Unternehmen könnte den ganzen Kaukasus in Brand setzen und die europäische Sicherheit gefährden; ein Erfolg ist fraglich. Der bislang glücklose Reformer Jelzin nutzt die Gelegenheit zu Notstandsmaßnahmen wie in einem Polizeistaat.

m fünften Tag des rus- Die damals gültige Verfas- sischen Feldzugs ge- sung gewährte das Selbstbe- Agen die Tschetschenen stimmungsrecht. Doch jetzt, kehrten 16, nach gegneri- drei Jahre später, befiehlt schen Angaben sogar minde- Jelzin jenen Schlag, den eine stens 250 russische Kämpfer verräterische Propaganda- wieder heim – in Zinksärgen. sprache im Stil der Vergan- Warum, fragen sich seine genheit eine „Aktion zur Untertanen, führt Kremlherr Wiederherstellung der ver- Boris Jelzin gegen das ferne, fassungsmäßigen Ordnung“ wilde Bergvolk einen Krieg, nennt. der den ganzen Kaukasus in Das mit imperialer Macht Brand setzen kann? berannte Gebiet von der Als russische Offiziere vo- Größe Schleswig-Holsteins rige Woche die ersten tsche- sei ein „kriminelles staatlich- tschenischen Ortschaften er- territoriales Gebilde“, be- reichten, nannten sie eine fand Jelzins Vizepremier und wahrheitswidrige Begrün- Nationalitätenminister Jego- dung für den Panzerzug in row, der sich martialisch ver- den Kaukasus: Tschetsche- kleidet in olivgrüner Kampf- nen-Präsident Dschochar jacke blicken ließ. Außenmi- Dudajew, einst als General nister Kosyrew warnte „alle, ihr Kamerad bei der Sowjet- die sich von außen in diesen luftwaffe, habe „Rußland innerrussischen Konflikt ein- den Krieg erklärt“. Sogar mischen wollen“. Dafür fand der Nationale Sicherheitsrat er Verständnis beim US-Prä- in Moskau hatte am 8. De- sidenten wie beim Nato-Ge- zember von einem „Konflikt neralsekretär, obwohl die zwischen Rußland und Uno-Charta von 1945 das Tschetschenien“ gesprochen Recht auf nationale Selbst- (und damit ungewollt festge- bestimmung verkündet und

stellt, daß dies Objekt der MELDE PRESS die Helsinki-Akte von 1975 Begierde zu Rußland nicht Kriegsherr Jelzin: Starker Mann per Schießbefehl „allen Völkern“ zugesagt gehört). hatte, „wann und wie sie es Nach einer Umfrage der Komsomol- sein zu einem neuen autoritären Regi- wünschen, ihren inneren und äußeren skaja prawda verurteilen 58 Prozent der ment, das unter Bedrohungsängsten al- Status ohne äußere Einmischung zu be- Russen den Gewaltakt, nur gut jeder lemal gedeiht. stimmen“. fünfte billigt ihn. Demnach scheint es „Nehmt euch soviel Souveränität, wie Vor zwei Jahren allerdings, auf einer Jelzin nicht um seine Popularität im ihr schlucken könnt!“ hatte Jelzin als KSZE-Konferenz in Stockholm, hatte Hinblick auf die Präsidentenwahlen von Parlamentschef von Rußland einst den Kosyrew schon das gesamte Gebiet der 1996 zu gehen. Tataren zugerufen, einer Minderheit, ehemaligen Sowjetunion zu einem Aber 30 Prozent der Russen, so hat die mitten in seinem Staate siedelt, nicht Raum erklärt, in dem „Rußland seine das Nürnberger Meinungsforschungsin- weit hinter Moskau. Interessen mit allen Mitteln einschließ- stitut GfK ermittelt, ziehen „unter be- Schon im Jahr darauf, nach dem ge- lich militärischer und wirtschaftlicher stimmten Voraussetzungen“ jetzt eine scheiterten Putsch gegen Unionschef verteidigen“ werde. Und „Großruß- Diktatur der Demokratie vor. Gorbatschow im Sommer 1991, holten land“ wolle künftig auch Serbien beiste- Es scheint soweit zu sein: Die Umge- sich alle Mitgliedstaaten der Zwangsver- hen. staltung der Sowjet-Gesellschaft, jene einigung UdSSR ihre Souveränität zu- Gleich danach erklärte Kosyrew die von Michail Gorbatschow initiierte Pe- rück, auch Rußland selbst, auch Tata- Rede zur „rhetorischen“ Warnung: Das restroika, ist in ihrem zehnten Jahr of- rien, mit dem Jelzin einen völkerrechtli- werde nur passieren, wenn „die noch fenbar zum Stillstand gekommen. Ruß- chen Vertrag über das Verbleiben im nicht einmal extremste Opposition in land marschiert in die Restauration. Der russischen Staatsverband schloß. Und Rußland“ ans Ruder käme. Jetzt pas- Kaukasus-Krieg könnte der Auftakt auch Tschetschenien. siert es – unter Jelzin und Kosyrew.

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im Oktober 1993 hatte er „Jelzin hört nicht mehr auf uns, er RUSSLAND 100 km ebenso abgesegnet wie die an- braucht unsere Ratschläge nicht mehr“, Dagestan Kaspisches schließend eingeführte Verfas- klagt Sergej Juschenkow, demokrati- Meer sung mit weitreichenden Voll- scher Obmann des Duma-Verteidi- machten für den Präsidenten gungsausschusses. Vorstöße der russischen Armee und ohne ein nationales Selbst- Der bislang glücklose Reformer Boris bestimmungsrecht – eben jenes Jelzin benutzt das Völkchen der Tsche- Grosny neue Grundgesetz, auf das tschenen als angebliche Fünfte Kolonne Nord- Tsche- Moskau heute mit Waffenge- eines internationalen islamischen Terro- Ossetien tschenien Inguschien walt pocht und das in Grosny rismus, gegen den – leider, leider – die nie gegolten hat. gerade ausrangierten Polizeistaat-Me- K a Für das Selbstbestimmungs- thoden reaktiviert werden müssen. u k a s u recht der Völker, warnten Von Terroristenfurcht und Bomben- s Kreml-Juristen ihren obersten alarmen geschürte Gerüchte laufen in GEORGIEN Kriegsherrn, sei „unerheb- Moskau um, Stoppelbärtige aus den lich“, ob diese ihre „Unabhän- kaukasischen Bergen würden nach gigkeit vor 50 oder 150 Jahren nordirischem Muster Anschläge in der Als der Chef der Demokraten-Partei verloren“ hätten. Im Klartext: Jene „Rußlands Wahl“, Ex-Premier Gaidar, Freiheit, die sich die baltischen Staaten zur „gefährlichen und abenteuerlichen“ genommen haben, werde auch den Kau- „Eine verelendete Armee Tschetschenien-Politik Jelzins auf Di- kasus-Nationen nicht auf Dauer verwei- läßt sich in stanz ging, trat Kosyrew sogleich aus der gert werden können. Fraktion aus. Besonders verübelte er Jelzins ehemaliger Justizminister Fjo- jedes Abenteuer stürzen“ seinem Parteifreund Gaidar, daß der dorow, Angehöriger der Tschuwaschen- ausgerechnet am Moskauer Puschkin- Minderheit und heute Präsident seiner russischen Hauptstadt verüben. Unab- platz „gegen die Kriegspartei“ demon- autonomen Heimatrepublik, wurde lässige Warndurchsagen auf Bahnhöfen, strieren ließ. Dort hätten einst russische noch deutlicher: Die territoriale Unver- verstärkte Patrouillen von Polizei und Dissidenten die Okkupation Prags ver- sehrtheit der Russischen Föderation sei Militär, Kontrollen durch Sondertrup- urteilt: „als ob“, so Kosyrew, „man das „zu opfern“, wenn sie nur um den Preis pen, Posten vor strategischen Objekten eine mit dem anderen vergleichen des „massenhaften Todes von Men- – all das legt die Vermutung nahe, daß kann“. schen“ aufrechterhalten werden könne. der Kaukasus in Wahrheit nur ein Ne- Man kann. Die französische Regie- Doch rechtliche Einwände vermögen benschauplatz des anhaltenden russi- rung signalisierte „Besorgnis“, und die Jelzin offenbar nicht zu bremsen: Sein schen Notstands ist. unmittelbar tangierte Türkei mahnte die Justizminister Kalmykow, der gleichfalls Jelzin fordert denn auch eine Natio- Moskauer Regierung, nur „friedliche den Waffengang kritisierte, wurde ge- nalgarde, die allein auf seinen Befehl Methoden“ anzuwenden. EU-Außen- feuert. Den Kreml-Beauftragten für hört und nach Experten-Expose´ „die be- kommissar Hans van den Broek warf Menschenrechte und ehemaligen Gulag- waffnete Kraft sein wird, auf die sich der Rußland „Unverhältnismäßigkeit der Häftling Kowaljow suchten die Militärs Präsident in innenpolitischen Krisensi- Mittel“ im Tschetschenien-Einsatz vor. vom Konfliktgebiet fernzuhalten. tuationen verlassen kann“. Zwar hatte Kosyrew seinem Chef die Rußlands Präsident vollzieht offen- Der Kommandeur seiner Leibwache, Einschätzung übermittelt, die islami- kundig jenen politischen Stellungswech- Alexander Korschakow, möchte zudem schen Staaten würden Rußlands Vorge- sel, der schon Gorbatschow am Ende einen eigenen Geheimdienst aufbauen hen tolerieren. Doch ausgerechnet Sau- seiner Karriere buchstäblich zum Ge- und läßt schon ein Sondertelefonnetz le- di-Arabien, dem Premier Tschernomyr- fangenen der Reaktionäre machte. gen. Ein russischer Spitzenbürokrat, der din liebend gern russische Waffen ver- kaufen möchte, forderte auf der islami- schen Konferenz in Casablanca „diplo- matische Schritte gegen Moskau“ und rief zur „Rettung des tschetschenischen Volkes“ auf. Trotz konservativer Mehrheit blieben Jelzin auch im russischen Parlament nur wenige Verbündete. Ohne Wenn und Aber billigte lediglich der Chauvinist Wladimir Schirinowski die Kaukasus- Expedition. Und nur seine Anhänger begrüßten Jelzins Krieg gegen ein Volk, das bereits Stalins Völkermord-Versuch (wegen angeblicher Kollaboration mit den Deutschen) ausgeliefert war und Moskauer Rassisten als Inbegriff der Mafia gilt. Die Tschetschenen-Haupt- stadt Grosny trägt noch immer ihren russischen Kolonialnamen, zu deutsch: „Schrecklich“. Wieder einmal erwies sich Schiri- nowski, rechtsradikaler Liebhaber alter und künftiger russischer Kolonien, als

verläßlicher Flügelmann des Kreml- AP Herrn: Dessen Parlamentsbeschießung Kampfbereite Frauen in Grosny: Um den Preis massenhaften Todes

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von diesem Netz keinen Apparat auf den der Tschetschenen zu verweigern“. Im Iwan Babitschew, verweigerte vorigen Schreibtisch bekommt, kann sich als ab- Militärblatt Roter Stern, das die Interven- Freitag jeden weiteren Schuß: Die Ope- geschaltet betrachten. tion zur „heiligen Pflicht“ erklärte, stand ration stünde imWiderspruch zurVerfas- Doch längst nicht allen, die auf eine allerdings auch der Satz: „Eine verelen- sung. Die Tschetschenen feierten ihn als Wiedergeburt der Größe Rußlands set- dete Armee läßt sich augenscheinlich in Friedensstifter. zen, hat sich Jelzin durch seinen Schieß- jedes Abenteuer stürzen.“ Der „Kreuzzug gegen das moslemische befehl als starker Mann empfohlen: Don- Zwei Vize-Verteidigungsminister und Volk“, prophezeit der politisch ambitio- kosaken, traditionelle Verteidiger des der Generalstabschef warnten vor dem nierte General Alexander Lebed, Hoff- Vaterlands, forderten die Rekruten vor Schlag. Der Kommandeur der nördli- nungsträger des jüngeren Offizierskorps, Grosny auf, „die Teilnahme am Genozid chen Panzerspitze vor Grosny, General „wird mit einem Pyrrhussieg enden.“ Im Mercedes ein MG SPIEGEL-Redakteur Christian Neef über den Widerstand der Tschetschenen gegen die Russen

uleiman Adeikow sieht aus, als sei liche aufführt.“ Zwei der Kämpfer dek- Pawel Gratschow, der seinem Präsiden- er zu den Dreharbeiten eines Bud- ken die Leichen mit Planen zu und sam- ten vor drei Wochen einen Blitzkrieg SSpencer-Films erschienen. Der fül- meln die noch heißen Geschoßsplitter versprochen hatte: „In nur zwei Stun- lige Tschetschene mit Dreitagebart und ein. den“ werde man die Tschetschenen- breitkrempigem Hut steckt in einem viel Die Armee von Kreml-Chef Boris Hochburg im Griff haben. zu engen Jeans-Anzug. Über Brust und Jelzin, die „Frieden und Ordnung“ in Doch der Vormarsch durch den Bauch ist eine schußsichere Weste ge- die abtrünnige Tschetschenen-Republik schneebedeckten Nord-Kaukasus ist schnallt, unter der linken Achsel ein Pi- bringen soll, steht nur noch vier Kilome- schwieriger als Gratschows Gesellen- stolenhalfter festgezurrt. ter von Schami-Jurt entfernt. Wie ein stück vom vorigen Herbst – der Beschuß Von der Schulter baumelt eine Ka- stählerner Bandwurm schiebt sie sich in des putschenden Sowjetparlaments in laschnikow, die zur Grundausstattung Richtung Grosny: die Minenräumer Moskau. Nur mühsam kommen die jedes kaukasischen Bergbewohners ge- voran, Panzer und Raketenwerfer hin- Truppen voran. Entweder waren die In- hört – in Kriegs- wie in Friedenszeiten. terher. formationen des Geheimdienstes falsch Seit seiner ersten Feindberührung 40 Ki- Kampfhubschrauber donnern dicht oder Rußlands Generäle haben aus dem lometer westlich der Hauptstadt Grosny über die Kolonne hinweg. Kreisenden Afghanistan-Feldzug nichts gelernt: Der weiß Suleiman jedoch, daß seine Mon- Geiern gleich bewachen Flugzeuge den Widerstand der Tschetschenen ist stär- tur kaum dazu taugt, die russischen martialischen Aufzug der russischen ker als erwartet. Truppen aufzuhalten – ein Himmel- Großmacht. Empörung hat auch die Bauern fahrtskommando. Die Invasoren wollen Grosny von von Atschchoi-Martan vereint, einem Urplötzlich tauchten zwei russische Norden, Osten und Westen her in die 3000-Seelen-Dorf unweit von Schami- Jagdbomber über seiner Stellung am Zange nehmen. Ihre Truppen werden Jurt. Anhänger und Gegner des Tsche- Dorfrand von Schami-Jurt auf. Die Ra- angeführt von Verteidigungsminister tschenen-Präsidenten Dschochar Duda- ketengeschosse waren so schnell, daß Suleiman nicht einmal Zeit fand, sich auf die Erde zu werfen. Noch im Ste- hen sah er, wie ein blauer Lada auf der nahen Landstraße in einer gewaltigen Detonations- wolke verschwand. Schwarzer Rauch steigt aus dem zerfetzten Autowrack. In bizarrer Haltung, Kleidung, Haare und Körper verbrannt, liegen die Leichen der beiden Autoinsassen an der Böschung – unschuldige Opfer eines An- griffs, der eigentlich Suleimans Erdbunker galt. „Schweine, Verbrecher, Ok- kupanten“, schreit der Tsche- tschene in den frostblauen Himmel hinauf. „Wir haben denen nichts getan.“ Auch bei seinen Männern entlädt sich der Schock in wil-

dem Gebrüll: „Die haben kein KASSIN Gewissen“, ruft einer, „aber

sie haben einen Präsidenten, FOTOS: P. der sich wie Iwan der Schreck- Tschetschene, abgeschossener Feindhubschrauber: „Wir sind umzingelt“

120 DER SPIEGEL 51/1994 Idiotie“: Solle sich doch Jelzin in den ei- sigen Graben setzen, murrt er, „frische Luft erleichtert das Nachdenken“. Wachsende Verluste drücken auf die Stimmung. Elf Angehörige der Einheit sind bei Überfällen bereits getötet wor- den. Wie zum Hohn ist es außerdem tschetschenischen Kindern gelungen, den Russen zwölf Maschinenpistolen zu entwenden. Auch ein Hubschrauber vom Typ Mi-8 ist abgängig. Weit von der Kolon- ne entfernt war er ins MG-Feuer gera- ten. Die Piloten sind tot. Das Beute- wrack fünf Kilometer voraus dient her- beigeeilten Tschetschenen-Kriegern als begehrtes Fotomotiv. Noch hat der Feind Grosny nicht er- reicht, doch der Geschützdonner dringt bis ins Stadtzentrum. Alle Einfahrten sind mit Barrikaden versperrt, Schau- fenster mit Stahlblechen zugeschweißt, geplatzte Wasserrohre haben die Stra- Opfer russischer Raketen in Schami-Jurt: „Wenn ihr euch nicht wehrt . . . ßen in bizarre Eiswüsten verwandelt. jew sind nicht mehr zu unterscheiden: Alle kampffähigen Männer versammeln sich am vergangenen Mittwoch zum Zählappell, als ginge es zur Bären- jagd: Die einen sind in Arbeitskluft, die ande- ren im Jogging-Dreß erschienen. Rucksack- weise werden Panzer- fäuste an den Land- sturm verteilt, dazu Jagdflinten, Handgra- naten und Messer. Ein Sanitäter teilt Gummischläuche zum Abbinden von Wun- den aus. Am Feldrand füllen Kinder Molo- tow-Cocktails ab – in deutsche Wodka-Fla- schen der Exportmar- ke „Rasputin“. Ein of- fenbar wohlhabender . . . bringt man euch um“: Rekrutierung tschetschenischer Freiwilliger Tschetschene mit dem grünen Band der zum Tode bereiten „In Moskau gibt es mehr Banden als Plakate am Präsidentenpalast begrü- Kämpfer um die Stirn hat seinen Merce- hier.“ ßen Freiwillige aus benachbarten Repu- des mit Karlsruher Kennzeichen und Dann erklärt der Kommandeur die bliken; vor allem Panzerfahrer, Artille- dem Aufkleber „Jever macht fun“ zum Partisanentaktik: Neben der Straße risten und Minenleger sind gefragt. Da Kampfwagen umfunktioniert: Ein Ma- nach Grosny sollen sich seine Männer in am Regierungssitz inzwischen auch die schinengewehr ragt durchs geöffnete Feuernestern einigeln und von der Seite letzten Scheiben zu Bruch gegangen Schiebedach. her die Russenpanzer abschießen. sind, herrscht drinnen Grabeskälte. Im- Bevor aufgesessen wird, stärkt Mo- Der russische Kolonnenchef, General merhin: Ein Mütterchen wischt unver- hammed Dscheitow, im Zivilberuf Di- Iwan Babitschew, läßt an diesem Tag drossen die Flure vor Dudajews Arbeits- rektor eines Holzverarbeitungsbetriebs, schon zu früher Nachmittagsstunde hal- zimmer. den Wehrwillen seiner Truppe: „Die ten. Er befiehlt seinen Männern, sich Präsidentensprecher Mowladi Udu- Russen haben eine andere Kultur, sie einzugraben, bevor die Dämmerung gow hält Wacht. Er weiß: Sollten die können unsere Freiheitsliebe nicht ver- kommt. Die Moral seiner verdreckten Kämpfe andauern, ist es entscheidend, stehen.“ Daß sie gekommen seien, um Mannschaft ist nach dreiwöchigen in aller Welt Mitleid für die weit unterle- „tschetschenische Banden“ zu entwaff- Nachtlagern auf freiem Feld gedrückt. genen Tschetschenen zu erzeugen. Da- nen, wie Jelzins Auftrag lautet, sei lä- Dem Hauptmann, der am Straßenrand vid und Goliath – so lautet seine Drama- cherlich. Dscheitow sagt, da hätten Schützengräben ziehen läßt, erscheint turgie für die kommende Propaganda- sie lieber zu Hause bleiben sollen: der Krieg im eigenen Land als „reine schlacht. Über Telefon brüllt Udugow

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die neuesten Schreckensmeldungen an Alla Petrowna, 78, verpaßt den Zwar steckt der Ex-Minister bis zum Moskauer Zeitungen durch. Durchhalte-Appell ihres Präsidenten. Hals im Affärensumpf; zwar muß er, hat Seine Kollegen in Moskau würden da- Zu Hause am Ordschonikidse-Prospekt der Richterspruch Bestand, seine Sitze gegen am liebsten keine Zeugen der ge- hat sie keinen Fernseher, nicht einmal im Pariser und im Straßburger Parla- waltsamen Befriedungsaktion zulassen. Strom und auch kein Wasser. Die mei- ment abgeben; aber der linke Populist Das „Zeitweilige Informationszentrum“ ste Zeit steht sie Schlange vor dem Brot- blieb dennoch optimistisch: „Die 54 in Moskau, eine Art Zensurbehörde, laden Nr. 2 an der Siegesallee, dem ein- Prozent Franzosen, die Jacques Delors hat die elektronischen Medien in der zigen in Grosny noch geöffneten Ge- wählen wollten, die sind noch da.“ Hauptstadt bereits auf Linie gebracht. schäft. Delors allerdings nicht mehr. Wie bei- Im Kriegsgebiet fangen Spezialeinheiten Was geschehen wird, wenn die Rus- läufig hatte der Top-Europäer und ausländische Journalisten manchmal sen erst einmal in der Stadt sind, weiß Hoffnungsträger der Sozialisten am vor- schon weit vor der tschetschenischen sie auch nicht. Nur über eines ist sie sich letzten Sonntag im Fernsehen bekannt- Grenze ab, verprügeln sie und konfiszie- im klaren: Wenn der totale Krieg wirk- gegeben: „Ich habe beschlossen, nicht ren bei Grosny-Rückkehrern das Foto- lich beginnt, sagt sie, „gehen wir hier al- für das Amt des Staatspräsidenten zu material. le vor die Hunde“. Y kandidieren.“ Die hingenuschelte Er- Doch derlei Grobheiten unterstrei- klärung veränderte schlagartig den chen nur, daß David sich tapferer Wahlkampf um den Elyse´e-Palast. schlägt als Goliath: Um nicht an der Frankreich Nach Delors’ „big bang“ (Libe´ration) Spitze russischer Panzer in Grosny ein- geht es, rechts wie links, drunter und ziehen zu müssen, ist selbst die frühere drüber. Auf den Geldmärkten rutschte Opposition reihenweise zu Dudajew der Franc ab. übergelaufen. Verbotene Die Weigerung des Eurokraten ist für Auf dem Höhenzug vor dem Dorf die Gaullistenpartei RPR und ihren Ko- Perwomaiskoje, 15 Kilometer nordwest- alitionspartner, die UDF des Ex-Staats- lich von Grosny, lauern feindliche Pan- Frucht chefs Vale´ry Giscard d’Estaing, zu- zer und feuern alle paar Stunden ihre nächst einmal eine gute Nachricht: Die Salven ins Dorf, weil sich im Hof der Die Wahlschlacht um den Elyse´e- bürgerliche Rechte ist ihren Angstgeg- Sparkassen-Filiale eine Dudajew-Trup- Palast gerät zum Bruderkrieg: ner los, nur noch zwei Kandidaten kön- pe verschanzt. Von den Häusern am nen sich ernsthafte Chancen ausrech- Ortsrand blieb nur ein riesiger Ziegel- Den Kandidaten der Rechten fehlt nen, den Präsidentenstuhl zu erobern: haufen. Die Einwohner haben den Ver- ein linker Gegner. Gaullistenpremier Edouard Balladur teidigern Tomaten, Brot und Konserven und Gaullistenchef Jacques Chirac. gebracht. Ein Alter drängt zum Durch- Die Kombination verspricht eine halten: Vier moderne Raketen stünden evor ein Pariser Handelsgericht am denkwürdige Wahlschlacht: Mit Sachar- ganz in der Nähe als Wunderwaffe zum vergangenen Mittwoch den mit gumenten können die beiden einander Einsatz bereit. Bschätzungsweise 1,3 Milliarden kaum bekämpfen, schließlich werben sie Die Demonstranten vor dem Parla- Francs verschuldeten politisierenden Fi- auf der Grundlage desselben Parteipro- ment in Grosny setzen auf Gottes Hilfe. nanzjongleur Bernard Tapie bankrott gramms um dieselbe Wählerschaft. Also „Allahu akbar“, heißt ihr unablässiges erklärte, fand der einstige Günstling von werden die längst verfeindeten „Freun- Stoßgebet. Weißbärtige Tschetschenen Staatspräsident Franc¸ois Mitterrand de seit 30 Jahren“ einander nun persön- tanzen stampfend um die Menschenan- noch genügend Zeit für Ratschläge an lich niedermachen – schöne Aussichten sammlung herum. Drohen die Protestler Frankreichs Sozialisten. für das Wahlkampfklima. zu ermüden, facht ein Greis mit dem weißen Band des Mekka-Pilgers die Empörung wieder an: Dann liest er die Kreml-Verfügung Nummer 1887 vom 1. Dezember vor. Tschetscheniens Zivil- bevölkerung sei „bei Bedarf“ ins Wolga- gebiet zu evakuieren – für die Menge Anlaß genug, Rußland neue Genozid- Pläne und neue Vertreibungsabsichten zu unterstellen. Wortreiche Unterstützung durch an- sässige Russen klingt wie von einem klu- gen Dramaturgen eingeplant. Sie lebe bereits in zehnter Generation am Kau- kasus, ruft Marina Koschetowa ins Mi- krofon: „Jetzt sind wir umzingelt, kein Fenster mehr heil, unsere Kinder haben kein Brot. Haltet die gewissenlose Ar- mee mit dem Verbrecher Gratschow an der Spitze auf.“ Auch Allahs getreuer Diener in Tschetschenien meldet sich Mitte der Woche zu Wort. In Generalsuniform, sein Kabinett zur Seite, erklärt Präsi- dent Dudajew die Lage: „Dies ist Krieg. Wir können nur mit Waffen antworten.

Wenn ihr euch nicht wehrt, bringt man FOTOS: AFP / DPA euch um.“ Rivalen Balladur, Chirac: Die Rechte ist ihren Angstgegner los

122 DER SPIEGEL 51/1994 Außerdem ist mit Delors ein Gegner steht, darf sich nach der Verurteilung lerie neben anderen großen Linken ausgeschieden, der RPR und UDF bis- nicht selbst aufstellen. Ende Januar soll hängen – Jean Jaure`s, Le´on Blum, her halbwegs zusammengekittet und bei ein Sonderparteitag der Sozialisten we- Pierre Mende`s France: Sie waren aus der Suche nach einem Gemeinschafts- nigstens einen Zählkandidaten ausguk- lauter moralischen Skrupeln vor der kandidaten geeint hatte. Jetzt, schwant ken – genannt werden der Präsident des Macht wie vor einer „verbotenen einem engen Mitarbeiter des RPR-In- Verfassungsrats und Mitterrand-Intimus Frucht“ zurückgeschreckt, so der Poli- nenministers Charles Pasqua, „gibt es Robert Badinter und Ex-Parteichef tologe Marc Arbe´le`s. kein Halten mehr, alle wollen ins Ely- Lionel Jospin. Delors’ Ausrede, daß er mit bald 70 se´e“. Sehr attraktiv ist die Elyse´e-Kandida- Jahren zu alt sei für das Spitzenamt, Da von links keine Gefahr mehr tur für die Sozialisten ohnehin nicht überzeugte die Franzosen wenig; droht, sind nach Insidermeinung an die mehr. Eine Umfrage ergab vorige Wo- schließlich hat de Gaulle seine Elyse´e- zehn Konservative versucht, auf eigene che, daß nach Delors’ Abgang kein Lin- Karriere mit 68 Jahren begonnen, und Faust loszupreschen, vom Ex-Premier ker eine Chance hat, in die Stichwahl Mitterrand stand bei seiner Wieder- Raymond Barre über Innenminister um das Präsidentenamt vorzudringen. wahl 1988 schon im 72. Lebensjahr. Charles Pasqua bis zum rechten Ultra Chirac glaubt, „die Frauen“ hätten De- Philippe de Villiers. Fazit: Der Rechten lors zum Verzicht überredet: Ehefrau droht – dank Delors – der totale Bruder- Ein Machtmensch Marie fand, daß 50 Jahre Kärrnerarbeit krieg. hätte die Chance beim in der Politik genug seien; Tochter Gleichzeitig stürzte der Deserteur Martine Aubry, ehemalige Arbeitsmi- Delors die Linke in Wut und Verzweif- Schopf gepackt nisterin, fürchtete um ihre eigene Kar- lung. Noch vor zwei Wochen hatten die riere, wenn Papa ins Elyse´e einzöge. Sozialisten eine echte Chance, mit Ins Finale ziehen nach einem ersten Schon um den Anschein einer Kunge- Frankreichs populärstem Politiker den Wahlgang für alle Kandidaten nur die lei zu vermeiden, hätte sie auf politi- Elyse´e erneut zu erobern. Jetzt sieht es beiden Bestplazierten ein. sche Ämter verzichten müssen. fürchterlich aus: 14 Jahre hat der Sozia- Die Frage, warum Delors sein „Ren- Letztlich war es nüchternes Kalkül, list Franc¸ois Mitterrand wie ein Mon- dezvous mit der Nation verpaßt“ hat (Le das Delors zum Rückzug in die Rente arch geherrscht; nun kann die von ihm Monde), wird Frankreich noch lange be- trieb. Der Technokrat erkannte, daß er gegründete Partei nicht einmal mehr ei- schäftigen. Der nach zehn Dienstjahren als Präsident für die von ihm ange- nen halbwegs aussichtsreichen Kandida- in Brüssel ausscheidende Präsident der strebten „grundlegenden Reformen“ ten vorweisen. EU-Kommission schien alle Trümpfe keine Regierungsmehrheit zusammen- Ex-Premier Michel Rocard hat die beim Poker um den Palast in der Hand bekommen hätte. Delors vor zwölf verheerende Niederlage bei den Euro- zu haben: Nach letzten Umfragen hätte Millionen TV-Zuschauern: „Ich wollte Wahlen verschuldet und will nicht mehr; Delors Balladur mit 53 zu 47, Chirac gar im Falle eines Wahlsieges nicht ge- Kollege Laurent Fabius hängt tief im mit 59 zu 41 Prozent geschlagen. zwungen sein, mit einer Regierung zu Skandal um die mit dem Aids-Virus ver- „Ein Machtmensch“, so der Politolo- kohabitieren, die nicht meine Vorstel- seuchten Blutkonserven; Parteichef ge Alain Duhamel über den Drückeber- lungen teilt. Ich wäre mir vorgekom- Henri Emmanuelli wird im März, gera- ger Delors, „hätte seine Chance beim men, als hätte ich die Franzosen belo- de einen Monat vor dem Wahltermin, Schopf gepackt.“ Aber der praktizieren- gen.“ wegen einer Parteispendenaffäre vor de Katholik Delors hat, anders als Mit- Ein Alptraum muß für den Europäer Gericht stehen. terrand, Balladur oder Chirac, nie die Delors zudem die Aussicht gewesen Der bankrotte Tapie, dessen Pariser Macht um der Macht willen gesucht. sein, im Wahlkampf als antinationaler Stadtpalais zur Zwangsversteigerung Nun wird der Zauderer in der Ahnenga- Föderalist oder gar, wie bereits gesche- hen, als Euro-Vasall von Bundeskanz- ler Helmut Kohl geschmäht zu werden. Denn Frankreich denkt derzeit – von den Linkssozialisten über Gaullisten bis hin zu den Rechtsradikalen – mehr- heitlich euroskeptisch (siehe Seite 124). Ausgerechnet zu Beginn der französi- schen EU-Präsidentschaft am 1. Januar wächst die Versuchung für die Stim- menjäger Chirac und Balladur, die an- tieuropäischen Töne zu verschärfen. Der Pariser Bürgermeister Chirac freute sich am lautesten über die Absa- ge aus Brüssel: Er rechnet mit Zulauf von Wählern aus der Mitte, die für den Bourgeois Balladur nur gestimmt hät- ten, um Delors und die Linke zu stop- pen. Das Lager des Chirac-Intimfeinds Balladur heckt derweil eine „neue Stra- tegie“ aus; der Premier will seine Kan- didatur offiziell nun am 5. Januar er- klären. Den beiden Gaullisten hinterließ De- lors für die Wahlkampagne gleichwohl eine bittere Wahrheit: „Wenn Balladur und Chirac Reformen versprechen oh- ne Opfer und ohne Kosten – dann lü- Ausgeschiedener Sozialist Delors: Rückzug aus nüchternem Kalkül gen sie beide.“ Y

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Europäische Union Großer Körper, starkes Herz Die Zukunft der deutsch-französischen Zusammenarbeit / Von Jean-Pierre Cheve`nement

Cheve`nement, 55, ehemaliger Vertei- Zunächst einmal fehlt dafür das de- Konflikt ausbricht wie in Jugoslawien, digungsminister, ist Abgeordneter und mokratische Fundament. Für die Fran- haben es die westeuropäischen Länder Präsident der linkssozialistischen zosen hat das Europäische Parlament gar nicht eilig, Truppen zu entsenden. „Bürgerbewegung“. keine Legitimität – einfach deswegen, Der CDU-Abgeordnete Karl Lamers weil es kein „europäisches Volk“ gibt. hat nicht unrecht, wenn er uns Franzo- er Vorschlag der CDU/CSU, Euro- Europa besteht nach wie vor aus Natio- sen vorhält, wir dächten immer nur in pa künftig um einen harten Kern nen. Deshalb ist das Europaparlament den Kategorien unserer historischen Er- Daus Deutschland, Frankreich und allenfalls ein nützliches Forum, aber fahrung. Aber er täuscht sich, wenn er Benelux zu gruppieren, hat ein großes kein Gremium, in dem die Minderheit glaubt, man müsse lediglich die Kompe- Verdienst: Er zeigt den Widerspruch sich anstandslos dem Willen der Mehr- tenzen des Europaparlaments erwei- auf, der zwischen der Erweiterung der heit unterordnet. tern, damit ein „europäisches Volk“ Europäischen Union und ihrem wir- Bevor es zu einer europäischen Föde- entsteht. kungsvollen Funktionieren besteht. ration käme, müßte erst einmal ein star- Um Europa weiter aufzubauen, muß Wer indes einer europäischen Födera- kes Wir-Gefühl heranwachsen. Ist dies man von den Realitäten ausgehen, statt tion mit einigen ausgewählten Mitglie- der Fall? Die Solidarität unter Europä- sie zu leugnen. Es ist deshalb heute nur dern das Wort redet, stellt Frankreich, ern stößt ständig an Grenzen. Reiche möglich, die Politik unserer beiden Na- das historische Urbild des National- Länder wie Deutschland, Frankreich tionen – gestützt auf den Willen der Völ- staats, mit dem Rücken zur Wand. Denn und Großbritannien sträuben sich, är- ker – so abzustimmen, daß der franzö- nun muß Frankreich seine eigene Vision meren wie Spanien, Portugal, Irland sisch-deutsche Motor Europa auf allen Europas präzisieren. Schon rückt unsere oder Griechenland für deren Entwick- Gebieten antreiben kann. Das Pro- Suche nach einer Antwort immer deutli- lung mehr als kümmerliche 1,21 Prozent gramm dafür: cher in den Mittelpunkt des französi- ihres Bruttosozialprodukts an Subven- i Stabilisierung Mittel- und Osteuro- schen Präsidentschaftswahlkampfs. Und tionen zu überweisen. Und wenn ein pas, Rußland einbegriffen, damit der das ist gut so. Obwohl ich persönlich die Konzeptio- nen des Unionspapiers nicht teile, erken- ne ich die Berechtigung seines Grundge- dankens an: Je weiter die Europäische Union sich ausdehnt, bis sie irgendwann den ganzen Kontinent umfaßt, um so zwingender wird die Notwendigkeit, die deutsch-französische Zusammenarbeit zu verstärken. Ein Körper, der wächst, braucht auch ein stärkeres Herz. Aber müssen deswegen unsere Natio- nalstaaten in einer Föderation aufgehen, die unseren Bürgern das Gefühl gibt, sie seien nicht mehr Herr ihrer Entscheidun- gen? Die Franzosen schockiert es nicht, daß die Partei des Kanzlers sich auf das „In- teresse“ Deutschlands und die heikle La- ge mitten in Europa beruft, um eine Sta- bilisierung Mittel- und Osteuropas zu fordern. Deutschlands Interessen sind legitim, sie müssen von seinen Nachbarn respektiert werden. Überdies kommt diese Stabilisierung ganz Europa zugute, Frankreich ebenfalls – auch wenn uns die Turbulenzen, die aus dem Osten her- überwehen, weniger schütteln. Aber es wird in Frankreich meiner Meinung nach keine Mehrheit für den Unionsvorschlag geben, den Maastricht- Vertrag so zu revidieren, daß am Ende eine Fünfer-Föderation herauskommt. Die dafür notwendigen institutionellen

Reformen wird Frankreich nicht mittra- W. DICK gen. Partner Adenauer, de Gaulle: Der Freundschaftsvertrag braucht neuen Inhalt

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dadurch, daß er Bürger der Re- publik sein will. In Frankreich sind Politik und Kultur insofern untrennbar. Diese republikanische Identi- tät Frankreichs, wie sie sich seit der Revolution von 1789 heraus- gebildet hat, stellt das CDU/ CSU-Modell in Frage. Deshalb ist es nach meiner Überzeugung zum Scheitern verurteilt. Schon die Vorstellung einer unabhän- gigen Zentralbank widerspricht völlig unserer politischen Tradi- tion. Die Idee, Geldpolitik, die Festsetzung von Zinsen und Wechselkursen von der übrigen

REUTER Wirtschaftspolitik abzukop- Deutsche Soldaten in Paris*: Frieden bis an die Ostgrenze Polens peln, ist dem Denken der Fran- zosen fremd. Die föderale Staatsform entspricht der herkömmlichen Ordnung Deutsch- lands seit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Die Schaffung einer europäischen Föderation zu fünft setzt die Logik der bundesrepublikani- schen Entwicklung fort: die Zentral- bank in Frankfurt, Parlament und Re- gierung in Straßburg und Brüssel statt in Bonn und Berlin, der Gerichtshof in Lu- xemburg statt in Karlsruhe. Für Frankreich hingegen wäre eine solche Föderation ein Bruch mit seiner Tradition. Der Gedanke, die Europäi- sche Kommission in eine Europa-Regie- rung umzuwandeln und den Ministerrat in eine Art zweite Kammer, stößt in Frankreich auf völliges Unverständnis, ja sogar auf offene Heiterkeit. Denn er stellt alles auf den Kopf: Hohe Beamte – und mehr sind die EU-Kommissare nicht – würden Politiker ersetzen; de-

W. SCHEIBLE / FORMAT mokratisch legitimierte Minister würden Partner Kohl, Mitterrand: Das CDU-Modell für Europa ist zum Scheitern verurteilt zu einem bloßen Rat der Weisen degra- diert, der die Launen eines Europa- Friede auf dem Kontinent gesichert i Harmonisierung der Integration von parlaments korrigieren dürfte, das bleibt; Einwanderern auf der Basis des Bo- die Franzosen ohnehin als Abstellgleis i Schaffung eines großen kontinentalen denrechts. für politische Vorruheständler betrach- Marktes mit gemeinsamen politischen Doch bevor wir uns politisch weiter ten. Strukturen in Verkehr, Telekommu- annähern können, müssen wir einander In einer kleinen Föderation wäre nikation und Industrie; besser verstehen lernen. Die CDU- Deutschland durch sein demographi- i gemeinsame Antwort auf die interna- Führer irren, wenn sie Frankreich in sches, wirtschaftliches und monetäres tionale, inbesondere die asiatische dem Spiegel betrachten, den französi- Gewicht das bindende Element. Ist das Herausforderung; dazu müssen For- sche Christdemokraten – eine kleine wünschenswert? schung und Technologie gefördert Minderheit – ihnen beflissen hinhalten. Schon seit 1983 hat Frankreich seine werden, damit unsere Gesellschaften Die Herren Schäuble und Lamers Wirtschaftspolitik Deutschland unterge- leistungsfähig genug bleiben, um ih- drängen Frankreich, auf die Souveräni- ordnet, um die Parität zwischen Mark ren hohen Standard an sozialer Si- tät des Nationalstaats zu verzichten, und Franc zu halten; diese Entscheidung cherheit zu bewahren; weil die seit langem nur eine „leere bezahlt unser Land mit einer industriel- i Kampf gegen Arbeitslosigkeit durch Hülse“ darstelle. Sie übersehen, daß len Beinahe-Stagnation und hoher Ar- neue Wachstumsmodelle; Frankreich, historisch gesehen, kein beitslosigkeit. In Frankreich aber geht i Stärkung der Westeuropäischen Uni- „Volk“ im deutschen Sinne ist. Frank- es nicht um politische, sondern um so- on (WEU) als Antwort auf die legiti- reich ist eine politische Schöpfung, ein ziale Wiedervereinigung. men Sicherheitsbedürfnisse der mit- Gemisch aus Völkern des Nordens und Um die Zusammenarbeit weiter zu tel- und osteuropäischen Staaten; des Südens, die ursprünglich sogar ver- vertiefen, müssen Frankreich und i Anbindung der südlichen Mittelmeer- schiedene Sprachen hatten. Frankreich Deutschland ihre jeweiligen Interessen länder an Europas Entwicklung; ist eine rein politische Nation – eine in Rechnung stellen. Frankreich Gemeinschaft von Staatsbürgern. Ein braucht, um seine Arbeitslosenziffern * Bei der Parade am Nationalfeiertag im Juli Franzose definiert sich nicht nach Ur- zu senken, ein vernünftiges Wachstum. 1994. sprung, Rasse oder Religion, sondern Und um unsere wirtschaftliche Struktur

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zu erhalten, müssen wir Europa vor un- fairer Konkurrenz schützen. Deutsch- land mag das Prinzip des Freihandels verteidigen, es teilt aber auch Interessen mit uns – in der Landwirtschaft, der Luft- und Raumfahrt, in der Sozialpoli- tik und in der Standortdebatte. Frankreich versteht sich zudem als Wahrer republikanischer Werte, die es nicht verwässern lassen will: Trennung von Kirche und Staat, freie Meinungs- äußerung (also Unabhängigkeit von reli- giösen und ideologischen Einflüssen), volle Staatsbürgerschaft für alle, die auf nationalem Boden geboren sind, Ableh- nung von Rassismus. Natürlich weiß ich, daß diese republi- kanischen Werte in Frankreich nicht im- mer voll respektiert werden, aber sie sind zumindest in unserem Recht und in unseren Institutionen verankert. Zuge- gebenermaßen haben wir die Schwäche, uns einzubilden, diese Werte hätten uni-

verselle Geltung: in Algerien, im Nahen SIPA Osten, in Ex-Jugoslawien. Wir möchten EU-Kritiker Cheve`nement: Frankreich bleibt der Wahrer republikanischer Werte ein laizistisches und republikanisches Europa, nicht eins der Stämme und des politik bestellt? Wir wollen Europa – kratischen Europa anzuschließen, wür- Fundamentalismus. Solange dieses re- aber nicht ein Europa, das sich im de auch die Sicherheit Mittel- und Ost- publikanische Europa nicht existiert, Schlepptau auswärtiger Interessen be- europas stärken. muß Frankreich seine Stimme unabhän- wegt. In Jugoslawien etwa geben die Statt über die Aufnahme der östlichen gig und laut vernehmen lassen, notfalls Vereinigten Staaten vor, die Moslems Staaten in die Nato nachzudenken (was mit abweichender Meinung. zu unterstützen, eingreifen wollen sie Rußland unweigerlich als Ausgrenzung Frankreich ist ja nicht nur ein konti- aber nicht. Den USA geht es in Wirk- empfinden würde), wäre es besser, de- nentales Land an der Nahtstelle zwi- lichkeit nicht um den Islam, sondern um ren Eingliederung in die Westeuropäi- schen Nord und Süd, es ist auch ein me- die Kontrolle über das Öl des Nahen sche Union ins Auge zu fassen. Dafür diterranes Land. Für uns sind der Ostens. Wir wollen nicht, daß die USA müßte die WEU aus ihren Kinderschu- Maghreb, Afrika und der Nahe Osten uns ihre Entscheidungen und Prioritäten hen herauswachsen – was wiederum zur ebenso wichtig wie Osteuropa für aufzwingen. Auch wenn wir gemeinsa- Voraussetzung hätte, daß Frankreich Deutschland. me Wertvorstellungen haben, sind unse- und Großbritannien ihr Atomarsenal in Mit der Erweiterung Europas von 15 re Interessen nicht identisch mit denen den Dienst der Gemeinschaft stellen, auf 21 und mehr Mitgliedstaaten muß der USA. Wir fürchten, daß die USA mit einem Zwei-Schlüssel-System. Ohne der Maastricht-Vertrag überarbeitet uns zwar zu „partners in leadership“ er- das wird es nie eine gemeinsame euro- werden; er muß realistischer und demo- klären – so Präsident Bush im Mai 1989 päische Verteidigungspolitik geben; es kratischer werden. Die Realität der Na- bliebe bei der Verteidigung Europas tionalstaaten muß dabei berücksichtigt durch Amerika. werden. Selbst der deutsch-französische „Rußland zu helfen Für Frankreich wäre das ein Engage- Freundschaftsvertrag von 1963, das stärkt die Sicherheit ment von immenser Bedeutung. Wir Werk de Gaulles und Adenauers, würden zeigen, daß wir bereit sind, Sei- braucht einen neuen Inhalt, vielleicht in Osteuropa“ te an Seite mit Deutschland Stabilität sollte er sogar neu verhandelt werden. und Frieden in Europa zu verteidigen – Die Rolle der nationalen Parlamente während seines Deutschlandbesuchs –, bis an die Ostgrenze Polens. Eine solche muß gestärkt werden, weil sie als einzige den Europäern aber in Wahrheit die be- Sicherheitsgarantie alter demokrati- demokratisch legitimiert sind; das hat ja rühmte „neue Weltordnung“ verordnen scher Nationen wie Frankreich und auch das Karlsruher Bundesverfassungs- wollen: ein Tarnmantel für die Durch- Großbritannien, von denen Rußland gericht im Oktober 1993 festgestellt, als setzung amerikanischer Interessen. nichts zu befürchten hat, wäre für Mos- es den Übergang zur gemeinsamen Das CDU/CSU-Papier besteht auf kau annehmbar, vor allem dann, wenn Währung von einer Abstimmung im der Notwendigkeit einer stabilen Ord- am Horizont der Anschluß an den gro- Bundestag abhängig machte. nung für Osteuropa. Hier muß Frank- ßen gemeinsamen Markt winkt. Die Brüsseler Regulierungsmanie und reich einen historischen Schritt wagen – Auf diese Weise wäre die Stabilität die Macht der EU-Kommission, jene indem es Deutschland bei dessen Ostpo- unseres Kontinents doppelt gesichert: „Verordnungswut“, die selbst Bundes- litik begleitet. Dabei besteht die einzig durch den gemeinsamen Markt und kanzler Kohl störte, müssen begrenzt wirkliche Schwierigkeit darin, Rußland durch zwei nukleare Abschreckungs- werden; die Kommission sollte nur einzubinden, weil wir diesen Staat nicht systeme, die beide Seiten auf ein Mini- Richtlinien erlassen, die die einzelnen auf Dauer vom großen europäischen mum reduzieren sollten. Staaten eigenverantwortlich umsetzen Markt fernhalten dürfen. Für Frankreich und Deutschland sind können. Der Europarat und der Mini- Rußland zu integrieren wäre die beste diese Perspektiven realistischer als das sterrat der EU müssen gestärkt, ihre Be- Methode, der ostasiatischen und der Festhalten an einem Maastricht-Ver- ratungen öffentlich werden. nordamerikanischen Konkurrenz Paroli trag, der ohnehin den Anforderungen Soviel zum inneren Ausbau Europas. zu bieten. Rußland zu stabilisieren, ihm eines wachsenden Europas nicht mehr Wie ist es um die gemeinsame Außen- zu helfen, sich eines Tages dem demo- gerecht wird. Y

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sen, den Kaiser als das „Oberhaupt des wi Äthiopiens Geschichte aufarbeiten, Äthiopien feudalen Systems“ umzubringen. Vier die über Jahrhunderte von Feudalherr- Tage später wurde Haile Selassie von bis- schern bestimmt wurde. lang noch unbekannten Tätern in seinem „Der König weiß, was das Volk Bett auf „äußerst brutale Weise er- braucht, das Volk weiß es nicht.“ So be- Vorbild würgt“. schrieb Kaiser Haile Selassie – der Le- Insgesamt wurden während der Herr- gende zufolge 225. Monarch in ununter- schaft der kommunistischen Militärs zwi- brochener Nachfolgelinie aus der Ver- Nürnberg schen 1974 und 1991 mindestens 100 000 bindung des biblischen Königs Salomo Regimegegner ermor- Wie starb Kaiser Haile Selassie? det. Dafür müssen sich In einem Mammutverfahren gegen nun zunächst 66 An- führer der Junta ver- die Mörder rechnet das neue antworten. Der Prozeß Regime mit der Vergangenheit ab. in Äthiopien gilt Di- plomaten als erstes „afrikanisches Nürn- shetu Tekle-Mariam durfte stets im berg“ und dient bereits Zimmer seines Kaisers schlafen. So als Vorbild für weitere Ekonnte er rund um die Uhr für Hai- Tribunale: In Ruanda le Selassie sorgen. Der „König der Kö- sollen im kommenden nige, Löwe von Juda und Auserwählte Jahr Verfahren gegen Gottes“ – so der offizielle Titel – war be- die Verantwortlichen reits 83, hatte aber seinen Sturz erstaun- für die Massaker an lich gut verkraftet. Schon seit einem der Tutsi-Bevölkerung Jahr war er ein Gefangener linksrevolu- beginnen, bei denen in tionärer Offiziere. diesem Jahr über Der Kaiser und sein treuer Diener 500 000 Menschen lebten 1975 unter Hausarrest, aber ohne starben. weitere Schikanen in einem bescheide- Gegen den Haupt- nen Raum des Ghion-Palastes von Ad- angeklagten von Addis dis Abeba. Eshetu erschrak deshalb, als Abeba wird in Abwe- eines Abends Soldaten in das Zimmer senheit verhandelt.

kamen und ihm befahlen, die kommen- Simbabwes sozialisti- SIPA de Nacht in einem Nebengebäude zu scher Präsident Robert Kaiserliches Skelett: Im Bett erwürgt verbringen. Mugabe hatte Diktator Schlimmes ahnte offenbar auch Haile Mengistu nach dessen Sturz Zuflucht ge- mit der Königin von Saba – noch An- Selassie. „Er wandte sein Gesicht in währt und weigert sich bislang hartnäk- fang der siebziger Jahre seine Herr- Richtung einer nahen Kirche“, erinnert kig, seinen Genossen auszuliefern. scherrolle. sich der Diener, „dann bekreuzigte er „Rückkehr“, so Mengistu, „würde mei- Seinen Regierungsstil schilderte ein sich und sagte weinend: ,Ich habe alles nen sicheren Tod bedeuten.“ In Äthio- Höfling dem polnischen Reporter für mein Land getan. Laßt die Geschich- pien könne er keinen fairen Prozeß er- Ryszard Kapus´cin´ski: „Im Palast durf- te über mich urteilen.‘“ warten. ten immer nur von oben nach unten Fra- Am folgenden Mor- Der Sonderstaatsan- gen gestellt werden, nie umgekehrt. Als gen kehrte Eshetu in walt in Addis Abeba dann zum erstenmal laut und vernehm- den stark nach Äther stützt seine Anklage lich in die umgekehrte Richtung gefragt riechenden Raum zu- wegen Völkermord wurde, war dies ein Signal für den Aus- rück; den Kaiser fand und Verbrechen gegen bruch der Revolution.“ er tot im Bett: „Sein die Menschlichkeit auf Die Rebellen kamen aus der Armee normalerweise hell- über 300 000 Seiten und stürzten 1974 die von Dürrekata- braunes Gesicht war Dokumente. Denn das strophen und Stammeskriegen ge- dunkelgrau wie Asche von der DDR-Stasi be- schwächte Monarchie. Soldaten fuhren geworden.“ ratene Mengistu-Re- Haile Selassie in einem VW-Käfer durch Haile Selassies Tod gime führte penibel Addis Abeba – eine Demütigung für im August 1975 be- Akten – mitsamt Spit- den Gotteskönig. schäftigt viele Afrika- zelberichten, Kosten- Zwei Monate vor seinem Tod über- ner auf ähnliche Wei- abrechnungen über stand der nach Aussage des behandeln-

se, wie die Ermordung KEYSTONE PARIS / SYGMA Hinrichtungen und Vi- den britischen Chirurgen eine Prostata- der russischen Zaren- Kaiser Haile Selassie deoaufzeichnungen Operation. Den Militärs lieferte der familie 1918 durch Le- von Folterungen. Eingriff eine plausible Erklärung für nins Bolschewisten über Jahrzehnte die Der größte Teil dieses Materials ge- den Tod des Kaisers. Eine Autopsie der westliche Welt bewegt hat. riet bei der Einnahme von Addis Abeba Leiche ließen die Offiziere jedoch nicht In der vergangenen Woche verlas der im Mai 1991 in die Hände der siegrei- zu. Staatsanwalt beim Tribunal gegen den chen Befreiungsfront unter dem heuti- Sofort kamen Gerüchte auf: Haile Se- damaligen Diktator Mengistu Haile Ma- gen Präsidenten Meles Zenawi. Die Re- lassie sei – wie 60 Familienangehörige riam und dessen Junta in Addis Abeba bellen hatten als linke Revolutionäre zu- und Mitglieder seines Hofstaates – im zum erstenmal eine Rekonstruktion der nächst wie Mengistus Obristen gegen Palast erschossen worden. Andere da- Ereignisse vor fast zwei Jahrzehnten. die Monarchie in Äthiopien gekämpft; gegen behaupteten schon damals, das Danach hatte der „Derg“ genannte später führten sie Krieg gegen die mar- Regime habe den Kaiser vergiften oder Militärrat am 23. August 1975 beschlos- xistische Militärdiktatur. Nun will Zena- mit einem Kopfkissen ersticken las-

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sen. Aber Mengistu fürchtete auch noch die Unterabteilung eines Staates pleite Demokratischen Partei bekennt. Die den toten Kaiser. „Um sicherzustellen, gehen kann. Gemeinden und Einrichtungen des daß der Tote nicht wiederaufersteht“, Robert L. Citron, bis Anfang Dezem- Countys waren von ihrem obersten Fi- gestand ein Offizier der Junta, ließ Men- ber Finanzdezernent des Countys, ist nanzpolitiker so begeistert, daß sie ihm gistu die Leiche in einem drei Meter tie- seitdem der meistgehaßte Mann im süd- nicht nur Steuergelder zur Verwaltung fen Loch vergraben – direkt unter sei- lichen Kalifornien. Dem bieder wirken- überließen. Viele nahmen sogar große nem Büro im ehemaligen kaiserlichen den Kämmerer geben die Bürger die Kredite auf, um mit Citrons Hilfe noch Palast. Schuld daran, daß Orange County Steu- einen Extradollar zu verdienen. Denn Suchtrupps fanden dort nach der ergelder in Milliardenhöhe verspielte die Kreditzinsen waren niedriger als die Flucht des Diktators die Reste eines und mit dem Bankrott Schockwellen Erträge aus dem Wunderfonds. Insge- Holzsarges mit Knochen des Kaisers – auslöste, die sogar Wall Street erschüt- samt vertrauten sie Citron 7,5 Milliar- einen zierlichen Brustkorb und schließ- terten. den Dollar an. lich einen Schädel. Die Pleite von Orange County ist er- Der begann, ein immer größeres Rad Die Zenawi-Regierung unterrichtete staunlich. Der zwischen den San-Ber- zu drehen. Als wäre er nicht gewählter die Überlebenden des Haile-Selassie- nardino-Bergen und dem Pazifik gelege- Treuhänder öffentlicher Gelder, son- Clans und erlaubte eine feierliche Beer- ne Landstrich boomt seit 20 Jahren wie dern Finanzchef einer Aktiengesell- digung. kaum ein anderer. Die aus 31 Städten schaft, lieh er zusätzlich 12,5 Milliarden Am 23. Juli 1992, Haile Selassies 100. Geburtstag, zogen Tausende schwarz gekleidete Äthiopier zur Kathedrale der Dreifaltigkeit in Addis Abeba, wo der Löwe von Juda seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Der Prozeß gegen die Mörder des Kaisers wird voraussichtlich mehrere Jahre dauern. Y

Kalifornien Steuern verzockt Erstmals muß ein Verwaltungsbe-

zirk Bankrott anmelden, weil FOCUS sich der Kämmerer verspekulierte. AZIMI / ONYX / er junge Mann hat eingestandener- Touristenattraktion Disney-Land in Anaheim: Ausbau in Gefahr maßen weder Ahnung, wovon er Dredet, noch kennt er jemanden bestehende Region mit 2,5 Millionen Dollar von Wall-Street-Banken und in der Behörde, in der er seit kurzem ar- Einwohnern gehört zu den wohlhabend- kaufte hochriskante Wertpapiere. beitet. Dennoch erklärt er den Anrufern sten in den USA. Eine Zeitlang machte der Kämmerer mit fester Stimme: „Alles in Ordnung. Walt Disney baute in den fünfziger Gewinne. Als Anfang des Jahres die Kein Grund zur Sorge.“ Jahren dort seinen ersten Wunderland- Zinsen anstiegen, war das Zocken mit Jim Bourne arbeitet für eine PR- Park. Orange-County-Bürger wählten den Steuergeldern vorbei. Citrons ein- Agentur, die Anfang Dezember eilig in stramm republikanisch; und daß sie die seitige Anlagetaktik, die nur bei fallen- die Verwaltung von Orange County in zupackende Art schätzen, zeigten sie, den Zinsen Gewinne erzielen konnte, Kalifornien geholt wurde. Werbefach- als sie ihren Flughafen nach dem We- führte zum Desaster: Der Finanzchef leute, so dachten die Politiker des Ver- stern-Helden John Wayne benannten. mußte plötzlich mehr für seine Kredite waltungsbezirks südlich von Los Ange- In der modernen Regierungszentrale bezahlen, als er mit Zinsen einnahm. les, sollten lästige Fragen von Bürgern, des Bezirks, die äußerlich von einer „Was der gemacht hat, ist bestenfalls Angestellten oder Journalisten elegant Bank nicht zu unterscheiden ist, sorgte als unverantwortlich zu bezeichnen“, beantworten. sich Robert Citron 24 Jahre lang um das schimpft Rechtsanwalt Ronald Rus, der Bournes Telefon in der Ecke eines Wohlergehen der Bürger: Er spielte für drei Städte verlorene Steuergelder fensterlosen Büros klingelt pausenlos. Banker und vermehrte mit Spekulatio- zurückholen will. „Wir hätten wachsa- „Bekomme ich mein Geld?“ will ein nen auf dem Finanzmarkt das Geld von mer sein sollen“, bereut Sandra Genis, aufgeregter Mitarbeiter der Wasserver- Städten, Schulbehörden, Wasserversor- bis Anfang Dezember Bürgermeisterin sorgung wissen. „Ist mein Job noch si- gern oder öffentlichen Transportbetrie- der Stadt Costa Mesa. „Aber alles war cher?“ fragt ein Angestellter des Flug- ben. In den zurückliegenden Jahren er- so verführerisch und angeblich auch si- hafens. Jim beruhigt alle mit optimisti- zielte er Renditen von durchschnittlich cher.“ schen Floskeln. neun Prozent – weit mehr als die übli- Anders als jeder Investmentfonds, Doch in Orange County ist nichts in chen Bankzinsen. dessen Gewinne und Verluste täglich Ordnung, seit die Gebietskörperschaft Die Bürger waren zufrieden und überprüft werden können, legte Citron zum Konkursrichter gehen mußte und wählten Citron, 69, stets mit großer seine Zahlen nur einmal im Jahr vor. damit den Beweis erbrachte, daß auch Mehrheit wieder – obwohl er sich zur Immer sahen die Ergebnisse gut aus.

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Viel Erfolg haben die Ermittler bisher Kriminalität nicht zu vermelden. Seit 16 Jahren wütet der Einzeltäter. Bei 15 Anschlägen wur- den zwei Menschen getötet, 23 verletzt – alle waren mit Technologie, Forschung Marktplatz oder Computern befaßt. Einziges Fahn- dungsergebnis bisher: eine vage, sieben Jahre alte Täterbeschreibung. FBI-De- und Straße tektiv Bob Bell: „Es gibt hier ein Gefühl von Frustration.“ Zum erstenmal fahndet eine Poli- Deshalb geht das FBI jetzt einen bis- zeibehörde, das amerikanische lang unerprobten Weg. An drei ver- schiedenen Punkten des Internet, das FBI, im globalen Datennetz nach die Computer von rund 32 Millionen einem Verbrecher. Benutzern auf der ganzen Welt mitein- ander verbindet, hat die Bundespolizei den ersten elektronischen Fahndungs- rst platzte im Zimmer des Yale-Pro- aufruf der Geschichte ausgesetzt. fessors David Gelernter, 39, eine Mehrere elektronisch übermittelte EBriefbombe, dann implodierte der Botschaften, die im weltweiten Netzver- Computermonitor. Das Opfer wurde bund per Telefonleitung von Rechner zu schwer an Gesicht, Hand und Oberkör- Rechner geschickt werden, sollen beim per verletzt. FBI bereits eingegangen sein. Agentin Der Task Force der amerikanischen Gloria Anderson: „Wir müssen alle For-

ACTION PRESS Bundespolizei FBI kam die raffinierte men der Kommunikation nutzen.“ Die Kämmerer Citron Konstruktion der Ladung bekannt vor. FBI-Frau fürchtet, daß der Täter inner- Meistgehaßter Mann Auffallendes Merkmal: In den Spreng- halb der nächsten 30 Tage erneut zu- satz waren die Buchstaben „FC“ einge- schlägt. „Vorher brauchen wir“, sagt „Aber es fehlte jede Kontrolle“, so Es- ritzt – für „Fuck Computers“, wie die sie, „den entscheidenden Hinweis aus mael Adibi, Wirtschaftsprofessor an der Ermittler aus Indizien schlußfolgerten. der Bevölkerung – irgendwie.“ Chapman-Universität in Orange. Am Samstag vorletzter Woche schlug Mark Bernstein, Wissenschaftler bei Solange alles gut ging, waren die Lo- der Bombenbastler wieder zu. Thomas der Software-Firma Eastgate, hat Ver- kalpolitiker begeistert. Sie brauchten Mosser, 50, Vize-Präsident der New ständnis dafür, daß die Ermittler in der nicht über Steuererhöhungen nachzu- Yorker Werbeagentur Young & Rubi- Computergemeinde nach dem Compu- denken – was seit den Tagen von Präsi- cam, starb beim Öffnen eines Umschla- terhasser fahnden. Bernstein: „Es ist so, dent Ronald Reagan in den USA auf ges von der Größe einer Videokassette. als würden Wanted-Zettel in einer politischen Selbstmord hinausläuft. Erneut versuchten FBI-Leute am Tat- Nachbarschaft aufgehängt. Das Internet Offiziell werden die Verluste von ort, aus den Trümmern ein Bild des Tä- ist der Ort, an dem wir die meiste Zeit Orange County mit etwa zwei Milliar- ters zusammenzusetzen. verbringen – Marktplatz und Hauptver- den Dollar angegeben. Doch John kehrsstraße zugleich.“ Moorlach, ein örtlicher Wirtschaftsprü- Er ist jedoch skeptisch, daß die Be- fer und Anlageberater, glaubt, daß der mühungen fruchten. Traditionell be- Bezirk durch Citrons Pokerspiel wohl trachtet die Cyber-Gemeinschaft Auto- drei bis vier Milliarden Dollar abschrei- ritäten, die sich in ihrer Domäne tum- ben muß. Damit wäre die Hälfte der an- meln, mit kritischer Distanz. Wer sich gelegten Steuergelder verspielt. das elektronische Fahndungsplakat per Die Folgen sind verheerend. Profes- Telefonleitung auf den eigenen Bild- sor Adibi rechnet vor, daß schon bei ei- schirm holt (Netzadresse zum Beispiel: nem Verlust von nur eineinhalb Milliar- http://naic.nasa.gov/fbi), findet unter den Dollar in fünf Jahren ungefähr der kumpelhaften Anrede „Dear Net- 21 000 Menschen in Orange County ih- ters“ die Mitteilung: „Internet-Benutzer ren Job verlieren werden. sind genau die Art von Leuten, die bis- Bei den Bürgern, die sich an ver- her Empfänger von Sprengsätzen wa- gleichsweise niedrige Steuern trotz guter ren.“ öffentlicher Einrichtungen gewöhnt hat- Der vier Seiten lange FBI-Text ent- ten, geht nun Angst um. „Ich mache mir hält eine detaillierte Aufzählung aller Sorgen um die Schulkinder“, sagt die Attentate des unheimlichen Bomben- Ex-Bürgermeisterin von Costa Mesa. Phantoms, ausgeschriebene Belohnung Die ersten Lehrer wurden bereits entlas- für den richtigen Hinweis: eine Million sen. Gut 400 000 Kinder in 500 Schulen Dollar. müssen sich damit abfinden, daß Mo- In den Diskussionsgruppen aller- dernisierungen und Reparaturen an Ge- dings, die sich im Netz sonst durch den bäuden nun aufgeschoben werden. Austausch elektronischer Botschaften Selbst Mickey Mouse bleibt nicht un- mit jedem aktuellen Thema befassen, behelligt. Der Disney-Konzern will drei wurde der Aufruf des FBI bisher verhal- Milliarden Dollar für die Ausweitung ten aufgenommen und weder begrüßt seines Vergnügungsparks ausgeben. noch kritisiert. Einer der kursierenden Jetzt ist erst mal unsicher, ob die Stadt Sprüche: „Im Internet weiß niemand, Anaheim den Ausbau von Straßen und Fahndungsfoto im Internet daß du ein Hund bist, bis du anfängst zu Parkplätzen bezahlt. Y „Empfänger von Sprengsätzen“ bellen.“ Y

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Werbeseite . GAMMA / STUDIO X Beseitigung notgeschlachteter Schafe: Tips vom Landwirtschaftsminister zum Überleben der Dürre

Hoffnungsschimmer mehr“. Er nimmt Seit die ersten englischen Strafgefan- Australien die trockene Erde auf, Sand rieselt genen und ihre Bewacher 1788 in Port durch seine Finger, auf der Handfläche Jackson, dem heutigen Sydney, lande- bleiben verdorrte Weizenkörner zu- ten, hat kaum eine Trockenheit so wei- rück. Nicht ein einziges ist aufgegan- te Teile des Landes erfaßt. Einer Regi- Dusche gen. on so groß wie Deutschland, Großbri- Von einigen kurzen Schauern abge- tannien und Frankreich zusammen sehen, hat es in der Region Gilgandra fehlt das Wasser. 93 Prozent von Neu- zu zweit jahrelang nicht mehr richtig geregnet. südwales sind zu Notstandsgebieten er- Bis März, so prognostizieren die Wet- klärt worden; im angrenzenden Seit vier Jahren blieb der Regen terwissenschaftler des staatlichen me- Queensland leben Kinder, die noch nie aus, die Trockenheit teorologischen Instituts, ist mit Nieder- in ihrem Leben Regen gesehen haben. schlägen kaum zu rechnen. In Gilgandra drohen die Wasserspei- treibt die Farmer in den Ruin. Doch selbst wenn der ersehnte Re- cher in den nächsten vier Monaten zu gen noch vorher kommen sollte – we- versiegen, einige Gemeinden sind be- ollin Zell war zwölf, als er auf der nig wahrscheinlich im australischen reits auf tägliche Trinkwasserlieferun- Familienfarm im Südosten Austra- Hochsommer –, wäre Zells Weizensaat gen mit dem Tanklaster angewiesen. Cliens zum erstenmal Weizen nicht mehr zu retten. Selbst im rund 400 Kilometer entfern- pflanzte. Der Gedanke, daß nicht er die Natur, sondern die Natur ihn be- zwingen könnte, lag ihm damals so fern, wie den ersten Siedlern aus Eng- land die alte Heimat erschienen sein muß. 45 Jahre trotzte der robuste Farmer dem harten Klima auf dem trockensten aller Kontinente. Immer wieder mußte Zell in regenarmen Jahren hohe Verlu- ste hinnehmen. Im vorigen Jahrzehnt fielen die Preise für Weizen und Wol- le, einst die wichtigsten Ausfuhrgüter des Landes; die Kredite dagegen wur- den immer teurer. Dennoch ernährte sein 2000 Hektar großes Weide- und Ackerland im Getreidegürtel von Neu- südwales, dem bevölkerungsreichsten FOCUS australischen Bundesstaat, bis vor kur- zem noch vier Menschen und 7000

Schafe. WILDLIGHT / Seit aber die Äcker zu Staub zerfal-

len und die Tiere vor Hunger und P. QUIRK / Durst verenden, sieht Zell „keinen Verendetes Rind: Banker drängen auf Rückzahlung der Kredite

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AUSLAND

ten Sydney wird die Empfehlung ausge- geben: „Spart Wasser, duscht zu zweit.“ Als die Regenzeit 1991 ausblieb, zeig- te sich außer den Farmern zunächst nie- mand ernsthaft beunruhigt. Experten schrieben die Ursache für beinahe regel- mäßige Trockenperioden einem natürli- chen, zyklisch wiederkehrenden Phäno- men zu, dem „El-Nin˜o-Effekt“: Eine kalte Strömung im Pazifik führt dabei zu einer Änderung der vorherrschenden Windrichtungen. Als Folge werden Tiefdruckgebiete nicht auf die australi- sche Küste zugetrieben, sondern regnen über Nord- und Südamerika ab. Weil die Dürreperioden berechenbar schienen, beschloß die Regierung 1992, FOCUS sie nicht länger als Naturkatastrophe an- zuerkennen. Notleidende Farmer hatten

damit keinen Anspruch mehr auf Hilfe. WILDLIGHT / Inzwischen sind die Niederschläge

vier Jahre hintereinander fast vollstän- P. QUIRK / dig ausgeblieben. Der Landwirtschafts- Fütterung von Schafen: Vier Jahre ohne Niederschlag

kein Regen gefallen sein, wer- Insgesamt 164 Millionen australische Verbrannte Erde den viele Betriebe in Zells Dollar (200 Millionen Mark) sollen Farmgebiete, in denen Nachbarschaft aufgeben müs- 14 000 notleidenden Farmern und ihren Dürre herrscht sen. Familien über die kommenden zwei Jah- Nervöse Banker drängen re hinweghelfen. Auch die Zells haben, auf Rückzahlung von Kredi- obwohl sie es als Schmach empfanden, ten. Mit dem Slogan „Get big einen wöchentlichen Zuschuß von um- nord- or get out“ hatten sie die Far- gerechnet 470 Mark beantragt. Gilgan- territorium mer nach der letzten Dürre dra ist als Notstandsgebiet ausgewie- west- australien queensland Anfang der achtziger Jahre sen; mit der staatlichen Hilfe könnten zur Vergrößerung ihrer Höfe die Zells den Sommer über durchhal- australien aufgerufen. Doch dann stie- ten. süd- gen die Kreditzinsen, und als Auf dem Küchentisch ihres Farmhau- australien es kurze Zeit später auf dem ses liegt der „Ratgeber zum Überleben neu- Weltmarkt zu einem Preis- der Dürre“, den das Landwirtschaftsmi- süd- Gilgandra Perth wales sturz für Wolle und Weizen nisterium herausgebracht hat. Detail- Sydney kam, konnte kaum ein Be- lierte Skizzen klären auf über die Canberra trieb Rücklagen für die näch- „humane Zerstörung“ des Tierbestands. victoria ste große Trockenzeit bilden. Sie zeigen Ansatzpunkte für die Waffe Nun vergeht kein Tag in und empfehlen die geeigneten Kaliber. Melbourne Indischer Ozean den Dürregebieten, an dem Schätzungsweise 20 Millionen Schafe nicht ein landwirtschaftlicher werden die Farmer noch in den nächsten tasmanien Betrieb zur Versteigerung Monaten abschlachten müssen, weil die stünde. Doch bringt der Ver- Fütterung zu teuer geworden ist. kauf der Farmen genausowe- „Soll mir doch mal einer erklären, minister Bob Collins spricht von „einer nig ein wie der Handel mit den abgema- woran man erkennt, wann der richtige großen nationalen Krise“, und die Ex- gerten Schafen und Rindern. Selbst zu Zeitpunkt gekommen ist, einen Teil der perten haben keine Erklärung mehr für Niedrigstpreisen lassen sich weder für Herde zu erschießen, um den anderen die Klimakatastrophe: „Etwas Seltsa- den Hof noch für die Tiere Interessen- zu retten“, schimpft Zell. „Heute bist du mes ist im Gange“, sagt Chefmeteorolo- ten finden. Viele Betriebe werden ein- ein guter Manager und hast deine Tiere ge Neville Nicholls. „Wir haben hier ei- fach aufgegeben und verfallen. notgeschlachtet; morgen regnet es, und nen fast beständigen El-Nin˜o-Effekt, Erst nach massivem Druck der Land- du bist der schlechteste Manager der aber wir wissen nicht, warum.“ wirtschaftsverbände antwortete die Re- Welt.“ Bis zu acht Ernten haben die Weizen- gierung von Premierminister Paul Kea- Bislang war Zell ein guter Manager. farmer in den am schlimmsten betroffe- ting auf die Notlage der Farmer. Die Als er im August 2000 seiner Schafe ver- nen Regionen bereits verloren. Das Fut- Wirtschaft werde auch ohne den Beitrag kaufte, gab es noch 20 Dollar pro Kopf ter für ihre Rinder und Schafe müssen von Schafzüchtern und Weizenprodu- für die Tiere. Heute wären sie keine 4 die Viehzüchter quer über den Konti- zenten wachsen, hatten Beamte im Fi- Dollar mehr wert. nent transportieren. nanzministerium argumentiert. Tatsäch- Andere wirtschafteten weniger weise; Seit Monaten kauft auch Farmer Zell lich beträgt die gesamtwirtschaftliche sie flüchten sich nun in Alkohol oder he- Getreide aus den Anbaugebieten der Wachstumsrate in diesem Jahr trotz dür- gen Selbstmordgedanken. Jenny Zells Westküste, um seine Herde durchzufüt- rebedingter Verluste in Milliardenhöhe Nachbarinnen begleiten ihre Männer tern. Auf den verdorrten Weiden von immer noch über sechs Prozent. Erst immer häufiger zur Notschlachtung der Gilgandra finden die Tiere längst keine nach einem Besuch in den Dürregebie- Tiere. Aus Vorsicht, sagen sie, „falls ei- Nahrung mehr. Sollte bis Weihnachten, ten ließ der Premier Ende September ei- ner auf die Idee kommt, die Waffe ge- wenn die letzten Futtersilos leer sind, nen Hilfsfonds einrichten. gen sich selbst zu richten“. Y

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AUSLAND

Die Leichen verscharrte das Pärchen Entlassung nachkommt – oder ob Hind- Großbritannien dann im Moor von Saddleworth nahe ley zu jenen gut 20 Schwerstkriminellen Manchester. Bei Brady fand die Polizei zählt, für die lebenslang auch wirklich Tonbänder, auf denen die Todesschreie Haft bis zum Tod bedeuten soll. der Gefolterten festgehalten waren. Die Entscheidung über ihr Schicksal Ewige Rache Bei der Verhandlung bestritt Hindley, sei in Wahrheit längst gefallen, fürchten an den Tötungen direkt beteiligt gewe- Freunde. Zwar sagt ihr Anwalt Andrew Das Gnadengesuch der „Moor- sen zu sein. Gutachter attestierten der McCooey: „Es besteht keine Gefahr, mörderin“ Hindley kommt auch bis dahin unbescholtenen Angestellten, daß sie rückfällig wird. Wer unsere Ge- ihrem fünf Jahre älteren Freund, einem setze strikt anwendet, müßte sie entlas- nach 29 Jahren Haft zu früh: vorbestraften Vorstadt- sen.“ Aber der als Phil- Volkes Stimme fordert lebenslang. Casanova, in verhäng- anthrop und Gefängnis- nisvoller Willenlosigkeit reformer bekannte Lord zu Diensten gewesen zu Longford behauptet: m Frauengefängnis Cookham Wood sein. „Er ist mein Gott“, „Myra ist ein politischer in der Grafschaft Kent gilt Myra gab sie zu Protokoll. Häftling. Sie darf nicht IHindley, 52, als Musterhäftling. Beide erhielten 1966 raus, weil feige Politiker Tagsüber versorgt sie die Bediensteten lebenslange Haftstrafen. das verhindern.“ des Verwaltungstrakts mit frischem Brady wird wohl nie wie- Tatsächlich könnte ih- Tee, abends in ihrer Zelle studiert sie der entlassen werden. Er re Begnadigung einen Sprachen und liest feministische Litera- lebt heute in einer hoch- Eklat und landesweiten tur. gesicherten psychiatri- Protest auslösen. Die Der Anstaltsgeistliche Bert White schen Anstalt, nachdem heftig konkurrierenden schildert die Strafgefangene Hindley als Ärzte ihn für unheilbar Massenblätter The Sun eine „ruhige, höfliche, intelligente geisteskrank erklärt ha- und People, die den Kri-

Frau“. Und: „Sie entspricht gar nicht ben. PA / DPA minalfall Hindley seit dem monströsen Bild, das die Öffent- Doch Myra Hindley Verurteilte Hindley (1966) Jahren ausschlachten, lichkeit von ihr zeichnet.“ hofft, nach über 29 Haft- fachen die Empörung Als „Killerin mit dem eiskalten jahren, die sie zur längsteinsitzenden an. Leserumfragen der beiden Zeitun- Blick“, als „grausamste Frau im Verei- Frau im britischen Strafvollzug mach- gen ergaben eindeutige Stimmungsbil- nigten Königreich“ und als „ent- ten, endlich entlassen zu werden. der: 98,4 Prozent der befragten People- menschtes Monster“ ist Hindley ins Be- „Worte können das tiefe Bedauern über Leser meinen, daß Myra Hindley „nie wußtsein vieler Briten gedrungen. Die meine Taten und den Schmerz, den ich mehr freikommen darf“. blutrünstigen Schlagzeilen der Londo- anderen zugefügt habe, nicht ausdrük- Und Volkes Stimme zählt derzeit viel ner Boulevardpresse wiesen ihr einen ken“, schrieb sie jetzt dem Innenmini- in London: Heillos zerstritten und von Sonderrang unter den verurteilten Mas- ster Michael Howard. den kleinbürgerlichen Stammwählern senkillern zu: Die „Moormörderin“ ge- Sie glaube, heißt es in dem Gnaden- als rückgratlose Schwächlinge abgetan, hört zum Gruselfundus der britischen gesuch, daß sie inzwischen ihre „Schul- will sich die Regierung von John Major Strafjustiz. den gegenüber der Gesellschaft bezahlt“ als kompromißlose Law-and-order- Fünf Kinder und Jugendliche hatte habe. „Die Menschen sollen mich beur- Mannschaft profilieren. sie zwischen 1963 und 1965 mit ihrem teilen, wie ich heute bin, nicht wie ich Da könnte Hindleys Gnadengesuch Liebhaber Ian Brady in ihr Haus ge- damals war.“ gerade recht kommen. Mit einer Ableh- lockt, wo Brady die Opfer quälte, miß- In den nächsten Wochen muß der Mi- nung des Antrags könnte der konserva- brauchte und schließlich umbrachte. nister entscheiden, ob er der Bitte um tive Innenminister Howard, der sich Chancen für die Major-Nachfolge aus- rechnet, zum Liebling des Boulevards aufsteigen. Ihm bleibe, glaubt ein Bera- ter, ohnehin keine wirkliche Wahl: „In dieser Situation als Befreier der Moor- mörderin in die Geschichte einzugehen, wäre politischer Selbstmord.“ Ihre Freilassung, argumentiert das In- nenministerium, würde Polizei und Ju- stiz vor kaum zu bewältigende Sicher- heitsprobleme stellen. Hindley müßte sich nicht nur auf gnadenlose Hatz durch Zeitungsreporter einrichten, son- dern auch Anschläge auf ihr Leben be- fürchten. Angehörige der fünf Opfer des Mörderpaares haben „ewige Rache“ geschworen. Danny Kilbride, Bruder des mit einer Axt erschlagenen John Kilbride, ist nach eigener Einschätzung „kein ge- walttätiger Mensch“. Bei Myra Hindley könnte er allerdings von seinem Prinzip abweichen: „Wenn ich die Chance hät- te, sie zu töten, würde ich es tun. Sonst

SYNDICATION INTERNATIONAL macht es ein anderer aus meiner Fami- Bergung eines Opfers im Moor von Saddleworth (1987): „Schulden bezahlt“ lie.“ Y

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KULTUR

Kunst SÄUE IM ZAUBERGARTEN Das Werk von George Grosz, das Mächtige und Mucker der Weimarer Republik bis aufs Blut gereizt hat, wird in der Berliner Nationalgalerie so umfassend ausgestellt wie nie zuvor. Neben den mittlerweile klassischen Bild- pamphleten kommen Arbeiten aus dem amerikanischen Exil zutage – darunter deftige Obszönitäten.

unersättliche Ausbeuter bloßgestellt – den Schädel „vorschriftsmäßig hinten abgeplattet“, Mensurnarben und Mon- okel in der gedunsenen Visage, damp- fende Scheiße im offenen Hirnkasten, aber auch dumpf dem Suff und dem Se- xualtrieb hingegeben. Sein Pandämonium der Weimarer Republik, in dem demokratische Politi- ker wie Ebert und Stresemann kaum besser wegkamen als der Feldherr Hin- denburg und der Putschist Hitler, wurde zur überscharfen, plakativen Ansicht der Epoche. Ja, sie prägte auf Dauer ei- nen Nationaltypus: Von den Groszschen Federstrichen und Pinselschlägen hat sich (so der Kunstkritiker Werner Spies) „das Erscheinungsbild des Deutschen nicht mehr erholt“. In der Groteske steckten jede Menge Selbstporträts. Nicht immer ließ Grosz diese Einsicht an sich heran, aber als Autobiograph (1946) bekannte er: „In

Grosz-Bild „Der kleine Frauenmörder“ (1918): Moritat vom Einsturz der Welt

orn und Ekel brachten ihn in seinen Namen gerade tendenziös in Fahrt. Dem Militärdienst war der „George Grosz“ anglisiert hatte. ZKünstler, mitten im Ersten Welt- „Vom Standpunkt einer ästhetisieren- krieg, fürs erste entronnen – dank ei- den Anschauung“, so wütete er brief- ner Stirnhöhlenvereiterung. Aber auch lich, freue er sich trotz pazifistischer Ge- in seiner „reizenden, spießigen, honett sinnung „über jeden Deutschen, der auf bürgerlichen“ Berliner Vorortgegend dem Felde der Ehre (wie schön) den fand er „Tag für Tag neue sehr lichter- Heldentod stirbt“. Und tollkühn: loh brennende Nahrung“ für erbitter- „Welch Glück, daß ich kein Deutscher ten „Deutschenhaß“. bin!“ Das hätte ihm so gepaßt. Ringsum nämlich „nur ungepflegte, Grosz (1893 bis 1959) ist seinen dicke, deformierte, häßlichste Männer Landsleuten nichts schuldig geblieben: und Frauen“ mit „schlechten Säften Zielsicher wie kein anderer hat er ihnen (vom Bier), mit zu dicken und zu kur- das Kainsmal abstoßender Plumpheit zen Hüften“ – und als „Sehender unter und brutaler Niedertracht aufgedrückt.

all diesen stinkenden Blinden“ einzig Zeichnend wie malend hat er sie immer FOTOS: VG BILD-KUNST, BONN, 1994 er selber, Georg Ehrenfried Groß, der wieder als blutige Kommißköpfe und Grosz-Aquarell (1919), Grosz-Gemälde

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Wirklichkeit war ich damals jeder, den ich zeichnete.“ Von Kapitalisten- und Offizierstypen konnte der Dandy und Kriegsgegner sich glaubhaft distanzieren, bei den Ausschweifun- gen der Lüstlinge und Säufer war er als keineswegs unbeteilig- ter Beobachter mitten- drin. Seinen Furor minderte das nicht. Grosz entkam dem größten deutschen Übel, dem Dritten Reich, rechtzeitig in seine Traumstadt New

York. Als zerrütteter BPK Alkoholiker kehrte er, Maler Grosz (1944)*: Brandanschlag auf die Moderne? auf Drängen seiner Frau, 1959 nach Berlin zurück. Wenige zen“: neben dem allgegenwärtigen Wochen später erstickte er an Erbroche- „Grosz“ einen „Arzt Dr. William King nem. Thomas“ als „mehr amerikanisch-prak- Grosz-Bild „Der Liebeskranke“ (1916) Erwünscht oder nicht, Deutschland tisch-materialistischen Ausgleich“ sowie „Welch Glück, daß ich kein Deutscher bin!“ hat ihn wieder – nun in verwirrendem, einen „nonchalanten Aristokraten mit kaum gekanntem Facettenreichtum. gepflegten Fingernägeln“. schlaffung zu beobachten. Der Betrach- Von Mittwoch dieser Woche an zeigt die Dieser „Graf Ehrenfried“ muß wohl ter wird zum Voyeur, doch er blickt Berliner Neue Nationalgalerie mit einer hinter jenem „Liebeskranken“ stecken, auch auf ein Sittenbild „so brutal wie die riesigen Ausstellung erstmals den gan- den ein expressionistisches Grosz-Ge- Zeit, die es mir eingab“. zen Grosz: Stärken und Schwächen, mälde von 1916 zeigt: Kahlgeschoren, Mit diesen Worten verteidigte der Werke der deutschen und der amerika- weiß und rot geschminkt, Herz und Pi- Künstler sexuelle Motive in seinem nischen Zeit, rund 500 Arbeiten vom stole am Revers, so wartet der einsame „pessimistischen“ Mappenwerk „Ecce Gemälde bis zum Skizzenbuch und dazu Elegant im nächtlichen Lokal; auch in Homo“. Doch die beanstandeten Blät- noch 63 Bilder von Zeitgenossen**. einem unbetitelten Aquarell von 1919 ter wurden eingezogen, Grosz und seine Er war ein Rollenspieler. Schon 1915 klingt das Motiv noch an. beiden Verleger zahlten je 500 Gold- wollte der junge Künstler drei „fanto- Nur eine kleine Verwandlung, und mark Geldstrafe. Die Thematik war aus matische Figuren“ aus sich „herausfet- aus dem Grafen wird ein vulgärer der Öffentlichkeit verbannt. „Frauenmörder“, eine Das starke Privatinteresse, das Grosz Moritaten-Figur, die nach an ihr nahm, hatte er schon als fröhli- vollbrachter Tat durch cher „Zotendichter“ in der Tonart ex- futuristisch explodierende pressionistischer Lyrik bewiesen: „Es Bildarchitekturen eilt. bebt bereits der Lenz mir in den Kno- Das „riesig Tumultuari- chen / die Latte steht, des Arschlochs sche“ der Stadt Berlin, ei- Kerbe dampft.“ Es dokumentiert sich ne Welt im Einsturz – kein auch in „kleinen schweinischen Brief- Kunstgriff könnte diese chen“, die, bei zeitweiliger Trennung, Visionen besser ins Bild anregende Fotos der Ehefrau erbaten. holen als die Dynamik des Erst in diesem Jahr ist ein Konvolut Futurismus. Grosz aber pornographischer Aquarelle publik ge- durchsetzt den hohen worden, die der reife Künstler im ameri- Avantgarde-Stil mit Ele- kanischen Exil gepinselt und unmittel- menten von Karikatur und bar vor seinem Tod der Berliner Galerie Pissoir-Graffiti, und als Nierendorf verkauft hat – unter der Be- „Rückseite des He- dingung, sie erst zu zeigen, wenn mit roischen“ wird das Obszö- „größerem Verständnis“ zu rechnen sei. ne sichtbar. Einige Beispiele stellt nun auch die Na- In jenen „Straßenzau- tionalgalerie aus. Sie sind, bei allem bergärten“, wo nach Potenzgepränge im Motiv, Symptome Grosz „Circe die Men- künstlerischer Ermattung. schen in Säue abwandelt“, Wie schlimm die Zeit nach dem Er- ist jede Art von Entblö- sten Weltkrieg auch immer gewesen war ßung, Kopulation und Er- – dem Zeichner und Maler Grosz hatte sie gutgetan. Die bösartige Schärfe sei- * Bei der Arbeit an seinem Bild nes Strichs und die giftige Süße seiner „Kain oder Hitler in der Hölle“. Farblasuren sind unvergleichlich. ** Bis 17. April. Katalog bei Ars Nicolai; 592 Seiten; 49 (Buch- Nur notdürftig und für eine Weile lie- „Sonnenfinsternis“ (1926): „Vorschriftsmäßig abgeplattet“ handelsausgabe 98) Mark. ßen sich die Haßausbrüche zu einer par-

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Werbeseite KULTUR teipolitischen Tendenz auf Tonband aufgezeich- bündeln. 1919 trat Grosz nete Text wird, samt in die KPD ein – und dem Bericht eines Au- 1923, nachdem er die So- genzeugen, im Berliner wjetunion bereist hatte, Katalog erstmals veröf- wieder aus. „Je größer fentlicht. der Haufen, mit dem ich „Eine Art indiani- lief, desto individualisti- schen Kriegstanz“, so er- scher wurde ich.“ So innert sich Künstlerkol- blieb die Wut noch unge- lege Jack Levine, habe bändigt. Aber als er spä- der Geehrte aufgeführt. ter den „ganzen Inhalts- Die meisten Leute hät- zimt“ vergessen wollte, ten Grosz für „durchge- war er längst auf Irrwege dreht“ gehalten, seine geraten. Galeristin weinte, aber Die Nazis kamen Levine glaubte ihn zu knapp zu spät in das Ber- Dada-Bräuchen zurück- liner Atelier von Grosz, gekehrt und fand das um sich für dessen Hohn „wunderbar“. über alles Völkische zu Grosz-Aquarell (um 1940): „Es bebt der Lenz mir in den Knochen“ „Sie mißverstehen rächen. Knapp drei Wo- mich als einen Volksko- chen vor Hitlers Machtergreifung war er Gescherzt? Grosz war ein Meister des mödianten, das bin ich nicht“, „bitte abgereist; in New York wartete – nach Sarkasmus. Kein Leser seiner fulminan- nehmen Sie mich ernst“, „würden Sie einer Probezeit im Jahr zuvor – ein ten Briefe, kein Augenzeuge seiner mir bitte zuhören“ – mit solchen Flos- Lehramt auf ihn. „Was in Deutschland Auftritte konnte ganz sicher sein, wie keln suchte Grosz sein Publikum zu war, soll dort bleiben“, schrieb er wü- ernst oder wie ironisch der Einzelgänger beschwören und seine verschwimmen- tend an eine Tante, die ihm zurückgelas- eine Sache meinte. den Gedanken zu ordnen. sene Sachen nachschicken wollte. Schon 1915 hatte Grosz einen pazifi- Begeistert pries er die amerikanische Die amerikanischen Studenten frei- stischen Berliner Künstlerkreis er- Küstenlandschaft, die ihn – 20 Jahre lich, denen der einstige Dada-Pionier schreckt, indem er sich als holländischer zuvor – als Maler „noch einmal glück- Grosz ein Begriff war, wunderten sich Kaufmann ausgab, der Kriegskrüppel lich“ gemacht habe. Seine wahre Grö- über seinen traditionellen Kunstunter- zur Bemalung von Granatsplittern an- ße hingegen wollte er nicht mehr aner- richt. Sie hätten wissen sollen, daß er stellen und diese als Briefbeschwerer kennen: Ein politischer und sozialer auch für die künstlerische Moderne nie oder Aschenbecher verkaufen wollte – Satiriker, so das Resümee der Rede, ein verläßlicher Parteigänger gewesen angeblich ein Bombengeschäft. Und wie sei „wie ein Geiger, der auf einer viel war, sondern zum Beispiel Pablo „Pi- ein Vorbote des Zweiten Weltkriegs zu kleinen Geige herumschrammt“. Y zeigte er sich im ame- rikanischen Familien- Ist das Hauptwerk kreis flüchtig, von ferne von Grosz und bei Kerzenschein mit einer Totenkopf- noch zu entdecken? Maske. Bilden solche Selbst- pencasso“ seit je für einen „Flaumaler“ inszenierungen am En- hielt. de gar das „bisher nur In den späteren zwanziger Jahren hat- unzulänglich wahrge- te sich Grosz mit – teils großartigen – nommene Hauptwerk Porträts als Maler der „Neuen Sachlich- von Grosz“? Der Berli- keit“ versucht, und 1931 war er soweit, ner Museumsmann Pe- an die deutsche Altmeistertradition zu ter-Klaus Schuster be- appellieren, weil er malend doch „ein hauptet es nun im Aus- wenig von unserer Volksgemeinschaft“ stellungskatalog – eine aussagen wollte. kühne These. Erst das Er blieb auch im Exil ein scharfsichti- gezeichnete und gemal- ger, unversöhnlicher Feind des Nazi-Re- te Œuvre verleiht den gimes; diverse Bildmotive demonstrie- Aktionen ihr Gewicht. ren das noch. Aber mit anderen Werken Der letzte Auftritt und manchen Ansichten („Die Neger des Künstlers in Ameri- haben keine eigenen Gedanken“) wäre ka, nach Jahren immer er unter Hitler kaum aufgefallen. Kritik schwärzerer Stimmung an der neuen Heimat vermied er wohl und fortschreitend rui- aus Dankbarkeit. nierter Gesundheit, 1943 berichtete Grosz aus dem Hud- wurde ein peinlicher son-Tal: „Habe gelernt, die moderne Flop. Die American Kunst zu verachten, und landschaftere Academy of Arts hatte jetzt viel.“ Für alle Fälle führe er Beil ihm 1959 ihre Goldme- und Streichhölzer mit; „denn wenn daille für Grafik zuer- plötzlich der Tag kommt und meine gu- kannt, und er bemühte ten Kollegen das Modern Museum an- sich, eine Dankesrede Grosz-Gemälde „Rudolf Schlichter“ (1929) zünden, will ich auch dabeisein“. zu halten. Der damals „Rückseite des Heroischen“

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Theater Der Aufräumer SPIEGEL-Redakteur Wolfgang Höbel über den Regisseur Matthias Hartmann und dessen Liebe zur Harmonie

enn einer den wilden Mann spie- len will, dann gibt es heute dafür Wjede Menge erprobter Mittel: Ein paar starke Sprüche, ein paar bunte Klamotten und eine anständige Wut braucht es dazu – eine Wut, die man sich aus Büchern leihen kann oder notfalls Abend für Abend am Tresen irgend- einer Bar antrinken muß. Die Welt, in der sich keine Mauern finden, um dagegen mit ruck, zuck bluti- ger Stirn anzurennen, muß erst noch er- funden werden. Was aber, wenn man die Strategie der interessanten Abweichung, nach der noch jede Erfolgsgeschichte draußen in der Welt und drinnen in den Kul- turbetrieben funktioniert, einfach mal in entgegengesetzter Richtung ver- folgt? Wenn man Sätze sagt wie „Wir müs- sen Moral neu definieren“, wenn man statt Kettenhemd und Bomberjacke nicht besonders modische Jacketts trägt und Pullunder mit V-Ausschnitt?

Und wenn man sich, wie es Matthias P. PEITSCH Hartmann vor ein paar Wochen in ei- Dorst-Stück „Nach Jerusalem“ in Hamburg*: Schneller, schmutziger, kalter Sex nem TV-Kulturmagazin tat, statt mit blutiger Stirn vor brüchigen Mauern Seit er, statt im damals gängigen Al- tranig weggucken, als ein dahergelaufe- beim Austernschlürfen im teuren Re- ternativenkostüm aus Parka und Schlab- ner Bösewicht einem der Ihren die Au- staurant interviewen läßt? ber-Sweatshirt, im Sonntagsanzug zur gen aussticht. Und was sagt der Regis- „Es gibt nichts Langweiligeres, als das Gewissensprüfung für Kriegsdienstver- seur Hartmann über die Vorlage? Ein Klischee zu bedienen, daß jung gleich weigerer antrat (und prompt durchfiel), paar Ehrfurchtsworte zu der „strengen wild ist“, sagt Hartmann, 31, eine hat es Hartmann mit seiner Taktik ziem- musikalischen Komposition“ fallen ihm „Scheißprojektion“ der 68er-Vätergene- lich weit gebracht: zum derzeit wohl ein, und zum „Mikrokosmos, der unsere ration sei das: „Die wollen uns biersau- jüngsten Profi-Coach in der Bundesliga Welt beschreibt“. fend, grölend und böse – aber den Ge- des deutschsprachigen Theaters. Am Als Theoretiker ist der Mann ein Aus- fallen tu’ ich ihnen nicht.“ Münchner Residenztheater hat er einen fall, auf der Bühne aber zeigt er auch Vertrag als Hausregis- diesmal, was er kann: entschlossen zu- seur, an Peymanns packen – und eine krude, trostlose Ge- Burgtheater in Wien schichte voll simpler Botschaften mit wird er demnächst der allergrößten Selbstverständlichkeit Schillers „Räuber“ in- erzählen. szenieren, und am Ilse Ritter, die ebenso gefeierte wie Hamburger Deutschen zum nervtötenden Blöken neigende Schauspielhaus brach- Großschauspielerin, ist in Hartmanns te er am vergangenen „Jerusalem“-Version eine hinreißende Sonntag die Urauffüh- Schmuddelkönigin: Wenn sie in roten rung des jüngsten Kleiderfetzen durch den ins Erdreich Tankred-Dorst-Stücks hineinbetonierten Dämmerschuppen heraus. taumelt und dabei ihre mädchenhaften „Nach Jerusalem“ Beine bloßlegt, wenn sie mit der Finger- heißt das finster daher- spitze gegen die Brust eines verschmier- raunende Werk. Es ten, vor Gier sabbernden Mannes handelt von ein paar schnippt, dann versteht jeder sofort, um lichtscheuen Außen- was es geht – um schnellen, schmutzi- seitern, die im Keller gen, kalten Sex.

M. HORN eines Hotel-Rohbaus Regisseur Hartmann: „Die wollen uns biersaufend“ herumhängen – und * Mit Jörg Schröder und Ilse Ritter.

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KULTUR

Und wenn Hartmann seinen Ober- dungstheaters verzichtete, auf die schon schurken, den Schauspieler Jürgen Stös- lange selber konventionelle Demaskie- singer, alshageren, dämonischen Menge- rung bürgerlicher Phrasen und Konven- le-Typen in die Gruft schickt, dann wer- tionen, gelang ihm ein rasanter, komi- den aus den Märchen-Weisheiten des scher Krimi; weil er den Text nicht Textes plötzlich ganz alltäglicheErkennt- neunmalklug auseinandernahm, son- nisse. dern sich ganz auf die Macht- und Love- Das Böse ist immer und überall, so läßt Story in seinem Zentrum konzentrierte; sich Dorsts Klage zusammenfassen, kein weil er seine Schauspieler zu einem ge- Mensch hilft dem anderen, und niemand nauen, beiläufigen Realismus zwang. ist handlungsunfähiger und mitleidloser Handwerk sei ihm das Wichtigste als der Intellektuelle, der allezeit bloß überhaupt, behauptet Hartmann, das über die letzten Menschheitsfragen phi- der Autoren und das der Schauspieler losophiert: „Hinschauen, alles sehen, ebenso wie das des Regisseurs. Als aber nicht eingreifen“, heißt es im Text. 20jähriger, als er nicht bloß die Schulzeit Natürlich ist das Thema des Stücks ver- in Osnabrück und in einem britischen teufelt aktuell in einer Welt, in der Skin- Internat hinter sich hatte, sondern auch heads ein Zufallsopfer vor den Augen an- derer Fahrgäste aus der fahrenden S- Bahn hinausprügeln. Auch als wenige Ein Versöhner, Tage vor der Premiere ein Hamburger der am liebsten Kaufmann erschossen wurde, weil er ei- nem Killer in die Quere kam, reagierte Happy-Ends erzählt das sogenannte Volksempfinden nur mit einem Achselzucken: Hätte sich eben eine abgebrochene Kaufmannsausbil- nicht einmischen sollen, der Mann. dung, verschlug es ihn an die Schau- Hartmann aber interessiert sich nicht spielschule in Stuttgart. Nach einem für den naheliegenden Verweis auf die Jahr schmiß er hin, „weil man als Schau- Realität draußen, er konzentriert sich al- spieler keine Chance hat, wenn man sich lein auf die Logik der Menschen auf der nicht in einer Figur verlieren kann, Bühne: Sein Sinn für Geradlinigkeit, sein sondern sich dauernd selber kontrol- Blick fürs Wesentliche sind seine wichtig- liert“. sten Talente. Drei Jahre lang blieb er dann als Assi- Und seltsamerweise hat der scheinbar stent am geschmähten und heute zuge- biedere Ernst, mit dem er über seine Ar- sperrten Schiller-Theater in Berlin, wo beit spricht und noch zu den schlichtesten er bei Heribert Sasse zwar „auch mitbe- Allgemeinplätzen („Kunst ist immer klü- kam, wie ich’s nicht machen will“; vor ger als ich“) den mächtigen Schädel be- allem aber habe er gelernt, „die ana- deutungsvoll schief legt, sehr viel mit der chronistische Oase Theater zu lieben“. Kraft seiner Theaterarbeiten zu tun. Hartmann ist kein ungestümer Lieb- Schon 1992, als er noch in der Theater- haber, sondern ein vorsichtiger, unbe- provinz in Hannover inszenierte, haben irrt nachfragender. Einer, der die altmo- sie ihn mit einer „Emilia Galotti“ zum dischen Rätsel um Schuld und Angst, Theatertreffen eingeladen: Gerade weil um den Streit der Generationen und um er für diesen Abend auf alle Tricks und Bluffs des sogenannten kritischen Bil- * Mit Bernhard Schütz als Graf vom Strahl. M. HORN Schauspielerin Weber als Kleists „Käthchen“ in Hamburg*: Hellwach zum Ziel

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KULTUR

das Einmaleins der Liebe lösen will. Und wartet: nach all den beseelten Schwär- einHarmonisator und Versöhner, der am mern und zornigen Revoluzzern, nach liebsten ausschließlich Geschichten mit den Zertrümmerungs-Spaßmachern Happy-End erzählen würde. und den mönchischen Weihespielern Natürlich hat ihm das Spott eingetra- nun der junge Konservative; der Auf- gen. Als „Versprechen fürwilden Kitsch“ räumer, der die Spinnweben wegwischt tat die Frankfurter Allgemeine eine seiner und die Scherben zusammenkehrt. Inszenierungen ab – und bescheinigte Daß Hartmann sich als kämpferi- ihm „Talent zur Sanitäts-Regie: Er macht scher Feind der Fernseh- und Video- gesund, was kaputt bleiben will“. kultur gibt, daß er gegen eine „Zeit Als er dann vor etwas mehr als einem der Verdummung, in der uns Coca-Co- Jahr in München Shakespeares „Der Wi- la durch die Hirnwindungen läuft“, an- derspenstigen Zähmung“ zum Komö- wettert, braucht man nicht allzu ernst dienstadel verblödelte, hielten ihn man- zu nehmen – es sind die Allerweltsbe- che schon für einen erledigten Fall: Ein kenntnisse, die heutzutage für jeden Frühvergreister schien da am Werk zu ehrgeizigen Theatermann zum Pflicht- sein, der die große Ranschmeiße an die programm gehören. Lachsäcke im Publikum probt. In der Praxis aber ist der Regisseur Ein paar Monate später aber landete Hartmann einer, der die von der mo- Hartmann in Hamburg seinen bislang dernen Medienwelt genährten Unter- schönsten Coup. Aus Kleists „Käthchen haltungsbedürfnisse des Publikums ak- von Heilbronn“ machte er eine bei allem zeptiert; kein störrischer Krieger, der textgläubigen Ernst heiter-verspielte gegen Windmühlenflügel antritt, son- W. RABANUS „Der Widerspenstigen Zähmung“ in München: Zum Komödienstadel verblödelt

Tragikomödie. Einen echten, zum Slap- dern ein Tüftler, der sich die Abwinde stick begabten Engel läßt er darin auf- der Medienmaschinerie zunutze treten, dazu einen von seinen Leiden- macht. schaften gründlich verwirrten Ritterhel- Inmitten des Kellergegrummels von den – und in der Titelrolle spielt die Dorsts „Nach Jerusalem“ reden sie Schauspielerin Anne Weber statt eines einmal übers Theater, über die Frage, schlafwandelnden Wundertiers eine was einen Regisseur ausmacht: „Das hellwache, starke und sehr irdische jun- ist so, wie wenn Gott zu einem seiner ge Frau, die genau weiß, mit welchen Geschöpfe sagt, krieche dahin und be- Waffen sie ihr Ziel erreicht. wege dich“, lautet die Antwort, „und Hartmann ist ein stocknüchterner das Geschöpf macht Bewegungen, Träumer: „Bloß keine Wurzelbehand- nickt und dreht den Kopf und macht lung – das würde den Zauber zerstö- was Schönes, und in Wirklichkeit ist es ren“, hatte er sich für das Kleist-Stück eigentlich die Bewegung Gottes.“ vorgenommen. Klingt das nicht schon In der Rolle Gottes ist Matthias wieder nach Sanitäterarbeit? Hartmann eine Fehlbesetzung. Als Und doch sieht es so aus, als habe der Oberministrant aber macht er seine Sa- Theaterbetrieb auf einen wie ihn nur ge- che gar nicht schlecht. Y

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Lagerhaus für Mythen

Frederic Spotts „BAYREUTH. EINE GESCHICHTE DER WAGNER-FESTPIELE“ Wilhelm Fink Verlag, München; 360 Seiten; 98 Mark.

Zum Trost für die flaue Bayreuther „Ring“-Inszenie- rung beschert dieses Jahr allen Wagnerianern noch ein echtes Standardwerk: Spotts, Ex-Diplomat, Kul- turwissenschaftler und Fest- spielbesucher seit 1955, schildert den „umstrittensten Künstler aller Zeiten“ und seinen Bühnentempel, der von fern aussieht „wie ein Delacroix-Studie zum Gemälde „Der Tod des Sardanapal“ (1827) altes Lagerhaus aus Ziegel- steinen“, weder weihevoll Dramatiker der Leinwand Meinung. „Leidenschaftlich in die Leiden- noch zornbebend, sondern schaftlichkeit verliebt“, so der Dichter präzise und verblüffend ob- Charles Baudelaire, sei Euge`ne Delacroix jektiv. Und er kann erzäh- Alain Daguerre de Hureaux (1798 bis 1863) gewesen, ein Dramatiker der len: vom Bau, dieser klang- „DELACROIX – DAS GESAMTWERK“ Leinwand, ein Erzromantiker eben. Nun freundlichen, abenteuerlich Belser Verlag, Stuttgart; 368 Seiten; 298 Mark können sich auch deutsche Liebhaber ein billigen Holzkonstruktion, (bis Ende April 1995). gründliches Bild des Genies machen: Dieser an deren Aufrißskizze der bisher umfassendste deutsche Bildband, sonst wenig sparsame Groß- Sich selbst nannte der Maler einen „reinen komplett mit Werkverzeichnis, bringt den künstler eigenhändig schrieb Klassiker“. Zeitgenossen waren da anderer wilden Koloristen opulent zu Ehren. „Die Ornamente fort“; vom musterhaft braven Brünnhil- denpferd Cocotte, den 32 Propagandaspektakel ver- Täglich nem Buch gleich reihenwei- „blauen Mädchen“, die die kam. Er würdigt Wieland se. Und auch sonst weiß der Karten abreißen, aber auch Wagners mystische Kahl- drei Liter Bier souveräne, an Fernand Brau- von Wagners prekärer Haß- schlag-Ästhetik, die Insze- dels Sozialgeschichte orien- Neigung zum jüdischen Diri- nierungsschlachten nach des- Massimo Montanari tierte Gastro-Historiker al- genten Hermann Levi. Akri- sen frühem Tod und Wolf- „DER HUNGER UND DER lerlei wenig Bekanntes zu er- bisch belegt Spotts, wie sich gang Wagners Ringen um das ÜBERFLUSS. zählen: Kuchen etwa gibt es nach des Meisters Ende die herbe Erbe. Nur eine Frage KULTURGESCHICHTE DER erst seit dem Spätmittelalter, wunderliche Sippschaft von muß auch er offenlassen: Ob ERNÄHRUNG IN EUROPA“ statt Zucker wurde lange Ho- Witwe Cosima im Traditi- das ingeniöse Opernhaus, C. H. Beck Verlag, München; nig verwendet. Kartoffeln, onseifer überbot, bis zur laut Dirigent Joseph Keil- 252 Seiten; 48 Mark. obgleich seit Kolumbus be- Ära der Hitler-Verehrerin berth tontechnisch „das här- kannt, erlebten einen späten Winifred Wagner, als der teste“ der Welt, seinen eige- Wenn König Peter IV. von Boom um 1770, als wieder Festspielbetrieb zum NS- nen Mythos überleben kann. Aragon Hofgäste empfing, einmal Hungersnöte Qual war er auch für Fremde so- und Tod gebracht hatten. fort erkennbar: Der selbstbe- Aus einer Unzahl von Details wußte Herrscher hatte näm- wächst so ein Panorama lich 1344 verfügt, „daß auf abendländischen „Ernäh- Unserem Teller Platz für die rungs-Stresses“ mit Fleisch- Speisen von acht Personen perioden und Brot-Jahrhun- ist“. Was übrigblieb, gar ver- derten, Notrezepten und uto- schimmelte, konnte ja hinter- pischen Märchenträumen her an Arme verteilt werden. vom Schlaraffenland. Selbst Kein Einzelfall, diese Fettle- Rubensdamen bekommen zu be – Beispiele für Prestige- Recht ihr Fett: Ein gut sicht- Gelage, Freßorgien, Wett- barer Speckansatz nämlich schlemmereien zum Beweis bewies Wohlstand – und so der Männlichkeit oder auch auch Eleganz. Nach Schlank- Tagesrationen von drei Li- heit dagegen hungert man tern Bier pro Kopf (Kinder erst seit ganz wenigen Jah- eingerechnet) bietet Massi- ren. Montanari: „Nur eine mo Montanari, wohl der be- sehr reiche Gesellschaft kann

AKG ste Kenner der europäischen es sich erlauben, die Armut Bayreuther Festspielhaus (Gemälde von 1892) Ernährungsgeschichte, in sei- zu schätzen.“

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helmstraße verlagert. Nach gut übersetzt vorliegen, folgt den relativ unaufdringlichen der weise US-Realist dem ei- Gebäuden von Bismarck bis genen Leitsatz, daß „nur die Schleicher wurde um die Wil- Dinge Ideen enthalten“. helmstraße herum seit 1933 Bunt, deftig und voll skurri- pompös gebaut. Die DDR ler Typen ist schon seine verwandelte nach dem Krieg Lehrzeit in New Yorker das einstige Prachtre- vier in eine sozialisti- sche Plattenbauwüste. Jetzt wollen ausländi- sche Botschaften wie- der ihre Stammsitze be- ziehen. Ein wichtiges Baurelikt hat der Autor allerdings übersehen: die sogenannten Lie- bermann-Säle der Kunstakademie am Pa-

riser Platz, wo Hitler C. HANSER VERLAG und Speer ihre Germa- Williams (1936) nia-Pläne ausheckten. Sie stehen heute noch, kaum Krankenhäusern: Neben Kli- beachtet, ganz in der Nähe nikchef Krumwiede, genannt des Brandenburger Tors. „Der Zorn Gottes“, gibt es da stämmige Schwestern, an Lyrische denen der kesse junge Assi- stenzarzt seinen Charme und Schnappschüsse mehr erprobt. Zynisch je- doch wird er nie – selbst sei- William Carlos Williams nem treuen Fischlieferanten „DIE AUTOBIOGRAPHIE“ widmet Williams ein liebe- Übersetzt von Werner Schmitz. volles Kurzporträt. Viele ly- Hanser Verlag, München; L. DEMPS rische Schnappschüsse er- Architekten-Entwurf für Berlin (vor 1735) 528 Seiten; 58 Mark. bringt der lange Europaauf- enthalt 1924: etwa einen Be- Phantombild Politik. Aber von den preu- Immer wenn gerade kein such im Pariser Atelier des ßischen Adelspalais und spä- Patient im Wartezimmer sei- Bildhauers Brancusi („ein der Herrschaft teren Nazi-Ministerien sind ner Landpraxis saß, holte bäuerlicher Typ mit langem heute nur noch fünf Prozent der Doktor die Schreibma- grauen Haar wie ein Hirten- Laurenz Demps Bausubstanz erhalten. Mit schine hervor und arbeitete hund“) oder die Szene, wie „BERLIN-WILHELMSTRASSE“ einer einmaligen Fülle neuer weiter – an seinen Gedich- der nahezu blinde Wortjon- Ch. Links Verlag, Berlin; Dokumente zeichnet der ten. Für William Carlos Wil- gleur James Joyce beim Ein- 342 Seiten; 98 Mark (bis Berliner Historiker Laurenz liams (1883 bis 1963), längst schenken das Weißweinglas Jahresende). Demps ein Phantombild des ein Klassiker der literari- verfehlt. „Ich habe irgend- damaligen Regierungsvier- schen Moderne, waren wie von Tag zu Tag gelebt“, Für anderthalb Jahrhunderte tels. Von 1799 an wurden Kunst und Leben bestens meint Williams bescheiden. war die Berliner Wilhelm- Amtsstellen aus dem Berli- vereinbar. Auch in seinen Aber jeder Tag ist eine straße Zentrum deutscher ner Stadtschloß an die Wil- Memoiren, die nun endlich Freude für seine Leser.

Denker wider das Weib des Geschlechts da“. Unter Philosophen stand er mit die- sem Tick nicht allein. Kant etwa, fürs Leben abgeschreckt durch die Annäherungsversuche einiger turtelhafter Kö- Friedrich Wilhelm Korff nigsbergerinnen, duldete keine Damengesellschaft, weder „DER PHILOSOPH UND DIE FRAU. ZUR GESCHICHTE EINER am Mittagstisch noch gar im Bett. Und Hegel, obgleich MESALLIANCE“ Ehemann auf Sparflamme, versteifte sich zu der Behaup- Klöpfer & Meyer Verlag, Tübingen; 124 Seiten; 29 Mark. tung: „Der männliche Testikel ist das tätige Gehirn, der Kitzler ist das untätige Gefühl überhaupt.“ Beängstigend Warum er den Ehehafen mied, wußte der alte Arthur Scho- viele solcher Kollegen-Kernsprüche kennt Friedrich Wil- penhauer wohl: „Endlose Ausgaben, Kindersorgen, Wider- helm Korff, selbst Philosophieprofessor in Hannover, und spenstigkeit“ müsse ein denkender Mann dort fürchten, weist mit Scharfblick und Augenzwinkern gleich noch auf „Eigensinn, Alt- und Garstigwerden nach wenigen Jahren, die historische Ursache hin: Schuld an der „unfairen Über- Betrügen, Hörneraufsetzen, Liebhaber und Hölle und Teu- tragung des Weltekels auf die Frau“ seien Platon und des- fel“. Allenfalls verlieben mochte sich der Frankfurter Hage- sen christliche Nachbeter, die meinten, man könne nicht stolz des öfteren, um mit gleichsam geharnischter Selbstver- Gott (oder seinen Ersatz) und eine Frau zugleich lieben. achtung den „wollüstigen Wahn“ des Triebes auszuleben – Korff bekämpft nun die flachen Vorurteile vieler Tiefden- denn Weiber seien „im Grunde ganz allein zur Propagation ker auf die beste Art: durch Wegschmunzeln.

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KULTUR

SPIEGEL-Gespräch „Das hält kein Mann aus“ Der Schauspieler Arnold Schwarzenegger über Schwangerschaft, seine Karriere und seinen neuen Film

SPIEGEL: Herr Schwarzenegger, Sie, der Muskelmann, nun schwanger im rosa- farbenen Umstandskleid? Was sagen Ih- re Fans dazu? Schwarzenegger: Sicher, die Leute, die mich am liebsten bewaffnet sehen, wer- den vielleicht enttäuscht sein . . . SPIEGEL: . . . wenn Sie auf der Lein- wand ausrufen: „Meine Brustwarzen werden so empfindlich . . .“ Schwarzenegger: . . . aber ich kann mich nicht auf Action-Filme beschrän- ken, sondern will auch meine anderen Talente unter Beweis stellen, meinen Sinn für Humor. Besonders jene Men- schen, die Gewalt verabscheuen, sind von „Junior“ angetan. SPIEGEL: Den möglichen Imageverlust nehmen Sie bewußt in Kauf? Schwarzenegger: Als ich die Rolle über- nommen habe, war mir ganz klar, wel- ches Risiko ich damit eingehen würde. Immerhin ist das das absolute Gegenteil dessen, was ich bisher gemacht habe: Der Mann, der auf der Leinwand aus- zog, das Böse zu töten, die Feinde um-

zubringen, kreiert Leben und trägt ein ACTION PRESS C. CALLIS / CONTACT / FOCUS Kind aus. Das schockiert vielleicht so Hollywood-Star Schwarzenegger*: „Mein Leben ist wie ein Märchen“ manchen, mich allerdings bringt das in der Karriere weiter nach vorn. ist, daß ich auch in Zukunft wieder Ko- Action-Filmen so erfolgreich bin, „box SPIEGEL: Der Macho-Typ ist Vergan- mödien spielen werde, fröhliche Unter- office proof“, wie die Amerikaner sa- genheit? haltung für die Familie. gen, eine sichere Bank. Fünf meiner Fil- Schwarzenegger: Zu früh gefreut – na- SPIEGEL: Der Starke wird schwach: Ko- me haben mehr als 250 Millionen Dollar türlich mache ich weiterhin Action-Fil- stet das viel Kraft? eingespielt, „Terminator 2“ sogar mehr me. Ich werde meine Palette erweitern. Schwarzenegger: Ich bin wirklich kein als 500 Millionen. Inzwischen kann ich Vielleicht mache ich einen Western, ei- gewalttätiger Typ. Ich wollte immer Ko- mir aussuchen, welche Filme ich ma- nen großen Kriegsfilm, vielleicht sogar mödien spielen, nur hat man mir die- chen will, und einfach bestimmen: Mein mal einen romantischen Streifen. Sicher se Rollen nicht gegeben, weil ich mit nächster Film ist eine Komödie. SPIEGEL: Es gab in jüng- ster Zeit einige erfolgrei- Arnold Schwarzenegger che Komödien aus Eng- land, sogar aus Deutsch- wechselt in seiner neuen Hollywood-Ko- land. Was hält Sie eigent- mödie „Junior“ Geschlechterrolle und lich davon ab, mit einem Charakterfach: Er spielt einen sanftmüti- europäischen Regisseur gen, experimentierfreudigen Wissen- einen europäischen Film schaftler, der sich eine menschliche Ei- zu machen – die niedrige zelle implantieren läßt und erfolgreich ein Gage? Kind austrägt. Die US-Kritiker, die den Schwarzenegger: Mir alerten Muskelmann bislang reserviert geht es überhaupt nicht betrachteten, bescheinigen dem Filmmüt- mehr um Geld. Davon terchen Arnold jetzt sogar bemerkenswer- habe ich genug. Weder te schauspielerische und humoristische für „Junior“ noch für den Talente. Der ehemalige Bodybuilder, 47, „Kindergarten Cop“ er- der mit harten Action-Reißern („Termina- halte ich Gage. Ich bin an tor“) wahre Dollarfluten in die Kinokassen

W. M. WEBER spülte, betreibt nebenbei die Restaurant- * Oben: in „Junior“, „Conan, der Schwarzenegger (r.) beim SPIEGEL-Gespräch* Kette „Planet Hollywood“. Barbar“; unten: mit Redakteur Helmut Sorge in Wien.

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Werbeseite den Einnahmen beteiligt. Ich bin be- reit, überall zu spielen, in Deutschland oder auch in Graz. Nur das Drehbuch und der Regisseur müssen stimmen. Vor zehn Jahren hätte ich auf diese Frage anders geantwortet. Heute sage ich: Europa, ja, absolut keine Frage. Ich suche die Herausforderung als Schauspieler. SPIEGEL: Das klingt reichlich erhaben. Schwarzenegger: Wer nicht bereit ist, Risiken einzugehen, wird nie wissen, wie weit er gehen kann. Das habe ich bereits als Bodybuilder begriffen. Wenn du damit zufrieden bist, 150 Kilo zu stemmen, und niemals 5 Kilo dar- aufsetzt, verbesserst du dich nie. Ich suche das Risiko. SPIEGEL: Heute, als Weltstar und Mul- timillionär, haben Sie leicht reden. Schwarzenegger: Früher war es nicht anders. Ich habe nie einen Vertrag mit einem Studio unterschrieben, der mir drei Filme hintereinander garantiert „Die Gründung einer Familie war bisher meine beste Tat“

hätte. Ich habe mich auch in schwierigen Zeiten nicht dazu verleiten lassen, mich für eine Fernsehserie zu verpflichten. Dieses Risiko zwingt mich immer wie- der zu Hochleistungen. SPIEGEL: Zweifel an sich selbst kennen Sie offenbar nicht? Schwarzenegger: Nein, ich zweifle nie. Ich habe volles Vertrauen in meine Zu- kunft, und das ist nicht erst seit gestern so. Stellen Sie sich mal vor: In einem kleinen Dorf in Österreich sitzt ein Jüngling, ein Bodybuilder in spe, und prophezeit: „Eines Tages werde ich die als unbesiegbar eingeschätzten Amis schlagen und der größte Bodybuilder al- ler Zeiten werden.“ Und er hat’s ge- schafft. SPIEGEL: Eine solche Philosophie kann man sich auch zusammendichten, wenn man oben angekommen ist. Es stimmt doch wohl, daß Sie bereits nach einer Niederlage bei einem Mister-Univer- sum-Wettbewerb das Gefühl hatten, „die Welt geht unter“. Schwarzenegger: Na ja, daß es gleich so hoch gehen würde, das habe ich natür- lich nicht gewußt, und ich will ja auch nicht herumreden und so tun, als habe es nie Depressionen gegeben oder Zwei- fel, weil es an einem Tag nicht so richtig klappte. Aber ich sehe die Karriere wie die Börse, mal klettern die Aktien, mal fallen sie. Natürlich geht man zuweilen in die Knie, aber ich habe mein Ziel nie aus den Augen verloren. Sehen Sie sich meinen Weg an – ein Österreicher mit meinem Namen, meinem Dialekt, einer der Größten Hollywoods.

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KULTUR

SPIEGEL: Das scheint selbst Sie zu über- fach wissen, wie meine Arbeit beurteilt raschen. wird. In der Komödie zählt nicht die Schwarzenegger: Überrascht? Eine Un- physische Herausforderung, sondern tertreibung. Schockiert bin ich, wenn vor allem die schöpferische, die schau- ich darüber nachdenke. spielerische Leistung. Wenn man dafür SPIEGEL: Andere Männer in Ihrem Al- gelobt wird, geht’s in der Karriere mit ter klagen nicht selten über eine Midlife- einem gigantischen Schritt weiter. crisis. Kennen Sie so etwas? SPIEGEL: Mehrere US-Kritiker haben Schwarzenegger: Nein, ich habe nicht Sie mit Cary Grant verglichen. Ehrt Sie das Gefühl, daß ich im Leben etwas ver- das? Oder wären Sie lieber wie Clint paßt habe. Die Leute sagen, ich sehe Eastwood? heute besser aus als mit Zwanzig. Ich Schwarzenegger: Das sind beides Große liebe meine Mutter, meine Frau, meine des Filmgeschäfts. Der Vergleich mit ih- Kinder. Die Gründung einer Familie nen ist jedenfalls eine Ehre für mich. war das Beste, was ich je getan habe. SPIEGEL: Eine Kritikerin meinte aller- SPIEGEL: Das klingt wie Schwarzeneg- dings, Sie und Ihr Partner Danny gers Märchenstunde. DeVito erinnerten sehr an „Dick und Schwarzenegger: Ja, mein Leben ist wie Doof“. ein Märchen. Aber natürlich will ich Schwarzenegger: Auch das bewerte ich nicht in Selbstzufriedenheit versinken. als positiv. Das bedeutet doch nichts an- SPIEGEL: Als Zwölfjähriger, so geht die deres, als daß mein Humor angekom- Mär, haben Sie in den Schulferien im men ist. Was will ich mehr? Sägewerk gearbeitet, um sich einen SPIEGEL: Den Oscar? Trainingsanzug zusammenzusparen. Schwarzenegger: Dahin werde ich hof- Schwarzenegger: Ich habe nie verges- fentlich auch noch kommen. Das wäre sen, wo meine Wurzeln sind. Ich wußte der absolute Höhepunkt. sehr früh in meinem Leben: Du mußt SPIEGEL: Haben Sie sich selbst eigent- kämpfen. lich mal die Frage gestellt: Was habe SPIEGEL: Sind Sie vor der Premiere, vor ich, was die anderen nicht haben – wir dem ersten Wochenende, an dem einer meinen jetzt nicht die Muskeln. Ihrer Filme anläuft, nervös? Schwarzenegger: Letztlich ist es mir Schwarzenegger: Nicht nur an dem er- egal, was es ist. Niemand kann es erklä- sten Wochenende, sondern wochenlang ren. Mir reicht zu wissen, daß ich das ge- ist man nervös. Immer neue Fragen: wisse Etwas habe. Ein Kameramann hat Was bringt der Film in den USA? Wie mir einmal gesagt: „Arnold, du bist ein- kommt er an im Ausland? Wie viele Vi- fach perfekt geschaffen für die Lein- deos werden verkauft? Und schließlich wand – dein Gesicht, dein Ausdruck. ist mir stets bewußt: Du wirst immer nur You have it.“ Jene, die dieses gewisse an den großen Erfolgen, wie „Termina- Etwas nicht haben und tolle Schauspie- tor 2“ und „True Lies“, gemessen. Bei ler sind, übernehmen die wichtigen Cha- den Komödien interessieren mich die rakterrollen, und die wenigen, die über Zahlen weniger – wichtig sind die Kriti- „it“ verfügen, werden zu Stars. ken. SPIEGEL: Trifft es Sie persönlich, wenn SPIEGEL: Wieso das? Sie als Schauspieler nicht ernst genom- Schwarzenegger: Ich habe mir von men werden? „Junior“ aus dem ganzen Land die Kriti- Schwarzenegger: Am liebsten wäre mir ken zuschicken lassen. Ich wollte ein- natürlich, wenn ich nur gute Kritiken KINOARCHIV ENGELMEIER „Terminator“-Darsteller Schwarzenegger: „Ich bin kein gewalttätiger Typ“

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KULTUR

bekäme. Ich bin allerdings Realist. Ich SPIEGEL: In vielen Filmen wird sugge- auch?“ Katherine hatte offenbar mit ih- muß einfach hinnehmen, daß die Kriti- riert, daß mit Gewalt Probleme zu lösen ren Mitschülern darüber geplappert. ker diesen oder jenen Film als „ober- seien; das dürfte manchen Jugendlichen SPIEGEL: Hat sich mit dieser Rolle Ihre flächlich“ oder „ohne gesellschaftlichen zur Nachahmung verleiten. Einstellung gegenüber Frauen geän- Wert“ qualifizieren. Nur: Wenn der Schwarzenegger: Die wahren Ursachen dert? Staub sich gesetzt hat und ich auf mei- für die Gewalt sind nicht Filme, sondern Schwarzenegger: Was wollen Sie mir ne Karriere zurücksehe, dann möchte der Zerfall der Familie, die Entwurze- unterstellen? Ich habe Frauen immer ich dies wie John Wayne tun können, lung der Kinder, die, auf sich allein ge- geachtet, nicht nur meine Mutter. Ich der eine ganze Palette drauf hatte, stellt, in den Straßen aufwachsen, weil habe drei Kinder, und wie tapfer Frauen Kriegsfilme, Cowboystreifen, Abenteu- Mutter und Vater arbeiten müssen oder mit Schwangerschaften umgehen, habe rergeschichten, romantische Filme. geschieden sind. Unserer Gesellschaft ich aus nächster Nähe erlebt. Bei der SPIEGEL: Sie haben gesagt, daß Sie nie fehlt es an Liebe, Fürsorge und Mensch- Geburt meiner Kinder war ich dabei. In an sich selbst zweifeln. Auch nicht, lichkeit. dieser Situation sind Männer im Ver- wenn Sie eigene Filme anschauen? SPIEGEL: In „Junior“ erklären Sie, etwa gleich zu Frauen Schlappschwänze. Schwarzenegger: Doch, doch. Ich bin im dritten Monat schwanger: „Mein SPIEGEL: Schwarzenegger eingeschlos- sehr selbstkritisch. Wenn ein Film ge- Bauch gehört mir.“ Ein Bekenntnis zur sen? lungen ist, weiß ich das. Und wenn ei- „Pro-choice-Fraktion“, also jenen Frau- Schwarzenegger: Auch der. Wenn ich ner danebengegangen ist, bin ich der en, die sich die Freiheit zum Schwanger- daran denke, wie meine Frau, wie die GAMMA / STUDIO X PHOTOFEST Familienvater*, Filmmutter Schwarzenegger: „Was für eine Erleichterung, den dicken, schweren Bauch abzuschnallen“

erste, der sich das selbst eingesteht. schaftsabbruch nicht nehmen lassen Frauen überhaupt die Qualen einer Ge- Wenn man nie Schmerzen oder Trauer wollen? burt hinnehmen. Das hält kein Mann spürt, kann man Glück oder Freude Schwarzenegger: Genau das Gegenteil aus. Ich hatte immerhin die Möglich- nicht genießen. ist gemeint. Ich sollte das Experiment keit, nach geleisteter Arbeit den dicken, SPIEGEL: Nennen Sie bitte einen Film, und damit meine Schwangerschaft ab- schweren Bauch abzuschnallen. Und auf den Sie nicht so stolz sind. brechen, doch ich bestand darauf, mein was für eine Erleichterung war das. Die Schwarzenegger: „Herkules in New Kind auszutragen. Frauen stehen, mal abgesehen von der York“, Jahrgang 1970. Wenn ich den se- SPIEGEL: Ist das Ihre politische Bot- Schwangerschaft, unter erheblichem he, sage ich mir, das ist eine Katastro- schaft – gegen den Schwangerschaftsab- Druck: Sie suchen Antwort auf die Fra- phe. Das war ja so blöde. Der taucht im- bruch? gen, werde ich Mutter oder verfolge ich mer wieder mal in einem Fernsehkanal Schwarzenegger: Nein. Das ist eine meine Karriere. Oder mache ich beides. auf – unerträglich. Entscheidung, die jede Frau mit ihrem Oder beschränke ich mich auf die Fami- SPIEGEL: Können Sie eigentlich den eigenen Gewissen vereinbaren muß. lie. Nein, ich bleibe lieber Mann. Falls Vorwurf von Kritikern nachvollziehen, SPIEGEL: Wie hat denn Ihre fünf Jahre es eine Wiedergeburt geben sollte, ziehe wonach Sie mit Ihren Action-Filmen alte Tochter Katherine auf Ihre Schwan- ich es immer noch vor, als Mann auf die Gewalt verherrlichen? gerschaft reagiert? Welt zu kommen. Schwarzenegger: Im Prinzip ja. Unsere Schwarzenegger: Als sie einmal zu den SPIEGEL: Die Gesellschaft von Männern Gesellschaft ist äußerst gewalttätig ge- Dreharbeiten kam, habe ich die Perücke schätzen Sie ohnehin mehr als die von worden, und man sucht nach Erklärun- abgenommen und mir den Bauch abge- Frauen – trotz Ihrer Schwangerschaft gen und Schuldigen. Ich bin allerdings schnallt, damit sie sehen konnte, daß und Ihrer Vorbereitungen für eine anderer Meinung als jene, die Holly- der Papa immer noch der Papa ist. schmerzfreie Geburt? wood für den Zerfall unserer Gesell- SPIEGEL: Haben Sie sie überzeugen Schwarzenegger: Jedes zu seiner Zeit – schaft verantwortlich machen. Gewalt- können? zärtliche Stunden mit Frauen sind mir szenen im Film hat es vor 20 Jahren be- Schwarzenegger: Offenbar nur be- lieber. Zigarren allerdings schmecken reits gegeben, und sie hatten schon da- grenzt. Ihr Schulleiter hat mich eines mir in der Gesellschaft von Männern mals kaum Auswirkungen auf die Ge- Tages ein wenig fragend, ein wenig be- besser. Sie verkraften den Rauch bes- sellschaft. lustigt zur Seite genommen und mir zu- ser. geflüstert: „Ich höre, Sie tragen auch SPIEGEL: Herr Schwarzenegger, wir * Mit Ehefrau Maria. Frauenkleider, und schwanger sind Sie danken Ihnen für dieses Gespräch. Y

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KULTUR SZENE

Theater keit geht es, so enthüllt vorab das Staatsschauspiel Dres- Malerei den, wo Heins „Randow“ an diesem Mittwoch uraufge- bei Mondlicht führt wird, natürlich ums Ach, wie schön war einst der „Bewegen in einer bewegten Oderbruch. Selbstzufrieden Zeit“. Die Sache endet wie und allein mit ihrem Hund erwartet: Anna resigniert, „Frosch“ lebt Anna, eine der Spekulant investiert, und Malerin, die am liebsten in das Theater resümiert: „Ein mondhellen Nächten zum Zeitblick, der Einblick in Pinsel greift, in ihrem Haus die Zeit ermöglicht.“ Eine im beschaulichen Randow- echt teutonische „Komödie“ Tal. Doch nach der Vereini- eben, wie Hein sein Werk gung geht’s plötzlich rund in schelmisch nennt. der Idylle an der deutsch-pol-

nischen Grenze. Spekulan- Festivals G. COZZI / ATLANTIDE / SCHAPOWALOW ten, Asylanten und Wende- Kasino in Baden-Baden gewinnler aus Ost und West Karajan bedrohen die Einsamkeit der Quelle auftun und mit dem verschiedenen Kontinenten. Mondlichtmalerin. Christoph als Kurschatten Kurschatten des verbliche- In New York hat der Regis- Hein, 50, der 1989 in seinem Mit ihrem Galopprennen lie- nen Herbert von Karajan Gä- seur Louis Malle aus einer Stück „Die Ritter der Tafel- gen sie vorn, im Kasino läuft ste anlocken. 1973 hatte der Theaterbearbeitung von Da- runde“ die Agonie der DDR die Kugel wie geschmiert, Maestro in Salzburg seine ei- vid Mamet einen Film mit besang, beschreibt in seinem und die mineralischen Bäder genen „Pfingstkonzerte“ be- dem Titel „Vanya on 42nd neuen Drama vordergründig erquicken Sieche und Stadt- gründet. Die Konzertreihe Street“ gemacht. Im Wales die Schlacht um Annas wert- säckel. Nun will Baden-Ba- soll jetzt womöglich an den der Jahrhundertwende ist die volles Anwesen. In Wirklich- den auch noch eine klingende Schwarzwald-Rand übersie- britische Wanja-Filmfassung deln. Der von dem einstigen „August“ angesiedelt, an der Stuttgarter Landesvater Lo- Anthony Hopkins als Haupt- thar Späth eingefädelte, frü- darsteller und Regisseur be- hestens für 1998 vorgesehene teiligt ist. Und in der hei- Ortswechsel brachte inzwi- ßen Einöde Australiens spielt schen Mißtöne in Baden- die Wanja-Version „Country Württembergs große Koaliti- Life“ des Regisseurs Mi- on. Während CDU-Minister- chael Blakemore. Aber auch präsident Erwin Teufel dem im postsowjetischen Rußland neuen „Glanzpunkt unseres gibt es neues Tschechow-In- Kulturlebens“ Zuschüsse zu- teresse: In Moskau präsen- sagte und sein Parteifreund, tiert Sergej Solowjew eine der Baden-Badener Ober- Neuverfilmung der „Drei bürgermeister Ulrich Wendt, Schwestern“. Ihre Besonder- sogar den Bau eines 120 Mil- heit ist, in einem sonst rein lionen Mark teuren Festspiel- russischen Ensemble, der hauses ankündigte, sperrt Berliner Otto Sander in der Jorn-Gemälde „Sturzbetrunkene Dänen“ (1960) sich die Stuttgarter Kunstmi- männlichen Hauptrolle. nisterin Brigitte Unger-Soy- Kunst ka (SPD) gegen den subven- tionsbedürftigen Import aus Österreich. Für Montag die- Rausch im Norden ser Woche ist in Stuttgart „Verbrauchen heißt herstellen“, behauptete der dänische zum Gipfel über das Prestige- Künstler. Er nahm sich Flohmarktbilder zu hektischer projekt geladen. Prognose: Übermalung vor, predigte mit Freunden in der internatio- Die Karajaniden kommen im nalen „Cobra“-Gruppe den Respekt vor Kinderzeich- Ländle nieder. nung und Volkskunst und gründete ein „Institut für ver- gleichenden Vandalismus“. Asger Jorn (1914 bis 1973) Film profilierte sich als ungebärdiges Temperament, als wilder Denker und Farb-Orgiast. Sein bildnerisches Werk wird Kino-Boom jetzt (bis 12. Februar) in der Frankfurter Schirn-Kunst- halle gezeigt, die ihn auch als Bronzeplastiker, Keramiker für Tschechow und Teppichweber präsentiert – so mit einer gewebten 14 Die Mysterien des Zufalls Meter „Langen Reise“. Im Zentrum freilich steht Jorns sorgen dafür, daß Anton rauschhaft-gestische Malerei mit ihren Anklängen an Tschechows 100 Jahre alte Aberglauben und nordische Mythologie. Seine „Sturzbe- Komödie „Onkel Wanja“ trunkenen Dänen“ erregten 1964 Aufsehen, als das Bild nun gleichzeitig in drei Ver- in New York mit einem Guggenheim-Preis (2500 Dollar) sionen auf die Leinwand

ausgezeichnet werden sollte. Jorn wies das Geld zurück. kommt, alle drei in engli- SONY PICTURES CLASSICS scher Sprache, aber aus drei Malle-Film „Vanya on 42nd Street“

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KULTUR

52 000 Deadline-Hefte werden in Groß- Zeichner Hewlett ist sie „komplett Comics britannien pro Monat abgesetzt, eine durchgedreht und brutal“: „Sie würde Riesenauflage für ein Comic-Under- den Regenwald niedermähen, nur zum ground-Magazin. Ähnlich gut verkaufen Spaß.“ sich die Heftchen in den USA, in Japan, Der wird „Tank Girl“ auch im neuen Brutal und Brasilien, Spanien und Finnland. deutschen Magazin nicht verdorben. Sie In Deutschland, wo erst ein Sammel- darf „aggressiv und rotzfrech“ bleiben, band (Alpha Verlag) erschien, ist der versichert Mrositzki. Kritik an der durchgedreht Terror-Teenager noch weitgehend unbe- Destruktivität („Aaaarrfff“, „Berst“, kannt. Ab April nächsten Jahres wird „Zerplatz“) seines neuen Babys will der „Tank Girl“, eine Underground-Figur Tank Girl zum „Schnupperpreis“ von 5 Verlagschef nicht zulassen: „Sie bürstet aus England, ist unter Jugend- Mark (später 8,90 Mark) als Monatsma- einfach gegen jeden gesellschaftlichen gazin bei Ehapa erscheinen, kurz darauf Strich.“ lichen zur Pop-Ikone geworden. soll der Film anlaufen. Zielgruppe sind Für Regisseurin Rachel Talalay ist das Mädchen ab 15 – eine Käuferschicht, Berserker-Biest eine Jeanne d’Arc der ce-T schwitzt. Der Rap-Musiker, in die sich bislang kaum für Comics interes- Endzeit. Laut Drehbuch kämpft „Tank einer dreistündigen Sitzung von Mas- sierte. Girl“ für Freiheit und Gerechtigkeit, die Ikenbildnern in eine Art Känguruh ehernen Grundsätze verwandelt, kämpft unter dem Kunst- Hollywoods. Dennoch fell mit dem Wüstenklima von Arizona: war es schwierig, ihre „Die Leute sind cool, aber in diesem Rolle in der 30-Millio- Anzug ist es verdammt heiß.“ nen-Dollar-Produkti- Die Kollegin Lori Petty kommt bes- on zu besetzen. Jane ser mit der Hitze zurecht. Mit kahlra- Horrocks, die erste siertem Schädel, bekleidet nur mit Kandidatin, winkte knappem BH, kurzer Hose und gleich ab. Emily Lloyd Kampfstiefeln, spielt sie den ersten schied aus, als sie eine weiblichen Terminator in einem Holly- Kopfrasur verweigerte wood-Film. und lieber ein Käppi Er heißt „Tank Girl“, und Petty, 30, tragen wollte. Lori kämpft mit einem Panzer, einer Horde Petty endlich opferte Känguruh-Mutanten und einer Überdo- ihren Schopf und rette- sis Haß an der Seite von Ice-T und te den Film. Außer ih- Rock-Sänger Iggy Pop gegen den rem kahlen Schädel Schurken Kesslee (Malcolm McDo- schätzen die Produ- well), der auf einer von Meteoritenein- zenten vor allem Pet- schlägen verwüsteten Erde die letzten tys Einstellung. „Das Trinkwasserreserven kontrolliert. ,Tank Girl‘ ist wie ich Der Science-fiction-Film basiert auf früher“, sagt sie, „ein einer Comic-Vorlage. „Tank Girl“ ist ziemlich seltsames, die beliebteste Serie des britischen Un- ziemlich smartes Mäd- derground-Magazins Deadline. Zeich- chen.“ ner Jamie Hewlett, 26, und Texter Nicht nur das Outfit, Alan Martin, 28, zwei Kunststuden- auch „Tank Girls“ ten aus dem beschaulichen Seebad schmutziger Wort- Worthing an der Südküste Englands, schatz bereitete dem erfanden die gewalttätige Göre vor Filmteam Kopfzerbre- sechs Jahren. Hewlett: „Wir wollten all chen. Damit der Strei-

den dämlichen Comic-Männchen in VERLAG fen für die jugendli- den Arsch treten.“ chen Comic-Fans frei- Hewletts Heldin ist eine Art Alice gegeben werden kann,

Schwarzenegger, eine Mischung aus ge- ALPHA-COMIC mußte die wüste Hel- walttätiger Postemanze und femininem Comic „Tank Girl“: Wie Alice Schwarzenegger din mit Ausdrücken Terminator. Ihr Zuhause ist ein Pan- wie „fuck“ oder „shit“ zer, ihr Operationsgebiet das australi- „Etwa 90 Prozent unserer Leser sind haushalten. Daraufhin faxten Hewlett sche Outback des Jahres 2033. männlich“, schätzt Klaus M. Mrositzki, und Martin eine Liste mit 400 Alterna- In England stieg das Comic-Mädchen Verlagsleiter der Ehapa Comic Collec- tiv-Flüchen, darunter „Fleischmütze“, schnell zur Kultfigur auf. Bands wie die tion. Doch ganz wohl ist ihm offenbar „Roboterkacke“ und „Kotzohr“. Mädchencombo „Fuzzbox“ traten im nicht bei den Gewaltorgien der neuen „Bullshit“, sagen die wahren Fans zu „Tank Girl“-Look auf, das Trendmaga- Adoptivtochter des Hauses. „Langen solchen Kompromissen. Sie wehren sich zin The Face reihte „Tank Girl“ gleich Gesprächen“ mit „Tank Girl“-Redak- gegen die Lektion „guter Erziehung“, hinter Karl Lagerfeld auf Platz 26 der teur Georg Tempel folgte der Beschluß, die ihrer amoralischen Kultfigur im Top-100-Modemacher ein, und briti- den Heften mit redaktionellen Beiträ- Leinwandleben zuteil wird. Der Postbo- sche Lesben- und Schwulengruppen gen zum Thema „Jugendkultur“ einen te von Worthing, Sussex, hat an den trugen „Tank Girl“-T-Shirts bei ihren pseudopädagogischen Anstrich zu ge- Protestbriefen erregter Comic-Leser in- Demos für mehr politische Rechte. ben. zwischen schwer zu tragen. Den neuen „Für Jungen ist sie ein feuchter Denn „Tank Girls“ Moral reicht nicht Jungmillionär Hewlett plagt inzwischen Traum in Kampfstiefeln, für Mädchen weiter als der Lauf ihrer Panzerkanone das schlechte Gewissen, ihm ist die die Ikone des Postfeminismus“, erklärt – Punks wirken neben ihr wie Figuren Filmversion von „Tank Girl“ zu weich: Hewlett den Erfolg seiner Schöpfung. aus einem Krippenspiel. Selbst für „Das ist Rambo mit Titten.“ Y

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KULTUR

pe und für eine Viertelmillion Dollar in Literatur die USA. Agenten sind, so ein Insider, „längst die wahren Drahtzieher“ im internatio- nalen Geschäft mit der Ware Buch; von Das Geschäft vielen wegen ihrer Macht beargwöhnt, von einigen ihrer harten Praktiken wegen respektiert – von allen gebraucht. Carole Blake machte Ridpath zumMil- mit der Ware Buch lionär. Allein gegen die Buchverlage hät- te der Neuling sicher keine Chance auf Im Bestseller-Business sind sie die heimlichen Herrscher: Literaturagen- den Geldregen gehabt. Erst ein gewiefter Literaturagent, der die Mechanismen ten verschaffen ihren Spitzenautoren weltweit Millionenhonorare. von Markt und Marketing durchschaut Jetzt drängen gewiefte Makler verstärkt in den deutschen Buchhandel. und das finanzielle Potential eines Manu- skriptes präzise kalkuliert, kann für sei- nen Autor das Optimum herauskitzeln. as Millionengeschäft schlummerte Tage später hatte sie das erste Angebot: Im Rennen der Verlage um den näch- in der Ablage. Unwillig und miß- 50 000 Pfund Vorschuß für das Debüt sten Bestseller, der die Bilanzen vergol- Dgelaunt fischte Carole Blake den eines Nobody. det, haben Literaturagenten leichtes unscheinbaren Brief aus dem gewaltigen Doch das war der Agentin noch Spiel. Sie pokern um üppige Vorschüsse Postberg. Ein gewisser Michael Rid- „eindeutig zu wenig“. Sie wartete gelas- und um die sogenannten Royalties, die path, ein 32jähriger Börsenmakler, teil- sen auf die Offerten der anderen Verla- Prozente vom Nettoladenpreis, die ein te der renommierten Londoner Litera- ge und schürte geschickt den Kampf der Autor zusätzlich kassiert, wenn sich der turagentin knapp mit, daß er einen Ro- Konkurrenten um die Rechte am Rid- Verlag seinen Vorschuß an der Laden- man verfaßt habe. So zum Spaß und ei- path-Roman „Free to trade“. kasse zurückgeholt hat. gentlich nur, um seinen neuen Schreib- Die Bücherbosse bissen an. Jeder Noch nie zuvor feilschten Agenten mit computer zu benutzen. wollte die spannende Story vom hehren Verlegern so selbstbewußt um jede Sein Opus eins sei ein Thriller aus der Einzelkämpfer im Reich böser Finanz- Mark. Doch nur Bestseller-Garanten wie Welt der Hochfinanz – Inhaltsangabe haie. Blake bat zur Auktion. Nach hei- John Grisham und Stephen King profitie- anbei. Würde Carole Blake, so die ßem Bietgefecht siegte der Londoner ren von ausgeklügelten Vertragsbedin- selbstbewußte Frage des Anfängers, Heinemann Verlag mit seinem Spitzen- gungen: Wird eines ihrer Bücher ver- sein Werk auf dem Buchmarkt unter- gebot: über 620 000 Mark. Und Carole filmt, steigt die Höhe der Garantiesum- bringen? Blake kassierte fleißig mit: 15 Prozent me für den Autor automatisch an dem Die Agentin reagierte wie üblich: der Vertragssumme als Hauptagent im Tag, an dem der Film in die Kinos Ridpath möge, so ihre Antwort, den Inland, die branchenüblichen 20 Pro- kommt. Auch die Zahl der Kopien, mit Text zur Ansicht schicken. Die versierte zent im Auslandsgeschäft teilt sie sich denen die Verfilmung startet, schlägt sich Textmaklerin war von der Lektüre mit ihren jeweiligen Unteragenten vor noch einmal in Mark und Pfennig nieder. „sofort wie elektrisiert“ und schickte Ort. Insgesamt 21mal klingelten bei der Besonders lukrativ ist der „Bestseller- umgehend „den besten Erstling, den ich Agentin die Kasse: Für über 400 000 Escalator“. Er mißt die Position der Titel je gelesen habe“, an einem Montag im Mark ging die geradlinig erzählte Einer- auf der nationalen Bestsellerliste. Je hö- November 1993 per Motorradkurier an gegen-alle-Story beispielsweise an den her dort der Titel klettert, desto höher sieben große Londoner Verlage. Drei Hamburger Verlag Hoffmann und Cam- sausen auch die zu zahlenden Garantie- summen. Alles Verhandlungssache. In dieser Welt sein Glück ohne Agen- ten direkt bei einem Verlag zu versuchen, hätte der kühl kalkulierende Finanz- mensch Ridpath nie gewagt. In England und den USA sind die Dealer für Ge- drucktes ohnehin seit Jahrzehnten unver- meidlich. Inzwischen drängen sie auch mit Macht in Deutschland auf den Markt. Doch dieAutoren zögern noch, die Dien- ste von Agenten in Anspruch zu nehmen. Sehnsüchtig beschwören die Schrift- steller die alte Idylle vom fürsorglichen Verleger, der schon von selbst weiß, was für seine geliebten Autoren ambesten ist, und der freudig jeden Text auch druckt. Doch das Traumbild des gütig-stren- gen Verlagspatriarchen ist längst über- holt; Rowohlt, Fischer und jetzt auch Pi- per gehören längst zu mächtigen Konzer- nen – jene Traditionshäuser, die immer noch die Namen ihrer Gründerväter füh- ren.

LICHTBLICK Die heutigen Verlagschefs sind nur noch bessere leitende Angestellte. Ein

W. M. WEBER S. SAUER / paar schlecht verkaufte Programme –und Agenten Meller, Graf: „Tennisarm vom Telefonieren“ sie sind eventuell gefeuert. Das neue

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Werbeseite KULTUR

Marktklima verändert auch das Verhält- werden importiert. An jedem Deal ver- nis zwischen Autor und Verleger. dient ein Haupt- und ein Subagent. Die Schriftsteller identifizieren sich nicht umsatzstärksten Unteragenten für den mehr mit „ihrem“ Verlag. deutschsprachigen Markt arbeiten in In dieser Szenerie werden Agenten Zürich. auch in Deutschland zu idealen Vermitt- Peter Fritz, einer der drei Großen von lern für kurzfristige literarische Lieb- Zürich, beschreibt die Wohltaten seines schaften. „Die Zeit ist einfach reif“, er- Gewerbes mit helvetischer Nüchtern- kannte die angesehene Übersetzerin heit: „Mit unseren Verträgen erteilen Karin Graf und gründete vor kurzem in wir einen Leistungsauftrag an den Ver- Berlin ihre eigene Agentur. Die kontaktfreudige Literatin („Ich bin die einzige Frau Deutschlands, die einen Tennisarm vom Telefonieren BESTSELLER hat“) will sich erst mal verstärkt um Ne- benrechte kümmern. So lauschte sie un- BELLETRISTIK längst per Zufall im Radio einem Hör- spiel, das der Sender – ohne Erwerb der Gaarder: Sofies Welt (1) Rechte – nach dem Text einer Graf-Au- 1 Hanser; 39,80 Mark torin hatte fabrizieren lassen. „In die- sem Bereich und bei der Förderung jun- Grisham: Der Klient (2) ger deutscher und amerikanischer Auto- 2 Hoffmann und Campe; ren“ sieht Graf denn auch für sich die 44 Mark besten Einstiegschancen. Ihre Hamburger Kollegin Barbara Pilcher: Das blaue Zimmer (3) Guggenheim meldet nach einem Jahr 3 Wunderlich; 42 Mark Selbständigkeit bereits ein „einigerma- Høeg: Fräulein Smillas (5) 4 Gespür für Schnee In kürzester Zeit Hanser; 45 Mark möglichst viel Profit Follett: Die Pfeiler (4) aus einem Titel schlagen 5 der Macht Lübbe; 46 Mark ßen gutes Geschäft“. Beide haben lang- fristig Chancen auf Erfolg. Denn ohne 6 Crichton: Enthüllung (8) Agenten, da sind sich alle Experten ei- Droemer; 44 Mark nig, wird auch in Deutschland bald kaum noch ein Deal laufen. Noch sind 7 Begley: Lügen in Zeiten (7) es ein paar Dutzend, bald schon, so pro- des Krieges phezeit der Münchner Agent Michael Suhrkamp; 36 Mark Meller, „könnten es wie in England Forsyth: Die Faust Gottes über hundert“ sein. (6) 8 C. Bertelsmann; 48 Mark Der Markt wird immer komplizierter, die Lebenszeit eines Buches im Laden King: Schlaflos (10) immer kürzer. Neue Vermarktungsni- 9 Heyne; 48 Mark schen wie die CD-Rom kommen hinzu. „Ein Autor kann das alles nur noch Garcı´a Ma´rquez: Von (9) schwer überblicken“, sagt Meller, 54, 10 der Liebe und anderen der seit 1988 seine Agentur betreibt. Dämonen Nur noch Experten wie er beherrschen Kiepenheuer & Witsch; 38 Mark die Technik, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Profit aus einem Titel zu George: Denn keiner ist (13) schlagen. Seine Arbeitsmaxime ist gna- 11 ohne Schuld denlos: „Der Markt entscheidet.“ Blanvalet; 44 Mark Meller hat eine der feinsten Spürna- sen für einträgliche Geschäfte: Er be- Noll: Die Apothekerin (12) drängte Rut Brandt so lange, bis sie 12 Diogenes; 36 Mark schließlich doch noch ihre Erinnerungen an ihr Leben mit Willy zu Papier brach- Kishon: Ein Apfel (11) te. Die Memoiren wurden einer der gro- 13 ist an allem schuld ßen Verkaufshits im Herbst 1992. Die Langen Müller; 36 Mark anrüchige Anleitung von Carmen Tho- mas zur Heimtrinkkur („Ein ganz be- 14 Nadolny: Ein Gott (15) sonderer Saft – Urin“) kommt ebenso der Frechheit aus dem Dunstkreis von Mellers Seller- Piper; 39,80 Mark Schmiede wie der Ötzi-Report „Der Mann im Eis“. 15 de Moor: Der Virtuose (14) Doch solche hausgemachten Hits sind Hanser; 34 Mark selten. Die meisten Verkaufsschlager

166 DER SPIEGEL 51/1994 lag.“ Ein Verlag solle nicht tatenlos „auf und kurzlebiger“ geworden. Dabei, so einer riesigen Halde von Rechten sit- Krüger, sei „Literatur, die diesen Na- zen“, sondern jeden Titel so intensiv wie men verdient, doch darauf angelegt, möglich vermarkten. längerfristig zu wirken“. Aber manche Verleger wollen sich Der Drang der Agenten, für ihre Au- partout nicht zur Leistung zwingen las- toren immer höhere Vorschüsse auszu- sen. Michael Krüger, Verlagsleiter beim handeln, „ist für mittlere Verlage wie feinen Münchner Haus Hanser beklagt Hanser existenzgefährdend“. Man wolle die Macht der Agenten. Durch sie sei natürlich einen Autor, dessen Werke er das Geschäft „schneller, kommerzieller gepflegt und über Jahre betreut hat, nur im Notfall an die Konkurrenz verlieren. Wenn aber „gleich mehrere unserer Au- toren zufällig gleichzeitig mit einem neuen Buch fertig werden und jeder 300 000 Mark Garantiesumme ver- SACHBÜCHER langt“, jammert Krüger, „wird es für uns finanziell verdammt eng“. N. E. Thing Enterprises: (1) Doch auch die Paket-Offerten man- 1 Das magische Auge III cher Agenten bringen viele Verleger in Ars Edition; 29,80 Mark Verlegenheit. So machte dem Hanser- N. E. Thing Enterprises: (2) Chef unlängst der Agent von Susan Son- 2 Das magische Auge II tag ein kostspieliges Komplettangebot: Ars Edition; 29,80 Mark einen Essay, einen Roman, einen Lyrik- N. E. Thing Enterprises: (3) band – alles noch ungeschrieben, aber 3 Das magische Auge im voraus zu bezahlen. „Wenn das ein- Ars Edition; 29,80 Mark reißt“, mosert Krüger, „dann ist die alte europäische Verlagskultur dahin.“ Soll 4 Wickert: Der Ehrliche (4) er, fragt sich der Buch-Macher nun, das ist der Dumme hohe Risiko eingehen und die Sontag- Hoffmann und Campe; 38 Mark Werke blind kaufen oder seine langjäh- Ogger: Das Kartell (6) rige Hausautorin zu einem anderen Ver- 5 der Kassierer lag ziehen lassen? Droemer; 38 Mark Aber nicht immer sind solche Wech- Carnegie: Sorge dich (5) sel von einem Verlag zum anderen auch 6 nicht, lebe! ein gutes Geschäft. Eines der besten Scherz; 44 Mark Beispiele bietet die Britin Fay Weldon Johannes Paul II.: (7) („Die Teufelin“). 7 Die Schwelle der Mühsam und über Jahre hatte die Hoffnung überschreiten Münchner Kleinverlegerin Antje Kunst- Hoffmann und Campe; 36 Mark mann die skurrilen Romane der frechen Autorin in Deutschland populär ge- Scholl-Latour: Im (10) macht. Kritiker und Publikum entdeck- 8 Fadenkreuz der Mächte ten den unverkrampften Feminismus C. Bertelsmann; 44 Mark der Weldon. Stetig kletterten die Aufla- Ditzinger/Kuhn: (9) gen. Treu und brav überwies Kunst- 9 Phantastische Bilder mann die steigenden Royalties nach Südwest; 14,90 Mark London. Doch die für beide Seiten er- 21st Century Publishing: (8) freuliche Geschäftsbeziehung endete 10 3D – Die Dritte Dimension abrupt. Ars Edition; 19,80 Mark Weldons Londoner Agent wollte Ogger: Nieten in (12) plötzlich das große Geld in Deutschland 11 Nadelstreifen einsacken. Lothar Menne von Hoff- Droemer; 38 Mark mann und Campe griff zu und kaufte Fay Weldon seiner kleinen Konkurren- Ditzinger/Kuhn: (11) tin Kunstmann vor der Nase weg – en 12 Phantastische Bilder II bloc. Südwest; 14,90 Mark An die 700 000 Mark, so schätzt die 13 N. E. Thing Enterprises: Branche, soll ansonsten einer der besten Magische Weihnachten Bestseller-Beschaffer der Republik für Ars Edition, 29,80 Mark. drei Bücher der Britin gezahlt haben. Paungger/Poppe: Vom (13) Doch schon das erste hat den hohen 14 richtigen Zeitpunkt Einsatz, so weiß Agent Peter Fritz, „bei Hugendubel; 29,80 Mark weitem nicht eingespielt“. Gallmann: Afrikanische (14) Ridpath-Verleger Menne kann seine 15 Nächte Verluste verschmerzen, Antje Kunst- Droemer; 32 Mark mann nicht. Sie zieht eine bittere Bilanz der Abwerbeaktion: „Wenn das ein- Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom reißt, dann können wir uns die Kugel Fachmagazin Buchreport geben, dann gibt es bald keine kleinen Verlage mehr.“ Y .

KULTUR

Schauspieler Prinzessin Eisenerz Der Erfolg des deutschen TV-Nachwuchs-Stars Nicolette Krebitz

s war einmal ein Mädchen, das war Esehr schön. So schön, daß die Sonne selbst, die doch so vie- les gesehen hat, sich verwunderte, so oft sie ihr ins Gesicht schien . . . Bleib im Brunnen, Froschkönig, bist nicht dran. Die Geschichte geht nämlich so weiter: Die- ses schöne Mädchen wurde in jenen heuti- gen Zeiten, wo kein Wünschen mehr hilft, Girlie genannt wie alle anderen, die gleich ihm scheu wie ein Reh blik- ken und entschlossen wie ein Wolf zupacken konnten. Ach, was half es dem jungen Ding, daß es den Namen haß- te. Doch damit war der Prüfung nicht genug. Zu jener Jetzt-Zeit ver- anstalteten graue Rie- sen düstere Spiele. Darin mußte das schö- ne Mädchen auf Ge- heiß der Mächtigen häßliche Dinge vollfüh-

ren: mal, sich vor ZDF Wollust rekelnd, eine Fernsehdarstellerin Krebitz in „Unschuldsengel“ verwunschene Pfar- Figuren verstehen, nicht sprengen rerstochter darstellen, dann wieder – die grauen Riesen waren ten, mit Anna Maria auf Sat 1 Uschi hart – eine spielen, die ihre Liebe gegen Glassi zu gehen oder sich vollmeisern zu Geld verkauft. Schließlich ließ man sie, lassen. Richtig: Der Berliner Jungstar von allen Freunden verlassen, durchs tritt in Fernsehstücken auf, die den Rie- Leben irren, weil die Schöne eine senanspruch auf Qualität erheben. Krankheit befallen hatte, deren „Durst“ von Martin Weinhart war ei- Schrecklichkeit in kein Märchen paßt. nes solcher Stücke: eine schwer pubertä- Das schöne Mädchen aber sehnte sich re Ballade vom Erwachsenwerden, von nach Erlösung. Nach dem Tag, an dem sexueller Sehnsucht und wildem Frei- ein Prinz käme, sie von allen grauen heitsverlangen. Nicolette fiel in der Rollen befreite und eine Prinzessin spie- Sturm-und-Drang-Veranstaltung die len ließe im wunderschönen Kleid. Da Rolle einer Pfarrerstochter zu, die Erlö- die Schöne nicht gestorben ist und heut sung findet, als sie es mit einem verhei- noch lebt (und wie) und auch das Wun- rateten Mann im Hotel treibt. der noch nicht geschehen ist, müssen Aus dieser reichlich einfältig konzi- Mädchen und Märchen noch auf das pierten Rolle – einer schieren Män- Happy-End warten. nerphantasie – vermochte die Berlinerin Der Schauspielerin Nicolette Krebitz, dennoch einiges herauszuholen: Sie ver- 23, kann man auf dem Bildschirm be- lieh der Figur eine eigene Aura. Und gegnen, wenn man sich die Freiheit das Wunder bestand darin, daß dies oh- nimmt, gelegentlich darauf zu verzich- ne die bei jungen Schauspielern übliche

168 DER SPIEGEL 51/1994 Anstrengung geschah. Mit warmer, verständlich, als wär’s ein Stück von erarbeitet.“ Wirklich anrührend wirkt dunkler Stimme sprach sie die Dialog- ihr. die Szene, in der sie ihrem Unschuldsen- sätze und löschte deren Pathos aus. „Unschuldsengel“ von Rainer Kauf- gel ihre Liebeskünste als Prostituierte War sie auf der Szene, sah man nicht mann – die dritte Herausforderung der angedeihen läßt. Schlechte Regisseure mehr so sehr einer monströsen Hand- jungen Schauspielerin. Ein Stricherdra- und schlechte Schauspieler hätten aus lung zu, sondern einer 20jährigen, de- ma hinter dem Hamburger Hauptbahn- dem Geschlechtsakt ein soziales Lehr- ren Schönheit verzaubert: den großen hof. Ein Bürgersöhnchen recherchiert stück gemacht – Prostituierte können Augen, dem ernsten Kindermund, der im Fixermilieu, ob sein des Mordes ver- nur Dienstleistungen verkaufen. Die Unbefangenheit ihres Auftretens. Hier dächtigter Alter tatsächlich junge Män- Krebitz aber turnt so sicher und ohne agierte kein Regie-Soldat. ner liebt. falsche Scham auf ihrem jungen Un- „Ausgerechnet Zoe´“ vom Schweizer Die Krebitz spielte in diesem Ausflug schuldslover herum, als sei gekaufte und Regisseur Markus Imboden war die in die Unterwelt eine Hure, die dem su- geschenkte Liebe dasselbe. nächste Prüfung: Eine Studentin er- Die in Berlin-Schöneberg in einer fährt von ihrer HIV-Infektion und er- ofenbeheizten Wohnung lebende Schau- lebt, wie sich Freunde von ihr lösen. In Sie zeigt die spielerin gehört zur Nach-68er-Genera- dem Stoff lauern die Fallen der Senti- Gebärdensprache des tion: Der kommt es weniger darauf an, mentalität, der oberflächlichen Tragö- die Welt zu verändern, als sie zu erken- die, das Pathos sozialer Anklage. Allerintimsten nen und zu ertragen. Krebitz akzeptiert Doch Krebitz umging alle diese Fall- die Verhältnisse so, wie sie sind. Sie stricke. Sie zog sich das unsichtbare chenden Orpheus in Liebe begegnet, denkt sich in Figuren, nicht um sie zu Aussätzigenkleid der HIV-Infizierten aber schließlich doch in die Fänge des sprengen, sondern um sie zu verstehen. wie eine zweite Haut über. In ihren finsteren Pornofilmers zurück muß. Die Aber verstehen heißt nicht, sich einer langen Blicken lösten sich alle Trö- Darstellerin einer Prostituierten, zumal Rolle zu unterwerfen. Im „Unschulds- stungsversuche auf. Mit sanften, klaren einer blutjungen, muß mit den Gefahren engel“ macht dies das zarte Spiel deut- Worten erstickte sie bei sich und ande- vorwiegend männlicher Blicke rechnen: lich, mit dem die Prostituierte vermei- ren alle Illusionen. Und der ältere Zu- Die wollen Fleisch und Verruchtheit det, daß sie ihr junger Freund küßt. Wo schauer begriff, daß Jugendlichkeit in ebenso sehen wie gutes Herz. alles am Körper käuflich ist, wohnt die diesen Zeiten heißt, dem Virus erwach- Auch diese Prüfung bestand „Coco“, Seele auf den Lippen. Da zeigt sich die sen ins Auge zu blicken. Der Tod und wie Regisseur Kaufmann die Krebitz Romantikerin Krebitz. Aber darüber das Mädchen – bei Krebitz keine Le- nennt, mit Bravour. Er sagt: „Ich kenne spricht sie nicht. gende, kein Märchenkitsch, kein Weh- kaum eine junge Schauspielerin, die sich Was bleibt jungen Menschen schließ- klagen, sondern so schrecklich selbst- mit solcher Ernsthaftigkeit eine Rolle lich auch anderes übrig in einer Zeit, die

DER SPIEGEL 51/1994 169 KULTUR sie mit Etiketten zukleben will, als eine Gebärdensprache des Allerintimsten zu entwickeln. Die Krebitz-Generation schwärmt nicht wie einst die Omas, sie eifert nicht sozialrevolutionär wie 68er Mütter und Väter, sie sendet höchstens mal einen schmelzenden oder wilden Blick, während der Mund ruhig und bar jeder Illusion eine pragmatische Wahr- heit nach der anderen ausspricht. Der Regisseur Kaufmann ist mit „Coco“ in eine Berliner Disco gegan- gen. Sie trug zum lasziven T-Shirt Kampfhose. Ihre Managerin Mechthild Holter von der Agentur „Players“ hat erfahren, daß die Schönheit mit den Rehaugen bei Gagenforderungen knall- hart ist, ganz Prinzessin Eisenerz. Doch zum Girlie will sich Nicolette Krebitz nicht verurteilen lassen. Daß Jungens Reifen reparieren, während sich die Mädchen mit dem Lippenstift das Make-up nachziehen, geht ihrem Gerechtigkeitsgefühl gegen den Strich. Zum Girlie will sie sich nicht verurteilen lassen

Sie mißtraut der kecken Selbstfeier des weiblichen Geschlechts. Denn – ver- dammt – die Liebe schlage irgendwann eben doch mal ein. Nein. „Jeder muß selber wissen, für wen er klug, für wen er sexy ist.“ Mode hilft da nicht. Wieder spricht die Pragmatikerin. Doch bei der Frage, was sie gern spielen möchte, überströmt ein Strahlen ihr Ge- sicht. Eine – wir wissen das bereits – Prinzessin wäre Krebitz’ Wunsch der Wünsche. Ihr fallen die tschechischen Märchenfilme ein, die sie in ihrer Ju- gend im Fernsehen gesehen hat. Der Regisseur Bernd Schadewald, der mit ihr zwei Filme gemacht hat, er- läutert die Phantasie der Krebitz: „Hät- ten wir Verhältnisse wie in den USA, könnte Nicolette hierzulande eine zwei- te Winona Ryder werden.“ Den ameri- kanischen Star steckten Regisseure wie Coppola und Scorsese in kostbare Ro- ben, Korsette und historisches Pathos, ehe die Ryder in T-Shirts, Jeans und Turnschuhen mit dem Film „Reality Bites“ als Ikone der „Slacker“-Genera- tion zu sich selbst kam. Prinzessinnen, auch solche der Verlie- rergeneration, führt das Fernsehen im Angebot des Hauptabendprogramms derzeit nicht. Nur schwere Schicksale aus der Sicht der 68er Generation oder das seichte Fach in den Serien, wo die Schauspieler-Begabungen der Krebitz- Generation verschlissen werden. Ni- colette wird den grauen Riesen noch länger dienen müssen, bis zu dem Tag, da das Wünschen mal hilft. Nikolaus von Festenberg

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KULTUR

Das Krüger-Team schlägt eine ach- doppelt so hohen Kanzlerturm als Architektur sensymmetrische Palastanlage mit ko- „zweiten Horizont“, der in jedem Fall lonnadengesäumtem Ehrenhof und ma- knapp unter der Dachkante des Reichs- jestätischem Kanzlertempel in der Mitte tages bleiben soll. vor. Schultes dagegen plant eine aufge- Die Planungsidee von Schultes – eine Palast oder brochene Bauplastik mit abenteuerli- Regierungs-Mall wie in Washington, die chen Raumdurchdringungen, Höfen, die politische Gewaltenteilung auch Hallen und Terrassen. räumlich spiegelt – braucht starke archi- Dampfer Jetzt soll der Kanzler tun, was als tektonische Bindekräfte. Die Großform Bauherr sein gutes Recht ist. Bis späte- seines langgestreckten Riegels erinnert Der Bauwettbewerb um das stens April 1995 muß er selbst entschei- an einen Flugzeugträger mit Heck-Son- Berliner Kanzleramt ist entschie- den, welcher Bau realisiert werden soll, nendeck als Kanzlergarten, mit zentra- damit der Regierungsumzug bis 1999 be- ler Kommandobrücke und vorgelager- den – und doch wieder nicht. endet werden kann. ten Parlamentsbüros im Bug. Eine mü- In Berliner Baukreisen gehen schon de Sparkassen-Architektur wie beim al- ie Jury tagte 40 Stunden und ent- die Wetten. Die Wahl des repräsentati- ten Bonner Kanzleramt wäre hier depla- schied sich am Ende zu einem don- ven Entwurfs der jungen Ost-Berliner ziert – sie würde die neue Berliner Do- Dnernden Jein. „Wir hätten viel- Planer, meinen viele, wäre eine rein minante im zentralen Bereich zerbrö- leicht mehr Mut haben sollen“, seufzte politische Überraschungsentscheidung, seln. Juryvorsitzender Kurt Ackermann, als aber gut für den Aufschwung Ost und Bei genauerem Hinsehen zeigt der am vergangenen Freitag in Berlin die die innere Einheit. Für das intimere Mo- Bonner Altbau aber doch eine ähnliche Entscheidung über den Neubau des nument des Baukünstlers Schultes dage- Architekturauffassung wie der ungleich Kanzleramtes offiziell verkündet wurde. gen spricht das Lob der Fachleute – prächtigere Krüger-Entwurf in Berlin: Mit etwas längerer Bedenkzeit, fügte schon dessen städtebaulichen Rahmen- Der dreiflügelige, aus dem Barock ent- der Münchener Architekt hinzu, hätte vorschlag für das neue Regierungsvier- lehnte Schloßgrundriß des Bonner Am- FOTOS: DPA Kanzleramts-Entwürfe der Teams Krüger, Schultes: Tantenhafte Traditionsliebe

man einen ähnlichen Durchbruch errei- tel war 1993 begeistert aufgenommen tes taucht in Berlin als Doppelflügelan- chen können wie vor 27 Jahren in Mün- worden. lage wieder auf, nur aufgemöbelt mit ei- chen. Damals hatten sich die Juroren Schultes’ eigentlicher Erfolg ist, daß ner vorgeblendeten Säulenfassade. Die wegen des Olympia-Geländes zerstrit- er seinen damals preisgekrönten Ent- tantenhafte Traditionsliebe der neuen ten und wurden noch einmal 14 Tage in wurf für das Regierungsviertel am Berliner Planergeneration und die Anti- Klausur geschickt. Das Ergebnis des Reichstag im wesentlichen bis heute Architektur der alten Republik in Bonn verlängerten Nachdenkens, die Sport- durchboxen konnte. Das wirkt im Bonn/ sind gar nicht so weit voneinander ent- stätten der Olympischen Spiele von Berliner Hauptstadtgezerre wie eine fernt. 1972, sind als Muster-Architektur welt- kleine Sensation. Die Entscheidung, wer die 19 000 berühmt geworden. Der Großentwurf für Kanzleramt und Quadratmeter Nutzfläche des neuen Das steht in Berlin nicht zu erwarten. Parlamentsviertel sieht weiterhin einen Kanzleramtes für geschätzte 270 Millio- Die beiden ersten Preise für das neue strengen Gebäuderiegel nördlich des nen Mark errichten darf, gilt – nach dem Kanzleramt im Spreebogen spiegeln das Reichstages vor. Er soll als „Band des Reichstagsumbau – als wichtigste Wei- Baudilemma der Hauptstadt. Der Ge- Bundes“ die zerrissenen Stadthälften chenstellung für die künftige architekto- gensatz zwischen dem Entwurf des jun- verbinden und zugleich die erste und nische Selbstdarstellung der deutschen gen Ost-Berliner Teams Krüger, Schu- zweite Gewalt im Staate – Parlamenta- Demokratie. Die Wartezeit bis zum berth und Vandreike und dem Projekt rier und Regierung – egalitär vereinen. Kanzlervotum überbrückt Architekt des West-Berliner Planerduos Schultes Beide Preisträger halten sich an die Schultes derweil mit chinesischen und Frank markiert die Pole des aktuel- vorgesehene, 54 Meter breite Bau- Spruchweisheiten: „Die Dummen ha- len Berliner Architekturstreits: vormo- schneise quer durch den Spreebogen. sten, die Klugen warten, die Weisen ge- derne Restauration versus nachmoderne Und beide übertrumpfen die 22 Meter hen in den Garten“ – eben in den Kanz- Experimentierfreude. hohe Grundbebauung durch einen fast lergarten. Y

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WISSENSCHAFT PRISMA

Elektronik Signale mit einem „Reißver- schluß-ähnlichen Verfahren“ Blitzschalter für zusammengeführt, etwa 16 Signale zu je 2,5 Gigabit/Se- Datenautobahnen kunde zu einem 40-Gigabit- Einen superschnellen Schal- pro-Sekunde-Signal. Dies ist ter, der bei der Übertragung allerdings nur dann möglich, großer Datenmengen auf wenn ein ultraschneller den Glasfaser-Übertragungs- Schalter, wie der jetzt in Ber- strecken gebraucht wird, hat lin entwickelte, die Digital- ein sechsköpfiges Projekt- pulse 40milliardenmal in der team am Heinrich-Hertz-In- Sekunde umzuleiten vermag. stitut für Nachrichtentechnik in Berlin entwickelt. Der Aids

S.FERRY / MATRIX / FOCUS optische Schalter, auf einem Gruppentherapie integrierten Chip von nur Epidemie fünf Millimeter Länge und Psychologie denen Therapiezentren be- einem halben Millimeter der Ärmsten handelt worden waren. Sie Breite, hat eine Schaltfre- Fast jeder zehnte weibliche Elf Wochen sind verglichen die Antworten in quenz von 40 Gigahertz – wie männliche farbige Ame- den vor, während und am En- ein Weltspitzenwert. Solche rikaner aus den Slumbezir- meist genug de der Behandlung ausgefüll- Schalter sind nötig, um die ken von New York und Mi- Spätestens nach einem Jahr ten Bögen mit den Antworten eigentlichen Informations- ami ist mit dem Aids-Erreger mit wöchentlichen Therapie- von 974 psychisch gesunden träger im modernen Kom- infiziert. Doch noch weit hö- sitzungen fühlten sich drei Erwachsenen. Besonders hilf- munikationswesen, die Digi- her liegt das HIV-Risiko bei von vier Psycho-Patienten, reich erwies sich die Psycho- talpulse in Form einzelner jenen Mitgliedern dieser die sich freiwillig in Behand- therapie bei Menschen, die kurz aufeinanderfolgender Gruppe, die „Crack“ rau- lung begeben hatten, seelisch über Ruhelosigkeit klagten, Lichtblitze, zuverlässig von wieder gesund. Die Hälfte zu Zornesausbrüchen neigten einer Glasfaser auf die an- der ambulanten Patienten oder die schon bei geringen dere umzuleiten. Die derzeit fühlte sich sogar schon nach Anlässen in Weinkrämpfe fie- üblichen Glasfasersysteme elf Sitzungen besser: Das be- len. Relativ häufig erfolgreich bewältigen Datenraten von richtet der Psychologe Ste- behandelt wurden auch Men- 2,5 Gigabit/Sekunde; Syste- phen Mark Kopta von der schen mit Minderwertigkeits- me mit vierfacher Kapazität University of Evansville gefühlen. Bei streitsüchtigen stehen vor dem Einsatz. In (Indiana) im Journal of Con- Charakteren oder solchen, die Forschung und Entwicklung sulting and Clinical Psycholo- sich schon beim geringsten wird intensiv an neuen Sy- gy. Kopta und seine Mitar- Anlaß verstimmt und verär- stemen mit Übertragungsra- beiter hatten die Fragebogen gert zeigten, konnten die See- ten von 40 bis 100 Gigabit/ von 854 Erwachsenen ausge- lenheiler nur in etwa 40 Pro- Sekunde gearbeitet. Dabei wertet, die an fünf verschie- zent der Fälle helfen. werden mehrere „langsame“

Medizin tune berichtete, die Herstellung der Cyclo-

phan-Käfige ein mühsamer Prozeß. Auch A.QUESADA / MATRIX / FOCUS ist noch nicht sichergestellt, daß die dann Crack-Raucherin Bösewicht im Käfig in Milliardenzahl in den Körper geschleu- Ist zuviel Cholesterin im Blut Ursache oder sten Käfige sich auf den Fang von Chole- chen, die in den achtziger nur Symptom für drohende Gefäßveren- sterin beschränken und nicht etwa lebens- Jahren in der amerikanischen gung und Herzinfarkt? Welche Faktoren wichtige Moleküle mit ähnlicher Struktur, Rauschgiftszene Mode ge- tragen dazu bei, daß zu viele der länglichen so etwa das Geschlechtshormon Testoste- wordene rauchbare Form des Blutfett-Moleküle in den Adern kreisen – ron, einfangen und beseitigen. Kokains. Bei den Crack-rau- spielt Veranlagung, Ernährung, mangeln- chenden Frauen in New York de Bewegung oder Zigarettenrauchen da- waren drei von zehn HIV-in- bei die Hauptrolle? Der Forscherstreit fiziert, in Miami 23 Prozent. über diese Fragen dauert an. Außer Zwei- Noch höher lag die Rate nur fel steht nur, daß ein niedriger Cholesterin- bei Frauen, die, gegen spiegel Infarkte und Gefäßverengungen Geld oder Rauschgift, unge- vermeiden hilft. Der Luxemburger Chemi- schützten Sexualverkehr hat- ker Franc¸ois Diederich und sein amerikani- ten (40,9 Prozent Infizierte), scher Student Blake Peterson haben an der oder bei homosexuellen Eidgenössischen Technischen Hochschule Männern, die Analverkehr Zürich ein Molekül aus zwei Cyclophan- praktizierten (42,9 Prozent Ringen gebastelt, das als Käfig dienen Infizierte). Fazit der Unter- könnte, um Cholesterinmoleküle im Blut sucher im New England Jour- einzufangen und über die Niere, zusam- nal of Medicine: „Der Ge- men mit dem Käfig, auszuscheiden. Noch brauch von Crack fördert die ist, wie das US-Wirtschaftsmagazin For- Käfig-Molekül für Cholesterin heterosexuelle Ausbreitung von HIV.“

DER SPIEGEL 51/1994 175 .

TECHNIK

Strahlenbelastung ES GIBT KEIN ENTRINNEN SPIEGEL-Reporter Hans Halter über die radioaktiven Grenzkontrollen der DDR

er Physiker Dr. rer. nat. Franz L. ist jetzt 54 Jahre alt, durch dicke Brillen- gesagt. Die Wohnung lockte ihn, das wohnt im siebten Stockwerk eines gläser schaut er auf seine unruhigen verdoppelte Gehalt. „Spitzel wollte ich DOst-Berliner Plattenbaus. Für die Hände. „Es war ein Befehl“, murmelt nicht werden.“ Aber Physiker im Be- Dreiraumwohnung hat er seine Seele er, „wenn ich es nicht getan hätte . . .“, reich Operativ-Technische Sicherung hingegeben, den familiären Frieden und ja, ja, „ . . . dann hätte es jemand ande- (OTS) der Hauptabteilung VI des MfS, jede Hoffnung auf ein ruhiges Alter. res getan. Ein Auftrag, und damit warum nicht? „Es gibt kein Entrinnen mehr“, flüstert fertig.“ So hat er seine 20 guten Jahre damit L., „alle halten mich für einen Verbre- Führen und folgen, befehlen und ge- verbracht, die Gammastrahlkanonen zu cher.“ horchen. Das MfS war ein „militärisches entwickeln und zu perfektionieren. Sei- Die langersehnte zentralgeheizte Organ“, sagt der Physiker, „Schild und ne Arbeit war so geheim, daß bis heute Wohnung verdankt er seinem Arbeitge- Schwert der Partei“. Die Partei SED hat nicht einmal seine beiden erwachsenen ber, dem Ministerium für Staatssicher- ihn, als noch nicht 30jährigen, an die Söhne von ihr wissen. L.s Fahndungs- heit (MfS) der Deutschen Demokrati- Hand genommen und dem Organ zuge- technik kannten nur die Treuesten der schen Republik. 23 Jahre lang hat L. der führt. Er ist ein braver Mann, mittel- Treuen. Für sie galt „Konspiration in Stasi gedient, zuletzt als Major. Er war groß, blaß, der Typ des folgsamen Be- der Konspiration“. Eine kleine Truppe ein tüchtiger Offizier, geachtet von den amten. von rund 200 Mann betrieb die 17 ge- Kameraden seiner Abteilung OTS, L. hat im entscheidenden Moment – fährlichen Geräte, die das MfS an den denn L. hat die Gammastrahler konstru- 1967 war das, lang ist’s her – nicht nein Grenzübergangsstellen in und um Berlin iert. Mit diesen Geräten sind und an den Autobahnkon- Millionen Menschen an den trollpunkten zwischen Ost- Grenzkontrollstellen der und Westdeutschland instal- DDR heimlich durchleuch- liert hatte. tet worden. Die gewöhnlichen DDR- Die radioaktive Fahn- Zöllner durften von der ra- dungstechnik erfaßte Perso- dioaktiven Kontrolltechnik nenwagen und Lastautos, sie nichts wissen. Eine strenge machte jeden Menschen als „Betreteordnung“ hielt sie dunklen Fleck auf einem von den gefährlichen Punk- Fernsehbildschirm sichtbar – ten fern. Im Verzeichnis der auch den Flüchtling im Kof- vertraulichen Dienstanwei- ferraum. L. gab dem MfS sungen der Stasi kam die alles durchdringenden die Fahndungstechnik über- Augen. haupt nicht vor, Konspirati- Der Preis war hoch. Um on in der Konspira- einen einzigen DDR-Flücht- tion. Selbst L. durfte nicht ling aufzuspüren, wurden nach Belieben seine Geräte jeweils Zehntausende von in Aktion bewundern. Nur Autofahrern durchleuchtet, am innerstädtischen Check- auch alle mitreisenden Kin- point Charlie und am Kon- der, Säuglinge und die trollpunkt Dreilinden hat er Schwangeren. Und das im- gesehen, daß alles tadellos mer wieder, bei jeder Passa- funktioniert. ge der DDR-Grenzen. Seine Oberen waren begei- Lastwagenfahrer, im Ber- stert. Die unsichtbaren Au- lin-Verkehr zwischen West- gen des MfS machten mü- deutschland und der um- helos auch Diplomatenwa- mauerten Halbstadt auf den gen durchsichtig. Bei jeder Transitstrecken unterwegs, Grenzpassage wurden die sind tausendmal und immer Fahrzeuge der westalliierten insgeheim bestrahlt worden, Militärs und der osteuropäi- manche zehn Jahre lang jede schen „Freunde“ überprüft. Woche mehrmals. Nur bei den Russen traute L. nennt das Verfahren ei- man sich das nicht.

ne „Kontrolle durch Sicht- BSTU Im Rückblick wird es L. et- technik, auf radioaktiver Ba- Dienstherr Honecker, Stasi-General Fiedler was mulmig: „Die CIA und sis betrieben“. Der Physiker Der ranghöchste Grenzwächter zerschlug seine Orden der BND müssendasdoch ge-

176 DER SPIEGEL 51/1994 .

Strahlenquelle für Pkw Ein kugelförmiger Bleibehälter mit radio- aktivem Cäsium 137 dreht sich, bis die Strahlenaustrittsöffnung in die gewünsch- te Richtung zeigt.

Auslösen der Be- strahlung und Über- wachen des Monitors Strahlen- quelle für Lkw

Einstiegsschacht für Reparaturen

Kanal mit Strahlen- Detektoren Die Mechanik des Apparates wurde durch Stasi-Offiziere mit- Mit radioaktiver Strahlung tels Knopfdruck ausgelöst, die Blenden der Strahlenquellen fahndete die DDR an ihren Grenzen nach Republikflüchtlin- blieben 10 bis 30 Sekunden offen. Die ionisierenden Gam- gen. Seit 1979 wurden an den innerstädtischen Kontroll- mastrahlen durchdrangen das Auto und wurden von jeweils punkten in Berlin und an den Grenzübergangsstellen zur Bun- 130 Szintillatoren registriert, die unter einer Bitumenfuge der desrepublik die Pkw und Lkw samt aller Insassen mit Fahrbahn in einem Metallkanal versteckt waren. versteckt installierten Gammastrahlern durchleuchtet. Die ra- Das Detektorsystem war mit jeweils vier „Robotron“-Rech- dioaktiven Strahlenquellen waren auf eigens errichteten nereinheiten verbunden, die sekundenschnell ein Monitorbild „Beschaubrücken“ angebracht. aufbauten. Es zeigte einen waagerechten Schnitt durch das Nach der Vorkontrolle durch die Volkspolizei passierten die Fahrzeug. Insassen und verborgene Personen waren darauf Autos nach etwa 20 Metern mit 6 bis 20 km/h die für Pkw in als dunkle Schatten sichtbar. Verdächtige Pkw wurden in 5 Meter Höhe angebrachte Strahlenkontrolle. Lastwagen wur- Untersuchungsräume dirigiert, bei Lkw kamen Spürhunde den aus den seitlichen Stützpfeilern heraus durchstrahlt. zum Einsatz.

merkt haben. Strahlung kann man doch Für Gammastrahlen ist der messen!“ Wenn die westlichen Geheim- Mensch nichts anderes als ein dienste es aber wußten und trotzdem kei- 50-Kilo-Wassersack, durch- nen Krach schlugen, dann doch wohl, mischt mit organischen Mole- weil sie die heimliche radioaktive Be- külen. Röntgenärzte bestrah- strahlung, wie L. meint, „für harmlos len Krebszellen erfolgreich mit hielten – oder?“ Gammastrahlen – das überle- L. kann sich einfach nicht vorstellen, ben die Zellen nicht. daß die bundesdeutschen Schlapphüte so Peter B. und Christian P., unfähig sind und 15 Jahre lang überhaupt die beiden Kurierfahrer von nichts gemerkt haben. Aber genau so war der Stasi-Abteilung OTS, tru- es. Der Bundesnachrichtendienst hat gen unter der Uniformjacke mehrere hundert Physiker in seinen Rei- ein Dosimeter, das jede hen –keiner wurde mit einem Geigerzäh- Gammastrahlenbelastung regi- ler im Auto zu einer Testfahrt befohlen. strierte. Die beiden jungen Of- Lieber zu Hause bleiben: Deckung geht fiziere plagten sich mit den vor Wirkung, heißt die hausinterne Bleibehältern, in denen die BND-Regel. Cäsium-Quellen transportiert L. und sein Team haben als Strahlen- wurden. Die zentnerschwere quelle von der großen Sowjetunion radio- Last schaukelte „jeweils circa aktives Cäsium 137 erbeten. Diese Quel- 1,5 Meter hinter uns im Pkw“, lesendet Gammaquanten miteiner Ener- wie B. sich erinnert, und sie gie aus, als betriebe man eine Röntgen- wurde von den beiden eigen- röhre mit einer Million Volt. Die Cs-137- händig auf die „Beschaubrük- Gammastrahlung, die beim radioaktiven ke“ gehievt. Dort stöpselten Zerfall von Atomkernen entsteht, ist B. und P. „mittels vorhande- hart, läßt sich durch elektrische und ma- * Der Mechaniker Heinz Edelmann gnetische Felder nicht irritieren und DPA aus dem schwäbischen Günzburg de- durchdringt mühelos ein Auto und des- monstriert, wie er seine Frau über die DDR-Flüchtige im Kofferraum (1964)* sen Insassen. Grenze schmuggelte. Der Mensch ist ein 50-Kilo-Wassersack

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Tschernobyl, gab er, wie er sagt, der DDR noch fünf Jahre, „dann bricht alles zusammen“. Eine korrekte Prognose. Die MfS-Männer, welche L.s Apparate bedienten, waren von schlichterer Wesensart. Von ihnen wurde nur Treue ge- fordert, Treue und Verschwie- genheit. Deshalb kommandier- te man vor allem alte Kämpfer, deren physikalische Kenntnisse bei den Fallgesetzen endeten, vor die Fernsehmonitore. In der Güst Drewitz bediente der betagte Oberst Gerhard B., der „technisch in keiner Weise be- gabt“ war, die Kamera. Früher hatte der ranghohe Offizier

AP (über einem Oberst kommen Grenzübergang Checkpoint Charlie (1980): Der Westen glitzerte tückisch nur noch die Generäle) selbst die Güst Nedlitz geleitet. ner Steckverbindungen das Behältnis an ausgeschaltet worden – an diesem Nun drückte er alsAltenteiler tausend- das Kabelnetz an“. Abend fiel in Berlin die Mauer. mal oder öfter pro Nachtschicht auf den Alle Vierteljahre gaben die Helfer Weil radioaktive Strahlen von keinem Auslöseknopf der Strahlenkamera, um dem Physiker L. die Dosimeter zur Sinnesorgan des Menschen wahrgenom- dann mit müden Augen die Grautöne des Überprüfung ab. Peter B. ist ganz si- men werden, wird die Gefahr unter- Fernsehbildes zu deuten. Lebewesen cher, „daß bei uns beiden nie eine Strah- schätzt. B. und P. nannten die Cäsium- zeichnetensichals „schwarzerFleck“ab – lenexposition festgestellt wurde“. Sein Strahler liebevoll „unsere Pillen“. Auch auch der „Hund eines Pkw-Fahrers, der Vertrauen in die liquidierte Firma MfS Dr. rer. nat. Franz L. hat sein Bild von in den Kofferraum gekrochen war“. ist unbegrenzt: „Dies wäre uns sonst ga- der Welt und von sich selbst auf die Gut- Kein armer Hund konnte die DDR un- rantiert mitgeteilt worden.“ artigkeit der Gammastrahlen gegründet. bemerkt verlassen, ein schöner Erfolg Den Christian P. hatte die DDR zur „Völlig unbedenklich“ findet er die der aufwendigen Fahndung. Anfang der immerwährenden Grenzbeobachtung verabfolgte Dosis, „vernachlässigbar“ siebziger Jahre hatte das MfS noch mit verpflichtet. Tagsüber installierte er die selbst dann, wenn sie tausendmal auf harmlosen Infrarotgeräten experimen- radioaktiven Quellen, nachts blickte er Kopf oder Hoden trifft. tiert, die Wärmestrahlen versteckter Le- aus seiner Wohnung auf den hell er- Außerdem habe er dafür „gekämpft“, bewesen registrieren sollten. Der Erfolg leuchteten Todesstreifen an der Berliner daß in die Apparate nur Cäsium-137- blieb dürftig. Bernauer Straße. Strahler eingebaut wurden, nicht noch Mitte der siebziger Jahre verstärkte das P. wohnt noch immer in der ersten stärkere Quellen. Die ganze „Projektie- Staatssicherheitsministerium seine An- Häuserzeile hinter der nun plattgemach- rung“ sei „aufwendig“ gewesen, er habe strengungen. OTS erhielt den Auftrag, ten Mauer. Aus dem Hausflur gibt es bis für „Mehrfachsicherungen“ gesorgt, mit Röntgen- oder Gammastrahlen die heute keinen Blick nach Westen. Die Grenzverletzer aufzuspüren. Röntgen- Fenster sind, wegen der Fluchtgefahr, strahlen erwiesen sich schon im Testlauf noch immer nicht zu öffnen und sicher- Kein armer Hund als ungeeignet, weil sie die Filme in den heitshalber mit undurchsichtigem Glas konnte die DDR Fotoapparaten der Transitreisenden ver- blind gemacht. P., nun im Dienstlei- räterisch geschwärzt hätten. Gamma- stungsgewerbe tätig, fährt aber gern pri- unbemerkt verlassen strahlen tun dies nur unter extremen Be- vat nach Westen. dingungen. Besonders Peter B. ist den Stasi- zum Beispiel bei „plötzlichen Stromab- Am US-Übergang Checkpoint Charlie Offizieren der Grenzübergangsstellen schaltungen und mechanischen Defek- ging 1978/79 L.s erster Gammastrahler in (Güst) gut in Erinnerung. Mündlich, ten“. OTS-Major L. will sich ja nicht Betrieb. Den Berliner Checkpoint haß- niemals schriftlich, lehrte er die Grenz- rühmen, aber als Fachmann doch soviel ten die DDR-Grenzwächter, denn hier kader, der „Beschaubrücke“ auszuwei- sagen: Vom „Betreiber“ – damit meint glitzerte der Westen besonders tückisch, chen. „Auf die Brücke“, sagt Oberst er eine andere Stasi-Abteilung, denn hier trieben selbstbewußte GIs respekt- Hubert W. von der frequentierten Au- seine Gruppe hat ja nur konstruiert und los Schabernack mit der kleinen armen tobahn-Güst Marienborn, „sollten wir gebaut –, vom Betreiber also wurde Tätärä. 1980 waren auch alle anderen in- nur zur Erledigung dringender Arbeiten „ein aufwendiges Regime, Ampelre- nerstädtischen Grenzübergänge radioak- gehen.“ Und nicht vergessen: an der gelung und so weiter, gefordert und tiv aufgerüstet. In den nächsten Jahren Brücke täglich Temperatur und Feuch- realisiert“. folgten die Güst der Transitstrecken. tigkeit messen. Oberst W. mußte ein Auch L. wollte offenbar vermeiden, Auf diesen Straßen durfte die DDR Dosimeter tragen und wurde jährlich daß ein Auto direkt unter der Beschau- Westlern vertragsgemäß nur bei „be- vom Arzt untersucht. Für die Harmlo- brücke im Stau und dabei womöglich gründetem Verdacht“ in den Kofferraum sigkeit des Gammastrahlers will er sich längere Zeit im Gammastrahl stand. schauen. Augen haben und nicht sehen angesichts dieser Erinnerungen nicht Schnelle, richtige Reaktionen traute der dürfen, das war kein Zustand für das miß- verbürgen: „Ob durch die Strahlen Physiker den Bedienungsmannschaften trauische MfS. Dr. rer. nat. Franz L. ver- Menschen gefährdet oder geschädigt nicht zu. Er kannte seine Pappenhei- half ihm zum Durchblick. wurden, vermag ich nicht zu sagen.“ mer. Auch über die Republik der flucht- Als die DDR schon zum Sterben arm Erst am 9. November 1989, 22 Uhr, willigen Arbeiter und Bauern machte er war, bei 400westlichen Banken Schulden ist in Marienborn die Cäsium-Quelle sich keine Illusionen. 1985, im Jahr vor hatte, Konkursverschleppung betrieb

178 DER SPIEGEL 51/1994 TECHNIK und dulden mußte, daß dieEingesperrten Richtung auf Hoden oder Eierstöcke, Die Grenzaktivitäten des MfS haben „Gorbi hilf!“ schrien, bestellte OTS noch die strahlenempfindlichsten Organe des in Bonn bisher niemanden interessiert. schnell neue Cäsium-137-Strahler. Man Menschen. Der Bund hat allein in Berlin mehr als wollte nicht freiwillig aufgeben. Dabei Von „unbedenklich“ und „vernachläs- tausend Angehörige des Stasi-Ministeri- näherten sich Mangel und Pfusch, die bei- sigbar“ kann also keine Rede sein. Jede ums in den Bundesgrenzschutz über- den DDR-Zwillinge, unübersehbar auch Strahlung, und sei sie noch so klein, kann nommen. Dort kümmern sie sich jetzt den Werkstätten des MfS in Berlin-Ho- in den Zellkernen eine tödliche Unord- um Asylanten und fahnden nach polni- henschönhausen, Genslerstraße 13. nung imBauplan der Eiweißstrukturen in schen Schwarzarbeitern, diesmal ohne „Wir mußten uns mit so vielen primiti- Gang setzen – Jahre oder Jahrzehnte Zuhilfenahme radioaktiver Strahlen. ven Sachen aushelfen“, erinnert sich L., später wird der strahleninduzierte Zell- Kein Interesse an den Gammakanonen zum Beispiel mit tschechischen Szintilla- schaden als Krebs oder fötale Mißbil- zeigen auch Menschenrechtler und Um- toren. Von High-Tech konnte keine Re- dung sichtbar. weltschützer oder die sonst immer so be- de sein, nicht einmal von Bau-Tech. Die Ein ursächlicher Zusammenhang – et- sorgten „Ärzte gegen den Atomtod“. unterirdischen Röhren an den Kontroll- wa: 1988 mit Gammastrahlen beschos- „Das hat sich erledigt“, bellt Oberst stellen liefen oft voll Wasser; man nannte sen, imJahr 2004 an Leukämie erkrankt – Karl Bauch, L.s Vorgesetzter. „Das sind das „Havarie“. läßt sich in keinem Einzelfall beweisen. doch Sachen von vorgestern!“ Die ande- Die Wende hat OTS noch einmal zu Die potentiellen Opfer der radioakti- ren Herren vom MfS geben sich gelas- Hochform getrieben. Peter B. und Chri- ven Fahndung werden im „statistischen sen. Major L. und seine Kameraden ha- stian P. sammelten blitzschnell alle Gam- Rauschen“untergehen: Der Berufskraft- ben wieder Arbeit, meist im Handel. mastrahler ein, 17sind dokumentiert. Al- „Hoheitliche Aufgaben nehme ich nicht le Szintillatoren, Bildschirme und Kabel mehr wahr“, sagt L. „Zum Staat verschwanden über Nacht. Zurück blie- „Das hat sich erledigt, oder zum Geheimdienst will ich nie wie- ben die leergeräumten Beschaubrücken das sind doch der.“ und dunkle Röhren unter Beton und Bi- Sein Kamerad Friedhelm N. widmet tumen. Sachen von vorgestern“ sich jetzt hauptberuflich dem Gegenteil Anfang 1990, noch regierte der Genos- seines einstigen Tuns – er ist „Strahlen- se Modrow, verwischten die Grenzkom- fahrer ist ja nicht nur immer wieder mit schutzberater“ geworden. Die dreistufi- mandanten auch diese letzten Spuren. In Gammastrahlen bombardiert worden, ge Ausrede der Stasi-Offiziere – „Ich Hirschberg blieb nur ein herrenloser er hat wahrscheinlich auch geraucht, habe keinem geschadet“; „Es war ein Flachbau samt Schaltschrank mit vielen Geräuchertes gegessen oder irgendwann Befehl“; „An Einzelheiten kann ich schönen Sicherungen übrig, auch heute einen krebskranken Blutsverwandten mich nicht erinnern“ – hat Friedhelm, noch eine Fundgrube für den entschlosse- beerdigt. ein gelernter Diplompsychologe und als nen Plünderer. Ionisierende Strahlen dürfen, so be- Analytiker im MfS hoch gelobt, fünf Das OTS-Equipment – oder was von stimmen es internationale Verträge und Jahre nach der Wende noch einmal ver- ihm noch da war – lag ein paar Wochen in die bundesdeutschen Gesetze, am Men- dichtet. Trotz des Vorhalts handfester einer Berliner Halle herum, die jetzt schen nur zu dessen Wohl und niemals Beweise bleibt er dabei: „Ich war nie bei „Getränke-Hoffmann“ nutzt. Dann ver- ohne seine ausdrückliche Zustimmung der Stasi. Nein, das war ich nicht. Viel- schwand alles spurlos und auf Nimmer- angewendet werden. Im Atomenergie- leicht war es irgendein anderer.“ wiedersehen. gesetz der DDR stand davon aber Oberst Gerhard B., der nicht mal ei- Deshalb ist die Frage, wie stark die nichts. Dort hieß es: „Die Deutsche De- nen Hund aus der DDR entweichen Strahlenbelastung war, denen die Rei- mokratische Republik wendet die ließ, hat nach der Wende stark getrun- senden ausgesetzt wurden, nur ziemlich Atomenergie nur zu friedlichen Zwek- ken, Schnaps aus Flachmännern. Er theoretisch zu beantworten. Es versteht ken an.“ Ist Grenzkontrolle etwa kein wurde immer stiller und dünner. Im sich, daß die befragten Herren Physiker friedlicher Zweck? letzten Jahr ist er an Leberzirrhose ge- unterschiedlicher Ansichten sind, je nach Herkunft und Amtsstellung. Wenigstens rechnen sie alle in Nano-Sievert (nSv), der neuen Maßeinheit. 15nSvpro Durchfahrt hat der Gamma- strahlenkonstrukteur Franz L. ausge- rechnet. Dr. Lorenz vom ehemaligen Staatlichen Amt für Strahlenschutz und Atomsicherheit der DDR brachte als „Dosisabschätzung“ 1000 nSv zu Papier, korrigierte sich einige Wochen später aberauf50nSv,ein Zwanzigstelseiner er- sten Rechnung. Die West-Berliner Strahlenmeßstelle des Senats traut den Brüdern aus dem Osten nicht. Laut Ost-Physik mindern Autodach und -himmel das Gamma- strahlenquantum. Aus westlicher Physi- kersicht ist die Sache genau umgekehrt: Das Blech, die Lackierung und die innere Verkleidung des Autodaches sind „aus- gedehnte Streukörper“. Sie wirken wie Verstärkerfolien, die man in der Rönt- gentechnik zur Dosissteigerung einsetzt. Auch Bodenblech und Fahrbahndecke streuen die Strahlung ausgerechnet in Grenzübergang Drewitz: Alles durchdringende Augen

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WISSENSCHAFT

storben. Kein Kamerad hat ihn beglei- Apryl Purington hatte Glück im Un- kommt es bei der Stammzellen-Über- tet. glück: Noch ehe die Spendersuche in tragung seltener als bei Knochenmark- Heinz Fiedler, Generalleutnant Heinz Gang kam, stellte sich heraus, daß die transplantationen zu Komplikationen. Fiedler, der ranghöchste Grenzwächter Mutter des Mädchens schwanger war. Auch werden die Spender, anders des MfS, verantwortlich für alle Strah- Das heranreifende Geschwisterkind, so als bei der Entnahme von Knochen- lenkontrollen, litt damals schon an De- erklärten die Mediziner in Pittsburgh mark unter Narkose, durch die Zell- pressionen. Der kleingewachsene Mann (US-Staat Pennsylvania), werde gleich entnahme nicht belastet. Und schließ- ist über den Verlust der DDR nie hin- nach seiner Geburt der schwerkranken lich: Das neue Heilverfahren ist billig. weggekommen. Schwester zu Hilfe kommen – mit einer Nur einige hundert Dollar kostet in Sie hat dem Arbeiterkind alles gege- Blutspende aus der Nabelschnur. den USA die Nabelblutkur, bis zu ben – eine Dienstvilla, die helle Gene- In den Adern der Nabelschnur, die 20 000 Dollar dagegen eine Knochen- ralsuniform, Dutzende blitzender Or- den Kreislauf des Fötus mit der Plazenta markverpflanzung. den und gratis den Doktortitel der Juri- verbindet, zirkulieren reichlich soge- In den USA, aber auch in Großbri- stischen Hochschule Potsdam. Fiedler nannte Stammzellen, Vorläufer der ro- tannien wurden inzwischen Nabel- promovierte 1975 als 47jähriger Fernstu- ten und weißen Blutkörperchen. Diese schnurblutbanken etabliert. Innerhalb dent über „Organisierung der Vorbeu- noch unausgereiften Blutzellen, die der nächsten Jahre soll dort ein mög- gung, Aufklärung und Verhinderung beim Fötus nicht im Knochenmark, son- lichst großer Vorrat an Stammzell- des ungesetzlichen Verlassens der DDR dern in Leber und Milz produziert wer- Transplantaten aufgebaut werden. Die und der Bekämpfung des staatsfeindli- den, sind von den Ärzten vor einigen Sammlung, mit einem breiten Spek- chen Menschenhandels“ – vertrauliche Verschlußsache, 150 Seiten, Literatur- angaben: keine. Nach der Wende mußte der General Uniform und Dienstpistole abliefern. Seine Orden schlug er eigenhändig mit dem Hammer kaputt. Dann stürzte er sich aus dem Badezimmerfenster, drei Meter tief. Das war ein Schrei um Hilfe, er wurde nicht erhört. Ende letzten Jahres hat sich General- leutnant Heinz Fiedler erhängt. Y

Medizin Rettung vom Fötus K. OXENIUS / TRANSPARENT Mediziner behandeln Blutkrankhei- Neugeborenes: Blutspende aus der Nabelschnur

ten wie Leukämie, aber auch Jahren als Heilmittel gegen Leukämie trum unterschiedlicher Immuneigen- Erbkrankheiten neuerdings mit und andere Blutkrankheiten entdeckt schaften, wird eine Zellübertragung Blutzellen aus der Nabelschnur. worden. auch dann ermöglichen, wenn Spender 1989 hatten französische Mediziner und Empfänger nicht miteinander ver- erstmals Nabelschnurstammzellen trans- wandt sind. ier Jahre alt war Apryl Purington, plantiert. Seither ist das Experiment an Vorerst allerdings bremsen Rechts- als ihr die Ärzte eine niederschmet- weltweit rund 50 durchweg jungen Pa- barrieren den Fortschritt. Die US-Fir- Vternde Diagnose stellten. Das krän- tienten wiederholt worden. In fast allen ma Biocyte hat sich die Patente für die kelnde Kind, so erfuhren die Eltern, lei- Fällen stammte die Nabelblutspende Lagerung und therapeutische Anwen- de an einer bösartigen Form von Blutar- von nahen Verwandten der Kranken. dung eingefrorener Nabelschnurblut- mut – nicht auszuschließen, daß Apryl Bei dem Verfahren werden zunächst zellen gesichert. Der Patenschutz ist nur noch zwei, drei Jahre zu leben habe. die Blutzellen des Empfängers durch derart weit gefaßt, daß nahezu jeder Bei der schleichend verlaufenden Röntgenstrahlen oder eine Chemothe- Einsatz der neuen Behandlungstechnik Krankheit („aplastische Anämie“) ver- rapie vernichtet. Die dann folgende Pro- ohne Biocyte-Genehmigung mit juristi- siegt die Produktion von Blutkörper- zedur ist denkbar simpel: Das aus der schen Risiken befrachtet ist. chen im Knochenmark des Patienten. Nabelschnur des Spenders abgesaugte Bei Biocyte können Eltern gegen Rettung verspricht allenfalls die Trans- Blut – kaum mehr, als in einen Eierbe- Gebühr das Nabelschnurblut ihrer plantation von fremden Knochenmark- cher paßt – wird in eine Armvene des Nachkommen einfrieren lassen. Die zellen. Kranken injiziert. Tiefkühlkonserven sind nahezu unbe- Doch die Chancen dafür stehen in der Im Erfolgsfall nisten sich die fremden grenzt haltbar. Mit Hilfe biologischer Regel schlecht. Allein in den USA su- Stammzellen im Knochenmark des Wachstumsfaktoren, so hoffen Exper- chen jährlich rund 20 000 Patienten eine Empfängers ein und nehmen dort die ten, werde es demnächst gelingen, die Knochenmarkspende; nur gut 5000 von Produktion von intakten Blutzellen auf. archivierten Stammzellen im Labor ihnen haben Erfolg. Häufig sterben die Die bislang überschaubaren Ergebnis- nach Belieben zu vermehren. Kranken, bevor sich ein immunologisch se der Nabelbluttherapie sind nach An- Auch gentherapeutischen Zwecken geeigneter Spender für sie findet. sicht der Mediziner ermutigend. So werden die Nabelblutzellen in Zukunft

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en Element Nummer 110, ei- rezept: Zunächst erhitzen sie Nickel, bis ner Art massivem Edelmetall- das Metall bei 1500 Grad Celsius ver- bruder von Platin – es ist der dampft. Mit elektrischen Feldern wer- bislang schwerste Stoff der den die Gasteilchen sodann auf 50 000 Welt. Kilometer pro Sekunde beschleunigt In dem neugeschaffenen und, in Form eines fingerdicken Teil- Kern drängeln sich 110 positiv chenstrahls, durch eine hauchdünne geladene Protonen (die be- Schicht aus Bleiatomen geschossen. In stimmen, um welches Element jeder Sekunde prasseln 1000 Milliarden es sich handelt) und 159 elek- Nickelionen gegen die Bleifolie. trisch neutrale Neutronen. Die Trotz dieses atomaren Trommelfeu- Anhäufung von derart vielen ers kommt es nur etwa alle eineinhalb positiv geladenen Kernbaustei- Tage zur Bildung eines neuen, super- nen, die sich gegenseitig absto- schweren Kerns, der dann von einem ßen, macht das Element 110 zu Detektor aufgefangen wird. Die Aus- einer äußerst kurzlebigen Er- beute ist so dürftig, als müßte man den scheinung: Schon nach drei gesamten Bodensee durch ein Sieb kip- zehntausendstel Sekunden be- pen, um einen einzigen gesuchten Was- ginnt der Teilchenklotz wieder sertropfen herauszufiltern.

STIEBING / ZENIT zu zerbröseln. In ganz anderen Mengen werden die

H.-P. Gleichwohl bleibt die Erzeu- chemischen Elemente in der Natur pro- Leukämiekrankes Mädchen gung des Phantoms eine Spit- duziert. Alle auf der Erde natürlich vor- Heilmittel vom Geschwisterkind? zenleistung. Kein anderes For- kommenden Substanzen – vom Sauer- schungsinstitut sei derzeit im- stoff in der Luft bis zum Eisen im Boden dienen. Ärzte am Children’s Hospital in stande, diesen Schöpfungsakt im Labor – sind einst im Innern von Sonnen ent- Los Angeles behandelten unlängst drei nachzumachen, sagt Physiker Sigurd standen: Aufgrund der gewaltigen Tem- Kleinkinder, die unter einer angebore- Hofmann, 50, Leiter des Forscher- peraturen, die in den kosmischen Back- nen Immunschwäche litten, mit Stamm- teams: „Wir experimentieren an der öfen herrschen, werden die leichteren zellen aus der eigenen Nabelschnur. Grenze des technisch Machbaren.“ Atomkerne wie Wasserstoff und Helium Zuvor hatten die Mediziner das für Die Verschmelzung von so schweren nach und nach zu immer schwereren die Krankheit verantwortliche fehlende Atomkernen klappt nur äußerst selten: Kernen verschweißt. oder defekte Gen in die Blutzellen ein- Prallen die Teilchen mit zu geringer Ge- Wenn ein Stern am Ende seines lan- geschleust. „Diese Zellen“, erklärten schwindigkeit aufeinander, durchdrin- gen, strahlenden Lebens explodiert, die Doktoren nach dem geglückten Ein- gen sie einander erst gar nicht; ist das werden die von ihm ausgebrüteten Ele- griff, „sind offenbar ideale Transport- Crash-Tempo zu groß, fliegt der Kunst- mente hinaus ins All geschleudert, wo mittel für eine Genübertragung.“ Y kern gleich wieder auseinander. sie sich im Laufe von Jahrmillionen ver- Das Geschick der Darmstädter Kern- teilen. Der schwerste auf der Erde exi- physiker lag darin, Zutaten und Zube- stierende Stoff, der vor Äonen beim Kernphysik reitung optimal auszuwählen. Erst muß- Bersten von Sonnen gebildet wurde, ist ten sie die geeigneten Ausgangskerne das radioaktive Element Uran (92 Pro- finden, dann die richtige Kollisionsge- tonen). schwindigkeit ermitteln. Ihr in aufwen- Vor mehr als 50 Jahren sprengte der Land in Sicht digen Vorversuchen gefundenes Koch- Mensch erstmals das Periodensystem Darmstädter Physiker haben ein neues chemisches Element geschaffen – den schwersten Stoff der Welt.

n der modernen Kernphysik geht es zu wie in einer Hexenküche: Äpfel Iwerden gegen Birnen geschleudert – und, Simsalabim, entsteht eine neue, noch nie dagewesene Superfrucht. Mit solcher alchimistisch anmutenden Wurftechnik versuchen Physiker, immer schwerere, in der Natur nicht vorkom- mende chemische Elemente zu erschaf- fen: Die Forscher schießen Atomkerne aufeinander, damit diese zu superschwe- ren Kunstkernen verschmelzen. Vor wenigen Wochen erzielten Physi- ker der Darmstädter Gesellschaft für Schwerionenforschung (GSI), wie schon einmal vor zehn Jahren, einen wichtigen Durchbruch: In ihrer 120 Meter langen

Beschleunigerröhre „Unilac“ vereinig- B. BOSTELMANN / ARGUM ten sie Nickel- und Bleiatome zum neu- Kernphysiker Hofmann, Detektor: „Experimente an der Grenze des Machbaren“

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WISSENSCHAFT

Wochen oder Monaten das Element 111 finden.“ Einen praktischen Nutzen hat das auf- wendige Erzeugen künstlicher Elemente nicht. Für alle Zeiten wird dieser experi- mentelle Zweig der Kernphysik, der am GSI in den letzten zehn Jahren mehrere Millionen Mark verschlungen hat, ein teures Glasperlenspiel bleiben. Selbst wenn sich nämlich das Element 114, es wäre eine Art Superblei, über ei- nen sehr langen Zeitraum als stabil er- weisen sollte – nutzbare Mengen davon ließen sich nicht produzieren. Bis in dem Unilac-Beschleuniger der GSI auch nur eine Messerspitze von dem Stoff zu- sammenkäme, vergingen circa neun Trillionen Jahre. Y

Archäologie

B. BOSTELMANN / ARGUM Schlacht Kontrollraum des Darmstädter Teilchenbeschleunigers: Atomares Trommelfeuer der natürlichen Elemente. 1940 schufen Anfang der achtziger Jahre stürmte im Schlick Physiker mit ihrem Kernreaktor am dann das Darmstädter GSI-Team an die Lawrence Berkeley Laboratory ein Spitze der Elementenbastler. Anders als Der Bremer Ethnologe Duerr will – Atom mit 93 Protonen im Kern, einem die Amerikaner verfolgten die GSI-For- SPIEGEL 47/1994 – die versunkene Proton mehr, als das Uranatom enthält. scher die Strategie, annähernd gleich Dieses erste „Transuran“ erhielt, nach schwere Atome miteinander zu ver- Hafenstadt Rungholt geor- dem im Sonnensystem auf Uranus fol- schmelzen, beispielsweise Eisen- und genden Planeten, den Namen Neptuni- Wismutkerne. tet haben. Ist Duerr ein Spinner? um. Binnen weniger Jahre gelang den Wenige Monate später ließ damals ei- Kernphysikern so die Erzeugung der bis Wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, daß ihre Gegner ne Forschergruppe das erste Mikro- dahin unbekannten Elemente 107, 108 überzeugt werden ( . . .), sondern vielmehr da- gramm jenes Transurans entstehen, das und 109. durch, daß die Gegner allmählich aussterben. sich mittlerweile in Tonnenmengen über Die Kunstkerne waren äußerst flüch- Max Planck (1858 bis 1947) die Erde verbreitet hat und das Fortbe- tig, sie hatten jeweils nur eine Lebens- stehen jedes höheren Lebens bedroht: dauer von einem Bruchteil einer Sekun- och im Norden, im Wattenmeer Element 94, Plutonium, benannt nach de. Es bestätigte sich der Grundsatz: Je zwischen Nordstrand und Pell- dem äußersten Planeten im Sonnensy- dichter ein Kern mit Protonen bepackt Hworm, erhob sich vor 700 Jahren stem. ist, desto schneller fällt der Teilchen- eine prächtige Hafenstadt. Weitere Transurane entstanden in haufen wieder auseinander. Die Händler der Siedlung schacherten dem Höllenfeuer, das durch die Zün- Den physikalischen Theorien zufolge mit Salz, Korn, Butter und Wolle – Ex- dung von Kernwaffen entfacht wurde. muß es allerdings Ausnahmen von die- portwaren, die ins Rheinland und nach Die Elemente 99 und 100 etwa fand der ser Regel geben. Jenseits der schon be- Flandern verschifft wurden. Sonntags US-Physiker Albert Ghiorso 1952 auf kannten Elemente müssen „Inseln der besuchten die Rungholter ihre „ecclesia dem Pazifik-Atoll Eniwetok im Strah- Stabilität“ existieren, superschwere cum collegio“, eine Stiftskirche mit Prie- lenmüll der ersten Wasserstoffbombe: Kerne, die sich nicht in Mikrosekunden sterunterkünften. In einem Fetzen Filterpapier, der durch wieder in leichtere umwandeln, sondern Im Jahr 1362 war es mit dem Wohl- die Explosionszone gewirbelt worden womöglich Stunden, Jahre oder Jahr- leben vorbei. Eine furiose Sturmflut war, stieß er auf Einsteinium (Ord- milliarden überdauern. („Grote Mandränke“) vernichtete das nungszahl 99). Fermium, das Element Eine solche ruhende Insel in einem „oppidulum“ (Städtchen). Weitere sie- 100, steckte in einem Abfallcontainer Meer der Vergänglichkeit soll, wie die ben Ansiedlungen („Kirchspiele“) der mit radioaktiv verseuchtem Korallen- Physiker errechnet haben, beim Ele- Edomsharde, deren Hauptort Rungholt schutt. ment 114 liegen. Sie zu erreichen ist das war, verschwanden in den Fluten. Später waren es die Teilchenbeschleu- eigentliche Ziel des jahrzehntelangen Das mittelalterliche Debakel hat die niger, in denen die Wissenschaftler Wettlaufs; verbunden wäre damit, so Spökenkiekerei nachhaltig befruchtet. Schöpfung spielten. Die Liste künstli- hofft GSI-Forscher Hofmann, „eine er- Noch heute, glaubt der Volksmund, er- cher Elemente wuchs. sehnte Bestätigung unserer Modelle klingen Rungholts Kirchglocken im Lange Zeit führend waren die US- vom Aufbau des Atomkerns“. Watt. Kleriker deuteten den Untergang Forscher in Berkeley bei San Francisco Und wirklich, es scheint Land in des Ortes als Strafgericht Gottes gegen mit ihrer Methode, ganz leichte Atom- Sicht: Vom Element 109 zum Element die heidnischen Friesen. kerne gegen ganz schwere zu schleu- 110 hat die Lebensdauer zumindest Doch wo lag der unselige Ort? Erste dern. Erst 1974, mit der Herstellung des nicht mehr, wie bisher, weiter abgenom- Rekonstruktionsversuche unternahm Elements 106, endete die Erfolgsserie men. „Spannend könnte es werden“, 1636 der königlich dänische Geograph der Kalifornier. meint Hofmann, „wenn wir in einigen Johannes Mejer. Nachdem er „fleiszig

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den Tieffen nachgefahren“ war und Südfall“, heißt es in einer alten Quelle. „alte glaubwürdige Männer“ befragt Diese Angabe, auf den Mejer-Plan pro- hatte, zeichnete er seine Karte von der jiziert, ließ nur den Schluß zu: Rung- Nordseeküste und ihren versunkenen holt muß nördlich der Hallig Südfall Siedlungen (siehe Abbildung). liegen. Mit dieser Skizze als Wegweiser im Eine famose Logelei. Doch seit Ver- Gepäck schipperte im Sommermonat öffentlichung der Scherbengeschichte Juni der Bremer Kulturhistoriker Hans im SPIEGEL vor vier Wochen wird Peter Duerr, 51, ins ehemalige Kata- Duerr als Scharlatan hingestellt. An- strophengebiet – und entdeckte auf An- statt ihn als Spurensucher des friesi- hieb Reste einer mittelalterlichen Groß- schen Atlantis zu feiern, verhöhnen siedlung im Schlamm. seine Gegner ihn als archäologischen Um an sein Ziel zu gelangen, hatte Hanswurst. Duerr die alte Landkarte mit histori- Hans-Joachim Kühn vom Landesamt schen Notizen abgeglichen. „Niedam ist für Vor- und Frühgeschichte in Schles- wig kann den abgelie- ferten Wattenschätzen nur „ein müdes Lä- Historische Karte von cheln“ abgewinnen. Johannes Mejer (1636) Duerrs Fundstelle sei seit Jahren bekannt, „gut erforscht“ und kartiert. Die angebli-

chen Neuigkeiten sei- P. MEYER / FORUM en „absoluter Un- Rungholt-Forscher Duerr sinn“. Ähnlich ab- Famose Logelei Halgenes Rungholt schätzig äußerte sich der Direktor des Nord- sumpfigen Nordseeküste. Hansekoggen friesischen Museums, aus Hamburg und Bremen fuhren durch Klaus Lengsfeld. den Heverstrom bis an die Stadt heran. Auch die Zeit schlug Geladen wurde vor allem rotschimmern- sich auf die Seite der des, aus meernassem Torf gewonnenes Duerr-Kritiker. „Al- Salz. lerweltsscherben“ ha- Nicht nur die Zweifel an der Größe be der langhaarige Rungholts, auch die niederschmettern- Wattwühler da aus der den Urteile gegen Duerrs Scherben- Nordsee geklaubt, zu- schatz stehen einstweilen ohne Beweise Niedam dem sei Rungholt da. Vielmehr brachten sich die Gra- höchstens ein Fischer- bungsbürokraten in ihrer Abwehr- Puzzle im Watt dorf gewesen: „Locker schlacht gegen den Bremer Quereinstei- streuten sich die Frie- ger mit Nonsens-Argumenten selber in Suche nach der Friesen-Siedlung Rungholt senhäuser.“ die Klemme. Anhand einer historischen Karte von 1636 (oben) rekonstruierte Rungholt ein Kü- Obwohl Duerr – die Flut stieg schon – der Bremer Wissenschaftler Duerr die mutmaßliche Lage der Friesen- stenkaff? Eine alte nur wenige Stunden für die Notbergung stadt Rungholt. Scherben und Mauerreste, die Duerr nördlich der Landkarte des arabi- seiner Artefakte hatte, konnte er ein in- Hallig Südfall entdeckte, bestätigen seine Hypothese. schen Geographen taktes Holzfaß und rheinische Keramik Damit wird die bisherige Rungholt-Forschung, welche die Überreste Scharif el-Idrissi aus aus dem Schlamm retten. Er entdeckte der Stadt an anderen Orten vermutete, in Zweifel gezogen. dem 12. Jahrhundert die Überreste eines kompletten friesi- frühere angebliche Duerrs neue Zuordnung legt einen anderen schen Langhauses samt Feuerstelle sowie Rungholt-Funde der Fundstätten Schluß nahe. Ganze die Ruinen eines „riesigen Steinhauses“ vier Städte zeichnet er (Duerr) mit Findlingsfundament und Findlingsfundament auf seinem Plan der Ziegelsteinstümpfen. Vergleichbare Bauernhaus „kimbrischen Halbin- Entdeckungen wurden im Watt bislang Halgenes sel“ Dänemark ein. Ei- nicht gemacht. ne davon, al-Sila ge- Die nordfriesischen Provinzarchäolo- Warften Rungholt nannt, ist mutmaßlich gen hingegen spielen den Rang der mit Rungholt iden- Duerr-Funde herunter. Das Geheimnis Kirchwarft tisch. Idrissis Beschrei- um Rungholt ist – aus ihrer Sicht – längst von Rungholt Südfall (heute) bung: al-Sila sei „eine gelöst. Demnach lag die Stadt südlich der kleine, von seßhafter Hallig Südfall, und nicht nördlich, wo Sielzug jetzige Bevölkerung bewohn- Duerr seine Scherben ausgrub. Südfall-Warft te Stadt, in der sich fe- Dieses offizielle Forschungsdogma ste Märkte und dauer- stützt sich auf Feststellungen des Nord- hafte Bauten befin- strander Bauern Andreas Busch. 1921 Südfall den“. stieß der Hobbyarchäologe auf mächtige Deich (1804) Der Hafen der Frie- Schleusenpfähle südlich der Halligkante senmetropole spielte von Südfall. Schleuse 0 100 500m wahrscheinlich eine In späteren Jahren erblickte der fleißi- von Rungholt Niedam wichtige Rolle an ge Schlammtreter insgesamt 28 Warften der dünnbesiedelten, (Gehöfthügel) samt Brunnen und Kera-

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WISSENSCHAFT

mikscherben. Eine der Erhebungen er- in Husum helle Empörung aus. Ein sagt ein Kenner, „ist in einem Sumpf klärte Busch zur „Kirchwarft“ von langhaariger, gebürtiger Kurpfälzer und von subjektiven Ansichten und persönli- Rungholt (siehe Grafik Seite 183). „Hexenforscher“ (Husumer Nachrich- chen Eitelkeiten gefangen.“ Mittlerwei- Doch stammen die alten Funde, in ten) hatte es gewagt, den verstorbenen le stehen noch weitere Artefakte im norddeutschen Museen als Rungholt- Provinzpapst Wohlenberg anzugreifen. Verdacht der Falschdatierung. Reliquien ausgestellt, wirklich alle aus Das Museumskuratorium entschloß sich Doch die Wohlenberg-Fraktion setzt der sagenumwobenen Stadt? Bereits zur Gegenwehr. weiter auf Verdunkelung. Seit Monaten Anfang der achtziger Jahre ließ der da- erbittet Duerr einige Gramm Material malige Husumer Museumschef Erich des Schleusenholzes, um dessen Alter Wohlenberg in Köln eine C-14-Alters- „Wenn’s den Leuten nicht mit der C-14-Methode erneut zu über- datierung an Buschs Schleusenbalken paßt, akzeptieren prüfen. Lengsfeld lehnt ab. Begrün- vornehmen. Ergebnis der Präzisions- dung: Diese Datierungstechnik sei messung: Das Material stammt aus der sie die Resultate nicht“ „wenig tauglich“. Ein erstaunliches Ar- Zeit von 1700, plus/minus 20 Jahre. gument. Das C-14-Verfahren, das auf Nach der Datierung, heißt es, sei Doch die Äußerungen der verant- dem Zerfall eines bestimmten Kohlen- Wohlenberg nachgerade „zusammenge- wortlichen Archäologen, die den Vor- stoff-Isotops basiert, gilt als exakte Me- brochen“. Die Schleuse, Kernstück der wurf der Schwindelei entkräften sollten, thode zur Altersbestimmung von orga- Rungholt-Forschung, stammte aus dem wirkten konfus. Während die Museums- nischen Materialien. Bezweifelt wird sie Spätbarock. Was tun? Wohlenberg, bis leute in Schleswig alles abstritten („Die meist von Forschern, die sich in ein fal- zu seinem Tode 1993 von Insidern ge- Schleuse ist bis heute nicht datiert“), sches Hypothesengeflecht verstiegen ha- fürchtet als „Wissenschaftsfürst und au- sprach der Husumer Lengsfeld von ben. Mebus Geyh, Leiter des C-14-La- toritärer Professor alter Schule“, ent- „wiederholten Datierungsversuchen bors in Hannover: „Wenn’s den Leuten schied sich zu schweigen. Er verschloß zwischen 1977 und 1985“, deren Unter- nicht in den Kram paßt, akzeptieren sie die Unterlagen im Privatsafe. lagen allerdings verschwunden seien. unsere Resultate nicht.“ Als der SPIEGEL Ende November Die Nordseeküste als Bermuda-Drei- Soll das merkwürdige Lavieren der über die Duerr-Funde berichtete, brach eck. „Die ganze Rungholt-Forschung“, friesischen Archäologen von eigenen

Umwelt Die meisten Hersteller, de- ren Produkte beanstandet wur- den, rühren allerdings, dank verfeinerter Fertigungstechni- Dauerhaft ken, inzwischen weit weniger MBT in ihre Schnuller als noch vor einigen Jahren. Marktfüh- elastisch rer Mapa („Nuk Magic“) ver- sprach, „in absehbarer Zeit“ Neueste Meldung von der ganz auf MBT zu verzichten. Das schafft der Hersteller Pre´- Giftfront: Schnuller können natal schon heute. Allergien auslösen. Der Chemiker Frank Kue- bart vom Kölner Eco-Institut, abys leben gefährlich: In billi- der die verschiedenen Gummi- ger Gemüsepampe aus dem sauger getestet hat, weist dar- BGlas steckt Insektenvertilger; auf hin, daß selbst zwischen Knetgummi birgt giftige Schwerme- ACTION PRESS Schnullern vom selben Her- talle; über die Kleidung dringen Baby mit Gummischnuller steller „gewaltige Unterschie- krebserregende Färbemittel in die Gefahr vom Naturprodukt de“ lägen. „Eine Faustregel Haut ein; in der Muttermilch lautet: Je älteren Herstellungs- schwappt das Pestizid Lindan. Gummi gilt als ideales Schnuller- datums der Sauger, desto stärker Nun hat die Umweltzeitschrift material, weil die Kleinen aus dem verseucht.“ Öko-Test eine neue Bedrohung für hochelastischen und extrem reißfe- Nicht nur Schnuller können Aller- den krabbelnden Nachwuchs ent- sten Naturprodukt keine Stücke ab- gien auslösen, auch Kondome und hüllt: Auch wer am Schnuller nuk- beißen und hinunterschlucken kön- Haushaltshandschuhe, die aus Kau- kelt, saugt womöglich Giftstoffe in nen (geriete ein Gummipfropfen in tschuk gefertigt werden. Von einem sich hinein. die Atemröhre, bestünde Erstik- alarmierenden Trend berichtete die 16 von 20 untersuchten „Trink- kungsgefahr). Ärztezeitung: Bereits 20 Prozent des und Beruhigungssaugern“ für deut- Ausgangsstoff für Gummi ist der chirurgischen Personals in den Klini- sche Babymäuler enthielten den Rindensaft des Kautschukbaums, ei- ken seien allergisch gegen Gummi. Stoff 2-Mercaptobenzothiazol ne zähe, milchige Flüssigkeit, die un- Schon wenige Minuten nach dem (MBT) – eine Substanz, welche die behandelt aushärten würde und Kontakt mit Handschuhen oder Fin- Mediziner als einen der zwei Dut- dann so spröde wäre wie trockenes gerlingen, elastischen Binden oder zend wichtigsten Allergie-Auslöser Brot. Erst ein spezielles Fertigungs- Beatmungsmasken rötet sich bei vie- einstufen. In Rattenexperimenten verfahren („Vulkanisation“) gibt len die Haut und fängt an zu jucken. amerikanischer Wissenschaftler hat dem Kautschuk dauerhafte Elastizi- Selbst ein sogenannter allergischer sich MBT sogar als krebserzeugend tät. Vorangetrieben wird dieser che- Schock kann sich laut Ärztezeitung erwiesen. mische Prozeß durch MBT. durch Gummi einstellen.

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Versäumnissen ablenken? Bislang ha- der Wollemi-Bäume kannten die Pflan- ben sie ihren im Watt zusammenge- Botanik zenforscher bislang nur von Versteine- klaubten Ruinenteppich meist nach rungen aus dem Museum. Augenmaß datiert und zu einem kon- In einer winzigen Nische des australi- turenarmen Gebilde verwoben, „Rung- schen Regenwaldes – sie mißt gerade so- holt-Komplex“ genannt. Im stillen viel Quadratmeter wie ein Fußballfeld – Die von Duerr und seinen Mitstrei- haben die jetzt gefundenen Pflanzen seit tern geborgenen Scherben sind nach- damals praktisch unverändert überlebt; weislich vor 1362 gebrannt worden. Winkel jahrmillionenlang wuchsen und ver- Zudem haben die Bremer Wissen- mehrten sie sich nahezu ungestört. schaftler einen plausiblen Rekonstruk- Zum Christfest ein Bäumchen aus Das älteste der heute noch lebenden tionsplan der untergegangenen Küsten- der Dinosaurier-Epoche? Ein 39 Exemplare ist knapp 300 Jahre alt. welt entworfen. Wie durch ein Wunder blieben die Ur- Duerrs Vermutung zufolge traf die urzeitlicher Same keimt schon. weltbäume sogar vom verheerenden mittelalterliche Sturmflut den Hauptort Jahrhundertfeuer verschont, das An- Rungholt mit voller Wucht. Mächtig ls der Ranger David Noble, 29, im fang Januar um die Hafenstadt Sydney wälzte sich die Flutwelle durch den Sommer die unwegsamen Regen- herum wütete und bei dem fast eine Mil- Heverstrom, schwappte durch den Awälder des Wollemi-Nationalparks lion Hektar Urwald niederbrannten. Rungholtsiel und verschlang die Stadt. durchstreifte, stieß er auf ein Gewächs, „Das ist so“, freut sich Carrick Cham- Doch die Grote Mandränke vernich- das er nirgendwo zuvor gesehen hatte. bers, Direktor des Botanischen Gar- tete nicht alle Teile der Gegend. Noch In einer tiefen Schlucht wuchsen 40 Me- tens, über den glücklichen Zufall, „als im Jahr 1400 trieben die Ratsmänner der schwer angeschlagenen Edomshar- de Salzhandel mit Bremer Kaufleuten, wie eine Urkunde beweist. Mit Deichen und Warften stemmten sich die Friesen gegen den – durch tek- tonische Landsenkung bedingten – Ab- stieg ins Submarine. Das Kirchspiel Riep bei Rungholt wurde bis 1532 ge- halten. Auch die Nachbarorte Niedam („neuer Damm“) und Halgenes („Hal- lignase“) sind nach der Jahrhundertflut wohl wieder besiedelt worden. Nach eingehendem Studium der al- ten Quellen und nach Abgleich mit sei- nen Fundergebnissen scheint Duerr ei- ne neue schlüssige Topographie des Küstengebiets gelungen zu sein. Die meisten früher geborgenen vermeintli- chen Rungholt-Artefakte stammen demnach aus kleinen Kirchspielen, welche die Katastrophe überlebten. Buschs Schleuse wäre dem Ort Niedam zuzuordnen, die angebliche „Kirch-

warft“ von Rungholt dem Dörfchen REUTER Halgenes. Botaniker Hill, Urbaum-Entdecker Noble*: Fund an geheimem Ort Doch die Forschungsbeamten in Schleswig wollen von solchen Hypothe- ter hohe Bäume mit Nadeln wie aus hätten wireinen kleinen Dinosaurier ent- sen nichts wissen. Unnachgiebig zeigt Wachs und einem Stamm, der aussah, deckt, der in einem stillen Winkel der Er- sich der Landesarchäologe Joachim als wäre er von Schokoladenstückchen de überlebt hat.“ Von einem der „bedeu- Reichstein in seinem Bemühen, den überzogen. tendsten Funde dieses Jahrhunderts“ „Bremer Piraten“ Duerr als Scherben- Der Ranger seilte sich ab, knipste von schwärmt der Botaniker Ken Hill. dieb hinzustellen. einem der Bäume ein paar Zweige ab Zum Schutz vor Besuchern halten die Der Vorwurf des Raubgrabens ge- und legte diese den Experten am Bota- australischen Behörden den genauen gen Duerr wurde nach dem SPIEGEL- nischen Garten im 200 Kilometer ent- Standort der seltensten Nadelbäume der Bericht erneut erhoben. Ein Ermitt- fernten Sydney zur Begutachtung vor. Welt streng geheim. lungsverfahren des Landratsamtes Hu- Drei Monate grübelten die australischen Um die Urzeitbäume zu retten, haben sum, das bereits eingestellt worden Botaniker, bis sie das rätselhafte Blatt- die Biologen des Botanischen Gartens war, wurde wiederaufgenommen. Die werk identifiziert hatten. Samen entnommen und in eine Nährlö- beamteten Friesen-Forscher wollen an Letzte Woche kam es heraus: Ranger sung gelegt. Einer dieser urzeitlichen Sa- ihrem Rungholt-Bild nicht rütteln las- Noble hat ein lebendes Fossil entdeckt – men, aus denen nach einigen Jahren neue sen. eine 150 Millionen Jahre alte Nadel- Bäume sprießen könnten, hat schon ge- Man weiß, wohin soviel Halsstarrig- baumart aus jener Vorzeit, als die Dinos keimt – erster Schritt zu einem Riesenge- keit führen kann. „Wir trotzen dir“, durch einen Wald aus Palmfarnen, schäft? rufen im Lesebuchklassiker „Trutz, Schachtelhalmen und Nadelhölzern „Machen wir uns nichts vor“, prophe- Blanke Hans“ von Detlev von Lilien- trampelten. Die nächsten Verwandten zeit Mark Savio, Kurator des Botani- cron die Bürger Rungholts der aufge- schen Gartens, „schon bald will jeder ei- wühlten See entgegen. Kurz danach * Mit Zweigen vom Urbaum und Versteinerungen nen Baum aus dem Zeitalter der Dino- sind sie ertrunken. Y der nächstverwandten Baumart. saurier bei sich zu Hause haben.“ Y

DER SPIEGEL 51/1994 185 Werbeseite

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Justiz „EINE ART BANKÜBERFALL“ Ein Schweizer Kreditbetrüger verursachte in der badischen Provinz einen Schaden von 24 Millionen Mark. Die Tricks funktionierten, weil er mit einem prominenten Namen warb: Johann Berger, Vater des Formel-1-Stars Gerhard Berger. Jetzt zahlt die Familie Berger einen hohen Preis für den Ruhm.

Gerhard Berger wird den Verdacht nicht mehr los, „daß hier jemand die Po- pularität des Sohnes eines Beschuldig- ten dazu nutzt, einen Fall bedeutender zu machen, als er eigentlich ist“. Staats- anwalt Erkert hingegen rechtfertigt die U-Haft damit, daß er Johann Berger für „tief in die Sache verstrickt“ halte. Die Akten lassen dies kaum erken- nen. Denn der Kreditbetrug wurde nachweislich von dem Schweizer Gian- franco Ramoser eingefädelt, der deswe- gen in der vorletzten Woche zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Ramoser, 38, der bei investitionswilli- gen Gemeinden und Bankern den Welt- mann zu spielen verstand, hatte zwi- schen 1989 und 1991 ein internationales Geflecht von Scheinfirmen aufgebaut, mit denen er verdeckte Geldkreisläufe betrieb. Um bei Banken in Deutsch- land, Frankreich und der Schweiz Kre- dite in Höhe von 52 Millionen Mark ab- zugreifen, täuschte Ramoser Eigenmit- tel vor, ließ Fabrikbauten zeichnen, die nie realisiert wurden, und sogar Ge- Beschuldigter Johann Berger, Sohn Gerhard: Tief verstrickt? meinderatsprotokolle fälschen. Die Gelder – der Gesamtschaden be- m vergangenen Freitag hatte For- Anklage zu erheben, scheiterten bisher läuft sich auf 24 Millionen Mark – flos- mel-1-Rennfahrer Gerhard Ber- alle Versuche, den Tiroler Firmenpatri- sen in Ramosers Scheinfirmenlabyrinth. Ager, 35, eine Verabredung zuviel archen freizubekommen. Selbst das An- An den Orten, wo der Eidgenosse Fa- im Terminkalender: Sein Arbeitgeber gebot, eine Kaution über 14 Millionen briken und Maschinenhallen zu bauen Ferrari beorderte ihn zu einer Bespre- Mark zu stellen, lehnte Staatsanwalt vorgab, stehen jetzt Ruinen. „Es war“, chung ins italienische Modena, sein Va- Karlheinz Erkert ab. Berger, so teilte er gab der verurteilte Betrüger vor Gericht ter erwartete ihn im schwäbischen Ulm dessen Verteidigern, den Münchner An- zu, „eine Art Banküberfall.“ – im Besucherraum des Untersuchungs- wälten Lutz Libbertz und Manfred Für seine Betrügereien, so sah es der gefängnisses. Plautz, mit, werde „gegen keine Kauti- Stuttgarter Richter Dieter Geisinger in „Schweren Herzens“ mußte Gerhard on der Welt“ aus der Untersuchungshaft seinem Urteilsspruch, „benutzte Ramo- Berger, 35, die Prioritäten seines Be- entlassen. ser zahllose Menschen als Werkzeuge“. rufs akzeptieren und das Treffen mit Entsetzt über den harten Kurs des Einer von ihnen war der Millionär dem Vater absagen: „Bis Weihnachten Staatsanwalts, erkannte Gerhard Berger und Spediteur Johann Berger (Jahres- wird’s wohl nichts mehr.“ in den letzten Monaten, daß Ruhm und umsatz rund 150 Millionen Mark): Ra- Seit Mitte August sitzt Johann Ber- Wohlstand zuweilen zum Nachteil gerei- moser gewann den Duzfreund als ger, 59, in Haft. Dem Unternehmer, der chen können. Obgleich der neunmalige Hauptaktionär einer in Zürich ansässi- im österreichischen Wörgl über eine Grand-Prix-Sieger an den väterlichen gen Gesellschaft und pries ihn bei der Spedition mit 500 Beschäftigten und 230 Geschäften in keiner Weise beteiligt ist, Stuttgarter Landesgirokasse wortreich Sattelzügen gebietet, legt die Staatsan- hat der Stuttgarter Ankläger den Sohn als finanzstarken Investor für ein 35 Mil- waltschaft Stuttgart zur Last, bei einem geschickt in den Fall eingebunden. Bei lionen Mark teures Holzwerk im baden- gigantischen Kreditschwindel mitge- Johann Berger, so hieß es in einem württembergischen Trossingen an. wirkt zu haben. Haftprüfungsbeschluß, bestehe erhöhte Die Bankmanager prüften nicht lan- Obwohl Berger senior seine Unschuld Fluchtgefahr, weil der Filius als interna- ge, sondern setzten voraus, daß die beteuert und es dem Staatsanwalt auch tional bekannter Rennfahrer „über Be- Hälfte der Bausumme, 17,5 Millionen, nach vier Monaten nicht gelungen ist, ziehungen in alle Welt“ verfüge. als Eigenmittel von Berger beigesteuert

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mit einem Gutachten. Der Professor mochte sich Küblers Diagnose „keines- falls anschließen“ – und bestätigte die Haftfähigkeit. Auch die Anträge der Familie, für den kommissarischen Geschäftsführer des Fuhrunternehmens, den Schwager Gerhard Bergers, eine Dauerbesuchser- laubnis zu erhalten, scheiterten am Veto von Staatsanwalt Erkert. Mit akribi- scher Genauigkeit wacht er darüber, daß zwischen den Besuchen exakt 14 Tage vergangen sind. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft, sonst eher für eine auffällige Schonung der örtlichen Prominenz bekannt, will bei dem Österreicher Berger offenbar Härte demonstrieren. Was wie die Provinzversion des Ban- kenskandals um den Frankfurter Baulö- wen Jürgen Schneider wirkt, faßt der Stuttgarter Richter Geisinger so zusam- men: „Je höher der Kreditwunsch, desto größer die Sorglosigkeit der Banken.“ Das ist jedoch besonders peinlich für die zweitgrößte Sparkasse Deutsch- lands, die im Land der Häuslebauer be- heimatet ist und in deren Verwaltungs- rat neben Stuttgarts Oberbürgermeister

M. SANDTEN / BONGARTS Manfred Rommel auch der baden-würt- Rennfahrer Berger: Fluchtgefahr durch „Beziehungen in alle Welt“ tembergische Finanzminister Gerhard Mayer-Vorfelder sitzt. In einer solchen werde. Zu einem persönlichen Ge- letzten Kontrolltermin bei dem Münch- Gemengelage scheint für jeden Staats- spräch zwischen dem Investor und den ner Arzt und Zellforscher Ulrich Kübler anwalt der Reiz groß, durch Unbeug- Verantwortlichen der Landesgirokasse mußte Bergers Sekretärin kurzfristig ab- samkeit gegenüber prominenten Tatver- kam es vor der Kreditvergabe nicht; die sagen: Der Patient war nach dem dächtigen von den Versäumnissen der Banker verzichteten auch auf bindende Grenzübertritt in Kiefersfelden verhaf- hiesigen Bankmanager abzulenken. Erklärungen oder Bürgschaften Ber- tet worden. Als Hauptgrund für die Haft nennt gers. „Wir hatten Hoffnung und Ver- Weil Berger über Konzentrationsstö- Staatsanwalt Erkert, daß der Beschul- trauen“, bekannte der inzwischen ge- rungen, Ohrensausen und Bluthoch- digte „im Inland keinen festen Wohn- schaßte Banker Karl-Alfred Storz in ei- druck klagt und seit der Festnahme 13 sitz“ habe. Johann Bergers Angebot, in ner Zeugenvernehmung. Kilogramm Gewicht verloren hat, be- Stuttgart einen Wohnsitz zu nehmen Von seiner Rolle als Vorzeige-Inve- fürchtet Kübler, daß neue Tumorrezidi- und sich täglich bei der Polizei zu mel- stor zur Krediterschleichung will Johann ve die Niere befallen haben. Das Ge- den, verfing beim Ankläger nicht: „Wer Berger nichts gewußt haben: „Ich habe richt beauftragte den Leiter der Urolo- garantiert uns denn, daß sich Herr Ber- mich immer nur als Gesellschafter ver- gie am Ulmer Bundeswehrkrankenhaus ger tatsächlich daran hält?“ Y standen.“ Um die Firmenpolitik des Schweizer Unternehmens habe sich nicht er, sondern ausschließlich der von ihm bestellte Geschäftsführer geküm- mert. Ob Berger lediglich Opfer war, wie seine Anwälte meinen, oder tatkräftiger Mitbetrüger, wie die Staatsanwaltschaft beweisen will, soll in einem Prozeß in Stuttgart geklärt werden. Was den Sohn Gerhard jedoch „am deutschen Rechts- staat zweifeln“ läßt, ist die lange Ver- weildauer in der U-Haft: „Die tun ja so, als sei der Vater ein Schwerverbrecher.“ Daß Johann Berger vermutlich bis zum Abschluß des Verfahrens täglich 23 Stunden in einer Zelle und 60 Minuten auf dem Gefängnishof verbringen wird, ist auch aus medizinischer Sicht umstrit- ten: Im April 1993 mußte Berger in Salzburg eine Nebenniere entfernt wer- den. Da trotz der Operation weitere Tu-

morzellen im Blut entdeckt wurden, war W. M. WEBER eine Nachbehandlung notwendig. Den Berger-Betrieb in Tirol: Als Vorzeige-Investor benutzt

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SPORT

Fußball „Dann knallt es“ Interview mit Fußballprofi Thomas Berthold über die neue Stimmung in der deutschen Nationalelf

Berthold, 30, bestritt 62 Länderspiele. Stuttgart wir Alten gegen Der Abwehrspieler vom VfB Stuttgart die Jungen kicken, spielen wurde 1986 in Mexiko Vize-Weltmei- wir die 3:0, 4:0 runter. ster und 1990 in Italien Weltmeister. SPIEGEL: Nun gelten aber gerade Sie doch als Proto- SPIEGEL: Die Nationalmannschaft ist er- typ des verwöhnten Profis. folgreich in die Qualifikation zur Fuß- Berthold: Der Schatzmei- ball-Europameisterschaft gestartet. Spü- ster des FC Bayern hat ren auch Sie, wie einige Ihrer Kollegen, mal gesagt, ich sei der schon einen neuen Teamgeist? bestbezahlte Golfspieler Berthold: Nein, das war doch alles noch nach Bernhard Langer. So nichts. Gegen Moldawien und Albanien ein Ausspruch klebt dir zu gewinnen heißt wenig. Erst wenn wir über Jahre auf der Stirn. im nächsten Jahr in Sofia gegen Bulga- Ich werde nie verstehen, rien unter Druck geraten, wird sich zei- daß Manager und Trainer gen, was die Truppe wirklich wert ist. ihre Spieler in der Öffent- SPIEGEL: Sie zweifeln noch? lichkeit schlechtmachen. Berthold: Ja, schon. Wir müssen wieder SPIEGEL: Mit der Suche eine gewisse Lockerheit kriegen, und die nach eigenen Fehlern hal- haben wir noch nicht. ten Sie sich nicht lange SPIEGEL: Bundestrainer Berti Vogts auf? kämpft um seinen Job. Das ist eine ern- Berthold: Das Geld hat ste Sache. mich nicht verändert. Berthold: Es ist alles so ernst bei uns, zu Aber ich war in jungen generalstabsmäßig geplant. Auch Berti Jahren allein im Ausland, ist zu verbissen. Selbst unser Torwart- und da zog mir niemand trainer Sepp Maier macht keine Witze die Ohren lang. Ich hab’ mehr. Fußball funktioniert über Begei- da den dicken Max mar- sterung, die dann aufs Spielfeld übertra- kiert; morgens war Trai- gen wird. Aber man kann nicht mitt- ning und abends Hully- wochs auf einen Knopf drücken und Gully. Auch als ich aus

glauben: Jetzt ist Stimmung. TEIXEIRA / ZETA / SIPA Italien nach München SPIEGEL: Dabei umarmen sich die Na- Nationalspieler Berthold kam, habe ich nur ge- tionalspieler doch neuerdings so nett vor „Berti Vogts ist zu verbissen“ dacht, mit dieser Truppe dem Anpfiff. schaukeln wir die Meister- Berthold: Das ist ein bißchen symbo- wenn du dir im stillen Kämmerlein Ge- schaft ganz easy nach Hause. Mich ha- lisch. Ich finde das nicht schlecht, das ist danken machst, was schiefgelaufen ist. ben sie dann auf die Tribüne gesetzt, ehrlich, aber das reicht nicht. Sicher Wenn du solch eine Chance einmal im und da hatte ich viel Zeit zum Nachden- denkt jeder an sich, doch das war nie an- Leben bekommst, grübelst du schon et- ken. Jetzt bin ich ein Musterprofi. ders. Auch Grüppchen hat es immer ge- was länger, warum du sie vergeben hast. SPIEGEL: Im Bundesliga-Geschäft wer- geben. Dennoch war es früher lustiger. Die ganzen Behauptungen vom „großen den Spieler wie der Mönchengladbacher SPIEGEL: Andreas Möller wollte seinen Schnitt“ und dem „neuen Gesicht“ . . . Stefan Effenberg oder der Bremer Ma- Vereinskameraden Matthias Sammer öf- SPIEGEL: . . . sind nur Gerede? rio Basler zu Volkshelden gemacht. fentlich auf den Liberoposten reden. Berthold: Ja, so einfach geht das nicht. Doch Trainer wie Vogts haben ihre Not Wird zuviel Politik über die Medien ge- Bei der großen Aussprache waren nicht mit deren Eskapaden. macht? alle WM-Teilnehmer dabei. Da sind Berthold: Ich finde Leute wie Effenberg Berthold: Ich lache da, aber unser Libero nicht die Fetzen geflogen, das war harm- oder Basler gut. Sie sind jung, und sie Lothar Matthäus lacht vermutlich nicht, los. schon jetzt auszugrenzen ist ein Fehler. der ärgert sich. So baut sich einer viel- SPIEGEL: Also sind die modernen Fuß- Es ist doch wie in der Schule: Erst wenn leicht ganz clever ein Image auf, aber wir ballprofis, wie in den vergangenen Wo- du eine Fünf schreibst, setzt du dich hin machen uns gegenseitig das Leben chen mehrfach behauptet, doch selbst- und überlegst, was du anders machen schwer. Bei der Weltmeisterschaft in zufrieden und faul? kannst. Amerika hat auch jeder sein Süppchen Berthold: Sie haben ein ganz anderes SPIEGEL: Wie ist dann zu verstehen, daß gekocht. Geschmeckt hat es keinem. Auftreten entwickelt. Früher hast du ge- Sie gleichzeitig Zusammenhalt und Dis- SPIEGEL: Hat die Mannschaft die ver- bissen und getreten, um dich nach oben ziplin fordern? korkste WM nicht gründlich genug auf- zu kämpfen. Und den Mund hast du so- Berthold: Die Grenze wird immer durch gearbeitet? wieso gehalten. Die Jungen von heute den Erfolg gezogen: Wer siegt, darf al- Berthold: So eine Enttäuschung verar- wollen Tips oft gar nicht aufnehmen. Ich les. Ich meine, daß Effenberg und Bas- beitest du vielleicht in der Winterpause, vermisse den absoluten Biß. Wenn in ler ihren Charakter auch in die Natio-

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nalmannschaft einbringen können. Wir SPIEGEL: Nämlich? Und daß er in Amerika auch personelle brauchen jeden, der gut ist. Berthold: Er hat es nie geschafft, sich Fehler gemacht hat, weiß er bestimmt SPIEGEL: Viele Ihrer Kollegen haben auf das Wichtige zu konzentrieren. Ob selbst. Effenberg den Stinkefinger von der WM die Ehefrau nach Malente kommen SPIEGEL: Falls die Nationalelf sich nicht noch nicht verziehen. darf, kann bei der Vorbereitung auf eine für die EM-Endrunde qualifiziert, will Berthold: Da war mehr passiert. Als WM nicht wichtig sein. Und da hat auch Vogts zurücktreten. Spieler mußt du wissen, wann Schluß Berti Vogts Fehler gemacht. Er hätte sa- Berthold: Das Gerede darüber ist un- ist, sonst geht der Respekt verloren. Ef- gen müssen: „Wenn das wichtig für dich wichtig, denn wir qualifizieren uns so fe konnte nie etwas eingestehen und sa- ist, bitte schön, aber hier ist die Tür.“ oder so. Entscheidend ist, wie wir dann gen: „Okay, das war mein Fehler.“ Da hätte er ein Zeichen setzen müssen. in England abschneiden. Wenn wir nicht SPIEGEL: Dennoch raten Sie Berti Wir hatten genug gute Torhüter. unter die letzten vier kommen, knallt es. Vogts, ihn zurückzuholen? SPIEGEL: Illgner hat den Ego-Virus ins Aber dann ist das Thema auch für mich Berthold: Das sind doch alles menschli- Team getragen? erledigt. Dann höre ich auf. Y che Sachen. Die passieren in einer Berthold: Wir haben uns an Nebensäch- Mannschaft wie in einer Familie. Man lichkeiten zerrieben. Darf die eine Frau Affären Betrüger ohne Not Fußballprofi Maurizio Gaudino ist womöglich tiefer in die Versiche- rungsbetrügereien verwickelt, als er bereits eingestanden hat.

aurizio Gaudino kann nicht an- ders. Über die Stunden im Ge- Mfängnis,dielangenVerhöredurch Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei und dem abschließenden Geständnis war es fast Mitternacht geworden, ehe der Fußballprofi seine Freiheit wiederbe- kam. Dennoch bestand er darauf, den Abend stilvoll zu beenden. Er lud seinen

A. HASSENSTEIN / BONGARTS Anwalt ein; die Herren speisten italie- Beschwörungsritual der Nationalspieler: „Symbolik reicht nicht“ nisch. Auch am nächsten Morgen mochte sollte so etwas im persönlichen Ge- das? Darf die andere jenes? Dürfen die Gaudino, der gerade erst eine winzige spräch unter Männern austragen. Kinder zum Essen kommen? Quark, Rolle neben Mario Adorf im Fernsehfilm SPIEGEL: Verliert ein Trainer, der „nie Quark, Quark, alles nur Eifersüchtelei- „Der Schattenmann“ spielen durfte, von wieder“ gesagt hat und dann umfällt, en. demonstrativer Lässigkeit nicht lassen. bei den Profis seine Autorität? SPIEGEL: Der Trainer, aber auch Spieler Der Mann, der sein Lebensgefühl durch Berthold: Wir alle haben schon so oft wie Matthäus oder Sie sind nicht einge- Drei-Tage-Bart und Brilli im Ohr nach „nie wieder“ gehört. Wenn ein Trainer schritten. außen kehrt, hatte einen Termin – beim sagt: „Ich habe das damals in meiner Berthold: Leider. Wir haben es nicht ge- Friseur. Enttäuschung so gesehen, aber das hat schafft, uns zusammenzusetzen und zu Derweil rätselte die Republik von sich geändert“, dann vergibt er sich gar sagen: „Okay, wir sind im Viertelfinale, Hamburg bis München, was der Fußbal- nichts. Wer mit allen Spielern, die Feh- aber alles, was bis jetzt war, war Mist, wir ler mit dem Goldkettchen-Image ist: Ein ler machen, nie mehr redet, kann den fangen neu an.“ Dabei wußten alle, was kleiner „Autoschieber“ (Münchner Laden zumachen. falschlief. Solange wir gewonnen haben, Abendzeitung), schon ein „Ganove“ SPIEGEL: Daß Vogts bei jeder Gelegen- wurde alles unter den Tisch gekehrt –und (Hamburger Morgenpost) oder gar ein heit auf den zurückgetretenen Torwart irgendwann waren wir draußen. „Gangster“ (Bild-Zeitung). Und der Bodo Illgner schimpft, findet in der SPIEGEL: Danach formulierte Bild ein Kölner Express stöhnte verzweifelt: Mannschaft dennoch Zustimmung. Ist Rücktrittsschreiben: „Herr Vogts, unter- „Gaudino, bist du wirklich so blöd?“ Illgner als Sündenbock ausgeguckt? schreiben Siehier.“Kann dieMannschaft Fest steht: Der Profi, der beim Bun- Berthold: Der Bodo ist ein guter Torhü- einen Trainer, der so in Frage gestellt desligaverein Eintracht Frankfurt ter, aber er hat sich zu weit aus dem wird, noch ernst nehmen? 800 000 Mark im Jahr verdient, war so Fenster gehängt. Wir haben nach der Berthold: Ich nehme diesen Bild- blöd, sich auf Versicherungsbetrügereien Niederlage gegen Bulgarien noch völlig Schwachsinn nicht ernst. Berti dagegen einzulassen. Daß die kriminelle Energie fertig in Turnhosen in der Kabine geses- bewundere ich für seine Überzeugung. des trainingsfaulen Kickers sogar, wie es sen, da war er schon geduscht und hat SPIEGEL: Auch fachlich ist er unumstrit- im Haftbefehl hieß, zu Bandendelikten seinen Rücktritt bekanntgegeben. Das ten? reichte, will die Kripo noch beweisen. war fatal. Er hätte sich einmal überlegen Berthold: Wenn der Erfolg nicht da ist, ist Die Mannheimer Staatsgewalt hatte sollen, was er falsch gemacht hat. esklar, daß dieTrainerfragegestelltwird. ein ungewöhnlich großes Team aufgebo-

192 DER SPIEGEL 51/1994 .

ten, um den Haftbefehl am gen eines weiteren Festge- vergangenen Mittwoch zu nommenen auch Bandenheh- vollstrecken – ausgestellt war lerei mit geleasten Fahrzeugen er 48 Stunden vorher, am 28. nachweisen zu können. Geburtstag des Profis. In Als Gaudino nach seinem einer „nicht nachvollziehbaren Teilgeständnis gehen durfte, Nacht-und-Nebel-Aktion“, weil der Haftbefehl wiederauf- wie Gaudino-Anwalt Roland gehoben wurde, blieben die Hasl meint, war der Haftrich- Kriminalbeamten als ratlose ter zusammen mit einer Proto- Fußballfans zurück. Sie konn- kollantin und Kripobeamten ten sich nicht erklären, wie der eigens nach München gereist, hochbezahlte Kicker-Star zum um den Nationalspieler unmit- „Betrüger ohne zwingende telbar nach einem Fernsehauf- Not“ werden konnte. tritt festzunehmen. Der Umgang mit luxusfi- Noch in München wurde xierten Szenegängern war für versucht, Gaudino zu verneh- Gaudino auch Ausbruch aus men, er schwieg dort aber be- der oft als lustfeindlich und harrlich. Dabei bewies der diktatorisch empfundenen Kicker, der gerade erst von Kickerwelt. Der frühere Kfz- seinem Verein suspendiert Schlosser verkörpert dabei worden ist, weil er sich zu beispielhaft eine bestimmte schlapp fühlte, nach zwei Trai- Schickeria-Clique unter den ningseinheiten am Freitag 24 Bundesliga-Millionaros, die Stunden später ein Bundesli- sich mehr als Künstler denn gaspiel zu bestreiten, mehr als Fußarbeiter verstehen. In Ausdauer als die Beamten. nahezu allen Klubs klagen die Um drei Uhr nachts brach der Manager über die Ausflüge ei- Richter ermattet die Verneh- niger Leichtfüße, die nicht sel-

mung ab. BAUMANN ten in der Halbwelt enden. Doch es war nur ein Auf- Ferrari-Fan Gaudino: Nicht mit Peanuts aufgehalten Schon bei seinem ersten schub. Am nächsten Tag legte Bundesligaverein Waldhof Gaudino ein Teilgeständnis ab. Er habe funden, daß im Umfeld Gaudinos weite- Mannheim bot sich Trainer Klaus einigen Bekannten, die ihre Autos los- re geleaste Ferraris und Mercedes-Li- Schlappner („Der Gaudino braucht täg- werden wollten, den Namen eines Ita- mousinen verschwunden sind: „Die ha- lich einen Tritt in den Arsch“) an, das lieners gegeben – eines Fachmanns für ben sich nicht mit Peanuts aufgehalten, Geld des Fußballers anzulegen. Hatte Versicherungsbetrug. Die „Freunde aus sondern immer nur das Beste genom- der Jungprofi zunächst nur großzügig der Mannheimer Schickimicki-Szene“ men.“ Der Neuwert der Autos lag zwi- seine Familie unterstützt, so kostete ihn (so ein Kriminalbeamter) sollen dann ei- schen 190 000 und 260 000 Mark. bald seine Leidenschaft für schnelle Au- nen BMW M II 3 und einen Golf Cabrio Im Zusammenhang mit der Frage, in- tos ein Vermögen. In Stuttgart geriet er ins Ausland verkauft und die Versiche- wieweit der Fußballer auch daran betei- dann an einen Ferrari-Verkäufer, dem rungssumme für die als gestohlen gemel- ligt ist, wird auch das Verschwinden ei- er eine Bankvollmacht gewährte. Die deten Autos kassiert haben. nes Mercedes SEC geprüft. Den Wa- Freundschaft endete für Gaudino mit ei- Die Ermittlungsbehörden sind sich si- gen, der Gaudino in Neapel abhanden nem finanziellen Verlust in fünfstelliger cher, daß Gaudino, dessen Eltern aus kam, hatte Mercedes-Benz dem damali- Höhe. Frattaminore bei Neapel stammen, auch gen Profi des VfB Stuttgart zu Sonder- Wenn er gegen den Rat der Vereins- mitverdient hat – „mal 1000, mal 5000 konditionen überlassen. Auch eine Har- führung Ferrari fuhr, Lagerfeld-Zöpf- Mark“. Gaudino dagegen bestreitet die chen trug oder sich in seiner wildesten Hehlerei. Für das Cabrio hat die Versi- Zeit in Stuttgart durch die Discos tanz- cherung bereits 30 000 Mark erstattet, Immer zum Ausbruch te, empfand Gaudino seine Ausflüge beim angeblichen Diebstahl der BMW- aus der lustfeindlichen stets als Zeichen der Auflehnung. Auch Edelkarosse verweigerten die mißtrau- als seine Mannschaftskollegen tuschel- isch gewordenen Versicherer zunächst Kicker-Welt bereit ten, Gaudinos Brüder hätten Kontakt die Auszahlung. zur Unterwelt, beeindruckte ihn das In einem dritten Fall wurde der Ge- ley-Davidson, angeblich zum Überwin- nicht. Der Profi kaufte sich in Mann- meinschaftscomputer der deutschen As- tern in einer Stuttgarter Tiefgarage ab- heim-Rheinau in ein italienisches Re- sekuranz mit einem Trick überlistet. gestellt, war eines Tages weg. staurant ein, das inmitten der heißesten Der ins Ausland verkaufte 170 000 In den Fällen des Golf, BMW und Mannheimer Szene liegt. Mark teure Porsche war nur geleast. Porsche aus den Jahren 1992 und 1993, Und als im Mai in Offenbach ein Dadurch wird verhindert, daß der Name die vom Staatsanwalt als „wasserdicht“ 23jähriger Autodieb vor Gericht stand, des Bestohlenen in die Zentraldatei auf- beurteilt werden, gab Gaudino nach ei- meldete sich Gaudino von der Zuhörer- genommen wird. Dort wird nur das Lea- nigem Zögern das Leugnen auf. Er ge- bank zu Wort: „Ich werde dafür sorgen, singunternehmen als tatsächlicher Besit- stand die Tips, beharrte aber darauf, daß Patrik keinen Unsinn mehr macht.“ zer registriert – so sind mehrere Betrü- den von ihm empfohlenen Italiener Der Beschuldigte war der Bruder eines gereien möglich, ohne aufzufallen. nicht persönlich zu kennen. Freundes. Gaudino versprach, ihn zur Dieser Dreh, der in den letzten Mo- Gaudino ist wohl schon jetzt eine An- Resozialisierung in seinem Restaurant naten zur bevorzugten Methode der Au- klage wegen Anstiftung und Beihilfe anzustellen. Nun braucht der feinner- toschieber wurde, machte die Ermittler zum Versicherungsbetrug und Vortäu- vige Fußballstar selbst Hilfe, wenn einer Mannheimer Sonderkommission schung einer Straftat sicher. Die Ermitt- ihm im nächsten Jahr der Prozeß ge- stutzig. Die Beamten haben herausge- ler sind überzeugt, aufgrund der Aussa- macht wird. Y

DER SPIEGEL 51/1994 193 . PERSONALIEN

ein. Wie der christliche vergangenen Januar hatte Evergreens „Summertime“ Philosoph Jean Guit- der tschechische Amtskolle- und „My Funny Valentine“ ton, 93, jetzt einem ge Va´clav Havel dem Ameri- spielte. Die Rechte für die Reporter der französi- kaner ein Saxophon gegeben, Aufnahme schenkte Clinton schen Tageszeitung mit dem er bei einer Jam Ses- dem Tschechischen Rund- Libe´ration anvertrau- sion im Reduta Jazz Club in funk. Ein Vertreter des Sen- te, erklomm der in ei- der Moldaustadt die beiden ders, Jirˇı´ Svoboda, mußte nem Jesuitenkolleg er- jetzt seine Verhandlungen zogene Sozialist unan- mit dem Musikgiganten gemeldet am 17. No- BMG Ariola über die welt- vember die enge Trep- weiten Rechte der Aufnah- pe zur Wohnung des me endgültig beenden. Ei- Philosophen in der Pa- ne amerikanische Firma, riser Rue de Fleurus das große Geschäft wit- („Überall standen ternd, hatte eine Raubko- Polizisten mit dicken pie unter dem Titel „The Revolvern; die Mieter Pres Blows“ auf den Markt waren erschrocken“) geworfen. „Nachdem die und konsultierte den Räuber den Markt über- weisen Mann: „Sie als schwemmten“, klagt Jirˇı´ Spezialist für Zeit und Svoboda, „verlor BMG je- Ewigkeit . . . was ist Clinton auf tschechischem CD-Cover des Interesse.“ der Tod, was ist im Jenseits?“ Guitton er- innerte daran, daß athy de Monchaux, 34, britische Künstlerin, stürzte das Mitterrand ihm schon Ckonservative London in Verwirrung. Für die angesehene 1986 dieselbe Frage Tate Gallery hatte die Absolventin einer Kunstakademie, die gestellt und er erwidert „ihre Werke regelmäßig mit ,F‘-Wörtern betitelt“, so die ent- habe: „Das weiß ich rüstete Times, den traditionellen Weihnachtsbaum ge- doch nicht, schließlich schmückt. Dazu umwand sie einen sechs Meter hohen Tannen- heißt das das Jenseits.“ baum spiralförmig mit acht Bahnen Segeltuch und band zwi- Vom Präsidenten zeig- schen die Streifen blauen Samt, damit auch nicht eine Nadel zu te sich der alte Herr sehen ist. Ein Kabelgewirr endet in der Spitze des einer Zigar- jetzt tief beeindruckt: re ähnelnden Werks, ein kleines Schild warnt vor 1000 Volt

A. BRUTMANN „Sein Mut angesichts Hochspannung. Cathy de Monchaux interpretiert ihren Weih- Dana International der Vorstellung, daß nachtsbaum sphinxhaft: „Die Idee ist wirklich lustig, aber auch er in sechs Monaten genauso traurig.“ „Unser ganzes Mitgefühl“, lamentierte dar- ana International, 23, sin- nicht mehr dasein könnte, ist auf der Daily Express, „gilt der zusammengequetschten klei- D gender israelischer Trans- außerordentlich.“ nen Fee auf der Baumspitze.“ vestit, ist bei ägyptischen Ju- gendlichen zum heimlichen im Kok, 56, niederländi- Star avanciert. Wenn die Wscher Ministerpräsident, Fans vom Nil im Plattenladen verärgerte mit Bescheiden- das Codewort „SouSous“ heit seinen Fahrer. Weil der nennen, greift der Händler Sozialdemokrat nur einen unter den Ladentisch und Ford Scorpio als Dienstwa- verkauft den Dana-Hit gen fährt, fühlte sich sein „Madam Sultan“ für den Chauffeur Jan den Oudsten fünffachen Preis einer ge- beim Essener EU-Gipfel dis- wöhnlichen Musikkassette. kriminiert: „Alle anderen Für die preistreibende Heim- kommen mit Luxusschlitten lichtuerei sorgte ein Ver- an, während unser Regie- kaufsverbot der ägyptischen rungschef in einem Spiel- Zensurbehörde. Die findet, zeugauto vorfährt.“ Als der daß die von dem schrägen Fahrer einmal das von Si- Juden in hebräisch-arabisch- cherheitskräften abgesperrte englischem Kauderwelsch Gelände mit dem Scorpio vorgetragenen Schlagertexte verließ, um einen Kaffee zu „Worte mit sexuellem Unter- trinken, sei ihm bei der ton“ enthalten, die „aus der Rückkehr der Weg verlegt Unterwelt kommen“ und da- worden. Den Oudsten: zu angetan sind, die Jugend „Weil mir niemand geglaubt zu verderben. hat, daß das der Wagen eines Premiers ist.“ ranc¸ois Mitterrand, 78, Fkrebskranker französi- ill Clinton, 48, US-Präsi- scher Staatspräsident, holte Bdent und Hobby-Saxopho-

sich eine Expertenmeinung nist, fiel unter die Räuber. M. LEITH über die Existenz im Jenseits Bei seinem Prag-Besuch im Monchaux-Tannenbaum

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ngela Merkel, 39, neue AUmweltministerin, bekam den politischen Humor Denk’ ich Bonns zu spüren. Die Politi- kerin suchte zum Aufwärmen an Deutschland ihres Büro-Mittagessens eine möglichst strahlenfreie neue Mikrowelle. Einen wertvol- len Tip, wie sie das neue Stück zu behandeln hätte, bekam sie schon vor dem Kauf von Jürgen Rüttgers. Während einer Kabinettssit- zung riet der neue Zukunfts- minister (Bildung, Wissen- schaft, Forschung und Tech- nologie) ihr, auf keinen Fall Hunde in dem Gerät aufzu- wärmen. Rüttgers klärte die verständnislos blickende Kol- legin auf, ihr Hund, der Atommüll-Transportbehälter „Castor“, strahle bereits.

eorg Janovsky, 50, und GRudolf Meinl, 60, CDU- Bundestagsabgeordnete aus

K. HOFFMEISTER Sachsen, demonstrierten po- Böhme litische Berührungsängste. Mit neun weiteren Mandats- rich Böhme, 64, „Talk im Turm“- trägern der Union luden sie EMaster und Herausgeber der Ber- zu einem „Protestessen“ mit liner Zeitung, gab seine „Ansichten Broiler, Soljanka und Rot- zu Deutschland“ zu Protokoll. Über käppchen-Sekt gegen „unge- mehrere Jahre hatte der Fotograf wollte PDS-Nachbarschaft“. Konrad Hoffmeister Menschen von Daß die Bundestagsverwal- der Straße, aus Büros, aus Geschäf- tung Mitglieder der Bundes- ten vor die Kamerageholt undsiemit tagsgruppe PDS/Linke Liste einer Tafel abgelichtet, auf denen im selben Bonner Büroge- die Abgebildeten schrieben, was sie bäude untergebracht hatte über ihr Land denken. „Ich war 18 wie die Unionschristen, em- Jahre Soldat“, krakelte ein Rentner pörte die elf Unterzeichner: auf sein Schild, „das hat alles für Deutschland nichts eingebracht.“ Ein Zahnarzt notierte:„Die Verlogen- heit dieser deutschen Gesellschaft ist erschreckend. Auch ich gehöre dazu.“ Eine Lehrerin gestand: „Mir ging es in Deutschland immer gut.“ Differenziert drückte sich Böhme aus, der in einem Kommentar 1989, damals noch SPIEGEL-Chefredak- teur, schrieb: „Ich möchte nicht wie- dervereinigt werden.“ Der Journalist Böhme,im Dezember 1992 vor Hoff-

meisters Kamera, gab sich auf gro- DPA ßem Papp-Plakat ratlos: „Ich bin CDU-„Protestesser“ Deutscher, aber ich weiß nicht, was das ist; denn es gibt zwei Deutsch- PDS-Abgeordnete seien land, diesich nicht entscheidenkön- „nun einmal keine ,norma- nen, eines zu werden. Wie soll ich len‘ Büronachbarn“. Die es dann tun?“ Böhme, zwei Jahre beiden Sachsen haben ihre danach über sich und Deutschland: Aversion gegen die roten „Leider hat sich nichts geändert.“ Socken nach der Wende ent- Die Porträtfotografien Hoffmeisters deckt. Georg Janovsky war sind im Foyer des Berliner Verlags seit 1970, Rudolf Meinl seit ausgestellt. 1952 Mitglied der SED- frommen Blockpartei Ost- CDU.

DER SPIEGEL 51/1994 195 .. REGISTER

Gestorben sehr produktiv. In ihrem Salon in der Rue de la Paix 1 zwang sie die Kund- Max Bill, 85. „das denken“, so schrieb schaft auf unbequeme Stühlchen und er- er, wie stets in Kleinbuchstaben, „er- wartete, daß man ihren Kreationen Re- möglicht es, gefühlswerte in einer weise spekt erweise. Sie entwarf Roben und zu ordnen, dass dar- Faltenwürfe für Jackie Kennedy, Grace aus kunstwerke ent- Kelly und Danielle Mitterrand; sie ar- stehen.“ Der Schwei- beitete fürs Theater – vor dem Zweiten zer Maler, Bildhau- Weltkrieg für Jean Giraudoux und Jean er, Architekt und Designer setzte For- men und Farben nach vorbedachter Logik ein, aber im- mer wieder auch mit

AP faszinierender opti- scher Wirkung; seine bekanntesten Plastiken waren Varian- ten einer sich scheinbar paradox durch den Raum windenden „unendlichen schleife“. Bill studierte zunächst zwei Jahre am Dessauer Bauhaus, schloß dann Freundschaften im Kreis der Künstlergruppen „De Stijl“ und „Ab- straction-Cre´ation“. Der vielseitig pro- AFP / DPA duktive Künstler lehrte in Zürich, später in Hamburg und war von 1951 bis 1956 Cocteau, in späteren Jahren für Harold- der erste Rektor der Ulmer Hochschule Pinter-Stücke. 1984 verkaufte sie ihr für Gestaltung. Max Bill starb am 9. De- Modehaus an Bernard Tapie: Heute ge- zember in Berlin an Herzversagen. hört es der japanischen Gruppe Yagi Tsusho. 13 Monate lang hat ihre Toch- Antoine Pinay, 102. Zu Zeiten, da Kor- ter Anne den Tod der großen Dame ver- ruptionsaffären die Republik beuteln schwiegen – „aus Liebe“, wie sie be- und Spitzenpolitiker sich ein unwürdiges hauptet. Madame Gre`s starb am 24. No- Gerangel um den Elyse´e liefern, hat der vember 1993 in einem südfranzösischen Abgang dieses als Weisen verehrten, Altersheim. menschlich und politisch untadeligen Grandseigneurs die Franzosen beson- Keith Joseph, 76. Eine brillante akade- ders sensibilisiert. Der Vater des „neuen mische Laufbahn stand ihm nach dem Franc“, den er 1959 als Finanzminister Ende des Zweiten Weltkrieges offen, de Gaulles erfand, verzichtete zweimal, doch der Sohn eines jüdischen Bauun- 1965 und 1969, auf die Elyse´e-Kandida- ternehmers entschied tur; 1974 half er einem jungen Hoff- sich für die Politik. nungsträger ins höchste Staatsamt: Va- Bei den britischen le´ry Giscard d’Estaing. Bis übers 100. Konservativen profi- Lebensjahr hinaus lierte sich der oft von ließ sich der „Weise Selbstzweifeln ge- von Saint-Chamond“ plagte Intellektuelle – in dem Loire-Ort zuerst als Sozialex- war er 48 Jahre Bür- perte, dann als pro- germeister – immer grammatischer Vor-

wieder vernehmen: denker. Joseph, Mit- PA / DPA streng, proeuropä- begründer des „Zen- isch und ehrfurchtge- trums für Politische Studien“, betrieb bietend. Der Mythos schon seit 1974 die Ausrichtung seiner Partei auf eine Ideologie der „Neuen Pinay, so Finanzmi- GAMMA / STUDIO X nister Edmond Al- Rechten“. Sein größter Erfolg betraf je- phande´ry, sei „im Grunde der Triumph doch nicht die eigene Karriere: Der des gesunden Verstandes“. Antoine Pi- eherne Verfechter freier Marktwirt- nay starb vergangenen Dienstag in schaft stellte sich 1975 hinter die aufstre- Saint-Chamond. bende Parlamentarierin Margaret That- cher – Voraussetzung für den späteren Alix Gre`s, 90. Woher sie kam, darüber Triumph der Eisernen Lady. „Die künf- sprach sie nicht gern, und als sie starb, tigen Aufgaben bedürfen Giganten“, blieb auch das ein Geheimnis: Madame schrieb er damals und meinte beschei- Gre`s, bürgerlich Germaine Krebs, war den: „Ich bin kein Gigant.“ Keith Jo- eine der ganz wichtigen Figuren der seph, 1987 zum Peer auf Lebenszeit er- Haute Couture in Paris, ein bißchen nannt, starb am 10. Dezember in Lon- scheu, ein bißchen geheimnisvoll und don.

196 DER SPIEGEL 51/1994 Werbeseite

Werbeseite .

19. bis 25. Dezember 1994 FERNSEHEN

MONTAG di Carrell wird 60. Obwohl 21.00 – 21.40 Uhr ARD der geflügelten Gottesboten: der holländische Entertainer Herrgottsschnitzer im Gröd- 16.00 – 17.00 Uhr RTL Report bei RTL jobbt, gratuliert das ner Tal verkaufen ihre höl- Hans Meiser Erste seinem Ex-„Herz- Aus München: Einsam und zerne Gestalt so flott wie an- „Wir wollen nicht immer nur blatt“. mittellos – das Schicksal Al- dere Gartenzwerge. Schrift- das eine – Männer sind an- leinerziehender / Mit dem stellern und Filmemachern Rücken zur Wand – die FDP ders.“ Das hochoriginelle 20.40 – 23.05 Uhr Arte (Wenders) dienen Cherub & Thema läßt noch Variationen im hessischen Wahlkampf / Co. als Zeichen und Chif- und neue Sendungen zu, Oberst Redl Die PDS und die antifa- fren. Der Autor hat noch ei- wenn Meiser den Wortschatz Weil er ein kitschiges Loblied schistische Vergangenheit / nige Mitglieder der wimmeli- seiner Formulierung noch auf den österreichischen Kai- Dumpingpreis-Fieber im Be- gen Heerscharen vergessen: einmal durch den Talkgene- ser Franz Joseph verfaßte, stattungswesen. gelbe ADAC-Engel, Hell’s rator drehen würde: „Das ei- gelangt der Bauernlümmel Angels, Engelberts, Engel- ne ist immer das andere – aus ärmlichen Verhältnissen 22.30 – 0.15 Uhr MDR macher . . . Männer wollen Männer.“ auf die Militäranstalt der Was diese Frau so alles „Männer wollen anders – das Monarchie, wo sonst nur Ad- 22.30 – 23.00 Uhr West III eine ist immer.“ „Immer das lige eine Ausbildung erhal- treibt eine, Männer, Wollen ist an- ten. Die mangelnde Noblesse Zu den Zeiten, als diese US- Tod eines Geiselgangsters ders.“ „Männer, immer nur ersetzt Redl (Klaus Maria Komödie von Norman Jewi- Im Oktober dieses Jahres Männer. Eine ißt anders.“ Brandauer) durch Eifer. son mit Doris Day und James überfiel der Ex-Fremdenle- Bald macht der Streber Kar- Garner gedreht wurde, 1962, gionär Heinrich Jung, 62, ei- 19.25 – 21.05 Uhr ZDF riere und steigt zum k. u. k. galt es als politisch korrekt, ne Bank in der Kleinstadt Generalstäbler auf. Er ist wenn ein Ehemann seine zur Herzogenrath nahe Aachen. Langer Samstag verantwortlich für den militä- erfolgreichen Werbemanage- Er nahm 19 Geiseln, ließ sie . . . und dann noch der letzte rischen Abwehrdienst. Dem rin avancierte Frau wieder frei, als er erkannte, daß sei- vor Weihnachten – welche Zarenreich gelingt es, aus zum Heimchen macht. ne Lage aussichtslos war, und sprengte sich mit einer Hand- granate in die Luft. Diese DIENSTAG Dokumentation zeichnet an- 20.15 – 21.00 Uhr ZDF hand von Interviews das Le- ben des Verbrechers nach, Das ist Ihr Leben der schon Anfang der siebzi- „Nein, wirklich“, „Das gibt ger Jahre mit Ex-Kameraden es nicht“, „Wahnsinn“ – aus der Fremdenlegion Ban- wenn Promis überrascht tun ken geplündert hatte. müssen wie in dieser Show mit Dieter Thomas Heck, 0.00 – 1.30 Uhr ZDF geht sprachlich die Post ab. Echt voll irre. Sieben Freundinnen . . . zwischen 14 und 17 Jah- ren aus Berlin-Kreuzberg er- PRESSEAGENTUR 22.15 – 23.00 Uhr ZDF zählten der Autorin Antonia

DOMINO Die Wiederkehr der Engel Lerch ihre Erfahrungen und „Langer Samstag“-Darsteller Campino, Schneeberger „37 Grad“ heißt die Sende- Träume. Lerch begleitete die reihe, hier beginnt die erhöh- Mädchen im Sommer dieses Hölle könnte schrecklicher Redl mit Geld und Erpres- te Temperatur. Der ORF- Jahres mit einem Camcorder sein. Doch in der Satire von sung wegen dessen Homose- Autor Christian Rathner und erfuhr vieles über Hoff- Hanns Christian Müller xualität einen Spion zu ma- sammelt in seinem Film In- nungen und Demütigungen, („Kehraus“) kommt es noch chen, der Militärgeheimnisse dizien für eine Renaissance über Rassismus und Gewalt. schlimmer. Die Tankstellen- an Rußland verrät. Am Ende pächterin (Gisela Schneeber- fliegt das Doppelleben Redls ger) neben einem Münch- auf, er verübt auf Geheiß ner Einkaufszentrum erhält seiner Vorgesetzten Selbst- die Kündigung von der mord. Istva´n Szabo´ („Mephi- Geschäftsführung. Empört sto“) interessierte sich in sei- stürzt sich die Geschaßte ins ner Verfilmung (Österreich/ Einkaufsgetümmel, richtet BRD/Ungarn 1985) beson- zusammen mit dem blond- ders für den Karrieristen und gefärbten Sponti Anton zeigt ein zum Untergang be- (Campino von den „Toten stimmtes Leben, in das zu Hosen“) ein Riesenchaos an. keiner Sekunde Licht fällt. Und bei den Zuschauern ei- Die Süddeutsche: „Es ist ge- nen Riesenspaß. nau diese Kälte, die schließ- lich auf den Zuschauer selber 20.15 – 20.59 Uhr ARD übergreift und in ihm den Verdacht nährt, Szabo´ habe Die verflixte 60 mit seiner gnadenlosen Ana-

„Laß dich überraschen, lyse doch zuviel des Guten ZDF schon ist es geschehen“: Ru- getan.“ „Sieben Freundinnen“-Interviewpartnerinnen Sofia und Nermin

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MITTWOCH den dunklen Seiten Ameri- FREITAG kas im Kopf. Oliver Stone KIOSK 20.15 Uhr RTL/Sat 1 20.10 – 22.00 Uhr Vox („Natural Born Killers“) in- Die Babyhändler – Tränen szenierte diesen Film (USA Revolution einer Mutter / Robert darf 1988) nach einem Bühnen- Der 28 Millionen Dollar teu- König und nicht sterben stück des Hauptdarstellers re Film (England/Norwegen toller Bursche Ihr Kinderlein kommet, Bogosian. Und das Kino- 1985, Regie: Hugh Hudson) Der Medienmogul ist me- tönt’s bei den Privaten. Die stück kann seine Herkunft war in den USA ein Super- dienscheu und gerade RTL-Thomaner singen das vom Theater nicht verleug- Flop. Weil sich die amerika- auch deshalb Medienthe- Lied (USA 1993) vom fiesen ma. Am Mittwoch dieser Babyhandel und von treuer Woche bringt der West- Mutterliebe, die Sat-ansbra- deutsche Rundfunk im Er- ten servieren das Melodram sten Programm (21.45 (Deutschland 1994) vom klei- Uhr) „Kirch Royal“, ei- nen kranken Robert, der sich ein Pferd wünscht. Weih- nachten als Fest des Triefens.

21.45 – 23.20 Uhr Bayern III Schick mir keine Blumen Männer wollen nur das eine: sich immer nur selbst sehen. Zum Beispiel der Hypochon- der George (Rock Hudson),

der – sein eingebildetes Ende VOX DPA Kirch vorhersehend – seiner Frau „Revolution“-Darstellerin Kinski (Doris Day) einen Ehemann- ne Enthüllungsreportage Nachfolger besorgen will und nen: Die Faszination geht nischen Zuschauer von dem über die Macht des Münch- ein Grab für drei kaufen von Bogosians furiosem Non- Negativbild ihrer Erhebung ner Filmgrossisten Leo möchte. US-Komödie (1964, stop-Solo aus. gegen die britische Kolonial- Kirch, 68. Darin loben füh- Regie: Norman Jewison). herrschaft, der unheroischen rende Kirch-Manager ihren Schilderung des Unabhängig- Chef. Kirch sei„ein König“, 22.35 – 0.15 Uhr Hessen III DONNERSTAG keitskrieges abgestoßen fühl- ten? Doch wohl mehr, weil sagt zum Beispiel Filmpro- 20.10 – 22.00 Uhr Vox duzent Bernd Eichinger Der Mann aus Marseille das Stück weniger ein Treffer („Der Name der Rose“), ein . . . ist nicht anders, sondern Ritter auf heißen Öfen gegen Amerika als ein Schuß „elektrisierender Mann“, richtig unkorrekt: Der Super- Parzival fährt Honda, im in den Ofen ist. Ein Vater findet Sat-1-Programmdi- gangster (Jean-Paul Belmon- Gral der Tafelrunde versucht, seinen Sohn durch rektor Heinz Klaus Mer- do) hat das Herz auf dem schwappt Benzin, die Burg die Kriegswirren zu retten. tes, „der tollste Bursche rechten Fleck, ballert mit von König Artus liegt hinter Die Einfalt Al Pacinos, seine der ganzen Branche“, zwei Pistolen um sich. In kür- einem Schleier von Auspuff- faschingsartige Adlerkopf- schwärmt Pro-Sieben-Chef zester Zeit tötet er den bishe- abgasen – der humorvolle Maskerade rücken den Film Georg Kofler. Nur Kirch, rigen Boß der Marseiller Un- Actionfilm (USA 1980, Re- in Kinderstunden-Nähe. Ab der an fünf TV-Kanälen in terwelt, wird zum Chef über gie: George A. Romero) und zu blickt Nastassja Kin- Deutschland und dem Axel diverse Spielklubs und ein spielt mit Motorradfreaks ski den analphabetischen Springer Verlag maßgeb- Bordell, das seine Freun- Szenen der alten Sage nach. Helden in trauriger Liebe an. lich beteiligt ist, scheint din (Claudia Cardinale) lei- Der Regisseur hat sich Mühe gegeben, sie nicht schön er- die Attraktivität von Me- tet. 20.40 – 0.30 Uhr Arte dien-Größen nicht allzu scheinen zu lassen. Das, als Themenabend: Tibet hoch zu bewerten. Er ließ 23.05 – 0.50 Uhr ARD einziges, gelang ihm. eine Wochenserie (Ar- Der ZDF-Autor und Produ- Talk Radio beitstitel: „Himmel und Er- zent Friedhelm Bruckner be- 23.30 – 1.35 Uhr RTL 2 de“) bei Sat 1 verschieben. Hoch über den Dächern von schreibt den Überlebens- Sie sollte allerlei Affären in Dallas sitzt Barry Champlain kampf des buddhistischen Freud einem fiktiven Medienim- (Eric Bogosian) am Radiomi- Volkes. Der erste Beitrag Eines der ehrgeizigsten Pro- perium schildern, das ge- krofon und veranstaltet einen (20.40 Uhr) dokumentiert jekte des Regisseurs John wisse Ähnlichkeiten mit Talk im Turm, bei dem Erich das politische Schicksal des Huston. Das erste Drehbuch demKirch-Clanzeigt. Erste Böhme die Brille aus der Landes, in das 1950 Maos stammte vom Anti-Freudia- Kulissen für die Unterhal- Hand fallen würde: Cham- Truppen einmarschierten. In ner Jean-Paul Sartre, umfaß- tungssendung – geplanter plain schimpft und läßt sich einem längeren Interview be- te 1600 Seiten und hätte für Start: September 1995 – von Anrufern beschimpfen; richtet der Schauspieler Ri- zehn Stunden Film gereicht. waren bereits gebaut. Nun er spinnt, tobt und wütet; er chard Gere, praktizierender Eine zweite Fassung – nach arbeitet die Produktionsfir- treibt seine Hörer zur Rase- Buddhist, über seinen Tibet- Diskussionen mit Huston – ma Rhinestone TV, eine rei und die Einschaltquoten Besuch im vergangenen Jahr. fiel noch länger aus. Autor Kirch-Tochter, für Sat 1 an in die Höhe. Champlain sieht Außerdem (21.40 Uhr) ein und Regisseur konnten sich einer populären Hotelse- nichts als die Nacht um sich Gespräch mit dem vor neun jedoch nicht einigen. Shok- rie. herum – und hat gerade des- Jahren ins Exil geflohenen king für Hollywood war die halb ein präzises Bild von Dalai Lama. Betonung sexueller Themen

DER SPIEGEL 51/1994 199 . FERNSEHEN

in Sartres Fassung. Die Bü- cheln mühelos um Jahrzehn- dem Beruf hin und erlebt cher des Philosophen ver- te, daß das Happy-End plau- hier die großartigsten Höhe- DIENSTAG schwanden in einer Schubla- sibel erscheint. Die amüsante punkte. Ach, glücklich die 23.10 – 23.40 Uhr Sat 1 de, Sartre strich 25 000 Dol- Nichtigkeit aus Hollywood Zeit und das Land, wo SPIEGEL TV lar ein. Der von Libido-Pro- drehte Gene Saks 1969. das Journalistengewerbe so REPORTAGE blemen gereinigte Film glücklich macht wie in James Abtauchen in die Katastro- (USA 1962) ist wegen der 22.35 – 0.05 Uhr Arte L. Brooks’ Film (USA 1987). phe – die russische Atom- Leistung des Freud-Darstel- Herzlich willkommen U-Boot-Flotte, Stolz und lers Montgomery Clift se- Leid der Bewohner von henswert. Wirklich schöner Weih- SONNTAG Murmansk. Schiffe, bela- nachtsfilm (BRD 1990, Re- 17.05 – 19.00 Uhr Pro Sieben den mit abgebrannten gie: Hark Bohm). Ein junger Brennelementen, bela- SAMSTAG Mann (Uwe Bohm) flieht in Über den Dächern von Nizza sten mit ihrer Strahlung 21.00 – 22.50 Uhr ARD den fünfziger Jahren aus der die Stadt. Von SPIEGEL TV- DDR und landet als Prakti- Berühmt in diesem Hitch- Autor Felix Zimmermann. Milch und Schokolade kant auf einer Burg für cock-Klassiker (USA 1955) Coline Serreau, die französi- schwererziehbare und behin- ist die erotische Annährung sche Filmemacherin, die mit derte Kinder. Der Leiter, ein zwischen Cary Grant und MITTWOCH dem Erfolgsstreifen „Drei schleimiger Neudemokrat Grace Kelly: Von einer Ho- 20.10 – 21.40 Uhr Vox Männer und ein Baby“ in ei- und heimlicher Alt-Nazi, telsuite aus betrachten sie SPIEGEL TV SPECIAL ne Weltkarriere katapultiert macht dem Flüchtling das Le- ein prachtvolles Feuerwerk. wurde, gilt als Powerfrau: Ihr ben schwer. Aber da gibt es Doch beide verlieren das In- Tatort Familie – vor zwei militanter Optimismus, der noch eine lebenslustige Er- teresse an dem Spektakel Wochen erschoß ein Mann und bewerfen sich mit verba- seine vier Kinder, seine len Knallkörpern. Hitchcock Frau und anschließend bringt durch Schnitte auf den sich selbst. Das Familien- Feuerzauber einen rausch- drama ist kein Einzelfall. haften Rhythmus und Erotik SPIEGEL TV SPECIAL be- in das Wortgefecht zwischen richtet über scheinbar nor- Cary und Grace. male Familien, deren Le- ben plötzlich durch Gewalt zerstört wird. 20.15 – 21.55 Uhr ZDF Die Peter-Alexander-Show MITTWOCH 1994 21.45 – 22.30 Uhr Vox Gänsebraten, Marzipankar- SPIEGEL TV THEMA toffeln und Kerzen sind schon eine schwere Festtags- Ost-West-Lieben – deutsch-deutsche Bezie- HIPP-FOTO prüfung. Aber dann noch der „Milch und Schokolade“-Darsteller Richard, Auteuil alte Peter – zum Davonreiten hungen der anderen Art. auf dem weißen Rößl. Zwei Ost-West-Paare be- Klassen- und Rassenkonflik- zieherin (Barbara Auer), in richten, warum es so te während der zwei Stunden die sich der junge Mann ver- schwer ist, eine harmoni- 20.15 – 22.05 Uhr Premiere dieses Films (Frankreich liebt. Ein Hattrick, der nach sche gesamtdeutsche Be- 1989) für nichtig erklärt, dul- Regisseur und Hauptdarstel- Made in America ziehung zu führen. det keinen Widerspruch. Ihr ler dritte Bohm, macht den Mutter (Whoopi Goldberg) Erfolgsgeheimnis ist die Film zum Familienfest: Es ist hat sich einst mittels Sperma FREITAG Synthese aus begnadeter der kleine David, der den von der Samenbank eine 22.00 – 22.30 Uhr Vox Tumbheit und zähester Pro- Waisenjungen Fritz spielt, ei- Tochter (Nia Long) ange- fessionalität. Das gilt auch nen kleinen Teufelsbraten schafft, die jetzt wissen will, SPIEGEL TV für diese rührende Story vom und Herzenskerl, den das wer ihr Papa ist. Sie stößt auf INTERVIEW Manager Blindet (Daniel junge Paar schließlich aus der einen Hohlkopf, der in Wer- Sven Väth – der Frankfur- Auteuil), dem die schwarze Erziehungshölle rettet. Wie bespots Schimpansen küßt. ter DJ ist eine der Kultfigu- Putzfrau (Firmine Richard) dieser Winzling mit den gro- Größter Schreck: Der Hohl- ren der Techno-Generati- aus der Bredouille hilft, in ßen Ohren die beiden Jung- kopf ist weiß. Daraus hätten on. In SPIEGEL TV INTER- die ihn karrieregeile Konkur- pädagogen erobert: Das ist sich viel giftiger Witz und so- VIEW spricht der 30jährige renten gebracht haben. die schönste Geschichte. gar manche Wahrheit zum über Party-Streß, Groupies schwarz-weißen Alltag in und Ecstasy. 21.20 – 23.10 Uhr Pro Sieben 0.45 – 2.55 Uhr Pro Sieben Amerika wringen lassen. Aber nein. Bald balzt das Die Kaktusblüte Nachrichtenfieber SAMSTAG Samenbank-Paar so harmo- 22.30 – 0.20 Uhr Vox Walter Matthau zeigt, unbe- Die Produzentin einer Nach- nisch wie in einer Seifenoper. holfen, trocken, melancho- richtensendung (Holly Hun- Was Wunder: Das Skript für SPIEGEL TV SPECIAL lisch und zynisch, als Zahn- ter) kann sich weder für den diesen Film (USA 1993, Re- Beobachtungen während arzt Julian den bewährten aalglatten Moderator (Wil- gie: Richard Benjamin) wur- der letzten Tage des zwei- Knitter-Charme. Und Ingrid liam Hurt) noch für den de erst spät auf Whoopi um- ten deutschen Staates: Bergman als Stephanie ver- sensiblen Reporter (Albert getrimmt – geplant war ei- Abschied von der DDR und jüngt sich in 90 Filmminuten Brooks) entscheiden. Also gentlich eine weiße Schau- die Nacht der Einheit. bei bewährtem Bergman-Lä- gibt sie sich mit voller Kraft spielerin.

200 DER SPIEGEL 51/1994 Werbeseite

Werbeseite HOHLSPIEGEL RÜCKSPIEGEL

Aus dem Eltern-Journal, herausgege- Zitat ben vom Ministerium für Kultus und Sport, Baden-Württemberg: „Zum gu- Die Neue Zürcher Zeitung über die SPIE- ten Unterricht aber gehört immer ein GEL-Autorin Marie-Luise Scherer: Plan, der – vereinfacht gesagt – den Schüler von seinen individuellen Vor- Sie schreibt für den SPIEGEL und denkt kenntnissen zur konsequenten gedank- an Flaubert. Ihre Manuskripte sind lichen Durchdringung der Post als In- Handarbeit. Sätze werden gewendet, ge- stitution und als gesellschaftlichen kürzt, wieder gedreht. Sie verlangt von Kommunikationsweg im Rahmen sei- sich, daß ein Satz passen muß wie ein ner altersgemäßen Fassungs- und Ge- Handschuh. Wenn dann einer tuschelt: staltungskraft hinführt.“ Journalismus habe etwas mit „Jour“ zu tun, zieht die zweifache Kisch-Preisträge- Y rin ihren kupferfarbenen Hund an der Leine langsam wieder hinaus aus dem Hamburger Redaktionsgebäude und fährt zurück aufs Land, an die Ufer des Elbkanals, wobeim Deich Hühner ingrü- nen Wiesen picken, und ehrgeizige Jung- hähne bei den ersten Krähversuchen noch rührend abstürzen. Marie-Luise Scherer hat einen Sinn für stimmige Mi- Aus den Göppinger Kreisnachrichten lieus. Ihre Reportagen sind eine Schule der Empfindsamkeit, eine moderne Edu- Y cation sentimentale, eine Erziehung des Aus der Frankfurter Allgemeinen: „Weil Herzens zur Genauigkeit. Die Autorin er doch nur zwei Plätze bereithält, ist er interessieren nicht die schnellen Kli- ein ungewöhnlich ökologisches Auto. schees vom Elend. Sie beherrscht die Sind nämlich die fünfsitzigen Limousi- Technik der Evokation, dieden Eindruck nen meist nur mit dem Fahrer besetzt dessen hervorrufen kann, was sich direkt und damit zu 20 Prozent ausgelastet, ist eben nicht benennen läßt. Für diese Ar- der Opel Tigra immer mindestens mit beitsweise braucht sie minuziöse Detail- fünfzigprozentiger Kapazitätsnutzung kenntnisse. Wochen-, oft monatelange unterwegs.“ Recherchen vor Ort sind die Vorausset- zung ihrer sprachlichen Kompositionen, Y die sie dann von den thematischen Rän- dern aus beginnt. Der SPIEGEL berichtete ...... in Nr. 38/1994 AFFÄREN – GEFÄHR- Aus den Badischen Neuesten Nachrich- LICHE FRAGEN über die Bevölkerungsfor- ten scherin Charlotte Höhn, die wegen einer in der taz zitierten Interviewpassage Y über die durchschnittliche Intelligenz Aus der Heidenheimer Neuen Presse: von Afrikanern des Rassismus verdäch- „Ein weiterer Schwerpunkt bei der tigt worden war. „Rassistische Formulie- gestrigen Verhandlung war der Mord- rungen“, so damals der SPIEGEL, „finden vorgang. Seit einiger Zeit gibt es näm- sich in ihren rund 100 Fachveröffentli- chungen nicht.“ lich außer der Totschuß-Version noch eine zweite: Murat Dincgez wurde erst erschossen. Als er dann noch nicht tot Letzte Woche wurde die wegen der um- war, wurde er mit einem Messer am strittenen Äußerung suspendierte Direk- Hals erstochen. Enthauptet wurde er torin des Wiesbadener Instituts für Be- völkerungsforschung rehabilitiert. Höhn in jedem Fall, als er bereits tot war.“ muß keine disziplinarischen Konsequen- zen befürchten und bleibt im Amt. Die Y „problematische Tendenz“ der Höhn- Aus dem Bonner General-Anzeiger: Äußerungen, erklärte das Bonner Innen- „Um hochintelligenten Nachwuchs zu ministerium, sei in der von ihr nicht ge- bekommen, sollen Menschen mit ei- nehmigten taz-Veröffentlichung „im we- nem niedrigen Intelligenzquotienten in sentlichen erst durch die bewußte Zitie- China zwangssterilisiert werden.“ rungausdem Zusammenhang heraus und die hierfür gewählte Überschrift“ er- Y reicht worden. Zudem hätten Fachleute „intensiv geprüft und bestätigt“, daß die wissenschaftlichen Veröffentlichungen Höhns „keinerlei Hinweise auf die ihr un- terstellte rassistische Grundeinstellung“ Aus der Achern-Rench-Zeitung gäben.

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