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MNO DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung Betr.: Karajan, Schmidt

en ruhmreichen Weg des großen Maestro begleitete SPIEGEL-Redak- Dteur Klaus Umbach über Jahrzehnte, und nun geht es noch über den Tod hinaus. Zu einem ersten SPIEGEL-Gespräch trafen sich Umbach und Herbert von Karajan 1979 nahe Salzburg. Doch Karajans Monologe waren nicht zu bremsen, und nach einer halben Stunde stellte der Musik- fachmann des SPIEGEL den Recorder ab: „Tut mir leid, aber so hat es keinen Zweck.“ Der Meister war etwas verstört, rief aber nach vier Wo- chen wieder an und lud zu einem zweiten Versuch ein. Der klappte, und es folgten dann Dutzende von Umbach-Geschichten über Karajan, der nicht nur mit seinen Konzerten, sondern auch mit seinem Kommerzrummel und allerlei Ränken die Musikwelt bewegte. Umbach schrieb, 1984 und 1988, zwei Titelgeschichten über die schwierige Ausnahmeerscheinung und flog an Karajans Todestag 1989 nach Salzburg – wo ihm der Geschäftsführer der Karajan-Firma „Telemondial“ verriet, der Chef habe ihn oft montags an den Zeitungskiosk geschickt, um nach dem SPIEGEL und Umbachs Wirken zu schauen: „Geh mal gucken, ob von dem wieder was in der neu- en Nummer steht.“ Es läßt ihn nicht los: In diesem Heft berichtet Klaus Umbach über die märchenhafte Vermarktung des toten Herbert von Ka- rajan, ein Millionengeschäft (Seite 178).

r verglich die Fernsehmoderatorin Bettina Böttinger mit einer „Klo- Eschüssel“ („Kein Mann würde sie freiwillig anfassen“), er erbrach sich am Schalter einer Bank und schimpfte die Tennisspielerin Anke Huber ei- ne „Milchschnitte“: Seit Wochen wird das Fernsehpublikum mit den Zo- J. BINDRIM / LAIF Schmidt (M.), Redakteure Klassen, Festenberg

ten, Zynismen und Geschmacksverirrungen beschäftigt, die der Entertai- ner Harald Schmidt in seiner Late-Night-Show verbreitet. Weil es Schmidt, der sich erst nach hundert Folgen zu seiner umstrittenen Sen- dung äußern wollte, an Zuschauern mangelt und sein Sender Sat 1 in der Gunst des Publikums verliert, bricht er nun sein Schweigegelübde und stellt sich im SPIEGEL: Im Interview mit den Redakteuren Nikolaus von Festenberg und Ralf Klassen verteidigt der eigenwillige Fernsehmann sei- nen Brachialwitz als „Documenta-Qualität zum Hollywood-Tarif“ und ou- tet sich als Masochist („Leiden macht Spaß“). Reuige Umkehr ist nicht zu sehen: „Diese enormen Prügel motivieren mich 200prozentig“ (Seite 120). Die nächste SPIEGEL-Ausgabe wird wegen des Rosenmontags in weiten Teilen Deutschlands bereits am Sonnabend, 17. Februar, verkauft und den Abonnenten zugestellt. .

TITEL INHALT Der tödliche Konkurrenzkampf der Billig-Airlines ...... 22 Birgenair-Reisende über ihre Erfahrungen ...... 24 Interview mit Öger-Tours-Chef Vural Öger Der bedrängte Norbert Blüm Seite 34 über Billigflüge ...... 26 Interview mit Condor-Chef Franz Schoiber über das Charter-Geschäft ...... 28 Sicherheitsmängel bei Exoten-Linien ...... 30

KOMMENTAR Rudolf Augstein: „Dear Helmut . . .“ ...... 37

DEUTSCHLAND Panorama ...... 16 Minister: Hans-Joachim Noack über den bedrängten Arbeitsminister Norbert Blüm ...... 34 Europa: SPIEGEL-Gespräch mit CDU/CSU- Rentner-Glück Abendzeitung Fraktionschef Wolfgang Schäuble über die Währungsunion ...... 38 Als unentbehrlichen Verteidiger des Sozialstaates versteht sich Nor- Türken: Radikale Islamisten auf dem bert Blüm. Kanzler Kohl stützt ihn noch, Finanzminister Waigel da- Vormarsch in Deutschland ...... 44 gegen traut den Zahlen aus dem Hause Blüm nicht mehr. Parteien: Die DKP plant die Weltrevolution ...... 49 Prozesse: Gisela Friedrichsen über falsche Geständnisse und den „Serientäter“ Thomas Rung ...... 56 Agenten: Wie ein Hamburger CDU-Mann Islamisten in Deutschland Seite 44 Parteifreunde an die Stasi verpfiff ...... 62 Umwelt: Elisabeth Niejahr über den Streit Sie fordern Kopftuch und Scha- zweier Freunde von der BASF ria, sie hetzen gegen westliche um die Öko-Steuer ...... 66 Lebensweise und die „verfluchte Rauschgift: Streit über den Nation“ der Juden. Radikale Heroin-Ersatzstoff Methadon ...... 69 Anhänger der türkischen Isla- Hauptstadt: PR-Getöse um Großbaustellen ...... 74 mistenpartei Refah haben in Finanzen: Bonner Furcht vor Deutschland wachsenden Zu- der Macht der Länder ...... 75 lauf. Über Kulturvereine, Fuß- LAIF Arbeitsmarkt Ost: Die Kulis der Nation ...... 77 ballklubs und Koranschulen re- Interview mit dem Hallenser krutieren die religiösen Fanati-

Wirtschaftswissenschaftler Rüdiger Pohl ...... 78 ker vor allem jugendliche und ar- A. KRAUSE / Strafrecht: Union plant Gesetz gegen beitslose Türken. Betende Moslems Tucholsky-Zitat ...... 80

WIRTSCHAFT Verkehr: Bonn hält am Transrapid fest – Lohn-Dumping im Osten Seite 77 um jeden Preis ...... 84 Telekommunikation: Neue Allianzen Arbeiter warten monatelang auf ihre Löhne, Manager verhindern gegen die Telekom ...... 86 Betriebsratswahlen, ein Großteil zahlt unter Tarif: in den neuen Län- Europa: Umstrittenes Importverbot dern spielen viele Unternehmer Wild-Ost. Beschäftigte wehren sich für britisches Rindfleisch ...... 88 häufig nicht, aus Angst vor Arbeitslosigkeit. Unternehmen: Interview mit Grundig-Chef Pieter van der Wal über seinen Sparkurs ...... 89 Trends ...... 90 Spekulation: Spieler und Zocker auf den weltweiten Finanzmärkten ...... 92 Die Welt der Börsenzocker Seiten 92, 102 Internationale Großinvestoren gewinnen immer mehr Einfluß auf die deutsche Industrie ...... 98 Die weltweiten Finanzmärkte sind Milliarden-Schwindler Nick Leeson berichtet, zum Spielkasino geworden – und wie er das Bankhaus Barings ruinierte (I) ...... 102 das Spiel wird immer gefährlicher. Im Februar 1995 brach über Nacht GESELLSCHAFT Barings, Englands älteste Privat- bank, unter einer Schuldenlast von Humor: Hajo Schumacher über den über einer Milliarde Mark zusam- Spaß-Streß im Kölner Karneval ...... 116 men. Ein junger Wertpapierhändler Rundfunk: Das erste deutsche Talk-Radio der Bank hatte die riesige Summe in ...... 119 an der Singapurer Börse verspeku- Unterhaltung: Interview mit TV-Entertainer liert. In einer SPIEGEL-Serie be- Harald Schmidt über Zoten und Quoten ...... 120 AP richtet Nick Leeson freimütig über Computer: Erster Scheidungsprozeß Leeson nach der Festnahme sein Leben als Börsenzocker. wegen virtueller Untreue ...... 123

4 7/1996 .

AUSLAND Mostar: Kroaten verhindern die Vereinigung ... 124 Interview mit Bürgermeister Mijo Brajkovic´ Herzls Vision vom Judenstaat Seite 140 über die Wut auf Koschnick ...... 126 Kriegsverbrechen: Walter Mayr über die Ein Wiener Dandy hatte Suche nach Massengräbern in Bosnien ...... 127 Italien: vor 100 Jahren die Vision Vormarsch der Neofaschisten ...... 130 Europa: einer nationalen Heimstatt Britische Erregung über Kohl ...... 132 Haiti: aller Juden: Aufgeschreckt Demokratischer Machtwechsel im Terrorland ...... 133 vom Antisemitismus, ver- Panorama Ausland ...... 134 öffentlichte Theodor Herzl Argentinien: Madonna als Evita Pero´n ...... 135 1896 seine Schrift „Der Ju- Uno: Wer haftet für den Tod belgischer denstaat“. Das Manifest Blauhelm-Soldaten in Ruanda? ...... 138 des politischen Zionismus Burundi: Afrikas blutigster Bürgerkrieg ...... 138 forderte freilich einen an- Zionismus: Uri Avnery über den vor deren Staat als das heutige 100 Jahren veröffentlichten „Judenstaat“ Israel. Herzls Vorbild war von Theodor Herzl ...... 140 Deutschland: „stark, sitt- Rußland: Amerikanische Geschäftemacher H. H. PINN lich“ und „stramm organi- in Moskau ...... 148 Jüdisches Emigrantenschiff „Exodus“ (1947) siert“. Großbritannien: EU will Quarantäne-Gesetze für Tiere lockern ...... 152

WISSENSCHAFT Reich-Ranicki preist Monika Maron Seite 185 Aids: Längeres Überleben durch neue Medikamente ...... 154 „Zart und aggressiv in einem“ sei, so rühmt Ernährung: Tomatenpüree aus dem Genlabor .. 160 Kritiker Marcel Reich-Ranicki, der Roman Atomphysik: Sind Quarks teilbar? ...... 166 „Animal triste“ von Monika Maron, der er- Prisma ...... 168 ste erotische Roman der in Berlin lebenden Schriftstellerin. Ihre früheren Bücher befaß- TECHNIK ten sich vor allem mit den Zuständen in der Datennetze: Proteste gegen Zensur DDR, ihrer Heimat. Mit dieser Liebesge- im Internet ...... 157 schichte, einer „Studie“ der „sexuellen Ob- Luftfahrt: Zeppelin-Neubau am Bodensee ...... 162

session“, habe, schreibt Reich-Ranicki, Mo- ACTION PRESS Reich-Ranicki nika Maron erst „ihr Thema“ gefunden. KULTUR Kunst: Würzburger Ausstellung zeigt Barockmaler Tiepolo in neuem Licht ...... 172 Film: „Operation Broken Arrow“ Hoffnungspillen für Aids-Kranke Seite 154 von John Woo ...... 176 Zeitgeschichte: Interview mit Simon Klinische Studien über die Wirkung zweier neuer Medikamente lassen Wiesenthal über die Angriffe gegen ihn ...... 177 unter Aids-Forschern Hoffnung aufkeimen. Erstmals besteht die Aus- Dirigenten: Karajan füllt immer noch sicht, mit einer Kombination von Wirkstoffen die Vermehrung von HIV die Kassen ...... 178 drastisch einzudämmen – die Überlebensraten wurden verdoppelt. Musik: Rocksänger Aviv Geffen, Symbolfigur der Rabin-Tragödie, auf Deutschland-Tournee ...... 181 Pop: Die Rückkehr des Musikmanagers Anarchie und Konfetti Seite 116 Berry Gordy ...... 182 Interview mit „Motown“-Gründer Berry Gordy über Michael Jackson und schwarze Musik ...... 183 Autoren: Marcel Reich-Ranicki über Monika Marons Roman „Animal triste“ ...... 185 Bestseller ...... 188 Szene ...... 190 Fernseh-Vorausschau ...... 206

SPORT Finanzen: Vom Geldsegen aus Fernsehen und Industrie profitieren nur wenige Verbände ...... 194 Interview mit Bertelsmann-Manager Bernd Schiphorst über die Vermarktung

J. SACKERMANN / DAS FOTOARCHIV des Leistungssports ...... 199 Karneval in Köln Briefe ...... 7 Sechs Wochen lang nur Konfetti im Kopf: Für die einen ist der Kölner Impressum ...... 14 Karneval purer Schwachsinn, für die anderen anarchistischer Spaß. Psy- Register ...... 202 chologen billigen dem Spektakel „psychohygienische“ Wirkung zu. Personalien ...... 204 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 210

DER SPIEGEL 7/1996 5 Werbeseite

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BRIEFE Alles kalter Kaffee tagessen und Freizeitspaß, intensiver Be- (Nr. 5/1996, SPIEGEL-Gespräch mit dem treuung und erhöhter Kriminalität, tota- hessischen Kultusminister Hartmut Holz- ler Disziplinlosigkeit und einem Kollegi- apfel über den Schulalltag von morgen) um, das zunehmend in therapeutischer Behandlung ist. Während in vielen hessischen Schulen Hannover ECKHARD FISCHER der Putz von den Wänden bröckelt, die Schüler sich an überaltertem Mobiliar den Rücken krumm sitzen und der Che- Ist die geplante Holzapfelsche Schule mielehrer aus eigener Tasche Unter- nicht eine Kapitulation vor dem, wasman richtsmaterial bezahlt, träumt unser Kul- selbst heraufbeschworen hat, eine An- tusminister einen Traum vom Ausschla- passung an desolate Familienerziehung fen. Aufwachen, Herr Holzapfel, an den und Wählerwille? Vielleicht bin ich bald Schulen ist es bereits fünf vor zwölf! gar kein Lehrer mehr, sondern ein Sozial- Kassel DR. BRIGITTE TECKLENBURG arbeiter und Verhaltenstherapeut mit Ahnung von Mathematik und Biologie? Kirchhain (Hessen) Selten hat ein Dienstherr Aussagen von HANSHEINRICH HAMEL solcher Geringschätzung, Unkenntnis und Leichtfertigkeit in die Öffentlichkeit gebracht und sich damit selbst ein so pein- Der Grundgedanke von Herrn Holzapfel liches Zeugnis ausgestellt. ist richtig, doch weiß ich aus der Praxis, Wettenberg (Hessen) MARKUS POSERN daß die meisten Lehrer, und dies trifft so- Verband Bildung und Erziehung Gießen garaufGrundschullehrer zu, mitder Auf- gabe pädagogischen Handelns und Interve- nierens über die blo- ße Unterrichtsdidak- tik hinaus schlichtweg überfordert sind, ob- wohl sie dies niemals eingestehen würden. Köln LORENZ WACHENDORF

Konzeptionen hin und Konzeptionen her: Schüler brauchen ein- fach gute Lehrer, egal ob im 45-Minuten- oder 3-Stunden-Takt. Wertheim (Bad.-Württ.) MARKUS DAUMÜLLER

Bravo, Herr Minister.

F. HOLLANDER Nach Jahren schulpoli- Projektunterricht in einer Hamburger Schule tischer Talfahrt endlich Endlich eine Vision eine Vision. Um das für Schüler und Lehrer Erfrischend klare Worte, Herr Holzap- manchmal zu enge Korsett des Schulall- fel. In den Schulen, die erkannt haben, tags abzustreifen, muß man nicht nei- daß die veränderten Rahmenbedingun- disch auf ausländische Konzepte verwei- gender Kinder, Teamarbeit, Öffnung des sen, sondern nur an den Rand der bun- Unterrichts, Erhöhung der Betreuungs- desdeutschen Schul-Ökumene schauen: dichte, Ausweitung des Angebots über An deutschen Auslandsschulen wird die Wissensvermittlung hinaus und pro- dieses Konzept bereits praktiziert. blemorientierte Fortbildung notwendig Tokio LOTHAR STEINFELD machen, bleibt der „Fluchtreflex“ auto- Deutsche Schule Yokohama matisch aus. Berlin EMMANUEL FRITZEN Dank dem SPIEGEL-Gespräch bekom- men die rund 2000 Schüler, die am Frei- Alles kalter Kaffee, Herr Minister. Das tag, dem 19. Januar, in Darmstadt ver- gibt es doch alles längst: Projektunter- geblich den Dialog mit Hessens Kultus- richt, fächerübergreifendes Teamtea- minister suchten, doch noch die Mög- ching, Freies Lernen, Tutorensysteme, lichkeit, seine Argumente zu erfahren. Unterrichtsexperimente bis zum Abwin- Es ist nett zu lesen, wie Herr Holzapfel ken. Und auch die Ganztagsschulen gibt sich über den „Fluchtreflex der Lehrer“ es: integrierte Gesamtschulen mit Mit- und die mangelnde Betreuung der Schu- Werbeseite

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BRIEFE

len sorgt, doch als der Stadtschülerrat drat von 40 Zentimeter Seitenlänge auf ihm ein Paket mit Unterschriftenlisten einem Tisch im Lehrerzimmer. Dann und Forderungen überreichte, während bräuchten wir nicht mehr jeden Tag das draußen Darmstadts Schüler demon- ganze Unterrichtsmaterial hin- und her- strierten, war er derjenige, der mit ei- zuschleppen. Deshalb finden wir Holz- nem Fluchtreflex reagierte und wortlos apfels Vorschläge fantastisch und freu- in seinem Dienstwagen verschwand. en uns schon auf unsere geräumigen Modau (Hessen) K. MARIA KLINGNER Büros. Dornstetten (Bad.-Württ.) CAROLA DIETERICH Ist es notwendig, bereits Kinder in ein THOMAS KOLLER Arbeitszeit-Schema zu pressen, das sie noch in 45 Jahren Arbeitsleben zur Wer die Fortsetzung des Kindergartens Genüge genießen können? Nur weil es in der Schule betreibt, will Wissensver- in anderen Ländern so ist, heißt das mittlung und Leistung aus der Schule nicht, daß es besser ist. jagen. Murrhardt (Bad.-Württ.) W. GEHRING Wiesbaden DIRK METZ CDU-Landtagsfraktion

Wir sind ein Lehrerpaar und unterrich- ten beide an Gymnasien. Zwei unserer Solange die einzelne Schule keinen Ein- dreieinhalb Zimmer werden zum Ar- fluß auf die Zusammensetzung des Kol- beiten verwendet. Nichts wünschen wir legiums hat, weil die Kultusbürokratien uns sehnlicher als einen Arbeitplatz, das Personal auch noch für die letzte wo wir so um 8.30 Uhr antreten, den Dorfschule zentralistisch verwaltet, so- wir dann um 17.30 Uhr verlassen und lange wird sich nur wenig bewegen. der ein bißchen größer ist als das Qua- Köln ULRICH HERMANNS

Aus dem Zusammenhang cher ich von seiten der CDU/CSU po- lemisch gefragt worden bin, ob ich (Nr. 5/1996, Politisches Buch: Jürgen damit die „objektive Notwendigkeit“ Fuchs über die Protokolle der En- gemeint hätte, auf polnische Arbeiter quete-Kommission zur Aufarbeitung zu schießen. Ich habe schon damals der SED-Diktatur) klargestellt, daß nach meiner Auffas- sung die Ausrufung des „Kriegs- Jürgen Fuchs hat einzelne Teile mei- rechts“ gleich Ausnahmezustand ner Zeugenaussage vor der Enquete- durch Jaruzelski ihm deshalb als Kommission des Bundestages aus ih- „notwendig“ erschien, um zu vermei- rem Zusammenhang gelöst und da- den, daß aus dem offenkundigen mili- durch verfälscht, näm- tärischen Aufmarsch lich: Er behauptet, ich sowjetischer Streitkräf- hätte auf Äußerungen te ein Einmarsch nach eines Professors Wilke, Polen würde. Dann zi- welche er ausführlich zi- tiert Fuchs noch drei tiert, mit einer von Sätze von mir über Graf Fuchs wörtlich wieder- Stauffenberg und ande- gegebenen Passage ge- re militärische Wider- antwortet. Dies ist un- ständler, die er aus ih- wahr. Tatsächlich hat rem Zusammenhang weder Wilke noch sonst gelöst und denen er da- ein Kommissionsmit- durch eine falsche Ten- glied mir Äußerungen denz gegeben hat. Tat- Wilkes vorgehalten und sächlich habe ich ge-

dazu meine Meinung M. DARCHINGER sagt: „Jemand, der in erfragt, meine von Schmidt der ersten deutschen Fuchs wiedergegebenen Diktatur helfen wollte, Sätze sind in einem anderen Zusam- mußte selbstverständlich mit den menhang gesprochen worden. Des Dienststellen der Diktatur zusam- weiteren zitiert Fuchs einen Satz von menarbeiten . . . eine Situation ver- mir, der während meines Besuchs am gleichbar derjenigen, die dann eine Werbellinsee, am Tag der Verkün- Generation später in der DDR, ihrer- dung des polnischen Kriegsrechts ge- seits in innerer Opposition zur Staats- fallen ist: „Herr Honecker ist genauso führung stehend, Menschen geholfen bestürzt wie ich, daß dies nun not- und Hochverrat vorbereitet haben. wendig war.“ Hinzufügen darf ich Natürlich in Zusammenarbeit mit den vielleicht, daß das Wort „notwendig“ Dienststellen der Diktatur, ein- damals im Bundestag zu einer Aus- schließlich der Stasi.“ einandersetzung geführt hat, in wel- Hamburg HELMUT SCHMIDT Werbeseite

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BRIEFE

Kein Wort über die Ängste der Men- schen, die mit einem bisexuellen Partner liiert sind. Über das Damoklesschwert der unausgelebten Neigungen, das schlechte Gewissen, den Partner zu ver- einnahmen, und die Angst, ihn irgend- wann ans andere Ufer zu verlieren. Heidelberg ANNA GELBERT

Robert Musil schreibt in „Die Schwär- mer“: „Die Liebe zwischen Mann und Frau ist nur ein schmaler Sonderfall in ei- ner unendlich breiten Skala möglicher Gefühlsverwicklungen.“ Wiesbaden WINFRIED KRETSCHMER

Die Theorie der dekadenten Verände- rungen aufgrund von Überbevölkerung kann ich nicht vertreten. Wie gehen die männlichen Chinesen denn mit dem Pro- R. MEISEL / VISUM blem um? Der Frauenmangel wird in Zu- Pastor bei der Taufe: Wer soll das denn glauben? kunft allen schwul gewordenen Männern ein Ausreisevisum nach Deutschland be- Mit der Kraft der Hände Beitrag über die Bisexualität und ihre scheren? Hetero wer kann. Enttabuisierung darlegen, daß die einzi- (Nr. 5/1996, Kirche: Viele Theologen Livorno (Italien) HANNO DI ROSA werden arbeitslos) gen wirklich Verwirrten unter den Psy- choanalytikern zu finden sind. Sind es wirklich Theologen, sind es Beru- Fürth PETER WINKLER Johann Wolfgang von Goethe hatte zu fene? Dann gibt es für sie Arbeit in Fülle: diesem Thema seine ganz bestimmten Zwei Jahre dauert die Ausbildung zum Ansichten, gepaart mit einem ansehnli- staatlich examinierten Altenpfleger. Sie suchen die Bisexuellen vergebens chen praktischen Erfahrungsfundus: Auf, Ihr vorgeblichen Gottesmänner und auf der Psychiatercouch, weil sie näm- lich normal sind. Alle anderen sind spe- Knaben liebt ich wohl auch, doch lieber -frauen: Zehntausende Kranke, Sieche, sind mir Mädchen, Behinderte warten auf Euch. Nicht auf zialisiert oder verkrüppelt. Außerdem ist „Bisexualität“ ein demagogischer Hab’ ich als Mädchen sie satt, dient sie intellektuell-akademische Kanzelsprü- als Knabe mir noch. che, sondern auf die Kraft Eurer Hände, Ausdruck, der von Ahnungslosigkeit Arme, Wirbelsäulen. und puritanischer Gesinnung zeugt. Zürich DR. ALFRED TROESCH Frankfurt a. M. DR. RUDOLF BIEDERMANN Bad Peterstal (Bad.-Württ.) DR. K. BAYER Offen, frei, feinfühlig und überaus tref- Den Gürtel enger schnallen, damit’s für Völlig schwul oder völlig hetero ist sel- fend hat Wolfgang Joop das Thema auf alle reicht – diese fürs 21. Jahrhundert le- ten anzutreffen. Ich als schwuler Mann den Punkt gebracht. Ein großes Ausrufe- bensnotwendige Lektion mal auf sich will und werde nicht ausschließen, auch zeichen für dieses Bekenntnis! selbst anwenden, Beispiel geben und eine Frau zu lieben. München REIMER LÜTZEN Avantgarde sein, das stünde den Pasto- Edinburgh (Schottland) IAN RITTERSKAMP ren nicht übel an – zumal für alle erst mal nur hieße, „für ihresgleichen“ zu geben. Joop als tiefgründig philosophierendes sexuelles Kunstwerk, wie aufregend. München ROLF RÖMER Ex-Dipl.-Theol. Nürnberg THOMAS URBANEK

Es hat die Kirche nicht kalt erwischen Nicht von mir können, denn alle Studierenden, die das (Nr. 4/1996, Tennis: Peter Grafs Anwälte I. Theologische Examen machen wollen, stellen die Schuldfähigkeit ihres Man- sind in einer der Landeskirchenlisten ein- danten in Frage) getragen. Nun will die Kirche uns weis- machen, daß sie an diesem katastropha- Im Rahmen der Geschichte über den lenZustand völlig unschuldig ist. Wer soll Steuerfall Graf haben Sie einen Brief das denn glauben? veröffentlicht, den Peter Graf aus der Hagen HENNING DAGEFÖRDE Untersuchungshaft an mich geschrieben hatte. Ich möchte gern klarstellen, daß nicht ich diesen Brief weitergegeben ha- Offen, frei, feinfühlig be. Mir wurde in der Zwischenzeit be- (Nr. 5/1996, Titel: Bi-Sexuell – Die Ver- stätigt, daß dieser nach meinen Informa- wirrung der Geschlechter) tionen auch den Behörden und den An- wälten vorliegende Brief nicht von mir Warum der abwertende Untertitel stammt. „Verwirrung der Geschlechter“, wo Sie SPIEGEL-Titel 5/1996 Zürich HANS WILHELM GÄB doch in Ihrem erfreulich nüchternen Erfreulich nüchtern General Motors Europe

12 DER SPIEGEL 7/1996 Werbeseite

Werbeseite BRIEFE MNO Plug and Pray! 20457 Hamburg, Brandstwiete 19, Telefon (040) 3007-0 (Nr. 5/1996, Computer: Apple geht in Telefax (040) 3007-2246 (Verlag), -2247 (Redaktion), -2898 (Vertrieb), -2829 (Anzeigen), -2966 (Leserdienst) Internet: http://www.spiegel.de . E-Mail: 74431.736@ compuserve.com die Knie) CompuServe: Go SPIEGEL . E-Mail: 74431,736 . T-Online: K SPIEGEL# Die Apple-Manager haben bereits in HERAUSGEBER: Rudolf Augstein 516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N. Y. 10036, Tel. (001212) 221 7583, Telefax 302 6258 . Paris: Lutz Krusche, den frühen achtziger Jahren den ent- CHEFREDAKTEUR: Stefan Aust Helmut Sorge, 17 Avenue Matignon, 75008 Paris, Tel. (00331) 4256 1211, Telefax 4256 1972 . Peking: Jürgen Kremb, Qi- scheidenden Kurswechsel verpaßt: Das STELLV. CHEFREDAKTEURE: Joachim Preuß, Dr. Dieter Wild jiayuan 7. 2. 31, Peking, Tel. (008610) 532 3541, Telefax an sich weit überlegene System als einzi- 532 5453 . Prag: Jilska´ 8, 11 000 Prag, Tel. (00422) REDAKTION: Karen Andresen, Ariane Barth, Dieter Bednarz, Wil- 24 22 0138, Telefax 24 22 0138 . Rio de Janeiro: Jens Glü- ger Anbieter zu vermarkten, bescherte helm Bittorf, Peter Bölke, Ulrich Booms, Dr. Hermann Bott, Klaus sing, Avenida Sa˜o Sebastia˜o, 157 Urca, 22291 Rio de Janeiro zwar hohe Gewinne, machte aber die Brinkbäumer, Henryk M. Broder, Werner Dähnhardt, Dr. Thomas (RJ), Tel. (005521) 275 1204, Telefax 542 6583 . Rom: Valeska Darnstädt, Hans-Dieter Degler, Dr. Martin Doerry, Anke Dürr, Adel von Roques, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (00396) 679 7522, „Macs“ zu teuren Exoten. Zweifellos S. Elias, Marco Evers, Nikolaus von Festenberg, Uly Foerster, Dr. Telefax 679 7768 . Stockholm: Hermann Orth, Scheelegatan 4, Erich Follath, Klaus Franke, Gisela Friedrichsen, Angela Gatter- 11 223 Stockholm, Tel. (00468) 650 82 41, Telefax 652 99 97 . war die Durchsetzung des störanfälligen burg, Henry Glass, Johann Grolle, Doja Hacker, Dr. Volker Hage, Tokio: Dr. Wieland Wagner, Daimachi 4-44-8, Hachioji-shi, Tokio MS-Dos nur möglich, weil ein knallhar- Dr. Hans Halter, Werner Harenberg, Dietmar Hawranek, Manfred 193, Tel. (0081426) 66-4994, Telefax 66-8909 . Warschau: Dr. W. Hentschel, Hans Hielscher, Wolfgang Höbel, Heinz Höfl, Cle- Martin Pollack, Ul. Polna 44/24, 00-635 Warschau, Tel. (004822) ter Wettbewerb unter den Anbietern mens Höges, Joachim Hoelzgen, Dr. Jürgen Hohmeyer, Hans 25 49 96, Telefax 25 84 74 . Washington: Karl-Heinz Büsche- von Ms-Dos-Rechnern gleicher Bauart Hoyng, Thomas Hüetlin, Ulrich Jaeger, Hans-Jürgen Jakobs, Urs mann, Siegesmund von Ilsemann, 1202 National Press Building, Jenny, Dr. Hellmuth Karasek, Sabine Kartte, Klaus-Peter Ker- Washington, D. C. 20 045, Tel. (001202) 347 5222, Telefax deren Preise ständig an der unteren busk, Ralf Klassen, Petra Kleinau, Sebastian Knauer, Dr. Walter 347 3194 . Wien: Dr. Hans-Peter Martin, Böcklinstraße 90, Schmerzgrenze hielt und sie so den Knips, Susanne Koelbl, Christiane Kohl, Dr. Joachim Kronsbein, 1020 Wien, Tel. (00431) 728 1022, Telefax 720 6827 Bernd Kühnl, Wulf Küster, Dr. Romain Leick, Hans Leyendecker, Heimcomputermarkt erobern konnte. Heinz P. Lohfeldt, Udo Ludwig, Klaus Madzia, Armin Mahler, Ge- ILLUSTRATION: Werner Bartels, Renata Biendarra, Martina Blu- org Mascolo, Gerhard Mauz, Fritjof Meyer, Dr. Werner Meyer-Lar- me, Barbara Bocian, Ludger Bollen, Katrin Bollmann, Thomas Hamburg PAUL STIEBELING sen, Joachim Mohr, Reinhard Mohr, Mathias Müller von Blumen- Bonnie, Regine Braun, Martin Brinker, Manuela Cramer, Josef cron, Bettina Musall, Dr. Jürgen Neffe, Dr. Renate Nimtz-Köster, Csallos, Volker Fensky, Ralf Geilhufe, Rüdiger Heinrich, Tiina Hur- Hans-Joachim Noack, Claudia Pai, Rainer Paul, Christoph Pauly, me, Claudia Jeczawitz, Antje Klein, Ursula Morschhäuser, Corne- lia Pfauter, Monika Rick, Chris Riewerts, Julia Saur, Detlev Jürgen Petermann, Dietmar Pieper, Norbert F. Pötzl, Detlef Pyp- Scheerbarth, Manfred Schniedenharn, Frank Schumann, Rainer ke, Dr. Rolf Rietzler, Anuschka Roshani, Dr. Fritz Rumler, Dr. Jo- Sennewald, Karin Weinberg, Monika Zucht hannes Saltzwedel, Karl-H. Schaper, Marie-Luise Scherer, Mi- chaela Schießl, Heiner Schimmöller, Roland Schleicher, Michael SCHLUSSREDAKTION: Rudolf Austenfeld, Horst Beckmann, Schmidt-Klingenberg, Cordt Schnibben, Hans Joachim Schöps, Sabine Bodenhagen, Dieter Gellrich, Hermann Harms, Bianca Dr. Mathias Schreiber, Sylvia Schreiber, Bruno Schrep, Helmut Hunekuhl, Rolf Jochum, Karl-Heinz Körner, Inga Lembcke, Schümann, Matthias Schulz, Birgit Schwarz, Ulrich Schwarz, Dr. Christa Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Andreas M. Peets, Jürgen Scriba, Claudius Seidl, Birte Siedenburg, Dr. Stefan Si- Gero Richter-Rethwisch, Thomas Schäfer, Ingrid Seelig, Hans- mons, Mareike Spiess-Hohnholz, Dr. Gerhard Spörl, Olaf Stampf, Eckhard Segner, Tapio Sirkka, Ruth Tenhaef, Hans-Jürgen Vogt, Gabor Steingart, Hans-Ulrich Stoldt, Peter Stolle, Barbara Supp, Kirsten Wiedner, Holger Wolters Dieter G. Uentzelmann, Klaus Umbach, Hans-Jörg Vehlewald, Dr. VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Pan- Manfred Weber, Susanne Weingarten, Alfred Weinzierl, Marianne orama, Europa (S. 38), Hauptstadt, Finanzen (S. 75), Strafrecht: Wellershoff, Peter Wensierski, Carlos Widmann, Erich Wiede- Dr. Thomas Darnstädt; für Titelgeschichte, Türken, Parteien, mann, Christian Wüst, Peter Zobel, Dr. Peter Zolling, Helene Agenten, Rauschgift, Arbeitsmarkt Ost: Mathias Müller von Blu- Zuber mencron; für Verkehr, Telekommunikation, Europa (S. 88), Unter- nehmen, Trends, Spekulation (S. 92, 98): Armin Mahler; für Spe- REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND: Berlin: Wolf- kulation (S. 102); Dr. Rolf Rietzler; für Rundfunk, Unterhaltung, gang Bayer, Petra Bornhöft, Markus Dettmer, Jan Fleischhauer, Pop, Fernseh-Vorausschau: Hans-Dieter Degler; für Mostar, Ita- Uwe Klußmann, Jürgen Leinemann, Claus Christian Malzahn, lien, Europa (S. 132), Panorama Ausland, Argentinien, Uno, Bu- Walter Mayr, Harald Schumann, Michael Sontheimer, Kurfürsten- rundi, Zionismus, Rußland, Großbritannien, Zeitgeschichte: Dr. straße 72 – 74, 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91-0, Telefax Romain Leick; für Computer, Aids, Datennetze, Ernährung, Luft- 25 40 91 10 . Bonn: Winfried Didzoleit, Manfred Ertel, Dr. Olaf fahrt, Atomphysik, Prisma: Jürgen Petermann; für Kunst, Dirigen- Apple-Logo Ihlau, Dirk Koch, Ursula Kosser, Dr. Paul Lersch, Elisabeth Nie- ten, Musik, Autoren, Bestseller, Szene: Dr. Mathias Schreiber; für jahr, Hartmut Palmer, Olaf Petersen, Rainer Pörtner, Hans-Jürgen Finanzen (S. 194): Heiner Schimmöller; für namentlich gezeich- Auch heute noch Spitze Schlamp, Hajo Schumacher, Alexander Szandar, Klaus Wirtgen, nete Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register, Personalien, Dahlmannstraße 20, 53113 Bonn, Tel. (0228) 26 70 3-0, Tele- Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Tho- fax 21 51 10 . Dresden: Stefan Berg, Christian Habbe, Andreas mas Bonnie; für Gestaltung: Volker Fensky; für Hausmitteilung: Apple mag verkauft werden – oder auch Wassermann, Königsbrücker Str. 17, 01099 Dresden, Tel. Hans Joachim Schöps; Chef vom Dienst: Horst Beckmann (sämt- (0351) 567 0271, Telefax 567 0275 . Düsseldorf: Ulrich Bie- lich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) nicht. Tatsache ist, daß stolze Win- ger, Georg Bönisch, Richard Rickelmann, Oststraße 10, 40211 DOKUMENTATION: Jörg-Hinrich Ahrens, Sigrid Behrend, Dr. Hel- dows-95-User nach wie vor ihre Proble- Düsseldorf, Tel. (0211) 93 601-01, Telefax 35 83 44 . Erfurt: mut Bott, Dr. Jürgen Bruhn, Lisa Busch, Heiko Buschke, Heinz Felix Kurz, Dalbergsweg 6, 99084 Erfurt, Tel. (0361) 642 2696, Egleder, Dr. Herbert Enger, Johannes Erasmus, Dr. Karen Eriksen, me haben, Peripherie in Gang zu setzen. Telefax 566 7459 . Frankfurt a. M.: Peter Adam, Wolfgang Bitt- Cordelia Freiwald, Dr. Andre´ Geicke, Ille von Gerstenbergk-Hell- Auch hier immer noch: Plug and Pray! ner, Annette Großbongardt, Rüdiger Jungbluth, Ulrich Manz, dorff, Dr. Dieter Gessner, Hartmut Heidler, Gesa Höppner, Jürgen Oberlindau 80, 60323 Frankfurt a. M., Tel. (069) 71 71 81, Tele- Holm, Christa von Holtzapfel, Joachim Immisch, Hauke Janssen, Berlin WOLFRAM BECHER-BROSSEDER fax 72 17 02 . Hannover: Ansbert Kneip, Rathenaustraße 16, Günter Johannes, Michael Jürgens, Ulrich Klötzer, Angela Köl- 30159 Hannover, Tel. (0511) 32 69 39, Telefax 32 85 92 . lisch, Sonny Krauspe, Hannes Lamp, Marie-Odile Jonot-Lang- Karlsruhe: Dr. Rolf Lamprecht, Amalienstraße 25, 76133 Karls- heim, Walter Lehmann, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig, Sigrid ruhe, Tel. (0721) 225 14, Telefax 276 12 . Mainz: Wilfried Lüttich, Roderich Maurer, Rainer Mehl, Ulrich Meier, Gerhard Mi- Es ist das Schicksal Apples, die besten Voigt, Weißliliengasse 10, 55116 Mainz, Tel. (06131) 23 24 40, nich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Christel Nath, Anneliese Neu- Telefax 23 47 68 . München: Dinah Deckstein, Annette Ramels- mann, Werner Nielsen, Paul Ostrop, Anna Petersen, Peter Philipp, Geräte zu bauen und trotzdem dauernd berger, Dr. Joachim Reimann, Stuntzstraße 16, 81677 München, Axel Pult, Ulrich Rambow, Dr. Mechthild Ripke, Constanze San- Tel. (089) 41 80 04-0, Telefax 4180 0425 . Schwerin: Bert Ga- ders, Petra Santos, Christof Schepers, Rolf G. Schierhorn, Ekke- verrissen zu werden. merschlag, Spieltordamm 9, 19055 Schwerin, Tel. (0385) hard Schmidt, Andrea Schumann, Claudia Siewert, Margret Hamm DIRK WESTERMANN 557 44 42, Telefax 56 99 19 . Stuttgart: Dr. Hans-Ulrich Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Stefan Storz, Rai- Grimm, Kriegsbergstraße 11, 70174 Stuttgart, Tel. (0711) ner Szimm, Monika Tänzer, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Tei- 22 15 31, Telefax 29 77 65 chert, Jutta Temme, Dr. Iris Timpke-Hamel, Carsten Voigt, Horst Wachholz, Ursula Wamser, Dieter Wessendorff, Andrea Wilkens, REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND: Bangkok: Andre- Karl-Henning Windelbandt Das ist genau der Punkt: Apple hat als as Lorenz, 49 Soi Inthamara 13, Suthisarn Road, Bangkok BÜRO DES HERAUSGEBERS: Irma Nelles Kunden Jünger und Microsoft Sklaven. 10400, Tel. (00662) 271 17 12, Telefax 616 96 69. Basel: Jürg NACHRICHTENDIENSTE: AP, dpa, Los Angeles Times/Washing- Bürgi, Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 283 0474, Te- ton Post, New York Times, Reuters, sid, Time Briedel/Mosel ARNE HOUBEN lefax 283 0475. Belgrad: Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, . 11000 Belgrad, Tel. (0038111) 66 99 87, Telefax 66 01 60 SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Brüssel: Heiko Martens, Marion Schreiber, Bd. Charlemagne 45, 1040 Brüssel, Tel. (00322) 230 61 08, Telefax 231 1436 . 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Kostjolnaja 8, kw. 24, 252001 Verantwortlich für Anzeigen: Christian Schlottau Bonn BENNO KUNZE-OBSIEGER Kiew, Tel. (0038044) 228 63 87 . London: Bernd Dörler, 6 Hen- Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 50 vom 1. Januar 1996 rietta Street, London WC2E 8PS, Tel. (0044171) 379 8550, Tele- Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 . fax 379 8599 Moskau: Jörg R. Mettke, Dr. Christian Neef, Kru- Druck: Gruner Druck, Itzehoe; maul belser, Nürnberg tizkij Wal 3, Korp. 2, kw. 36, 109 044 Moskau, Tel. (007095) VERLAGSLEITUNG: Fried von Bismarck Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt 274 00 09/52, Telefax 274 00 03 . Neu-Delhi: Dr. Tiziano Ter- zu veröffentlichen. zani, 6-A Sujan Singh Park, New Delhi 110003, Tel. (009111) MÄRKTE UND ERLÖSE: Werner E. Klatten 469 7273, Telefax 460 2775 . New York: Matthias Matussek, GESCHÄFTSFÜHRUNG: Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel Es befindet sich ein Beihefter der Paulaner Braue- DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $290.00 per annum. rei, München, innerhalb der Teilauflage Nielsen Distributed by German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. Second class IV. postage is paid at Englewood, NJ 07631 and at additional mailing offices. Postmaster: Send address changes to: Eine Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ent- DER SPIEGEL, GERMAN LANGUAGE PUBLICATIONS, INC., P.O. Box 9868, Englewood, NJ 07631-1123. hält eine Beilage der Staatlichen Lotterie-Einnah- me Vogel, Osnabrück.

14 DER SPIEGEL 7/1996 Werbeseite

Werbeseite . PANORAMA

Bundeswehr genügend Transportmittel zur Verfügung stehen oder die Preise ziviler Firmen „infolge einer Mangellage unverhält- nismäßig angestiegen sind“, so die wolkige Formel, dürfen Zivilwagen an die Front die Militärs ihren Bedarf künftig per „Zwangsvertrag“ dek- ken. Die Bundesregierung will sich die Möglichkeit verschaffen, Bei einer „weiträumigen Verlegung“ – sprich Out-of-area- schon im Frieden zivile Nutzfahrzeuge, Schiffe und Flugzeu- Einsätzen – könnten die „notwendigen Verkehrsleistungen ge für militärische Zwecke zu requirieren. Dies war bisher nur in geringem Umfang mit den vorhandenen militärischen nur als Notstandsmaßnahme im Spannungsfall und im Krieg Mitteln erbracht werden“, heißt es in dem Regierungspa- möglich. Die Ermächtigung soll nun aber auf „Krisen“ aus- pier. In Konkurrenz zu anderen Ländern müßten daher bei- gedehnt werden. spielsweise Spezialschiffe oder Großraumflugzeuge gechar- Laut Begründung eines Gesetzentwurfs, der Anfang Febru- tert werden. Wegen dieser „Abhängigkeit von der Lei- ar dem Rechts- und dem Verkehrsausschuß des Bundestags stungsbereitschaft des freien Weltmarktes“ fehle es der zuging, zählen dazu auch Auslandsaktionen der Bundes- Bundeswehr aber an „Planungssicherheit“ für die Teilnah- wehr wie der derzeitige Bosnien-Einsatz. Wenn für interna- me ihrer Soldaten an einem „wirksamen Krisenmanage- tionale Aktionen deutscher oder verbündeter Truppen nicht ment“.

Atomspionage Verlorene Spur Der mutmaßliche deutsche Atomspion Karl-Heinz Schaab hat nach Erkennt- nissen von Ermittlern für seinen Ver- rat mehr als eine Million Mark vom Irak erhalten. Der Generalbundesan- walt in Karlsruhe ließ die Bankkonten des untergetauchten Kaufbeurer Inge- nieurs sperren. Der Anwalt des wegen Landesverrats gesuchten Schaab wehrt sich gegen den Versuch der Strafver- folger, nun auch den möglichen Ver- kauf des Hauses des Ingenieurs durch die Eintragung einer Sicherungshypo- thek zu blockieren. Schaab, der we- sentlich an Saddam Husseins Atom- programm mitgearbeitet haben soll, ist weiter auf der Flucht. Seine Spur ver- liert sich auf der spanischen Sonnenin- sel Teneriffa. BUNDESBILDSTELLE BONN Herzog, Bundeswehr-Crew in Äthiopien

Staatsbesuche plötzlich von links ein weißer Kippla- der auf. Der große Lkw „war dann Gas rein vor uns auf der Piste“, berichtete Hauke später, „wir wären in das Un- Bundespräsident Roman Herzog ist getüm reingerauscht“. Blitzartig star- bei seinem Besuch Ende Januar in tete der Pilot durch („Gas rein, Fahr- Äthiopien nur knapp einer Katastro- werk rein, Landeklappen rein“), ma- phe entgangen. Seine Maschine, eine növrierte die Maschine „zwischen „Transall“ der Bundeswehr, wäre auf zwei Hügeln“ hindurch und landete si- der Schotterpiste von Lalibela beinahe cher nach einer Platzrunde. mit einem Baufahrzeug kollidiert. Über den Staatsgast Herzog in der Das Flugzeug mit dem Präsidenten an Gefahrensituation berichtete später Bord befand sich im Landeanflug auf ein Besatzungsmitglied: „Gesagt hat Lalibela, rund 100 Meter über der Pi- er nicht viel. Aber er hat vielleicht ge- ste. Hinter der dreiköpfigen Crew sa- guckt. Wenn es wirklich Stielaugen ßen Herzog und sein Gastgeber, der gäbe, wäre ihm die Brille von der Na- äthiopische Regionalpräsident Adisu se gefallen.“ Auf sicherem Boden be- Legesse. dankte sich der Präsident bei allen Am rechten Pistenrand sah der Pilot, Besatzungsmitgliedern und erklärte Hauptmann Peter Hauke vom Luft- sich auch zum Gemeinschaftsfoto mit transportgeschwader 62, zunächst drei seiner Transall-Mannschaft bereit: parkende Baufahrzeuge. Dann tauchte „Klar, euch tue ich jeden Gefallen.“ Schaab

16 DER SPIEGEL 7/1996 .

DEUTSCHLAND

Wetter

Starker Eiswinter °C °C +6 +6 Wanderer erreichten die Ostsee-Insel Hiddensee zu Fuß, erstmals seit zehn +4 +4 Jahren fror auch die Elbe oberhalb von +2 +2 Hamburg wieder zu und wurde be- gehbar. Bundeswehrpiloten versorgten 0 0 hungernde Vögel mit Futter, Schweri- ner tourten mit dem Trabi übern See, –2 –2 und in Frankfurt an der Oder kassier- –4 –4 ten Totengräber einen Frostzuschlag von 20 Mark pro Dezimeter gefrorener –6 –6 Erde: Die Gräber wurden mit dem –8 –8 Preßlufthammer hergerichtet. Während die Kältewelle Wasserrohre –10 –10 platzen ließ und den Versicherungen täglich Frostschäden von bis zu 200 000 192 6 0 19 90 199 Mark bescherte, nutzten Ökologen den 30 1940 1950 1960 1970 1980 19 strengen Winter für Untersuchungen. Wissenschaftler der länderübergreifen- den Arbeitsgemeinschaft für die Rein- haltung der Elbe nahmen auf dem Fluß Proben zwischen treibenden Eisschol- len. Sie erhofften sich Aufschlüsse über leicht flüchtige Chemikalien, etwa chlo- rierte Kohlenwasserstoffe, die wegen der Kälte und Eisdecke noch nicht ver- dunstet waren. Zur Proben-Entnahme rückten die Forscher vergangene Wo- che mit dem Hubschrauber aus. Ihr La- borschiff „Tümmler“ steckte fest in 30 Zentimeter dickem Eis. Trotz der bitteren Kälte: Rekordver- dächtig war der Winter bislang nicht. Beim Rostocker Bundesamt für See- schiffahrt und Hydrographie gilt die Jahreszeit nur als „starker Eiswinter“.

Der ist nicht ungewöhnlich – ihn gab es T. RAUPACH / ARGUS zuletzt 1987. Proben-Entnahme aus der Elbe ACTION PRESS Gefrorene Ostsee bei Travemünde

Treuhand hang mit Geschäften der Treuhand und der BvS anhängig. Allein 1995 stieg die Anzahl der Strafanzeigen gegen Treu- 180 Strafanzeigen händer um 46 Fälle an, vor allem dank der Arbeit der haus- eigenen Ermittlergruppe, der Stabsstelle Recht. Dort kon- Nach einer internen Statistik der Treuhand-Nachfolgerin, trollierten bisher zwei ehemalige Staatsanwälte, zwei Krimi- der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufga- nalbeamte und ein Steuerfahnder. Oftmals bleiben deren ben (BvS), wurde bis Ende 1995 gegen 180 eigene und ehe- Vorermittlungen allerdings bei den überlasteten Staatsan- malige Mitarbeiter Strafanzeige erstattet. Den meisten von waltschaften hängen: Mehr als die Hälfte der Fälle sind un- ihnen wird Veruntreuung vorgeworfen. Bis Anfang Januar erledigt, nur zwölf Verfahren führten bisher zur Anklage, in waren insgesamt 996 Ermittlungsverfahren im Zusammen- sechs Fällen ergingen Urteile.

DER SPIEGEL 7/1996 17 .

PANORAMA

Bayern Nützliche Erfahrungen Ministerpräsident Edmund Stoiber kanzelt im hochfahrenden Stil seines Idols Franz Josef Strauß neuerdings auch Wirtschaftsführer seines Landes ab. Einen Empfang in der Münchner Residenz nutzte der CSU-Regierungs- chef jetzt, um Unternehmern und Ma- nagern heftig die Leviten zu lesen. Er sei es leid, sich ständig Klagen über zu

hohe Steuern und Sozialnebenkosten E. SULZER-KLEINEMEIER am Standort Deutschland anhören zu Sondermülldeponie Gerolsheim müssen, grantelte Stoiber. Mit fast klassenkämpferischer Rheto- Giftmüll Gesellschaft zur Beseitigung von Son- rik rückte der Ober-Bayer dann „ein derabfällen, die Gerolsheim betreibt, paar Dinge“ zurecht: Diese Herrschaf- Beteiligung verweigert konnte zwar die Chemieunternehmen ten genössen es, im Münchner Natio- Boehringer (Ingelheim), Hoechst, naltheater Kunst vom Feinsten zu ge- Die schweizerischen Chemiekonzerne Merck und andere dazu verpflichten, nießen; sie schickten ihre Kinder ko- Ciba-Geigy, Sandoz sowie die deut- mit Millionenbeträgen die Sanierung stenlos auf öffentliche Schulen mit ho- sche Spedition Haniel lehnen es ab, mitzufinanzieren. Ciba-Geigy und hem Standard; sie erfreuten sich der sich an den Sanierungskosten für die Sandoz aber zeigen sich nicht einmal Giftmülldeponie im rheinland-pfälzi- verhandlungsbereit. schen Gerolsheim zu beteiligen. Die Die beiden Schweizer Unternehmen Deponie hatte Anfang der achtziger hatten in den Jahren 1969 bis 1972 zu- Jahre Schlagzeilen gemacht, als be- sammen über 16 000 Tonnen Giftmüll kanntgeworden war, daß zahlreiche zum Teil ohne Genehmigung in Ge- Firmen ihren Giftmüll, darunter auch rolsheim deponiert. Haniel hatte für das Supergift Dioxin, falsch deklariert Abfallproduzenten Tausende von Ton- und ohne Genehmigung dort gelagert nen Sondermüll auf die Deponie ge- hatten. Der rheinland-pfälzische Um- bracht. Bisher hat die Sicherung und weltstaatssekretär Roland Härtel, zu- Reinigung der Giftkippe rund 113 Mil- gleich Aufsichtsratsvorsitzender der lionen Mark gekostet.

Arbeitgeberverbände Spröde Lösung Die geplante Berufung des nordrhein-westfälischen CDU-Bundestagsabgeordne- ten Reinhard Göhner zum Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deut- schen Arbeitgeberverbände (BDA) ist bei Spitzenverbänden von Industrie, Hand- werk und Handel umstritten. Hauptärgernis: Der umtriebige Fraktionsjustitiar will sein Bundestagsmandat nicht niederlegen, wenn er am 1. Oktober Fritz-Heinz Him-

D. BOSTELMANN / ARGUM melreich inder Kölner BDA-Zentrale nachfolgt. Ein hauptamtlicherWirtschaftsre- Stoiber präsentant mit der politischen Bindung als Parlamentarier laufe der Interessenver- tretung der Arbeitgeber zuwider, wird in den Verbänden gemosert. „Spröde Verle- von einer gutausgebildeten Polizei ga- genheitslösung“ nennt ein Kritiker den Amtsanwärter Göhner. rantierten Sicherheit. Wenn es denn woanders in der Welt so schön sei, empfahl Stoiber, dann sollten Terrorismus nigung“ nach Steinmetz; er soll von dem diese Manager inGottes Namen doch in Sprengstoffanschlag der RAF auf den Niedrigsteuerländer wie Malaysia zie- Reißleine ziehen Gefängnisneubau im hessischen Wei- hen, aber bitte komplett, mit Frau und terstadt Ende März 1993 zumindest ge- Kindern. Die Erfahrung mit teuren Pri- Die Ermittlungen der Bundesanwalt- wußt haben. Steinmetz war vom Bun- vatschulen, unsicheren Lebensverhält- schaft gegen den früheren V-Mann des desamt für Verfassungsschutz (BfV) im nissen, niedrigen Umweltstandards sei Verfassungsschutzes Klaus Steinmetz, Rahmen des Zeugenschutzprogramms „gewiß ganz nützlich“. 35, sind komplizierter als erwartet. mit Geld und neuer Identität ausgestat- Schon beim Strategietreffen der Uni- Steinmetz hatte im Auftrag der Main- tet worden. Wo er sich heute aufhält, ist onsparteien Ende Januar in Wildbad zer Verfassungsschützer die Komman- den Fahndern nicht bekannt. BfV-Prä- Kreuth hatte Stoiber Parteifreunde ver- doebene der Roten Armee Fraktion sident Hansjörg Geiger bestätigte jetzt, blüfft. Viele Manager, so der Minister- (RAF) ausgespäht; nach der blutigen daß Steinmetz an einem „sicheren Ort“ präsident, „investieren gern in Florida, Polizeiaktion im Juni 1993 in Bad Klei- lebe. Geiger drohte, notfalls „die Reiß- wollen aber in Oberbayern Golf spie- nen war er aufgeflogen. Jetzt fahndet leine zu ziehen“ und Steinmetz anders- len“. Nur Steuern wollten sie hierzulan- die Bundesanwaltschaft wegen Unter- wo unterzubringen, falls dessen Inko- de nicht zahlen. stützung einer „terroristischen Verei- gnito gefährdet werde.

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Deutsche Einheit Gräber der Ahnen

Der sozialdemokratische Kultusminister von Brandenburg, Steffen Reiche, 35, über die Klage seines Ministeriums vor dem Bundesverwaltungsgericht gegen das Planfeststellungsverfahren für die ICE-Trasse zwischen Berlin und Hannover

SPIEGEL: Herr Minister, Sie haben das Bundesverwaltungsgericht angerufen, weil die geplante Schnellbahn-Strecke zwischen Berlin und Hannover angeb- lich über bewahrenswerte Bodendenk- mäler führt. Welche Schätze liegen denn da im märkischen Sand vergra- ben? Reiche: Meine Denkmalschützer ha- ben auf der geplanten Bahnstrecke im- merhin 30 historische Fundstätten aus- gemacht. Vielleicht finden wir nur ein paar Abdrücke im Sand, vielleicht aber auch eine Siedlung aus der römi- schen Kaiserzeit oder sogar einen Gold- schatz, wie neulich bei Grabungen in Ebers- walde. SPIEGEL: Wegen ein paar vermuteter Scherben wollen Sie eines der ehrgeizig- sten Verkehrsprojekte der deutschen Einheit stoppen?

ARIS / PHOENIX Reiche: Es geht mir Reiche nicht nur um Scherben und auch nicht darum, das ICE-Vorhaben zu gefährden. Ich will nur dafür sorgen, daß alles Beweg- liche und Bewahrenswerte auf diesen Fundstellen gesichert wird und daß wir es in die Scheuern der Museen fahren können, bevor die Bulldozer der Bahn die brandenburgische Landesgeschich- te wegräumen. SPIEGEL: Was darf das denn kosten? Reiche: Vielleicht werden es am Ende sechs Millionen Mark sein. Und die bereitzustellen ist nach unserem Lan- desgesetz Aufgabe des Verursachers – der Bahn. Die kann sich nicht einfach durch ein Planfeststellungsverfahren davon befreien. SPIEGEL: Juristen bezweifeln, daß Ihre Klage zulässig ist. Reiche: Wenn unsere Klage am Mitt- woch dieser Woche nicht zugelassen wird, müssen wir eben damit leben. Aber es gibt Äußerungen, die uns die Hoffnung machen, daß nicht nur der ICE, sondern auch die Gräber der Ah- nen eine Zukunft bekommen.

DER SPIEGEL 7/1996 19 Werbeseite

Werbeseite .

PANORAMA

Stasi Geschick des Anwalts

Im Archiv der ehemaligen Berliner Sta- zeichnete Originalquittungen mit Zah- si-Hauptzentrale sind neue belastende lungsvermerken unter Gysis persönli- Materialien über Gregor Gysi und die cher Stasi-Registriernummer von 1980. DDR-Staatssicherheit gefunden wor- Demnach wurden unter strengster den. Als Mitarbeiter der von Joachim Kontrolle durch Vorgesetzte zehn Jah- Gauck geleiteten Behörde routinemä- re lang teils als „Präsent“ bezeichnete ßig seit 1990 ungeöffnete Aktenbündel Gelder an Lohr in Höhe von über 1000

DPA der Hauptabteilung XX/9 sichteten, die Mark ausgezahlt. Von Weihnachten Kohl, Chirac zuständig für die Unterdrückung der 1979 bis zu einem Tag nach Gysis Ge- politischen Opposition war, fanden sie burtstag am 16. Januar 1989 sind die Rüstung bisher unbekannte Berichte über Gysi- Aufwendungen inzwischen durch MfS- Gespräche mit Mandanten, Original- Listen, Belegscheine und Operativ- Keimzelle in Bonn quittungen sowie die Abschrift eines geldbücher belegt. Gysi bestreitet, je- Tonbandberichts des IM „Notar“. mals etwas erhalten zu haben. Die Stadt Bonn erhält einen weiteren Diese Akten erhärten den Verdacht ei- Neu sind auch MfS-Aufzeichnungen Ausgleich für den Verlust der Haupt- ner inoffiziellen Stasi-Verbindung des über ein Gespräch von Gysi mit dem stadt-Ehre. Nach zweijährigem Streit damaligen Anwalts und heutigen Stasi-Mann Lohr im September 1979. haben sich Deutschland und Frank- PDS-Politikers – die von reich auf Bonn als Standort ihrer ge- Gysi bestritten wird. Die meinsamen Rüstungsagentur verstän- Gauck-Behörde sieht sich digt. Für die deutsch-französische Be- in ihrem Urteil bestätigt, hörde, Keimzelle eines europäischen daß Gysi unter dem Beschaffungsamts, wurde vorige Wo- Decknamen „Notar“ so- che ein Vorbereitungsstab in Bonn ge- wie anfangs auch als gründet. Frankreich hatte zunächst auf „Gregor“ bei der Stasi ge- Paris als Sitz gepocht. Das Bonner führt wurde. Wehrressort war für Koblenz, weil So berichtet die Quelle dort schon das Bundeswehr-Beschaf- „Notar“ ihrem Führungs- fungsamt residiert. Noch im Dezember offizier Günter Lohr am hatten Kanzler Helmut Kohl und Prä- 13. Mai 1986 laut Ton- sident Jacques Chirac in Baden-Baden bandabschrift über „ein die Notwendigkeit beschworen, die Gespräch, das anläßlich Rüstungszusammenarbeit zu rationali- des Empfangs der Redak- sieren; die Standortfrage aber war of- tion des SPIEGEL in fengeblieben. der DDR in Berlin im Ermelerhaus zwischen

dem Korrespondenten K. MEHNER Parteien des SPIEGEL, Herrn Gysi, SPIEGEL-Redakteur Schwarz (1989) Schwarz, und dem Rechtsanwalt Dr. Gysi stattgefunden Laut Unterlagen soll Gysi berichtet Vertrauen verloren hat“. Dabei ging es um Schikanen gegen haben, daß seine Schwester Gabriele „Welche Partei ist in der Lage, die den Bürgerrechtler Wolfgang Templin, in der Wohnung des inhaftierten Ru- anstehenden Probleme zu lösen?“ der damals von der Stasi monatelang al- dolf Bahro dessen Frau Gundula be- le möglichen Waren und Zusendungen sucht und dort den West-Berliner 39 40 40 40 39 geliefert bekam. Ulrich Schwarz ist sich Theologen Helmut Gollwitzer gese- 37 sicher: „Bei der Unterredung war kein hen habe. Zwei Tage später vermerkt Keine Partei Dritter anwesend.“ Lohr („streng vertraulich wurde 33 Schwarz erkundigte sich bei Gysi, wieer zuverlässig durch Gregor be- 31 31 30 den Fall Templin einschätze, da er einen kannt . . .“), es seien Maßnahmen 26 23 Artikel darüber schreiben wolle. IM eingeleitet worden: „Beobachtung CDU/CSU „Notar“ rühmt in seinem Bericht das von Gollwitzer bei Einreisen in die 23 Geschick des Anwalts: Gysi „konnte Hauptstadt der DDR, um danach bei 20 19 einfach anhand der Gesetze der Logik festgestellten Aktivitäten eine Einrei- 18 18 nachweisen, daß es mehr als unwahr- sesperre veranlassen zu können.“ SPD 15 scheinlich ist, daß hinter dieser ganzen Gollwitzer erhielt später tatsächlich Aktion ein Sicherheitsorgan steht“. Einreiseverbot. „Notar“ weiter: Schwarz hätten „die Über den neuen Aktenfund infor- Argumente des Rechtsanwaltes über- mierte die Gauck-Behörde jetzt den zeugt“. Ein Artikel werde imSPIEGEL Bonner Immunitätsausschuß, der den Angaben in Prozent nicht erscheinen. (Irrtum: Der Bericht Fall bewerten soll. Der Ausschuß ist Quartal: erschien in Ausgabe 5/1987.) jedoch seit dem Sommer letzten Jah- 4/1994 1/95 2/95 3/95 4/95 1/96 Zu den neuen Aktenfunden gehören res durch Gysis Einspruch beim Bun- Quelle: Emnid für n-tv auch von den Führungsoffizieren unter- desverfassungsgericht blockiert.

DER SPIEGEL 7/1996 21 . REUTERS Rettungsmannschaft der US-Küstenwache an der Absturzstelle im Atlantik: „So etwas überlebt keiner“ Schrotthaufen am Himmel Das schwerste Flugzeugunglück der deutschen Charter-Touristik rückt die Billiglinien ins Zwielicht. In hartem Kon- kurrenzkampf rangeln dubiose Airlines um die Transportware Mensch. Maschinen werden schlecht gewartet, Pilo- ten sitzen zu lange im Cockpit. Experten fordern schärfere Sicherheitsbestimmungen für Flüge nach Deutschland.

n alles hatten die Sicherheitsexper- ALW301 aus Puerto Plata in der Do- Schreien, kein Aufbäumen, keine An- ten am Berliner Flughafen Schöne- minikanischen Republik niemals an- klage“, erinnert sich ein Berliner Seel- Afeld gedacht. Feuerwehrlöschzüge kommen wird. Wenige Stunden zuvor sorger, „es war eine gedämpft leidende aus der Hauptstadt und dem Umland war die Boeing 757 der türkischen Atmosphäre.“ sollten anrücken, der Einsatz von Ärz- Fluglinie Birgenair mit dem Ziel Berlin Das schwerste Unglück der deut- ten und Priestern war minutiös geplant. und Frankfurt vor der Küste des kari- schen Charter-Touristik ließ vergange- Aus den nahen Landkreisen Dahme- bischen Inselstaates ins Meer gestürzt. ne Woche die gesamte Republik schau- Spreewald und Teltow-Fläming sollten Die Meldung erreichte zur selben Zeit dern. Innerhalb weniger Augenblicke Sanitäter und Helfer herbeieilen. den Frankfurter Airport. war die elf Jahre alte Maschine der Es war ein Training für den Ernstfall. Eilig wurden Ärzte, Sanitäter, Psy- Birgenair aus 2400 Meter Höhe buch- Am vergangenen Samstag hatte Bran- chologen und Seelsorger in die Flugha- stäblich vom Himmel gefallen. Keine denburgs Innenminister Alwin Ziel in fenzentralen beordert. Als sich gegen zehn Minuten nach dem Start zerschell- Schönefeld die „erste Notfall-Groß- 13 Uhr die ersten Angehörigen und te der Jet auf der Meeresoberfläche, übung“ in der Geschichte des einstigen Freunde der Verunglückten durch die Wucht des Aufpralls zerfetzte die DDR-Zentralflughafens angesetzt. Ihr Journalisten und Schaulustige zwän- Maschine in Tausende kleinster Einzel- Titel: „Luftnot 96“. gen, werden sie von Helfern abge- teile. Der Ernstfall trat drei Tage vorher schirmt und in separate Räume ge- Fast einen ganzen Tag lang kreisten ein, ganz ungeplant. bracht – erste psychische Hilfe für die Suchmaschinen der amerikanischen Gegen elf Uhr am Mittwoch vergan- Geschockten. Coast Guard über der Unglücksstelle. gener Woche erhielt die Flugleitung in „Es war eine sehr stilles Beisammen- „Aber wir sahen nichts als Trümmer“, Schönefeld die Nachricht, daß der Flug sein, kein lautes Schluchzen, kein berichtet Crew-Mitglied Brian Rens-

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more, „so etwas überlebt keiner.“ An Bord der Maschine waren 176 Passa- giere und 13 Besatzungsmitglieder. Gebannt beobachteten Millionen am Fernsehbildschirm, wie sich nach dem Unglück Experten um die Ursachen stritten, wie der Reiseveranstalter Öger Tours, der die Maschine gechar- tert hatte, und Airline-Eigentümer Ce- tin Birgen ihre Unschuld beteuerten. Doch auch die Tränen der Reisema- nager konnten nicht verhindern, daß nach der Katastrophe eine Branche ins Zwielicht gerät, in der seit Jahren ein gnadenloser Konkurrenzkrieg tobt. Im Kampf um den Kunden unterbieten sich Reise- und Fluggesellschaften mit Niedrigstpreisen. Kaum ein Touristikbereich boomte so sehr wie die Fernreisen. In den ver-

gangenen fünf Jahren hat sich die Zahl T. BABOVIC / DAS FOTOARCHIV der Passagiere fast verdoppelt. Ließen Urlauber in der Dominikanischen Republik*: „Ferien zum Preis eines Mountainbikes“ sich die prestigeträchtigen Trips vor ei- niger Zeit noch für teures Geld ver- kaufen, achten die Urlauber zusehends auf den Preis, seit Rezession, Solidari- tätszuschlag und höhere Beiträge für Krankenkassen, Pflegeversicherung und Altersvorsorge immer stärker ihr Budget belasten. Auf ihren Urlaub wollen die Deut- schen, Europas eifrigste Ferienmacher, nicht verzichten, doch immer billiger wollen sie in die Ferne fliegen. Kein

Angebot scheint ihnen zu dubios, um J. LIPPL nicht darauf einzusteigen. In Anzeigen Unglücks-Boeing der Birgenair: Technisch nicht im besten Zustand? und auf Plakaten wetteifern die Anbie- ter mit immer günstigeren Offerten. Für 294 Mark nach Ma´laga, für 930 Mark nach Bangkok, am besten gar für eine Mark zum Kluburlaub nach Tahiti. Irgendwie wird der Flieger schon ankommen, sonst dürfte er ja wohl nicht abheben. Deutschland – die „Nation der Blindbucher“, titelte die Süddeutsche Zeitung. Um ein paar Mark zu sparen, neh- men Billigurlauber jede Mühe in Kauf. Der Rückflug in die Heimat verzögert sich oft um Stunden, manchmal um Tage, weil unvorhergesehene techni- sche oder organisatorische Probleme auftauchen. Und zuweilen müssen Urlauber den Rückflug aus eigener Tasche bezahlen, wenn ihr Reiseveranstalter über Nacht pleite geht und sie in der Ferne festsit- zen, wie 300 Kunden der Firma MP Travel Line 1993 in Florida. Der Kon-

kurrenzkampf werde „primär über den AP Preis ausgetragen“, klagt Gerd Hessel- Bergung von Absturz-Opfern: Acht Tage bis zur Identifizierung mann, Präsident des Deutschen Reise- büro-Verbandes, „das Qualitätsbe- Der Kunde, spottet der Sprecher der Pi- fluglinie Birgenair nicht zum besten wußtsein kommt zu kurz“. lotenvereinigung Cockpit, Oliver Will, stand. Ein Sprecher der deutschen Und, weit schlimmer, die Sicherheit kann heute Fernreisen „zum Preis eines Charter-Linie LTU, in dessen Werkstät- der Fluggäste. „Wenn das Geld knapp Mountainbikes“ buchen. ten Birgenair-Maschinen repariert wur- wird“, erklärt Klaus Neufeldt vom Es mehrten sich die Hinweise, daß es den, erklärte vergangene Woche, die Luftfahrt-Bundesamt (LBA) in Braun- auch mit den Maschinen der Unglücks- türkischen Billigjets seien „technisch schweig, „wird dort gespart, wo es nicht im besten Zustand gewesen“. Pas- nicht auffällt – das ist die Sicherheit.“ * Boca Chica bei Santo Domingo. sagiere beklagen dreckige Einrichtung

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TITEL „Riß im Fenster – kein Problem“ Wie Passagiere der Birgenair ihre Urlaubsflüge erlebten

enn Christine Lembke den Flug nach Barbados gebucht hatte – „Die Stewardess wurde kreidebleich Namen Birgenair hört, kann auch sie unfreiwillige Birgen-Kun- und holte den Kapitän – doch der Wsie ihren Ärger kaum zügeln. den. „Eigentlich sollten wir mit der sagte nur, das sei kein Problem.“ Gerade hatte sie ihren verpatzten British Westindian Airways fliegen, Auch der Filmproduzent Mark Winterurlaub in der Dominikani- dann bekamen wir ein Ticket, das Feuerstake aus dem Westerwald, schen Republik hinter sich, da er- auf die Caribbean Airways ausge- der in der gleichen Maschine saß, er- fuhr sie von der Flugzeugkatastro- stellt war“, erzählt Sabine, 26. innert sich an das defekte Innenfen- phe in der Karibik. Schließlich habe eine Maschine der ster. „Uns war damals ganz schön „Ein paar Wochen vorher saß ich Birgenair bereitgestanden. mulmig“, so Feuerstake heute. in derselben Maschine“, dachte die Der schneeweiße Anstrich, der Ungeplant landete auch der Düs- Münchnerin mit Schrecken – dabei die beiden auf den ersten Blick be- seldorfer Frank Schneider Ende Ja- hatte sie mit mehr als 3000 Mark für eindruckte, täuschte – innen sah es nuar in einer Birgen-Maschine. drei Wochen noch nicht einmal ei- ganz anders aus. Die Kunststuden- Ebenfalls als Last-minute-Schnäpp- nen Billigurlaub absolviert. tin: „Die Toilette war völlig ver- chen hatte er für sich und seine Die Münchnerin hatte die türki- stopft, in der Küche hingen Türen Freundin am 22. Januar zwei Wo- sche Linie nicht gebucht. Doch schief in den Angeln, Schubladen chen Cancu´n, Mexiko, gebucht und schon beim Hinflug gedachte mit der dor- gab es einen unge- tigen Fluglinie Taesa planten Wechsel. Im zu fliegen. Doch nach Reisebüro hatte man dem Start, der seiner ihr gesagt, sie fliege Erinnerung nach mit mit Caribbean Air- vier Stunden Verspä- ways, tatsächlich war tung stattfand, stellte das Ticket dann der Techniker fest, auf die dominikani- „daß sich die Stewar- sche Chartergesell- dessen auf türkisch schaft Alas Naciona- unterhielten“. les ausgestellt, die sie Das Flugzeug be- am 12. Dezember mit schreibt Schneider so: einer Boeing 767 „Als wir in die Boe- auch ohne Probleme ing einstiegen, dachte aus dem kalten Mün- ich, was ist denn chen auf die Karibik- das für eine Mühle.“ Insel flog. Als die Maschine im Doch als sie zum Steigflug war, seien Rückflug am Neu- dauernd die Klap- jahrstag in Puerto pen der Gepäckbo-

Plata aufs Rollfeld AP xen aufgeflogen. Erst ging, sah sie plötzlich Airline-Eigentümer Birgen: „Wir kümmern uns darum“ bei der Zwischenlan- eine andere Maschi- dung im kanadischen ne. „Da stand die viel kleinere und klemmten.“ Während des Fluges sah Gander habe er dann die Kennung für Langstreckenflüge gar nicht ge- sie plötzlich zwei Mechaniker, „die der Airline gesehen. eignete Boeing 757“, berichtet mit ölverschmierten Händen mal Cetin Birgen, der Eigentümer der Lembke. Daß es sich um eine Ma- vorne, mal hinten im Flugzeug hin- Unglückslinie, erklärte zu den Vor- schine der Birgenair handelte, er- ter offenen Klappen irgend etwas würfen der Passagiere, Mängel bei fuhr sie erst während des Fluges von schraubten“. der Ausstattung oder ein Defekt et- einer türkischen Stewardess, die gut Die ganze Ausstattung sei ihr „wie wa an den Sitzen könnten immer Deutsch sprach. ein Flickerlteppich“ vorgekommen: mal vorkommen. „Deshalb“, so Auch das half ihr nicht, Vertrauen „Ein Essenswagen war von German Birgen, „sollten sich die Leute mit zu fassen. Lembke: „Die Passagier- Wings, die Uniformen der Stewar- ihrer Kritik an uns wenden, und kabine war schmuddelig, die Sitze dessen von Birgenair und Caribbe- dann kümmern wir uns darum.“ wackelten.“ Bei der Landung in an, die Kopfbezüge von einer ameri- Der Marketing-Direktor von Bir- München habe es bei einer Mitrei- kanischen Linie und die Servietten gen in Istanbul, Necme Bozacioglu, senden von der Decke getropft, so wieder von jemand anders“, erinnert will die Kritik ins rechte Licht rük- daß die Urlauberin ihren Platz wech- sich Sabine. ken. „Ich kann Ihnen auch ganz seln mußte. Auf dem Rückflug am 13. Dezem- viele Dankesbriefe von deutschen Krassere Erfahrungen machte ein ber entdeckte sie in der Innenseite Urlaubern zeigen“, sagt er, „die Münchner Studentenpaar, das im ihres Fensters einen Riß, der sich glücklich waren, mit uns zu flie- November 1993 einen Last-minute- auch noch zu vergrößern schien. gen.“

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Branche. Bei einem Aufenthalt in Steil aufwärts Charter-Passagiere 1994; Hamburg las er am Hauptbahnhof ein die beliebtesten Reiseziele Charterflug-Touristen Werbeschild für Reisen „ab Düssel- dorf“ in die Türkei. ab Deutschland Spanien 4 249 885 Öger mietete in der Hansestadt ein in Millionen 10,010,0 10,0 Griechenland 1 799 586 Büro, charterte eine Maschine der German Air und verteilte Handzettel 9,3 Türkei 1 261783 unter den in Hamburg lebenden Lands- Tunesien 676 694 leuten. Der erste Öger-Düsenjet an Portugal 321 462 den Bosporus war bereits ausgebucht. Bulgarien 234 518 Wenig später gründete Öger Verkaufs- 7,7 7,7 Dominikani- büros in Hannover, Berlin und Bre- sche Republik 190 645 men. 6,8 Marokko 176 406 Unter den knapp zwei Millionen Türken in Deutschland gilt Öger seit Ägypten 125 210 Jahren als erste Adresse – er organi- 198990 91 92 93 94 Italien 122 250 sierte preiswerte Heimflüge. Um seine Kenia 104 971 Maschinen und Unterkünfte auch im Winter auszulasten, weitete der Unter- nehmer seine Angebote für sonnen- und unerfahrenes Personal (siehe Seite aus afrikanischen Ländern, Mittelameri- hungrige Billigflieger in alle Welt aus. 24). ka und den GUS-Staaten, klagten die Innerhalb von 27 Jahren schufen Vu- Auf einer Pressekonferenz in Frank- deutschen Flugzeugführer, genügten ral Öger und sein Bruder Unal furt versuchte Airline-Chef Birgen am westlichen Sicherheitsstandards nicht. Deutschlands siebtgrößtes Reiseunter- letzten Donnerstag den Vorwurf zu ent- Mangelhafte Wartung, oftmals maro- nehmen – Umsatz: 720 Millionen kräften, die Unglücksmaschine sei nicht de Technik und schlecht geschultes Per- Mark. 680 000 Touristen fliegen heute ordnungsgemäß gewartet worden. Er sonal fragwürdiger ausländischer Flug- mit den Brüdern in alle Welt. präsentierte dazu ein Aircraft-Service- gesellschaften, so die Pilotenvereini- Selbst der Absturz von Puerto Plata Agreement mit der LTU. gung, bedrohten die Flugsicherheit in habe die Kunden nicht abgeschreckt, Doch das Dokument, das der Mann Deutschland. Niemand wisse genau, in behauptet Vural Öger. Zwar gingen zum Beweis hochhielt, bezieht sich aus- welchem technischen Zustand Maschi- vergangene Woche nach Firmenanga- weislich der im Vertrag angegebenen nen aus Problemländern seien. ben die Buchungen für den Sommer in Der Zorn der Angehörigen traf zu- die Türkei „um bis zu 30 Prozent“ zu- nächst den Veranstalter der Unglücks- rück. Doch Stornierungen für Reisen Im Mai 1994 entging reise in die Dominikanische Republik, in die Karibik seien „nicht feststell- Birgenair nur Vural Öger, Inhaber der Touristikfirma bar“. Öger Tours. Der Türke, der 1961 nach Für seine Reisen chartert Öger knapp einem Unglück Deutschland kam und an der TU Berlin Tours bei 18 verschiedenen Fluggesell- Verfahrenstechnik studierte, betreibt schaften. 80 Prozent aller Flüge wür- Seriennummer 22209 auf ein bauglei- sein Geschäft seit 1969. Der Ingenieur den, so eine Firmensprecherin, aller- ches Boeing-Modell 757, das bereits En- kam über einen Aushilfsjob bei den Ber- dings mit deutschen Fluggesellschaften de 1993 an die amerikanische American liner Studentenreisen Malev in die abgewickelt. Die Lufthansa-Tochter West weiterverkauft wurde. Für die Un- glücksmaschine dagegen hat LTU nach eigenen Angaben lediglich mehrere so- genannte Transit-Checks für insgesamt 200 000 Mark durchgeführt. Er habe, erklärte der Birgen-Chef dem SPIE- GEL, das Dokument nur präsentiert, um die generelle Zusammenarbeit mit LTU zu beweisen. „Unsere Maschi- nen“, so Birgen, „sind in einem sehr gu- ten Zustand.“ Im Mai 1994 entging ein Birgenair-Jet schon einmal nur knapp einem schweren Unglück. Auf dem Weg von Wien nach Paris lösten sich plötzlich Teile der Rumpfverkleidung. In der Kabine der Maschine vom Typ DC-8 kam es zu ei- nem dramatischen Druckabfall, mit Mü- he gelang den Piloten eine Notlandung in Prag. Dabei riß dem Birgen-Jet ein Rad des Fahrwerks ab, Reifen fingen Feuer. Die Flughafenfeuerwehr mußte den Brand löschen, zwei Stewardessen wurden ver- letzt, eine davon lebensgefährlich. Vor Wochen schon hatte Cockpit vor

„fliegenden Schrotthaufen am Himmel“ GAMMA / STUDIO X über Deutschland gewarnt. Viele Jets Zentrale der US-Luftfahrtbehörde: Landeverbot für unsichere Jets

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TITEL „Wir verschweigen nichts“ Interview mit Touristikunternehmer Vural Öger über Billigflüge und Versicherungen

SPIEGEL: Herr Öger, sind Sie ein Bil- SPIEGEL: Wie unsicher sind die Exo- Öger: Wir verschweigen nichts. Aber ligflieger? ten? aufgrund der großen Nachfrage war Öger: Nein, wir veranstalten Reisen Öger: Ausländische Flugunterneh- unser Condor-Programm im Winter für jährlich über 680 000Kunden. Die men unterliegen den gleichen inter- ausverkauft, und wir mußten diese Unglücksmaschine Boeing 757 der nationalen Sicherheitsanforderun- Flüge zusätzlich aufnehmen. Da wa- türkischen Birgenair hatte zuvor 1100 gen, allerdings liegen die Löhne für ren die Kataloge schon raus. Landungen in 15 Städten Deutsch- Piloten oder Personal um ein Mehrfa- SPIEGEL: Bekommen Sie unseriöse lands. ches unter den deutschen Tarifen. Angebote von Billig-Carriern? SPIEGEL: Das Bonner Verkehrsmini- SPIEGEL: Der Präsident des Bundes- Öger: Wer für 199 Mark Hamburg– sterium hatte zunächst mitgeteilt, daß verbandes mittelständischer Reise- Istanbul anbietet, einschließlich Ho- es weder eine Versicherung noch eine unternehmen behauptet, Ihre Firma tel,kannkeinGeld verdienen.Da fra- Einfluggenehmigung gegeben habe. habe mit dubiosen Briefkastenfirmen gen wir uns, was da faul ist. Wir hö- Öger: Das ist voreilig und geschäfts- und umgespritzten Jets operiert. ren, daß es in der Türkei ehemalige schädigend. Das Ministerium müßte Teppich- und Schmuck- wissen, daß eine unversicherte Ma- händler gibt, die insRei- schine gar nicht erst ausgeliefert wird. segeschäft investieren. Die Londoner Versicherungsgruppe SPIEGEL: Die US-Be- NHK International hat die entspre- hörden haben die Tür- chenden Verträge für die Flugfirmen kei schon auf einer Alas Nacionales und Birgenair bis schwarzen Liste. zum Januar 1997 abgeschlossen. Die- Öger: Trotzdem fliegt se Unterlagen wurden auf unser Turkish Airlines mehr- Nachfragen hin erst in einer anderen mals wöchentlich nach Registratur des Ministeriums aufge- New York. funden. SPIEGEL: Welche Lei- SPIEGEL: Wie bitte? stungen haben Hinter- Öger: Da es hier um Menschenleben bliebene zu erwarten? geht, sollte ein Verkehrsminister mit Öger: Die sogenann- richtigen Fakten an die Öffentlichkeit te Dritthaftpflichtversi- gehen. Auch die fehlende Einflugge- cherung von 34 Millio- nehmigung für Deutschland hätte für nen US-Dollar wird nur die kurzfristig ausgewechselte Ma- bei Beschädigungen an schine rechtzeitig eingereicht werden Gebäuden oder am können. Das ist schon mehrmals vor- Grund gezahlt. Die gekommen. Und die deutschen Flug- Schäden an Personen firmen konnten in Puerto Plata in die- sind mit 500 Millionen ser Nacht keine Ersatzmaschinen be- Dollar maximal abge- reitstellen. deckt. Nach einer weite- SPIEGEL: Womöglich wäre eine ren Schadensregulie- Landegenehmigung in Deutschland rung für die Hinterblie- für die Boeing 757 verweigert wor- benen werden 35 000 den? Mark pro Person ausge-

Öger: Warum? Dieselbe Maschine M. ZUCHT / DER SPIEGEL zahlt. landete zuletzt im Dezember und Ja- Reiseunternehmer Öger: „Es geht um Leben“ SPIEGEL: Wann werden nuar mit allen Genehmigungen der die ausgezahlt? deutschen Aufsichtsbehörden in Öger: Wir sind keine Fluggesell- Öger: Sobald die amtlichen Listen der Deutschland. Es ging Alas Naciona- schaft. Außerdem unterhält Alas Opfer vorliegen, unabhängig davon, les darum, die Fluggäste mit der Bir- Nacionales eigene Geschäftsräume ob die Leichen gefunden werden. genair pünktlich nach Deutschland in Puerto Plata. Um in das Karibik- Sollte ein menschlicher Fehler die Ur- zurückzubringen. geschäft einzusteigen, verleaste Bir- sache des Absturzes sein, wird ähn- SPIEGEL: Flugsitzplätze sind eine ver- genair 1995 ein Flugzeug an Alas lich wie im Fall Lockerbie rund eine derbliche Ware. Leidet die Sicherheit Nacionales. Ist doch klar, daß das halbe Milliarde Mark wohl vor den nicht unter dem Preisdiktat der Kon- Fluggerät dann dominikanisch regi- Gerichten verhandelt werden müs- kurrenz? striert wird. sen. Öger: Nein, alle bekannten Reiseun- SPIEGEL: Ihre Kunden erfahren aus SPIEGEL: Und bei einem technischen ternehmen bieten ein Kontingent von dem Prospekt, daß sie mit Condor, Fehler? Last-minute-Reisen an. Bei uns sind Caribbean Airways oder KLM flie- Öger: Die Höchstsumme ist nach in- es etwa 15 Prozent der Plätze. Damit gen. Warum verschweigen Sie die ternationalem Abkommen mit53 500 verdienen wir kein Geld. anderen? Mark pro Person festgesetzt.

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Das Bundesverkehrsministe- Piloten schalteten irrtümlich das andere rium ist nach Einschätzung der auch noch ab (54 Tote). Eine Tupolew deutschen Pilotenvereinigung Tu 154B der Chabarowsk Air ver- dringend gefordert, endlich ge- schwand in 9500 Meter Höhe vom Ra- gen Sicherheitsmängel auslän- dar und wurde elf Tage später zerschellt discher Billigflieger vorzuge- gefunden (97 Tote); ob sie von einer hen. So hätte das Verkehrsmi- verirrten Übungsrakete getroffen wur- nisterium durchaus die Mög- de, ist noch unklar. Eine Antonow lichkeit, deutsche Flughäfen An-24 der Mongolian Airlines rammte für Maschinen aus Ländern zu beim Landeanflug einen Berg (42 Tote). sperren, deren Sicherheitsstan- Als häufigste Unfallursache für 1995 dards als fragwürdig gelten. nennt das Magazin Flight International Doch gehandelt wurde in den sogenannten Controlled Flight Into

SPIEGEL TV Bonn bislang nicht. Ende ver- Terrain (CFIT). Unter diesem Begriff Flugkapitän Erdem*: Erfahrener Pilot gangener Woche verwies das wird zusammengefaßt, was Flieger Verkehrsministerium auf eine schnodderig als „ungespitzt in den Bo- Condor erwarb im vergangenen Jahr europäische Initiative, die „kurz vor ih- den“ bezeichnen. Letztes Jahr erreichte zehn Prozent des Unternehmens. rer Verabschiedung“ stehe. Gemeint ist die Zahl der CFIT-Unfälle mit 21 wie- Der Kampf um die Transportware das Programm der Europäischen Zivil- der den Wert des Jahres 1992, das bis Mensch wird weltweit immer rabiater. luftfahrtkonferenz (ECAC). dahin einen schaurigen Rekord hielt. Längst haben sich skrupellose Unter- Die ECAC will künftig „ausländische „CFIT ist seit vielen Jahren die Ursache nehmer in das Geschäft gemischt, bei Luftfahrzeuge“, die in die EU einflie- für die höchste Zahl von Toten im Luft- denen Profit mehr zählt als ein zusätzli- gen, „verstärkt“ über- cher Sicherheits-Check. Um Gewinn zu wachen. Kontrollieren machen, wird das schlechtbezahlte Per- sollen die Prüfer der Chronik des Schreckens sonal zu überlangen Flugzeiten genötigt. ECAC-Mitgliedstaa- Die folgenschwersten Wer nicht kuscht, fliegt. ten, wenn bei einem Entsetzt fragten sich vergangene Wo- ausländischen Flug- Flugzeugabstürze der che Zehntausende, ob sie den Charter- zeug „Grund zu der vergangenen Jahre Annahme besteht, daß internationale Sicher- 25. Mai 1979, American Airlines: Ramponierte Wagen heitsnormen nicht ein- werden abgewiesen, gehalten werden“. Bei einer DC-10 löst sich das linke Geraten ganze Staa- Triebwerk. Sie zerschellt unmittel- Maschinen dürfen landen ten in den Ruch zu bar nach dem Start in Chicago. 275 Tote schlampen, wollen die Flug in den Urlaub nicht besser stornie- Europäer „Kontakt“ 301 Tote 19. August 1980, ren sollten. Bundeskanzler Helmut Kohl zu den schwarzen Saudi Arabian Air- forderte die Verantwortlichen auf, „das Schafen aufnehmen. lines: Eine Lockheed Menschenmögliche zu tun, damit sich ein Ziel solcher Gespräche TriStar fängt Feuer. solcher Unfall nicht wiederholt“. müsse es dann sein, Niemand überlebt die Doch Versäumnisse gibt es nicht nur „Abhilfe“ zu schaffen. bei den Airlines, sondern auch in Bonn. Wie groß das Risiko Notlandung in Riad. Denn nahezu ungehindert dürfen Billig- der Charter-Flieger ist, fluglinien nach Deutschland einfliegen. zeigt die Absturzstati- 22. Juni 1985, Air India: Eine Boeing 747 stürzt nach einer Während an den deutschen Straßengren- stik des vergangenen Explosion in der Nähe der irischen Küste ins Meer. 329 Tote zen ramponierte Wagen schnell abgewie- Jahres. Nur 9 der 57 im sen werden, landen in Frankfurt Maschi- letzten Jahr abgestürz- nen mit abgefahrenen Landereifen oder ten Passagierflugzeuge 12. August 1985, Japan Airlines: Eine Boeing 747 prallt bei notdürftig zusammengeflickten Kabeln. waren Linienmaschi- Tokio auf einen Berggipfel. 520 Tote Immer wieder können Piloten, besonders nen. Keine davon ge- aus ehemaligen Ostblockstaaten, sich nur hörte einer europäi- 21. Dezember 1988,270 Tote PanAm: Eine Boeing 747 mühsam auf Englisch mit dem Tower ver- schen Fluglinie, und explodiert nach einem Sprengstoffanschlag über dem schotti- ständigen. nur eine, die im De- schen Lockerbie. „Ausländische Carrier sind für uns der- zember vergangenen zeit praktisch tabu“, bestätigt LBA-Spre- Jahres von den Piloten cher Neufeldt. „Nur bei augenfälligen gegen einen kolumbia- 264 Tote 26. April 1994, China Air- Mängeln“, beklagt der Luftfahrtsachver- nischen Berg gesteuert lines: Ein Airbus zerschellt ständige, würden deutsche Behörden auf wurde, flog mit ameri- beim Landeanflug auf den Problemmaschinen aufmerksam. kanischer Zulassung. japanischen Flughafen Auch die Arbeitszeiten ausländischer Besonders unfall- Nagoya. Piloten werden so gut wie nie kontrol- trächtig sind die Jets liert. Bis zum Umfallen würden diese Pi- aus den Staaten der loten manches Mal hinter dem Steuer- ehemaligen Sowjetuni- knüppel sitzen, rügt Cockpit, „weil für sie on. Eine Tupolew bis zu 350 Tote laxere Vorschriften gelten als für deut- Tu 134B der Aserbai- 8. Januar 1996, African Air: Eine Antonow 32 stürzt auf den sche Piloten“. dschan Airways flog Markt von Kinshasa. Die Besatzung der überladenen Fracht- nicht einmal zwei Mi- maschine überlebt unverletzt. * Aus dem Videofilm eines Passagiers aus dem nuten, dann fiel ein Jahre 1994. Triebwerk aus, und die

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TITEL „Ein schillerndes Gewerbe“ Interview mit Condor-Chef Franz Schoiber über das Charter-Geschäft

SPIEGEL: Herr Schoiber, dominikanische Gesell- Sie sind Chef des zweit- schaft, fliegen sollen. größten deutschen Fe- Eingesetzt wurde aber rienfliegers. Wie haben ein Flugzeug der Bir- Ihre Kunden auf das Un- genair. glück in der Karibik rea- SPIEGEL: Birgenair hat giert? bereits im vergangenen Schoiber: Wir hatten ei- Jahr deutsche Touristen ne Vielzahl von Anrufen. in die Karibik geflogen. Die meisten wollten wis- Schoiber: Wir waren dar- sen, ob es sicher ist, daß über nicht erfreut und ha- sie bei der von ihnen ge- ben beiden Behörden ge- buchten Reise auch mit gen diese Erlaubnis pro- Condor fliegen. testiert.Beider Entschei- SPIEGEL: Ist denn ge- dung war zu klären, ob währleistet, daß mit Con- deutsche Carrier die dor fliegt,werCondorge- Routen hätten überneh- bucht hat? men können. Wir gingen Schoiber: Grundsätzlich damals davon aus, daß ja. wir oder andere deutsche SPIEGEL: Hundertpro- Gesellschaften die Nach- zentig? frage hätten abdecken Schoiber: Das kann kei- können. Wirkonnten uns ne Fluggesellschaft ga- aber leider nicht durch- rantieren. Ein Flugzeug setzen. ist ein technisches Gerät, SPIEGEL: Dabei ging es das auch einmal einen Ihnen aber doch nicht um Defekt haben kann. Bei die Sicherheit, sondern

Condor greifen wir dann S. MORGENSTERN darum, einen Konkur- auf Flugzeuge aus dem Schoiber: „Ein Schlag gegen unsere Branche“ renten von diesem Markt Lufthansa-Konzern zu- fernzuhalten. rück. Wenn dasnicht möglich ist, bemü- auf die Zulassungskriterien der auslän- Schoiber: Ich mache keinen Hehl hen wir uns um einen Fremd-Carrier. dischen Kontrollbehörden verlassen daraus, daß es uns mit dieser Inter- SPIEGEL: Zum Beispiel Birgenair. können muß. vention auch um die Sicherung der Schoiber: Es ist richtig, daß wir im ver- SPIEGEL: Der Eigentümer von Bir- Wettbewerbsposition deutscher Fe- gangenen Jahr von dieser Firma einzel- genair, Cetin Birgen, hat die Zusam- rienfluggesellschaften und des heimi- ne Flüge auf Mittelmeer-Routen durch- menarbeit mit Condor als Beleg für schen Standorts ging. Es ging uns führen ließen. Wir hatten einen techni- den hohen Sicherheitsstandard seiner aber auch um grundsätzliche Fragen. schen Ausfall eines Flugzeugs, und die Gesellschaft angeführt. Wenn heute jeder jede Strecken flie- hatten eine Boeing 767. Schoiber: Ich fand das nicht besonders gen darf, ist das nicht im Interesse SPIEGEL: Haben Sie damals den techni- erfreulich. Wir haben uns lediglich für der deutschen Kunden. Sie wollen ja schen Zustand der Birgenair-Flugzeuge die gute Zusammenarbeit bedankt, nicht nur billig fliegen, sondern auch überprüft? mehr nicht. sicher. Schoiber: Wir bekamen einen Über- SPIEGEL: Haben Sie nicht auch die SPIEGEL: Sicherheit kostet Geld. blick über die Technik, weil unsere Me- Wartung für Flugzeuge von Birgenair Schoiber: Deswegen gelten wir ja chaniker die Logbücher einsehen konn- übernommen? auch als etwas teurer. ten. Zudem waren Stewardessen von Schoiber: Dabei handelte es sich um SPIEGEL: Sparen denn Billiganbieter uns an Bord. Wir hatten keinerlei An- sogenannte Trip-Checks. Das ist ver- auf Kosten der Sicherheit? zeichen für fehlende Sicherheit oder gleichbar dem Stopp eines Autos an Schoiber: Ein Großteil der Kosten ist mangelnde Qualität. der Tankstelle. Wir überwachen die bei allen Fluggesellschaften ziemlich SPIEGEL: Eine gründliche technische Betankung und kontrollieren den Öl- gleich. Das gilt etwa für den Preis des Überprüfung durch Ihre Mitarbeiter stand. Die Verantwortung für den Kerosins und für die Flughafengebüh- gab es aber nicht? technischen Zustand hat jedoch nach ren. Wir haben einige Billigangebote Schoiber: Jede Maschine ist im Ur- wie vor der Flugzeughalter. nachkalkuliert. Selbst wenn man be- sprungsland der betreffenden Gesell- SPIEGEL: Wie kommt es, daß ein türki- rücksichtigt, daß ausländische Carrier schaft zugelassen und wird dort über- sches Flugzeug deutsche Touristen in niedrigere Personalaufwendungen ha- wacht. Das war in diesem Fall die Tür- die Karibik fliegt? ben, sind manche dieser Angebote kei. Sie müssen auch sehen, daß man Schoiber: Im konkreten Fall hatte ur- nicht kostendeckend. sich gerade bei kurzfristigen Einsätzen sprünglich die Alas Nacionales, eine SPIEGEL: Warum machen die das?

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verkehr“, ermittelte das Fachblatt Flight Sowohl der IFALPA als auch Cockpit International. liegen Klagen türkischer Piloten über Schoiber: Das Fluggeschäft ist für viele Kompromißloser als die Europäer ver- harte Dienstpläne vor. So habe die na- ein schillerndes Gewerbe. Da versu- fahren heute schon die Amerikaner in tionale Fluggesellschaft Turkish Airlines chen Branchenfremde und offensicht- Sachen Sicherheit. Im Rahmen ihres ihre Flotte bis zum Jahr 1994 von 28 auf lich wohl auch Außenseiter, die einfach „Safety Oversight Program“ prüfte die 68 Maschinen vergrößert – „ohne die Spaß am Fliegen haben, eine Flugge- US-Luftfahrtbehörde Federal Aviation Zahl der Piloten nennenswert zu erhö- sellschaft aufzuziehen. Administration (FAA) bereits 30 Natio- hen“, wie die IFALPA erklärt. SPIEGEL: Müßten die Behörden da nen auf ihre Sicherheitsstandards. 9 Von türkischen Kollegen wurde der nicht eingreifen? Staaten versagten im strengen FAA- IFALPA zugetragen, daß von 600 türki- Schoiber: Ich kann nur hoffen, daß alle TÜV. Diese Länder, erklärte die FAA schen Piloten 8 vermutlich aufgrund der Behörden weltweit bei der Zulassung bündig, genügten nicht den „internatio- hohen Arbeitsbelastung einen Herzin- die hohen Kriterien anlegen wie die nal verbindlichen Standards für den Be- deutschen Behörden hier bei uns. trieb und die Wartung“ von Passagier- SPIEGEL: Seit Ende des vergangenen jets. Jets und müde Piloten Jahres sind Sie mit zehn Prozent an Auf dem FAA-Index stehen Belize, sind eine Öger Tours beteiligt – dem Veranstal- die Dominikanische Republik, Gambia, ter, dessen Kunden jetzt verunglück- Ghana, Honduras, Nicaragua, Para- katastrophale Kombination ten. Welche Konsequenzen ziehen Sie? guay, Uruguay und Zaire. Kein Jet, der Schoiber: Wir werden darauf hinwir- in einem dieser Länder zugelassen ist, farkt erlitten. Einige, so erklärten die ken, daß künftig ausschließlich Quali- darf einen amerikanischen Flughafen an- türkischen IFALPA-Informanten, ereil- täts-Carrier eingesetzt werden. Das ist steuern. te der Sekundentod im Flug. ohnehin der Trend in der Branche. Und die schwarze Liste wird noch Der IFALPA sind Beispiele türki- Ausländische Gesellschaften haben wachsen. Denn bis zum Ende dieses Jah- scher Besatzungen bekannt, die binnen heute im Pauschalflugtourismus einen res will die FAA im Rahmen ihres Si- drei Tagen bis zu 40 Dienststunden zu Marktanteil von 20 Prozent. Das war cherheitsprogramms noch 20 weitere bewältigen hatten. Ein mörderischer früher erheblich mehr. Länder überprüfen, deren Flugzeuge die Streß. „Jets und müde Piloten“, wissen SPIEGEL: Auch bisher hat Öger Tours USA anfliegen. Flugmediziner, sind eine „katastrophale in seinen Prospekten damit geworben, Die Türkei hatte bislang keinen Be- Kombination.“ daß renommierte Fluggesellschaften such von Inspekteuren der FAA. Aufge- Eine Beschwerde der IFALPA gegen die „Partner in der Luft“ seien. Tat- fallen aber sind auch die Türken der US- diese fragwürdigen Praktiken bei der sächlich flogen viele Kunden dann Behörde schon, wie die internationale Uno-Arbeitsorganisation International aber, ohne es vorher zu wissen, mit ei- Pilotenvereinigung International Fede- Labor Organisation (ILO) blieb ohne nem Exoten-Carrier wie Alas Naciona- ration of Air Line Pilots Associations Erfolg. les. (IFALPA) zu berichten weiß. Über die Birgenair, deren Boeing 757 Schoiber: Diese Firma habe ich offen „Als eine US-Gesellschaft Flugzeuge nun 189 Menschen in den Tod riß, weiß gestanden bislang auch nicht gekannt. aus der Türkei kaufen wollte“, schildert der internationale Pilotenverband Ich bin überzeugt, daß künftig mehr ein IFALPA-Mitarbeiter den Vorgang, nichts. Auch Cockpit hat keine Informa- Kunden im Reisebüro fragen: Wer ist habe die FAA die türkischen Wartungs- tionen über mögliche Sicherheitsmängel der Carrier? Das wäre keine schlechte dokumente der Jets geprüft. Die Prüfer bei dem Türken-Flieger. Sache. seien „sehr unglücklich über den War- Die Unglücksmaschine, betont Besit- SPIEGEL: Es kann dem Kunden aber tungsstandard in der Türkei“ gewesen. zer Cetin Birgen, sei „technisch hun- auch weiterhin passieren, daß er erst am Flughafen erfährt, mit welcher Ge- sellschaft er tatsächlich fliegt? Schoiber: Für Flüge, die Condor über- nommen hat, schließe ich das weitge- hend aus, soweit kein technischer De- fekt der ursprünglich vorgesehenen Maschine vorliegt. In diesem Fall set- zen wir das bestmögliche verfügbare Fluggerät ein. SPIEGEL: Hat der Pauschaltourist in ei- nem solchen Fall das Recht, von dem Reisevertrag zurückzutreten? Schoiber: Wenn es keine konkreten Anhaltspunkte für eine mangelnde Si- cherheit gibt, hat er heute kein Rück- trittsrecht. SPIEGEL: Rechnen Sie damit, daß der Absturz in der Karibik die Reiselust der Deutschen vermindern wird? Schoiber: Das Unglück ist natürlich ein Schlag gegen unsere gesamte Branche und eine Tragödie für alle Betroffenen. Ich glaube aber nicht, daß die Deut- schen nun weniger in die Ferne reisen werden. H. SCHWARZBACH / ARGUS Billigangebote im Reisebüro (in Hamburg): Immerwährender Boom?

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TITEL „Ohne Radar“ Ein Insider über Sicherheitsmängel bei einer Exoten-Airline

egelmäßig werden die Crew- oft eher dürftig. Die Gesellschaft Ruhezeiten nicht eingehalten. transportiert aber fast ausschließlich RViele Crews kommen zum Bei- deutsche Passagiere. Im Notfall spiel freitags in Berlin an und müs- dürfte das zu einem Chaos führen. sen schon samstags wieder fliegen. Der Mechaniker, der in Deutsch- Es gibt Fälle, in denen sogar einzel- land stationiert ist, schreibt nahezu ne Piloten oder Kopiloten gleich in jede Maschine flugfähig, da er der Maschine bleiben, um den Rück- schlicht Angst um seinen Job hat. Es flug anzutreten. Nur zwei von drei ist oft genug vorgekommen, daß die Mitgliedern der Cockpitcrew wur- Lufthansa-Technik die Verantwor- den ausgewechselt. Im vergangenen tung abgelehnt hat, aber der Mecha- Jahr waren der Captain und seine niker hat trotzdem unterschrieben. Crew in der Nacht aus Mexiko nach So ist wochenlang die B757 aus Mit- Frankfurt geflogen, dort mit einem telamerika ohne Radargerät herum- Bus abgeholt worden und haben geflogen, weil es defekt war. dann die Maschine am Morgen von Sauerstoffflaschen für die Cock-

Köln nach Puerto Plata geflogen. pitversorgung wurden monatelang S. MORGENSTERN In mehreren Fällen sind ernsthaft aus anderen Flugzeugen ausgebaut Öger-Tours-Reklame kranke Piloten trotzdem weiterge- und in der B757 verwendet, weil 680 000 Passagiere flogen und haben sich mit Medika- man keine neuen kaufen wollte. Oft menten vollgestopft, um das alles waren die Ventile undicht, und oft dertprozentig in Ordnung gewesen“. bewältigen zu können. haben die Crews mit den ambulan- Birgenair habe die 757 streng nach den Seit dem Einsatz der DC-10 wer- ten Flaschen herumgespielt und sich Vorschriften des Herstellers Boeing in den die Crews munter auf beiden selbst „Oxygen-Kicks“ gegeben. Die Abu Dhabi pflegen und warten las- Flugzeugmustern eingesetzt: B757 Folge: leere Flaschen. sen. und DC-10, Cockpit und Cabin. Die Schwimmwesten sind häufig Man- Entgegen seinen Äußerungen in der Ausbildung insbesondere der Cock- gelware an Bord. Sie werden von Frankfurter Pressekonferenz, LTU ha- pitcrews wurde zwar vorgenommen, den Touristen gern als Souvenirs be seine Maschinen gewartet, erklärte ist aber völlig unzureichend. So sind mitgenommen. Birgen am Freitag vergangener Woche, immer noch (pensionierte) Instruc- In den Frachträumen sind oft kei- LTU habe nur kleinere Reparaturen tors im Cockpit. Ein sichtbares Re- nerlei Netze zum Festzurren der ausgeführt. sultat dieser Unerfahrenheit ist das Fracht und des Gepäcks. Alles fliegt Das bestätigt die LTU. Abbremsen der Maschine zum Bei- munter durcheinander und destabili- Sein Unternehmen, erklärte LTU- spiel in Köln: Mehrmals mußte die siert natürlich die errechneten Sprecher Wolfgang Osinski, habe die Feuerwehr die glühend heißen „Weight and Balance“-Werte. Im Maschine nicht gewartet, sondern nur Bremsen kühlen. Einmal qualmte es Ernstfall eine erstklassige Katastro- „mehrmals Ad-hoc-Reparaturen am so stark, daß die Flughafenfeuer- phenursache. Flugzeug durchgeführt“. wehr von sich aus zu der gelandeten Die B757 hat keine Videoanlage Am Freitag vergangener Woche DC-10 raste, weil es schlimmer aus- an Bord. Es ist somit unmöglich, die wollte der dominikanische Rundfunk- sah, als es dann war. Immerhin . . . erforderlichen Sicherheitsinstruktio- sender Fantası´a wissen, daß die Un- Ein anderer Captain wollte Treib- nen zu geben. Zwar macht die Ca- glücksmaschine „wegen technischer stoff ablassen, weil nach seinen Be- bincrew die Vorführung – in Spa- Defekte“ mehr als zehn Tage auf dem rechnungen die Runway nicht aus- nisch und Englisch –, aber kaum je- Rollfeld des Flughafens von Puerto reichte, um mit seinem errechneten mand kommt da mit. Plata gestanden habe. Startgewicht hochzukommen. Er Wochenlang wurde auch bei der Birgenair ist ein Musterbeispiel für wußte nicht, wie man das Tankventil anderen Maschine mit defekter Vi- den Einfallsreichtum der Billiganbieter bedienen muß. Auch kein anderer deoanlage geflogen, mit dem glei- beim Kundenfang. Als türkische Firma Pilot konnte das sagen. Ein Bedie- chen Resultat. darf der Charterer eigentlich keine nungshandbuch des Flugzeugs war Die Ersatzteile sind ausnahmslos Passagiere zwischen Deutschland und nicht im Cockpit und auch sonst nir- keine Originalersatzteile, sondern der Dominikanischen Republik beför- gendwo aufzutreiben. Nach etlichen allesamt billigste Angebote des frei- dern. Deshalb vermieteten die findigen Telefongesprächen und Faxen mit en Marktes. Der zuständige Mana- Manager für die Wintersaisons 1993/94 dem Heimatort, die allesamt erfolg- ger brüstet sich oft und gern mit sei- und 1994/95 ihre Boeing 757 an die auf los waren, entschloß sich der Cap- nen Fähigkeiten, die Ersatzteilbe- Barbados registrierten Caribbean Air- tain, trotzdem zu starten. schaffung so billig wie möglich vor- ways, die in Deutschland Landerechte In der Kabine gibt es in der Regel nehmen zu können. Die möglichen besaß. keinen einzigen Steward, der die Folgen lassen jedem Fachmann kal- Als deren Konzession auslief, klopf- deutsche Sprache beherrscht. Auch te Schauer über den Rücken lau- ten sie bei der Frankfurter Bedarfsflug- die englischen Sprachkenntnisse sind fen . . . gesellschaft Ratioflug an. Mit deren Li- zenz pendelte eine Boeing 767 der Bir- genair vom 29. Mai bis zum 27. Okto-

30 DER SPIEGEL 7/1996 ber vergangenen Jahres zwischen Eine noch abenteuerlichere Konstruk- Die Idee vom billigen Urlaub für je- Deutschland und der Karibik. Freitag- tion hat die asiatische Fluggesellschaft dermann war Anfang der sechziger nachmittags landete die Maschine als Far East Airlines Maledives erfunden, Jahre dem Frankfurter Versandunter- Ratioflug in Hamburg, am Abend flog um inDeutschland Fuß zufassen.Die Fir- nehmer Josef Neckermann (Slogan: sie als Birgenair in die Türkei. ma bekam hierzulande keine Verkehrs- „Neckermann macht’s möglich“) ge- Dann lief die sechsmonatige Sonder- rechte. Deshalb schloß sie ein Code-Sha- kommen. Schnell zeigte sich, daß der erlaubnis des Bundesverkehrsministeri- ring-Abkommen mit der bulgarischen knorrige Herrenreiter eine Goldader ums für die Kooperation aus. Deshalb Firma Balkan Air. Die Osteuropäer brin- entdeckt hatte. taten sich die Türken mit dem domini- gen seither jeden Samstag deutsche Tou- Seit Jahren drängten auch branchen- kanischen Unternehmen Alas Naciona- risten mit einem Airbus A 320von Frank- fremde Konzerne wie der Hamburger les zusammen. Das sollte die Urlauber furt über Zwischenstopps in Sofia, Bah- Otto Versand in den Wachstumsmarkt ursprünglich nach Hause fliegen. rein und Dubai nach Male. Tourismus; der Kölner Lebensmittel- Das Unternehmen hatte mit einer Billiganbieter argumentieren, die konzern Rewe kaufte den Reiseveran- betagten DC-8 bis 1993 nur Fracht be- kunstvollen Konstruktionen seien nötig, stalter ITS und die Reisebürokette At- fördert. Die Alas Nacionales war dann weil die Kunden ständig nach neuen Son- las mit 600 Filialen. eine Fluggesellschaft ohne Flugzeuge – derangeboten verlangten. Mit alteinge- Einen immerwährenden Boom vor bis sie im Oktober vergangenen Jahres sessenen Firmen rechneten sich die Augen, rüsteten die Chartergesell- die Boeing 767 der Birgenair mietete. Schnäppchenreisen nicht. schaften ihre Flotten auf. Selbst die Touristikkenner halten für möglich, An der Preisklemme, in der sie stek- Lufthansa weitete ihr Touristikgeschäft daß die Alas Nacionales in Wahrheit ken, haben die Veranstalter Mitschuld. mit Hilfe ihrer Charter-Tochter Con- nur eine Briefkastenfirma ist, die von Die Unternehmen haben die Kunden in dor ständig aus. Birgenair aktiviert wurde, um den Tür- den vergangenen Jahren mit immer neu- Die großen Chartergesellschaften ken eine Verkehrslizenz zwischen der en Billigangeboten geködert. Nun wer- wie Condor, LTU oder Hapag Lloyd Karibik und Deutschland zu verschaf- den sie von ihren eigenen Werbeverspre- arbeiten meist mit den großen Reise- fen. chen eingeholt. veranstaltern zusammen. Doch die Ähnlich sind die Verhältnisse bei der dominikanischen Fluggesellschaft Do- Zeitplan für die Wartung minicana. Das mexikanische Luftfahrt- intervalle arbeitsaufwand umfang unternehmen Taesa kaufte sich bei der Dominicana ein, um so an die Ver- Trip-Check vor jedem ca. 30 Betankung, Außenüberprüfung zur Feststellung von kehrsrechte für Flüge zwischen der Flug Minuten offensichtlichen Schäden. Behebung von Beanstan- dungen, die einen Start ausschließen („No go“). Dominikanischen Republik und Deutschland zu kommen. Zu den Do- Daily-Check alle 24 ca. 2 Prüfung von Reifendruck, Bremsabnutzung, Feuer- minicana-Kunden zählen namhafte Stunden Stunden löschern und Sauerstoffsystem, verschiedene Reiseveranstalter wie die Kölner ITS. Cockpit-Checks. Service-Check alle 9 ca. 12 Öl-, Wasser- und Luftauffüllung, Kabinensäuberung. Tage Stunden Reise-Jets mit Schwachstellen A-Check alle 400 ca. 32 Triebwerks- und Funktionskontrollen. Auffüllen von Wartungsschwerpunkte und regelmäßige Kontrol- Flugstunden Stunden Betriebsstoffen. Behebung von zurückgestellten len am Beispiel eines Airbus A320 der Lufthansa Beanstandungen. C-Check alle 15 ca. 500 Gründliche Kontrollen außen und innen, intensive Besondere Aufmerksamkeit bei der Wartung Monate Stunden Struktur- und Funktionskontrollen. gilt einer Reihe von kritischen Punkten, die IL-Check alle 66 ca. 8000 Spezielle Kontrollen der Struktur, Kabinen-Auf- für Ermüdungserscheinungen anfällig sind: Monate bis 10 000 frischung, Farbausbesserung, Überholung von Stunden Systemen und Einbau von Neuerungen. D-Check alle 102 bis zu Detail-Überholung von Zelle, Kabine und Systemen. Gefahr von Rißbildung in der Druck- Monate 50 000 Auswechseln von Großbauteilen. Erneuerung des abdichtung der Kabine über den Fahr- (ca. 16 000 Stunden Außenanstrichs, Überholung der Kabine. werksschächten im Mittelteil des Landungen) Flügels. Austausch von Bolzen nach jeweils 12 000 Landungen.

Längsträger In den Rahmen der Schiebefenster am Neigung zur Rißbildung an den Cockpit können Risse zwischen einzel- Quer- Verbindungen zwischen Längs- nen Verbindungselementen auftreten. träger und Querträgern in der Flugzeug- Röntgenkontrolle und Auswechseln von zelle etwa 40 Zentimeter über Bolzen nach jeweils 12 000 dem Kabinenboden. Erneuerung Landungen. der Bolzen nach jeweils 12 000 Landungen.

Rißgefahr an der Flügel-Rumpf-Verbindung. Ein elektronisches System (Engine Condition Monitoring) Kontrolle nach den ersten 12 000 Landun- überwacht kontinuierlich, auch während des Fluges, den gen und danach in Intervallen von jeweils Zustand der Triebwerke. Mit diesem Verfahren kann im vor- 7500 Landungen. aus der Zeitpunkt für die Generalüberholung eines Trieb- werks bestimmt werden.

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TITEL

Reiseziele wie die USA oder die Kari- bik. Dort zieht vor al- lem die Dominikani- sche Republik die Deutschen an: Aus dem Geheimtip von Hamburger Luden, die in „Domrep“, so das Kiez-Kürzel, ei- nen sonnigen Unter- schlupf fanden, wurde binnen weniger Jahre ein Ziel für jeder- mann – dank konkur- renzlos günstiger Prei- se. „Billig ohne Ende“, erklärt ein Hambur- ger Touristikexperte die Anziehungskraft des Inselstaates. „Dort geht’s zu, als wäre das ganze Jahr Oktoberfest“, sagt Klaus Laepple vom

T. RAUPACH / ARGUS Verband mittelständi- Charter-Jets beim Start (in Düsseldorf): Immer billiger in die Ferne scher Reiseunterneh- men. Branche ist zunehmend unübersichtli- kische Antalya –, buchen sie auf eigene Im Pauschalpreis ist neben dem cher geworden. Rechnung Hotelzimmer vor Ort und or- Zwölfstundenflug und voller Verpfle- Auch die Großen greifen, wenn es ganisieren Charter-Flüge zu Dumping- gung zumeist Alkohol in unbegrenzter knapp wird, gelegentlich auf kleine preisen, um Kunden in ihre normalteu- Menge an der Hotelbar enthalten, häu- Fluggesellschaften zurück. Den Fluggä- ren Quartiere zu locken. fig gibt es sogar die Zigaretten am Pool sten scheint es gleichgültig, nur billig Für solche Billigstflüge, die unter dem kostenlos. Ein idealer Urlaubsort für al- muß es sein: Selten fragen Kunden im Etikett Last minute verkauft werden, le, die nach Mallorca und Ballermann 6 Reisebüro nach der Gesellschaft, mit steht etwa die Active Air aus Istanbul mal woanders trinken und dabei noch der sie fliegen. bereit, die früher unter dem Namen braun werden wollen. Zwei Wochen, al- Entscheidend ist für viele allein der Greenair flog. Sie hat von der Moskauer les inklusive, gab es bei Öger für 1399 Preis. Und der sinkt von Saison zu Sai- Wnukowo Airlines drei Tupolews ge- Mark. son. Die gewaltigen Kapazitäten, die in least. Das kann sich nicht rechnen. Um mit den vergangenen Jahren aufgebaut wur- Mit den Active-Air-Preisen kann kei- einwandfreien Maschinen und gutausge- den, müssen stets aufs neue gefüllt wer- ne deutsche Gesellschaft konkurrieren, bildetem Personal zu fliegen, muß eine den. Freie Flugsitze und Hotelplätze Chartergesellschaft für die Strecke sind eine verderbliche Ware. Frankfurt–New York etwa 850 Mark Neue Anbieter haben sich ganz auf Aus dem Geheimtip nehmen. Bei Pakistan International Air- die Vermarktung dieser Restplätze spe- wurde ein lines hingegen kostet der Trip 489 Mark, zialisiert. Firmen wie L’tur kaufen weni- zehn Prozent Provision für das Reisebü- ge Tage oder Wochen vor Abflug die Tip für jedermann ro inklusive. überschüssigen Kapazitäten auf und ver- Das Fluggerät ist manchmal uralt, die ramschen Flug und Unterkunft als Last- nur noch Firmen wie die Istanbuler Ho- belgische Firma Skyjet etwa fliegt die minute-Reisen. liday Air oder die Akdeniz Airlines, die Strecke Frankfurt–Puerto Plata mit ei- Diese Angebote sind zwar billig, qua- mit drei betagten Airbussen, Baujahr ner 23 Jahre alten DC-10. Inzwischen litativ schlecht aber sind sie nicht: Es 1979, Urlauber in die Türkei bringt. hat sich die belgische Chartergesell- handelt sich um ganz normale Reisen, Der Billiganbieter Sultan Air aus Istan- schaft eine zweite DC-10, ebenfalls Bau- die, wie Textilien im Schlußverkauf, im bul, der seine Maschinen in Honduras jahr 1973, zugelegt und in Antigua regi- Preis herabgesetzt werden. registrieren ließ – dort sind die Sicher- strieren lassen. Inzwischen aber nutzen manche An- heitsvorschriften nicht allzu streng –, ist Mancher Tourist wird Zwangskunde bieter das Erfolgsetikett für eine Mogel- inzwischen vom Markt verschwunden. bei Skyjet. Die Gesellschaft hat sich dar- packung. Schon Monate vor dem Ab- Seit etwa drei Jahren setzen Last-mi- auf spezialisiert, mit einer Maschine ein- flug konzipieren Veranstalter die angeb- nute-Angebote den neuen Preisstan- zuspringen, wenn bei einer anderen lichen Trips in letzter Minute: Unter Ur- dard in der Tourismusbranche. Die Chartergesellschaft ein Flugzeug aus- laubern gelten Last-minute-Flüge als be- Preise fielen. War schon in den achtzi- fällt. Das ist allgemein übliche Praxis. sonders preiswert. ger Jahren ein Trip nach Tunesien oder Auf diese Weise, erklärt die IFALPA, Sogar findige Reisebüroinhaber tre- in die Türkei oft billiger als ein Urlaub werde es selbst für Experten schwierig, ten für ein paar Wochen als Veranstalter am Tegernsee, so wurden bald auch den technischen Zustand von Maschi- auf. Wenn sie rechtzeitig den Andrang Fernreisen für ein Massenpublikum er- nen zu beurteilen. auf bestimmte Urlaubsgebiete wittern – schwinglich. Anfang der neunziger Jah- Den 189 Opfern von Puerto Plata nut- im Herbst war es beispielsweise das tür- re begann der Run auf einst exklusive zen solche Sprüche nichts mehr. Selbst

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wenn Bonn sich unter dem Druck der Später bringen Tieflader vier Räder glücksmaschine an den Tower von Mi- Katastrophe von Puerto Plata zum rigi- der Unglücksmaschine. Die Reifen tra- ami. deren Umgang mit den Chartergesell- gen den Namen der Fluglinie – Birgen- Miami habe dem Birgenair-Jet acht schaften aufraffen sollte – wirklich än- air. Die abgebrochenen Achsen, die Minuten nach dem Start in Puerto Plata dern wird sich der Markt erst, wenn die aus zwei Radnaben ragen, künden von eine neue Höhe zugewiesen, erklärte Kunden nicht nur auf den Preis achten. der ungeheuren Wucht des Aufpralls. Birgen. Doch statt, wie üblich, die Höhe „Ein Großteil der Kosten ist bei allen Fieberhaft suchen Experten der US- zu bestätigen, habe Kapitän Ahmet Er- Fluggesellschaften gleich“, sagt Condor- Küstenwache inzwischen nach dem dem, 62, nur mit „Stand by“ geantwor- Chef Franz Schoiber (siehe Interview grellroten metallenen Kasten, der in et- tet. Dann riß der Kontakt zum Piloten Seite 28). Gespart werden kann, bei wa 1700 Meter Wassertiefe im Atlantik ab. ausländischen Gesellschaften, an den versunken ist. Die sogenannte Black Einem „Blitzschlag“, wie der Ham- Personalkosten – und an der Sicherheit. Box enthüllt wahrscheinlich das Ge- burger Reiseunternehmer Vural Öger Am Wochenende rätselten die Exper- heimnis des Absturzes der Birgenair- am Tag nach dem Unglück sogleich hö- ten noch immer über die Ursachen der Maschine vom Typ Boeing 757. here Gewalt für das Desaster bemühte, Katastrophe. Im Hof der Comandancia Jedes Detail über den Zustand der dürfte die Boeing 757 kaum zum Opfer de Puerto, der Hafenkommandantur Triebwerke, die Stellung der Ruder gefallen sein. „Moderne Jets stürzen von Puerto Plata, trugen Arbeiter die in und Klappen, über Höhe und Ge- nicht durch einen Blitzeinschlag ab“, er- der Zwischenzeit aufgefischten Bruch- schwindigkeit des Unglücksjets, hat der klärte etwa Cockpit-Sprecher Will. stücke zusammen: Was von der 47 Me- stumme Zeuge gespeichert. Alle wich- Auch Experten des Braunschweiger DPA Urlauber in der Abflughalle (in Leipzig): Kaum einer will wissen, mit wem er fliegt

ter langen Maschine geblieben ist, sind tigen Flugdaten, 250 einzelne Parame- Luftfahrt-Bundesamtes halten dieses einige verbogene Bleche, luftlose Ret- ter insgesamt, werden jeweils 25 Stun- Szenario für eine „unrealistische Speku- tungsflöße, ein paar Sitzkissen. den lang Sekunde für Sekunde aufge- lation“. Verloren liegt eine nackte Plastikpup- zeichnet. Eine sehr spekulative Version stammt pe unter einer Tragflächenspitze, ein Bis zu einer Tiefe von 6000 Metern von einem Mitarbeiter der Birgenair, Babyanzug dampft, zum Trocknen aus- hält die Black Box dem Druck der der Ende Januar, auf dem letzten Flug gelegt, in der Sonne. Daneben ein deut- Wassermassen stand. Ein eingebauter vor dem Crash, auf der Unglücksma- scher Reisepaß, Nr. L 3163706, drei Sender macht es möglich, sie zu orten. schine als Passagier mitflog. Rucksäcke und aufgeweichte Zigaret- Herausfinden wollen die Experten, Der Mann berichtete, daß an einer tenstangen. was in den letzten Minuten an Bord der Türen ein Bolzen gebrochen gewe- Was von den Passagieren geblieben des Unglücksfliegers vor sich ging und sen sei. Er habe beobachtet, wie die Me- ist, bringen Helfer in schwarzen Plastik- weshalb der Jet urplötzlich vom Him- chaniker in Acapulco das fehlende Teil säcken an Land. Die angereisten Exper- mel verschwand. „Stand by“ („Bleibt durch ein Stück Draht ersetzt hätten. ten vom Bundeskriminalamt rechnen dran“) waren nach Auskunft von Cetin Danach sei das Flugzeug über Cancu´n mit acht Tagen, bis sie die Toten identi- Birgen, dem Eigner der Birgenair, die nach Puerto Plata geflogen, wo es bis zu fiziert haben. letzten Worte des Kapitäns der Un- seinem letzten Einsatz geparkt blieb. Y

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Sozialstaat Der kleine Fels Hans-Joachim Noack über den Bonner Arbeitsminister Norbert Blüm und sein Krisenmanagement

eharrlich und mit dem für ihn ty- pisch lockeren Wortschwall erläu- Btert der kleine Mann in der tieflie- genden Ledercouch seine Herzensange- legenheit. Energisch pumpt der umfang- reiche Brustkorb, als er anhand von Da- ten und Rangfolgen die „unvergleichli- che Altersversorgung hierzulande“ ver- teidigt. Aber dann schleicht sich plötzlich spürbare Ermattung in das gerötete Rundgesicht. „Was soll der Scheiß“, grummelt in der Nacht zum vorigen Montag in einem Chambre se´pare´e des Berliner Hotels In- terconti der CDU-Stargast Norbert Blüm – es reicht ihm jetzt. Da hat er sich über Stunden hinweg beim Nachgespräch zum TV-„Talk im Turm“ mit geringem Erfolg den Mund fusselig geredet. „Die Leute“, klagt er leise ins Bierglas, „verstehen ja eh bloß Bahnhof.“ Das scheint zur Zeit das Schicksal des Bundesministers für Arbeit und Sozial- ordnung zu sein. Seit bekannt wurde, daß zum Jahresende vermutlich ein Loch von annähernd zehn Milliarden Mark in der Kasse der Ruheständler gähnen wird, ge- rät der dafür politisch verantwortliche Bonner Ressortchef in Erklärungsnöte. Dessen häufig von schöner Eindeutigkeit geprägte Sätze („Die Renten sind si- cher“) klingen hohl und hohler. Zwar behauptet der nette Gemüts- mensch das weiterhin – „ganz langsam zum Mitschreiben“ soll sich das Volk der zentralen Botschaft vergewissern –, doch wer glaubt ihm noch? „Betrug“ nennt et- wa der Duzfreund und Obersozi Rudolf Dreßler die flotte Beschwörungsfloskel. „Norbert Blüm, selbst ein Fall für die Rente?“ fragt in scheinheiliger Besorgnis das Massenblatt Bild am Sonntag. Daß er nach monatelangen Disputen über den ausufernden Sozialstaat auch persönlich schwer ins Kreuzfeuer ge- nommen werden könnte, hatte der 60jährige Parteichrist zunächst einmal of- fenbar unterschätzt. Erst der Kanzler mußte ihm inder vorvergangenen Woche den Auftrag erteilen, die haarigen An- würfe in einer Regierungserklärung zu- rückzuweisen. Seither sucht er sich mit der Routine des dienstältesten Bonner Ministers und gewieften Profis Luft zu verschaffen. Die Attacken der SPD gelten dem ehemali- gen Opel-Arbeiter als „blinder Wahl-

kampfeifer“, der bewußt auf „Angst- ACTION PRESS kampagnen“ setzt. „Schämen Sie sich!“ Parteifreunde Blüm, Kohl: „Net verrückt mache lasse“

34 DER SPIEGEL 7/1996 ruft er im Deutschen Bun- destag bebend in Richtung der Genossen-Bänke. Doch die Blümsche Ab- wehrbereitschaft, mit der er der Opposition seine Empö- rung entgegenschleudert, wirkt zugleich seltsam zwie- spältig. Sosehr es der Schwarze den Roten ver- übelt, ihn des „Rentendieb- stahls“ zu bezichtigen, teilt er deren grundsätzliche Be- fürchtungen. Denn natürlich geht es – das räumt auch Blüm ein – keineswegs nur um die Fra- ge, wie der Alterskasse die aufgezehrte Schwankungsre- serve zurückzugewinnen ist. Für gefährlicher hält er, daß das im Zuge grassierender Arbeitslosigkeit entstandene Defizit das soziale Netz ins- gesamt zerreißt. Wo immer nämlich sein Auge hinblickt, sieht der Dr. phil. des zweiten Bildungs- Die Welt wegs „forsche Gesellschafts- innovateure“ am Werk. Eine „Yuppie- Julius Louven, rügt die angebliche Nei- denlosen Nonkonformisten. Wie anders Gesinnung“ beginnt sich nach seinem gung seines Ministers, die prekäre Lage könnte er untermauern, läßt er durch- Urteil durchzusetzen, die sich nicht zu „verharmlosen“. blicken, daß der für seine Überzeugun- scheut, alle auf Solidarität gegründeten Wie sehr die Union ihren Mann für gen hinstehende Mensch manchmal not- Einrichtungen „fundamental anzugrei- die negativen Schlagzeilen derzeit von wendig einsam ist. fen“. sich fernhält, wird am Freitag vorletzter „Wenn ich einer dieser Strategen von Redet so ein mit den Jahren verstock- Woche deutlich. Im Plenarsaal harrt da der Wirtschaftsseite wäre, ich würde ter „Herz-Jesu-Marxist“, wie vor Zeiten auf der Regierungsbank nur noch der den Blüm abräumen“, entfährt es ihm der Bayer Franz Josef Strauß gegen den Kollege von der Verteidigung, Volker mit Verschwörermiene – ein markiger Anhänger der katholischen Soziallehre Rühe, neben ihm aus. Aber es bleibt Satz, der seine Schlüsselstellung be- stichelte? Daß Blüm „als letzter Vertei- dem glücklosen Blüm bis auf weiteres ja leuchten soll. Tatsächlich sieht er in sich diger eines wohlfahrtsstaatlich gezähm- der Kanzler. den „Fels“, der den Kahlschlagsanierern ten rheinischen Nachkriegskapitalis- Der riet dem Freund Nobbi, sich „net den Weg versperrt. Daß ihn der BDI- mus“ (Süddeutsche Zeitung) irgendwie verrückt mache zu lasse“, und lud ihn, Präsident Hans-Olaf Henkel bereits aus den alten Pantoffeln nicht heraus- zum „größten Standorthindernis“ in kommt, kritisieren viele Beobachter. der Bundesrepublik hochgejubelt hat, Aber die Mixtur aus volksverbunde- Mit jedem Tag wird scheint ihm recht zu geben. nem Plapperstil und jesuitisch scharfer das politische Urgestein Doch in Wahrheit wird das politische Analyse, die er dem Lehrherrn Oswald Urgestein, als das sich der Sohn eines von Nell-Breuning verdankt, ist ja bloß etwas poröser Kfz-Schlossers aus der Autostadt Rüs- der eine Teil seiner gut sortierten Per- selsheim empfindet, mit jedem Tag po- formance. Dem Prinzipienreiter Blüm als die Rentenmisere schon für beträcht- röser. Nach dem Renten-Tohuwabohu ebenbürtig, hat sich daneben seit eh und liche Unruhe sorgte, zu einem rustika- muß der „rote Feldwebel“ (Kohl) in der je das pragmatische Schlitzohr behaup- len Männerabend. Der große und der vorigen Woche weitere Rückzugsge- tet. kleine Dicke vergnügten sich in der Vor- fechte einleiten. Monatelang lag er mit Ob es sich um die Berücksichtigung derpfalz – beim deutschen Ringer-Spit- dem Gesundheitsminister Horst Seeho- von Kindererziehungszeiten handelt, zenklub VfK Schifferstadt. fer darüber im Clinch, aus welchem die Gesundheitsreform oder sein „Le- Derart hinter dem breiten Buckel Topf die Kosten für die stationäre Pfle- benswerk“, die Pflegeversicherung – al- Kohls die Fäden spinnen zu dürfen er- geversicherung zu berappen sind – und les sei von ihm „so durchgefummelt füllt den seelenverwandten Hessen mit zieht nun den kürzeren. worden“, sagt er listig-fröhlich. erkennbarer Dankbarkeit. Doch er wür- Immer neue Schreckensmeldungen Während er den Sozis als nomineller de wohl auch sonst kaum jammern. Daß von der Arbeitslosenfront bremsen den Linkspartei zuwenig fortschrittlich er- in seinem Falle die Zahl der Bündnis- Schwung des bulligen Parteisoldaten, scheint, sehen in ihm die meisten Kon- partner bei „nahe Null“ liegt, muß man mit dem er gern über die ökonomischen servativen einen zumindest latenten Un- aus Norbert Blüm nicht erst mühsam Schlankheitskuren und deren Wortfüh- sicherheitsfaktor. Er traue den Zahlen herausfragen – im Gegenteil. rer herfiel. „In der Not frißt der Teufel aus dem „Hause Blüm“ nicht, hat sich Was soll er darüber in Wehklagen Fliegen“, läßt sich Blüm kleinlaut ver- unlängst wieder der Kassenwart Theo ausbrechen? Die Distanz zwischen dem nehmen – das soziale Gewissen erinnert Waigel warnend zu Wort gemeldet. Und Gros der Unionshierarchen und ihrem sich seiner Anpassungsmöglichkeiten. ausgerechnet der sozialpolitische Spre- Arbeitsminister verstärkt sein von ihm Er sei ja „kein Dogmatiker“, wehrt er cher der eigenen Bundestagsfraktion, fleißig gepäppeltes Selbstbild eines gna- sich gegen die Vorwürfe des FDP-Gene-

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rals Guido Westerwelle, nachdem ihn Die SPD wolle einen Rentengipfel? Das soll jetzt der Vergangenheit ange- der in einer Diskussionsrunde als Wenn er das schon höre, erheitert sich hören. Unter den auf Blüm bezogen we- „handfesten Sozialdemokraten“ be- Blüm – „als ob der dritte Weltkrieg aus- nig schmeichelhaften News im eiskalten schimpft hat. gebrochen wäre!“ Statt den Leuten täg- deutschen Winter ’96 findet sich Anfang Das Verhalten des einstigen St.-Ge- lich Panik einzujagen, zieht er es vor, letzter Woche eine kraftstrotzende: orgs-Pfadfinders ähnelt jetzt wieder den zuversichtlichen Vertrauensanwalt Wenn an diesem Montag beim Kanzler sehr jener Fortbewegungstechnik, die zu mimen. hohe Unternehmer- und Gewerk- er von der Echternacher Springprozes- Näher betrachtet erweist sich, wie schaftsfunktionäre über die Krise der sion her kennt. Zwei Schritte nach hin- und hergerissen der Minister ist. Altersversorgung die Köpfe zusammen- vorn zu laufen, um dann bußfertig ei- Langen Passagen, in denen er buchhal- stecken, werde der verantwortliche Mi- nen zurückzuweichen, ist zwar auch ei- terisch nüchtern über die Alterspyrami- nister gewaltig hinlangen. ne Gangart, aber offenbar keine be- de oder die Lohnnebenkosten referiert, „Auch gegen den Willen der Tarif- liebte. folgen jähe Einschübe, die den arg be- partner“, so melden Auguren, wolle er Nörgelnde Pressekommentare ner- kümmerten Norbert Blüm offenbaren. den massenhaften und die Sozialkassen ven den seit der 82er Wende im Kabi- Natürlich drohen seinem auf den Bis- ausplündernden Sprung in den Vorruhe- nett Kohl hockenden obersten Sozial- marckschen Grundlagen entwickelten stand strikt unterbinden. Doch leider ist staatsverteidiger. Das frü- das keine ganz zutreffende her nett anzuschauende Nachricht. Sich da hinzu- „Spitzbübische“ sei aus setzen, um den Ge- seinen Zügen geschwun- sprächskreis „mit der Pi- den, enthüllt Bild und at- stole zu bedrohen“, testiert ihm darüber hin- schwächt er schon wieder aus eine gewisse Sprung- ab, diene der Sache kaum. haftigkeit. Der beleidigte Im Angesicht von 4,2 Minister läßt das demen- Millionen Arbeitslosen, tieren. die nach einer wie immer Nachdem er wirtschafts- gearteten großen Lösung nahen Blättern wie der verlangen, gerät das auf Frankfurter Allgemeinen viele Trippelschritte be- eh ein steter Dorn im Au- dachte Politik-Modell des ge gewesen ist, muß ihn Norbert Blüm zusehends schmerzen, daß ihm neu- ins Wanken. Seine Kunst, erdings auch die Frankfur- sich durchzufummeln und ter Rundschau hämisch zwischen den widerstrei- entgegentritt. Wie hat er tenden Interessen Resul- sich reingekniet, um mit tate auszuschaukeln, ver- seinem „Jahrhundert- liert an Anziehungskraft; werk“ alten Menschen in aber er kann nicht anders. meist seelenlosen Heimen So gesellt sich zu dem wenigstens halbwegs ge- properen Selbstwertge- ordnete Verhältnisse an- fühl, mit dem er zuweilen zubieten – und nun sieht auch jetzt noch seine Rolle er sich selbst zum „Pflege- beschreibt, in Momenten fall“ heruntergeschrieben. des Grübelns eine deutlich Wäre es da nicht plausi- bescheidenere Erkennt- bel, wenn er aus dem nis: Auf dem Trümmer- „Bonner Schraubstock“ in feld der Verteilungskämp- die Freiheit eines verdien- fe sieht er sich da eher als ten Ruhestands wechsel- Randfigur – „in Rotkreuz- te? Das ist von ihm ins Funktion“.

Kalkül gezogen worden, G.A.F.F. Daß die Mehrheit der doch dann hat ihn der gro- hochverunsicherten Deut- ße Trotz überfallen. Man schen seiner überdrüssig

möge es „pubertär nennen M. LIMBERG / werden könnte, hält der . . . is’ mir Wurscht“, sagt Private Altenpflege: „Alles so durchgefummelt“ Polit-Oldie für durchaus der Christdemokrat hef- wahrscheinlich, weil „er- tig, während ihm dabei die Nickelbrille Sozialstaat schwere Erschütterungen. satzweise“ ja immer mal Köpfe rollen. verrutscht, aber an solcher Flucht hin- Selbstverständlich weiß er, wie sehr es Doch an seiner grundsätzlichen Einstel- dert ihn sein naturwüchsiges Ehrgefühl. „im Kessel brodelt“. lung ändert das nichts: Ohne das von Sich vorzustellen, wie danach „andere In solchen Augenblicken räumt er ihm verfochtene Solidaritäts- und Kon- in Schadenfreude schwelgen“, zieht auch ein, nicht in allen Lagen optimal sensprinzip gebe es bald überhaupt kei- ihm schlicht den Magen zusammen. gehandelt zu haben. Bereits seit minde- nen Sozialstaat mehr. Nein, das nicht mit ihm – zumindest stens anderthalb Jahren erfüllt ihn etwa Gerade deshalb ist Blüm so sauer, in dieser Phase nicht, sondern allenfalls die Welle der Frühverrentungen mit er- daß ihn der langjährige Kompagnon in einem Moment der politischen heblicher Sorge; aber statt sich querzu- Dreßler der „gezielten Täuschung“ be- Windstille. Um die alsbald herbeizu- legen, sei ihm der Konsens wichtiger ge- schuldigt hat. „Wegen eines politischen führen, baut er in seinem Krisenmana- wesen. „Ich hab’ da rumgeeiert“, gibt er Tageserfolges“, sagt er geknickt, „bin gement etwas verkrampft auf eine betröppelt zu Protokoll, „mich von ei- ich von dem an die Systemgegner ausge- „Beschwichtigung der Gesamtsituati- nem pragmatischen Zugeständnis zum liefert worden – an die FDP und die Bie- on“. nächsten gerobbt.“ denkopfs.“

36 DER SPIEGEL 7/1996 KOMMENTAR „Dear Helmut . . .“ RUDOLF AUGSTEIN

uch die Gegner von Maastricht Ohne Währungsunion kein Europa verhängt. Dies, im Gegensatz zu an- könnten nicht rundum glücklich ist schon von der Sache her falsch. deren Dingen,warnunallerdings vor- Asein, wenn alle damit verknüpf- aussehbar. Der Binnenmarkt bedarf keiner ein- ten Absichten bergab gingen (wie es heitlichen Valuta, sondern, und das Bonn hat sich in das Großprojekt gelegentlich scheint). Man kann ja allerdings dringend, stabiler Wäh- einer Europäischen Politischen Uni- nicht einfach zurück zum Status quo rungsverhältnisse, also dauerhaft on geflüchtet. Nichtsda, sagtBelgien, ante. Etwas anderes, hoffentlich fester Wechselkurse. Stabile Ver- vertreten durch seinen Premier Jean- Haltbareres müßte an die Stelle tre- hältnisse lassen sich indes nicht Luc Dehaene, erst die Währungsuni- ten, ein „Zurück in die alten Startlö- durch eine Währungsunion erzwin- on, dann könne man sehen. cher“ wie bei einem sportlichen Fehl- gen. Sie sind vielmehr selbst Vor- Gab es früher schon solche Krisen? start gibt es hier nicht. aussetzung für die Union. Nein, nicht. Was wir uns allerdings Bislang herrscht noch Kakopho- von unserem Kanzler Helmut Kohl nie. Aber der von Helmut Schmidt Alle, außer Kanzler Kohl, halten verbitten müssen, ist die einseiti- adorierte Vale´ry Giscard d’Estaing, sich eher bedeckt. Auch Münster ge Publikumsbeschimpfung. Er hat mit dem Schmidt sich währungspoli- fragt etwas scheinheilig: „Also lieber doch geschlafen, nicht wir. Er hat uns tisch verständigen konnte*,einer der, keine Währungsunion? Lautet so das in die Lage versetzt, daß wir auf der wie die International Herald Tribune Fazit?“ Die Antwort könnte „ja“ lau- Einhaltung „randscharf gemessener ihn nennt, angesehensten Europabe- ten. Aber so lautet sie nicht, viel- Konvergenzkriterien“ (Hans D. Bar- fürworter auf dem Kontinent, machte mehr: Die gemeinsame Währung wä- bier in der Frankfurter Allgemeinen) den Vorschlag, die Bedingungen für re ein würdiges Richtfest für den Bau bestehen müssen, die uns nicht gera- Maastricht zu erleichtern. des europäischen Bundesstaates. Die de Freunde, sondern eher verhaßt Das kann zweierlei bedeuten: Er- vielen finanziellen Vorteile, die in machen. stens die Aufnahmekriterien, zwei- der Bundesrepublik hart erarbeitet Wir sind es nicht, die vor Bismarck, tens aber den Zeitablauf. Nach An- worden seien, lohne es nur, für ein Wilhelm und, Gott behüte, Hitler ge- sicht der International Herald Tribune vereinigtes, im Sinne des Wortes warnt werden müssen, wie Kohl sich hat Giscard einen zeitlichen Auf- integriertes Europa hinzugeben. und anderen weismacht. Das ist, laut schub gemeint (Überschrift: „Gis- „Aber wo ist dieses Europa denn? International Herald Tribune, eine card Joins Chorus Urging Currency Und wo sind die Partner, die es wirk- Mischung aus „bullying talk“ und Delay“). lich wollen?“ „nonsense“, sagen wir höflich, Sein Vorschlag folgte dem Beitrag Ja, weiß der Teufel, man sieht sie „dumm Tüch“. des spanischen Außenministers nicht. Aber es bleibt ja die Notwen- Aber aus uns ist doch etwas gewor- Carlos Westendorp, der angemerkt digkeit, die gemeinsamen wie die ver- den?Ausunsistzuvielgeworden.Wir hatte, die Währungsunion sehe sich schiedenen Interessen Frankreichs machen uns europäisch wichtig. Un- einer Vertrauenskrise gegenüber, und Deutschlands zu berücksichtigen ser Punkt ist nicht der Nationalismus, man solle ihre Einführung verschie- und wenn möglich zu akkordieren. da haben die Engländer, Schotten, ben. Darauf wird es nun wohl auch Das kann nicht auf die bisherige Iren, Korsen, Belgier und Basken hinauslaufen. Kohlsche Weise geschehen. Er denkt mehr zu bieten. Vielmehr, wir wollen Man konnte damals, als Maastricht zuviel an sein Denkmal. nun mitGewalt durchsetzen, wasman 1991 auf Druck der Franzosen abge- Frankreich, so war immer klar, uns, dank Kohl, mehr oder weniger schlossen wurde, nicht alle europäi- würde Theo Waigels – reichlich spät aufgezwungen hat. Wir sind nicht fle- schen Verwerfungen absehen, die eingebrachten – Vorschlag eines xibel, und wir hätten am ehesten noch kommen würden. Eines aber „Stabilitätspaktes“ zwischen den Grund, es zu sein. Was wir vorgeben war in der ökonomischen Fachschaft Teilnehmerstaaten der EU ableh- zu wollen, denn mehr ist es ja nicht, so ziemlich unumstritten: Der Plan, nen. Frankreich will sich mit „Sank- geht den meisten „zu weit und zu ohne Rücksicht auf unvorhersehbare tionen“ gegen Stabilitätssünder be- schnell“. Ereignisse ein Währungskorsett zu gnügen. Das war zu erwarten, liegt So schließt der offene Brief von fertigen, war realitätsfern, ohne aber außerhalb des Horizonts Kohl- Brian Beedham in der International Rücksicht auf die Mentalitäten der scher Interessen. Herald Tribune: „Dear Helmut, Du betroffenen Völker, am politischen Daß der Präsident der Bundes- bist ein guter Deutscher und ein guter Reißbrett entworfen. bank, Hans Tietmeyer, die deutschen Europäer, nicht weit weg vom Ende Jetzt liegen sich die Wissenschaft- Interessen vertritt, kann bald schon Deiner politischen Laufbahn. Du ler in den Haaren, Ökonomie ist kei- als normal gelten. Er bezweifelte auf hast einen Plan für Europa. Aber ne exakte Wissenschaft. Aber klingt dem Weltwirtschaftsforum in Davos, Dein Plan und Deine Zeitvorstellung, denn so unvernünftig, was Winfried daß der Brüsseler Rat der Finanzmi- ihn zu verwirklichen, scheinen den Münster in der Süddeutschen Zeitung nister die Sanktionen, die er theore- meisten gewöhnlichen Europäern schreibt: tisch verhängen könne, in der Praxis nicht zu schmecken, die doch die Fol- auch vollziehen werde. Für Paris gel- gen tragen müßten. Bitte, leiste dem * Privat nicht so ganz. Speiste man zu viert te die Zustimmung zu Sanktionen Frieden Europas einen letzten großen im Elyse´e, dann wurde zuerst dem Präsiden- ten serviert, dann dem Bundeskanzler. Bei meist nur „im Prinzip“. Dann komme Dienst, ,do not be bullheaded‘, sei den Außenministern ging es dann umgekehrt. das große „Aber“, und nichts werde nicht starrköpfig.“

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SPIEGEL-Gespräch „Die Welt geht nicht unter“ CDU/CSU-Fraktionschef Wolfgang Schäuble über die Probleme der Europäer mit der Währungsunion

strengend ist, kann man doch nicht sa- gen: Das ist mir zu mühsam. Eine Dis- kussion zum jetzigen Zeitpunkt würde die Gefahr eines Scheiterns der Wäh- rungsunion heraufbeschwören. SPIEGEL: Der Versuch Frankreichs, die Nettokreditaufnahme in einer Schuß- fahrt auf drei Prozent zu senken, müßte nach übereinstimmender Ansicht aller französischen Experten die Konjunktur dort abwürgen. Schäuble: Wir sollten uns in der Frage, was Frankreich schaffen kann und was nicht, ein wenig zurückhalten. Die Zu- stimmung zur Währungsunion ist bei un- serem Nachbarn geradezu sensationell gewachsen. Hinter der Diskussion in Frankreich verbirgt sich doch – wie überall in Europa – eine wirtschaftspolitische Grundsatzfrage: Kann man mit weniger Stabilität dauerhaft mehr Wachstum si- chern? Unserer Überzeugung nach ist defizitfinanzierte staatliche Nachfrage- stimulierung in einer Zeit globaler

VARIO-PRESS Märkte nicht mehr erfolgversprechend. Europa-Politiker Schäuble: „Nachdenken darf man nicht zugeben“ Auch Frankreich muß den Weg der Sa- nierung gehen. SPIEGEL: Herr Schäuble, wann ver- unserer Linie: Sollte es zu einem Kon- SPIEGEL: Einigen Europäern paßt nicht, schiebt die Bundesregierung den Ter- flikt zwischen der Einhaltung der Stabi- daß ihnen die Deutschen vorschreiben, min für die Einführung der Europäi- litätskriterien* und dem Zeitplan kom- was sie zu tun haben. schen Währungsunion? men, würden wir eher für eine Verschie- Schäuble: Das tun wir doch gar nicht. Schäuble: Die Entscheidung über den bung der Währungsunion als für eine Der Maastricht-Vertrag schreibt vor, Beginn der EWU wird im Frühjahr 1998 Aufweichung der Kriterien plädieren. was getan werden muß, nicht die Deut- getroffen. Wir tun alles, um dieses Ziel Eine europäische Währung muß so sta- schen. Auch wir sind nicht frei von der – 1. Januar 1999 – zu erreichen. Wir hal- bil sein, wie es die D-Mark immer dann Versuchung, gelegentlich anderen die ten es auch für möglich. war, wenn die SPD nicht regiert hat. Schuld für unsere eigenen Probleme zu- SPIEGEL: Über die nötige Verschiebung SPIEGEL: Macht Frankreich den Deut- zuschieben. Würden wir diesen Vertrag wird doch längst auch in der Koalitions- schen unterdessen nicht schon unsittli- nicht mehr so ernst nehmen, dann hieße spitze nachgedacht. che Angebote? es: Die Deutschen halten sich nicht Schäuble: Wieso nötig? Wir wollen das Schäuble: Nein. In Frankreich wird viel mehr an ihre Unterschrift. doch gar nicht. Außerdem wird auch das diskutiert, und es gibt da unterschiedli- Es darf keinen Zweifel an unserer Ver- Nachdenken in der Öffentlichkeit sofort che Stimmungen. Aber Präsident Chirac läßlichkeit geben. Die Sozialdemokra- gezielt mißverstanden. Es gibt zu viele, und Premier Juppe´ haben zu keinem ten, die den Vertrag ändern wollen, ma- die im Augenblick die Chance wittern, Zeitpunkt gesagt, daß die Kriterien auf- chen einen Fehler. die Währungsunion zu zerstören. geweicht werden sollen. Im Gegenteil: SPIEGEL: Der saarländische Europäer SPIEGEL: Aber eine vernünftige Politik Frankreich unternimmt alle Anstren- und SPD-Vorsitzende Oskar Lafon- muß sich auf die Eventualitäten einstel- gungen, und es nimmt erhebliche politi- taine will nachbessern. len. sche Schwierigkeiten in Kauf, um die Schäuble: Nachbessern heißt ändern. Schäuble: Natürlich. Wenn aber das Kriterien zu erfüllen. Lafontaine hat Zweifel gesät. Er kann ja Nachdenken bereits als Abrücken inter- SPIEGEL: Im vergangenen Jahr haben nicht mal seinen Herrn Spöri in Baden- pretiert wird, darf man nicht mehr zuge- weder die Deutschen noch die Franzo- Württemberg davon abhalten, euro- ben, daß man nachdenkt. Es bleibt bei sen die Kriterien erfüllt. In diesem Jahr feindliche Plakate im Wahlkampf zu dürfte es kaum anders sein. Alle ma- kleben. Die Ressentiments, auf die die Das Gespräch führten die Redakteure Olaf Ihlau chen die Augen zu und warten bis SPD dabei setzt, sind ziemlich primitiv. und Hans-Jürgen Schlamp. 1998? SPIEGEL: Auch in der Bonner Regie- * Die Maastricht-Kriterien sind: maximal 3 Pro- Schäuble: Deutschland wird bis 1997 rungskoalition läuft jedoch bereits das zent Inflation, 3 Prozent Haushaltsdefizit und ei- ne Staatsverschuldung von höchstens 60 Prozent das Ziel erreichen, Frankreich kann es psychologische Vorspiel zum Euro-Aus- des Bruttoinlandsprodukts. ebenfalls schaffen. Nur weil der Weg an- stieg.

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Schäuble: Dieser Eindruck ist falsch. spitzen und eine Zeitlang kritisch sein. SPIEGEL: Gerade aus London kommen Bonn will, daß die Währungsunion Aber damit erwächst auch die Chance, doch derzeit die heftigsten Querschüsse 1999 kommt. Und ich will es mit aller den Menschen klarzumachen, daß es um gegen die Währungsunion. Entschiedenheit. sehr viel Grundsätzlicheres geht. Das Schäuble: Großbritannien hat sich im SPIEGEL: Zweifel und Vorbehalte mel- kann heilsam sein. Maastrichter Vertrag eine Mitwirkung den sogar Unionspolitiker an, vom Es gibt Aufgaben, die keiner für sich al- vorbehalten; das haben wir zu respektie- sächsischen Ministerpräsidenten Kurt lein erfüllen kann: Frieden und Freiheit, ren. Aber Großbritannien kann die Kri- Biedenkopf bis hin zu dessen bayeri- Toleranz und Liberalität, Sicherheit terien erfüllen, es treibt eine erfolgreiche schem Kollegen Edmund Stoiber . . . nach innen und nach außen. Nur ein Eu- Wirtschaftspolitik. Wenn die Entschei- Schäuble: . . . aber mit seriösen Argu- ropa, das seine Kräfte bündelt, kann dung im Frühjahr 1998 getroffen wird, menten, und beide sind für die Wäh- diese Ziele erreichen in einer Welt, in hoffe ich, daß Großbritannien sagen rungsunion. der sich die Schwerpunkte der dynami- wird: Wir waren zwar bis jetzt nicht so SPIEGEL: Teilen Sie eigentlich die Sor- schen Entwicklung von unserem Konti- sehr dafür, aber wir möchten nun mit da- ge Helmut Kohls, bei einem Scheitern nent wegbewegen. beisein. der Währungsunion werde Europa in SPIEGEL: Kräfte bündeln – das zielt auf SPIEGEL: CSU-Ministerpräsident Stoi- eine normale Freihandelszone zurück- Ihre Lieblingsidee von einem Kerneuro- ber meint, es gehe auch nicht ohne Ita- fallen? pa, das die Initiative an sich zieht. Die lien. Schäuble: Diese Ge- Schäuble: Die Sorgen Edmund Stoibers fahr besteht. Wenn die wegen der spezifischen Wirtschaftspro- Arbeitslosigkeit mit bleme Süddeutschlands sind berechtigt. weniger Stabilität be- Es darf nicht zu weiteren Verschlechte- kämpft wird, dürfte es rungen hinsichtlich des Mark/Lira-Ver- zu einem Abwertungs- hältnisses kommen. Wenn die Wäh- wettlauf kommen, und rungsunion beginnt, muß ein System ge- eine Reihe von Volks- funden werden, das die Bandbreiten in wirtschaften wird ver- den Wechselkursrelationen zwischen suchen, ihre Beschäf- Teilnehmerländern und Nichtteilneh- tigungsprobleme mit mern verringert. nachfragestimulieren- SPIEGEL: Da werden sich aber die Märkte den Instrumenten und schwer beeindruckt zeigen. dem Drehen an der Schäuble: Das werden sie auch. Sie ha- Zinsschraube zu lösen. ben doch in den letzten Jahren gesehen, Dann sind wir bald bei daß sich die Wechselkurse in jenen Län- protektionistischen dernstabilisierthaben, dievonden Märk- Maßnahmen. Der Bin- ten als Teilnehmer an der Währungsuni- nenmarkt ist keines- on erwartet werden. wegs unumkehrbar. SPIEGEL: Aber zu Lasten der anderen, SPIEGEL: Bundeskanz- und die D-Mark hat dabei gewaltig zuge- ler Kohl sieht in der legt. weiteren EU-Integrati- Schäuble: Eine seriöse und glaubwürdige on sogar eine „Frage Politik wird auch die Finanzmärkte über- von Krieg und Frieden zeugen und die Wechselkursverspannun-

fürs 21. Jahrhundert“. GAMMA / STUDIO X gen in Europa zurückgehen lassen. Eine Schäuble: Wird die europäische Währung kann auf die Welt- wirtschaftliche Integra- devisenmärkte stabilisierender wirken,

tion Europas nicht zu F. APESTEGUY / als die D-Mark es allein vermag. Und wir Ende geführt, kommen Euro-Partner Kohl, Chirac werden in Europa einen beachtlichen In- wir auch bei der politi- „Jeder sollte dabeisein, jeder ist erwünscht“ novationsschub bekommen, der insbe- schen Integration nicht sondere uns in Deutschland helfen wird. weiter. Der verstorbene frühere französi- anderen müssen dann schauen, wie sie SPIEGEL: Das Paradies, das Sie da be- sche Präsident Franc¸ois Mitterrand hat nachkommen. schreiben, entsteht indes nur, wenn viele gesagt: Europa, das ist der Frieden, und Schäuble: Wir haben immer das Bild mitmachen. Das wird kaum der Fall sein. Nationalismus ist der Krieg. Wir könnten des Magnetfelds gebraucht: Der Kern Schäuble: Ich darf daran erinnern, daß in die alten Auseinandersetzungen zu- zieht an und stößt nicht ab. Die sechs, Europa einmal mit sechs Teilnehmern rückfallen. Und dann istesinder Tat eine die mit der europäischen Einigung an- angefangen hat. Inzwischen ist daraus et- Frage von Krieg und Frieden im nächsten fingen, haben die anderen nicht abge- was Großes geworden. Man kann doch Jahrhundert. Wir müssen verhindern, stoßen, sondern sie angezogen. Wir nicht sagen: Wir machen erst etwas, wenn daß die Fehler wiederholt werden, die in schließen keinen aus. Jeder sollte dabei- sich alle einig sind. Dann kommen wirnie diesem Jahrhundert zu riesigen Katastro- sein, jeder ist erwünscht. Wer heute voran. Es wird einen mühseligen Prozeß phen geführt haben. noch nicht kann oder mag, der soll mor- geben. Und wenn am Schluß das Ziel SPIEGEL: Das klingt melodramatisch. gen dazukommen. nicht ganz erreicht wird, geht die Welt Schäuble: Ich begründe die Sorge, auf SPIEGEL: Wen sehen Sie denn 1999 mit nicht unter. die Sie sich berufen haben. von der Partie? SPIEGEL: Wäre das Ende des Euro auch SPIEGEL: Gleichwohl bleibt, daß sich die Schäuble: Wir haben immer gesagt: Oh- das Ende der Kanzlerschaft Helmut Stimmen in Europa mehren, die ein Ver- ne Frankreich geht es nicht. Aber Kohls? schieben der Währungsunion für wahr- Frankreich und Deutschland sind nicht Schäuble: Den Zusammenhang sehe ich scheinlich, wenn nicht sogar für notwen- Europa, es werden also noch ein paar nicht. Im übrigen darf und wird die Euro- dig halten. andere mit dabeisein müssen. Schön wä- päische Währungsunion nicht scheitern. Schäuble: Ich will das gar nicht bestrei- re es, wenn auch Großbritannien mit- SPIEGEL: Herr Schäuble, wir danken Ih- ten. Die Diskussion wird sich noch zu- machen könnte. nen für dieses Gespräch.

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Türken „Der Islam ist der Weg“ Islamische Fundamentalisten unterwandern die Türken in Deutschland. Gefolgsleute der radikalen türkischen Refah-Partei haben in der Bundesrepublik ein Netz von Vereinen und Firmen aufgebaut. Die Fanatiker, die Haß gegen Juden und gegen die westliche Gesellschaft propagieren, ziehen vor allem Jugendliche in ihren Bann. M. YILMAZ / PAPARAZZI Mevlana-Moschee in Berlin-Kreuzberg*: Religion als Transportmittel für politischen Fanatismus

n Diskotheken ist der Student Yunus Allein im vergangenen Jahr erhöhte sich Mit Flugblättern werben die IGMG- C¸ elikoglu, 24, nicht zu locken. „Ich die Zahl der Milli-Görüs¸-Mitglieder Gläubigen für eine „Islam-Woche“ und Iweiß, was da los ist“, sagt er voller nach Erkenntnissen des Verfassungs- sammeln moslemische Kommilitonen Verachtung über das „niedrige Niveau schutzes um 6000 auf 26 000. in einer islamischen Studentenvereini- und die Dekadenz dort“. Noch hält sich die Mehrheit der rund gung. Der Türke lebt seit seinem elften Le- zwei Millionen türkischen Staatsbürger Die Milli-Görüs¸-Anhänger organisie- bensjahr in Berlin und spricht perfekt in Deutschland von den Fanatikern ren in eigenen Jugendzentren, etwa in Deutsch. In Bluejeans und Jeanshemd fern. Doch die Aktivisten der IGMG, den Berliner Bezirken Wedding und wirkt C¸ elikoglu, als sei er gesellschaft- neben der staatlichen „Türkisch-Islami- Kreuzberg, Nachhilfeunterricht, Fuß- lich in der Bundesrepublik zu Hause. schen Union der Anstalt für Religion“ ballspiele sowie Islam- und Computer- Doch der Eindruck trügt. Der smarte die größte moslemische Organisation in kurse. „Wir bringen Kinder von der Student der Wirtschaftswissenschaften Deutschland, beeinflussen in der Bun- Straße weg“, sagt C¸ elikoglu stolz. Sein ist Anhänger des türkischen Islamisten- desrepublik bereits mehrere hundert- Freund Vedat C¸ evik, 23, schwärmt, der führers Necmettin Erbakan, dessen tausend Menschen. Islam sei „ein Ziel, das das Leben le- Refah-Partei bei den türkischen Parla- Rund 20 Prozent der Türken in benswert macht“. mentswahlen vor acht Wochen mit 21,3 Deutschland, schätzt der türkischstäm- Mit einer Vielzahl von eigenen Ein- Prozent der Stimmen stärkste Fraktion mige Bundestagsabgeordnete Cem Öz- kaufsläden, Sport- und Kulturvereinen wurde. C¸ elikoglu hat sich der Islami- demir von Bündnis 90/Grüne, sympathi- sowie Teestuben haben sich die türki- schen Gemeinschaft Milli Görüs¸ sieren mit den Islamisten – ähnlich wie schen Islamisten in Deutschland eine (IGMG) angeschlossen, dem radikalen im Mutterland. Sollte die Lage in der moslemische Parallelgesellschaft ge- Ableger der Refah-Partei in Deutsch- Türkei eskalieren und das Militär gegen schaffen. Der Anspruch: sich nicht in land. „Milli Görüs¸“ bedeutet „Nationale die Islamisten vorgehen, fürchten Ver- die westliche Gesellschaft einbinden zu Weltsicht“ und steht für eine Mischung fassungsschützer gewalttätige Auseinan- lassen, sondern eine eigenständige aus islamischem Extremismus und türki- dersetzungen auch in Deutschland. Gruppe zu bleiben, die nach den Regeln schem Nationalismus. Gemeinsam mit Mitkämpfern aus der des Propheten lebt. Die straff organisierte Truppe hat in Milli-Görüs¸-Jugend bemüht sich C¸ eliko- Die gestrengen Moslems träumen von Deutschland rasch wachsenden Einfluß. glu, türkische Jugendliche von den teuf- einem Staat, in dem die in ihren Grund- lischen Verlockungen der säkularen lagen fast 1400 Jahre alte Scharia, die * Freitagsgebet mit Imam Yakup Tas¸c¸i. deutschen Gesellschaft fernzuhalten. islamische Rechtsordnung, gilt. Nach

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Scharia-Regeln kann Dieben eine Hand abgehackt, können Ehebrecherinnen gesteinigt werden. Dafür kämpft auch C¸ elikoglu: „Wer gläubig ist, muß auch das Abhacken der Hände akzeptieren.“ Viele ihrer Anhänger rekrutieren die Fundamentalisten aus dem wachsenden türkischen Arbeitslosenheer in Deutsch- land. Seit Jahren schon steigt die Ar- beitslosigkeit unter Ausländern über- proportional an. Waren 1980 rund 5 Prozent der in der Bundesrepublik le- benden Ausländer erwerbslos, hatten 1994 schon 16 Prozent keinen Job. Milli Görüs¸ gibt ihren Anhängern, den Verelendeten ebenso wie den Er- folgreichen, das Gefühl, zu einer Elite zu gehören. „Der Islam“, doziert C¸ evik, „legt sehr viel Wert auf Erziehung.“ Ein pädagogisches Zentrum ist die Mevlana-Moschee** am Cottbuser Tor in Kreuzberg. Dort helfen die Moslems ihren Glaubensbrüdern beim Lohnsteu- erjahresausgleich, beim Schriftwechsel mit Behörden und beim Umgang mit Versicherungsvertretern. Zum wöchentlichen Freitagsgebet versammeln sich Hunderte türkischer Männer in dem Gebetshaus. Dicht ge- drängt hocken Jungs in Lederjacken und mit Baseballmützen einträchtig neben alten Männern in abgetragenen Mänteln und traditioneller weißer Kopfbedek- kung. Zu Beginn seiner Predigt spricht Imam Yakup Tas¸c¸i, 50, mehr über die Parteienlandschaft in der Türkei als über Glaubensfragen. Der Vorbeter mit weißem Turban,

der seit 25 Jahren in Berlin lebt, hat SIPA-PRESS neun Jahre lang in einem Haushaltsge- Anhänger der Refah-Partei*: „Vision einer geläuterten Gesellschaft“ rätewerk Waschmaschinen montiert. Jetzt sorgt er sich vor allem um geistige hätten „Angst und zittern vor den Vor- schimpft der arbeitslose Kurde Oktay, Hygiene. Religion dient in den Milli- bereitungen zum großen Heiligen 21. Mit erhobenem Zeigefinger entlarvt Görüs¸-Moscheen als Transportmittel für Krieg“. Doch diese Angst rette sie der Malergeselle Halim Özkal, 22, das politischen Fanatismus. „nicht vor dem Tode“. Zentrum des Bösen: „Die Oberzionisten Mit geschickten Spitzen („Wir legen Nach dem Mordanschlag auf den is- sitzen in New York und geben Befehle noch Wert auf Kinder statt auf Hunde raelischen Ministerpräsidenten Rabin für die Politik auf der ganzen Welt.“ und Katzen wie die Deutschen“) schürt höhnte die Milli Gazete, der „extremisti- Bei der Eröffnung einer Moschee in der Imam Ressentiments seiner Zuhö- sche Führer des Zionismus, Rabin“, sei Mannheim, der bislang größten in rer. Andächtig lauschen die Gläubigen „von einer Person seiner eigenen Rasse Deutschland, verkauften Türken an ei- auch grobem Unfug: „Deutsche Frauen, getötet“ worden. Nun habe er eine nem Buchstand Hitlers „Mein Kampf“ in die Schweinefleisch essen, vernachlässi- „prächtige Beerdigungsfeier“ erhalten. türkischer Übersetzung. Das Gebets- gen ihre Säuglinge und Wenn das Gespräch haus selbst wurde zu einem wesentlichen gehen in die Disko. Das auf Juden kommt, geht Teil von der rechtsradikalen Gruppe würde eine gläubige Mos- es in der Teestube „Graue Wölfe“ finanziert. lemin nie tun.“ des Mevlana-Jugend- und Auch immer mehr Türkinnen suchen Alsdann wettert der Kulturvereins in Berlin- Aufnahme in der islamischen Subgesell- Prediger gegen die Juden, Kreuzberg zu wie auf schaft. Hin- und hergerissen zwischen die Hauptfeinde der Milli einem Kameradschafts- der westlichen und der traditionellen Görüs¸, und den jüdischen abend von Rechtsradika- Kultur, suchen sie Anschluß an schein- „Einfluß in den Massen- len. „Die Juden beuten bar selbstbestimmte Gruppen ohne medien“. Auch das Glau- die ganze Welt aus“, männliche Akteure. Doch was wie eine bensblatt Milli Gazete, islamische Variante des Feminismus aus- tägliche Auflage rund sieht, basiert auf der Einordnung in die * Auf einer Kundgebung in der 10 000 Exemplare, be- Türkei. von Männern beherrschte Bewegung der schimpft Juden als „im ** Benannt nach dem islami- „Nationalen Weltsicht“, in der die männ- heiligen Koran verfluchte schen Mystiker Mevlana Dscha- lichen Helden und der Führer im Mittel- Nation“, bezeichnet Isra- lal-el-Din Rumi, dessen Der- punkt stehen. wisch-Bruderschaft großen Ein-

el als „Terrorstaat“. Die M. YILMAZ / PAPARAZZI fluß im Osmanischen Reich hat- Wie sich Jugendliche unter dem Ein- Juden, tönt das Blatt, Student C¸elikoglu te. fluß der Islamisten verändern, erlebt der

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Sportler vom Fußballverein Hilal Spor (in Berlin), türkische Schülerinnen*: Suche nach eigenen Werten

Kölner Hauptschullehrer Reinhard Meral etwa sieht seit ihrer Koran- („Eine islamische Reise“) das Ziel der Hocker täglich. Die Schülerin Meral, schulung im Islam eine „Suche vieler Islamisten beschreibt, wirkt um so an- jetzt 17, kam 1991 aus der Türkei zu Türken nach eigenen Werten“. Ähn- ziehender, je mehr die Hoffnung auf so- ihren am Rhein lebenden Eltern. lich empfindet es Abdullah Bektas¸, 21, ziale Integration und beruflichen Auf- Das Mädchen war im Unterricht zu- aus Dortmund, Industriemechaniker stieg schwindet. 30 Prozent der im Dort- nächst sehr aufgeschlossen und beteilig- und seit seinem vierten Lebensjahr in munder Norden lebenden Türken sind te sich. Deutschland: „Milli Görüs¸ hilft den nach der Schließung des Hoesch-Stahl- Doch schon bald erschien Meral mit Türken, ihre Wurzeln zu bewahren.“ werkes arbeitslos, rund 90 Prozent von einem streng gebundenen Kopftuch in Der Dortmunder Norden, ein trost- ihnen sind nicht vermittelbar. der Schule und verweigerte den gemein- loses Altbauviertel zwischen dem Bor- Falk Meinert, Pädagoge in der Dort- samen Sportunterricht mit Jungen. Häu- sigplatz und dem Bahnhofsgebiet, ist munder Regionalen Arbeitsstelle zur fig antwortete sie dem Lehrer nur noch eine Hochburg der Islamisten. In Tee- Förderung von Kindern und Jugendli- mit vorgestanzten Parolen wie: „Der Is- stuben, Moscheen und Vereinslokalen chen, weiß: „Der Trend der Integration lam ist der einzig richtige Weg.“ des überwiegend von Türken bewohn- geht rückwärts.“ Meral hatte sich Milli Görüs¸ ange- ten Viertels geben die Refah-Fans den Der türkische Privatsender Kanal 7 schlossen und besuchte im Sommer 1994 Ton an. etwa, im Eigentum von Refah-Anhän- einen mehrwöchigen Schulungskurs in Die „Vision einer geläuterten und gern, sendet via Satellit eine Mischung einem islamistischen Mädchenheim in gesäuberten Gesellschaft, einer Gesell- aus professioneller Unterhaltung und Bergkamen. Dort lernte sie in den Som- schaft der Gläubigen“, wie der westin- harter Propaganda in Hunderttausende merferien täglich acht Stunden lang dische Schriftsteller V. S. Naipaul Haushalte in Deutschland. Wenn Koransuren, Lektionen über das Os- Refah-Chef Erbakan auf dem Bild- manische Reich, das historische Vor- schirm erscheint, verstummen in den bild der Islamisten, und die Refah-Ideo- mit Satellitenempfängern ausgerüsteten logie. Teestuben zwischen Berlin-Kreuzberg Zur Bereitschaft, extremen Islam-In- und Dortmund häufig die Gespräche. terpretationen zu folgen, tragen auch Mit Sorge beobachtet Meinert einen die in vielen Städten gegründeten Ko- „Rückzug vieler türkischer Jugendlicher ranschulen bei. Die privaten Schulen aus gemischten deutsch-türkischen Ver- lehren Jungen und Mädchen die heilige einen“. Das bestätigt auch der Bielefel- Schrift samt der ideologisch verbrämten der Jugendforscher Wilhelm Heitmeyer. Korandeutung durch Islamisten. Eine bislang unveröffentlichte Studie Den Veranstaltern der Koranschulen, aus seinem Institut kommt nach um- darunter Milli Görüs¸ und die „Grauen fangreichen Befragungen zu dem Ergeb- Wölfe“, wird das Handwerk dadurch er- nis, daß der Einfluß der Islamisten auf leichtert, daß es in deutschen Schulen türkische Jugendliche in Deutschland keinen geregelten Koranunterricht gibt. alarmierend gewachsen sei. „Ein vernünftiger Religionsunterricht Mit Parolen wie „Wir sind der Schild, für Moslems“, glaubt etwa der türkisch- der gegen Assimilation schützt“ ziehen stämmige Hamburger SPD-Politiker Islamisten Jugendliche in von ihnen Hakki Keskin, „könnte dazu beitragen, kontrollierte Sportvereine, etwa den den Extremisten das Wasser abzugra- Fußballverein Hilal Spor in Berlin- ben.“ Kreuzberg. Der 200 Mitglieder starke

FOTOS: M. YILMAZ / PAPARAZZI Klub, der den neunten Platz in der Ber- * In der Islamischen Grundschule in Berlin-Kreuz- Milli-Görüs¸-Helfer Schülzke liner Landesliga belegt, wird von dem berg. Millionen aus dem SED-Vermögen Milli-Görüs¸-Mann Hasan Aydin, 34, ge-

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führt. Mit politischen Parolen halten die Hälfte im Rentenalter. Und die Fi- sich die Islamisten bei der Vereinsar- Parteien nanzlage ist finster. beit zurück – sie setzen auf die Binde- Doch der stählerne Kern wankt nicht. kraft des Milieus. Flügelkämpfe, die Ende der achtziger Viele Türken empfinden sich nach Jahre die Partei an den Rand des Ruins jahrelangem Aufenthalt in Deutschland Roter trieben, sind längst überwunden. Mit „als Menschen zweiter Klasse“, sagt dem Kampfblatt UZ (Auflage: 10 000) Faruk S¸en, Direktor des Zentrums für geht es sogar aufwärts. Das Organ soll Türkeistudien in Essen. Seit den Steuermann vom Juli an wieder wöchentlich statt bloß Mordtaten von Mölln und Solingen so- alle 14 Tage erscheinen. wie den Brandanschlägen kurdischer In Dortmund tagte der harte Kern In Dortmund sucht das Fähnlein der Extremisten gegen türkische Einrich- der DKP. Die deutsche Nachhut der Getreuen, was der einstigen Avantgarde tungen fühlten sie sich „allein gelas- der Arbeiterklasse derzeit am meisten sen“. „Das Islamische“, analysiert der Weltrevolution träumt von einem fehlt: Halt und Geborgenheit. Die grau- Wissenschaftler, „ist hierzulande auch „neuen sozialistischen Anlauf“. haarige Delegierte Karin, seit 1968 in der eine Protestbewegung gegen Fremden- Partei, bittet um eine „verbindliche feindlichkeit“. Orientierung“, und ein Abgesandter aus Mit Hilfe von Unternehmen ihrer hythmisches Klatschen von 238 Karlsruhe mahnt die Oberen, „die Auf- Anhänger und durch Spenden gelang Delegierten empfängt im Revier- gaben der Kampfetappe exakter zu fas- es Milli Görüs¸, rund 100 Immobilien Rpark Wischlingen im Dortmun- sen“. Die bieten als Antwort Kommunis- im Wert von 82 Millionen Mark in der der Westen den verzückt lächelnden mus pur. Das politische Methadon-Pro- Bundesrepublik und den Benelux-Län- Altkommunisten Kurt Bachmann, gramm von PDS-Vormann Gregor Gysi dern zu erwerben. Wissenschaftler des 86. Als ein Delegierter dem früheren für Langzeitabhängige des Marxismus- Zentrums für Türkeistudien in Essen schätzen, daß etwa ein Sechstel der türkischen Lebensmittelgeschäfte in Deutschland Anhängern von Milli Gö- rüs¸ gehören, Tendenz steigend. Auch Deutsche suchen schon Anschluß an die Islamisten. Als deutscher Hilfswilliger der Milli Görüs¸ profiliert sich der pensionierte Postbeamte Werner „Jahja“ Schülzke, 65. Schülzke, seit 31 Jahren Moslem, ist Vizepräsident der Islamischen Föde- ration Berlin – und ein Mann für au- ßergewöhnliche Maßnahmen. Derzeit versucht er, 37,5 Millionen Mark aus SED-Geldern für die von ihm geführte „Islamische Religionsgemeinschaft“ zu sichern, die Milli Görüs¸ nahestehen soll. Die Gruppe war im Februar 1990 in Ost-Berlin von dem palästinen- sischen Geschäftsmann und damali- gen Arafat-Vertrauten Abdel Majid Younes gegründet worden. Younes, laut Stasi-Dokumenten in

Waffengeschäfte mit dem Nahen Osten M. TRIPP verwickelt, erhielt Ende Mai 1990 für DKP-Parteitag in Dortmund: Grüße vom toten Erich seine Glaubensgemeinschaft vom PDS- Präsidium 75 Millionen DDR-Mark Chef der DKP mit einer roten Fahne zu- Leninismus hat bei den DKP-Chefs kei- aus dem SED-Vermögen als Spende. winkt, werden die Augen des Genossen ne Chance. „Wir sind die revolutionäre Schülzke, der Younes im Juli 1990 feucht. Partei der Arbeiterklasse und nicht ir- kennengelernt haben will, löste ihn im In dem Revierpark, wo normalerweise gendein linker Haufen“, tönt Vorständ- September 1991 als Vorsitzenden ab. Werktätige aus dem Ruhrgebiet bei Was- ler Hans-Peter Brenner trotzig. Jetzt will er die Spende nutzen, die sergymnastik und Muskeltraining Kraft Soviel Härte imponiert immer mehr von der Treuhand als „Sondervermö- für den Alltag im Kapitalismus sammeln, alten Kämpfern im Osten: Seit der Wen- gen“ eingefroren wurde. tagt am ersten Februarwochenende die de gewann die DKP dort 200 neue Mit- Nach einem, allerdings noch nicht deutsche Nachhut der Weltrevolution. glieder. Etwa den früheren Vize des rechtskräftigen, Urteil des Verwal- Die hat den Fallder BerlinerMauereben- SED-Zentralorgans Neues Deutschland tungsgerichts Berlin vom Mai 1994 so überstanden wie den Untergang der (ND), Klaus Steiniger. Das ND, wettert dürfen Schülzke und seine islamischen Sowjetunion, als wollte sie posthum Le- Steiniger, sei „inzwischen auf linksbür- Brüder das Geld der Atheisten-Partei nin recht geben, der nach 1917 vor allem gerliche Positionen übergegangen“, die – nach der Währungsunion noch 37,5 auf die Deutschen gesetzt hatte. PDS-Spitze habe „ideologisch die weiße Millionen Mark – für den Aufbau ei- Zwar hapert es an Geld und Genossen, Fahne gehißt“. Der frühere SED-Agita- nes Islamischen Zentrums erhalten. seit die Arbeiter-und-Bauern-Groschen tor kämpft nun in der DKP dafür, „daß Begründung der Richter: Der islami- aus der DDR nicht mehr fließen – im die von uns gehütete und geschützte sche Verein sei „keine mit der PDS Wendejahr 1989 immerhin 68 Millionen Flamme des Kommunismus morgen verbundene juristische Person oder Or- Westmark. Die Mitgliederzahl sank von wieder heller und stärker scheint“. Wei- ganisation“. 42 000 anno 1977 auf 6121, davon rund tere Lichtträger aus dem Gestern sind

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Centrum zu Hamburg gemein- sam mit dem Abgesandten der sowjetischen Bruderpartei Bo- ris Jelzin aufgetreten ist. Jelzin, so Krenz hämisch, habe damals verkündet, die „gerechte Sa- che“ der Kommunisten werde auch in der Bundesrepublik „unumgänglich siegen“. Nicht alle haben die Hoff- nung inzwischen aufgegeben: Immerhin 32 Bruderparteien – von der KP Kubas bis zur nord- koreanischen Partei der Arbeit – sind in Dortmund mit Delega- tionen vertreten. Li Jong Pil aus Pjöngjang, der in den fünfziger Jahren an der Uni Rostock studiert hat, ana- lysiert mit ernstem Blick, woran die deutschen Genossen ge- scheitert sind: „Die SED ist zu dogmatisch der KPdSU ge- folgt.“ Der Zusammenbruch der DDR, da ist sich der Nordko- reaner sicher, hätte vermieden werden können, wenn die SED den Anregungen des großen Führers Kim Il Sung gefolgt wä-

C. JUNGEBLOOT re: „Wir haben den Genossen DKP-Demonstranten in Berlin* der DDR oft Vorschläge für die „Ideologisch reiner Kristall“ ideologische Arbeit gemacht, aber sie wollten nicht hören.“ Kurt Hager, 83, einst im SED-Politbüro Damit der DKP soetwasnicht passiert, für die Regime-Kultur zuständig, sowie verteilt der koreanische Genosse hellgrü- Karl-Eduard von Schnitzler, Chefkom- ne Heftchen. In denenverrätKim Jong Il, mentator des DDR-Fernsehens („Der Sohn und Nachfolger Kim Il Sungs, auf schwarze Kanal“), beide sind letztes Jahr deutsch den DKPlern die goldene For- zur DKP übergetreten. mel: Ihre Partei müsse „zu einem ideolo- Ideologisch vereinnahmt haben die gisch reinen Kristall“ und zu einer „Partei DKP-Kommunisten zudem den promi- des Führers“ werden. nentesten Einheitssozialisten. Genosse Die Inspiration scheint gewirkt zu ha- Brenner verliest eine Grußbotschaft des ben: Mitmehr als90Prozentder Stimmen vorletzten SED-Chefs Erich Honecker wählen die Delegierten den Schiffsinge- aus dem chilenischen Exil, datiert von nieur Heinz Stehr, 49,zumVorsitzenden. 1993. Der rote Steuermann stammt aus einer Der Tradition des 1994 verschiedenen kommunistischen Familie im schleswig- Generalsekretärs fühlen sich auch junge holsteinischen Pinneberg. Kämpfer verpflichtet. Die Parteitagsde- Nach seiner Wahl verabschiedet der legierte Tanja Dömbecher, 17, kommt Parteitag ein zwölfseitiges „Aktionspro- aus dem saarländischen Wiebelskirchen, gramm“ für einen „neuen sozialistischen wo der junge Erich einst in einer Schal- Anlauf in Deutschland“, von der An- meienkapelle mitspielte. Die Eloge auf tragskommission gepriesen als „das beste den „aktiven Kommunisten und Antifa- Dokument dieser Art, das es in diesem schisten“ Honecker leiert die Saarlände- Lande gibt“. rin so brav herunter wie einst die Jungen Eine Verbündete hat Stehr bereits ge- Pioniere in der DDR. wonnen. Ellen Brombacher, 48, von der Leibhaftig zugegen ist Honeckers Kommunistischen Plattform der PDS, ei- Nachfolger Egon Krenz, wenn auch nur ner Art ständige Vertretung der DKP in als parteiloser Gast. Grinsend schüttelt der Gysi-Partei, übt auf dem Parteitag der letzte Staatsratsvorsitzende der DDR den Schulterschluß. viele Hände. Für die Einladung bedankt „Wir werden uns nicht auf das Niveau er sich artig: „Ich habe die Solidarität die- der Bourgeoisie begeben“, schwört ser Partei erhalten.“ Brombacher unter begeistertem Beifall Krenz erinnert daran, daß er 1986 auf dem strahlenden Stehr. Und sie ver- dem DKP-Parteitag im noblen Congress spricht: „Beim Prinzip der Weltanschau- ung werden wir bleiben, obwohl es beim * Am 18. August 1994 zum 50. Jahrestag der Er- ersten Versuch nicht so recht geklappt mordung des KPD-Führers Ernst Thälmann. hat.“ Y

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Prozesse „Habe mich in Sie getäuscht“ Gisela Friedrichsen über falsche Geständnisse und den „Serientäter“ Thomas Rung

in Strafverfahren, das zur Zeit in freien Fuß. Fünf Monate später über- Hella Klinner, 59, die in einem Abriß- Berlin-Moabit vor der 36. Großen fällt er erneut eine Frau, eine 43jährige. haus in Berlin-Mitte wohnt, und er- EStrafkammer verhandelt wird, Zu einer Vergewaltigung kommt es tränkt sie danach in der Badewanne. könnte Geschichte machen. Es wird sich nicht, weil die Polizei rechtzeitig am Nun folgen einige mehr oder weniger einreihen lassen in die Sammlungen je- Tatort ist. Er wird wegen schwerer Kör- ruhige Jahre, in denen er mit einer Frau ner berühmten Fälle, die Fehler und perverletzung zu einem Jahr Freiheits- zusammenlebt und Vater eines Sohnes Schwächen der Strafverfolgung vorfüh- strafe verurteilt, von dem er acht Mona- wird – bis er am 25. Februar 1995 den ren. te absitzt. Im August 1990 ist er wieder Sohn seiner Stiefmutter, Eckhard Trut- Vor Gericht steht seit dem 30. Januar frei. ti, 53, bis zur Bewußtlosigkeit würgt und 1996 der 35 Jahre alte Malerfachhelfer In den letzten August- oder den er- in der Badewanne ertränkt. Thomas Rung, der sechsmal gemordet sten Septembertagen kommt es bereits Der letzten Tat, drei Tage später, fiel und vergewaltigt haben soll; in einem zur nächsten Tötung. Er vergewaltigt eine Freundin von Rungs Lebensgefähr- weiteren Fall wird ihm Raub mit Todes- folge vorgeworfen. Die erste Tat, so ge- stand Rung, habe er in Berlin am 13. Ein Justizskandal Oktober 1983 begangen, als er seine Vermieterin Melanie Scharnow, 77, in ist es nicht, daß Michael Mager deren Wohnung erwürgte und um 80 1984 als Mörder verurteilt wurde. Mark beraubte. Viel schlimmer: Fehler, wie sie im In rascher Folge mußten damals drei Justizbetrieb täglich vorkommen, weitere Menschen ihr Leben lassen: am haben zu seiner Verurteilung ge- 24. November die 22jährige Pfarrers- führt. Beigetragen hat auch der tochter Susanne Matthes, die auf einem wohlmeinende Versuch, einem Spielplatz in Neukölln vergewaltigt und schwachen, wehrlosen Mann ein mit Tritten und Schlägen zu Tode miß- Geständnis zu erleichtern. Daß Ma- handelt wurde; in der Nacht zum 1. De- ger unschuldig ist, kam erst heraus, zember die verwirrte und hilflose Frieda als sich 11 Jahre nach dem Urteil Krämer, 85, überfallen und ausgeraubt, ein anderer zu der Tat bekannte: die Rung, wie er sagt, auf einem Lager- Thomas Rung. Er gestand sechs platz zwischen Bretterhaufen liegenließ, Morde und Vergewaltigungen und wo sie erfror; am 24. Dezember die einen Raub mit Todesfolge. 62jährige Putzfrau Josefine Grosser, die Vermieterin Scharnow, Angeklagter Rung: Rung laut seinem Geständnis frühmor- gens um halb fünf am Neuköllner Schiff- fahrtskanal vergewaltigte, schlug, würg- te und, „um die Sache sicher zu ma- chen“, ertränkte. Zwei Stunden nach dieser Tat, auch das gestand er, überfiel er an jenem 24. Dezember 1983 eine Frau, als sie gerade ihren Zeitungsladen öffnete. Er riß ihre Kleider vom Leib, versuchte sie zu ver- gewaltigen und zu würgen. Da er jedoch durch einen Kunden gestört wurde, ließ er von dem laut schreienden Opfer ab. Ein halbes Jahr später, am 14. Juni 1984, fiel er nachts über eine 23jährige her, die eine Autopanne hatte. Erst half er ihr beim Schieben, dann vergewaltig- te er sie. Warum durfte sie am Leben bleiben? Er habe es von hinten ge- macht, sagt er, daher habe ihn die Frau nicht anschauen können; sie hätte ihn nicht wiedererkannt. Wegen Vergewaltigung dieser Frau sowie einer 17jährigen, die im Jahr zu- vor sein Opfer geworden war, wurde

Rung 1985 zu vier Jahren Haft verur- J. RÖTZSCH / OSTKREUZ / STERN teilt. Im August 1989 kam er wieder auf Als Mörder verurteilter Mager: „Ein schwacher, unsicherer und unbeholfener Mensch“

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tin, Gabriela Proppe, 34, zum Opfer, gangen hatte: der heute 33 Jahre alte vergewaltigt und erwürgt in ihrer Woh- Michael Mager. nung. In diesem Fall zündete Rung Zwar ließen sich, wie der strenge, ge- überdies die Wohnung an, um, wie er fürchtete Jugendrichter Falge damals sagt, Spuren zu vertuschen. sagte, „Reihenfolge und Ablauf der Ge- Der Fall des Thomas Rung wird walthandlungen im einzelnen nicht nicht Geschichte machen wegen der mehr vollständig feststellen“. Doch Zahl seiner Opfer, obschon er allent- Zweifel plagten das Gericht nicht: halben „Massenmörder“ (dieses Wort „Nach Überzeugung der Kammer hat sollte seit dem Dritten Reich überleg- der Angeklagte sich nicht fälschlich die- ter verwendet werden) genannt wird. ser Tat bezichtigt, da hierfür keine An- Auch die Frage, weshalb Rung tötete, haltspunkte ersichtlich sind.“ Dafür, wird nicht das Thema sein. Ein Thema daß Mager in der Hauptverhandlung wird vielmehr sein müssen: Wie konn- sein Geständnis nicht wiederholt hatte, te es zu einer „Serie“ kommen, vier war das Urteil milde. tote Frauen in drei Monaten, warum Der Pflichtverteidiger Magers zog im wurde kein Zusammenhang erkannt? Mai 1984 einen Antrag auf Revision zu- Hat man die Möglichkeit nicht ins rück. So saß der Verurteilte, inklusive Auge gefaßt, daß, bei aller Unter- der U-Haft, sechs Jahre im Gefängnis. schiedlichkeit der Opfer, spezifische Am 15. Dezember 1989 wurde er entlas- Merkmale in der Tatausführung, die sen. Ein Justizskandal? sogenannte Handschrift eines Täters, Mager kannte, wie Rung, Frau Schar- zu finden sein könnten? In den Verei- now; auch er hatte in ihrem Haus in Neukölln gewohnt. Auch er hatte Miet- schulden bei ihr. Die Polizei fand in der Wohnung der Getöteten einen Brief an Mager: „Ich fordere Sie auf die Miete für den Monat August zu bezahlen . . . und das geliehene Geld . . . wenn Sie nicht können zahlen geben Sie sofort die Wohnungsschlüßel ab. Ich habe mich in Sie getäuscht. Hochachtungsvoll Frau Scharnow.“ Bei der ersten Vernehmung sagt Ma- ger noch, er sei am 13. Oktober 1983 ge- gen 18 Uhr in das Haus gegangen und habe zweimal bei Frau Scharnow geklin- gelt, weil er versuchen wollte, von ihr noch einmal ein paar Mark zu borgen. Aber es habe niemand geöffnet. Tags darauf wurde er auf der Straße

STERN festgenommen, nachdem zwei Personen In ihrer Wohnung erwürgt und beraubt aus der Nachbarschaft mit vagen und wirren Angaben Verdacht auf Mager nigten Staaten werden Tat- und Täter- lenkten. Gegenüber der Polizei gab er profile herausgearbeitet, die zuneh- dann sofort zu, die Wohnung der Frau mend verhindern helfen, daß Serientä- Scharnow betreten zu haben. ter immer noch mehr Taten bege- Während der Vernehmungen als Be- hen. schuldigter ließ sich Mager immer wei- Als sich die österreichische Polizei ter in ein Geständnis hineinführen. Un- von amerikanischen Spezialisten bera- merklich geriet er immer mehr ins Ge- ten ließ, kam sie dem neunfachen Frau- stehen, bereitwillig und gefügig. Es ist enmörder Jack Unterweger auf die niemandem der Vorwurf zu machen, Spur. In der Schweiz hörte die schreckli- daß brutaler Druck ausgeübt, daß ein che Serie von Kindesmorden zwischen Geständnis erpreßt wurde (es gab kein 1980 und 1989 auf, als Werner Ferrari, 20-Stunden-Verhör). Im Gegenteil: Die 49, endlich gefaßt werden konnte. Beamten, wie später auch die Richter, Oberflächlich schienen die einzelnen bemühten sich offensichtlich um Entge- Fälle, die Panik auslösten, nicht zusam- genkommen. Man ging freundlich um menzuhängen. Erst eine genaue Analy- mit Mager, man half ihm, sich mit einem se führte zu einem Täter. Geständnis zu erleichtern. Nein, der Fall Rung wird in die Ge- Es ergaben sich zwar Widersprüche – schichte berühmter Fälle eingehen, weil Mager hielt sich zum Beispiel nachweis- nach nur zwei Tagen Hauptverhandlung lich über die Mittagszeit des 13. Okto- vor der 18. Großen Strafkammer des ber auf einer Sozialstation auf, um Geld Landgerichts Berlin am 14. März 1984 abzuholen. Bei der Polizei wiederum ein Mann wegen Mordes an Melanie sagte er einmal, um diese Zeit habe er Scharnow zu einer Jugendstrafe von mit dem bei Frau Scharnow angeblich acht Jahren verurteilt worden war, der erbeuteten Geld einen Imbiß besucht. diese Tat, wie jetzt feststeht, nicht be- Doch der Widerspruch wurde angesichts

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der Geständniswilligkeit Magers über- Rung ist entschlossen, wie er sagt, rei- gangen oder vergessen. nen Tisch zu machen. Er will sich selbst Der psychiatrische Sachverständige vom weiteren Töten abhalten. Vor Jah- Professor Detlef Cabanis stellte damals ren, wieder einmal vor Gericht, bestand zwar fest, daß der Angeklagte nur von er auf einer Begutachtung. „Ich wollte „schwacher Intelligenz“ (IQ 84) sei, daß wissen, was für ein Mensch ich bin. er sich als minderwertig empfinde, daß Warum ich so aggressiv bin.“ Es kam er „scheu und gehemmt“ im Umgang nicht viel heraus dabei, weil er zwar sei- mit Menschen sei. Doch die Suggestibi- ne Abhängigkeit vom Alkohol schilder- lität, die Wehrlosigkeit des Probanden te, die Tötungsdelikte aber verschwieg: erkannte er nicht. Er sah nicht, daß ein „Ich habe mich nicht getraut – die wären schwacher, unsicherer und unbeholfe- ja sonst umgefallen.“ ner Mensch wie Mager möglicherweise Jetzt wurde er von Professor Wilfried aus Angst spürbare Erwartungen zu er- Rasch begutachtet. Gegen ihn begehrt füllen trachtete; oder daß ihn das Ge- Rung auf: „Ich sehe mich nicht als fühl, einmal im Leben Aufmerksamkeit ,unsozial und gefühlskalt‘, wie der Herr auf sich ziehen zu können, verwirren Professor schreibt, auch wenn ich soviel und verleiten konnte. auf dem Gewissen habe.“ Die Morde Der Berliner Rechtsanwalt Rainer verfolgten ihn nach wie vor, sonst hätte Elfferding, 48, der für Mager im No- er nicht so rückhaltlos gestanden. vember 1995 erfolgreich die Wiederauf- Ein Vergleich der elenden Biogra- nahme des Verfahrens beantragte (dem phien Rungs und Magers zeigt bestür- Antrag hat sich danach auch die Staats- zende Parallelen. Rung, eines von sie- anwaltschaft ange- schlossen), schilt die Justiz nicht eines bösen Irrtums. Er schreibt in seinem Antrag: „Das sind Versäumnisse, wie sie in der Justiz täglich vorkommen können. Letztlich zeigt das Fehl- urteil gegen Herrn Ma- ger deshalb etwas viel Gefährlicheres auf als einen ,Justizskandal‘, nämlich die Risiken ei- nes ,normalen‘ Straf- verfahrens, in welchem wahrscheinlich kein Beteiligter bewußt und vorsätzlich falsch be- und geurteilt hat.“

Genau das ist der O. JANDKE / CARO-FOTOAGENTUR Grund dafür, daß der Wiederaufnahme-Verteidiger Elfferding Fall in die Sammlung Versäumnisse, wie sie täglich vorkommen können berühmter Strafverfah- ren gehört – als Mahnung und Erinne- ben Geschwistern, kann sich an seine rung, daß bei labilen, beeinflußbaren Be- Mutter nicht erinnern, da sie die Familie schuldigten besondere Sorgfalt bei der verließ, als er zwei war. „Ne Mutter als Prüfung eines leicht erzielten Geständ- solchet hab’ ich bis zum 12. Lebensjahr nisses aufzuwenden ist. nicht jekannt“, sagt er. Vom Vater hör- Mager hat nicht bösartig, um die Justiz te er nur: „Diese Drecksau, die hätte in die Irre zu führen, Falsches gesagt. Es euch alle verhungern lassen.“ Warum wird bei der Frage der Haftentschädigung ausgerechnet das eine von sieben ver- darüber zu sprechen sein, ob einem der- nachlässigten Geschwistern zum Täter art wehrlosen Menschen aufgebürdet wurde? werden darf, daß er sich kaum gewehrt Magers Mutter, von rasch aufeinan- hat und darum an seiner Verurteilung derfolgenden Geburten offenbar heillos mitschuldig sein soll. überfordert, wurde wegen Kindesver- Rung hat erst anläßlich seines umfang- nachlässigung 1964 (da war Michael reichen Geständnisses erfahren, daß ein noch nicht einmal zwei) zu zweieinhalb anderer wegen Tötung der Frau Schar- Jahren Zuchthaus verurteilt. Heimauf- now verurteilt worden war. Der Haupt- enthalte, saufende, prügelnde oder des- ermittler, der Kriminalbeamte Peter interessierte Väter, Geldnot, Arbeitslo- Böhm, beschrieb als Zeuge die Geständ- sigkeit – das Unglück ist immer das nis-Situation Rungs: „Drei Stunden lang gleiche. hat er nur vor sich hingestarrt. Dann sagte Warum aber wurde Michael Mager, er zu mir: ,Herr Böhm, ich bin kein das nicht weniger beschädigte Kind, Mensch, sondern ein Ungeheuer.‘“ zum Opfer? Y

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Werbeseite Agenten Geheimtinte im Schal Er war ein zäher Stasi-Spitzel: 30 Jahre lang soll ein Hamburger Be- amte und Politiker verpfiffen haben. Jetzt steht er vor Gericht.

olfgang Jaegers CDU-Karriere begann mit Lehrstunden in Par- Wteitaktik. Bei seinem Eintritt in den Hamburger Landesverband der Union im März 1974 erhielt der Neuling gleich einen ganzen Stapel Aufnahme- anträge. Die brauche er für seinen Be- kanntenkreis, so die Erklärung des Lan- desvorsitzenden. Jaeger solle sich rasch eine Hausmacht in der Partei sichern. Dabei wußte Jaeger längst, wie man Freunde und Verwandte ausnutzt, sie gar bespitzelt und verrät: Der angehen- de Christdemokrat, ergaben Ermittlun- gen der Hamburger Staatsanwaltschaft, arbeitete damals schon 14 Jahre für die Stasi. Auch sein Beitritt zur CDU sei in Ost-Berlin ausgeheckt worden. Die Mitgliedsbeiträge, 20 Mark im Monat, habe das Ministerium für Staatssicher- heit (MfS) gezahlt. Das Leben des heute 57jährigen als Inoffizieller Mitarbeiter mit dem Deck- namen „Günther“ liest sich in den Stasi- Akten als eine der bemerkenswertesten Karrieren in der Geschichte des MfS. 30 Jahre lang, so die Ermittlungen, hat Jaeger Unionspolitiker, Polizisten, Journalisten und Studenten ausge- horcht. Für maximal 4000 Mark Jahres- salär lieferte er laut Anklage Informa- tionen unter anderem über den jungen Volker Rühe, in den siebziger Jah- ren CDU-Bürgerschaftsabgeordneter in Hamburg und heute Verteidigungsmini- ster. Am Dienstag vergangener Woche be- gann Jaegers Prozeß vor dem Hambur- ger Oberlandesgericht. Der Vorwurf: geheimdienstliche Agententätigkeit in einem besonders schweren Fall; Höchststrafe: zehn Jahre Haft. Gleich am ersten Verhandlungstag gestand der einstige Hamburger CDU- Bezirksabgeordnete, jahrelang für den Staatssicherheitsdienst spioniert zu ha- ben. Seine geheime Karriere begann er laut Stasi-Akten 1959 als Student. In der Zeit des Kalten Krieges und des Mauerbaus lieferte die Quelle IM „Günther“ vor allem Informationen über republikflüchtige Studenten und deren fluchtwillige Freunde im Osten.

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Als etwa im Oktober 1962 ten sich zahlreiche korrupte Polizeibe- Studenten der West-Berliner amte von Kiezgrößen aus dem Rot- Technischen Universität einen lichtmilieu schmieren lassen. Tunnel in den Osten der Einer der internen Ermittler der Stadt gruben, verriet Jaeger Hamburger Kripo war seinerzeit Peter laut seinem Führungsoffizier Reichard, Cousin der Ehefrau Jaegers der Stasi, wie die geplante und ein enger Freund der Familie. Fluchthilfe finanziert wurde, „Wir haben viel und oft über die Vor- warum die studentischen Erd- würfe gegen die Polizei gesprochen“, arbeiter bis dahin unbemerkt erinnert sich Reichard, heute Publizist. geblieben waren (weil sie Schon im April 1975 hatte das MfS „spezielle Loren mit Gummi- seinen IM „Günther“ angewiesen, den rädern angeschafft haben, mit Kontakt zu Reichard zu vertiefen – denen man vollkommen ge- möglicherweise um mit Schmuddel-In- räuschlos arbeiten kann“) und fos Beamte unter Druck setzen zu kön- wer den Fluchthelfern bei der nen. „Interessieren Sie sich für geplan- Schleusung der Überläufer te und durchgeführte Einsätze“, hieß half, nämlich „Angehörige es in „Günthers“ Marschbefehl, „nut- der Grenzsicherung unserer zen Sie Ihre Verbindung zu Peter Rei- Republik“. chard.“ Jaeger, so die Anklage, Der Polizeibeamte sollte offenbar verpfiff auch andere Flucht- selbst in verfängliche Situationen ge- willige, beispielsweise einen bracht werden, um ihn dann als Infor- Arzt aus Dresden, der seine manten gewinnen zu können. Vor ei- Familie in den Westen schleu- nem Besuch Reichards in Ost-Berlin sen lassen wollte. „Günther“ erkundigte sich die Stasi bei ihrem lieferte alle Daten an sei- Agenten, „welchen Frauentyp“ der nen Führungsoffizier Gerhard Fahnder bevorzuge. Über IM „Gün- Scherwinski, doch die Flucht thers“ Schwester sollte „eine Kontakt-

gelang trotzdem – der eifrige ACTION PRESS person in Einsatz“ gegen Reichard ge- Spitzel soll sich bei den Stasi- Angeklagter Stasi-Spitzel Jaeger bracht werden. Jaeger solle den Beam- Chefs sogar beschwert haben, Internes aus der CDU verraten ten dann „animieren“, so die Stasi-Ak- „daß auf Grund seiner Hin- ten weiter, „sich für diese zu interes- weise es nicht nötig gewesen wäre, daß Um die „Perspektive“ ihres West- sieren“ – erfolglos, wie Reichard heute die Republikflucht erfolgte“. In der agenten zu festigen, so die Akten, sagt. Gerichtsverhandlung widersprach Jae- drängte das MfS Jaeger schließlich zum Wie weit Jaeger und die Stasi in die ger jedoch diesem Punkt der Anklage: Eintritt bei den Christdemokraten. Der Hamburger Rotlichtaffäre verwickelt Fluchtpläne habe er nicht weitergege- IM, inzwischen Leiter eines erfolgrei- waren, wird das Gericht wohl kaum ben. chen Hamburger Reisebüros, heuerte klären können. Die Stasi-Aufzeichnun- Laut Stasi-Akten bewies der DDR- bei der CDU im Hamburger Bezirk gen über den Fall enden Mitte der Anhänger Jaeger sogar Linientreue bei Harburg an, dem Wahlkreis des heuti- siebziger Jahre. Weitere Unterlagen, der eigenen Verwandtschaft. So ver- gen Verteidigungsministers Rühe. bis zum letzten Treff mit einem Stasi- merkte sein Führungsoffizier Scherwin- IM „Günther“, so die Stasi-Akten, Offizier im Januar 1990, wurden ver- ski, er habe in Absprache mit IM berichtete regelmäßig über Rühe, zu- nichtet. Auch aus Jaegers langjährigem „Günther“ 1960 verhindert, daß die mindest zu dessen Hamburger Zeit. Die Führungsoffizier ist nichts mehr raus- Mutter aus Stralsund in den Westen meisten Berichte habe er in Ost-Berlin zuholen: Oberstleutnant Scherwinski ausreisen durfte. Eine Version, die bei persönlichen Treffs auf Tonband ge- starb ein Jahr vor der Wende. Y Jaegers Anwalt Klaus-Ulrich Ventzke sprochen oder in kon- dementiert: „Das ist Quatsch.“ spirativen Briefen mit In den sechziger Jahren entwickelte Geheimtinte notiert, sich aus dem Studentenspitzel ein Ken- die ihm von der Stasi ner der Hamburger Parteienlandschaft. schon mal als aus- Jaeger knüpfte privat Kontakte etwa waschbare Imprägnie- zum einstigen Bonner CDU-Funktio- rung in einem Schal när Günter Meyer und dem heutigen geliefert worden sei. Berliner Unions-Fraktionschef Klaus- Weitere Infos habe der Rüdiger Landowsky. Beide zählten Agent auf Mikrofil- bald zu seinem engsten Freundeskreis, men geliefert, ver- und IM „Günther“ lieferte so über steckt in Kerzen oder Jahre allerlei Internes aus der Union Pralinen der Marke an die Stasi. „Mein und Dein“. Ende 1973 etwa berichtete IM Auf solch verschlun- „Günther“ vom Deutschland-Tag der genen Wegen dürfte Jungen Union, nach allgemeiner Ein- das MfS Ende der sieb- schätzung hätten die Delegierten „den ziger Jahre auch an schönsten und unerfahrensten“ und da- exklusive Meldungen mit einen „der schwächsten Vertreter über ein dunkles Kapi-

der Jungen Union“ zum Bundesvorsit- tel der hamburgischen G. M. CORDES zenden gewählt: Matthias Wissmann, Polizeigeschichte ge- CDU-Politiker Wissmann (1973) heute Verkehrsminister in Bonn. langt sein: Damals hat- „Der schwächste Vertreter“

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Umwelt Die Magener-Boys SPIEGEL-Redakteurin Elisabeth Niejahr über den Streit zweier Freunde von der BASF um die Öko-Steuer

an nannte sie die Magener- arbeitet er in einer geräumigen Villa Boys, nach ihrem Chef, dem am Genfer See. MBASF-Gewaltigen Rolf Mage- Noch immer ist er mit Strube be- ner. Sie waren jung, selbstbewußt, ein freundet, die gemeinsamen Anfänge bißchen zu ehrgeizig. Sie wollten alle verbinden ebenso wie die Schwäche für das gleiche: die schnelle, große Aus- Monopoly. Doch in der Umweltpolitik landskarriere bei dem Chemie-Gigan- sind beide Gegenspieler. ten. Kaum einer kämpft so engagiert wie Badische Anilin- & Soda-Fabrik hieß Ehringhaus, der mittlerweile für Green- der Ludwigshafener Konzern damals peace arbeitet und einen Förderverein noch, und an den stechenden, scharfen für die ökologische Steuerreform leitet, Chemikaliengeruch auf dem Werksge- für den ökologischen Umbau. Keiner lände erinnert sich der heutige Vor- stellt sich ihm so wirkungsvoll entgegen standsvorsitzende Jürgen Strube genau. wie Jürgen Strube. Der lange, umständliche Name des Der Öko-Aktivist plädiert aus Über- Konzerns wurde bald abgeschafft, wie zeugung fürs Umsteuern, der Chemie- so manches, was Ende der sechziger Manager muß schon aus Geschäftsin- Jahre als unmodern galt und nach Pro- teresse gegen neue Energiesteuern sein. vinz roch. Die alte Pfälzer Firma sollte Machtvoll wie kein zweites deutsches endlich in einen Weltkonzern verwan- Unternehmen bremst BASF alle Versu- delt werden. Ein gutes Dutzend Jung- che, die Industrie ökologisch umzubau- manager, eine neue hungrige Generati- en. Für Manfred Krautter, den Che- on, stellte die BASF ein, um dieses mie-Experten von Greenpeace, ist Stru-

Ziel zu erreichen. be „der letzte Betonkopf“ in der Bran- WERKFOTO BASF Das war ein disziplinierter Haufen, che, der Tageszeitung gilt er als „Knall- BASF-Fabrikanlagen in Ludwigshafen: Eine der sich morgens um elf im Büro des tüte“. Finanzchefs Magener traf, zum Tee und In der Öko-Szene genießen BASF- zum Plaudern über die Zukunft, die der Manager einen Ruf wie Donnerhall, als BASF und die der Boys. Abends ging Hardliner alter Schule: harsch im Um- man gemeinsam ins klassische Konzert, gangston, restriktiv mit Informationen übers Wochenende brach die Truppe über Abwässer oder Sicherheitsstan- zum Wandern auf. Das passende Wort dards ihrer Werke und arrogant gegen- für diese Nachwuchspflege im Geist des über den Umweltgruppen. Konzerns kam gerade auf: corporate Die Kontakte zur Politik könnten identity. kaum besser sein – zu Kanzler Helmut Das war 1969, die Apo machte sich Kohl etwa, der in den fünfziger Jahren langsam auf zum Marsch durch die In- bei der BASF als Werkstudent jobbte, stitutionen, die Magener-Boys aber ver- oder zu SPD-Fraktionschef Rudolf standen sich ganz selbstverständlich als Scharping. die nächste BASF-Elite. „Wir waren Der lud in seiner Zeit als Minister- ziemlich begeistert von uns“, findet präsident in Rheinland-Pfalz den kom- Henner Ehringhaus halb gerührt, halb pletten BASF-Vorstand zu Kabinetts- befremdet beim Blick zurück. sitzungen ein. Manager und Minister Heute würde niemand Ehringhaus trafen sich mal im Gästehaus der mehr als „Boy“ bezeichnen, und seinen BASF, mal im Kabinettssaal. Schar- Freund Strube schon gar nicht. Der pings Nachfolger Kurt Beck führt die Chef der BASF gebietet über weltweit Tradition fort. Was VW für Gerhard

105 000 Mitarbeiter und gehört zur Schröder, was Siemens für Edmund J. H. DARCHINGER Spitzengarde der deutschen Wirtschaft. Stoiber, ist für den jeweiligen Mainzer BASF-Chef Strube Viel Aufhebens macht er davon Regierungschef die BASF: eine Macht „Ihr sagt nicht offen, was es kostet“ nicht. Strube, 56, ist ein bodenständiger im Lande, mit der man sich besser ar- Typ, der Fabrikarbeitern auf die Schul- rangiert. Dietrich Kley wirkte lange Jahre in der ter klopfen kann, ohne anbiedernd zu Auch beim Bundesverband der Deut- Energieabteilung des Verbandes mit. wirken, und besser auf die Kegelbahn schen Industrie (BDI) hat die BASF Vieles, was BDI-Präsident Hans-Olaf paßt als auf den Golfplatz. die richtigen Leute an den richtigen Henkel im Namen der deutschen Wirt- Auch der quirlige, zwei Jahre ältere Stellen. Der Strube-Vertraute und ehe- schaft über Öko-Steuern vorträgt, for- Ehringhaus hat Karriere gemacht, erst malige BASF-Chefjurist Wolfgang Rit- mulierte ein BASF-Abgesandter. bei der BASF, dann in verschiedenen ter ist Vorsitzender des BDI-Steueraus- Jürgen Strube und die BASF können Umweltorganisationen. Heute lebt und schusses, BASF-Finanzvorstand Max fast jedes Öko-Konzept blockieren,

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wenn sie wollen. Und mei- In der Schweiz, wo Ehringhaus heute stens wollen sie. lebt, ließ sich die Industrie bereits für ein Auf solche hartnäckigen maßvolles Öko-Steuerkonzept erwär- Widersacher muß sich ein- men. Selbst der Chemie-Riese Ciba-Gei- stellen, wer in der Umwelt- gy warb am Ende dafür. politik etwas bewegen will. Mit diesem Hinweis umgarnt Ehring- Daran hält sich auch Bun- haus nun seinen alten Freund Strube und desumweltministerin An- die anderen deutschen Industriemana- gela Merkel (CDU), die für ger. In vertraulichen Kamingesprächen Öko-Steuerpläne in näch- wirbt er für sein Steuermodell. Ihm ster Zukunft ohnehin gerin- schwebt ein „Öko-Steuerkonzept“ vor, ge Chancen sieht. Nicht zu- „zu dem die Industrie einfach nicht mehr fällig wiederholt sie ständig, nein sagen kann“. die chemische Industrie Soweit ist der BASF-Chef Strube noch werde bei einer ökologi- lange nicht. Beim letzten Treffen, einem schen Steuerreform ausge- Mittagessen im BASF-Kasino in Lud- nommen. wigshafen, gerieten die alten Freunde „Die Regierungsparteien heftig aneinander. „Ihr setzt einseitig auf haben gute Öko-Steuer- euren guten Draht zur Politik“, klagte konzepte, aber Helmut Ehringhaus. Kohl hat sie weggeschlos- „Und ihr sagt nicht offen, was der Um- sen“, meint Henner Ehring- weltschutz wirklich kostet“, erwiderte haus. „Den Schlüssel zum Strube. Den Verbrauchern werde weis- Tresor besitzt die chemi- gemacht, sie könnten alles auf einmal ha- sche Industrie.“ ben: saubere Luft und gutes Wasser, si- Dabei hat Ehringhaus chere Jobs und eine florierende Wirt- nichts Revolutionäres im schaft. Dabei wisse Ehringhaus genau, Sinn. Der Öko-Lobbyist daß die Öko-Steuer Jobs zerstöre, zumal will das Steuersystem bei Energiefressern wie der BASF. schrittweise umbauen: Zu- Und sein Konzern, so Strube, sei von sol- erst sollen ökologisch unsin- chen alternativen Ideen besonders be- nige Steuererleichterungen troffen, weil die Ludwigshafener Firma wegfallen – etwa die unsäg- weniger Betriebsteile als etwa Hoechst lichen Subventionen für ins Ausland verlagert habe und Pro- Flugbenzin. Danach folgen dukte führe, die nun einmal Energie ver- Macht im Lande, mit der man sich besser arrangiert neue Komponenten für be- schlängen. Nur zu gut kennt der ehe- malige Magener-Boy Eh- ringhaus die BASF-Welt, in der Strube lebt und denkt. Denn sinnigerweise haben sie vor Jahren einträchtig über die Zerstörung der Umwelt durch die fortschrei- tende Industrialisierung und die untauglichen Versuche, damit fertig zu werden, phi- losophiert. Da hatten sie den Sprung in der BASF-Hierar- chie geschafft, saßen noch Seite an Seite in der Chef- etage der brasilianischen Tochterfirma in Sa˜o Paulo. Mit Kind und Kegel unter- nahmen sie gemeinsame Ausflüge in den Regenwald. Zusammen mit ihren Ehe- frauen verbrachten sie lange

B. V. MAYDELL Abende beim Monopoly. Umweltschützer Ehringhaus „Es gab kaum ein Thema“, „Einfach nicht mehr nein sagen“ erinnert sich Strube, „über das der Henner und ich da- stehende Abgaben wie die mals nicht diskutiert haben.“ Zwei jun- Kraftfahrzeugsteuer. Und ge BASF-Hoffnungen, Mitte 30, auf schließlich käme die von dem Weg nach oben. der Industrie verteufelte Als Ehringhaus 1981 aus Brasilien zu- neue Energiesteuer, mög- rückkehrte, paßte er nicht mehr in die lichst im Gleichklang mit Ludwigshafener Welt: zu eng, zu büro- Freunde Strube, Ehringhaus (in Brasilien, 1979) den europäischen Nach- kratisch, der alte provinzielle Geist. Die Lange Abende beim Monopoly barn. Manager hetzten noch immer aufgeregt

DER SPIEGEL 7/1996 67 über die Flure, sobald der Chef sie zu Naturschutzorganisation des World Wi- auch für einen ökologischen: „Jetzt rufen geruhte. de FundForNature kam zurrechtenZeit. kann der Jürgen seine Handschrift zei- Ehringhaus war 1969 zur BASF ge- Beraterjobs für Greenpeace und ökolo- gen“, glaubt er. kommen, weil die Industrie mehr Frei- gisch engagierte Großunternehmen wie Der Jürgen allerdings redet wenig räume verhieß als die Wissenschaft oder den Gerling-Konzern folgten. über Ökologie und viel darüber, wie der Öffentliche Dienst. Diese Freiheit Strubes Karriere hingegen verlief ge- die BASF zum „transnationalen Unter- hatte er in Brasilien genossen. Er unter- radlinig weiter hinauf bis ins Vorstands- nehmen“ ausgebaut, wie die Zukunfts- lag kaum der Kontrolle aus dem Mutter- büro des Mutterkonzerns. Ehringhaus märkte in China und Lateinamerika er- haus und konnte die Rituale der Lud- war nicht überrascht, daß sein Freund obert werden sollen. Er will zu Ende wigshafener aus der Ferne belächeln. den Spitzenjob bei der BASF bekam: „Er bringen, wofür die Magener-Boys vor Nach seiner Rückkehr war Ehring- paßt einfach wunderbar dahin.“ Denn 27 Jahren eingestellt wurden. haus Direktor bei der BASF-Tochter Strube seieinguterZuhörer, derintegrie- Ehringhaus aber will seinem Freund Wintershall und damit Teil des Appa- ren könne, ein rationaler Mensch – der bald wieder geduldig erklären, warum rats, der ihm fremd und unbeweglich er- richtige Mann für Krisenzeiten. Expansion und ökologisches Umsteu- schien. Er mußte Entlassungen mitver- Über 30 000 Arbeitsplätze hat die ern eigentlich zusammenpassen. Er antworten – und mit den Problemen sei- BASF abgebaut, seit Strube 1990 Vor- werde das am Ende schon einsehen, ner Familie klarkommen, die sich nur standsvorsitzender wurde. Inzwischen „weil er ein sehr kluger Mann ist“, schwer wieder an das Leben in Deutsch- fallen die Gewinne wieder ansehnlich macht er sich unverdrossen Hoffnung: land gewöhnte. Der Magener-Boy kün- aus, und Ehringhaus hofft, daß dies die „Ein paar Jahre hat er schließlich digte. Ein Angebot für die Leitung der Chance für einen Neuanfang ist – eben noch.“

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DEUTSCHLAND

Hamburg ging von Anfang an seinen Rauschgift eigenen Weg. Im Februar 1990 schlossen Ärzte, Krankenkassen und Senat den „Hamburger Methadon-Vertrag“: Da- nach bezahlt die Kasse die medizinische Ende Behandlung und die Medikamente, der Senat die psychosoziale Betreuung. Die Drogenabhängigkeit selbst gilt hier als der Wende Krankheit, Hürdensoll es nicht geben. So erhalten in Hamburg derzeit rund 2400 Streit um den Heroin-Ersatzstoff Süchtige Methadon – würden die NUB- Methadon. Therapeuten warnen vor Regeln gelten, wäre es schätzungsweise nur ein Drittel. einem „Rückfall in die Steinzeit“ der Jetzt jedoch bremst die Allgemeine Drogenpolitik. Ortskrankenkasse (AOK). Sie ist, wie auch die Innungskrankenkasse, nicht be- reit, den Hamburger Vertrag zu verlän- unkies haben ihre eigenen Manie- gern, der siederzeit 14Millionen Mark im ren. Das Mißtrauen sei für viele die Jahr kostet. 60Prozent der Substituierten Jwichtigste Tugend, sagt Senait: sind AOK-Patienten. „Altfälle“ sollen „Was will der von mir? Mich ablin- weiterfinanziert werden, aber für die Zu- ken?“ kunft wolle sie sich, so hat Geschäftsfüh-

Senait, 26, ist Mutter einer zwei Mo- F. HOLLANDER rerin der AOK, Karin Schwemin, ver- nate alten Tochter und seit September Methadon-Patientin Senait kündet, nicht länger als „sozialpolitische letzten Jahres auf Methadon. Seit da- Abschied vom Gift Feuerwehr“ mißbrauchen lassen. mals bestimmt nicht mehr die Gier nach Scharf und ungewohnt einmütig prote- Heroin ihr Leben. Aber es dauert, bis Auch Schwerkranke sollen den Ersatz- stierten die Hamburger Parteien. Uniso- jemand wie sie vom kaputten Leben los- stoff bekommen. Doch wer das Aids-Vi- no forderten GAL, SPD, Statt Partei und kommt, das sieht sie an sich selbst und rus in sich trägt, ist noch lange nicht krank CDU die AOK auf, ihre „starre Haltung“ den anderen Substituierten, die sie bei genug: Erst wer Symptome zeigt, be- aufzugeben. Vergangene Woche suchte der „psychosozialen Betreuung“ trifft. kommt Methadon. Vorher hat er noch Bürgermeister Henning Voscherau in Aber sie kann jetzt wieder einigerma- viel Zeit, andere durch Prostitution oder Gesprächen mit Kassen und Ärzten nach ßen denken, und sie weiß neuerdings: Nadeltausch zu infizieren. einer Lösung. Sie hat „verdammt viel Glück“ gehabt. „Sargdeckel-Indikation“ nennen Kriti- Bis dahin hatte sich die Kasse weder Sie hat keine Zähne verloren wie andere ker wie der Stuttgarter Polizeipräsident, durch politische Appelle noch durch Jun- Junkies, und das schmale dunkle Ge- Volker Haas, diese Praxis: Erst wenn es kie-Proteste („Kein Methadon-Stop –Ihr sicht sieht nicht mehr aus wie das „einer zu spät ist, zahlt die Kasse. Wenn nicht spielt mit unserem Leben!“) beeindruckt lebenden Leiche“. Vor allem hatte sie das Sozialamt einspringt, wie in einigen gezeigt. Die AOK richtet sich auf den Glück, daß sie nicht ein Jahr später Kommunen in Nordrhein-Westfalen, künftigen Wettbewerb der Kassen ein: schwanger geworden ist. Dann, sagt sie, bleibt dem Süchtigen nur noch die Hoff- Sie könne es den Beitragszahlern nicht „hätte ich vielleicht keine Chance. Dann nungauf Ärzte, diedieNUB nicht ganz so länger zumuten, ließ Schwemin wissen, wäre ich vielleicht bald tot“. eng handhaben. Was eine „vergleichbar den „Löwenanteil“ des Programms zu fi- Bisher bekommt in Hamburg, anders schwere Erkrankung“ wie Aids sei, die nanzieren. als im Rest der Republik, fast jeder zur Substitution berechtigt, legt Bayern Doch nicht nur Finanzprobleme, ver- Süchtige die Ersatzdroge Methadon. deutlich restriktiver aus als Berlin. mutet der GAL-Gesundheitspolitiker Doch nun droht das Ende Peter Zamory, seien ver- der liberalen Praxis. Schon antwortlich für den vom 1. April 1996 an sol- Schwenk der AOK: Er len auch in der Hansestadt wittert „massiven Druck Vorschriften angewendet von Seehofer aus Bonn“. werden, die Senait „mör- Das wird zwar offiziell be- derisch“ nennt: die „Richt- stritten im Bonner Ge- linien über die Einführung sundheitsministerium. In- neuer Untersuchungs- und tern aber hat der Minister Behandlungsmethoden“ Kassenvertreter wissen las- (NUB). sen, daß er erfreut sei über Fünf Jahre alt ist das ri- den Rückzug der Hambur- gide Regelwerk, das der ger AOK. Bundesausschuß der Ärzte Die Substitutionspro- und Krankenkassen erlas- gramme waren Teil der lei- sen hat. Es legt fest, wann sen liberalen Wende in der die Krankenkassen ver- deutschen Drogenpolitik. pflichtet sind, die Metha- Die Zahl der Methadon- don-Substitution zu bezah- Patienten stieg stetig in len. Nur Extremfälle sind den vergangenen Jahren,

dort vorgesehen. Schwan- ARGUS-FOTOARCHIV derzeit sind es bundesweit gere beispielsweise werden rund 30 000 Menschen – akzeptiert – aber nur bis doch nun, fürchten Prakti-

sechs Wochen nach der T. RAUPACH / ker wie Rainer Schmidt Geburt. Junkie (in Hamburg): Zwang zur Kriminalität vom Hamburger Therapie-

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zentrum „Palette“, droht der „Rückfall in die Steinzeit“. Seit Jahren verlangen Ärzte, Thera- peuten und Gesundheitspolitiker eine Änderung der starren NUB-Richtlinien. Im November 1995 forderten die Ge- sundheitsminister der Länder, Drogen- sucht endlich als Krankheit anzuerken- nen. „Je mehr Menschen wir errei- chen“, glaubt die Ärztin Anne Schuma- cher vom Hamburger Drogenberatungs- zentrum Drob Inn, „desto besser – nicht nur für die Junkies, auch für den Rest der Welt.“ Studien und Statistiken geben ihr recht. Der Hamburger Drogenbeauf- tragte Horst Bossong hat einen Über- blick über die wissenschaftliche Begleit- forschung in den Bundesländern erstel-

len lassen. Klares Ergebnis: „Die Sache R. SÖGTROP / SIGNUM funktioniert.“ Protest-Demonstration in Hamburg: „Ihr spielt mit unserem Leben“ Wer die Ersatzdroge schluckt, wird zwar nicht geheilt, aber er entkommt die Statistik der Drogentoten, deren Völlig verhindern läßt sich der Beikon- dem fatalen Zwang, sich von kriminel- Zahl seit fünf Jahren sinkt. 1995 wurden sum nicht – jedenfalls nicht, solange in len Dealern zu horrenden Preisen He- bundesweit 1477 Tote gezählt – 147 we- Deutschland an Abhängige kein Heroin roin kaufen zu müssen. Er ist nicht mehr niger als im Vorjahr. vergeben werden darf, und dafür stehen gezwungen, Autos zu knacken, Woh- Problematisch allerdings bleibt der die Chancen noch schlecht. nungen auszuräumen oder auf der Stra- sogenannte Beikonsum. Weil Methadon So bleibt nur die Hoffnung auf bessere ße Handtaschen zu klauen. 80 bis 90 nicht wie Heroin das „warme, wohlige Kontrolle und Beratung durch Ärzte und Prozent aller Substituierten, je nach Stu- Geborgenheitsgefühl“ verleiht, auf das Therapeuten. Die Betreuung, mahnt ei- die, begehen keine Straftaten mehr. Senait in ihrer Junkie-Zeit nicht verzich- ne Expertise des Münchner Instituts für So sank in Hamburg die Zahl der ten konnte, spritzt oder schluckt ein Therapieforschung an, sei vielerorts un- Wohnungseinbrüche, Ladendiebstähle Großteil diverse Rauschmittel neben- zureichend. Nur etwa ein Siebtel der Sub- und geknackten Autos von 1993 auf bei. Zwar nimmt der Beikonsum nach stituierten erhalte eine „begleitende psy- 1994 um 20 Prozent; 1995 zeichnete sich den ersten Monaten deutlich ab. Doch chosoziale Behandlung“, heißt es da. ein weiterer Rückgang ab – „eindeutig etwa ein Zehntel der Methadon-Patien- Gerade darin ist das Hamburger Mo- ein Erfolg des Methadon-Programms“, ten konsumiert auch nach längerer Be- dell anderen Ländern voraus. Der Senat glaubt Hartmut Kapp von der Hambur- handlung nebenbei Opiate – und das zahlt hier jährlich neun Millionen Mark ger Polizei. kann tödlich sein. für die psychosoziale Begleitung. Methadon hilft gegen Brutalität und So ermittelt die Düsseldorfer Staats- Methadon hilft natürlich nicht gegen Verelendung im Drogenmilieu, soviel anwaltschaft derzeit gegen fünf Ärzte, Obdach- und Arbeitslosigkeit, und wenn steht fest. Rasch und deutlich bessert die Methadon-Patienten behandeln: In jemand wie Senait einen klaren Kopf be- sich bei fast allen Substituierten der Ge- der Statistik der Drogentoten fanden kommt, dann gehen die Schwierigkeiten sundheitszustand. Die Chance, die Dro- sich acht Personen, die von ihnen substi- oft erst los. Die Therapeuten kennen die genabhängigkeit zu überleben, steigt auf tuiert worden sind. Möglicherweise ha- Euphorie, die viele Ex-Fixer in den er- mehr als das Doppelte. Das zeigt auch ben sie ihre Sorgfaltspflicht verletzt. sten sechs Wochen der Substitution be- fällt: endlich ein bißchen Ruhe. Allmählich aber begreifen die Patien- ten, daß ihnen ein ganzes Stück Leben fehlt. Sie haben plötzlich viel Zeit zum Nachdenken. Dann fragtsich jemand wie Senait, wie aus einem albernen Mäd- chen, das aus Blödsinn mit der Freundin Heroin zu rauchen anfing, ein elendes Wrack werden konnte. Die Therapeutin hat Senait aus dem Hotel geholt, wo sie hochschwanger mit zwei Junkie-Mädchen hauste. Seit No- vember hat sie sogar eine Wohnung, in der sie ihr Kind großziehen kann. „Wenn du deinen Hintern nicht bewegst“, hat sie sich gesagt, „dann kriegst du nichts gere- gelt.“ Sie weiß: Es ist wichtig, was aus ihr wird. Ein paar Freundinnen, die noch in der Szene sind, schauen sich genau an, wiees ihr geht. Wenn das Methadon-Pro- gramm weiterläuft und wenn Senait

DPA durchhält, dann, glaubt sie, „schaffen die Methadon-Ausgabe: Endlich ein bißchen Ruhe es vielleicht auch“. Y

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DEUTSCHLAND H. FLOSS Taucher auf Baggersee am Potsdamer Platz in Berlin: Selbst Petitessen werden enthusiastisch gefeiert

Bauende bis zu 20mal verlegt werden, Hauptstadt damit Kräne und Bulldozer zum Einsatz kommen können. Rekord, Rekord. Den bisherigen Höhepunkt der Bau- stellen-Saga setzten am Mittwoch ver- Der schönste Arbeiter gangener Woche Taucher, die sich in den nach der Daimler-Tochterfirma De- Die Berliner Investoren feiern ihre Großbaustellen am Potsdamer Platz bis benannten Baggersee stürzten, um von nun an in 17 Meter Tiefe eine riesi- mit PR-Kampagnen ge Betonplatte zu gießen. In ihren mas- sigen Anzügen schienen die Froschmän- ilhelm Maier, 62, hat in seinem „Das ist die Krönung meiner Lauf- ner einem Roman von Jules Verne ent- Leben schon viel bewegt. Vor al- bahn“, sagt er voller Demut, „danach sprungen zu sein. Wlem Beton und Stahl. geh’ ich in Rente.“ Da sie im Schlammwasser die Hand Er zauberte Häfen an die Küste Sau- Maier gehört zu jenen Leuten, die nicht vor Augen sehen können, werden di-Arabiens, stampfte Städte in Bahrain den Potsdamer Platz in einen Jahrmarkt sie von einem Kollegen an Land per aus heißem Wüstensand. Mehr als 30 der Sensationen verwandelt haben. Bis Funkkontakt dirigiert. Ein Dritter steht Jahre verbrachte der Ingenieur für den zum ersten Spatenstich in Mitte in voller Montur für den Notfall sprung- Baugiganten Philipp Holzmann in aller galten Baustellen als Synonym für bereit am Beckenrand. Maximal 90 Mi- Welt. Aus seiner Sicht ist die Erde ein Staub, Lärm und Dreck. Am Potsda- nuten dürfen die Taucher im acht Grad riesiger Lego-Baukasten. mer Platz jedoch gilt Baggern inzwi- warmen Wasser arbeiten, dann heißt es: Wie viele Bausteine Maier für ein schen als Teil eines gigantischen Ge- Ab in die Quarantäne in der Dekom- Krankenhaus in Libyen, eine Universi- samtkunstwerks – Ergebnis einer raffi- pressionskammer – am Lake Debis tät in Algerien oder einen Flughafen in nierten PR-Kampagne der Bauherren herrscht Seerecht. Kuweit benötigt, weiß er aus dem Kopf. Daimler-Benz und Sony. „Das ist einmalig in der Welt“, „Bauen heißt bewegen“, sagt der Bayer, Ein Superlativ nach dem anderen prahlt Debis-Geschäftsführer Hans-Jür- „und zwar pünktlich.“ wird der Öffentlichkeit verkündet. gen Ahlbrecht. Zwar macht die sibiri- Nun sitzt Wilhelm Maier nach eige- Über sechs Millionen Tonnen Erdaus- sche Kälte zur Zeit das Betonieren im nen Worten wieder wie die „Spinne im hub müssen bis 1998 vom Platz ge- Freien unmöglich, aber Ahlbrecht de- Netz“, diesmal auf Europas größter schafft werden – angeblich europäischer primiert das keineswegs. „Der Sommer Stadtbaustelle, am Potsdamer Platz in Rekord. Die Hälfte der Investitions- wird gut!“ verkündet er, und es klingt Berlin. Dort leitet er die Baulogistik; summe in Höhe von vier Milliarden wie ein Vorstandsbeschluß. gemeinsam mit seinen 30 Kollegen ist Mark wird unterirdisch verbaut – welt- Über dem Baggersee soll in zweiein- der stämmige Mann aus München dafür weit einmalig. halb Jahren die Debis-Zentrale stehen. verantwortlich, daß die materialfressen- Über den Potsdamer Platz ist eigens Die 340 000 Quadratmeter Bruttoge- de Maschinerie täglich ihr Futter aus ein Funknetz gespannt, um Ingenieure schoßfläche bieten sogar Platz für ein Beton, Stahl und Sand erhält, ohne daß und Arbeiter miteinander zu verbinden. Variete´, eine Spielbank und – ebenfalls Berlin einen Verkehrskollaps erleidet. Jede öffentliche Straße wird bis zum ein Novum – ein 3-D-Kino.

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Die nächste bautechnische Sensation legten die Länder über die Parteigren- findet nur ein paar Meter weiter statt. Finanzen zen hinweg bedrohliche Einigkeit an Dort wird der 1800 Tonnen schwere Kai- den Tag. „Wenn wir das Bündnis für sersaal des alten Grandhotels Esplanade Arbeit nicht mitmachen“, tönte der Nie- um 75 Meter nach Westen versetzt, um dersachse Gerhard Schröder (SPD), Platz für eine Grube zu schaffen. Im Jahr Unbeliebt „dann wird es nichts.“ 2000 soll der Prunksaal das „historische Tatsächlich kosten die sozialdemokra- Herzstück“ des neuen Sony-Centers bil- tischen Provinzfürsten ihre Macht aus, den (SPIEGEL 3/1996). machen seit sie die Politik des Kanzlers mit ihrer Selbst Petitessen werden enthusia- Bundesratsmehrheit blockieren können. stisch gefeiert. Die Taufe eines Pontons In Bonn wächst die Furcht vor der Aber auch bei den christdemokratischen auf dem Baggersee durch die Berliner Länder-Macht. Auch Unions-Provinz- Länderchefs hat sich das Selbstwertge- Aktrice Anita Kupsch mobilisierte die fühl enorm entwickelt. Berliner Presse wie sonst nur eine Senats- fürsten opponieren gegen die Regie- „Wie die Staatsmänner“ zögen sie ein umbildung. Der Potsdamer Platz spuckt rung Kohl. ins Kanzleramt, beobachtete der Vorsit- eben nicht nur Sand und Schutt aus: Er zende der Unionsfraktion, Wolfgang liefert Schlagzeilen für die Tageszeitung, Schäuble, ein EU-Gipfel sei nichts dage- die das „Ballett der Bulldozer“ rühmt, bis om Bonner Kanzler hatte die streit- gen. Manche seien darunter, meint ei- hin zur Frankfurter Allgemeinen, die aus bare Kieler Ministerpräsidentin ner aus Kohls Kabinettsrunde, die sich den vielen Geschichten rund um die Bau- VHeide Simonis (SPD) den allerbe- bereits als Kanzlerkandidat sähen. stelle am liebsten eine „Vorabendserie“ sten Eindruck: „Es tut gut, wenn man Bitter beklagte sich Schäuble intern machen würde. ernst genommen wird.“ über die „Waffenungleichheit“ im Ver- Stoff bietet sich genug. In der Schubla- Umgekehrt ist der Eindruck nicht hältnis zwischen Bund und Ländern. Ei- de von Ute Wüest von Vellberg, PR-Che- so gut: Das Auftreten von Simonis und gentlich sei der Bundesrat ein Gremium fin der Debis, liegen die Geschichten den anderen Ministerpräsidenten beim des Bundes, aber den Länderfürsten sei gleich stapelweise, etwa die vom ostfrie- Bund-Länder-Treffen am Donnerstag das „wurscht“: Die mißbrauchten das sischen Schwimmbaggerführer, der hoch vergangener Woche machte die Bonner Gremium, um ihre Interessen durch- droben in seinem Führerhäuschen Ge- Regenten ärgerlich. zudrücken. Vor den am 24. März in dichte schreibt. Beim großen Ratschlag über Arbeits- Baden-Württemberg, Schleswig-Hol- Auf Anfrage sucht Vellberg auch ger- losigkeit und Steuern im Kanzleramt stein und Rheinland-Pfalz anstehenden ne „den schönsten Bauarbeiter vom Pots- Wahlen, ärgert sich damer Platz in seiner großstädtischen Schäuble, seien ernst- Männlichkeit“. Solches Detail-Interesse hafte Verhandlungen hätte sie sich beim ersten Spatenstich gar nicht möglich. „nicht träumen lassen“. Was die Bonner be- Allein im letzten Jahr haben fast 60 000 sonders alarmierte: Besucher die Baustelle besichtigt. Die Die Ministerpräsiden- Touristen können Rundgänge zwischen ten beschränken sich Baugruben und Kränen bei Reiseveran- nicht auf ein hartes staltern buchen. In Vellbergs Team ist Nein zum Abbau des ein Mitarbeiter ausschließlich dafür ab- Solidaritätszuschlags. gestellt, „Baustellen-Events“ zu kreie- Sie spielen sich auf wie ren. Der Mann scheint sein Geld wert zu eine Konkurrenz zur sein: Ein „Konzert-Sommer“ im vergan- Bundesregierung. genen Jahr lockte an drei Abenden fast Die Länder setzten 5000 Besucher auf die Brache. eigene Arbeitsgruppen In der Mitte der Hauptstadt entsteht ein für den Kampf ge- nicht nur ein neues Stadtviertel, sondern gen die Arbeitslosig- auch ein neuer Berlin-Mythos. Nach den keit und für die Lö- goldenen Zwanzigern, die der quirlige sung der Finanzproble- Potsdamer Platz wie kein anderer in Ber- me inklusive Steuerre- lin verkörperte, versinnbildlichte das form. Anfang Mai wol- mittlerweile tote Gelände nach dem len sie Reformpläne Mauerbau die Teilung Berlins. Und nun präsentieren. wird aus Stahlbeton der Mythos der Faktisch, analysier- Machbarkeit gezimmert. te Ministerpräsident Von soviel Resonanz, wie sie den Bau- Schröder, müßten die herren widerfährt, können Berlins Politi- Probleme so oder so ker nur träumen. Bauhelme elektrisieren durch Zusammenar- die Berliner inzwischen mehr als die Re- beit von Union und den des Regierenden Eberhard Diepgen. SPD angepackt wer- Am Potsdamer Platz scheint sich die The- den, ob in Form einer se des Kunstkritikers Karl Scheffler zu Großen Koalition oder bewahrheiten, der der Boomtown Berlin in lockerer Kooperati- schon im Jahre 1910 prophezeit hatte, on. Warum sollten die „immerfort zu werden und niemals zu Länder nicht eigene sein“. Berlins CDU/SPD-Senat verkör- pert das genaue Gegenteil: bleierner * Am Donnerstag vergange-

Stillstand, der immer ist und aus dem nie MASKUS / LASA ner Woche beim Treffen im was wird. Kontrahenten Schröder, Waigel*: „Dann wird es nichts“ Kanzleramt.

DER SPIEGEL 7/1996 75 . MASKUS / LASA Länderchefs Biedenkopf, Lafontaine: Bedrohliche Einigkeit

Vorstellungen zu den drängenden The- nisterpräsidenten in Gravenbruch klar. men entwickeln? Im CSU-Vorstand warnte er vor einer Dem sächsischen Regierungschef Kurt „Amerikanisierung der deutschen Ver- Biedenkopf (CDU) leuchtete das ein. Er hältnisse“. Mit Stoibers Stimme be- stimmte zu, damit „das Gemeinwesen schlossen die Länderchefs, dem Bonner nicht kaputtgeht“. Gemeinsam mit dem Finanzminister Waigel keine Mark zu hessischen Kollegen Hans Eichel (SPD) überlassen für eine als FDP-Wahlkampf- übernahm Bayern-Chef Edmund Stoiber hilfe gedachte Senkung des Solidarzu- die Leitung der Arbeitsgemeinschaft So- schlags. zialpolitik. Auch Seehofer ist über den „Machtbol- Die Zusammenarbeit mit den Unions- zen“ aus München vergrätzt: Stoibers so- fürsten, bestätigt Heide Simonis, „klappt zialpolitischer Schulterschluß mit SPD- hervorragend“ – und Kohl mußte klein Chef Oskar Lafontaine und dessen Mini- beigeben: Er möchte wenigstens, bat er, sterpräsidenten-Genossen erscheint ihm daß Mitglieder seiner Regierung in allen reichlich voreilig. Arbeitsgruppen beteiligt werden. Natürlich sei auch er nicht so naiv zu Höchst irritiert beurteilten Finanzmi- glauben, so Seehofer, man könne ohne nister Theo Waigel und sein Kabinetts- die Sozialdemokraten und ihre Länder- kollege Horst Seehofer im CSU-Vor- mehrheit etwas bewegen. Auch er wisse, wenn es jetzt nicht zu sozialen Reformen komme, sei in wenigen Jahren das ganze Stoiber hat plötzlich System gefährdet. Aber die Union, for- sein Herz fürs dert der Gesundheitsminister, müsse zu- erst selbst klarmachen, wofür sie steht. Soziale entdeckt Stoiber dagegen: Zu groß sei die Ge- fahr, daß die Union sich mit unpopulären stand die neue Situation: Nicht mehr im Reformvorschlägen beim Publikum un- Wettbewerb untereinander entwickel- beliebt mache – und am Ende doch am ten die Länder ihre Vorschläge, sondern SPD-Widerstand scheitere. Sinnvoller – ganz was Neues – jenseits der Partei- sei es daher, gleich auszuloten, was mit politik. Da hätten sich „Methoden und den Sozialdemokraten gemeinsam zu Unsitten“ eingebürgert, mäkelt auch vereinbaren sei. Schäuble, die für das bundesstaatliche Die Parteifreunde Stoibers in Bonn ha- Prinzip „gefährlich“ seien. ben schon eine Erklärung für die Beweg- Mißmutig beobachtet der CSU-Vor- lichkeit ihres Ministerpräsidenten parat: sitzende Waigel besonders das Gebaren ein weiterer Zug in einer wohlüberlegten seines Parteifreundes, des bayerischen Karriereplanung. Ministerpräsidenten Stoiber. Der bringt Jetzt habe er sich, so die Kritiker, eine den Parteichef und Finanzminister in die „soziale Attitüde“ zugelegt, um seinem Klemme, weil er plötzlich sein Herz fürs Vorbild Franz Josef Strauß ähnlicher zu Soziale entdeckt hat. werden. Der habe unermüdlich gepre- „Thatcherismus ist mit mir nicht zu digt, die CSU sei nicht die Partei der machen“, stellte Stoiber am vorletzten Champagner-Schickeria, sondern auch Wochenende bei einem Treffen der Mi- Anwalt der kleinen Leute.

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DEUTSCHLAND

Arbeitsmarkt Ost Die Tagelöhner der Republik 1,26 Millionen Menschen sind derzeit in den neuen Ländern ohne Arbeit. Experten schätzen die reale Zahl „fast doppelt so hoch“. Aus Angst verdingen sich im Osten viele Arbeitnehmer weit unter Tarif. Tausende neuer Arbeits- plätze könnte nach Ansicht von Ökonomen der gezielte Aufbau von Unternehmen im Umweltbereich bringen.

in wenig erinnert es schon an die Propaganda des „ersten EArbeiter-und-Bauern-Staates auf deutschem Boden“, das Wer- beplakat der Gewerkschaft. Na- türlich ist da nichts als die nackte Wahrheit dargestellt: die „Erfolge der IG Metall“, ganz brav nach Jahreszahlen sortiert. Und doch ist es der blanke Hohn, das Poster gerade in der Gewerkschaftsba- racke von Finsterwalde anzupin- nen. Denn wem nützt hier, im Sü- den Brandenburgs, die alte west- deutsche Bilanz mit Lohnsteige- rungen bis zu 15 Prozent und kür- zeren Arbeitszeiten? In Finsterwalde haben die Leute andere Sorgen. Hans-Harald Gab- be, erster Metaller vor Ort, ver- sucht gerade einen der letzten Be- triebe der ehemaligen Industrie- stadt, die Firma Kjellberg, zu ret- ten. 1991 hatte ein belgischer Händler den früheren VEB Schweißtechnik Finsterwalde von der Treuhand gekauft, zur DDR- Zeit ein Musterbetrieb des Ma-

schinenbaues. Doch der Belgier, AP da sind sich Belegschaft und Ge- Arbeitslose in Berlin-Marzahn*: Verängstigte Gesichter wie zur Zeit der DDR

werkschaft einig, trieb das Unterneh- men in den Ruin. „Der hat den Laden geplündert“, schimpft Gabbe. Die Be- legschaft beantragte die Gesamtvoll- streckung, um dem Mann das Hand- werk zu legen. Drei Monatslöhne ist der Fabrikant den 120 Angestellten noch schuldig. Wieder einmal hat sich ein Investor aus dem Westen abgesetzt, wieder ein- mal zittern im Osten Männer und Frau- en um ihren Job, bangt eine ganze Regi- on um die Zukunft. Und wieder ein- mal müssen Neu-Bundesbürger lernen, was der Satz aus dem Grundgesetz „Eigentum verpflichtet“ manchem be- deutet. Längst droht die ostdeutsche Wirk- lichkeit die Propagandageschichten der SED-Agitatoren von einst über den Ka- pitalismus in den Schatten zu stellen. Die Arbeitslosigkeit im Osten steigt, die Wachstumsraten sinken – eine fatale E. LAUE / ASPECT Erfolgsprojekt Umwelt- und Flughafentechnik: Schlammräumer für Kläranlagen * Am 5. Februar.

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Schere. Und die Wirklichkeit ist noch schlimmer als die offiziellen Zahlen aus Nürnberg, die für den Osten im Januar 1,26 Millionen Arbeitslose ausweisen. „Chaotischer Prozeß“ Denn Ostdeutschland ist ein Land der Dunkelziffern. Die reale Arbeitslosig- Wirtschaftsforscher Rüdiger Pohl über den Arbeitsmarkt Ost keit, schätzt der Wirtschaftswissen- schaftler Rüdiger Pohl aus Halle, ist „fast doppelt so hoch“ (siehe Interview). SPIEGEL: Niedrige Steuern, niedrige meistens gut. Wir hatten in der In- Besonders hart trifft es Mecklenburg- Löhne, schwache Gewerkschaften – dustrie des Ostens im letzten Jahr Vorpommern. Über 18 Prozent liegt da ist Ostdeutschland ein Traumland für eine Umsatzsteigerung von zehn die Erwerbslosenquote. Die Arbeitslo- Unternehmen? Prozent und eine enorme Export- sigkeit ist auch in diesem Bundesland Pohl: Bei den Löhnen herrschen kei- steigerung. Aber die Kapitaldecke der Preis des relativen Wirtschaftsauf- neswegs überall Traumbedingungen. der Betriebe ist zu dünn. Die Löhne schwungs. Längst ist die Landwirtschaft Im Vergleich zur Wertschöpfung sind sind nicht die Hauptursache des Ost effektiver als die im Westen. Wäh- die Löhne in vielen Bereichen zu Problems. Wenn Sie als Unterneh- rend westwärts durchschnittlich noch 5 hoch. Deshalb sind die Gewerkschaf- mer gar keinen Lohn zahlen, ist der Bauern 100 Hektar Land beackern, sind ten auch zu Kompromissen bereit. Marktzugang dadurch auch noch es im Osten nur 2,5. Neue Jobs sind Wenn Tariflöhne unterschritten wer- nicht gefunden. nicht in Sicht. den, dann ist das oft die Reaktion auf SPIEGEL: Das Wirtschaftswachstum Dabei sind die frömmsten Wünsche eine Notsituation... geht im Osten zurück. Warum? der Arbeitgeber im Osten längst Wirk- SPIEGEL: . . . in der die Tarifverträge Pohl: Der Bauboom geht zurück. lichkeit. Die hohe Arbeitslosigkeit und gebrochen werden. Das ist eine Normalisierung. Und die Angst derjenigen, die noch einen Pohl: Rechtlich gesehen ist das natür- die Konjunktur außerhalb Ost- Job haben, schwächt die Gewerkschaf- lich illegal. Aber alle machen still- deutschlands ist schlecht. Da ist we- ten, die Lohnkosten und Unterneh- schweigend mit, auch die Gewerk- nig Platz für mehr Wachstum. menssteuern liegen deutlich unter West- schaften. Es wäre sinnvoller gewe- SPIEGEL: Keine guten Aussichten niveau. „Selbst die größten Deregulierer sen, von vornherein niedrigere Löh- für die mehr als 16 Prozent Arbeits- wünschen sich im Westen nicht, was sie ne festzulegen. Denn das, was jetzt losen in Ostdeutschland? im Osten bereits haben“, sagt Jürgen läuft, ist ein chaotischer Prozeß, un- Pohl: 16 Prozent? Die echte Quote Weißbach, DGB-Chef von Sachsen-An- ter dem alle leiden, Belegschaften ist fast doppelt so hoch. halt. und Unternehmer. SPIEGEL: Es gibt aber schon Ostbe- triebe, die produktiver sind als ver- gleichbare Westfirmen. Doch kein Unternehmer zahlt mehr als 100 Pro- zent West. Pohl: Im Osten sind Leistungsunter- schiede zwischen den Unternehmen viel größer als im Westen. Die einen Unternehmen haben den Zugang zum Markt schon gefunden, die ande- ren noch nicht. Über solche Differen- zen gehen Tarifverträge hinweg. SPIEGEL: Der Chef von Jenoptik, Lo- thar Späth, will die Flächentarifver- träge deswegen abschaffen. Pohl: Davon halte ich überhaupt nichts. Wir dürfen nicht gleich das Porzellan zerschlagen. Über die Löh- ne muß außerhalb der Betriebe ver-

handelt werden. Sonst würden die T. HÄRTRICH / TRANSIT Belegschaften verunsichert und die Ökonom Pohl: „Natürlich ist das illegal“ Unternehmer von der Arbeit abge- halten. Die sollen gefälligst überle- SPIEGEL: Was halten Sie denn von Alarmiert von der Situation im Osten gen, welche Produkte sie wo verkau- Helmut Kohls Versprechen, die Ar- hat IG-Metall-Chef Klaus Zwickel sei- fen können. beitslosigkeit bis 2000 zu halbieren? nen Vorschlag für ein „Bündnis für Ar- SPIEGEL: Ist die Lohndebatte über- Pohl: Natürlich kann er die Zahl hal- beit“ letzte Woche um eine Ost-Kompo- haupt sinnvoll, sollte nicht über Pro- bieren, indem er die Hälfte in Rente nente erweitert. Doch seine Vorschläge dukte und Märkte diskutiert werden? schickt. Aber das kann er kaum ge- werden auf wenig Gegenliebe stoßen. Pohl: Wenn nur halb soviel über den meint haben. Als Ökonom würde Die ohnehin schon schlechter bezahlten Marktzugang wie über Löhne disku- ich solche Ankündigungen nicht ma- Ostkollegen werden sich auf Lohnver- tiert werden würde, wäre ich schon chen. Das 50-Punkte-Programm der zicht bei Arbeitszeitverkürzung und den heilfroh. Den neuen Unternehmen Regierung ist nicht verkehrt. Aber Wegfall von Überstunden kaum einlas- im Osten muß bei der Absatzorgani- das stand alles schon vor drei Jah- sen. sation geholfen werden, bei der Preis- ren im Zukunfts-Sicherungs-Papier. Nach Weißbachs Erkenntnis verdin- kalkulation. Die Produkte sind ja Und nichts ist passiert. gen sich überall im Osten Arbeitnehmer weit unter Tarif wie jener Maurer in Halle, der sich mit 15 Mark die Stunde

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Weiter verschlechtert wird die Lage durch Einschnitte in den zweiten Ar- beitsmarkt. Einer der größten Arbeitge- ber in den neuen Ländern ist die öffent- liche Hand. Bund und Länder halten über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) und Lohnkostenzuschüsse aus dem Arbeitsförderungsgesetz Hundert- tausende, die sonst arbeitslos wären, in Jobs auf Zeit. 1992 waren im Osten fast 400 000 Menschen auf ABM-Stellen be- schäftigt. Derzeit entlastet das ABM- Programm die Arbeitslosenstatistik im- merhin noch um 164 000, und 81 000 Ar- beitnehmer bekommen teilweise ihr Geld nach dem Arbeitsförderungsgesetz vom Steuerzahler. Doch Bund und Länder sind immer weniger bereit, Milliarden zur Subven- tionierung von Arbeitsplätzen herauszu- rücken. So strich der CDU-regierte Freistaat Sachsen die Landeszuschüsse zur Arbeitsförderung zusammen – von 200 Millionen 1995 auf 140 Millionen in

E. LAUE / ASPECT diesem Jahr. Gewerkschafter Olsen: „Traumtänzerischer Glaube an den Markt“ Betroffen sind vor allem die Beschäf- tigungsgesellschaften (ABS), die im abfindet, obwohl ihm 23 Mark zuste- fung in eine tiefere Lohngruppe. „100 Osten nach der ersten Entlassungswelle hen. Prozent Opel-Eisenach“, schimpft DGB- der Treuhand etwa 150 000 Arbeitneh- Der DGB-Mann schätzt, daß nur 40 Weißbach, „sind längst nicht 100 Prozent mer pro Jahr auffingen. In Sachsen wur- Prozent der Firmen im Osten Tariflohn Opel-Rüsselsheim.“ de im vergangenen Jahr fast jeder dritte zahlen: „Über diesen Stand waren die Laut einer Umfrage der IG Metall ver- der 44 000 Arbeitsplätze in den 92 ABS- Gewerkschaften einmal stolz. Das war dienen 42Prozent der IG-Metall-Mitglie- Gesellschaften über Lohnkostenzu- 1925.“ In weiten Teilen der ehemaligen der im Osten netto weniger als 2000 schüsse finanziert. DDR drohen ganze Sozialstrukturen zu Mark, obwohl die Produktivität in vielen Den drohenden Ruin versuchen ABS- zerbrechen, spielen viele Unternehmer Betrieben der Stahlbranche höher ist als Manager mancherorts mit Eigeninitiati- längst Wild-Ost. in Westdeutschland. Zum Vergleich: Im ve abzuwenden. Etwa der Leipziger Curt Stauss, Pfarrer im südbranden- Westen beträgt der durchschnittliche ABS-Geschäftsführer Joachim Sauer: burgischen Lauchhammer, erlebt den Monatslohn der Branche 3000 Mark net- Seine Gesellschaft bietet eine eigene Kapitalismus pur in seiner Gemeinde. to. Arbeitsvermittlung, Projektplanung für 1994 verhinderte die Geschäftsführung In unzähligen Betrieben der neuen umweltgerechte Bauvorhaben und ei- der Vormann GmbH Elsterwerda die Länder werden Löhne zudem verspätet nen Krankenpflegedienst an – mit wach- Wahl des Betriebsrates. „Der Ge- gezahlt. Manchmal warten die Beschäf- sendem Erfolg. Sechs Projekte arbeiten schäftsführer rief die Polizei“, erinnert tigten ohne Murren monatelang auf ihr bereits als eigenständige Tochtergesell- sich Stauss, „und die schmiß die Ge- Geld. „Das ist ihre Form, um den Erhalt schaften. werkschafter aus dem Betrieb.“ Selbst einer Firma zu kämpfen“, glaubt Ge- Eines der Erfolgsprojekte ist die Fir- nach der erfolgreichen Klage vor dem werkschafter Gabbe. Er hält den Vor- ma Umwelt- und Flughafentechnik. Das Arbeitsgericht kam es nicht zur Wahl. wurf der DGB-Vizin Ursula Engelen-Ke- Acht-Mann-Unternehmen fertigt spe- Der Pastor, vom Gericht als Wahlleiter fer für absurd, die Ostdeutschen würden zielle Gepäcktransporter für Flughäfen eingesetzt, mußte unverrichteter Dinge sich nicht genug für ihre Betriebe einset- und Schlammräumer für Kläranlagen. das Werk wieder verlassen. zen. Für dieses Jahr erhofft sich Geschäfts- Aus Furcht vor der Arbeits- losigkeit scheuen viele Ostdeut- sche den Weg vors Arbeitsge- richt. Industriepfarrer Stauss 378,1 erkennt die stummen, veräng- 9,7 Wachstum ohne Arbeit 346,9 stigten Gesten seiner Landsleu- 9,5 Wirtschaftsentwicklung 360 te aus DDR-Zeiten heute wie- 8,8 in Ostdeutschland 340 der. „Sie werden behandelt wie 9,0 einschließlich Ost-Berlin 308,6 320 Tagelöhner“, sagt er. 8,5 Nach einer Untersuchung 300 8,0 des DGB lag die Grundvergü- 7,6 280 tung im Osten 1995 in den mei- 7,5 262,6 260 sten Tarifbereichen bei 85bis95 6,7 Prozent des Westniveaus. Au- 7,0 Erwerbstätige 6,6 Bruttoinlandsprodukt 240 in Millionen 6,5 6,4 in Milliarden Mark, ßerdem gibt es noch immer 6,5 1995 geschätzt 220 krasse Unterschiede bei Ar- 206,0 beitszeit und Urlaubsgeld. Ein 6,0 200 19891990 1991 1992 1993 1994 1995 1991 1992 1993 1994 1995 besonderer Trick, die Lohnko- sten zu drücken, ist die Einstu-

DER SPIEGEL 7/1996 79 DEUTSCHLAND führer Rüdiger Kruse einen Umsatz von das Zitat verwenden, wegen Beleidi- einer knappen Million. Strafrecht gung. Jürgen Riedel, Chef der Dresdner Um die Soldatenehre machte sich Dependance des Ifo-Instituts für Wirt- jetzt wieder der Vorsitzende Richter am schaftsforschung, warnt davor, die Be- Mainzer Landgericht Karl-Hans Fi- schäftigungsgesellschaften im Osten nur Fast schon scher, 43, verdient. Der Mainzer mußte als Übergangslösung zu begreifen. Der neu über eine der Strafsachen befinden, Wirtschaftswissenschaftler rät zur stär- die zuvor das Verfassungsgericht be- keren Verzahnung mit Kommunen und Mitleid schäftigt hatten. Landkreisen, denn die seien die Nutz- Für die zunächst mit 3000 Mark Geld- nießer der Arbeitsbeschaffungsmaßnah- Die Union will strikt verbieten, was strafe belegte Tucholsky-Variation men. Doch auch in den Gemeinden das Verfassungsgericht – manchmal „Alle Soldaten sind potentielle Mörder“ fehlt das Geld für Zuschüsse zu den gab es nun Freispruch, weil sich der Arbeitsmarktprojekten. Da müsse das – für erlaubt hält: ein Tucholsky- Richter von Karlsruhe dazu gezwungen Land einspringen, sagt Riedel. Zitat. sah. Doch er geißelte das Verfassungs- Das aber will sich möglichst rasch gerichtsurteil als „anmaßend, juristisch ganz aus der aktiven Arbeitsmarktpoli- fragwürdig und gesellschaftspolitisch tik verabschieden. Spätestens Ende des er Karlsruher Verfassungsrichter falsch“. Jahres soll das sächsische „Aufbau- Dieter Grimm, 58, ärgert sich Anders verfuhr vorige Woche der werk“, eine von Arbeitgebern, Gewerk- D schon lange über den wachsenden Münchner Amtsrichter Werner Rauner, schaften und dem Land getragene Dach- Ungehorsam gegenüber den Urteilen 58, mit einer Pazifistin, die er im ersten organisation der Beschäftigungsgesell- des höchsten deutschen Gerichts: Im- Durchgang 1990 zu 750 Mark Geldstrafe schaften, aufgelöst sein. mer häufiger wolle jemand ausprobie- verurteilt hatte, weil sie an einem Bun- Was danach kommt, ist ungewiß. In- ren, „was passiert, wenn man sich nicht deswehrstand mit dem Transparent golf Olsen von der IG Metall in der daran hält“. „Soldaten sind potentielle Mörder/ Dauerkrisenregion Erzgebirge: „Die Besonders aufsässig reagieren Politi- Kriegsdienstverweigerer“ demonstriert Regierung in Dresden glaubt noch im- ker und Juristen-Kollegen auf ein Ur- hatte. mer traumtänzerisch, daß der Markt es schon richten wird.“ Bei Olsen in Zschopau ist der Aus- nahmezustand längst Alltag. 23,5 Pro- zent Arbeitslose sind hier offiziell regi- striert, im Januar gab es bereits zwei Konkurse. Der größte Arbeitgeber ist die ABS-Erzgebirge. Wie in anderen ostdeutschen Regio- nen versuchen sich auch im Erzgebirge Gewerkschafter als Strukturpolitiker. Olsen verhandelte mit französischen Banken, holte Landräte, Handelskam- mern und Arbeitsamtsverwalter an ei- nen Tisch, als der Slogan „Bündnis für Arbeit“ noch nicht in aller Munde war. Doch ihr regionales Wirtschaftsförde- rungskonzept stieß beim Wirtschaftsmi- nister Sachsens auf wenig Gegenliebe. „Herr Staatsminister Schommer hat Ih- ren Vorschlag mit großem Interesse zur Kenntnis genommen“, mehr als dieser Satz aus dem Ministerbüro war aus Dresden nicht zu hören. Olsen hat auch schon mal ausgerech- net, was der von IG-Metall-Chef Zwik- kel propagierte Verzicht auf Überstun- den in Zschopau bringen würde: 12 Ar- beitsplätze pro 500-Mann-Betrieb. „Uns fehlen aber Tausende.“ Die Tageszeitung Einen Vorschlag, wo die herkommen könnten, will am Dienstag dieser Woche teil, das Grimm mitverfaßt hat: die In der von Karlsruhe angeordneten ein überparteilicher Arbeitskreis aus „Soldaten-Mörder“-Entscheidung. Neuverhandlung beharrte die Münchne- Ökonomen, Gewerkschaftern und Poli- Hartnäckig empören sich Strafrichter rin darauf, daß sich ihre Aktion gegen tikern um den SPD-Vize Wolfgang unterer Instanzen über die Karlsruher das „Soldatentum“ im allgemeinen und Thierse in einem Thesenpapier zur Feststellung, daß die Verwendung des dessen mörderisches Tun gerichtet ha- „Ökologischen Erneuerung“ des Ostens Tucholsky-Zitats „Soldaten sind Mör- be. Auch nach den Karlsruher Vorga- vorstellen. Durch gezielte Strukturpoli- der“ von der Meinungsfreiheit gedeckt ben hielt Richter Rauner daran fest, die tik könnten, so die Kernthese, im Um- sein kann. Und hartnäckig versuchen drei Soldaten am Bundeswehrstand sei- weltbereich bis zum Jahr 2000 rund Bonner Unionspolitiker, mit einer Än- en beleidigt worden. Abermals verhäng- 300 000 Jobs entstehen, die sich selbst derung des Strafgesetzbuches eben das te er eine Geldstrafe von 750 Mark – tragen und für die Unternehmer Profit zu erreichen, was Karlsruhe für unzuläs- diesmal allerdings nur als „Verwarnung abwerfen. sig hält: die rigide Bestrafung derer, die mit Strafvorbehalt“.

80 DER SPIEGEL 7/1996 Das Verfassungsge- Hinter verschlossenen richt hat den unteren In- Türen haderten da pro- stanzen bei der Ein- minente Gäste von Mili- schätzung der bösen tär und Jurisprudenz mit Worte immerhin einen den Karlsruher Verfech- Spielraum gelassen: Im tern des freien Wortes. konkreten Fall sei abzu- Zur „Superrevisionsin- wägen zwischen Mei- stanz“ habe das Verfas- nungsfreiheit und Eh- sungsgericht sich aufge- renschutz. Und die schwungen, agiere als Gerichte müßten be- „oberstes Amtsgericht rücksichtigen, ob sich der Nation“, hieß es da. die Kritik der ange- Ganz besonders hef- klagten Pazifisten ge- tig zürnte der Bonner gen das „Soldatentum Staatsrechtsprofessor und Kriegshandwerk Josef Isensee, der gern schlechthin“ gerichtet jede Gelegenheit nutzt, habe – in der Regel sich gegen eine in seinen straffrei; oder ob mit Antikriegs-Plakat Augen zu weitreichende dem „Mörder“-Vorwurf Meinungs- und Presse- gezielt einzelne Bundeswehrangehörige freiheit zu engagieren. Die Karlsruher oder auch die deutschen Streitkräfte ins- Richter hätten im Übermaß die Freiheit gesamt geschmäht werden sollten – im der Angeklagten berücksichtigt und alle Einzelfall strafbar. bösen Sentenzen daraufhin abgeklopft, Eigensinnige Richter fühlen sich zu- „ob es irgendeine Auslegungsmöglich- dem durch politische Stänkereien gegen keit gibt, die dem Angreifer zugute das Karlsruher Gericht ermutigt. Nach kommt“. Isensee zum SPIEGEL: „Wer einem Antrag der sächsischen CDU-Re- jetzt noch verurteilt wird, verdient schon gierung soll der Bundesrat an das Ver- fast Mitleid.“ fassungsgericht appellieren, seine Ent- Aber beider Suche nach Abhilfe konn- scheidung zu überprüfen. „So gut wie te den Bonnern nicht mal Isensee helfen. nie“, meinen die Sachsen, würde nach Dem Einwand, daß ein spezieller Ehren- den Kriterien der Karlsruher künftig je- schutz für Soldaten im Grunde dem Leit- mand noch wegen der Aussage bestraft bild des „Bürgers in Uniform“ widerspre- werden. Das „erweckt beim Bürger den che, suchte Isensee mit dem Vorschlag zu Eindruck, unser oberstes Gericht stelle begegnen, den erweiterten Schutz auf den Soldaten praktisch schutzlos“. „alle“ staatlichen „Amtsträger“ auszu- Vor wenigen Tagen erst tönte Nor- dehnen, „die wegen der Erfüllung und bert Geis (CSU), rechtspolitischer Spre- Wahrnehmung ihrer verfassungsmäßi- cher der Unionsfraktion, daß „wir eine gen gesetzlichen Pflichten verunglimpft verfassungsgerichtliche Rechtsprechung werden“. haben, die allzu sehr der Meinungsfrei- Auch dem hat Karlsruhe freilich schon heit gegenüber dem Schutz der Ehre des vorgebeugt. „Ein verfassungsrechtlicher einzelnen den Vorzug gibt“. Grundsatz“, so das Soldaten-Urteil, Wenn es nach Geis und seinen Partei- „wonach bestimmte Gehorsamspflichten freunden geht, soll das nun anders wer- durch erhöhten Ehrenschutz zu kompen- den. Ein eigener Ehrenschutz für Solda- sieren sind, besteht nicht.“ ten und praktischerweise auch gleich für Vor allem aber: Was immer zusätzlich Polizisten soll im Strafgesetzbuch veran- ins Gesetz geschrieben würde – die Gren- kert werden – Höchststrafe für beson- ze des Erlaubten, wie sie vom Verfas- ders böse Worte statt der zwölf Monate sungsgericht aus dem Grundrecht der des geltenden Beleidigungs-Paragra- Meinungsfreiheit abgeleitet wurde, ist phen 185 künftig drei Jahre: So hart durch einfaches Gesetz nicht zu verschie- wird sonst etwa nur Landfriedensbruch ben. Fast resignierend meinten die mei- oder Inzest geahndet. sten Experten auf dem Unions-Hearing CSU-Landesgruppenchef Michael denn auch, „daß jede gesetzliche Maß- Glos kündigte für vergangene Woche nahme zum Ehrenschutz nur ein politi- sogar schon einen fertigen Entwurf für sches Symbol wäre“ (Isensee). ein Gesetz zum Schutz der Ehre aller Einen Vorschlag zur Güte machte vor Uniformierten an. Doch am Dienstag den Abgeordneten der Münchner beschlossen die Rechtspolitiker der Rechtsprofessor Armin Steinkamm. Als Bundestagsfraktion, die Vorschläge scharfer Kritiker des Verfassungsge- noch einmal in Ruhe zu bedenken. richtsurteils empfahl er zwar dem Gesetz- Tatsächlich ist der verschärfte Ehren- geber, eine „klarstellende Ergänzung“ schutz leichter gefordert als verwirk- des Beleidigungsparagraphen anzustre- licht. Das haben die Unionsabgeordne- ben – wie immer die lauten mag. ten der Arbeitsgruppen Recht und Ver- Aber auch der Bundeswehr gab Stein- teidigung schon im Dezember auf einem kamm einen guten Rat: Die Militärs soll- internen Experten-Symposium lernen ten „nicht bei jedem verbalen Angriff als müssen. erstes nach dem Strafrichter“ rufen. Y

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WIRTSCHAFT

Verkehr „Dann bricht es zusammen“ Trotz aller Kritik: Die Bundesregierung hält an der geplanten Magnetbahnstrecke von Hamburg nach Berlin fest. Geld spielt keine Rolle, verkehrspolitische Argumente zählen wenig – der potentielle Exportschlager Transrapid soll aus rein industriepolitischen Gründen gefördert werden.

uerst bröselte der Beton. Der Feh- Und der könnte gigantisch werden: „Solche unrealistischen Annahmen ler war teuer, ließ sich aber leicht Immer mehr Experten bezweifeln, daß und offensichtlichen Fehler sind nicht Zbeheben. Bald glitt die Magnetbahn jährlich 12 bis 14 Millionen Passagiere geeignet“, heißt es im Gutachten, „das Transrapid wieder mit beeindruckender per Magnetgleiter zwischen Haupt- und Vertrauen in die Ernsthaftigkeit des Fi- Perfektion berührungsfrei über ihren Hansestadt pendeln werden. „Wenn nanzierungskonzeptes zu stärken.“ aufgestelzten Versuchsfahrweg im Ems- diese Grundlage nicht stimmt“, urteilt Mindestens genauso fragwürdig wie land. Ralf Kohlitz vom Bundesrechnungshof, die Kalkulation aber ist die Annahme, Dann rissen die Bolzen. Sie halten die „bricht das ganze Gebäude zusammen, eine Referenzstrecke in Deutschland Statoren fest, den an der Betontrasse der Bund könnte auf einem Milliarden- würde den Transrapid zum High-Tech- verzurrten Antrieb des Gleiters. Auch haufen Schulden sitzen.“ Exportschlager machen – die Europäer diesmal machte der Transrapid rasch Kernpunkt der Kritik des Bundes- haben sich auf den Ausbau eines Hoch- wieder Fahrt. Das Problem schien beho- rechnungshofes ist, daß der Bund sich geschwindigkeitsnetzes der konventio- ben. Nicht so ganz. Am Mittwoch der vori- gen Woche räumte Diplom-Ingenieur Hans Georg Raschbichler, Direktor der Thyssen Henschel Magnetfahrttechnik, vor dem Verkehrsausschuß des Bundes- tages ein: Halterungen, die den Bela- stungen des Dauerbetriebes gewachsen sind, gibt es noch gar nicht, sie müssen noch entwickelt werden. Doch der tech- nische Mangel wird das „nette techni- sche Spielzeug Transrapid“ (Thyssen- Henschel-Vorsitzender Winfried Haa- stert) kaum stoppen. Andere Probleme sind weit gewichti- ger: Weder die Bundesregierung noch Verkehrsminister Matthias Wissmann wissen, wie teuer der Bau einer Magnet- bahnstrecke zwischen Hamburg-Haupt- bahnhof und Berlin-Papestraße wirklich wird, ob sich genügend Passagiere für

einen rentablen Betrieb finden, welche ACTION PRESS technischen Schwierigkeiten noch zu be- Transrapid-Freund Wissmann: Will die Bahn – um jeden Preis wältigen sind. Ungewiß ist auch, ob der Hauptzweck zu viele Risiken hat aufbürden lassen. nellen Rad-Schiene-Technik festgelegt. der verkehrspolitisch allein nicht zu Keiner weiß, welche Auflagen die Be- Da ist für den teuren, futuristischen rechtfertigenden Investition mit dem hörden im Raumordnungsverfahren Exoten kein Platz. Bauwerk überhaupt erreicht werden noch machen. Mehrkosten – über den Die europäische Entscheidung für die kann: den Export der neuartigen Ver- jetzt genannten Fahrwegpreis von 5,6 Eisenbahn ist gut begründet. Das läßt kehrstechnik nach Asien und Austra- Milliarden Mark hinaus – sind nach An- sich an der Strecke Hamburg–Berlin au- lien, in die Weiten Rußlands und Ame- sicht der Prüfer in nicht abschätzbarer genfällig demonstrieren: rikas zu fördern. Höhe mit Sicherheit zu erwarten. 5,6 Milliarden Mark, in Preisen von Für die unternehmerische Entschei- Auf der anderen Seite seien die zu er- 1993, soll die Gleitertrasse von Ham- dung, ob der Transrapid auf die Trasse wartenden Erlöse viel zu optimistisch burg über Schwerin in die deutsche gesetzt werden kann, reichen die Er- angesetzt. Die angenommene Fahrgast- Hauptstadt nach Rechnung der Indu- kenntnisse der Techniker und Planer zahl von jährlich 14,5 Millionen werde strie kosten. Die Fahrzeit beträgt knapp noch nicht aus, gibt Bahn-Vorständler bereits für das Jahr 2004 einkalkuliert, eine Stunde. Roland Heinisch zu. Doch Bundesregie- obwohl die günstige Prognose erst für Die annähernd gleiche Dienstleistung rung und Wissmann haben sich längst das Jahr 2010 gelte und ohnehin auf An- wäre von der Bahn für einen Bruchteil festgelegt: Sie wollen den Bau – um je- nahmen beruhe, die allesamt nicht mehr des Preises zu haben. Zwischen 500 und den Preis. realistisch seien. 800 Millionen Mark würde es kosten,

84 DER SPIEGEL 7/1996 . R. JANKE / ARGUS Transrapid-Wartung: „Der Fahrweg ist zu teuer, die technischen Ansprüche sind zu hoch“

die Gleisstrecke für eine Zuggeschwin- rapid jemals ein Exportschlager wird: Rothengatter hat sich die Studie be- digkeit von 200 Stundenkilometern aus- „Der Fahrweg ist zu teuer, die techni- sorgt. Daraus, so der Professor, könne zubauen. IC-Triebzüge mit moderner schen Ansprüche an den Fahrweg sind man „weiß Gott nicht entnehmen“, daß Neigetechnik könnten sogar eine „kon- zu hoch.“ Jeder Käufer von Verkehrssy- die USA nur auf den deutschen Transra- stante Höchstgeschwindigkeit“ (Bun- stemen verlange heute, daß der Ab- pid warteten. desbahn-Expertise) von 230 Stundenki- schluß einen beachtlichen Anteil „local Zwar habe das fiktive US-System gut lometern fahren und die Reisenden in content“ enthalten müsse, einen Auf- abgeschnitten. In allen konkreten Ver- weniger als 90 Minuten von City zu City tragsbestandteil, an dem heimische Fir- gleichen zwischen TGV und Transrapid schaffen. men gut mitverdienen. Das sei beim aber liege der technisch brillante Ma- Daß ein Zeitgewinn von günstigsten- Transrapid kaum zu machen. gnetgleiter ökonomisch auf Rang zwei. falls 30 Minuten das Opfer von fast fünf Volkswirt Rothengatter macht den Rothengatter, Mitglied des wissen- Milliarden Mark Steuergeld wert ist, be- Transrapid-Verkäufern die schönen schaftlichen Beirates von Verkehrsmini- hauptet deshalb nicht einmal der tech- Märkte sämtlich mies: In Mittel- und ster Wissmann: „Hier wird versucht, nikverliebte Verkehrsminister Wiss- Osteuropa stehe die Modernisierung des dem Steuerzahler mit falschen Informa- mann. Er hat sich von einem anderen tionen mehr Geld aus der Tasche zu lok- Argument einfangen lassen: Die mit ken.“ zwei Milliarden Mark Subventionen in „Mit falschen Der Verkehrsminister sieht das ganz 20 Jahren zur Einsatzreife entwickelten Informationen mehr Geld anders. Und er beruft sich wie seine Kri- Züge der Zukunft müßten im eigenen tiker auf das Gutachten des Bundes- Land die Chance der Alltagsbewährung aus der Tasche locken“ rechnungshofes. Die Prüfer, so die Les- erhalten. Nur dann könne die Industrie art des Ministers, rieten ihm, „intensiv ausländische Nachfrager locken, nur gutausgebauten Gleisnetzes an. Für auf eine pünktliche Inbetriebnahme des dann wären Jahrhundertgeschäfte in Hochgeschwindigkeitszüge fehle auf ab- Transrapid hinzuarbeiten“. Sicht. sehbare Zeit das Geld. In Asien seien Diese Umwertung aller Werte mochte Beredt schwärmte Thyssen-Henschel- die Chancen für den Transrapid mini- der Autor des Gutachtens, Ralf Kohlitz, Chef Haastert vor dem Verkehrsaus- mal. Das gleiche gelte für Australien nicht schweigend hinnehmen. Gemeint schuß von traumhaften Chancen. Indo- und Südamerika. Der Transrapid hätte sei mit dem Zitat lediglich: Wenn die nesien, Thailand, Malaysia, Chile und nur dann Zukunft, wenn er sich „privat- Regierung trotz aller Zweifel auf ihrem Australien „haben Interesse“. „Wesent- wirtschaftlich deutlich besser rechnen“ Kurs beharre, dann solle sie wenigstens lich konkreter“ noch seien Projekte in würde als etwa der französische Hoch- aufs Tempo drücken, um nicht noch den USA. Vor Weihnachten sei Ent- geschwindigkeitszug TGV. Das sei aber mehr Millionen zu verplempern. Kohlitz scheidungsträgern am Pazifik klarge- nicht so. fordert ausdrücklich eine ungeschmink- worden: Nur der Transrapid könne den Bleiben die USA, der Traummarkt te Kosten-Nutzen-Analyse. Flugverkehr zwischen Los Angeles und des Thyssen-Henschel-Managers Haa- Genau das will Wissmann vermeiden: San Francisco ersetzen und damit die stert. Schon vor zwei Jahren berief sich Wenn sein Magnetbahn-Bedarfsgesetz Smog-geplagten Westküstler von ihrer die Industrie auf einen „Report“ des erst einmal den Bundestag passiert hat, Umweltlast befreien. Aber, so Haastert, US-Verkehrsministers, in dem der haben Zweifler keine Chance mehr. Die alles wäre einfacher, „wenn wir die Re- Transrapid, der TGV und ein noch zu Notwendigkeit der Magnetbahn ist dann ferenzstrecke schon hätten“. entwickelndes US-Magnetbahnsystem per Gesetz festgestellt. Eine verglei- Werner Rothengatter, Verkehrswis- verglichen werden. Dabei schneidet das chende Bewertung von Alternativen wie senschaftler an der Universität Karlsru- Magnetsystem gut ab, für Thyssen An- die des Hochgeschwindigkeitszuges ist he, dagegen glaubt nicht, daß der Trans- laß zu frohen Hoffnungen. dann von Amts wegen nicht möglich. Y

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WIRTSCHAFT

Doch der Auftakt fiel eher kläglich gen. Inzwischen haben sie eingesehen, Telekommunikation aus. Eine Live-Schaltung nach England daß das kaum zu schaffen ist. Das er- gab es nicht, BT-Chef Peter Bonfield klärt die hektische Partnersuche der ver- überbrachte seine Grüße mit Hilfe eines gangenen Wochen. vorab aufgenommenen Videos. „Ein Der Markt für Telekommunikation Wie im peinlicher Start für einen Telekommuni- wird nach einer Schätzung der Bayeri- kationsanbieter“, spottete ein amerika- schen Vereinsbank bis zum Jahr 2000 nischer Teilnehmer. von heute 85 Milliarden auf rund 110 Hühnerstall Solche Schwächen wird sich das neue Milliarden Mark wachsen. Doch „nach Bündnis nicht lange leisten können. realistischen Prognosen“, meint auch Die private Konkurrenz der Telekom Schon Mitte dieses Jahres endet das RWE-Chef Dietmar Kuhnt, wird die formiert sich zu großen Allianzen: Netz-Monopol der Telekom: Dann dür- Telekom dann noch einen Marktanteil fen private Anbieter über eigene Netze von 75 bis 80 Prozent halten können. Allein hat gegen die ehemalige Daten für Firmenkunden transportie- Für fünf bis sechs Anbieter, die alle Staatsfirma keiner eine Chance. ren. Und wenn eineinhalb Jahre später Milliarden in neue Netze investieren, ist auch noch das Sprachmonopol fällt, der Rest zu klein. Langfristig werden wird Deutschland der freieste Telefon- nicht mehr als drei Telefongesellschaf- ie Bonner Redoute mit ihren markt der Welt sein. ten überleben, prophezeit Werner Sül- schweren Kristalleuchtern und Erst vor wenigen Wochen hatte sich zer, Deutschland-Chef der AT&T. Dstuckverzierten Decken und Wän- eine weitere Allianz gegen die Telekom Die Telekom, da sind sich alle einig, den verlieh dem Auftritt festlichen formiert: Veba-Chef Ulrich Hartmann wird auf Jahre hinaus ein übermächtiger Glanz. Simultanübersetzer, Kameras verbündete sich mit dem ehemaligen Gegner bleiben. Und daß der Noch-Mo- und kistenweise Übertragungstechnik Röhrenkonzern Mannesmann, der mit nopolist seinen Markt hartnäckig vertei- standen bereit, die Kunde der neuen Su- dem Mobilfunknetz D2 bereits einschlä- digen wird, haben die Konkurrenten per-Allianz in alle Welt zu tragen. gige Erfahrungen sammelte. Beide Part- eben erst schmerzhaft erfahren. M. BUGNASKI / JOKER Telekom-Konkurrenten*: Der feierliche Auftakt fiel eher kläglich aus

Es galt, ein Bündnis zu feiern, wie es ner sind ihrerseits mit den Telekommu- Den Versuch, der Telekom in bereits die deutsche Industrie noch selten gese- nikationsfirmen Cable & Wireless und vom Monopol freigegebenen Bereichen hen hat: Die beiden Konzerne RWE AT&T verbunden. Großkunden abzujagen, konterte Tele- und Viag, Nummer 6 und Nummer 13 Allein stehen jetzt nur noch der Thys- kom-Chef Ron Sommer mit Preisnach- unter den Großen der deutschen Indu- sen-Konzern – und die Bahn. Um deren lässen von bis zu 40 Prozent. Den priva- strie, wollen sich zusammentun, um ge- Kommunikationstochter DBKom feil- ten Anbietern, noch auf Mietleitungen meinsam mit der British Telecom (BT), schen die anderen mit Milliarden-Ange- der Telekom angewiesen, blieb kaum ei- dem fünftgrößten Telekommunikations- boten. So werden am Ende nur zwei ne Chance. Ihre inzwischen eingereichte konzern der Welt, der ehemaligen große Blöcke bleiben, die der Telekom Beschwerde bei der Europäischen Uni- Staatsfirma Telekom Konkurrenz zu Marktanteile abjagen werden: Aus dem on wegen „Ausnutzung einer marktbe- machen. Monopol wird ein Oligopol. herrschenden Stellung“ gilt als wenig Alle Konzerne waren ursprünglich al- aussichtsreich. * RWE-Chef Dietmar Kuhnt (M.), Viag-Chef Georg lein angetreten, alle wollten sie, wie der „Vor diesem Hintergrund“, so Viag- Obermeier (3. v. r.), Kollegen, am Mittwoch ver- gangener Woche in Bonn; im Hintergrund auf der designierte Thyssen-Chef Dieter Vogel, Chef Georg Obermeier, seien neue stra- Videoleinwand BT-Chef Peter Bonfield. „rund zehn Prozent Marktanteile“ errin- tegische Allianzen „von zentraler Be-

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deutung“. Nur so bestehe überhaupt ei- ne „realistische Chance, gegen den bis- Starke Allianzen Unternehmens-Partnerschaften auf dem deutschen Telefonmarkt herigen Monopolisten eine Marktpositi- on aufbauen zu können“. Ob die neuen Allianzen auf Dauer Mannesmann DBKom Viag Bestand haben werden, ist jedoch mehr beschäftigte: 6700 umsatz: 30,4 Milliarden Mark beide Gruppen und Thyssen umsatz: 29 Milliarden Mark als fraglich. Hinter den Kulissen wird beschäftigte: 125000 beschäftigte: 86 000 auch weiterhin mächtig gepokert und bemühen sich um die DB-Tochter gehandelt. Die Stromkonzerne versu- Veba RWE chen, ihre Stellung nach dem jahrelang eingeübten Muster auszubauen: kaufen, umsatz: 71 Milliarden Mark umsatz: 55,8 Milliarden Mark beschäftigte: 127000 Thyssen beschäftigte: 113000 was auf dem Markt zu kriegen ist. umsatz: 34,9 „Geld“, so weiß ein Branchenkenner, Milliarden Mark „spielt bei den Planungen keine Rolle.“ British Durchaus ernsthaft wird im Veba- Cable&Wireless beschäftigte: Vorstand überlegt, den Partner Man- Großbritannien 130000 Telecom nesmann mit Hilfe von AT&T zu AT&T USA auf der Suche schlucken. Auch die Zukunft von Thys- nach Anschluß sen Telekom ist weiterhin ungewiß. Seit Monaten verhandelt das Unternehmen mit dem RWE-Konsortium, eine Ent- scheidung ist noch nicht gefallen. 49,9prozentige Beteiligung an der netzen die gesamte Bahnstruktur ge- Die endgültigen Marktstrukturen DBKom ausgeschrieben hat, geht es bei steuert. Doch die Haftung im Falle einer werden sich wohl erst zeigen, wenn der Hülsmann zu wie „im Hühnerstall“, Fehlschaltung will keiner der Interes- verbissen geführte Milliarden-Poker um klagt ein Mitarbeiter. Alle Telekom- senten übernehmen. Unsicher ist zu- die Deutsche-Bahn-Tochter DBKom Konkurrenten versuchen, den Zuschlag dem, ob – wie geplant – zu einem späte- entschieden ist. Für die neugegründete zu bekommen. ren Zeitpunkt ein weiterer Anteil von 25 Gesellschaft sucht DB-Chef Heinz Dürr Zur Zeit führt die CNI, an der Man- Prozent verkauft werden kann. einen potenten Partner. nesmann, AT&T und die Deutsche Zurückstecken will niemand. Bis zum Auch Dürr will beim Geschäft mit der Bank beteiligt sind: Sie bietet bis zu 2,7 Mai wird weitergepokert. Spätestens Telekommunikation mitmischen. „Mit Milliarden Mark. Wie Thyssen und Viag dann will die Bahn ihre Entscheidung den Verkehrsleistungen kann ich in den gehört die CNI zu jenen Auserwählten, bekanntgeben. Gute Aussichten auf den nächsten Monaten niemals so viel Geld die jetzt ein verbindliches Angebot un- Zuschlag werden in der Branche Thys- verdienen wie mit der Telekommunika- terbreiten müssen. Bereits ausgeschie- sen eingeräumt. Denn seinen waghalsi- tion“, glaubt der Eisenbahner. den sind dagegen RWE und Veba mit gen Plan, „einer der größten Voll- Die Hoffnung ist nicht unbegründet. Geboten zwischen einer und eineinhalb lizenz-Anbieter für den freien Markt“ Dürr verfügt über das Material, das die Milliarden Mark. zu werden, kann DBKom-Chef Hüls- anderen Konkurrenten verzweifelt su- Mit den neuen Bündnissen haben je- mann am besten mit einem kleinen Part- chen: Telefonleitungen. doch auch sie noch eine Chance offenge- ner verwirklichen, der noch nicht über Zwar haben RWE und Viag im Ver- halten, Zugriff auf das DB-Netz zu be- eine Vielzahl eigener Gesellschaften bund mit anderen Stromerzeugern ein kommen. Zwar wird in Essen und Düs- verfügt. stattliches Leitungsnetz von über 8000 seldorf vehement bestritten, daß die Aber auch Viag und besonders Man- Kilometern zu bieten. Das Verkehrsun- schnellen Zusammenschlüsse in „ir- nesmann sind noch nicht aus dem Ren- ternehmen aber hat bereits 45 000 Kilo- gendeinem Zusammenhang“ (Kuhnt) nen: Sie bieten schon jetzt hohe Sum- meter entlang seiner Trassen verlegt. mit der DB-Entscheidung stünden. men und werden wohl nachbessern. Die Bahn – schon immer vom Tele- Marktbeobachter glauben jedoch nicht Doch über den Zuschlag entscheiden kommunikationsmonopol befreit – be- an reinen Zufall. nicht Hülsmann und Dürr allein, es geht nutzt die Leitungen bereits heute zur Dabei handelt sich der künftige Part- auch nicht nur ums Geld. Postminister Übermittlung von Sprache und Daten. ner der DBKom – neben dem lukrativen Wolfgang Bötsch und Bundeskanzler Das grobmaschig gestrickte Netz aus Netz – eine Menge Probleme ein. Die Helmut Kohl haben ein Mitspracherecht Kupfer- und Glasfaserleitungen führt di- Firma hat 6700 Mitarbeiter, darunter angemeldet. rekt in die Zentren fast aller deutschen zahlreiche unkündbare Beamte. Nach Das mindert die Chancen für Mannes- Städte. Es für den pri- Meinung aller Bieter mann. Denn mit den Düsseldorfern, das vaten Markt auszubau- sind das viel zuviel. weiß der Kanzler, kommt die wohl en wäre ein Kinder- Schlimmer jedoch ist schlagkräftigste und übernahmefreudig- spiel, weiß DBKom- der mit der Bahn ab- ste Telefongesellschaft der Welt auf den Chef Elmar Hüls- geschlossene Service- deutschen Markt: die AT&T. mann. Vertrag. Der bringt Mit dem Netz der Bahn könnte der Was dem „Unter- zwar pro Jahr eine Mil- amerikanische Telefonmulti zu einer nehmen Zukunft“ liarde Mark in die Kas- ernsthaften Bedrohung für das ehemali- (DB-Werbung) für ei- se, aber er verlangt ge Staatsunternehmen Telekom wer- nen Start in die Tele- Leistungen, vor denen den. Daß Bonn eine solche Entwicklung kommunikationszu- die Bewerber zurück- durch den Verkauf von Anteilen eines kunft fehlt, ist ein schrecken. anderen Staatsunternehmens, der Partner mit Know-how Über das Kommuni- DBKom, auch noch fördert, gilt in der und Kapital. kationsnetz wird von Branche als ausgeschlossen. An Bewerbern be- der Weichenstellung Gut möglich deshalb, daß RWE-Chef steht kein Mangel. Seit über Signalanlagen bis Kuhnt und sein Viag-Kollege Obermei-

die Bahn Ende vergan- J. DÜSELDER / CARO hin zu Fahrkartenauto- er in der Bonner Redoute zu Recht ge- genen Jahres eine Bahnchef Dürr maten und Computer- feiert haben. Y

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WIRTSCHAFT

ren daraufhin die Exportbestimmungen bot das eigene Verhalten eigentlich fest- Europa verschärft worden. Damit werde der gelegt war. Einer nach dem anderen Verbraucherschutz, so Seehofer damals schwenkte auf Verbotslinie ein. „Eine erfreut, gewährleistet. Der Minister an rein politische Sache“, so Seehofers Ex- die Adresse der Länder: „Im nationalen perten. Das verhinderte EU-Recht Zurück an Alleingang das Verbringen britischen schütze die Deutschen wie alle anderen Rindfleisches nach Deutschland gänz- Europäer hinreichend. lich zu verbieten, gibt es weder sachliche Rein politisch oder nicht: Tatsache Absender Gründe noch eine rechtliche Möglich- ist, daß bisher nicht 100prozentig ausge- keit.“ schlossen werden kann, daß der in Das Importverbot für britisches In der Sache sahen das die Länder an- Großbritannien bei Rindern verbreitete Rindfleisch wird kaum zu halten ders, und eine Möglichkeit gab es auch, BSE-Erreger auf den Menschen über- wenn auch aus europäischer Sicht keine tragbar ist. sein, die Brüsseler Kommission will rechtliche. Laut Grundgesetz können Aber selbst mit einem strikten Im- dagegen klagen. bestimmte Gesetze, die zum Beispiel portverbot können einzelne Bundeslän- Verwaltungstätigkeit der Länder erfor- der die Gefahr, daß Deutsche mit BSE- dern, nur mit der Zustimmung des Bun- verseuchtem Fleisch in Berührung kom- ie 100 Kilogramm Rindfleisch, die desrates erlassen werden. Das trifft auch men, nicht verringern. In einem Europa Mitarbeiter des Veterinäramtes auf die BSE-Richtlinie der EU vom vo- der offenen Grenzen sei es „eine gefähr- Ddes Erftkreises am Mittwoch ver- rigen Sommer zu, die Seehofer in deut- liche Illusion zu glauben, daß in der Eu- gangener Woche in einem Kühlhaus sches Recht umsetzen mußte. ropäischen Union gehandelte Fleisch- entdeckten, waren vom Feinsten. Am 15. Dezember votierte der Bun- sendungen am Bestimmungsort lücken- Sie stammten von gesunden schotti- desrat einstimmig gegen Seehofers Vor- los überwacht werden könnten“, warnt schen Hochlandrindern, waren gezüch- tet von Farmern, die das Creutzfeldt-Ja- kob-Syndrom für eine neue Attraktion auf dem Rummelplatz halten, und be- stimmt für Sterne-Restaurants in Nord- rhein-Westfalen, auf deren Speisekarte das Angus-Steak mit einem Preis ober- halb der 50-Mark-Grenze erscheint. Aber ein Erlaß ist ein Erlaß. Und der, wenige Stunden zuvor von der grünen nordrhein-westfälischen Umweltmini- sterin Bärbel Höhn an ihre Beamten verschickt, besagte nun einmal, daß al- les vom Rind, was seinen Ursprung im Großraum Britannien hat, sofort unter behördlicher Aufsicht an den Absender zurückzuschicken ist. Höhns Kollegin Klaudia Martini in Mainz (Fastnachtsmotto: „Wo saufe a Ehr is – is kotze ka Schand“) hat sogar noch schärfer durchgegriffen: Wer Rindfleisch über rheinland-pfälzische

Landesgrenzen bringen will, der muß M. CLERIOT / GAMMA / STUDIO X eine Genußtauglichkeitsbescheinigung BSE-verseuchtes Rind: Kampfansage aus Mainz an die Welt vorlegen – egal, ob die Sendung aus Dublin, Marseille oder Bremen kommt. lage und forderte seinerseits einen tota- Seehofer die Länder. Einzig die Kon- Im übrigen Europa wurden solche Be- len Importstopp britischen Rindflei- trolle vor Ort, im Herkunftsland, bräch- scheinigungen für das „Inverkehrbrin- sches. Der Bonner Gesundheitsminister te Sicherheit. gen“ (EU-Richtlinie) von Fleisch bereits saß in der Klemme. Er mußte EU-Recht Noch diese Woche will die Brüsseler 1991 abgeschafft. „Eine Kampfansage umsetzen, konnte aber nicht. Kommission eine Klage vor dem Euro- aus Mainz an die ganze Welt“, mokiert Nun sei ein „regelungsfreier Zustand“ päischen Gerichtshof (EuGH) gegen die sich ein hoher Beamter aus Horst See- eingetreten, schrieb Seehofers Staatsse- Bundesrepublik in die Wege leiten. hofers Bonner Gesundheitsministerium. kretär Baldur Wagner an alle Regie- Die Hardliner in deutschen Landen Dem Rückfall in die Kleinstaaterei rungschefs der Länder und forderte sie wollen sich mit Artikel 36 des EWG- schlossen sich vorige Woche andere an: auf, gemäß dem Fleischhygienegesetz Vertrages verteidigen, der ausnahms- Bayern und Brandenburg, Sachsen-An- für den Verbraucherschutz – in diesem weise Handelsbeschränkungen in der halt und das Saarland wollten ein totales Fall gegen die Rinderseuche BSE – zu Gemeinschaft „zum Schutze der Ge- Importverbot für britisches Rindfleisch sorgen. sundheit und des Lebens von Men- durchsetzen. Schadenfroh las Seehofer die Antwor- schen“ zuläßt. Noch vorigen Sommer war auch See- ten. Sie streuten zwischen der verständ- Das EuGH-Ergebnis ist für Ministe- hofer der Meinung, daß die EU allzu nislosen Frage, wo das Problem liege, rin Martini vorhersehbar: Die BSE- lasch Rindfleisch von der Insel, auf der und der Androhung, ein eigenes kleines Richtlinie wird als ausreichender Ge- immer noch jährlich 15 000 Tiere an der Landesimportverbot zu erlassen. sundheitsschutz bestätigt, die Deut- hirnzerstörenden Krankheit sterben, Vorige Woche merkte auch der letzte schen werden des Rechtsbruchs für nach Resteuropa hereinlasse. Landesgesundheitsminister, daß mit der schuldig befunden. Nach Anhörung der wissenschaftli- einstimmigen Forderung vom Dezem- Martini brav: „Dem werden wir uns chen Veterinärkommission der EU wa- ber nach einem nationalen Importver- dann natürlich fügen.“

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Unternehmen „Feuern reicht nicht“ Interview mit Grundig-Chef Pieter van der Wal über die Krise der Firma

SPIEGEL: Herr van der Wal, vor nicht se und die Vertriebslogistik verbessert einmal einem Jahr rechnete der Grun- werden, und ganz allgemein muß das dig-Vorstand mit einem Gewinn für Kostenbewußtsein in diesem Unterneh- 1995, nun schließt das Geschäftsjahr mit men einen viel größeren Stellenwert be- einem Rekordverlust von 600 Millionen kommen als bisher. Das fängt bei Mark. Wie kam es zu solch einer drasti- Dienstreisen und anderen ganz einfa- schen Fehleinschätzung? chen Dingen wie Fotokopierern oder van der Wal: Zunächst einmal hat sich Stromkosten an. der gesamte Markt der Unterhaltungs- SPIEGEL: Mit solchen Kleinigkeiten wol- elektronik 1995 wesentlich schlechter len Sie Grundig rentabel machen? entwickelt, als alle Experten erwartet van der Wal: Nicht nur, aber auch. Ent- hatten. Die große Diskrepanz ist aber si- scheidend ist die Mentalität. Mit dem GRAFFITI cher auch die Quittung für ein zu starkes Feuern von Personal allein ist eine Fir- Wunschdenken im Grundig-Vorstand. ma nicht zu sanieren, es geht um Prozes-

Dadurch wurden einige Korrekturmaß- se, um Abläufe und um Kosten und G. STOPPEL / nahmen zu spät getroffen. nochmals Kosten. Grundig-Sanierer van der Wal SPIEGEL: Nun muß die Belegschaft die- SPIEGEL: Seit Jahren reden die Grun- „Wunschdenken im Vorstand“ se Fehlkalkulation mit Massenentlas- dig-Chefs davon, neue Geschäftsfelder sungen bezahlen? zu erschließen. Passiert ist wenig, immer Telefonen und Geräten für das Büro zu van der Wal: Leider hat Grundig immer noch macht die Firma gut 60 Prozent ih- Hause. Eher skeptisch bin ich dagegen in noch zu viele Leute an Bord. Aber wenn rer Umsätze mit TV- und Videogeräten. Sachen Multimedia, da wird seit Jahren der Abbau von Arbeitsplätzen mein ein- Fehlt es den Managern an Ideen für drüber geredet, aber passiert ist nicht ziges Rezept wäre, dann wäre der Miß- neue Märkte? viel. Wir wollen uns aber auch da beim erfolg schon programmiert. van der Wal: Keineswegs. Wir haben ei- Service und bei Diensten engagieren. SPIEGEL: Immerhin 2200 Mitarbeiter im ne sehr kreative und effiziente Entwick- SPIEGEL: Die Konzernmutter Philips Raum Nürnberg werden ihren Job ver- lungscrew. Die Leute haben hervorra- wird nur noch in diesem Jahr die Verlu- lieren. gende Produkte in der Küche, mit de- ste bei Grundig ausgleichen. Was ge- van der Wal: Die Personalausgaben sind nen wir in der nächsten Zeit auf den schieht, wenn sich der von Ihnen erhoffte in Deutschland nun mal der größte Ko- Markt kommen. Und dabei geht es nicht Erfolg nicht einstellt? stenblock. Wir haben natürlich lange nur um Fernseher. van der Wal: Dann haben wir ein großes überlegt, welche Alternativen es gibt, SPIEGEL: Welche Märkte und Produkte Problem. Ich werde ein sehr schwieriges und wenn die Gewerkschaften und Be- sollen denn für Wachstum sorgen? Gespräch in Eindhoven führen müssen. triebsräte sinnvolle Vorschläge machen, van der Wal: Sehr erfolgversprechend Ob Philips dann noch einmal hilft, wird sind wir nicht taub. hat sich der Bereich der privaten Sicher- sich zeigen. SPIEGEL: Sie wollen die TV-Produktion heitstechnik angelassen. Mit dieser SPIEGEL: Sie halten es für möglich, daß in Franken halbieren und statt dessen Sparte macht Grundig insgesamt schon Philips 1997 noch Zuschüsse nach Fürth mehr in Wien und Polen herstellen. Ist jetzt 150 Millionen Mark Umsatz, und schickt? die TV-Montage in Deutschland nicht wenn wir da auch mit den Verbrauchern van der Wal: Eine Teilunterstützung hal- mehr rentabel? richtig ins Geschäft kommen, ist sicher te ich für möglich, denn die Marke Grun- van der Wal: In Deutschland werden wir noch sehr viel mehr drin. Weitere Zu- dig ist für Philips sehr wichtig. Nicht zu- eigentlich nur noch hochwertige Pro- kunftschancen sehe ich bei schnurlosen letzt deshalb hat Philips bisher mehr als dukte mit digitaler System- eine Milliarde Mark nach Fürth ge- technik rentabel produzie- +190 pumpt. Aber man muß auch verstehen, ren können, etwa die Deco- daß die Geduld von Philips nun am Ende der für das digitale Fernse- ist. Von 1997 an muß Grundig auf eige- nen Füßen stehen. hen oder Kopfstationen für GEWINN/VERLUST in Millionen Mark Satellitenfernsehen und na- SPIEGEL: Trotz der schweren Krise kas- *vorläufig türlich PC-Peripherie-Gerä- –19 siert Chantal Grundig ungeniert weiter te. Normale TV-Geräte, in ihre Garantiedividende. Gab es schon denen immer noch relativ –92 mal Versuche, die Erben zu einem frei- viel Handarbeit steckt, las- willigen Verzicht auf die 52 Millionen sen sich in Deutschland Mark jährlich zu bewegen? –296 van der Wal: nicht mehr günstig herstel- –348 Davon weiß ich nichts, das len. ist ein Vertrag zwischen Philips und der SPIEGEL: Was gehört außer Grundig-Stiftung. –600 SPIEGEL: Wird Grundig in fünf Jahren, Stellenabbau und Produkti- MITARBEITER in Tausend onsverlagerung zu Ihrem wenn Ihr Vertrag offiziell ausläuft, noch Sanierungskonzept? 21,2 19,9 16,2 14,0 13,2 11,5 existieren? van der Wal: Zunächst müs- 1990/91 91/92 92/93 93/94 94 95* van der Wal: Wir halten es selbst in der sen unsere internen Prozes- Hand. Y

DER SPIEGEL 7/1996 89 .

WIRTSCHAFT TRENDS

Konzerne gen führen. Cordes wird dann unter anderem für die Mikroelektronik- Tochter Temic und das gemeinsam mit Schrempp baut den Vorstand um ABB geführte Bahnunternehmen Ad- tranz verantwortlich sein. Cordes gilt Daimler-Benz-Chef Jürgen Schrempp AEG die Auflösung des Traditionsun- als enger Vertrauter Schrempps und greift nach dem Ausstieg und der Auf- ternehmens beschlossen hat und diese führte bereits die Verkaufsverhandlun- lösung der AEG jetzt auch im Vor- anschließend im Handelsregister ein- gen für die AEG-Bereiche Automati- stand durch. AEG-Chef Ernst Stöckl, getragen ist. Stöckls Platz im Daimler- sierungstechnik und Energievertei- der zugleich Mitglied im Daimler-Vor- Vorstand will Schrempp anschließend lung. Seine Berufung in den Vorstand stand ist, wird auf der nächsten Auf- mit einem neuen Mann besetzen: Eck- will Schrempp dem Aufsichtsrat aller- sichtsratssitzung des Konzerns am 21. hard Cordes, bislang Leiter der Kon- dings erst auf der übernächsten Sitzung Februar beide Positionen zur Verfü- zernentwicklung, soll ins oberste Füh- im April vorschlagen, auf der er seine gung stellen. Stöckl bleibt nur noch im rungsgremium aufrücken und dort ein neue Führungsorganisation präsen- Amt, bis die Hauptversammlung der neu gegründetes Ressort Beteiligun- tiert.

Affären Worldcom „killt deutsche Arbeits- Spektakel um plätze“, schreibt Gewerkschaftschef Schneider Willi Russ in Brie- fen an die 672 Ab- Der Häftling Jürgen Schneider, seit geordneten. Um die neun Monaten in Untersuchungshaft Parlamentarier zur in Miami, sorgt abermals für ein Me- Rücknahme der dienspektakel. Eigentlich sollte die Entscheidung zu bundesdeutsche Luftwaffe, so eine bringen, will die Idee der Frankfurter Staatsanwalt- Gewerkschaft dem- schaft, Schneider und Ehefrau Clau- nächst sämtliche

dia heimfliegen. Während des Fluges J. DIETRICH Faxgeräte des Bun- sollten die Ausreißer sogar von den Süssmuth destages mit einer lästigen Fesseln befreit werden. Für Flut von Protestfa- den Empfang, etwa auf einem Mili- Telekom xen blockieren. Bundestagspräsidentin tärflughafen, wurde ein kleines Komi- Rita Süssmuth versucht einzulenken. tee eingeplant: zwei Kamerateams Süssmuth will einlenken Bei einem Gespräch mit Telekom-Chef Ron Sommer stellte sie am Mittwoch Mit einer großangelegten Aktion vergangener Woche eine Kündigung kämpft die Deutsche Postgewerkschaft des Worldcom-Auftrags in Aussicht. gegen die „ungeheure Instinktlosig- Doch schon drohen neue Großkunden keit“ des Bundestages, seinen inner- abzuspringen, unter anderem verhan- deutschen Telefonverkehr nicht mehr delt das Wirtschaftsministerium in über die Telekom abzuwickeln. Der Bonn über die Vergabe seines Telefon- Auftrag an die US-Telefongesellschaft verkehrs an die US-Firma.

Medien Brigitte plant TV-Magazin Brigitte will ins Fernsehen. Nach einem fehlgeschlage- nen Versuch aus den Kindertagen des Privatfernsehens bei RTL macht die 110 Jahre alte Frauenzeitschrift aus

SPRINGER-VERLAG dem Verlag Gruner+Jahr einen neuen Anlauf, ihren vier Schneider im Gefängnis Millionen Lesern auch Millionen Zuschauer zur Seite zu stellen. Geburtshilfe leistet ihr dabei kein privater TV- und ein Pressefotograf. Doch des Sender, sondern der öffentlich-rechtliche Norddeutsche Kanzlers Fluggerät stand kurzfristig Rundfunk, dessen Chefredakteur Volker Herres das nicht zur Verfügung, und die ausge- Konzept für eine 45minütige Abendsendung erarbeitet schlossenen Reporter maulten. Nach hat. Die NDR-Tochter Studio Hamburg produziert zu- Verhandlungen mit der Frankfurter nächst drei Testvarianten. Ende Februar wird gesichtet Flughafen AG haben die Staatsanwäl- und entschieden, ob das Magazin in Serie geht. Gesendet Brigitte-Titel te nun eine neue Idee. Der Abflug wird auf jeden Fall. Herres: „Wir können esuns nicht lei- der Maschine mit Schneider in Flori- sten, eine Produktion fortzuwerfen.“ Wie sich diese bisher einzigartige Kooperati- da soll geheim bleiben. In Frankfurt on zwischen einer privatwirtschaftlich erfolgreichen Zeitschrift und einem öffent- wird der Baulöwe dann, in gebühren- lich-rechtlichen Sender gestalten wird, muß noch geklärt werden. Da der NDR die der Distanz, hinter einem Absperrgit- Programmhoheit und -verantwortung haben muß, kann es keine direkte Finanzie- ter vorgeführt. rung, sondern höchstens ein Sponsoring durch Brigitte geben.

90 DER SPIEGEL 7/1996 Werbeseite

Werbeseite .

WIRTSCHAFT

Spekulation Die Big Boys und ihre Sklaven In vielen Ländern lahmt die Konjunktur, aber die Aktienkurse steigen. Immer mehr Menschen verlieren ihren Job, während andere durch Spekulation mit Devisen oder Wertpapieren reicher werden. Ist die Welt in den Händen von Zockern, sind die weltweiten Finanzmärkte zum Spielkasino geworden? GAMMA / STUDIO X Börse in New York: „Die Finanzwelt hat sich von der Realsphäre emanzipiert“

ie Landschaft tief unten, die der Marshall hat mit seiner Firma Maxus Sy- Den Kids ist das Treiben in der virtuel- Mann im Cockpit überblickt, ist bi- stems International Bankern und Fi- len Welt längst vertraut. So wie sie mit Dzarr. Das Terrain ist in gleichmäßi- nanzjongleuren ein Tor in diese fabel- Rennwagen oder Raumschiffen durch ge Rechtecke unterteilt, aus denen un- hafte Welt geöffnet. Scheinwelten jagen, können nun profes- terschiedlich hohe Türme hervorragen, Marshalls Metaphor Mixer bündelt sionelle Geldvermehrer und Geldver- einige rot, andere blau. Die Farben die wichtigsten Daten der internationa- nichter ihrem Gewerbe nachgehen. wechseln, und – seltsamer noch – die len Finanzwelt und bietet sie – immer Hat Marshall mit seinem Mixer den Türme wachsen oder schrumpfen. auf jüngstem Stand – in einer Art Land- endgültigen Beweis geliefert, daß der Ein Ausflug in eine andere Welt, in karte dar, die der Interessent auf dem weltweite Handel mit Devisen, Aktien eine neue Dimension des Alltäglichen: Bildschirm überfliegen kann. Der Pilot und Bonds in Wahrheit nur ein großes Der Mann überfliegt ein Datengelände, sieht Tokio, Frankfurt, New York von Spiel ist? Sind die Finanzmärkte Spiel- aus der Vogelperspektive sucht er nach oben, er kann runtergehen, um sich den höllen, in denen Milliarden verzockt Chancen, sein Geld zu vermehren. Wie Dow Jones genauer anzusehen, er er- werden? Hat man nicht immer schon ge- ein Geier kann er plötzlich auf einen kennt Unternehmen auf der Karte, er ahnt, daß sich ein paar clevere Burschen Punkt niederstoßen, wo er fette Beute sieht Türme, die den aktuellen Kurs des einen Spaß daraus machen, mit Dollar, vermutet. In Sekundenbruchteilen kann Dollar oder der Mark darstellen. Pfund und Mark zu jonglieren und die er zuschlagen, ein paar Millionen gewin- Und immer wieder kann der reale In- Welt in Unordnung zu bringen? nen, verschieben oder verlieren. vestor in der irrealen Welt schnelle Ent- Spielerischer ist das Geschehen auf Es ist eine fabelhafte Welt, real wie scheidungen treffen. Klick! für zehn den Finanzmärkten der Welt geworden, das wirkliche Leben, und doch nur eine Millionen IBM-Aktien gekauft, klick! in der Tat. Das haben die Computer ge- handfeste Illusion. Es ist ein Stück der ein paar Millionen Euro-Bonds abgesto- schafft, die auf der ganzen Welt mitein- Zukunft, die längst begonnen hat – die ßen, klick! aus dem wackligen Pfund ander sprechen und als perfekte Sklaven virtuelle Realität. Der Amerikaner Paul ausgestiegen. den Menschen, die sich ihrer bedienen,

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450 Zugpferd USA Dow- Aktienindex der Vereinigten Staaten, jede gewünschte Information 400 Jones- im Eiltempo liefern. Aber das Deutschlands und Japans Index Spiel ist auch gefährlicher: Die Anfang 1985=100 Entscheidungen über gewalti- 350 ge Summen fallen schneller und schneller, und die Kon- trolle über die Milliarden von 300 Dollar, Pfund, Mark oder Dax Francs wird schwieriger. 250 Wer kennt denn schon die- ses Monster, das sich Markt nennt, das überall und nir- 200 gendwo ist. Ein Monster, das Regierungen zittern läßt und 150 Nikkei- ganze Volkswirtschaften zer- Index fleischen kann. Niemand weiß, wie groß es ist, und gesehen hat es noch keiner. Die Fi- 100 nanzmärkte selbst sind längst Quelle: Datastream virtuelle Realität. 50 Die Summen, die auf den 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 Märkten für Devisen und Ak- tien, für Anleihen und immer neue Ob- ihrer Kunden verwandeln sich da per folgen noch 11 Nullen) um die Welt ge- jekte der Gier bewegt werden, haben Anruf oder Tastendruck aus US-Staats- schoben. Größenordnungen erreicht, die selbst anleihen in britische Schuldtitel, japani- Aber wie kann es denn möglich sein, ein Banker nur schwer noch seiner Vor- sche Aktien oder Schuldverschreibun- daß dieser gewaltige Markt so phanta- stellungskraft zumuten kann. Nur der gen der türkischen Regierung, die in stisch funktioniert und daß gleichzeitig Sklave Computer kann den Menschen Mark notiert sind. die Wirtschaft in vielen Staaten nicht so noch über den Marktplatz führen. In einem Jahrzehnt ist das Geschäft, läuft, wie sie sollte? Wie kann es denn Devisenhändler sind dabei, die in Mi- das weltweit mit nicht sichtbarem Geld sein, daß die Aktienkurse in New York, nuten von New York nach London oder und nicht faßbaren Papieren betrieben Frankfurt und Tokio nach oben klettern Tokio springen. Vom Dollar in den wird, geradezu explodiert. Seit 1985 ha- (siehe Grafik), aber die Regierung in Yen, dann Schweizer Franken und briti- ben sich die Umsätze im Handel mit De- Washington zahlungsunfähig ist, immer sche Pfund und schließlich wieder zu- visen und Wertpapieren mehr als ver- mehr Deutsche keinen Job finden und rück in den Dollar – dreistellige Millio- zehnfacht. An einem durchschnittlichen die Japaner ihre Konjunktur nicht in nenbeträge rauschen um den Globus. Handelstag, so schätzt die Bank für In- Schwung bringen? Die Manager großer Fonds gehören ternationalen Zahlungsausgleich, wer- Es sieht so aus, als hätte sich das Ge- zu den besonders gewichtigen Besu- den Währungen im Wert von 2,6 Billio- schehen auf den Finanzmärkten losge- chern auf den Märkten. Die Milliarden nen Dollar (nach der 6 hinterm Komma löst vom wirklichen Leben. Der Ein- druck ist keineswegs falsch, auch wenn die meisten Entscheidungen an den Märkten durchaus reale wirtschaftliche Hintergründe haben. Wenn in Deutschland die Aktienkur- se steigen und gleichzeitig die Zahl der Arbeitslosen wächst, dann ist da kein Widerspruch. Der Dax klettert eben nicht nur, weil die Zinsen niedrig und Anleihen deshalb weniger attraktiv sind. Die Kurse steigen vielmehr auch, gerade weil viele Betriebe Leute entlas- sen und die Börsianer deshalb bessere Gewinne der Unternehmen erwarten. Der Markt hat kein Gefühl. Wer sind denn die Leute, die rund um die Uhr und über den ganzen Globus den Gewinnen nachjagen? Alles Speku- lanten, alles Zocker? Spekuliert wurde schon immer. Jedes Industrieunternehmen, das künftige Ex- porteinnahmen gegen eventuelle Wäh- rungsverluste absicherte, hat damit spe- kuliert. Jede Bank, die Aktien eines an- deren Unternehmens ins Portefeuille nahm, spekulierte. Aber mehr und mehr hat sich – nicht zuletzt durch die weltweite Vernetzung der Computer – in der Tat ein Trend S. BORNS Virtuelle Investment-Landschaft*: Fette Beute im Fluge * Metaphor Mixer der Firma Maxus.

DER SPIEGEL 7/1996 93 .

WIRTSCHAFT

sie werden, immer wie- der neue, von Mathe- matikern und Physi- kern ausgetüftelt. Im Kern handelt es sich dabei um standardisier- te Wetten auf die künf- tige Wertentwicklung von Währungen, Ak- tien und Anleihen. Preise und Kurse die- ser Derivate sind zwar – daher der Name – ab- geleitet aus den Werten der Wertpapiere und Währungen. Tatsäch- lich aber sind diese Wettkontrakte eine Spezies für sich. Und weil das Spiel gefähr- lich ist, somit einen starken Reiz ausübt, erfreut es sich wachsen- der Beliebtheit. Zwischen 1989 und 1994 verfünffachte sich das Volumen der an den Weltbörsen gehan- delten Derivate: Das GAMMA / STUDIO X Vermögen, auf dessen Kursveränderungen die

K. KURITA / Spekulanten setzen, Aktienbörse in Tokio: Die große Party wurde teuer dürfte inzwischen mehr als zehn Billionen Dol- zum Zocken durchgesetzt. Es wird mit Über die Vorstellung, daß die Händ- lar ausmachen. Dazu kommt noch min- Vergnügen und Hingabe gewettet, auf ler – angeblich alles Porschefahrer, brei- destens die gleiche Summe im internen alles, was sich bewegt – auf den Dollar, te rote Hosenträger – mit wilden Speku- Bankenhandel. der raufgeht oder runter, auf den klet- lationen die Finanzwelt erschüttern und Derivate wurden ursprünglich er- ternden Dax oder den fallenden, auf ho- ein schnelles Vermögen machen, lächelt dacht, damit Risiken verlagert werden he Zinsen oder niedrige. Das ist span- Slough nur. Er sieht sich als kleinen Sol- konnten. Der Exporteur, der sich gegen nender als im Spielkasino. Und wer geht daten, den der Markt vor sich hertreibt. mögliche Währungsverluste absichert, schon noch zum Pferderennen? Selbst die New Yorker Citibank könnte kann noch auf ein solides Unterneh- Professionelle Geldverwalter, Milliar- die Kurse nicht allein bewegen: Der mensinteresse verweisen. Aber der rela- denfonds und ausgebuffte Händler mit Markt ist einfach zu groß. tiv geringe Kapitaleinsatz und die Aus- einem extrem kurzzielenden Ehrgeiz be- Slough verfügt an seinem Arbeitsplatz sicht auf Gewinne von mehreren hun- stimmen immer stärker das Geschehen über drei Monitore und zwei Lautspre- dert Prozent in kürzester Zeit locken an den Finanzmärkten. Gefüttert mit auch die Glücksritter. Daß der Einsatz Basisdaten und schlauen Charts, versu- ganz zum Teufel gehen kann, scheint die chen sie letztlich nur zu erahnen, wohin Wachsende Lust Lust am Spiel nur noch zu stärken. Trends und Kurse sich in den nächsten an Wetten, die Auch in Deutschland finden immer Minuten oder Stunden bewegen werden mehr Gefallen am Spiel, das letztlich – und wie sich daraus Profit schlagen kaum einer begreift nur wenige richtig begreifen. In fünf läßt. Jahren hat sich die Zahl der Options- „Selbst weltweit handelnde Banken“, cher, die ihn optisch und akustisch un- scheine, einer Variante der Derivate, sagt Sparkassenpräsident Horst Köhler, entwegt mit neuen Daten versorgen. mehr als verzehnfacht. Einer der großen der frühere Staatssekretär im Finanzmi- Wichtig ist vor allem der Bildschirm von internationalen Mitspieler, die Citi- nisterium, „gehen immer mehr davon Reuters, der den Händler über Standlei- bank, weitete 1994 vor allem dank des ab, Sparkapital in längerfristiges Investi- tungen, Satellitenkanäle und einen Me- blühenden Handels mit Derivaten das tionskapital zu verwandeln.“ An schnel- ga-Rechner in den Londoner Docklands Geschäftsvolumen in Deutschland um len Geschäften verdienen sie besser. mit 20 000 Finanzhäusern sowie fast al- fast 50 Prozent aus. Als „educated gambling“ bezeichnet len Börsen der Welt verbindet. Trinkaus & Burkhardt, eine Tochter der Londoner Devisenhändler Patrick So strapaziös der Zehn-Stunden-Tag der britischen Midland Bank, die wie- Slough seine nervenaufreibende Arbeit für Slough auch sein mag – der Devisen- derum der Hongkong and Shanghai – ein Wettspiel mit eisernen Regeln und händler hat es noch relativ leicht, für ihn Holding gehört, macht beste Geschäfte auf hohem Niveau. Der 29jährige sitzt zählt nur das Jetzt. Am anderen Ende mit Derivaten. Die Händler sind stolz mit 400 Kollegen täglich zehn Stunden des Saales sitzen die Kollegen, die mit darauf, wenn ihr Haus als Deutschlands ohne Pause im Handelssaal der Londo- der Zukunft handeln, mit sogenannten größtes Wettbüro bezeichnet wird. ner Investmentbank Barclays de Zoete Derivaten. Je wechselhafter die Märkte, um so Wedd; er kauft und verkauft „swiss“, Es sind höchst abstrakte Finanzpro- eifriger werden die Wetter. In die Wett- Schweizer Franken. dukte, die sich kein Banker ausdenkt; büros kommt Hektik, der Geruch des

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Geldes wird intensiver, und wahrschein- Realsphäre emanzipiert“, sagt Fischer. ten mir eine Wahnsinnsangst ein“. Und lich weiß schließlich kaum noch einer, Nicht nur die objektiven ökonomischen sein Arbeitgeber, die Barings Bank in wo es eigentlich langgeht. Beziehungen zählten, sondern die Er- London, ging pleite. Die Händler können ohnehin den wartung darüber, was die anderen ma- Warum selbst professionelle Speku- Wert der von ihnen abgeschlossenen chen. lanten bisweilen so kläglich scheitern, Wetten allein nicht mehr berechnen. Das kann auch schnell einmal schief- erklärt die Psychologie. Je öfter ein Um ihre „strukturierten Produkte“ gehen. Will die Wirklichkeit nicht so, Spieler mit kleinem Einsatz große Profi- (Fachjargon) überhaupt handeln zu wie Fachleute und Glücksritter vermu- te macht, desto sorgloser wird er. Wie können, müssen sich die Finanzjongleu- ten, kracht es im Gebälk der Banken. der Held in Tom Wolfes „Fegefeuer der re auf ausgeklügelte Computerprogram- So wurde Anfang 1994 der Herden- Eitelkeiten“ beginnt er, sich mehr und me verlassen, die ihnen Werte und Risi- trieb zigtausend Anlegern und Händlern mehr als ein „Meister des Universums“ ken mitteilen. Sein Portfolio, so berichtet der Deri- 8380 vatechef einer deutschen Privatbank, Wettfieber enthalte mehrere tausend solcher kom- Spekulationen* auf 7305 plexen Verträge auf die Zukunft. Er Zinsen Aktienindizes Währungen kann jederzeit den Gesamtwert aller Kontrakte feststellen. Am Bildschirm in Milliarden Dollar kann er ablesen, ob die Bank gerade *Futures und Optionen verdient oder nicht. „Jeden Tag, an dem die Zinsen sich 4298 nicht verändern“, sagt der Wettexperte, „verlieren wir 49 000 Mark. Ein hun- dertstel Prozent Zinssenkung bringt uns 3229 70 000.“ Vorausgesetzt, daß die Bank alles verkaufen kann, was verkäuflich 2054 ist. Doch das ist nicht immer sicher. Die 1589 Gefahr unvorhergesehener, chaotischer Kursentwicklungen ist immer da. 209 238 348 370 „Schlimm wird es, wenn keiner mehr 112 66 163 73 81 96 108 87 durchblickt“, sagt Thomas Fischer, stell- vertretender Vorstandsvorsitzender der 1989 1990 1991 19921993 1994 Stuttgarter Landesgirokasse. „Dann wollen alle nur verkaufen.“ In drei Se- zum Verhängnis. Alle hofften damals, zu begreifen. Er wird euphorisch, seine kunden seien die Händler an ihrem Li- die amerikanische Notenbank werde die Fähigkeit, Risiken wahrzunehmen, mit, bis zu dem sie Verluste machen Konjunktur durch Zinssenkungen wei- sinkt stetig. dürfen, und nichts geht mehr. ter ankurbeln. Als die Währungshüter Hinzu kommt, daß Händler – zumin- Fischer weiß, wovon er redet: Bis zum ihren Zins um ein Viertelprozent anho- dest in angelsächsischen Instituten – ihr Sommer vergangenen Jahres war er bei ben, lösten sie einen Schock aus. Einkommen gewaltig steigern können, der Deutschen Bank für den Derivate- Die amerikanischen Händler deute- wenn sie mehr riskieren. Haben sie gute handel und das Risikomanagement zu- ten die Entscheidung als eine grundsätz- Gewinne für die Bank erzielt, können ständig. liche Kursänderung; die Anleihekurse sie zum Jahresende mit einem stattli- Auf altvertraute Mechanismen allein, fielen ins Bodenlose. Da alle meinten, chen Bonus rechnen. Scheitern sie, wer- etwa den Zusammenhang zwischen nun werde auch die Bundesbank die den sie schlimmstenfalls ihren Job los – Leitzinsen und dem Kurs von Anleihen, Zinsen raufsetzen, sackten die deut- wenn sie nicht, wie Leeson, auch noch können sich die Händler nicht mehr ver- schen Papiere hinterher, was Kursverlu- die Zahlen frisiert haben. lassen. „Die Finanzwelt hat sich von der ste auch auf anderen Märkten auslöste. Die Bosse bei Barings hatten offen- Es war kaum etwas pas- sichtlich nicht richtig aufgepaßt, und siert, die große Zinswende Banker in der ganzen Welt zuckten zu- fand nicht statt. Aber am En- sammen, verblüfft über die lausigen Si- de standen Banken und In- cherungssysteme der britischen Bank. vestmentfonds mit Milliar- „Das war finsterstes Mittelalter“, sagt denverlusten da. Nicht im- Paul Hagen, Risikomanager bei Trin- mer ist richtig, was alle mei- kaus & Burkhardt. nen. Trinkaus hat vor drei Jahren eine ei- Auf der anderen Seite hat gene Abteilung eingerichtet, die allzu der verwegene Nick Leeson übereifrige Händler, insbesondere im gezeigt, daß man nicht mit Derivategeschäft, kontrollieren soll. Zu dem Trend rennen muß, um jeder Minute läßt sich überprüfen, ob Millionenverluste zu ma- ein Händler etwa sein Limit überschrit- chen. Der Brite kaufte und ten hat. Dem Vorstand werde jeden kaufte den ganzen Vormittag Morgen vorgelegt, was die Händler am japanische Wertpapiere, Tag zuvor gedealt haben. während alle anderen nur Die amerikanische Citibank, die in- verkauften (siehe Seite 102). zwischen ein Handelsvolumen mit Deri- Leeson konnte die Kurse vaten von gut 2,6 Billionen (2600 Milli- nicht hochtreiben. Bei Bör- arden) Dollar in ihren Büchern hat,

SYGMA senschluß wußte er, daß er schuf sich ebenfalls ein weltweites Kon- Investor Soros: „Fehler des Systems“ Millionen von Pfund ver- trollsystem. Die Zentrale in New York zockt hatte – „die Zahlen jag- legt für jede Derivatvariante ein maxi-

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WIRTSCHAFT „Die haben jetzt Schiß“ Die deutsche Industrie gerät immer mehr unter den Einfluß internationaler Großinvestoren

schaft eine viel größere Rolle, als gemeinhin angenommen wird. Jede dritte Daimler-Aktie ist derzeit in ausländischer Hand. Die Chemie- riesen Hoechst und Bayer sind zu rund 50 Prozent Eigentum interna- tionaler Investoren. Bei Mannes- mann sind die Ausländer inzwischen sogar deutlich in der Mehrheit. Selbst die Deutsche Bank ist so deutsch nicht mehr – der Ausländer- anteil unter ihren Eigentümern be- trägt 43 Prozent. Um seine Aktie, die in den vergangenen Jahren nur eine magere Rendite brachte, at- traktiver zu machen, unterwirft sich das Institut jetzt sogar den weitge- henden Informationsansprüchen der globalen Kapitalmärkte. „Die ha- ben jetzt Schiß“, kommentiert der

T. RAUPACH / ARGUS Würzburger Wirtschaftsprofessor Daimler-Werk in Sindelfingen: „Sie haben eine Revolution begonnen“ Ekkehard Wenger. Bei der Konzernbilanz, die bis- enn Jürgen Schrempp, 51, Kontrast zur Skepsis deutscher Kom- lang mehr verschleierte als preisgab, morgens ins Büro kommt, mentatoren. Bange fragt Die Zeit,ob wendet die Bank nun erstmals inter- Wgilt sein erster Blick dem die Ausrichtung der Unternehmen nationale Regeln an, die ein realisti- Reuters-Monitor auf seinem nach Aktionärsinteressen dazu führt, sches Bild der Vermögens- und Ge- Schreibtisch. Was er dort sieht, daß „das ganze Modell Bundesrepu- schäftslage vorschreiben. Stille Re- stimmt den Daimler-Boß in diesen blik unter die Räder kommt“. serven, von denen der Aktionär Tagen fröhlich – die Aktie steigt. Es wird sich jedenfalls ändern müs- nichts weiß und mit denen sich Er- Vergangene Woche kostete das sen, wenn das Land ein wichtiger tragsdellen heimlich ausgleichen las- Papier rund 800 Mark. Bei Wirtschaftsstandort bleiben will. sen, sind danach verboten. Schrempps Amtsantritt im Mai 1995 Und den Kurs bestimmen die interna- Was das Vordringen der Auslän- dümpelte die Aktie noch bei 686 tionalen Großinvestoren. der für deutsche Manager so unge- Mark. Unter seiner Ägide, freut sich Das Kapital sucht rund um den mütlich macht: Bei den Investoren Schrempp, stieg das Vermögen der Globus nach Anlagemöglichkeiten. aus den USA, Japan und Großbri- Anteilseigner um knapp sechs Milli- Wer für die Investoren interessant tannien handelt es nicht um eine arden Mark. sein will, darf, wie Schrempp, nur ein zersplitterte Schar von Kleinaktio- Daß die AEG (50 000 Arbeitsplät- Ziel verfolgen: „Profit, Profit, Pro- nären, die sich mit dürftigen Aus- ze) zerschlagen und der niederländi- fit“. Wer als Unternehmer zuviel so- künften und knappen Dividenden sche Flugzeugbauer Fokker abgesto- ziales Engagement zeigt, wird dage- abspeisen lassen, sondern um mäch- ßen wird, werten internationale gen mit Kapitalentzug bestraft. tige institutionelle Anleger: Pensi- Großinvestoren positiv: als Zeichen, Das neue Denken wird die onsfonds, Investmenttrusts und daß sich Deutschlands Konzern Deutschland AG gründlich verän- Versicherungen mit Milliardenver- Nummer eins an den Gesetzen der dern. Vorbei sind die Zeiten, in de- mögen. globalen Finanzmärkte orientiert. nen die deutschen Manager wirt- In Deutschland haben sich die Der Fall Daimler scheint vielen schaften konnten, ohne von ihren großen US-Geldverwalter bislang ausländischen Beobachtern sympto- Aktionären kontrolliert zu werden. eher passiv verhalten. Doch das än- matisch. In Deutschland entstehe Einen zweiten Fall Daimler-Benz dert sich nun. So hat Bayer-Finanz- ein „neuartiger Kapitalismus“, ana- wird es daher in Deutschland nicht chef Helmut Loehr beobachtet, lysiert Business Week. Das US-Wirt- mehr geben. Niemals mehr wird ein „daß der Druck ausländischer Ak- schaftsmagazin beschreibt den Vorstandschef die Gelegenheit erhal- tionäre auf die deutschen Unterneh- Daimler-Boß Schrempp und seinen ten, wie Edzard Reuter auf der Jagd men steigt“. Aufsichtsratschef Hilmar Kopper nach einer Vision durch den Kauf ma- „Die Festung Deutschland ist von der Deutschen Bank als System- roder Unternehmen ein Aktionärs- zwar noch nicht unter massiven Be- veränderer: „Sie haben eine Revolu- vermögen von 36 Milliarden Mark zu schuß geraten“, meint auch der tion begonnen.“ verschleudern. Veba-Vorstandsvorsitzende Ulrich Die Euphorie angelsächsischer Schon heute spielen ausländische Hartmann, „aber die Angriffstrup- Beobachter steht im auffälligen Aktionäre für die deutsche Wirt- pen haben sich bereits formiert.“

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„Nicht einmal im Traum“, so der ge- wiefte Investor, sei er auf den Gedan- ken gekommen, er könnte irgendwie schuld an den Ereignissen sein. „Daß Spekulation die Rolle spielen konnte, die sie gespielt hat, ist auf die Fehler des Systems zurückzuführen.“ In Mexiko zeigten sich die Fehler des Systems sowie die Ohnmacht von Politikern und Zentralbankern aber- mals. Das Land erfreute sich noch 1994 bei den Managern des großen Geldes einer bemerkenswerten Zuneigung. Mexikanische Anleihen brachten gute Zinsen, das Risiko schien gering, die Regierung hatte den Peso an den Dol- lar geknüpft. Auslandskapital floß reichlich ins Land. Der Peso geriet Ende 1994 unter

FUSCO MAGNUM Druck, als Zweifel an der politischen Armut in Mexiko: Vor den Spekulanten kapituliert Stabilität des Landes aufkamen. Verge- bens kaufte die Zen- males Risiko fest; dem einzelnen Händ- tralbank mit dem größ- ler wird ein Limit vorgegeben. ten Teil ihrer Wäh- „Wer sein Limit bewußt überzogen rungsreserven den Pe- hat“, sagt Friedrich Menzel, „ist für un- so an. ser Haus nicht mehr tragbar.“ Der Vor- Kurz vor Weihnach- standssprecher der Citibank in Deutsch- ten 1994 kapitulierte land hat selbst seine Karriere vor 39 Jah- Mexiko vor den Spe- ren als Händler begonnen. Er verlangt kulanten. Die Zentral- „eiserne Disziplin“, traut aber seinen bank gab den Kurs der Händlern: „Die Big Boys verstehen ihr Währung frei, binnen Geschäft.“ einer Woche verlor der Trotzdem, oder vielleicht gerade des- Peso gegen den Dollar halb, trauen viele Ökonomen und Politi- 40 Prozent seines Wer- ker den Big Boys nicht so recht. Nie- tes. Die Kapitalflucht mand weiß, wie stabil das Netz ist, hatte das Land an den durch das Wertpapiere und Währungen Rand der Zahlungsun- um die Welt geschleust werden. Wird es fähigkeit gebracht. halten, wenn es einmal an einer wichti- Um das Schlimmste

gen Stelle reißen sollte? L. STONE / SYGMA zu verhüten, verschaff- Der New Yorker Bankier Felix Roha- IWF-Präsident Camdessus: Das Schlimmste verhütet te Michel Camdessus, tyn, Kandidat für den Vize-Posten der Chef des Internationa- US-Notenbank, warnt vor dem „tödli- 14 000 Yen. Erst Ende 1995 kletterte len Währungsfonds (IWF) in Washing- chen Potential, das sich in der Kombina- er wieder über die Marke von 20 000 ton, den Mexikanern einen billigen Kre- tion aus neuen Finanzinstrumenten und Yen. dit von knapp 18 Milliarden Dollar. hochgezüchteten Handelstechniken ver- Die Briten können ebenfalls auf un- Große Anleger von den Investmentban- birgt“. Dieses Potential könnte dazu vergeßliche Momente verweisen, die ken der Wall Street, die um ihre Peso- beitragen, eine „zerstörerische Ketten- ihnen die Experten der Deals mit den Anleihen fürchteten, erklärten ihm, reaktion“ auszulösen. vielen Nullen beschert haben. Während Milliarden aus Ländern wie Ungarn, Po- Die Politiker und Banker, die sich Nick Leeson seinen bescheidenen len oder Thailand abzuziehen, falls Me- sorgen, ob nicht das Milliardenspiel der Ruhm einer gigantischen Fehlspekulati- xiko nicht geholfen werde. Finanzmärkte zu einer Katastrophe füh- on verdankt, wurde der US-Bürger Präsident Bill Clinton schob noch ein- ren könnte, denken dabei an böse Er- George Soros, ein gebürtiger Ungar, mal 20 Milliarden Dollar nach. Es galt, fahrungen. Sie mußten bereits mehrfach bekannt als der Mann, der die Bank „die erste Finanzkrise des 21. Jahrhun- ihre Ohnmacht spüren. von England knackte. derts zu meistern“ (Camdessus). So ging 1990 in Japan krachend eine Im Herbst 1992 hatten Soros und Es wird wohl nicht die letzte Krise Spekulation zu Ende, die den Wert von sein Investmentchef Stan Druckenmil- sein. Wird es immer gelingen, die Milli- Aktien und Immobilien in schwindelnde ler mit ihrem Quantum Fund auf ein arden-Märkte, die überall und nirgend- Höhen getrieben hatte. Billiges Geld fallendes Pfund spekuliert und sich zum wo sind, so zu kontrollieren oder gar zu verlockte Banken, Industriefirmen, Ärger der britischen Regierung auch beeinflussen, daß nicht das ganze Sy- Rentner und Hausfrauen zu immer wag- nicht durch Stützungskäufe der Bank of stem zusammenbricht? Können die gro- halsigeren Geschäften. England davon abbringen lassen. ßen Finanzmanager und die Spekulan- Als schließlich 1990 Japans „große Das Pfund verlor in der Tat drama- ten, die Zocker im großen Kasino des Party“ (Ökonom Kenneth Courtis von tisch an Wert. Soros, der seit Jahren ei- Kapitalismus, ihr Spiel auf Dauer spie- der Deutschen Bank in Tokio) zu Ende nen Teil seiner Gewinne in osteuropäi- len, ohne im Hause Schaden anzurich- ging, blieb nicht viel übrig; so manche sche Stiftungen steckt, verdiente in ten? Aktie büßte bis zu 80 Prozent ihres Wer- kürzester Zeit gut eine Milliarde Dol- Camdessus neigt zur Skepsis. „Die tes ein. Der Nikkei-Index, 1989 bei fast lar. Die Briten schieden aus dem Euro- Welt“, sagt der Chef des Währungs- 39 000 Yen, sackte zeitweise bis auf päischen Währungssystem aus. fonds, „ist in den Händen dieser Leute.“

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SERIE „Ich konnte das Geld riechen“ Die Bekenntnisse des Börsianers Nick Leeson, der die Barings-Bank ruinierte (I): Geheimkonto 88888

ls die Glocke läutete, hörte das Ge- len starben einen schnellen, geräuschlo- aufgebaut hatte, also auf einen Kursan- schrei endlich auf. Es war Viertel sen Tod. Es waren nur Zahlen auf ei- stieg der Papiere spekulierte. Anach zwei, Börsenschluß. Den gan- nem Bildschirm, mit richtigem Geld hat- So etwas läßt sich schwer verbergen, zen Tag war das Getöse nie abgeebbt. ten sie nichts zu tun. wenn man am Markt in Singapur über Jeder Händler hatte mich angeschrien, Mein Fazit war niederschmetternd: 40 Prozent des gesamten Umsatzes und ich hatte zurückgeschrien. Der Tag war die Hölle gewesen. Ich hat- bringt. Die anderen Börsianer hatten Ich hatte heute alles gekauft, was der te bei sinkenden Kursen immer wieder gerochen, wovon Barings in London Markt hergab. Der Nikkei-Index fiel um zugekauft, und jedesmal, wenn ich ver- keinerlei Notiz nahm: Ich saß so tief in 330 Punkte, aber wenn ich nicht wie ein kaufen wollte, war mir ein anderer zu- der Tinte, daß es keinen Ausweg mehr Irrer gekauft hätte, wäre er um 1000 vorgekommen. Unsere Telefone muß- gab. Punkte abgesackt. Ich stand noch immer ten angezapft gewesen sein: Es war ein- Japanische Wertpapierhäuser be- total unter Strom, hatte Stunde für fach unfaßbar, daß mir die anderen je- schäftigen Leute, die herausfinden sol- Stunde mit weit ausgestreckten Armen desmal um eine knappe Sekunde zuvor- len, welches Risiko andere Institute ein- herumgefuchtelt, gebrüllt, gegrinst, gekommen waren. Ich hatte mich be- gehen. Diese Schnüffler stehen im Bör- Händlerzettel ausgefüllt und sie ins müht, meine Bestände abzubauen, und sensaal herum und versuchen, sich aus- Back Office geschickt. sie am Ende doch um weitere 4000 Kon- zurechnen, was bestimmte Händler trei- Von morgens an ständig am Telefon, trakte erhöht. ben. Heute hatten sie beobachten kön- hatte ich meinem Kollegen George im- Jetzt hieß es, die Dinge nüchtern und nen, daß ich der einzige Käufer am mer wieder signalisiert: Kaufe bei sachlich zu sehen: Heute war Donners- Markt war. Alle wußten, daß das lächer- 18 100, kaufe bei 18 000, kaufe bei tag, der 23. Februar 1995, in zwei Tagen lich war – alle, mit Ausnahme der 17 900, kaufe bei 17 800, kaufe, kaufe, hatte ich Geburtstag. Die Singapore In- Barings-Leitung, die wußte rein gar kaufe. Ein paarmal gelang es mir, die ternational Monetary Exchange (Simex) nichts. Kurse kurz in die Höhe zu treiben, aber würde morgen einen Nachschuß von Dabei hätte sie mir mit einer einfa- diese beschissene Talfahrt habe ich nicht mindestens 40 Millionen Dollar auf mei- chen Prüfung jederzeit auf die Schliche aufhalten können. ne Kontrakte fordern. Das war das En- kommen können. Es hätte nicht länger Nun, da alles gelaufen war, wußte ich, de. Ich gab den Kampf auf. als eine halbe Stunde gedauert, die Posi- daß ich Millionen von Pfund verloren Händler, die von meinem unglaubli- tionen, die ich an die Simex meldete, hatte. Wieviel genau, wollte ich gar chen Umsatzvolumen an diesem Tag er- mit denen zu vergleichen, die ich nach nicht wissen – die Zahlen jagten mir eine fahren hatten, starrten mich an. Allein London durchgab. Wahnsinnsangst ein. die Summen, die ich bewegt hatte, ver- Kaum war ich von der Börse in mein Ich schaltete meinen Reuters-Bild- setzten sie in Staunen. Sie wußten – wie Büro zurückgekehrt, klingelten die Te- schirm ab, die flimmernden grünen Zah- jeder Börsianer –, daß ich eine offene lefone. Wirtschaftsjournalisten, denen Position mit japanischen Wertpapieren meine Riesenkäufe von Japan-Kontrak- © SPIEGEL-Buchverlag Hamburg 1996. im Wert von über 11 Milliarden Pfund ten aufgefallen waren, wollten mich REUTERS Memoirenschreiber Leeson nach seiner Auslieferung am 23. November 1995 in Singapur: „Scheiße, Scheiße, Scheiße!“

102 DER SPIEGEL 7/1996 . SYGMA Glitzermetropole Singapur: „Wir alle blickten gebannt auf diese exotische Welt, in der man ein Vermögen machen konnte“

sprechen. Den ersten wimmelte ich sel- Ein Börsen-Yuppie niederländische Großbank ING über- ber ab, den zweiten meine Sekretärin. nahm das bankrotte Institut samt sei- Zwei Kollegen, die mit mir über Unge- hat letztes Jahr den überraschend- nen Schulden am 6. März 1995 zum reimtheiten in meinen Abrechnungen re- sten und skurrilsten Bankzusammen- Preis von einem Pfund. den wollten, vertröstete ich auf später. bruch aller Zeiten ausgelöst. Ausge- Leeson versuchte, über Ost-Malaysia, Es war Zeit zu verschwinden. Ich rechnet Englands älteste, traditions- das Sultanat Brunei und Deutschland schob meinen Stuhl zurück. „Bis dann“, reichste Privatbank, das im 18. Jahr- in seine Heimat zu gelangen. Der jun- rief ich, ohne jemanden im Büro direkt hundert gegründete Finanzhaus Ba- ge Engländer fürchtete die gestrenge anzusprechen, „ich bin bald zurück.“ Im rings, das sich für 1994 in einer Ge- Justiz in Singapur mehr als die Gerich- Aufzug zog ich mein Telefon hervor und winnzone von rund 200 Millionen te in London. Doch er kam nur bis rief Lisa an. Pfund wähnte, war Ende Februar Deutschland. Auf dem Frankfurter „Hallo. Alles in Ordnung?“ fragte 1995 urplötzlich pleite. Rhein-Main-Flughafen wurde er am 2. meine Frau. Ich zuckte zusammen. Mein Daß ihr Institut nicht hochprofitabel, März 1995 festgenommen und inhaf- Gott, sie war ahnungslos. Völlig ah- sondern überschuldet war, hatte die tiert. nungslos. Wie meine Chefs bei der Ba- Londoner Führungsspitze der Bank Neun Monate später ließ sich der Milli- rings-Bank wußte sie nichts von den Mil- erst gemerkt, nachdem ihr in Singa- arden-Schwindler freiwillig nach Sin- lionen und Abermillionen, die ich an der pur stationierter Börsenhändler Ni- gapur ausliefern und war bereit, mit Börse verspekuliert hatte. cholas („Nick“) Leeson drei Tage vor der dortigen Staatsanwaltschaft zu ko- „Ich komme vorbei und hole dich ab.“ seinem 28. Geburtstag aus dem süd- operieren. Der Deal brachte ihm einen Vergebens bemühte ich mich, locker zu ostasiatischen Stadtstaat getürmt zweifelhaften Erfolg ein: sechseinhalb klingen. „Ich habe etwas Wichtiges mit war. Nach Leesons Flucht fanden die Jahre in einer Singapurer Gefängnis- dir zu besprechen.“ Barings-Manager heraus, daß der als zelle. Als ich zehn Minuten später vor dem Börsengenie gefeierte Wertpapier- Noch während seiner Haftzeit in Frank- Apartmenthaus ankam, in dem wir händler, den sie völlig unkontrolliert furt-Höchst hat Leeson dem Londoner wohnten, wartete Lisa schon auf mich. über zweieinhalb Jahre lang hatten Journalisten und Bankfachmann Ed- Ich ließ sie in den Wagen einsteigen. „Ist dealen lassen, in Wahrheit ein Betrü- ward Whitley, 34, freimütig die Details das eine Entführung?“ witzelte sie. ger war. Durch gigantische Fehlspe- seines gezinkten Finanzpokers ge- „Hör zu, Lisa“, stammelte ich, „du kulationen hatte der geltungssüchti- schildert. Seine autobiographischen wirst es nicht glauben, aber ich habe bei ge junge Mann Verluste von insge- Bekenntnisse, von Whitley in Buch- der Arbeit ein paar schwere Fehler ge- samt 827 Millionen Pfund (1,8 Milli- form gebracht, lesen sich wie Berichte macht. Ich muß hier weg.“ arden Mark) aufgetürmt, diese aber aus dem inneren Kreis der Spielhölle, „Was meinst du damit?“ durch raffinierte Buchungstricks ka- an der die Finanzmärkte aller Konti- „Ich habe viel Geld verloren und muß schiert. nente beteiligt sind. Die deutsche Aus- verschwinden. Ich habe mich strafbar ge- Für die altehrwürdige, aber kapital- gabe wird Ende März als SPIEGEL-Buch macht. Mein Gott, die Singapurer wer- schwache Barings-Bank (Eigenkapital erscheinen. den wahrscheinlich verrückt spielen und Ende 1993: 309,4 Millionen Pfund) In einer dreiteiligen Serie bringt der mich ins Gefängnis werfen. Ich muß weg. gab es keine Rettung mehr. Sie kolla- SPIEGEL vorab Auszüge: Einer, der es Heute noch. Raus aus Singapur.“ Meine bierte. Chairman Peter Baring, direk- wissen muß, gibt einen authentischen Stimme klang gepreßt. ter Nachkomme des Bankgründers Einblick in die Welt der Börsenzocker, „So schlimm kann es doch nicht sein“, Francis Baring, mußte das stets von mit welchen Tricks sie arbeiten, was tröstete mich Lisa. „Du hast in letzter Mitgliedern der Familie geleitete In- sie antreibt, wie sie tricksen und – in Zeit viel Streß gehabt.“ stitut in Konkurs gehen lassen. Die diesem Fall – auf die Nase fallen. Wir fuhren zu unserer Wohnung zu- rück, packten zwei Koffer und ließen uns

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SERIE

Wir gingen in unser Hotelzimmer zu- rück. Lisa rief ihre Mutter an, um zu hö- ren, wie die Barings-Bombe in England eingeschlagen war. Ich hatte nicht den Nerv, bei der Un- terhaltung zuzuhören. Ich ließ mir ein Bad ein und versuchte, ein wenig abzu- schalten. Nach dem Gespräch kam Lisa ins Ba- dezimmer und setzte sich auf den Fuß- boden. „Es hat eine Unterhausdebatte gegeben“, sagte sie. „Der Schatzkanzler hat dich einen betrügerischen Händler genannt, und Peter Baring war in den Nachrichten und hat gesagt, es sei eine Verschwörung gewesen. Barings ist plei- te und hat mehr als 600 Millionen Pfund verloren. Mum sagt, wir haben Charles und Di von den Titelseiten der Boule- vardblätter verdrängt. Ganz Asien wird nach dir durchkämmt.“

M. POLAK / SYGMA eine nun so abrupt beendete Ban- Londoner Schlagzeilen zum Barings-Crash*: „Charles und Di verdrängt“ M ker-Karriere hatte zehn Jahre zuvor begonnen. Im Gegensatz zu meinen von einem Freund zum Flughafen fah- Muskeln in meinem Rücken, die seit Freunden, die allesamt Handwerker, ren. Dort kauften wir Tickets für den Monaten verspannt waren, wieder lok- Verkäufer oder Bauarbeiter wurden, nächsten Flug nach Kuala Lumpur. In kerten. gelang es mir, nach dem Schulabschluß der malaysischen Hauptstadt stiegen „Es kommt alles in Ordnung“, hörte im Jahr 1985 einen Job bei Coutts and wir im Hotel Regent ab, in dem es ich mich sagen. „Bei Barings bin ich Company zu bekommen, dem Bank- einen Discount für Barings-Manager raus, aber was soll’s? Wir reisen nach haus, das auch Konten für die Königin gab. Thailand, anschließend nach Austra- und deren Familie führte. Um die Mittagszeit am nächsten Tag, lien, und nächsten Monat fliegen wir Nach zwei Jahren, in denen ich nur Freitag, dem 24. Februar, setzte ich ein nach Hause und schauen uns dort nach Schecks bearbeiten durfte, hatte ich die Fax an meine Singapurer Vorgesetzten etwas Passendem um.“ Nase voll. Das Zählen und Bündeln von James Bax und Simon Jones auf, das Als wir am Montag morgen erwach- Schecks war denn doch zu langweilig. meine Kündigung enthielt. Ich bat die ten, fühlten wir uns ganz ruhig. Das Wo- Ich wechselte zur Londoner Nieder- Dame an der Rezeption, das Fax erst in chenende war vorbei, es war Zeit, nach lassung von Morgan Stanley, einer der Kuala Lumpur zurückzufliegen. Wir erfolgreichsten amerikanischen Invest- vereinbarten, daß Lisa nach Singapur mentbanken, wo ich eine Ausbildung in „Wir saßen in der Falle. zurückkehren sollte, um ein paar Sa- der Abwicklungsabteilung für Futures- Wie sollten wir chen zusammenzupacken und den und Optionsgeschäfte erhielt. Mit mei- Heimtransport unserer Möbel zu arran- nen 20 Jahren verdiente ich 20 000 hier herauskommen?“ gieren. Anschließend wollten wir uns in Phuket treffen und von dort aus nach einer Stunde abzuschicken. So konnten Australien weiterreisen. wir ungestört in die Maschine nach Kota „Laß uns ein paar Kekse für die Reise Kinabalu steigen. Wir hatten versucht, kaufen“, sagte Lisa. Beim Hotelkiosk auf die thailändische Insel Phuket zu ging jemand mit einer Ausgabe der New kommen, aber alle Flüge waren ausge- Straits Times an mir vorbei. Aus dem bucht gewesen. Augenwinkel sah ich die fette Schlagzei- le: Britische Merchantbank zusammen- ota Kinabalu liegt in Ost-Malaysia, gebrochen. Kgleich neben dem Öl-Sultanat Brunei „Lisa“, flüsterte ich, „kauf diese Zei- im Norden Borneos. Bei unserer An- tung. Barings ist pleite.“ kunft ging gerade die Sonne unter. Wir Lisa griff sich die Zeitung und be- gingen an den Pool unseres Hotels gann, den Artikel zu lesen, in dem von Shangri-La Tanjung Aru und blickten einem verschwundenen Börsenhändler lange aufs Meer hinaus. die Rede war. Ich sah mich um. Wir wa- „Was machen wir nach dem Wochen- ren in einer gottverlassenen Gegend, ende?“ fragte Lisa am nächsten Tag. mitten an der Nordküste von Borneo. Ich sah an ihr vorbei zum Fenster hin- Wir saßen in der Falle. Wie, zum Teu- aus. Im Hotel Shangri-La mit dem him- fel, sollten wir hier herauskommen? melblauen Swimmingpool und den Gerade wollte Lisa den Kauf von schicken Sonnenschirmen, dem flotten Keksen und Zeitung mit ihrer Unter- Zimmerservice und dem kühlen Bier schrift bestätigen. „Bezahle bar“, sagte kam mir alles, was passiert war, seltsam ich, „unterschreibe nichts.“

unwichtig vor. Zum erstenmal seit weiß ACTION PRESS Gott wie langer Zeit fühlte ich mich * „Bankenkrach verwüstet die Märkte“; „Jagd Schüler Leeson nicht gehetzt. Ich spürte, wie sich einige nach dem Täter, das Pfund sackt ab“. „Ich wollte höher hinaus“

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Pfund und konnte mir bereits eine eigene am selben Abend einen Termin für das „Tiger“, und wir alle blickten gebannt Wohnung in Watford, meiner Heimat- Vorstellungsgespräch, und ich bekam auf diese exotische Welt, in der man stadt im Nordwesten Londons, leisten. den Job. flott leben und ein Vermögen machen Meinen Freunden und meinem Vater, ei- Nach einem Watford-Wochenende, konnte – eine Welt mit Bars, in denen es nem selbständigen Stukkateur, war das an dem mein Kumpel Steve sich selbst billiges kühles Bier und James-Bond- alles unbegreiflich: Sie verstanden nichts übertraf – er pirschte sich von hinten an Frauen gab. von alledem, was ich im Büro machte, ein Mädchen heran, das an einem Tisch Als man mir einen Job in Jakarta an- und wunderten sich über das viele Geld, saß, und legte ihr seinen Schwanz auf bot, packte ich die Chance beim Schopf. das ich verdiente. den Kopf –, trat ich meine neue Stelle Vor Ort stellte ich allerdings fest, daß Umgekehrt wußte niemand bei Mor- bei Barings an. Das war am 10. Juli Realität und Schein weit auseinander- gan Stanley, was ich am Wochenende in 1989. klafften. meiner Watforder Clique trieb. Nach ei- Ich begann in der gleichen Abteilung, In den Hochglanzbroschüren der Ba- ner Arbeitswoche in Schlips und Kragen in der ich bei Morgan Stanley gearbeitet rings-Bank hatte ich von ihren innovati- ging dort oft tierisch die Post ab. Eines ven Geschäftsmetho- Abends, nach einem Besuch im Fußball- den, ihrer beispiello- stadion, gingen wir in eine Disco und zo- sen Erfahrung und ih- gen alle unsere Klamotten aus. Wir stan- rem wertvollen Kun- den splitternackt herum und taten so, als denbestand in Fernost sei das die normalste Sache von der Welt. gelesen. Statt dessen Mein Freund Steve hatte die reizende fand ich in der indone- Angewohnheit, sich an Mädchen, die sischen Hauptstadt ein ihm gefielen, heranzumachen, seinen furchtbares Durchein- Schwanz aus der Hose zuholen und ihnen ander vor. Die Bank sanft in die Hand zu schieben. hatte dort nicht einmal Einmal machte er das mit einem Mäd- ein Büro. chen, das in einem Klub namens Paradise Barings saß in Ja- Lost fröhlich mit ihrem großen schwar- karta auf Aktienzerti- zen Freund plauderte. „Raus hier“, fikaten im Wert von warnte ihn der Freund. „Du hast hier 100 Millionen Pfund, die sie für ihre Kunden gekauft hatte, aber „Ich saß in einem nicht an diese weiter- fensterlosen Verlies und leiten konnte. Diese Wertpapierbestände sortierte Wertpapiere“ waren in einem so chaotischen Zustand, nichts verloren.“ Steve blieb unbeein- daß niemand sie zu druckt, und ich holte die nächste Runde sortieren vermochte. Bier. Als Steve kam, um mir zu helfen, Damit war Barings krachte mir ein Stuhl an den Kopf. Da auch nicht in der Lage, war uns klar, daß wir im Paradise Lost sich die 100 Millionen wirklich nichts verloren hatten. Pfund von den Kun- Während ich lernte, wie Futures- und den zurückzuholen. Optionsgeschäfte abgewickelt werden, Insgesamt zehn Mo- begriff ich allmählich, daß das ganz große nate lang saß ich in Geld von den Händlern, die an der Bör- dem stickigen, fenster- senfront agierten, verdient wurde. Ich losen Verlies, in dem saß im Back Office, erledigte Papier- die Papiere lagerten, kram, während die Händler riesige Ge- und brachte allmählich hälter einstrichen. Ordnung in das Cha-

Meine Freunde in Watford wären über DPA os. Es war die müh- ein Gehalt von 20 000 Pfund, wie ich es Barings-Zentrale in London: „Es war ja deren Geld“ samste Arbeit meines nach Haus trug, begeistert gewesen, aber Lebens. ich wollte höher hinaus. Natürlich stand hatte. Doch schon nach neun Monaten Tag für Tag schlug ich kleine Bre- ich damit nicht allein: Jeder Angestellte begriff ich, daß meine Zukunftsperspek- schen in den riesigen Papierberg. Ich in der Abwicklungsabteilung träumte da- tiven in London beschränkt waren. Ich fand heraus, welches Geschäft jeder von, ein lächerlich buntes Händler-Jak- konnte mir ausrechnen, daß ich frühe- einzelne Kunde mit Barings getätigt kett anzuziehen und sich im Börsensaal stens in zehn Jahren den Posten meines hatte, suchte die entsprechenden Zerti- die Lunge aus dem Hals zu schreien. Das Chefs erben würde. Bald völlig gelang- fikate und klapperte dann die Kunden war die einzige Chance, sich einen Por- weilt, bat ich um Versetzung. Meine ab, um das Geld einzusammeln. sche leisten zu können. Wunschträume richteten sich auf den Nach ungefähr drei Monaten schick- Doch mein Chef wollte mich unbedingt Fernen Osten. Dort spielte unüberhör- te die Barings-Zentrale ein paar Leute in der Abwicklungsabteilung halten. bar die Musik. zu meiner Unterstützung. Ich kümmer- Verärgert kündigte ich, rief einen Head- te mich nicht groß um die neuen Kol- hunter an und fragte, welche Stellen er n Japan hatte in den achtziger Jahren legen, doch als ich das nächste Mal die anzubieten habe. Er antwortete, daß Ba- Idie Börse zu boomen begonnen, doch Stahlkammer im Keller betrat, war da ring Securities jemanden suche. Barings, inzwischen blühte auch in Hongkong, ein schönes blondes Mädchen, das aus erzählte er, sei eine kleine Merchant- Singapur, Indonesien und in fast allen großen, erstaunten Augen auf die Sta- bank, die älteste der Welt, hoch angese- anderen asiatischen Ländern das Ge- pel von Aktienzertifikaten starrte. hen und so weiter. Er besorgte mir noch schäft. Man nannte diese Länder die „Was, zum Teufel, sollen wir damit

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anstellen?“ fragte sie. „Ein Freudenfeu- der Vergleich mit einem Gewitter auf. er machen?“ Blitze zuckten, ich brauchte nur die Lisa Sims war ihr Name. Sie stammte richtigen Signale zu geben, und ich wür- aus der Grafschaft Kent und arbeitete de sie anziehen wie ein Blitzableiter. erstmals im Ausland. Ich war immer Mit den jungen einheimischen Händ- stolz darauf gewesen, daß ich meine Ge- lern, die ich eingestellt hatte, beobach- fühle verbergen konnte, aber Lisa über- tete ich vor allem die Futures-Kontrakte wältigte mich. auf den Nikkei-225-Index. Dieser Ak- Weihnachten 1990 hatten wir den tienindex errechnet sich aus den Kurs- Wertpapier-Schlamassel in Jakarta auf veränderungen der wichtigsten japani- 10 Millionen Pfund reduziert. Die Wirt- schen Aktien – ähnlich wie der Dow- schaftsprüfer waren sich einig, daß Ba- Jones-Index an der Wall Street. rings wegen des nur noch geringen Ver- Futures-Kontrakte auf einen Index lustrisikos keine Rückstellungen in der räumen einem gegen eine geringe Ein- Bilanz zu machen brauche. schuß-Zahlung das Recht ein, den Korb Im März 1991 kehrte ich nach London der im Index enthaltenen Aktien zu ei- zurück. Ich galt nun als der große Ab- nem festgelegten Preis in der Zukunft zu wicklungsexperte der Bank für den Fu- kaufen oder zu verkaufen. Dabei sind tures- und Optionshandel. normalerweise vier Fälligkeitstermine Im weiteren Verlauf des Jahres be- fixiert: Ende März, Juni, September gleitete ich den Development Officer und Dezember. Tony Dickel, der nach weite- ren Betätigungsmöglichkeiten für Barings Ausschau hielt, auf dessen Reisen. Wir besuchten Frankfurt, flogen dann nach Hongkong und Manila und schließlich, am Ende des Jah- res, nach Singapur. Barings hatte einen Sitz an der Singapore International Monetary Exchange – Simex – erworben, ihn aber nie ge- nutzt. Die rund 70 Barings- Mitarbeiter in dem südostasia- tischen Stadtstaat kauften und verkauften Aktien, analysier- ten die regionalen Märkte, ver- walteten Fonds und vergaben Kredite, aber sie waren nicht in der Lage, mit Futures zu han- deln. Tony Dickel und ich rieten Barings, den Börsensitz in Sin- gapur zu aktivieren, um von dem dort rasch expandieren- den Handel mit Futures und Optionen zu profitieren. Die

maßgeblichen Leute bei Ba- PRIVATE ALBUM OF NICK LEESON rings waren einverstanden und Hochzeitspaar Leeson (1992) baten mich, das Geschäft selbst Begegnung in der Stahlkammer aufzubauen und zu leiten. Lisa und ich waren begeistert. Die In der Anfangszeit hatte ich selbst Nachricht von der Versetzung nach Sin- noch keine Händlerlizenz. Im Börsen- gapur erreichte uns am 21. März 1992 – saal mußte ich mich daher darauf be- zehn Tage vor unserer Hochzeit. schränken, die Orders, die der Kollege Fernando Gueler aus Tokio über eine ls ich in Singapur zum erstenmal den Standleitung durchgab, an einen unserer A Börsensaal betrat, konnte ich das autorisierten Händler weiterzuleiten. Geld förmlich riechen und sehen. Fast Wir betrieben sogenannte Arbitrage- sechs Jahre lang hatte ich in verschiede- Geschäfte: Fernando beobachtete auf nen Back Offices gearbeitet, Papiere be- einem Schirm in Tokio die Futures-Kon- wegt und die Probleme anderer Leute trakte in Osaka, dem Zentrum für den gelöst. Jetzt, auf dem Börsenparkett, Handel mit Nikkei-Futures, und ich gab konnte ich mit dem richtig großen Geld ihm alle paar Sekunden durch, was in arbeiten – es hing direkt vor mir in der Singapur los war. Luft, unsichtbar, aber elektrisierend. Es Die Simex war damals ein viel kleine- wartete nur darauf, geerdet zu werden. rer Markt als Osaka. Manchmal konnte Beim Anblick der brüllenden Händler daher ein lokaler Händler, der nur eine in ihren bunten Jacketts drängte sich mir Zulassung für die Simex hat, durch eine

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größere Transaktion den Kurs für Nik- kei-Futures in Singapur nach oben oder unten treiben, ohne daß der Kurs in Osaka sogleich reagierte. Diese Preis- differenz nutzten wir Arbitrageure. Wir kauften dort, wo der Kurs kurzfristig niedriger war, und verkauften Sekunden später an der Börse mit dem höheren Kurs. Das Risiko bei Arbitrage-Geschäften ist, technisch gesehen, nur gering. Wir saßen sozusagen auf dem Zaun, beob- achteten beide Märkte und stiegen nach Belieben mal hier, mal dort ein und aus. Solange wir schnell waren, sehr schnell, machten wir stets Gewinne. Denn das einzige Risiko für uns lag in den Sekundenbruchteilen, die das Gan- ze in Anspruch nahm. Es ging um die Zeit, die Fernando brauchte, um mir zu sagen, was er vorhatte, die Zeit, die ich brauchte, um die Orders an meinen be- sten Händler George weiterzuleiten, und die Zeit, die er brauchte, um sie auszuführen. Aber ein anderer Händler konnte ge- nau das gleiche vorhaben wie wir und uns zuvorkommen. Wenn das geschah, veränderte sich der Kurs zu unseren Un- „Wenn Fehler passieren, muß die Bank die Verluste tragen“

gunsten, und wir saßen in der Klemme: Wir mußten einen schlechteren Preis für unseren Kontrakt und einen kleineren Gewinn – oder gar einen Verlust – hin- nehmen. Zunächst wurden in Singapur täglich rund 4000 Kontrakte gehandelt. Das war sehr wenig. Die meisten Dealer, die mit Nikkei-Futures handelten, orderten in Osaka, weil sie dort in großem Um- fang kaufen und verkaufen konnten. Doch im Sommer 1992 verlagerte sich

ein Großteil des Geschäfts von Japan ACTION PRESS nach Singapur: Die Börse von Osaka Börsenhändler in Singapur: „Prächtige Geschäfte im absoluten Chaos“ hatte die Händler strengeren Regularien unterworfen, die wichen daraufhin nach oder er kauft zum falschen Preis, han- Zu Anfang hatten wir ein Fehler- Singapur aus. delt in März- statt in September-Kon- konto mit der Nummer 99905, in das Bald klingelte mein Telefon im Bör- trakten, oder er kauft statt zu verkau- wir alle Fehler eingaben. Diese wurden sensaal ununterbrochen. Die Zahl der fen, auch das kommt vor. dann an die Londoner Zentrale über- Kontraktabschlüsse schnellte auf über Wenn so etwas passiert, muß die mittelt. 20 000 am Tag empor. Bank die daraus resultierenden Verluste Eines Tages erhielt ich einen Anruf Wenn die Händler nach Börsenschluß tragen. Der Kunde hat in gutem Glau- von Gordon Browser, der für die Ab- in die benachbarten Bars und Restau- ben gekauft oder verkauft und hat wo- wicklung aller Futures- und Optionsge- rants zogen, saß ich oft noch bis weit möglich auf der Basis dieses vermeintli- schäfte von Barings verantwortlich nach Mitternacht im Büro, um jedes Ge- chen Abschlusses weitere Dispositionen war. „Könnten Sie ein weiteres Fehler- schäft zu überprüfen und abzustimmen. getroffen. konto einrichten und die Fehler in Sin- Dank meiner soliden Ausbildung bei Wir mußten dann sogleich versuchen, gapur verbuchen? Wir wollen uns nicht Morgan Stanley gehörte ich zu den we- den Fehler auszubügeln. Wenn das nicht mit den vielen kleinen Fehlern herum- nigen, die wußten, wie Futures- und Op- mehr möglich war, wurde der Fehler auf schlagen, die euch unterlaufen. Es sind tionsgeschäfte abzurechnen waren. einem separaten Computerkonto, dem über 50 am Tag, und wir müssen zu ih- sogenannten Fehlerkonto, verbucht und rer Ausbuchung 100 Einträge ma- n jedem Handelssystem unterlaufen der Verlust – oder manchmal auch Pro- chen.“ IFehler: Jemand mißversteht ein Hand- fit – in die Ergebnisrechnung des Unter- Ich legte den Hörer weg und wandte zeichen und kauft eine falsche Menge, nehmens übernommen. mich an Risselle, eines unserer Mäd-

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chen im Back Office. „Wir brauchen ein In direktem Widerspruch zur Order eines zweites Fehlerkonto.“ Kunden hatte sie 20 Kontrakte verkauft, „Klar“, antwortete sie, machte ihren statt zu kaufen. Bildschirm frei und tippte. „Welche Da die Kurse den ganzen Nachmittag Nummer soll es bekommen?“ angezogen hatten, hatte Barings weit un- „Was ist deine Glückszahl?“ ter Marktniveau verkauft. Um den irr- „Die Acht“, sagte sie. „Die Acht ist tümlichen Verkauf glattzustellen und eine chinesische Glückszahl.“ dem Kunden die 20 Kontrakte zu be- „Wie viele Stellen müssen es sein?“ schaffen, mußten wir nun insgesamt 40 „Fünf.“ Kontrakte zu den gestiegenen Kursen „Da haben wir’s doch“, sagte ich. kaufen. Nach meiner Berechnung brach- „Packen wir soviel Glück rein wie mög- te das 20 000 Pfund Verlust. lich. Geben wir ihm die Nummer Scheiße, Scheiße, Scheiße! Wie hatte 88888.“ die blöde, dämliche Kuh so etwas tun Und so wurde das Fehlerkonto 88888 können? Aber dann erinnerte ichmich an geboren – das „Fünfmal die Acht“-Kon- die Hektik des Tages: Es war zugegangen to. wie im Irrenhaus. Ein paar Wochen später rief London Ich verfluchte meine Vorgesetzten in erneut an. „Wir lassen alles beim alten“, Singapur und Tokio, Simon Jones und Mike Killian. Diese üblen, knauserigen Bastarde waren an allem schuld. Ihretwe- „Die knausrigen Bastarde gen konnte ich kaum jemanden einstel- wollten unsere len. Sie wollten unsere Kosten möglichst gering halten. Simon Jones, der Opera- Kosten gering halten“ tions Manager für Südasien, mein direk- ter Chef, hatte das Mädchen für ein Jah- sagte Gordon. „Geben Sie alle Fehler di- resgehalt von nur 4000 Pfund angeheu- rekt an uns durch. Wir haben ein neues ert. Es warwiderlich, und alles nur, damit Computersystem, das damit fertig wird. er gut dastand. Übrigens, warum macht ihr eigentlich so Ich stand vom Schreibtisch auf und viele Fehler?“ ging mit dem Verkaufszettel in Simon „Sie müßten die Börse hier sehen, Jones’ Büro. „Simon“, sagte ich, an den dann würden Siees verstehen“, sagte ich. Türrahmen gelehnt. „Wir haben ein Rie- „Das absolute Chaos, aber die Geschäfte senproblem am Hals. Wegen eines Feh- laufen prächtig.“ lers der Neuen müssen wir 40 Kontrakte Damit war das Fehlerkonto 88888 still- zurückkaufen.“ gelegt, kaum daß es zum Leben erweckt „Wie hoch ist der Schaden?“ Simon worden war. Doch es steckte noch im stopfte Papiere in seine Aktenmappe und Computer, und wenig später holte ich es wandte sich zum Gehen. wieder aus meinem Gedächtnis und der „20 000 bei Börsenschluß.“ EDV-Anlage hervor. „Schmeiß die Kuh raus.“ Er knallte die Es war am 17. Juli 1992, einem Freitag. Mappe zu. „Sie wird nie wieder in der Si- Alle sehnten sich nach dem Feierabend. mex arbeiten.“ Wir waren von der United Overseas Das war typisch. Wütend kam ich zu- Bank zum Essen ins Hard Rock Cafe´ ein- rück und wäre fast mit einem kleinen geladen und lechzten nach einem kühlen Mädchen zusammengestoßen, das wei- Bier. In der Simex war die Klimaanlage ausgefallen, wir alle waren schweißnaß. Für mich war es besonders anstrengend, „Wir hätten Kim feuern denn ich mußte Kim Wong überwachen, können, und das eine Anfängerin, die neben mir die Or- ders am Telefon entgegennahm. wär’s dann gewesen“ Bei Börsenschluß, als die Glocke läu- tete, brach großer Jubel aus. Der Nikkei nend auf mich zurannte. Es war Kim. hatte um 400 Punkte angezogen, wir hat- „Nick, die Sache tut mir so leid“, sagte ten gute Abschlüsse gemacht und uns gu- sie. „Ich habe einfach den Kopf verloren, te Provisionen verdient. alles hat mich verwirrt.“ Im Büro stapelten sich die Zettel, auf „Schon gut“, sagte ich zu ihr. „Wir alle denen die Abschlüsse notiert worden wa- haben schon Fehler gemacht und schlim- ren. Bis18Uhr hatte ichdie Hälfte durch- mere.“ Sie schoß zur Tür hin- gearbeitet, doch dann blieb ich hängen. aus. Da war ein Zettel –eine Verkaufsnotiz über 20Kontrakte –, den ich nicht in Ein- m nächsten Montag erschien Kim klang mit den an diesem Tag erteilten Or- Anicht zur Arbeit. Kurz vorFeierabend ders bringen konnte. Ich sah nach den In- ging ich zu Risselle. „Ich muß diesen Feh- itialen auf dem Verkaufszettel. Es waren ler im Fünfmal-die-Acht-Konto verbu- die von Kim Wong. chen. Kannst du das für mich tun?“ Ich ging alle Scheine noch einmal „Klar.“ Sie holte das Konto auf den durch. Gegen acht dämmerte mir, daß Bildschirm. „Um was für einen Abschluß Kim ein böser Schnitzer unterlaufen war. handelt es sich?“

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„20 März-Kontrakte auf den Nikkei.“ Nikkei-Index kletterte an jenem Tag um Im Januar 1993 lief George aus dem Ich ließ zunächst für den Kunden, die 200 Punkte. Nun konnte ich es mir nicht Ruder. Kurz vor Weihnachten war er Fuji-Bank, einen fiktiven Kauf von 20 mehr leisten, diesen Verlust noch Simon von seiner Frau hinausgeworfen wor- Kontrakten eintragen. Zugleich machte Jones oder den Londonern zu offenba- den, seitdem zog er Nacht für Nacht ich eine Notiz auf der Tagesumsatzkar- ren. Ich beließ ihn im Fünfmal-die- durch die Bars. Wenn er auf dem Bör- te, damit der Fuji-Bank die 20 Nikkei- Acht-Konto. senparkett erschien, war er immer noch Kontrakte zu dem von ihr angege- Bis zum Ende des Jahres versteckte halb betrunken und stank nach abge- benen Preis gutgeschrieben werden ich über 30 weitere Fehler darin. Das standenem Bier und billigem Parfüm. konnten. war zwar schlimm, aber noch keine Ka- Ich hatte nicht das Gefühl, viel dage- Doch dabei konnten wir es natürlich tastrophe. Einige Fehler meldete ich gen unternehmen zu können. Immerhin nicht belassen. Wir hatten die fragliche auch in die Londoner Zentrale. Die dik- war er einer meiner besten Freunde, Transaktion ja gar nicht durchgeführt. ken Brocken gingen aber alle in mein und daß er sich keinen Deut darum Also mußte ich auch einen entgegenge- Geheimkonto. kümmerte, was die Leute von ihm dach- ten, gefiel mir eigentlich an ihm. Doch jetzt fing er an, Fehler zu machen, und damit wurde er zu einem echten Pro- blem. „Was zum Teufel soll das hier sein?“ Ich baute mich vor George auf und hielt ihm einen von ihm ausgefüllten Handels- zettel unter die Nase. „Ich habe 100 September ge- kauft“, antwortete er. „Gekauft? Gottverdammt, ich habe verkaufen gesagt.“ „Du hast kaufen gesagt.“ „Das ist lächerlich, du mußt deinen Kopf verloren haben.“ Ich fragte mich, wie wir aus der Sache wieder herauskom- men konnten. Es war wie da- mals bei Kim Wong: Wir saßen auf einer Position, die über Nacht lief. „Okay“, sagte ich, drehte mich um und legte den Stapel The Toronto Sun auf meinen Tisch, „ich werde mich darum kümmern.“ setzten, das Konto ausgleichenden Ab- Die von mir angeheuerten Händler George hatte an diesem Tag eine schluß verbuchen. merkten bald, daß sie sich, wenn sie ei- Menge Fehler gemacht. Nach genaue- Ich bat Risselle, den Verkauf von 20 nen größeren Fehler gemacht hatten, rer Prüfung wußte ich, daß wir auf 420 Kontrakten zum selben Preis einzuge- vertrauensvoll an mich wenden konn- Kontrakten saßen, die wir entgegen ben. Und den wirklichen Verkauf der ten. Ich würde einen Weg finden, diesen den Orders unserer Kunden nicht ver- Kontrakte durch Kim ließ ich ebenfalls ungeschehen zu machen. kauft hatten. Unter dem Strich sum- auf dem Konto 88888 notieren. So ver- Es war ja nicht unser Geld, es war mierten sich Georges’ Fehler auf wandelte sich der irrtümlich vorgenom- auch nicht das Geld unserer Kunden. Es 150 000 Pfund. mene Verkauf von 20 Kontrakten in ei- war nur Barings’ Geld. Jede Bank hat Nicht auszudenken, was passieren nen Kauf von 20 Kontrakten für unseren ein Fehlerkonto, Barings hatte nun eben würde, sollte die Sache ans Licht kom- Kunden Fuji. Die Diskrepanz von 40 zwei. men. Georges Verlust war so hoch, daß Kontrakten war nun im Fehlerkonto Am Monatsende schloß ich alle in wir uns von unseren Gehältern und Prä- verborgen. 88888 verbuchten offenen Positionen, mien verabschieden konnten. George Es war eine nette Lösung. Ich hatte indem ich einen Journaleintrag auf das würden sie sofort feuern, mir zumindest Zeit gewonnen und mir eine Atempause Konto vornahm. Dann glich ich die an- meine Abteilung wegnehmen. verschafft, in der ich darüber nachden- dere Seite des Journaleintrags aus, in- Es gab nur einen Weg, dies zu ver- ken konnte, wie das Problem am besten dem ich den aufgelaufenen Ver- hindern. Ich ging hinüber zu Risselle, zu beheben war. lust durch meine einzige Einnahme- meiner bewährten Helferin im Back Am Tag darauf teilte mir Kim mit, quelle deckte, durch die von mir bei Office, und sagte zu ihr: „Ich muß noch daß sie der Arbeit in der Simex nicht ge- Kundengeschäften verdiente Provi- einen Kontrakt ins Fünfmal-die-Acht- wachsen sei. Am Ende der Woche wer- sion. Konto nehmen.“ de sie Barings verlassen. Natürlich konnte diese Methode nur „Na, großartig.“ Ich verwünschte sie funktionieren, solange die Verluste auf wieder. Ich hätte die 40 Kontrakte nie dem Fehlerkonto gering und meine Pro- Im nächsten Heft zu verstecken brauchen. Wir hätten Kim visionseinnahmen hoch blieben. Mir feuern können, und das wär’s dann ge- war klar: Wenn die Innenrevision eine Ein heißer Börsentag voller Frust und wesen. Erklärung dafür von mir verlangen oder Verzweiflung – Süchtig nach Süßem – Der von Kim Wong verursachte Ver- die Fehlbeträge steigen würden, mußte Nachschuß aus London – Falsche Zah- lust von 20 000 Pfund stieg schon drei ich einen anderen Weg finden, die Mie- len verhüllen das schwarze Loch – Die Tage später auf 60 000 Pfund, denn der sen zu kaschieren. blinden Revisoren aus der Zentrale

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GESELLSCHAFT H. GUTMANN / FORMAT Bestattungsunternehmer Kuckelkorn als Jungfrau Froni: „Einfach nur Schmetterlinge im Bauch“

Humor „Mer sin ja all bekloppt“ SPIEGEL-Redakteur Hajo Schumacher über Irrsinn, Anarchie und Mafia im Kölner Karneval

ro Kuckelkorn ist ein angesehener Mit Prinz Kurt III., Geschäftsführer Verwegeneren haben ein Papphütchen Bürger. Der rosige Mittfünfziger hat einer Kette von Matratzenläden, und aufgesetzt. Fsich nie etwas zuschulden kommen dem Bauern Ewald, der Karnevalsor- Der Auftritt des Dreigestirns ist einer lassen, zahlt reichlich Steuern und führt den verkauft, tollt Kuckelkorn täglich der raren Höhepunkte im quälend be- gewissenhaft die Firma, die sein Vater durch dampfende Karnevalssäle. schaulichen Heimleben. Für die Bettlä- vor 110 Jahren gründete. Der schwuchtelige Aufzug, der den gerigen wird die Sitzung per Haus-TV in Vielen seiner Mitbürger ist der Mann Mittelständler jenseits der närrischen die Zimmer übertragen. in angenehmer Erinnerung. Unaufdring- Demarkationslinien ins gesellschaftli- Im Hinterzimmer versuchen Froni, lich half er bei der schweren Wahl zwi- che Abseits katapultieren würde, gilt Ewald, Kurt und ihr Troß, den wolligen schen Fichte und Eiche: Kuckelkorn ge- unterm Dom als höchste Gnade – „wie Nachgeschmack der letzten Nacht weg- bietet über ein Beerdigungsunternehmen die Teilnahme an Olympischen Spie- zuspülen. Fix kommt die Truppe wieder mit drei Filialen, Kölnsführendes Institut len“, erklärt Kuckelkorn. in Fahrt. „Alle aufpassen, daß Fro hier für Trauerfälle. Die Lust am Ex- und Imponieren keine Kunden wirbt“, sagte einer. Der Seit kurzem jedoch geht Unheimliches sitzt den Kölnern tief im Gemüt. erste Brüller des Tages. vor mit dem Geschäftsmann. Er läßt sich Schon als Kinder blickten sie beim Ro- Dann drängen die drei durchs Spalier in einem Hotel kasernieren. Gattin Hel- senmontagszug neidisch an den bunten der Rollstühle. Heftiger Klatschmarsch. ga sieht ihren Mann ständig in der Zei- Wagen empor. „Jeder echte Kölner“, Kuckelkorn knickst und wirft mit Kuß- tung, aber kaum zu Hause. Und ums Ge- erklärt der Bestatter, „will einmal im händchen um sich. Dankbar rufen die Se- schäft kümmert er sich schon gar nicht. Leben da oben stehen.“ nioren zum Abschied dreimal alaaf. Kuckelkorn steckt in einem Alptraum Täglich gegen Mittag, am Wochen- Ob in Altenheimen oder Kindergär- von Kleid, hat sich künstliche Brüste vor- ende frühmorgens, beginnt der zehren- ten, ob beim Oberbürgermeister Norbert geschnallt, sein Gesicht ist von karotten- de Job. In Sauna, Solarium und Fit- Burger oder beim Verfassungsschutz – farbener Paste überzogen. Und ein non- neßraum notdürftig erfrischt, zerrt bei ihren 400 Auftritten profitieren die chalanter Coiffeur umschwirrt ihn mit Kuckelkorn die Zöpfe seiner käsefar- drei vom Diana-Syndrom: Sie haben we- Puderquaste und Lippenstift. benen Perücke zurecht, stülpt die Kro- der Macht noch Botschaft, besonders ko- Fro Kuckelkorn ist auf vaterstädti- ne über und grinst tapfer dem Tag ent- misch sind sie auch nicht, und doch baden scher Mission. Von Januar bis Ascher- gegen: „Jetzt geht’s los.“ sie in Sympathie. mittwoch mimt er als Jungfrau Froni ein Erste Station ist das Clarenbachs- Selbst Kölns Kardinal Joachim Meis- Drittel vom Kölner „Dreigestirn“, dem Stift in Braunsfeld. Erwartungsfroh ner bittet das Dreigestirn zumausgelasse- zentralen Symbol des international be- drängeln sich die Herrschaften im Kel- nen Plausch bei Kaffee und Kuchen. „Ihr rüchtigten Kölner Karnevals. ler zum Senioren-Fastelovend. Die gehört dazu wie die Heiligen Drei Köni-

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Männer sind nur als der größte Rave Europas, der schon ein- Unterhaltungselemente einhalb Jahrhunderte tobte, bevor die zugelassen. „Froni, Techno-Generation geboren war. Froni“, brüllt die Men- Selbst Menschen von Stand und Bil- ge, als die Schein- dung sind dem Spaß-Wahn verfallen. schwester den Saal be- Klaus Bresser etwa, Chefredakteur des tritt. Kaum wagt Kuk- ZDF, oder der Kölner Großunterneh- kelkorn das erste Tänz- mer Peter Jungen ziehen im Rosenmon- chen, ist die Meute, be- tagszug mit. feuert von Cola-Korn Verborgen im Leihgefieder, mit einem und klebriger Spätlese, riesigen Schnabel auf dem Kopf, amüsie- nicht mehr zu halten. ren sie sich gemeinsam mit Hamburgs „Ausziehen, auszie- ehemaligem Ersten Bürgermeister Klaus hen“, fordern ein paar von Dohnanyi, der Schriftstellerin Ulla Kecke. Hahn und Adenauers Enkel Konrad. Längst hat sich der Kampfschrei der Hühnerschar: „Scheiß- Karneval von der egal!“ Diktatur magenbitte- Damit die Stadt bis dahin brodelt, muß rer Funktionärsmützen Bestatter Kuckelkorn noch einige Nacht- emanzipiert und sich schichten einlegen. Zur Erholung ist die zum gesamtgesell- Mannschaft erst mal bei „Bimbo“ in der schaftlichen Happening Altstadt eingefallen. entwickelt. Seit die „Eigentlich“, sagt Kurt mit einem Glas Linke ihre Fundamen- in jeder Hand, „sin mer ja all bekloppt.“ talkritik am Karneval Andererseits, sinniert der Prinz, täten sie

M. LINKE / LAIF aufgegeben hat, boomt auch Gutes fürdie Vaterstadt: 600Millio- Feministin Schwarzer*: Die Linke protestiert nicht mehr die rotzige Stunksit- nen Mark Umsatz während der Session zung. Kölns schwule „sind auch ein kleines bißchen unser Ver- ge“, sagt der Kirchenmann heiter. Dann Gemeinde schunkelt auf der derben dienst“. setzt sich Meisner unterm Marienbild die „Rosa Sitzung“. Doch genug gegrübelt. Der Auftritt Prinzenmütze auf. Mit dem Sinn- und Zweckfreien als bei der ersten Fernsehsitzung naht. Die Die Illusion von Wichtigkeit, das Ge- Minimalkonsens „läßt der Karneval Saalstimmung ist mäßig. Unter der Kon- fühl, bedingungslos geliebt zu werden, Platz für jeden“, hat der Psychologe trolle der Kameras will zügellose Ausge- der Luxus, sechs Wochen lang nur Kon- Wolfgang Oelsner festgestellt: „Und al- lassenheit nicht aufkommen. Hier trifft fetti im Kopf haben zu dürfen, fährt den le wollen dabeisein.“ 43 Prozent der sich die Schicki-Szene, deren Prot- Männern direkt in die Kölsche Seele. Deutschen, ergab eine Erhe- „Da hat man einfach nur Schmetterlinge bung, träumen davon, am im Bauch“, schwärmt Kuckelkorn. Woodstock des Frohsinns Wenn eseinen Himmel nur für Männer teilzuhaben. gibt, dann muß es dort aussehen wie auf Warum, fragt die andere der Mädchensitzung der Narrengilde. Hälfte der Deutschen, ist das Knapp tausend Frauen künden von rheinische Virus so anstek- der entfesselten Urgewalt des Karne- kend? Oelsner: „In der kol- vals. lektiven Psychose kann ein Bankdirektor ohne Angst vor Autoritätsverlust ein Baby- häubchen tragen und backe, backe Kuchen machen.“ Der ungestümen Flucht in Gosse oder Glamour, so Kin- dertherapeut Oelsner, kom- me mit seiner trieb- und ag- gressionsabführenden Wir- kung „eine unschätzbare psy- chohygienische Bedeutung“ Stunksitzungs-Erfinder Becker zu. Erst recht in Krisenzei- „Idioten und Kleingeister“ ten. Dieses Volksempfinden, glaubt Oels- agonisten darunter leiden, „daß sie trotz ners Kollege Hermann-Josef Berk, ist ihres vielen Geldes nie im Fernsehen ist“, ausnahmsweise wirklich gesund. Die weiß Stunksitzungserfinder Jürgen Bek- Zahl der psychosomatischen Erkran- ker: „Idioten und Kleingeister eben.“ kungen werde durch das Treiben in Mit großzügigen Spenden sichern sich Kneipen und auf 80 000 Privatpartys die TV-Junkies einen Platz im Schwenk- deutlich gedrückt. Karneval, so Berk, bereich der Kameras. Wer ganz sicher ge- „müßte es auf Krankenschein geben“. hen will, steckt dem Kameramann einen 1,5 Millionen Menschen werden sich Schein zu. am kommenden Montag wieder der Selbstzufrieden hocken die befrackten

FOTOS: GUTMANN / FORMAT Kölner Kur verschreiben. Dann startet Narrenkappen des Festkomitees auf der Kardinal Meisner mit Prinzenkappe Bühne. Derzeit wird der Kreml des Köl- „Wie die Heiligen Drei Könige“ * Kölner Rosenmontagszug 1995. ner Karnevals vom Zahnarzt Hans-Horst

DER SPIEGEL 7/1996 117 Engels angeführt, der so spaßig ist wie ei- ne Wurzelbehandlung ohne Narkose. Die Macht ist unbegrenzt, denn das von Pensionisten dominierte Gremium vermarktet Zug und Fernsehrechte. Lä- chelnd spielt das Festkomitee (FK) die ansässigen Großsender RTL und WDR gegeneinander aus. Statt wie 1995 60 000 Mark für den Zug zahlt der WDR nun rund eine Million für das Rechtepaket. Vor dem FK kuscht die größte Anstalt der ARD seit jeher. Als ein Mitglied des Komitees, das nebenbei den Zug für den WDR kommentierte, die Gockelei sei- ner Kollegen kritisierte, wurde er auf Druck des Festkomitees abserviert. Und vor der Zug-Übertragung machen die Funktionäre klar, welcher Wagen imBild gewünscht wird. Die Fastelovend-Mafia bestimmt auch das Dreigestirn. Ihren Spaß müssen die Frontkämpfer teuer bezahlen. Neben po- lizeilichem Führungszeugnis hatte das Trio auch geschätzte 200 000 Mark für den selbstlosen Einsatz zu hinterlegen. Davon werden die ungezählten Rech- nungen beglichen, von den Kostümen bis zum Wurfmaterial. Und ein Bankett für 250 Honoratioren, die dem Festkomitee wichtig erscheinen. Traditionalisten sehen im bierernsten Vermarktungsstreben des Komitees eine Gefahr für den bodenständigen Karne- val. Wenn Fernsehen und Sponsoren die Regeln diktieren, droht der Stimmungs- pegel auf das Niveau eines mäßigen Ten- nisturniers, oder, schlimmer noch, auf Düsseldorfer Level zu sinken. Dort wird erstmals Reklame im Zug mitgeführt. Der Techno-Wagen im Köl- ner Zug wird allerdings auch schon von einer Zigarettenfirma gesponsert. Tapfer zieht das Dreigestirn vor der Masse seine Nummer ab. Reinhüpfen, Arme hoch, singen, tanzen, schale Witz- chen, alaaf!, dreimal tätä. Und dann nichts wie weg – zurück an die Basis. Weit nach Mitternacht haben sie die letzte Sitzung überstanden und lassen sich ins Hotel fahren. Allerdings nur, um die unbequemen Kostüme abzulegen. Wenig später kehren sie an die Theke zu- rück. Der Durst ist stärker. Im Kampf für den Karneval läßt sich ein wahrer Jeck eben durch nichts aufhal- ten. Als am vergangenen Dienstag der Vater von Prinz Kurt verschied, erwog Seine Tollität, den Dienst zu quittieren. Doch das Dreigestirn kam nach Rück- sprache auch mit kirchlichen Würdenträ- gern zum Ergebnis, daß der Pietät mit vier Tagen Pause Genüge getan sei. Samstag, einen Tag nach der Beisetzung, die –Ehrensache –Fro Kuckelkorn über- nahm, waren sie wieder im Einsatz. Vater Jörgens hatte vom Sterbebett Absolution erteilt. Die letzten Worte des alten Herrn, der bei der Nippeser Bür- gerwehr närrisch aktiv war: „Jung’, mach weiter!“

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GESELLSCHAFT LICHTBLICK NewsTalk-Moderatoren: Meinungscheck für Anrufer

Das Konzept von NewsTalk ist denk- Rundfunk bar einfach: In mehrstündigen Plauder- runden sollen die Zuhörer zu vorgege- benen Themen kostengünstig selbst die Redezeit füllen. Stations-Motto: „Hier Greif seid Ihr die Macher – greift zum Hörer, ruft an, sprecht mit uns.“ Ihre Stichworte beziehen die Radio- zum Hörer animateure vorzugsweise aus den Berli- ner Boulevardblättern. Entsprechend In Berlin startet das erste deutsche „brisant und analytisch“ (Eigenwer- Talk-Radio. Innovativ ist dabei vor bung) geht es denn auch bei Moderato- rin Marianne zu, die von 9 bis 12 Uhr allem eins: die fließende Grenze den „Berliner Salon“ führen wird. zwischen Programm und Werbung. Laut Trainingsplan versuchte Marian- ne vergangene Woche zunächst die Fra- ge zu klären, „was macht Walter Mom- olger aus Spandau hält Papstreisen per jetzt?“ Dann folgten die Programm- für „irgendwie grundsätzlich über- punkte „Gold als Anlage“, „Knochen- Hflüssig“. Stefanie aus Lichtenberg krebs“ und „Höflichkeit – ist das noch empfiehlt allen den Volkshochschulkurs trendy?“ „Gesünder leben durch Diätkost“, weil Vorbild für den Berliner Sender sind sie da „auf einen Schlag 20 Kilo Gewicht die amerikanischen Talk-Radios. Von verloren hat“. Und Klaus aus Tempelhof einem solchen Sender in San Francisco ist der Meinung, daß alte Menschen kommt auch der Entwicklungshelfer, „echt ausgestöpselt gehören, wenn sie den sich die Deutschen nun eingekauft der Gesellschaft nichts mehr bringen“. haben. Servus, Hallo und einen fröhlichen gu- Seit fünf Wochen trichtert Programm- ten Morgen bei NewsTalk, dem ersten direktor Peter Laufer seinen elf Mode- deutschen Radiosender, bei dem rund ratoren die Grundregeln des Quassel- um die Uhr gequasselt und gesabbelt funks ein. Der Talkmaster, lehrt der wird. Am 19. Februar startet in Berlin Meister, müsse sich seinen Hörern als die Privatstation, die ganz auf Musik ver- „Radiofreund“ empfehlen. Und dazu zichtet; noch proben die knapp 50 Mitar- brauche es vor allem „personality“. beiter täglich den Ernstfall. In der Praxis verwechseln die Schüler Über acht Millionen Mark lassen sich freilich Persönlichkeit mit Persönli- RTL, der Hamburger Medienunterneh- chem. „Ich bin ein ganz schön Netter“, mer Frank Otto und Europa Plus das Ex- stellt sich Moderator Joachim beim Stu- periment allein in diesem Jahr kosten. diotraining vor. Und sein Partner Ste- Denn der Berliner Sprechfunk gilt den phan bekennt, daß er „nur Almighurt Machern als „nationales Pilotprojekt“: von Ehrmann“ esse. Sollte der Sender Erfolg haben, wollen Mindestens 60 000 Hörer pro Stunde die Gesellschafter entsprechende Lizen- will die Geschäftsführung mit derlei zen auch in anderen deutschen Groß- Frohsinn bis Frühjahr nächsten Jahres städten beantragen. auf ihrer Frequenz versammeln, die Ge-

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winnzone soll spätestens in vier Jahren erreicht sein. Unterhaltung Experten bezweifeln allerdings, daß sich der Sender so schnell durchsetzen wird. Denn die wirklich erfolgreichen US-Stationen strahlen ihr Programm „Ich find’ mich prima“ entweder landesweit aus, oder sie locken die Hörer mit Moderatoren, die alle Aus- Interview mit Entertainer Harald Schmidt über Quoten, Kritik und Ekel-TV länder für Kriminelle halten und „libe- ral“ als Schimpfwort verstehen. „So ein Format kann lokal nur überleben“, SPIEGEL: Herr Schmidt, nun ruft Ihnen Werbung wichtigen Gruppe der unter glaubt Georg Gafron vom Berliner schon Ihre geliebte Feindin, die RTL- 49jährigen mehr bringen, als von uns Marktführer Hundert,6, „wenn es einen „Explosiv“-Moderatorin Barbara Elig- verlangt wird. Wahnsinnigen ans Mikro läßt.“ mann, tröstend zu: „Kopf hoch, Har- SPIEGEL: Haben Sie kein Signal von Doch das wollen Laufer und seine ry“ – steht es wirklich so schlimm? Sat 1 oder Leo Kirch bekommen, sich Vorgesetzten verhindern. „Fair“ und Schmidt: Ich liebe Trost von allen zu ändern? „möglichst ausgewogen“ soll es bei ihnen Frauen, aber für meine Sendung brau- Schmidt: Kirch hat mir zu Weihnachten zugehen. Und damit sich auch ja kein che ich keinen. ein freundliches Telegramm geschickt. Krawallmacher übers Telefon zuschalten SPIEGEL: Aber Ihre Quote ist doch SPIEGEL: Sieht er Ihre Sendung über- kann, werden alle Anrufer einem kurzen mies, sie liegt weit unter den Erwar- haupt? Meinungscheck unterzogen. tungen. Schmidt: Ich glaube nicht, daß Herr Wirklich innovativ ist an dem neuen Schmidt: Wer sagt das? Uns fehlen ja Kirch bei der hohen Belastung, die der Sender vor allem eins: Die Grenzen zwi- nicht Millionen, uns fehlen 200 000 Aufbau seines Medienimperiums ver- schen Werbung und Programm sind flie- Menschen. Aber auch nur an manchen langt, Zeit dafür hat. ßend. Bei NewsTalk finde die Werbe- Abenden. SPIEGEL: Ihren ersten Regisseur Rolf wirtschaft endlich ein „ideales Sendeum- SPIEGEL: Vor Beginn Ihrer Show war Sturm haben Sie aber schon gefeuert. feld“, schwärmt die Marketingleiterin von höheren Zahlen die Rede. Schmidt: Ja, aber das war kein Skan- Caren Lottermann, gesprochene Rekla- Schmidt: In meinem Vertrag steht, ich dal, es war abgesprochen, daß der nach me füge sich „harmonisch ins Programm muß im ersten halben Jahr überhaupt drei Monaten geht. Wir hatten ein biß- ein“. keine bestimmte Quote bringen. Im chen Knatsch, aber alles ganz normal. So bietet der Sender den Werbekun- folgenden Vierteljahr muß die Quote Das Schöne im Vergleich zur ARD ist den an, beispielsweise während der mit- entweder 13 Prozent Marktanteil oder hier: Man wird Leute viel schneller los. täglichen Lifestyle-Sendung „Fashion- 1,3 Millionen Zuschauer im Schnitt er- Und es ist klar, daß einiges auf dem tips des Einzelhandels“ unterzubringen. reichen. Spiel steht und Leistungsdenken Außerdem seien die Moderatoren auch SPIEGEL: Aber ein bißchen mehr dürf- herrscht. bereit, versichert Lottermann, einen te es schon jetzt sein. Ihre Werbekun- SPIEGEL: Sind Sie hart zu Ihrem kleinen Werbetext vorzulesen oder sich den werden langsam unruhig. Team? auch mal beim Gebrauchtwagenhändler Schmidt: Fredi . . . Schmidt: Das macht mein Produzent nach den neuesten Schnäppchen zu er- SPIEGEL: . . . Programmchef Fred Ko- Jörg Grabosch für mich. Ich habe so kundigen. gel, Ihr Gönner und Freund . . . gut wie keinen Kontakt zu meinen Und wenn ein Bankhaus, ganz unauf- Schmidt: . . . sagt mir, wir seien ausge- Leuten, ziehe die Vorhänge zu und fällig natürlich, seine Experten ausführ- bucht. Ich weiß allerdings nicht, was da bringe mich den ganzen Tag in Stim- lich vorstellen möchte? Alles kein Pro- mit Rabatten und Sondertarifen ge- mung für den Abend. blem: Auf Anfrage darf das Unterneh- macht wird. Was ich von der Ge- SPIEGEL: Wie finden Sie sich denn men den Talkmaster stellen. Denn der ist schäftsleitung höre, ist, daß wir vom selbst so als Leistungsträger? ja laut Programmchef Laufer der ver- ersten Tag an Geld einspielen. Ent- Schmidt: Ich find’ mich prima. Ich trauenswürdige „Radiofreund“. scheidend ist, daß wir bei der für die find’ mich dann besonders gut, wenn C. LITTLE / EVERETT COLLECTION ACTION PRESS Schmidt-Vorbild Letterman, Moderator Schmidt: „Viele Leute wollen mich persönlich scheitern sehen“

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das Material nicht so gut ist. Und ich war. Nicht eine reale Person, sondern SPIEGEL: Und warum sind Sie für man- es verkaufe nach dem Motto: „Ist doch eine Kunstfigur, wie alle mit einem ge- che ein rotes Tuch? wieder Riesenstimmung heute!“ Ich wissen Boulevard-Charakter. Dabei hal- Schmidt: Weil ich schon zu lange erfolg- bin der erste richtige Late-Night-Mo- te ich es mit Max Frisch: Ab einem ge- reich bin, weil ich nach deren Meinung derator. wissen Einkommen macht sich jeder zuviel Geld verdiene . . . SPIEGEL: Sie sind nach Gottschalk und Mensch strafbar . . . SPIEGEL: . . . laut Bild am Sonntag 32 Koschwitz eher der dritte Nachtplaude- SPIEGEL: Da müßten Sie längst im Ge- Millionen Mark für zwei Jahre . . . rer, der scheitert. fängnis sitzen. Schmidt: . . . und weil ich das Maul zu Schmidt: Ich bin wie die großen ame- Schmidt: . . . Vater Graf sitzt auf der weit aufreiße. rikanischen Talkshow-Gastgeber die anderen Seite des Bildschirms, aber er SPIEGEL: Vielleicht zeigen Sie zuwenig Ochsentour gegangen: 10, 15 Jahre hat eigentlich rund um die Uhr Late Herz in Ihrer Sendung. lang über alle Kleinkunstbühnen getin- Night. Schmidt: Das höre ich schon, seit ich gelt. Und der Erfolg einer Late Night SPIEGEL: Wenn Sie könnten, würden beim Fernsehen bin. Ich kann mich ja steht und fällt mit dem Comedy-Mate- Sie ihn einladen? nicht neu klonen lassen. Es gibt genug rial der ersten halben Stunde. Schmidt: Nein, es gibt Leute, die leisten Leute, die das, was als Herz mißverstan- SPIEGEL: Sie meinen Ihr Anfangs-Solo. mehr für uns, wenn sie anderswo arbei- den wird, bedienen. Ich bin im Regal Schmidt: Koschwitz hatte zum Schluß ten. Im Idealfall muß es so sein, daß wir ein anderer Artikel . . . einen Comedy-Anteil von drei Minu- Vater Graf für 500 000 Mark an Stern SPIEGEL: . . . und schwierig abzusetzen ten, der noch nicht einmal auf Anhieb TV vermittelt haben, und die merken zu der späten Stunde. zu erkennen war. erst nach Tagen, das war Niki Pilic, weil Schmidt: Ich würde gerne sogar noch SPIEGEL: So brillant sind Sie aber auch er beim Rilke-Test ins Straucheln kam. später senden, um Mitternacht. Aber nicht immer. Schmidt: Besonders Schlaue nehmen es mir ja übel, daß ich die dünnen Wit- ze vorher anlache. Aber das ist der Humor der Sendung, daß ich ausstrah- le: „Leute, wenn ich heute einen bes- seren Witz hätte, hätte ich ihn ge- macht.“ SPIEGEL: Das ist nicht gerade ein üppi- ger Trost. Schmidt: Man muß sehen, daß nicht die Qualität des einzelnen Witzes das Angebot der Sendung ist, sondern die Tatsache, daß wir jeden Tag da sind. Letzten Endes bin ich ein Malocher, das ist mein Arbeitsethos. SPIEGEL: Comedy heißt bei Ihnen auch, auf Banktresen zu kotzen, Nu- deln aus Patienten rauszuoperieren oder mit dem Rotz von Dirty Harry

Teller zu säubern. ACTION PRESS Schmidt: Ja, das ist wirklich Ekel-TV, Schmidt-Kollege Gottschalk*: „Wir müssen den Schäferhundfreund gewinnen“ wie Bild das genannt hat. Aber das gibt es schon lange, nur hieß das bis- SPIEGEL: Sie haben nicht unbedingt ein dann wäre die Werbung nicht mehr so her „Flitterabend“ bei Michael Schan- gutes Verhältnis zu Stern TV. teuer zu verkaufen, und ich müßte mein ze in der ARD. Schmidt: Im Gegenteil: Günther Jauch Gehalt auf das Niveau eines SPIEGEL- SPIEGEL: Da erbricht man sich doch und ich sind Nachbarn. Wir kaufen beim Chefredakteurs herunterschrauben. nicht vor der Kamera. selben Videohändler. Ich möchte ihm SPIEGEL: Welch ein Schicksalsschlag. Schmidt: Doch. Das heißt dort: „Die jetzt bald ein Video verkaufen, das ich Schmidt: Ja, dann müßte ich mein Haus, Brautkinder kommen.“ Das ist nur al- selbst gedreht habe: „Hitler in Köln“. mein Auto und mein Pferd abschaffen. les kaschiert, bei mir ist es unmittelba- Was garantiert echt ist, erkennbar am Und die Pferdepflegerinnen. rer. Wir liefern Documenta-Qualität Datum im Camcorder. SPIEGEL: Sie reiten? zum Hollywood-Tarif. Das ist neu im SPIEGEL: Immer nur lächeln und immer Schmidt: Nein, aber ich habe Pferde- deutschen Fernsehen. vergnügt – aber leiden Sie nicht unter der pflegerinnen. SPIEGEL: Auch daß sie Frauen mit öffentlichen Schadenfreude, die Sie und SPIEGEL: Mußten Sie nach der schlech- Kloschüsseln vergleichen, wie bei der Ihr Kumpel Kogel über sich ergehen las- ten Presse schon auf Gäste verzichten? WDR-Moderatorin Bettina Böttinger, sen müssen? Schmidt: Was uns absagt, ist die Preis- ist neu. Schmidt: Viele Leute wollen mich per- klasse Petra Schürmann, Miß World Schmidt: Wir haben einen Brachialwitz sönlich scheitern sehen. 1956. Die hatten wir allerdings nie ein- gemacht, auf den Frau Böttinger sehr SPIEGEL: Was Wunder, wenn sich Fritz geladen, genauso wie alle anderen, die medienwirksam eingestiegen ist. Das Egner rühmt, jetzt bei Sat 1 wolle er vor abgesagt haben. Outing als Bi-Sexuelle kam von ihr sel- allem „jede Menge Heu einfahren“. SPIEGEL: Mit welchen Gästen können ber. Man kann alles machen, es muß Schmidt: Egner ist stark im ländlichen Sie denn mehr Quote machen? bloß unterhaltsam sein. Raum verwurzelt. Das muß man vom Ba- Schmidt: Es hat sich herausgestellt: Wir SPIEGEL: Ob Vater Graf sich in seiner juwarischen her sehen, sonst löst das brauchen attraktive Frauen und Gäste, Rolle als Running Gag bei Ihnen wirk- leicht Irritationen aus. mit denen man über attraktive Frauen lich trösten kann? reden könnte. Wie mit Frau Böttinger. Schmidt: Vater Graf ist für uns, was * Mit Gast Burt Reynolds in seiner Show „Haus- SPIEGEL: Gottschalk bot zum Schluß O. J. Simpson für die Amerikaner Party“. nur noch italienische Busenwunder.

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Schmidt: Die „Tittenmonster“ haben wir nicht, und die will ich auch nicht, das ist ein Befehl. SPIEGEL: Was wollen Sie noch tun, um mehr Zuschauer zu erreichen? Schmidt: Zunächst einmal möchte ich mehr Zuschauer von Sat 1 bekommen. Unsere kommen noch hauptsächlich von RTL und Pro Sieben. Der traditio- nelle Sat-1-Zuschauer, gestählt durch jahrelanges „Glücksrad“, zeigt bei mir noch leichte Irritationen. Wir müssen noch stärker den Schäferhundfreund ge- winnen. SPIEGEL: Holen Sie sich etwa ein Tier in die Sendung? Schmidt: Nein, wir müssen diesen Zu- schauern nur klarmachen, daß meine Sendung von einem Schäferhund mode- riert wird. SPIEGEL: Der vor Angst ganz schön laut bellt im finstren Wald. Schmidt: Ich höre und lese so vieles an Gerüchten Tag für Tag. SPIEGEL: Auch, daß Sie demnächst im Wechsel mit Koschwitz moderieren sol- len? Schmidt: Das fände ich spannend. Das wäre genauso, als wenn Mick Jagger bei den Stones nur ein Drittel der Tournee singt und Patrick Lindner den Rest. Im Ernst: In meinem Vertrag steht alles klipp und klar drin. Natürlich gibt es im- mer die Möglichkeit, jemanden früher zu feuern. Aber mir geht es nicht um Abfindung. Ich will diese Sendung ma- chen. SPIEGEL: Weil Sie immer auf dem Ego- trip sind? Schmidt: Ich bin restlos von meinem Konzept überzeugt. Ich sehe doch, was in der Unterhaltung rechts und links passiert. Die größte Pointe für mich in letzter Zeit war: Eva Herman wird den „Flitterabend“ moderieren. SPIEGEL: Die wird es wahrscheinlich leichter haben als Sie. Schmidt: Ja gut, es ist hart, aber Jay Le- no hat auch drei Jahre gebraucht, bis er sich durchgesetzt hatte. SPIEGEL: Wie sehen Sie denn Ihre eige- ne Zukunft? Schmidt: Was der Feind nicht weiß, ist: Diese enormen Prügel, die ich kriege, das ist genau das, was mich 200prozentig motiviert. Mein größerer Feind ist die Langeweile, und die würde ich schnell empfinden, wenn sich meine Sendung sofort etabliert hätte. SPIEGEL: Sind Sie Masochist? Schmidt: Die Amerikaner haben den Spruch: „Suffering is funny“ – leiden macht Spaß. Der Druck von außen ist genau der Widerstand, den ich brauche, um meine 400 Sendungen vertragsge- mäß abzuliefern. Danach gehe ich da- von aus, daß mir Sat 1 einen zeitlich un- befristeten Vertrag zu eindeutig verbes- serten finanziellen Konditionen anbie- tet.

122 DER SPIEGEL 7/1996 rem Compu-Romeo so alles trieb: E- Computer Mail-Geflüster mit Cybersex und Cybor- gasmen, täglich viele gebührenteure On- line-Stunden lang, so daß der digital ge- hörnte Ehemann schließlich befürchten Soviel mußte, er finanziere den gesamten Da- ten-Highway ganz allein. Daß sein Nebenbuhler sich hinter dem du kannst Pseudonym „Wiesel“ versteckte, hätte er vielleicht noch als das ertragen, was Liebe per Mausklick? In den USA man im Internet unter Humor versteht. läuft der erste Scheidungsprozeß Aber als seine Frau ihren Computer- Partner nicht mehr nur virtuell, sondern wegen virtueller Untreue. ganz viril im Bett haben wollte, verwan- delte sich der bis dahin zauderhafte John atty-Botty“, „Hanky-Panky“ oder in einen aktivierten Brandsatz: Er warf „Rumpy-Pumpy“ – so oder noch seine Frau aus dem Haus und verlangte Bkindischer pflegt der amerikani- die Scheidung. sche Mann aus der gehobenen Mittel- Dianes Fehler war, daß sie mit ihrem schicht den Koitalvollzug zu nennen. Mann zwar nicht mehr das eheliche La- Seit letzter Woche aber geistert ein ger, aber nach wie vor den Computer neuer Begriff für den Beischlaf durch teilte. So konnte John chronologisch von die Treffs und Tränken der Besserver- der Festplatte lesen, wie seiner Frau die Triebabfuhr per Tastatur immer weniger genügt hatte: Alsbald unterbreitete sie ihrem elektronischen Cupido den Vor- schlag, gemeinsam das Nächtigungsan- gebot der örtlichen Hotellerie zu nutzen. „Ich möchte Rumble-Rumble“, ver- langte sie heißblütig vom Wiesel, das da- mit nur zu einverstanden war, „soviel du kannst Rumble-Rumble“ – mit den Scheidungspapieren kam der Begriff an die Öffentlichkeit, und die Journaille brach über den 5000-Seelen-Ort Bridge- water/New Jersey herein, wo John Goy- dan nunmehr solo im vormals ehelichen Hause lebt. Doch die Goydans und ganz Bridge- water widersetzten sich den Recher- chen. Nur ein (vermutlich durch Süßig- keiten korrumpierter) Knabe ließ sich dazu herab, die Vertreter der Presse da- hingehend zu unterrichten, daß Mrs. Goydan zwar über alle Attribute begeh- SPIEGEL-Titel 46/1993 renswerter Weiblichkeit verfüge, alles in „Vor Gott ist alles möglich“ allem aber „ziemlich stark gebaut, ja richtig dick“ sei. Diese Mitteilung stand dienenden in den USA. Er lautet, nicht in diametralem Gegensatz zu ihrer minder infantil: „Rumble-Rumble“. Selbstbeschreibung am Computer, die Diese Bereicherung ihres Sexualvoka- Wiesel zu der Hoffnung verleitet hatte, bulars verdankt die Mondfahrernation er werde die Nacht mit einer exquisit ge- einem aufsehenerregenden Scheidungs- wachsenen Schönheit verbringen. verfahren, das die Amerikaner amüsiert Da zwischen beiden nur eine virtuelle, wie selten ein Fall in ihrer Rechtsge- aber keine Begegnung im Fleische statt- schichte: Es geht um die juristische Fra- gefunden habe, konstatierte der New ge, ob virtuelle, am Computer verübte Yorker Staranwalt Raoul Felder, könne Untreue, also sozusagen Batty-Botty rechtens von Ehebruch keine Rede sein. durch Bits und Bytes, als vollzogener „Aber vor Gott und amerikanischen Ge- Ehebruch gelten kann oder nicht. richten ist alles möglich“, fügte er grie- Hintergrund der Computer-Causa ist nend hinzu; „besonders wenn es um die bislang schärfste Online-Affäre im Rumble-Rumble geht.“ Internet, dem globalen Computernetz, Ihren vorläufigen Höhepunkt erreich- durch das sich die Teilnehmer per Tasta- te die Posse letzten Dienstag, als Diane tur und Mausklick bewegen. Goydan zum Gegenschlag ausholte. Die Was sich zwischen Diane Goydan und Cybersex-Delinquentin verklagte ihren ihrem Internet-Partner entwickelte, war Mann wegen Verletzung ihrer Intim- allerdings eher eine Art Mausfick – so sphäre. Begründung: „Er hat das un- zumindest empfand es Mr. Goydan, als glückliche Wort publik gemacht, jetzt ihm klar wurde, was seine Frau mit ih- lacht ganz Amerika über mich.“ Y

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AUSLAND

Mostar „Jagt den Deutschen davon“ Hans Koschnick, der europäische Verwalter von Mostar, scheiterte mit seinem Versuch, die Einheit der Stadt wiederherzustellen. Erstmals ist das Friedensabkommen von Dayton in Frage gestellt – die Kroaten sabotieren die gemeinsame Föderation mit den Moslems. Der Bonner Einfluß auf Zagreb schwindet.

iewerdenwirerlauben,daßinunse- und dem kroatischen Bürgermeister Mi- davongekommen, hätte er sich der Men- rer Hauptstadt die grüne Fahne des jo Brajkovic´ gerufen, vor Koschnicks ge gestellt. NPropheten weht“, drohte Ivan Kri- Amtssitz und protestierten haßerfüllt Gescheitert war, was er in monatelan- stic´, der Beauftragte des kroatischen Prä- gegen den Versuch des deutschen Ver- ger Kleindiplomatie angesteuert hatte sidenten Franjo Tudjman in Mostar. walters, Mostar wiederzuvereinigen. und zuletzt per Dekret durchsetzen Nicht weniger mißfiel dem Propagan- Im Westteil der einst bei Touristen so wollte: Mostar als eine Stadt wiederher- disten für ein Großkroatien die blaue Eu- beliebten, vom Bürgerkrieg zerschunde- zustellen, die mit ihrer berühmten, ropa-Flagge, die Hans Koschnick, Admi- nen Stadt leben Kroaten, im Osten Mos- längst zerschossenen Brücke zum Sym- nistrator der Europäischen Union, vor lems, und nur abgezählte Personen dür- bol des Friedens auf dem Balkan hätte seinem Verwaltungssitz aufziehen ließ. fen stundenweise die streng bewachte werden können. „Wir wollen keine Besatzer“, so der Trennlinie überqueren. Dabei solle es Alle 120 000 Einwohner, so wollte es Kroate, „keine grünen und keine blau- bleiben, forderten die Demonstranten. Koschnick, sollten sich künftig in allen en.“ Als der gepanzerte Dienst-Mercedes Stadtbezirken frei bewegen dürfen, die Schon seit Wochen hetzte Kristic´ im lo- des Deutschen heranrollte, hatte ihn Demarkationslinie am Fluß zwischen kalen Kampfsender Radio Herceg-Bos- die Menge unter Führung des Bürger- den beiden Stadthälften wäre ver- na gegen den „deutschen Hilfssheriff“. meisters Brajkovic´ rasch eingekeilt, schwunden. So sah es der Friedensver- Im Zagreber Staatsfernsehen schmähte die Leibwächter wurden abgedrängt. trag von Dayton vor, den auch die kroa- er den ehemaligen Bürgermeister von Knapp eine Stunde mußte Koschnick tische Regierung unterschrieben hat. Bremen als „Moslemfreund“, der keine die Belagerung aushalten, derweil ein Doch die Konfliktparteien geben we- Ahnung von Geschichte und Mentalität lynchlustiger Mob mit Latten und sogar nig auf Verträge, sie halten nur, was ih- der Balkanvölker habe. Eine Katastro- mit Krücken auf den Wagen einschlug. nen genehm ist. Die Wiedervereinigung phe werde über Mostar hereinbrechen, „Jagt den Deutschen davon“, schrien ist aufgeschoben, die Kroaten erklärten kündigte Kristic´ an, wenn der Zugereiste die Kroaten. Verzweifelt rief der Chauf- Koschnicks Plan für unannehmbar. nicht an seinen Plänen gehindert werde. feur per Handy um Hilfe. Sieben Schüs- In Absprache mit Uno und Europäi- Vorigen Mittwoch war es soweit. Tau- se trafen das Auto in Kopfhöhe, scher Union traf der deutsche Sozialde- send erregte Kroaten zogen, von Kristic´ Koschnick wäre nicht mit dem Leben mokrat daraufhin seine Anordnung, oh- AP Aufgebrachte Kroaten, Koschnick-Dienstwagen: „Völker leben besser nebeneinander als miteinander“

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ne länger auf die Einwilligung Bürgerwehren beider Seiten ge- der Beteiligten zu warten. Die Geteilte Stadt genüber, jederzeit bereit, den juristische Autorität dafür hatte Mostar Kampf wiederaufzunehmen. er – nicht aber die Macht. Kleine Scharmützel kommen geplanter moslemisch- Koschnicks Dekret: Zwi- kroatischer Stadtteil Kroatiens Tudjman derzeit so- schen drei moslemischen und Bahnhof gar gelegen. Seit Dayton drängt drei kroatischen Stadtbezirken EU-Administration er seinen bosnischen Amtskolle- verfügte er die Schaffung eines Check- gen Alija Izetbegovic´, ihm doch „Zentralbezirks“; ein aus bei- point ganz Mostar freiwillig zu über- den Nationalitäten zusammen- lassen – ehe es dort wieder zu gesetzter Magistrat sollte für Gewaltausbrüchen komme. Bei dessen Verwaltung zuständig solchem Entgegenkommen, so sein, aber auch für Wasser- und moslemischer verlautet aus der kroatischen Elektrizitätsversorgung, Bahn- kroatischer Teil Teil Hauptstadt, sei die kroatische hof und Flughafen. Regierung bereit, ihre Truppen „Ein Deutscher kann nicht aus der Region um Bihac´ zu- eine Stadtteilung hinnehmen, rückzuziehen und die bosni- wie es sie in Berlin gegeben Neretva schen Kroaten-Gebiete Jajce derzeitige kroatisch- hat“, begründete Koschnick moslemische Frontlinie zerstörte und Stolac für immer zu räu- den Zwang zur Koexistenz und „Alte Brücke“ men: ein freiwilliger Bevölke- fügte edelmütig, aber naiv hin- rungstransfer als letzter Ausweg zu: „Ein Deutscher kann auch aus der Gemengelage in Bos- Ausschnitt SERBIEN nicht hinnehmen, daß die Bos- siehe Seite 128 nien, das einmal ein multiethni- nier weiter im Ghetto leben.“ Bihac´ scher Staat war. Banja Luka Doch gerade dieser Wille „Völker leben besser neben- zum Guten blies eine Glut an, einander als miteinander“, Jajce Tuzla die seit den erbitterten Kämp- behauptet Kroaten-Vordenker fen zwischen Moslems und BOSNIEN- Kristic´. Er könne jeden verste- Kroaten in Mostar nie erlo- HERZEGOWINA hen, der den Wunsch hege, aus- KROATIEN Sarajevo schen war. Die Stadt registrier- schließlich mit Landsleuten Um- te einst die meisten national gang zu haben: „Was Kroaten gemischten Eheschließungen in Mostar von Serben Kroaten Moslems und Serben schon erkannt ha- ganz Jugoslawien. Vom Früh- Adria ben, werden die Moslems auch jahr 1993 bis zum Februar 1994 Stolac kontrollierte Gebiete noch verstehen lernen.“ aber führten die bosnischen 50km An Mostar wollen die Kroa- Kroaten dort massive Angriffe ten unbedingt festhalten, weil gegen die moslemischen Mitbe- sie sonst kein städtisches Zen- wohner. Die kroatischen Natio- trum in Bosnien besitzen – an- nalisten erhoben Anspruch auf ders als die Moslems mit Saraje- Mostar als Hauptstadt einer ei- vo und die Serben mit Banja Lu- genen „Republik Herceg-Bos- ka. Ihnen ist schwer begreiflich, na“. Für Moslems war darin warum gerade die Deutschen, kein Lebensraum mehr vorge- die doch bei Jugoslawiens Zer- sehen. fall als erste die Auflösung des Bei diesem Unterfangen hat- Bundesstaats in nationale Repu- ten sie sogar ihre Todfeinde auf bliken anerkannten, in Bosnien ihrer Seite, die bosnischen Ser- unbedingt wieder eine Föderati- ben. Beide wollen dem Mehr- on miterrichten wollen. heitsvolk der Balkanrepublik Die Bonner Regierung, in Za- allenfalls Platz in einem ethni- greb lange als Kroatiens bester schen Reservat zuweisen – um- Verbündeter gefeiert („Danke klammert von Großserbien und Deutschland“), hat denn auch

Großkroatien. DPA ihren Einfluß auf Tudjman Wenn es darum geht, die Geretteter Koschnick, Leibwächter längst verloren, auch wenn der Moslems zu verdrängen, gilt Wille zum Guten nach der Attacke auf Koschnick zwischen Kroaten und Serben versicherte, für die Sicherheit noch immer jene Übereinstimmung der Unter dem Druck der Vereinigten des deutschen Administrators in Mostar Interessen, die bereits bei der Auflö- Staaten wurde dort vereinbart, die zu garantieren. sung des jugoslawischen Vielvölker- selbstproklamierte Republik Herceg- „Es widerspricht doch jedem patrioti- staats 1990 heimlich zwischen Tudjman Bosna aufzulösen und eine Föderation schen Gefühl“, freute sich die Serbin und dem serbischen Präsidenten Slobo- der Kroaten mit den Bosniern zu bilden. Biljana Plavsˇic´ über den kroatischen dan Milosˇevic´ vereinbart worden war. Mit diesem Zwangsbündnis steht und Wutausbruch gegen Koschnick, „daß Trotz mancher ideologischer Unter- fällt die gesamte politische und militäri- fremde Fahnen auf heimatlichem Boden schiede und kräftigem wechselseitigen sche Kooperation zwischen Zagreb und wehen.“ Die Vizepräsidentin der bosni- Mißtrauen sind sich die beiden Balkan- Sarajevo. schen Serben ermunterte die Kroaten in fürsten bis heute in einem zentralen Scheitert das Modell des Zusammen- Mostar, sich von der internationalen Punkt einig: Das ehemals bunte Viel- lebens in Mostar, hat es auch in den Staatengemeinschaft ja nichts vorschrei- völkergemisch in Bosnien müsse besei- restlichen Gebieten der Föderation ben zu lassen: „Der Kampf um ein freies tigt werden – auch nach dem Friedens- wenig Überlebenschancen. Dort ste- Mostar entspricht unserem Ziel von ei- schluß von Dayton. hen sich mancherorts schwerbewaffnete nem freien Sarajevo.“

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te zuschreiben. Natürlich wäre eine Dreiteilung Bosniens besser gewe- sen. SPIEGEL: Und die wollen Sie jetzt ge- waltsam, notfalls durch einen neuen Krieg, erzwingen? Brajkovic´: Warum steht ständig Mo- star im Mittelpunkt? Sehen Sie doch, was in Sarajevo, Varesˇ, Bugojno pas- siert – nennen Sie das Frieden? War- um sollen wir hier mit gemeinsamen kroatisch-moslemischen Polizeipa- trouillen anfangen, warum beginnt man nichtinanderenTeilender Föde- ration damit? SPIEGEL: Sie haben die Beziehungen zur EU abgebrochen. Wie soll es wei- tergehen? Brajkovic´: Wir sind zu Gesprächen bereit – aber nicht auf der Grundlage des letzten Koschnick-Dekrets. Da werden wir keinen Millimeter nach-

ZDF geben. Die Grenze zwischen unserem Kroatenführer Brajkovic´ in Mostar: „Wir lassen uns nicht kaufen“ Teil der Stadt und dem moslemischen Teil muß vorerst identisch mit der mi- litärischen Trennungslinie in Mostar bleiben. Dafürhaben wirBlut vergos- „Ich sage nein“ sen. Ich will meinen kroatischen Teil, in dem mir keiner vorschreibt, wie Bürgermeister Mijo Brajkovic´ über den Widerstand gegen Koschnick viele Kirchen und Schulen ich dort baue. SPIEGEL: Nach dem Abkommen von SPIEGEL: Herr Brajkovic´, warum SPIEGEL: Hinter Koschnicks Richt- Dayton müssen Sie den Moslems aber wollen Sie nicht, daß Mostar wie- spruch stehen die EU und die die Rückkehr in Ihren Stadtteil erlau- dervereinigt wird? USA . . . ben. Wann wird dies geschehen? Brajkovic´: Ich bin dagegen, diese Brajkovic´: . . . hinter ihm müßte das Brajkovic´: Wir haben hier 16 000 Entscheidung übers Knie zu bre- Volk stehen. Nur das zählt. Aber mit kroatische Flüchtlinge, erst muß ich chen. Wir hatten alles präzise ver- dem pflegt Koschnick ja keinen Kon- für die Platz finden. Natürlich wollen einbart: drei Gemeinden mit kroa- takt. Statt mit Witwen und Invaliden die Moslems auf unsere Seite kom- tischer Mehrheit, drei mit moslemi- zu reden, weiht er lieber Kindergär- men, weil man da besser lebt. Und scher. Dadurch wäre unsere natio- ten und Schulen ein. Er glaubt, alles warum? Weil wir mehr arbeiten. nale Identität gewahrt geblieben. besser zu wissen. Die Politiker, die Aber davon wollen sie wenig hören, Und jetzt kommt dieser Rechtha- aus dem Westen zu uns kommen, sind sie möchten nur bedauert werden. In ber Koschnick und erfindet einen wie Mechaniker ohne Herz und Ge- Wirklichkeit wollen die Moslems siebten „Zentralbezirk“ . . . fühl, Herr Kinkel zum Beispiel, der auch die Aufteilung Mostars in sechs SPIEGEL: . . . er erfindet nicht, er immer nur schreit: Ihr müßt! Ihr Gemeinden nicht. macht von seinem Recht Gebrauch, müßt! Ihr müßt! Mit etwas Reis und SPIEGEL: Warum das? im Streitfall zu entscheiden. ein paar Konserven lassen wir uns Brajkovic´: Weil unsere Kroaten dann Brajkovic´: Er nimmt mir den schön- nicht kaufen. auch in Sarajevo, Tuzla, Zenica, Va- sten Teil meiner Stadt weg. In SPIEGEL: Hatten Sie Ihren Wider- resˇ und Bugojno ihre eigenen Bezirke Wirklichkeit will er den Moslems stand mit Präsident Tudjman in Za- fordern werden. Dieses Schema müß- nur eine vierte Gemeinde zuschan- greb abgesprochen? te dann auf ganz Bosnien ausgedehnt zen. Brajkovic´: Er unterstützt unsere Poli- werden. Das wäre der Zerfall der Fö- SPIEGEL: Und deshalb wollten Sie tik ohne Einschränkung. Ganz Kroa- deration, dann hätten auch wirunsere ihn lynchen lassen? tien steht auf unserer Seite. Wenn eigene Republik. Brajkovic´: Wenn Koschnick das be- Tudjman meine Politik für falsch hält, SPIEGEL: Friedlich wird das nicht ge- hauptet, werde ich kein Wort mehr muß er mich auswechseln. hen. mit ihm reden, bis er sich öffentlich SPIEGEL: Provozieren Sie bewußt Brajkovic´: Was geschieht hier schon entschuldigt. Ich habe ihm durch den Zerfall der bosnisch-kroatischen friedlich? Hier existieren zwei ver- mein Eingreifen den Kopf geret- Föderation? schiedene Kulturen, niemand kann tet. Brajkovic´: Diese Föderation wurde uns den Islam aufdrücken. Jeden Tag SPIEGEL: Ihre Polizei schaute doch erzeugt, um den Krieg zu beenden. verstärken die Moslems auf der ande- tatenlos zu. Aber siekann nur auf dem Willen bei- ren Seite die Lautsprecher der Mo- Brajkovic´: Ich rechtfertige die At- der Völker aufgebaut werden; wenn scheen. Muß das die Zukunft der tacke nicht, aber das war ein Au- sie auseinanderbricht, läßt sich die Kroaten sein? Ich sage nein!Denn ich genblick spontaner Revolte. Verantwortung dafür nicht einer Sei- liebe mein Volk.

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Kriegsverbrechen Endstation Steinbruch SPIEGEL-Reporter Walter Mayr über die Suche nach Massengräbern im Nordwesten Bosniens

in Schädel ohne Unterkiefer liegt am Rande der Straße, die Sanski EMost mit Banja Luka verbindet. Vermutlich ist es ein bosnischer Schä- del, zurückgelassen genau auf der be- reinigten Volkstumsgrenze zwischen Moslems, Kroaten und Serben. Im Ge- röll rundum sind, vom Tauwetter erst kürzlich freigegeben, noch Kleider und Reste dessen erkennbar, was ein bosni- scher Mensch war. Bei Wind aus Nord- west dringt der Geruch bis hinab zur Straße. In Sichtweite des Schädels haben sich die Männer um Sergeant Grimes mit ih- ren Schützenpanzern eingerichtet, ein gutes Dutzend vom leichten Infanterie- regiment Yorkshire, kaserniert in einer zugigen Ruine. Sie sind die einzigen le- benden Menschen in Sasina. Sie lang- weilen sich, doch sie tun es für den Frieden. Im Niemandsland zwischen den feindlichen Linien trotzen sie mit Betriebsamkeit der tödlichen Stille im Tal. Sie schrubben sich bei Schneetreiben in einer Zinkwanne sauber, machen Meldungen und haben aus Eisenschrott Hanteln gebastelt. In ihren Regalen stehen Pudding und Baconburger in Dosen. Die Übersetzerin bringt frische bosnische Sahneschnitten. Massengrä- ber, hier? Nichts bekannt, sagt der britische Sergeant. Zu Kriegsverbrechen mag er sich nicht äußern. Laut Dayton-Ab- kommen, dessen Morphologie er abends in seiner eisigen Kammer durchbuchstabiert, hätten die interna- tionalen Ifor-Friedenstruppen damit nichts zu tun. Sie seien zur Wahrung der Waffenruhe angehalten. Der Sergeant pflegt Kontakt zu Ser- ben und bosnischen Regierungstrup- pen. Er hält Sasina für ein serbisches Dorf, was es nie war, und die West- grenze bosnisch-serbischen Territori- ums für die künftige „internationale Grenze“, was sie nach Vertragslage nie werden darf. Das wäre nämlich das En- de der Republik Bosnien-Herzegowina, zu deren Bestandswahrung der Ser- geant eingeflogen wurde. Richtig gedacht ist es, wenn er sagt, er müsse in diesem Konflikt neutral

bleiben. Ganz falsch wäre es auch HORVAT / SABA nicht, ginge er der Frage nach, warum

es ausgerechnet bei ihm in der neutra- FOTOS: F. len Zone, 200 Meter von den frischen Mordopfer bei Sasina: Zeugen wurden ausgeschaltet

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hören, sagt Marjan Tukara. Marjan ist in Sasina geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen. Er hat sich den Fundort der Leiche be- schreiben lassen, er weiß, daß dort ein Steinbruch liegt. Nun will er selbst sehen, was sich zugetragen hat. Drei- bis viertausend Moslems und Kroaten waren zum Zeitpunkt der bosnischen Gegenoffensive noch Geiseln der Serben. Mitte Sep- tember sind sie zusammengetrieben worden, zwei Kilometer vor Sasina. Die meisten Männer wurden fortge- schafft, irgendwohin, die Frauen durften bleiben. Noch jetzt, fünf Monate später, kommen Moslemin- nen mit Schwarzweißfotografien ih- rer Männer an, stehen weinend bei der Moschee ohne Minarett und hoffen auf Nachricht aus Sasina. Je einsamer es wird auf dem Weg Pathologe Andjelinovic´ (r.), Helfer: Einzigartiges Versuchsfeld für Mediziner dorthin, je dichter die Schilder auf- einander folgen mit den Warnungen Sahneschnitten entfernt, streng nach Staaten gestoppt, ausgerechnet hier, wo vor tödlichen Minen, desto schneller, Verwesung riecht. das Gelände beginnt, in dessen Stollen desto aufgeregter redet der alte Marjan. In Sanski Most versichern die Stadt- und Schächten Uno-Experten Dutzende An der Geröllhalde angekommen, die oberen, an die 300 Männer aus ihrem von Massengräbern vermuten, mehr- sich sanft ansteigend in den Steinbruch Kreis seien noch vermißt, und es gebe heitlich voll ermordeter Moslems. Al- hineinzieht, sagt er, die beiden Hügel gute Gründe, die Leichen in Sasina zu lein im Kreis Prijedor sollen es über 60 vorn, je etwa acht mal vier Meter im vermuten. Laut Genfer Konvention Stellen sein, die Tomasˇica-Minen, die Maß und zwei Meter hoch, seien frisch zum Schutz der Kriegsopfer sind die Stollen von Ljubija und Omarska einge- aufgeschüttet. Konfliktparteien verpflichtet, nach To- rechnet. Er geht auf den oben liegenden Toten ten zu suchen und ihre Leichen oder Nur wenn auch dieses Gebiet erobert zu, den mit abgetrenntem Schädel, und Überreste davor zu bewahren, verstüm- werde, hatte der bosnische General besieht ihn sich. Der Mann trug Jeans, melt zu werden. Mehmed Alagic´ gesagt, komme „die im Schlamm liegt die Arbeitsjacke, die Was aber gilt in Gebieten, wo Ifor- Wahrheit an den Tag“. Nichts kam an Stiefel hat er eingebüßt – den verrenk- Soldaten den von den Konfliktparteien den Tag. ten Gliedern nach zu schließen beim verbrannten Boden besetzt halten? Wer Die Minen, heißt es im Bericht der Versuch zu fliehen. Auf dem Oberarm, erbt die Pflichten der Zwangsbefriede- Expertenkommission an den Uno-Ge- zwischen gekreuzten Schwertern, steht ten? neralsekretär, „mit ihren tiefen Schäch- „JNA 67“ – eintätowiert für immer die Sasina ist eine Streusied- fast 30 Jahre alte Erinnerung an den lung von 350 Häusern, in de- Übersicht siehe Seite 125 Dienst in Jugoslawiens Volksarmee. Ein Prijedor nen keiner mehr lebt, eine ty- Ljubija paar Tage mag das Merkmal, Frost vor- pische bosnische Siedlung al- ausgesetzt, zur Identifizierung des To- so, vier Jahre nach Ausbruch Omarska ten noch taugen. des Kriegs. Wer nach Sasina Tomasˇica Weiter läuft der alte Marjan über die hastig zusammengeschobenen Hügel will, fährt stundenlang durch Sasina ehemals blühendes Land, oh- Sana aus Erde, Schotter und Lehm. Rechter ne auch nur einen einzigen le- Banja Hand, zum Brombeergestrüpp hin, wird Luka benden Zivilisten zu sehen. Sanski Most 10 km er fündig. Ein olivgrüner Gummistiefel Es ist Weltuntergang im bos- ragt aus der Erde. Er rüttelt und lok- nischen Format. Ausgebrann- kert, er zögert nicht, er zieht. te Häuser, plattgewalzte Autos, tote ten und Gruben von früheren Berg- In solchen Augenblicken entsteht Schweine. werksarbeiten boten eine einfache Mög- beim Beobachter eine leise, eine unver- Sasina war ein katholisches Dorf in lichkeit, Menschen in großen Mengen nünftige Sehnsucht: zu erleben, daß al- Bosnien, bis es 1992 in serbische Hände unter die Erde zu bringen und die Mas- les nur Irrtum war. Was wäre, wenn mit fiel. Im Oktober 1995 schlugen die senbestattungen sowohl vor Einheimi- einem Schlag alles sich zum Guten wen- Truppen der Kroaten und der bosni- schen als auch vor der Internationalen dete? Wenn man einfach am Gummi- schen Regierung zurück. Es war ein kur- Gemeinschaft zu verbergen. Die Serben stiefel zöge und zutage käme unter all zer, ein gnadenloser Feldzug, der die verpflichteten regelmäßig örtliche Bau- dem Schotter nichts als ein Gummistie- serbischen Eroberer in die Flucht trieb. ern und Lagerinsassen zur Vernichtung fel, achtlos weggeworfen, weil das Ma- Am Straßenrand verfault noch ungeern- der Leichen. Auch die wurden dann ge- terial porös geworden war, der Stiefel zu tet der Kohl am Strunk. An manchen tötet, so daß jeder potentielle Zeuge klein, die Sohle brüchig? Hauswänden steht jetzt „Im Namen Al- ausgeschaltet war“. Der alte Marjan zieht. Nichts wird lahs“, an anderen „Ich bin Kroate und Einem solchen Zeugen, der schluß- gut. Der Gummistiefel kommt nicht al- wieder da“. endlich selbst auf dem Grabhügel er- lein. Beim Bergbaudorf Sasina wurde der mordet worden ist, müsse der unbe- Marjan gibt keine Ruhe nach den er- Vormarsch auf Druck westlicher Nato- kannte Schädel auf der Geröllhalde ge- sten Leichen, er läuft weiter, schnüffelt,

128 DER SPIEGEL 7/1996 wo die Erdschicht sich einen Spalt auf- kommando angereist sein, weil klar war, niens. Das größte Massengrab im Kreis tut, findet weitere Stiefel, Kleiderfet- daß die Stadt Sanski Most und die Um- sei dabei nicht mitgerechnet, sagt der er- zen, eine Schulter unterm blauen Woll- gebung nicht mehr zu halten sein wür- mittelnde Richter. Das sei der Sana- pullover. Er tritt mit Wucht dagegen, den. Fluß. will spüren, was da ist, Bauerninstinkt. Von planmäßigem Mord erzählt Safet Als Massengrab nach Definition der Pietät ist der Luxus derer, die es sich lei- Kurbegovic´, der 3 Schüsse auf seinen Vereinten Nationen gelten dauerhafte sten können, nicht zu wissen, wie das Körper überlebt und mehr als 30 auf sei- Begräbnisstätten für mehr als eine Per- Leben riecht und wie der Tod. Wo Mar- ne Leidensgenossen gezählt hat. Von son. Dabei muß es sich nicht um die Op- jan zieht, riecht es nach Tod. Mord erzählt ein anderer, der sich im fer von Kriegsverbrechen handeln. In Im Steinbruch von Sasina muß für vie- Wald nah beim Steinbruch versteckt ein und derselben Grube verscharrte le Endstation gewesen sein. Die Schutt- hielt, um der Rekrutierung zur Zwangs- Bomben-, Granaten- oder Minentote berge sind hoch genug für sechs Dut- arbeit zu entgehen, und der alles mitbe- sind kein Fall für Ermittler am Tribunal zend Gummistiefel. von Den Haag. Der Richter Adil Draganovic´ in der Der Pathologe Sˇimun Andjelinovic´ ist Kreisstadt Sanski Most hat Zeugenaus- Jeder Propagandabetrieb ein Mann, der herrenlosen Schädeln sagen gesammelt, Namen von Opfern benötigt Zahlen und Knochen auf Schlachtfeldern Kör- und Schuldigen, Geretteten und Ver- per zuordnet und dem Tod eine Ursa- mißten. Mindestens 30 Männer und eine als Schmiermittel che. Andjelinovic´ ist eine forensische Frau, allesamt Zivilisten, sind demzufol- Größe aus Split, berühmt dafür, mit sei- ge am 21. oder 22. September nach Mit- kam: „Ich hörte Feuer aus Gewehren ner Kollegin Maria Gojanovic´, genannt ternacht mit Bussen und Autos in den und einigen automatischen Waffen. „Häuptling Flinkes Messer“, auch weit Steinbruch gebracht und bei den Brom- Und ich hörte Männer und Frauen verstreute nachgelassene Bestandteile beersträuchern erschossen worden. schreien: ,Warum bringt ihr uns alle eines Menschen wieder zu einem ver- Zuvor, so sagen die Überlebenden um?‘ und ,Laßt uns leben‘. Nach den nünftigen Gesamtbild fügen zu können. aus, seien sie verhaftet und von Arkans Schüssen hörte ich zwei oder drei Deto- Seine Kunst ist wichtig fürs Seelenheil Leuten im Hotel verprügelt worden – nationen, wie wenn Minen explodie- der Hinterbliebenen wie für die Bilanz von Söldnern des mutmaßlich grausam- ren.“ der Kriegführenden. Jeder Propaganda- sten Kriegsverbrechers der vergangenen Die toten Männer mit den Gummi- betrieb benötigt Zahlen als Schmiermit- fünf Jahre: Zˇ eljko Raznjatovic´, genannt stiefeln im Steinbruch von Sasina liegen tel, und Andjelinovic´ zählt zur schmalen Arkan, die Raubkatze. Seine Schergen, in einem von 10 Massengräbern im Zunft von Experten, die ermordete Zi- die Arkanovic´i, sollen in Bussen mit Vu- Kreis Sanski Most und von vermutlich vilisten von bewaffneten Gefechtstoten kovarer Kennzeichen als Liquidations- über 200 auf dem gesamten Gebiet Bos- unterscheiden können, Granatenopfer

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von Erstochenen, Kroaten von Moslems nächsten Tag, dem 26. Januar, verkün- und Frauen von Männern. Letzteres, Italien dete Fisichella seinen Rücktritt als Prä- sagt Andjelinovic´, sei in Bosnien unge- sidiumsmitglied der Nationalen Allianz. wöhnlich schwierig, „weil die Frauen so Fini, 44, bedrückt es offenbar wenig, kräftig sind“. sich so spektakulär mit dem Architekten Im Labor zeigt er, wie aus Blut oder Kräftiger seiner demokratischen Fassade zu ver- Knochenmarksubstanz die DNS be- krachen. Denn er erfreut sich einer Wo- stimmt wird und somit mögliche Ver- ge der Zustimmung, die er sich vor ei- wandtschaft. Er weist an menschlichen Knüppel nem Jahr noch nicht erträumt hätte. In Gewebeproben Schmauchspuren nach einer landesweiten Umfrage erreichte und damit Schußeinwirkung. Die Neofaschisten werden immer die AN mit 21,7 Prozent mehr Zustim- Die Klärung der Todesursache – stärker – dank ihres Führers Gian- mung als Forza Italia oder die PDS. wenn man unter Kriegsbedingungen Scheitert der designierte Ministerpräsi- überhaupt so will: die Schuldfrage – ist franco Fini. dent Antonio Maccanico an der Spitze ein schwieriges Geschäft. Je länger die der 55. Nachkriegsregierung Italiens, Leiche gelegen hat, desto mühsamer. rofessor Domenico Fisichella zit- könnten die Neofaschisten bei Neuwah- Selbst wenn jedes Knöchelchen aus dem terte erbärmlich. Er hatte 39 Grad len sogar zur stärksten politischen Kraft Erdreich geschabt wird, jeder Splitter, PFieber. Mit Hut und Mantel saß er werden. jede Faser – was von Opfern geblieben in der Parteizentrale der rechten Allean- Den Aufstieg hat vor allem der stets ist, die jahrelang nicht entdeckt worden za Nazionale (AN) und mußte sich vor elegant-gepflegte Fini bewirkt. 61 Pro- sind, riecht im Kabinett von Doktor versammelter Mannschaft abkanzeln zent der Befragten wählten ihn kürzlich Andjelinovic´ meist nur noch nach Erd- lassen. zum bevorzugten Politiker Italiens – reich, Wald und Wurzelwerk. Das schmerzte, denn der Politologe, weit vor Silvio Berlusconi (38 Prozent), Ist dann nicht wenigstens ein Kno- ein überzeugter Konservativer und dem von der Justiz bedrängten Führer chen gebrochen, kann auch die Kunst des konservativen Lagers, des Pathologen nichts mehr bewirken. neben dem sich Fini bislang „Wenn dir jemand die Arterie durch- mit der Rolle des Juniorpart- schneidet“, sagt der Arzt, „findet schon ners begnügen mußte. Aber nach sechs Monaten keiner einen An- nun läuft nichts mehr ohne haltspunkt mehr.“ ihn. Das für Mediziner in Nachkriegseuro- In den Verhandlungen pa einzigartige Versuchsfeld Bosnien, über die Reform der Verfas- vor allem mit den rund um Srebrenica sung und des Wahlrechts be- noch vermuteten bis zu 8000 Opfern, steht er auf der Einführung kommt immerhin Pathologen aus zivili- eines Präsidialsystems mit sierteren Gegenden, wie den Amerika- direkter Wahl des Staats- nern, so gelegen, daß sie darauf auch oberhaupts. Ein solches Sy- gratis arbeiten würden, sagt Andjelino- stem nach französischem vic´: „Die vergraben normalerweise drü- Muster wünschen sich zwar ben eigens Gliedmaßen im Feld, um auch andere Parteien für Ita- herauszufinden, wie die nach drei Jah- lien, doch mit kräftigen Kor- ren aussehen.“ Das ist nun nicht mehr rekturen, um die Stellung nötig. des Parlaments zu stärken. Einsam liegt weiter ein Schädel ohne Fini dagegen zieht öffentlich Unterkiefer im Steinbruch von Sasina. gegen die Übel des Par- Auch die Leichenberge darunter sind lamentarismus zu Felde. unangetastet. Die Ortsgewaltigen in In Massenversammlungen Sanski Most warten auf Erlaubnis vom sucht er die direkte Akkla- Kriegsverbrecher-Tribunal in Den mation durch das Volk. Haag, ehe sie mit dem Graben begin- Anfang Dezember besetz- nen. Seit mehr als vier Monaten ist das te Fini eine traditionelle Leben in Sasina erstorben, sind die Be- Hochburg der italienischen

wohner verschwunden, die Tiere veren- L. GIUSEPPE / SINTESI Arbeiterbewegung, indem det. Nur drei streunende, räudige Hun- Rechter Aufsteiger Fini er auf dem weiten Platz vor de haben den Winter zwischen den Mi- „Jetzt flattert unser Banner“ der römischen Basilika San nen überlebt. Giovanni 150 000 Menschen An ihnen vorbei läuft Marjan Tukara Monarchist, hatte Anfang 1994 die AN zu einer Kundgebung für Neuwahlen zur zerstörten katholischen Kirche und mitbegründet. Ein Jahr später war er in versammelte. „Wo früher die roten Fah- dann hinunter zur Schule, in der er vor führender Position dabei, als Gianfranco nen wehten, flattert jetzt unser Banner, 60 Jahren das Lesen gelernt hat. Er fin- Finis neofaschistische Bewegung MSI in weil wir der Linken die Führung über det zerschlagene Tito-Bilder im Innern, der neuen Rechtspartei aufging. Fisichel- die Arbeiterklasse abgenommen ha- das Manifest der Kommunisten von las Mitarbeit galt vielen Italienern als Ga- ben“, verkündete Fini im roten Jackett. Bosnien-Herzegowina und Alben mit rantie für eine demokratische Läuterung Sogar im linken Bologna erobert die Fotos aus besserer Zeit – Mädchen in der Neofaschisten. Rechtspartei wichtiges Terrain: 30 Pro- Unschuldskleidern, Familienglück vor Nun brauchen die ihn wohl nicht mehr. zent der Jugendlichen wollen nächstes blühenden Gärten. Gnadenlos zerfetzte Fini den Entwurf Mal für die AN stimmen, nur 21 Prozent Draußen schmilzt der Schnee im Se- einer Verfassungsreform, den Fisichella sind für die PDS. kundentakt von Bäumen und Dächern mit Vertretern der kommunistischen Das muß Fini besonders freuen, er und Leichen. Auch im Schulhof liegen Nachfolgepartei PDS und Berlusconis stammt aus Bologna. Aus „Protest ge- zwei Tote. Forza Italia ausgehandelt hatte. Am gen die dort vorherrschende Linkskul-

130 DER SPIEGEL 7/1996 tur“ trat er mit 19 Jahren dem MSI bei, Sturmtruppen zu verprellen. Während In Italien ist derzeit, so schrieb der der 1946 von Funktionären Mussolinis Fini Ehrbarkeit und Legitimation für Journalist Giorgio Bocca, eine „subtile gegründet worden war und das Erbe des sich selbst erstrebte, blühte wie eh und Faszination für den Neofaschismus“ zu Diktators zu bewahren suchte. Als jun- je auf lokaler Ebene die überlieferte po- spüren. Das drückt sich auch in einem ger Mann kam Fini nach Rom. Er heira- litische Kultur des MSI weiter: neofa- aggressiven historischen Revisionismus tete eine MSI-Aktivistin aus der Vor- schistisch, autoritär, fremdenfeindlich aus, der weit über die AN hinausreicht. stadt, wo die Bewegung bis heute ihre und rassistisch. So lobte kürzlich die Berlusconi-Tages- stärksten Bataillone hat. Homosexuelle gelten in diesen Krei- zeitung il Giornale Hitlers Deutschland Im Kleine-Leute-Gürtel um die sen als „arme Kranke“, Frauen als Bür- für seinen „heldenhaften Versuch, Eu- Hauptstadt wohnten die neofaschisti- ger zweiter Klasse. In Rathaus-Debat- ropa vor dem kommunistischen Impe- schen Schlägertrupps, die sich in den ten, zuweilen auch im Parlament, setzen rialismus zu retten“. sechziger Jahren wilde Schlachten mit Der italienische Widerstand gegen den Linken lieferten. Fini hat nie mitge- den Faschismus und die Nazi-Besatzer prügelt. Aber viele seiner Freunde ge- Der Neofaschismus wird als „Bluff“ geschmäht. An einer hörten zu den aggressivsten Rabauken strahlt eine Aufwertung Mussolinis beteiligte sich der damaligen Bewegung. Giorgio Al- kürzlich sogar die ehemals kommunisti- mirante, 17 Jahre lang charismatischer subtile Faszination aus sche Parteizeitung l’Unita`. Sie veröf- Führer des MSI, erkor den 38 Jahre jün- fentlichte einen Bericht, aus dem her- geren Fini zum Kronprinzen, weil er ihn AN-Mitglieder für ihre Ansichten gern vorgeht, daß der Diktator nicht, wie bis- als neofaschistischen Hardliner schätzte. die Fäuste ein. her geglaubt, als zitternder Feigling ge- Aber diese Haltung hat Fini in der Öf- Kein Wunder, daß eine Mehrzahl von storben sei. „Zielt auf mein Herz!“ habe fentlichkeit nie herausgekehrt. Geklei- Italienern glaubt, die AN sei in Wahr- er den kommunistischen Partisanen zu- det wie ein solider Jungmanager, gab er heit der alte MSI mit neuem Etikett. gerufen, die ihn exekutierten. Enkelin sich im kakophonen Durcheinander der Nur schmälert das ihre Anziehungskraft Alessandra Mussolini war entzückt. italienischen Politik als Stimme der Ver- nicht mehr. Seit 1994, als der MSI Gewiß plant Fini in Italien keine Neu- nunft aus. knapp über 200 000 Parteiangehörige in auflage des Faschismus. Aber je mehr Einem bürgerlichen, konservativ ge- die AN einbrachte, stieg die Mitglieder- die politische Konfusion zunimmt, desto prägten Publikum präsentierte er sich zahl der Rechtsbewegung auf 450 000. größer wird „die Versuchung, nach dem als Mann einer modernen Rechten, der Während der MSI früher vornehmlich starken Mann“ zu rufen, schrieb die Frankreichs Chirac sein Vorbild nennt. im Süden stark vertreten war, überzieht Tageszeitung la Repubblica. Und nur Zugleich hütete er sich stets, die alten jetzt ein Netz von 8741 Parteiniederlas- Gianfranco Fini halte den dazu nötigen MSI-Kameraden und ihre jugendlichen sungen das ganze Land. „kräftigen Knüppel“. Y AUSLAND

Europa „Verdammte alte Hunnen“ Die geplante Währungsunion stachelt Briten und Deutsche zu einem Krieg der Worte an

er Deutsche an sich ist hochef- litikern und deren journalistischen Der Autor Roger Scruton urteilte, fizient, rücksichtslos und be- Sprachrohren einen empfindlichen Kohl habe für seine Ansprache etli- D legt deshalb mit seinem Hand- Nerv getroffen und alte Klischees che Seiten aus Hegels Philosophie tuch bereits im Morgengrauen die vom machtbesessenen, häßlichen und Wagners Opern gestohlen – eine besten Liegestühle an balearischen Deutschen wiedererweckt. Mixtur, die für Briten den Höhe- Stränden – meistens zum Standort- Mit seinen Unkenrufen hat der punkt der Ungenießbarkeit darstellt. Nachteil des britischen Pauschalur- kompakte Übereuropäer Kohl die „Wie die Nazis und die Kommuni- laubers. europaskeptischen Tories geradezu sten“ versuche der Kanzler der Welt Ungeschlacht und fies wird der in Rage versetzt. John Redwood, weiszumachen, daß die einzige Al- Teutone, etwa in einem beliebten vergangenes Jahr als Herausforderer ternative zu seinem Ehrgeiz Krieg TV-Werbespot des Bierbrauers Car- von Premier John Major nur knapp sei: „Wer nicht mit mir ist, ist gegen ling, im Vereinten Königreich darge- gescheitert, sprach dem Kanzler jeg- mich“, interpretierte Scruton Kohls stellt: ein Zerrbild, das liebevoll ge- lichen Realitätssinn ab: Kohl lebe Europapläne. pflegt wird, im Pub an der Der ultrakonservative Ecke ebenso wie im Lon- Publizist Boris Johnson hat doner Regierungs- und nach Kohls Epistel endgül- Parlamentsviertel White- tig durchschaut, weshalb hall. die „verdammten alten Auf den endlosen Flu- Hunnen“ so heftig auf ein ren und in den holzgetäfel- vereintes Europa drän- ten Büros der britischen gen. Für die Deutschen, Machtzentrale, von wo aus „gleichzeitig von Schuld vor gar nicht allzulanger und Arroganz getrieben“, Zeit noch ein Weltreich bedeute Europa nur „ein verwaltet wurde, zählt Feigenblatt für zurückkeh- „German bashing“ (Deut- rende Stärke und wieder- sche verdreschen) zur ge- aufbrechenden Ehrgeiz“. hobenen Folklore. Deshalb: „Europa angrei- Gelegentlich mit bösen fen heißt Deutschland an- Folgen: So mußte Marga- greifen.“ ret Thatchers Lieblingsmi- Selbst ein liberaler Geist nister Nicholas Ridley wie Independent-Kom- 1990 zurücktreten, weil er mentator Andrew Marr erklärt hatte, die geplante kam bei der Analyse der europäische Währungsuni- Löwener Rede nicht ohne on sei „ein deutsches Kom- martialische Metapher plott mit dem Ziel, ganz aus. Kohl habe mit seinem Europa zu übernehmen“. Gefahren-Szenario gewiß Da nutzte es dem Konser- übertrieben, aber dennoch vativen auch nichts mehr, The Guardian die „allgemeine Wahrheit“ daß seine Chefin ähnlich Britische Kohl-Karikatur: „Rasselnder Panzer“ ausgesprochen. Deshalb dachte. müßten auch die Briten Der beispiellose Amoklauf eines „mehr in einem Deutschland der „auf den rasselnden Panzer“ aus britischen Regierungsmitglieds ge- dreißiger Jahre als in einem der Zu- Oggersheim hören. gen Deutschland und Europa löste kunft“. Die tatsächliche Botschaft hinter damals prompt eine Vertrauenskrise Die Kanzlerrede beim Empfang den Kanzlerworten konnte der Dai- zwischen London und Bonn aus. der Ehrendoktorwürde im belgi- ly Telegraph seinen Lesern erklä- Nun ist es erneut soweit: Zum exakt schen Löwen, empörte sich der ren. Kohls Sorge vor einem unkon- gleichen Thema sind Deutsche und stramm rechte Daily Express, zeuge trollierbaren deutschen Koloß, der Briten wiederum in einen „Krieg der „von der dickfelligen Taktlosigkeit sich nur durch die europäische In- Worte“ (The Guardian) verstrickt. eines Rhinozerosses“. Seine Beleh- tegration zähmen lasse, müßten die Kanzler Kohls düstere Prophezei- rungen über Europas Heil, ausge- Briten so verstehen: „Bitte, bitte, ung, das Gelingen der europäischen rechnet an Länder gerichtet, „durch bitte, ihr spielt mit dem Feuer. Ihr Integration werde über „Krieg und die deutsche Stiefel schon zweimal in müßt uns helfen, uns vor uns selbst Frieden“ im kommenden Jahrtau- diesem Jahrhundert marschierten“, zu schützen – am besten, indem ihr send entscheiden, hat in Großbritan- seien „noch schlimmer als unange- genau das tut, was wir wol- nien gerade unter konservativen Po- messen“ (The Times). len.“

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Haiti Tritt vor dem Abgang Demokratischer Machtwechsel im Terrorland – doch Ex-Präsident Ari- stide kokettiert mit einem Come- back.

er Verzicht auf Krach war durch die Abrüstung erzwungen. Statt Dder 21 Salutschüsse, die beim Wechsel im Präsidentenamt laut Proto- koll abzufeuern sind, stiegen vergange- nen Mittwoch 21 weiße Tauben in den

Himmel. Die Musik dazu lieferte eine DPA Blaskapelle – die einzige Einheit des Scheidender Präsident Aristide, Nachfolger Pre´val*: „Mein Zwilling“ Heeres, die vom scheidenden Präsiden- ten Jean-Bertrand Aristide („Titid“) nach dreijährigem Exil im Präsidenten- fertigung dafür zu liefern, daß die Boots- nicht aufgelöst wurde. palais installierte, hat diesen histori- flüchtlinge auf ihre übervölkerte Elends- Reibungslose Machtwechsel haben schen Markstein gesetzt. insel zurückgesandt werden konnten. Seltenheitswert in der Hauptstadt Port- Rene´ Garcı´a Pre´val freilich, der neue Danach, so ging die Rechnung weiter, au-Prince. Das Ende vieler Herrscher Präsident von Aristides Gnaden, drück- würde Amerika erstmals auch die kuba- Haitis klingt so phantasievoll wie ihre te in seiner Antrittsrede den Tatbestand nischen Flüchtlinge nicht mehr aufneh- Namen. Präsident Cincinnatus Leconte schonender aus: „Das Volk Haitis hat men müssen, sondern an Fidel Castro zu- flog 1912 mit dem Regierungspalais, da- sein eigenes Schicksal in die Hand ge- rückschicken können. Beide Ziele hat mals noch aus Holz, in die Luft. Die nommen.“ 88 Prozent der Wähler gaben Clinton durch seine Intervention er- Amtszeit seines Nachfolgers Tancre`de dem studierten Agrarexperten mit dem reicht; nur prahlen darf er damit nicht. Auguste wurde 1913 durch eine vergifte- stahlgrauen Bärtchen im Dezember ihre „Meinen Zwilling“ nennt Aristide, der te Mahlzeit beendet. Der Trauerzug Stimme – 20 Prozent mehr, als Aristide nach der Verfassung nicht noch einmal mündete im Chaos, weil die Generäle 1990 bekommen hatte. Nur ist dieser kandidieren durfte, seinen Nachfolger hinterm Sarg mit gezogenen Pistolen um Urnengang so fragwürdig wie der dama- Pre´val. Richtig daran ist, daß Pre´valohne die Macht stritten. lige: Über zwei Drittel der Haitianer Titids Fürsprache nie gewählt worden Von bisher 44 Staatsoberhäuptern gingen gar nicht zur Wahl. wäre. Aber offenkundig will Aristide den Haitis, einschließlich Kaiser Henri Chri- „Einen Sieg unserer Außenpolitik“ Nachfolger kleinhalten: Vor der Wahl stophe, der sich 1820 standesgemäß eine nennt ein Sprecher der US-Botschaft kokettierte er öffentlich mit der Idee, silberne Kugel in den Kopf schoß, stürz- den Amtswechsel. Darum wirkte es ver- doch noch drei Jahre im Amt zu bleiben; ten 14 Präsidenten gewaltsam, weitere blüffend, wie wenig Gewicht Washing- jetzt kündigen Transparente in Port-au- 13 konnten ihr Leben nur durch Flucht ton der „historischen Stunde“ beimaß. Prince Titids Kandidatur für das Jahr retten, und 12 sind im Amt gestorben, Früher kamen Bill Clinton, sein Vize Al 2000 an. davon gut die Hälfte durch Fremdein- Gore und Außenminister Warren Chri- Seine oft an Aufwiegelung grenzende wirkung. Manchmal ging die Gewalt so- stopher nach Haiti, um die GIs zu be- Demagogie, die der einstige Armenprie- gar vom Volke aus. Über das Ende von glückwünschen; nun schickte der Präsi- ster Aristide bisher zügeln mußte, kann Präsident Velbrun Guillaume Sam im dent gerade noch seine Uno-Botschafte- er fortan ungebremst ausleben. Bis zu- Jahr 1915 heißt es in einem Verzeichnis rin Madeleine Albright. letzt haben die Amerikaner ihn gehin- lakonisch: „Vom Mob erst gepfählt, „Von jetzt an waschen sich die Ameri- dert, Haitis neue Polizeistreitmacht, wel- dann zerstückelt.“ kaner die Hände“, deutet ein Diplomat che die abgeschaffte Armee ersetzt, mit In den 192 Jahren seit der Unabhän- die Lage. „Solange die US-Truppen hier seinen Parteigängern zu durchsetzen – gigkeit der ehemaligen französischen waren, stand Haiti und auch Aristide doch zum Polizeichef hat Titid kürzlich Sklaveninsel hatte noch nie ein gewähl- unter Kuratel. Nun hat Amerika sich den früheren Armeeoberst Ce´lestin er- ter und noch lebender Präsident sein aus dieser unpopulären Verstrickung ge- nannt, der von US-Menschenrechtlern Amt einem gewählten und noch leben- löst, für Frieden ist jetzt die Uno zustän- als Folterer verdächtigt wird. den Nachfolger übergeben. Diese be- dig.“ Pre´val hat die Vereinten Nationen Die Aufsicht der Amerikaner hat Ari- merkenswerte politische Kontinuität ist gegen Aristides Wunsch gebeten, 2000 stide ebenso verbittert wie die Dankbar- in Haiti erst jetzt durchbrochen worden Kanadier und Pakistaner noch ein hal- keitspflicht gegenüber Clinton. Darum – dank der massiven Einwirkung der bes Jahr in Haiti zu belassen. wollte er, bevor er sein Amt an Pre´val Vereinigten Staaten. Amerikas militärisches Eingreifen übergab, Washington noch einen Tritt Die Invasion der USA 1994, die mit hatte ein eigennütziges Ziel: durch Ari- versetzen: Haiti nahm nach über drei 18 000 Soldaten wie eine Streitmacht stides Rückkehr nach Haiti die Recht- Jahrzehnten die diplomatischen Bezie- von einem anderen Stern das Putschre- hungen zum Nachbarn Kuba wieder auf – gime des Generals Raoul Ce´dras hin- * Bei der Amtsübergabe vorigen Mittwoch in Port- nicht um Castro zu ehren, sondern um wegfegte und Jean-Bertrand Aristide au-Prince. Clinton zu ärgern. Y

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AUSLAND PANORAMA

Großbritannien Die IRA meldet sich zurück

Die Bombenwarnung kam auf dem gleichen Weg wie die Verkündung des Waffen- stillstands. Der Mann nannte sich „P. O’Neill“ und erklärte mit einem Anruf bei der Dubliner TV-Station RTE den Gewaltverzicht der nordirischen Untergrundorgani- sation IRA – Beginn einer neuen Ära für die Bürgerkriegsprovinz. 17 ruhige Mona- te später, vergangenen Freitag, meldete sich dieselbe Stimme am Telefon: „Mit gro- ßem Bedauern“ müßte nun das Ende der Waffenruhe verkündet werden. Eine

SIPA Stunde später explodierte im Ostlondoner Geschäftsviertel Canary Wharf eine Werbebroschüre mit Amir-Fotos Bombe: Über hundert Ver- letzte, zerborstene Schei- Israel ben und beschädigte Haus- fassaden erinnerten die Bri- Rabin-Mörder als ten daran, wie brüchig der Frieden in Ulster war. Musterstudent Die IRA schob die Schuld am blutigen Ende des Waf- Mit Bildern des Rabin-Attentäters Ji- fenstillstands Premier John gal Amir bemüht sich dessen ehemali- Major zu. Auch Sinn Fein, ge Hochschule um Geldspenden. Zu der legale politische Arm Werbezwecken ließ die religiöse Bar- der IRA, deren Chef Gerry Ilan-Universität in New York eine Adams kurz vor der Explo- Broschüre verteilen, die den Mörder sion mysteriös im Washing- gleich zwölfmal zeigt. Amir, der schon toner Weißen Haus anrief, vor dem Anschlag als Extremist aufge- warf dem Regierungschef fallen war, wird in der Pose des eifri- vor, mit unannehmbaren gen Musterschülers abgebildet. Hoch- Forderungen eine friedliche schulpräsident Schlomo Eckstein be- Lösung des Bürgerkriegs dauerte die Illustration als „techni- zwischen Katholiken und

schen Fehler“; der Druck sei schon Protestanten verhindert zu AP lange vor dem Rabin-Anschlag im No- haben. Major hatte darauf Sinn-Fein-Chef Adams vember 1995 vorbereitet worden. Un- bestanden, daß dieIRA erst verständlich bleibt jedoch, daß die Fo- ihre Waffen aushändigen müsse, bevor Sinn Fein am Runden Tisch mit den anderen tos des Attentäters, der über Wochen Bürgerkriegsparteien teilnehmen dürfe. in Israels Medien zu sehen war, nie- Britische wie irische Sicherheitsexperten rechneten nach dem Attentat an der mandem auffielen. Gelegenheit zum Themse dennoch nicht mit einem völligen Abbruch der Friedensbemühungen, in Auswechseln gab es genug: Nach dem die sich zuletzt verstärkt auch US-Präsident Bill Clinton eingeschaltet hatte. Die Tod Rabins wurde die Broschüre über- Bombe könne von der IRA als „letzter Warnschuß“gelegt worden sein, um die briti- arbeitet – für einen Nachruf auf den er- sche Regierung von der ungebrochenen Schlagkraft zu überzeugen. schossenen Premier. Viele Abgeord- Auch die Wahl des Tatorts –nicht etwa eines der protestantischen Ghettos Belfasts, nete wollen deshalb nicht an ein Verse- sondern ein britisches Wirtschaftszentrum – werteten Londoner Politiker als Indiz, hen glauben. „Stellt etwa Jigal Amir daß die IRA ein Aufflackern des BürgerkriegsinUlster vermeiden möchte. Der An- den repräsentativsten Bar-Ilan-Stu- schlag scheint die Behörden nicht völlig unvorbereitet getroffen zu haben. Erst An- denten dar?“ fragte die liberale Wis- fang voriger Woche hatte Nordirlands Polizeichef Sir Hugh Annesley voreiner mög- senschaftsministerin Schulamit Aloni. lichen IRA-Aktion gewarnt – vermutlich „irgendwo auf dem Festland“.

Kanada einst Brigitte Bardot mobil machte, wieder zugelassen. Seit die Herden Jagdszenen aus im Nordatlantik auf 4,8 Millionen Tiere anwuchsen, subventioniert Neufundland Ottawa die Jagd (Fangquote dieses Jahr: 250 000) und erschließt neue Mit blutrünstigen Aufnahmen vom Ab- Märkte mit Produkten wie „Rob- schlachten neufundländischer Sattel- bensalami“. Einzige Auflage für robben prangern Tierschützer die tradi- die rund 4000 Jäger: Die Tiere dür- tionelle Jagd an Kanadas Ostküste an. fen nicht totgeknüppelt, sie müssen Ein Video des Internationalen Fonds erschossen werden. Blamabel für für Tierwohlfahrt, das vergangene Wo- Neufundlands neuen Premier Bri-

cheinGroßbritannien ausgestrahlt wur- INTERNATIONAL FUND FOR ANIMAL WELFARE an Tobin, der das Video zunächst de, zeigte Fänger, die verendende Tiere Videobild vom Robbenschlachten als Phantasieprodukt aus „Disney- mit Füßen treten und sich Robbenblut land“ abtat: Die barbarischsten insGesicht schmieren. Royce Frith, Ka- „schreckliche Irreführung“ und eine Szenen waren nicht gestellt, sondern nadas Botschafter in London, nannte „verwerfliche Kampagne“. In Wahr- wurden von kanadischen Robbenjä- die grausamen TV-Bilder prompt eine heit ist die Robbenjagd, gegen die gern gedreht.

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AUSLAND

Argentinien Engel der Armen Die Volksheldin Evita Pero´n ersteht wieder auf – gespielt von Madonna. Argentinien läuft Sturm gegen die vermeintliche Blasphemie.

ie Dame, die am Samstag abend das Restaurant „Patagonia“ in DBuenos Aires betrat, trug ein

schwarzes Kleid im Stil der frühen fünf- AP ziger Jahre, die blonden Haare hatte sie Evita-Pero´n-Darstellerin Madonna: Den Mythos vom Sockel stoßen? am Hinterkopf zu einem Knoten zusam- mengesteckt. Durch braungefärbte Der Film sei „ein Angriff auf unsere Mercedes will den Popstar vorsorglich in Kontaktlinsen blickte sie den Kellner an Geschichte, eine Beleidigung unserer seinen Segen einschließen: Christus und bestellte gegrillten Lachs und Limo- Würde, eine wüste Lüge“, wetterte die werde „alle gefallenen Frauen“ auf den nencreme. „Wie der Geist von Evita“, peronistische Abgeordnete Marta Riva- Pfad der Tugend zurückführen. raunten die Gäste einander zu. dero, bevor die Dreharbeiten überhaupt Der Streit um den Film entzündet sich Auch ältere Argentinier, die das Ar- begonnen hatten. Madonna werde Evita vor allem am Drehbuch, das auf dem men-Idol Evita Pero´n noch erlebt ha- als Prostituierte verleumden, befürchtet Musical von Andrew Lloyd Webber und ben, sind beeindruckt, wenn Madonna, Horacio Corzo von der „Stiftung Eva Tim Rice beruht. In Argentinien ist die 37, im Evita-Kostüm durch das Nachtle- Pero´n“. Der Bischof der Provinzstadt Pop-Oper verfemt. ben von Buenos Aires Schon US-Regisseur Oliver Stone zieht. Seit drei Wochen wollte „Evita“ vor zwei Jahren in Ar- hat sich der US-Popstar gentinien verfilmen. Beim gemeinsamen in einem Luxushotel Essen sicherte der peronistische Präsi- einquartiert, um sich dent Carlos Menem ihm Unterstützung auf die Dreharbeiten zu – bis er das Buch las: Das Musical für die Verfilmung der zeigt Evita als machtbesessene Frau, die Pop-Oper „Evita“ vor- sich ihren Weg nach oben erschläft. „Ihr zubereiten, die Ende einzig Gutes hat sie zwischen den Schen- vergangener Woche be- keln“, singt der Chor. gannen. Jeden ihrer Unbekümmert um historische Fak- seltenen Ausflüge in ten, läßt der Autor in der Abschlußsze- die Stadt inszeniert sie ne Che´ Guevara mit Evita Tango tan- als Happening. zen. In Wahrheit hatte der Revolutionär Im Evita-Dreß ließ die Präsidentengattin nie getroffen. sie sich zur National- „Blasphemie“, heulten die Peronisten bibliothek chauffieren, auf, in Buenos Aires kam es zu Protest- um Bücher über den stürmen. Menem zog seine Zusage zu- Peronismus zu studie- rück, der verstimmte Stone gab das Pro- ren; als Evita besichtig- jekt auf. Jetzt leitet der britische Regis- te sie Schauplätze, an seur Alan Parker („Angel Heart“) die denen der „Engel der 60-Millionen-Dollar-Produktion. Holly- Armen“ einst die Mas- woods neuer Latino-Star Antonio Ban- sen aufgestachelt hatte. deras spielt Che´, der britische Darsteller Solche Auftritte sollen Jonathan Pryce verkörpert den Präsi- die skeptischen Argen- denten Juan Pero´n. „Parker erntet den tinier überzeugen, daß Sturm, den Stone gesät hat“, klagte Ma- die kunstblonde Ame- donna der Zeitschrift Gente. rikanerin das Massen- „Madonna raus! Es lebe Evita!“ ha- Idol, das 1952 im Alter ben wütende Peronisten auf Mauern von 33 Jahren an Krebs und Hauswände in Buenos Aires ge- starb, würdig verkör- schmiert. „Macht keinen Quatsch mit pert. Denn vor allem Evita“, warnen Transparente im Stadt- Peronisten befürchten, zentrum. Ein Abgeordneter schlug vor, daß Madonna nur eines Parker und sein Team auszuweisen.

im Sinn habe: den My- KERSENBAUM Menem, der mit seiner neoliberalen thos Evita vom Sockel Präsidentenpaar Juan, Evita Pero´n (1950) Wirtschaftspolitik den Peronismus zu zu stoßen. „Unsterblich werden“ Grabe getragen hat, sah eine Chance,

DER SPIEGEL 7/1996 135 AUSLAND sich bei den verbitterten Alt-Peronisten wieder einzuschmeicheln. Das Musical sei eine verleumderische Interpretation von Evitas Leben: „Die Massen, die an die Märtyrerin Evita glauben, werden das nicht hinnehmen.“ Er verbietet Par- ker bislang, im Regierungspalast zu dre- hen. Vom Balkon der „Casa Rosada“, wo Pero´n und Evita zu ihren Anhängern sprachen, soll Madonna laut Drehplan „Don’t cry for me, Argentina“ in die Menge schmalzen. Gleich nach seiner Ankunft in Buenos Aires versuchte der Regisseur, die Ge- müter zu besänftigen: „Wir wollen uns an die geschichtliche Wahrheit halten.“ Doch was ist historisch korrekt? Evita ist längst Legende, Lüge und Wahrheit „Das schafft 5000 Jobs mitten im Sommerloch“ sind kaum zu trennen. „In diesem Jahr- hundert hat Lateinamerika zwei Mythen hervorgebracht: Che´ Guevara und Evita Pero´n“, sagt der Peronist Horacio Corzo. „Evita und Che´ zählen zum Kulturerbe der Menschheit.“ Die Peronisten vergöttern Evita als Heilige, als Engel der „descamisados“, der Hemdlosen. Eva Pero´n, geborene Duarte, war ein armes, uneheliches Kind aus der Provinz – drei Merkmale, die im Argentinien der dreißiger Jahre ihre Zu- kunft besiegelt hätten. „Ihr einziges Ka- pital war ihr Körper“, sagt der Schriftstel- ler Jose´ Pablo Feinmann. „Das hat sie ausgenutzt.“ Sex, so befinden auch seriöse Histori- ker, war für Evita Mittel zum Zweck: „Mir ist es egal, mit wie vielen Frauen du schläfst“, soll sie zu Pero´n kurz vor ihrem Tod gesagt haben. „Aber sorge dafür, daß ich unsterblich werde.“ Das ist sie bis heute. Ihren Leichnam schaffte das Militär beim Putsch gegen Pero´ n 1955 außer Landes, weil es Unru- hen befürchtete. Die Regierung ließ die Peronisten gnadenlos verfolgen. Der My- thos Evita wuchs ins Unermeßliche. Weniger nationalistische Argentinier können Parkers Film auch positive Seiten abgewinnen: Von den 60 Millionen Dol- lar Produktionskosten würden „minde- stens zehn Prozent“ in Argentinien inve- stiert, rechnete der Buenos Aires Herald vor: „Das schafft 5000 Zeitarbeitsjobs mitten im Sommerloch.“ Am Ende, lästert das antiperonistische Blatt, könnte sich 44 Jahre nach Evitas Tod ihr berühmtester Ausspruch be- wahrheiten: „Eines Tages werde ich zu- rückkehren“,hatte dievonder Krankheit Gezeichnete ihren Anhängern vom Bal- kon der Casa Rosada zugerufen. „Und dann bin ichMillionen“ – sie dachte aller- dings an Menschen, nicht an Dollar. Y

136 DER SPIEGEL 7/1996 Werbeseite

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die Botschaften Frankreichs, der USA Uno und Belgiens. Burundi Doch niemand handelte. „Warum hat uns Belgien nicht die Munition geliefert, die wir angefordert hatten?“ klagt Bevorzugtes Oberst Marchal heute. Er sieht dem Ge- Flucht auf richtsverfahren zuversichtlich entgegen: „Das wird es leichter machen zu verste- Ziel hen, wer wirklich die Entscheidungen die Hügel vor Ort trifft.“ In Kanada erklärte Ge- Wer trägt die Verantwortung für den neral Dallaire, man könne den belgi- Der Konflikt zwischen Hutu und Tod von zehn belgischen Blauhel- schen Offizier nicht zum Sündenbock Tutsi steigert sich zum blutigsten machen: „Uns fehlte die notwendige men in Ruanda? Ausrüstung, um das Mandat zu erfül- Bürgerkrieg in Afrika. len.“ ie zehn Uno-Soldaten, die zum Die Uno lehnt jede Verantwortung eil er ein feingeschnittenes Ge- Schutz der ruandischen Regie- ab. Blauhelme könnten sich immer bei sicht mit einer geraden Nase hat, Drungschefin Agathe Uwilingiyima- der Regierung ihres Landes rückversi- Wsieht der hochgewachsene Deo na abkommandiert waren, wehrten sich chern, wenn sie eine besondere Aufgabe Nkinahamira wie ein Tutsi aus. Das ist nicht, als die Angreifer kamen. Ihrem übernähmen, meint der Untergeneralse- in Burundi viel wert. So eine Erschei- Einsatzbefehl zufolge sollten sie die kretär für politische Angelegenheiten, nung hilft, bei der Bank einen Kredit zu Schußwaffe nicht gebrauchen; zudem Lansana Kouyate. bekommen, und sie kann sogar das Le- schienen sie zu glauben, daß sie sich mit Der damalige Brüsseler Verteidi- ben retten: Gefängnisaufseher ließen den ruandischen Soldaten friedlich eini- gungsminister Leo Delcroix behauptet, ihn frei, als die Armee 1972 die intellek- gen könnten. Doch die quälten und tö- von den Warnungen nichts gewußt zu tuelle Oberschicht der Hutu massakrier- teten die Beschützer aus Belgien te. Die Wärter hielten den jungen Mann ebenso wie die Premierministerin. für einen Tutsi. Die Bluttat, geschehen am 7. Deo hat tatsächlich eine Tutsi-Mutter April 1994, bildete den Auftakt und ist auch mit einer Tutsi-Frau verhei- zum Völkermord in Ruanda. Die ratet. Aber weil sein Vater ein Hutu internationale Friedenstruppe – war, rechnet er sich diesem Volk zu: 2500 Blauhelme unter dem kana- „Ich kann mich doch nicht verleugnen.“ dischen General Rome´o Dallaire – Deo Nkinahamira sitzt im Parlament tat nichts, um das Gemetzel zu von Burundi als Abgeordneter der Hu- verhindern. Nach der Ermordung tu-Partei Frodebu, der stärksten Frakti- der Belgier zog die Uno ihre Sol- on. Die Hutu stellen auch den Staats- daten bis auf 270 Mann ab. präsidenten, Sylvestre Ntibantunganya. Die Angehörigen der Ermorde- Zu ihrem Volk gehören über 80 Prozent ten wollen nun von einem Gericht der sechs Millionen Einwohner des klei- in Brüssel klären lassen, wer für nen zentralafrikanischen Landes. den Tod der Soldaten verantwort- Doch die Macht in Burundi übt im- lich ist. Zu den Uno-Truppen ge- mer noch das traditionelle Herrenvolk hörte damals eine 430 Mann star- der Tutsi aus. Die Tutsi-Minderheit von ke belgische Einheit unter Oberst rund 15 Prozent hält die Schlüsselposten Luc Marchal; er wird jetzt der in der Regierung besetzt, sie kontrolliert fahrlässigen Tötung durch Unter- die Armee und die Sicherheitskräfte. lassung beschuldigt. Fest steht, Von der Machtelite gedeckte Todes- daß die Befehlslage unklar war – kommandos bringen praktisch täglich

wie so oft bei Uno-Einsätzen. Der REPORTERS Hutu-Angehörige um. Guerrilla-Grup- tragische Fall könnte sich überall Belgischer Oberst Marchal pen, die sich aus der Hutu-Mehrheit re- wiederholen, wo Blauhelm-Solda- Unklare Befehlslage krutieren, antworten mit Gegenterror. ten ihr Leben aufs Spiel setzen. Seit Tutsi-Offiziere im Oktober 1993 Bei dem bevorstehenden Prozeß geht haben. Dem steht die Aussage des da- den ersten frei gewählten Präsidenten es vor allem um zwei Fragen: maligen Stabschefs der belgischen Ar- Melchior Ndadaye – einen Hutu – um- i Hätten die belgischen Uno-Soldaten mee, Jose´ Charlier, entgegen: Er beteu- brachten, haben Militär, Milizen und angesichts der drohenden Gefahr zu- ert, den Minister über die Vorgänge in bewaffnete Banden über 100 000 Men- rückgezogen, verstärkt oder wenig- Ruanda unterrichtet zu haben. Delcroix schen abgeschlachtet. Nun steigert sich stens mit größeren Vollmachten ver- gibt den schwarzen Peter zurück an die der Konflikt nach Erkenntnissen der sehen werden müssen? Uno: „Blauhelm-Soldaten unterstanden Hilfsorganisation „Ärzte ohne Gren- i Wer hätte diese Entscheidungen tref- nicht meiner Verantwortung.“ zen“ zum blutigsten Bürgerkrieg in Afri- fen müssen – ihr Vorgesetzter Mar- Belgiens Abgeordnetenkammer prüft ka. chal, die Uno oder das belgische Ver- nun, ob die Immunität des damaligen Nirgendwo sonst wird so effizient ge- teidigungsministerium? Ministers aufgehoben werden soll. Nur tötet; während normalerweise die mili- Lange vor Ausbruch der Massaker in- dann könnte gegen Delcroix ermittelt tärische Faustregel gilt, daß auf einen formierte ein ruandischer Kontaktmann werden. „Die Tatsache, daß keine Maß- Gefallenen vier Verwundete kommen, den Oberst Marchal über die Völker- nahmen ergriffen wurden, obwohl man werden in Burundi auf einen Verwunde- mordpläne der Hutu-Regierung; seine über Informationen verfügte, ist straf- ten 15 bis 20 Tote registriert. Soldaten würden ein bevorzugtes Ziel bar“, sagt der Anwalt der Angehörigen. Die Armee schlägt gnadenlos zurück, sein. Marchal alarmierte den Uno- „Wir wollen nur, daß das Gesetz ange- wenn irgendwo eine ihrer Einheiten un- Oberkommandierenden Dallaire sowie wendet wird.“ ter Feuer geriet. Die Sicherheitskräfte

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betrachten jeden Hutu als Feind, und die Ministerien, die Justiz und das Parla- in Bujumbura erklärt immer wieder, Feinde müssen vernichtet werden. Hu- ment haben keine Autorität mehr. daß sie ausländische Truppen als Inva- tu-Parlamentariern stellt die Regierung Selbst die 20 000 Mann starke Armee soren bekämpfen würde. immerhin noch Leibwächter. Deshalb kann viele Gebiete nicht mehr kontrol- Schon jetzt trifft der Haß der burundi- begleiten zwei bewaffnete Soldaten lieren, die von Hutu-Partisanen be- schen Militärs die ausländischen Hilfsor- Nkinahamira auf Schritt und Tritt. herrscht werden. ganisationen. Weil sie in ihrer Arbeit Doch sein Eigentum blieb unge- Schon 25 Kilometer außerhalb von behindert und oft sogar beschossen wer- schützt. Plünderer verwüsteten sein Ge- Bujumbura errichten Banden Straßen- den, haben etliche das Land verlassen. schäft für Papierwaren, Parfüm und Al- sperren und rauben Reisende aus. Jede Mit ihnen flohen Nonnen und Missiona- koholika im Zentrum der Hauptstadt Fahrt ist lebensgefährlich, denn oft neh- re, die seit Jahrzehnten unter der Land- Bujumbura. Die Fenster seines Wohn- men die Wegelagerer Autos sofort unter bevölkerung arbeiteten. Botschaften re- hauses am Stadtrand verbarrikadierte Feuer. Hilfsorganisationen wie das duzieren ihr Personal, Touristen kom- Nkinahamira, nachdem Milizionäre hin- Welternährungsprogramm der Uno las- men schon lange nicht mehr in das male- eingefeuert hatten. Eine Granate explo- sen ihre Jeeps in der Hauptstadt stehen rische Land am Tanganjika-See. dierte auf dem Zwischendach und ver- und fliegen ihre Mitarbeiter 150 Kilome- Die Angst der Menschen ist selbst im letzte zwei Kinder. Fünf weitere hat er ter in das nächste Provinznest. gesicherten Bujumbura ständig spürbar, ins sichere Brüssel und nach Nairobi ge- In der Hauptstadt, in der es kaum besonders bei zurückgebliebenen Hutu bracht: „Ich denke jeden Tag ans Exil.“ noch Hutu gibt, igeln sich die Tutsi ein. wie Deo Nkinahamira. Ein Passant auf In seinem Wohnzimmer hängt das Doch schon lassen Hutu-Partisanen Bu- der „Chaussee des Volkes von Burun- Porträt des ermordeten Präsidenten jumbura spüren, wie verwundbar die di“, sein Koch oder einer der Soldaten, Ndadaye, dem er als Berater gedient Stadt ist. Sie verüben Anschläge auf die ihn beschützen sollen – jeder könnte hatte. Ndadaye wollte die Aussöhnung Wasserleitungen und Elektrizitätswer- ihn umbringen. aller Burundi-Bürger, Rachegedanken ke, um die Jahreswende waren ganze Im vornehmen Stadtteil Vugizo hau- waren dem gemäßigten Hutu-Politiker Stadtteile ohne Strom. Bewohner müs- sen Hutu in Notverschlägen nicht weit fremd, obwohl die Tutsi-Minderheit seit sen oft stundenlang nach Wasser vor ei- vom Präsidentenpalast. Sie hoffen, in der Unabhängigkeit 1962 in einer Serie nem Tankwagen anstehen. Wenn sich der Nähe des Staatschefs Sicherheit zu von Massakern immer wieder Hutu um- die miteinander konkur- finden – schließlich ge- gebracht oder aus dem Land vertrieben rierenden Guerrillagrup- hört er zu ihrer Volks- hatte. pen der Hutu einigen gruppe. Dabei ist Syl- Ndadaye wollte die Unterprivilegier- würden, könnten sie Bu- vestre Ntibantunganya ten langsam in bessere Zeiten führen. jumbura innerhalb von längst entmachtet. Aber schon vorsichtige Reformen – et- Tagen zur Aufgabe Der Präsident ist zum wa Hutu-Quoten für Führungsposten zwingen. leeren Symbol geworden bei den Sicherheitskräften – gingen der Um in Burundi einen wie die „Place de l’unite´ Tutsi-Elite zu weit. Die Minderheit Völkermord von ruandi- nationale“ in der Nähe glaubte, nur als Herrenklasse überleben schen Ausmaßen zu ver- seines Amtssitzes. Der zu können. hindern, möchte Uno- mit einer großen Säule Seit ihrem Putsch kommt das Land Generalsekretär Butros geschmückte Platz darf nicht zur Ruhe. In Bujumbura fallen Butros Ghali eine inter- nicht betreten werden. Tutsi-Milizionäre über jeden her, der ei- nationale Einsatztruppe Sobald sich Passanten ne breite Nase hat und ein Hutu sein in Zaire stationieren. nähern, schreit ein Sol- könnte. Die Verfolgten fliehen zu Ver- Doch die Armeeführung Politiker Nkinahamira dat: „C’est interdit!“ Y wandten auf die Hügel im Landesinnern. Vor Monaten noch galt der Stadtteil Ka- menge als eine Festung der Hutu. Dort leb- ten 20 000 Menschen. Jetzt sind die Bewoh- ner vertrieben, Wege wachsen zu, Häuser verfallen. Kamenge verkommt zu einem toten Stadtteil, abge- riegelt von Tutsi-Mili- tärs. An der Ausfahrt des Viertels steht ein Schild aus den frü- hen neunziger Jahren: „Multipartisme oui, multitribalisme non“ – „Ja zum Mehrpartei- ensystem, nein zur Spaltung in Stämme.“ Heute ist die Spal- tung perfekt. Noch amtiert eine Koaliti-

onsregierung aus meh- L. GILBERT / SYGMA reren Parteien. Aber Bürgerkriegsopfer in Bujumbura: Nirgendwo sonst wird so effizient getötet

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Begräbnis für Israels ermordeten Ministerpräsidenten Rabin auf dem Herzlberg in Jerusalem: Ruhestätte für Nationalhelden

Zionismus Der jüdische Tannhäuser Vor 100 Jahren veröffentlichte Theodor Herzl seinen „Judenstaat“ / Von Uri Avnery

m14.Februar 1896 erschien inWien Dabei hatte das Buch eine sonderbare danken in Paris zu Papier brachte, einekaum 90Seitenstarke Broschü- Entstehungsgeschichte. Herzl selbst be- machte er sich nur Notizen für eine Re- Are, die den grandiosen Namen trug absichtigte zunächst gar nicht, seine de, die er im Familienrat der Roth- „Der Judenstaat“. Sie erregte kein be- Schrift zu veröffentlichen. Als er in fie- schilds zu halten gedachte. Mit dem sonderes Aufsehen. Der Autor, ein ge- berhafter Stimmung, unter dem Ein- Geld der großen Bankiers wollte er wisser Herr Dr. Theodor Herzl, war zwar druck der Opern Richard Wagners, be- nämlich seinen Plan ausführen, die Mei- als Feuilletonist und Stückeschreiber sonders des „Tannhäuser“, seine Ge- nung der jüdischen Massen kümmerte ziemlich bekannt, wurde aber als politi- ihn nicht. scher Kopf kaum ernst genommen. Man Aber die Rothschilds dachten gar betrachtete ihn bestenfalls als Phanta- Israel als Idee nicht daran, den aufdringlichen Wiener sten, schlimmstenfalls als Scharlatan und Journalisten zu empfangen. Aus der Re- Hochstapler. wurde vor 100 Jahren in Paris am de wurde nichts, und Herzl beschloß Dennoch löstedieses Büchlein eine der Schreibtisch geboren: Dort schrieb schweren Herzens, seine Ideen nun großen Revolutionen des 20. Jahrhun- der Wiener Autor Theodor Herzl erst- doch nach draußen zu tragen. Er schrieb dertsaus.An dessenEndeistdaskommu- mals seine Vorstellung von einem in sein Tagebuch: „Ich glaube, für mich nistische Reich, das auf dem Werk eines modernen Nationalstaat aller Juden hat das Leben aufgehört und die Welt- anderen Juden, des christlich getauften nieder, gleich ob in „Palästina oder geschichte begonnen.“ Karl Marx, beruhte, sang- und klanglos Argentinien“. Wie die Prophezeiung Das könnte leicht wie Größenwahn zusammengebrochen. Und auch das in Erfüllung ging, beschreibt der is- aussehen und war es vielleicht auch. Dritte Reich, das der Österreicher Adolf raelische Publizist Uri Avnery, 72, Denn außer einer Idee, die auch Hitler in „Mein Kampf“ entwarf, ist nur der 1933 aus Deutschland emigrier- nicht neu war – obwohl Herzl das nicht noch schaurige Erinnerung. Aber der Ju- te: Die Juden haben ihren Staat be- wußte –, hatte er nichts vorzuweisen. denstaat Herzls besteht und ist gerade im kommen – aber einen anderen, als Für eine weltgeschichtliche Rolle Begriff, nach langem Krieg Frieden mit Herzl sich erträumt hatte. schien er ein höchst unwahrscheinli- allen Nachbarn zu schließen. cher Kandidat.

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lange nicht ernst – man ging über so et- Auch in Deutschland entfaltete sich was hinweg, weil man darin nur einen der Nationalismus in mächtiger Form. Ausdruck des Pöbels sah. Bismarcks neugeeintes Reich war nicht Einmal rief ihm ein betrunkener Ka- nur wirtschaftliche und militärische dett „Saujud“ nach, als er im Fiaker an Großmacht, sondern auch ein Tummel- ihm vorbeifuhr. Herzl war betroffen – platz nationalistischer Ideen. Gleichzei- der Kerl kannte ihn doch gar nicht, er tig befand sich Frankreich in einem na- konnte über ihn nur wissen, daß er „eine tionalen Taumel, wie die Dreyfus-Affä- Judennase und einen Judenbart“ hatte, re bewies. Und in der in allen Fugen be- wie er schrieb, aber das genügte. Auch benden österreichischen Monarchie, die antisemitische Schrift des angesehe- Heimat vieler Völker, schuf sich die nen deutschen Professors Eugen Düh- deutsche Minderheit einen rabiaten Na- ring erschütterte ihn. Aber das Ereignis, tionalismus, zu dem zuerst auch Herzl das seinem Leben die Wende gab, war neigte. der Dreyfus-Prozeß, den er als Pariser Dieser Nationalismus definierte sich Korrespondent der Wiener Zeitung ethnisch, rassisch, völkisch, kulturell, Neue Freie Presse 1894 miterlebte. territorial – die Juden, ein über die Welt Die Affäre um den jüdischen Artille- verstreutes Volk, gehörten nicht dazu; riehauptmann, der fälschlich der Spio- auch wenn sie sich noch so eifrig assimi- nage für Deutschland beschuldigt und lieren wollten, auch wenn sie sich, wie in zu lebenslanger Verbannung verurteilt Deutschland, patriotischer gebärdeten wurde, führte zu heftigen Ausschreitun- als viele Patrioten und der nationalen gen. Menschenmassen zogen über die Kultur treu dienten, wurden sie nicht Boulevards und schrien „Tod den Ju- richtig akzeptiert. Überall war der neue den“. Herzl war entsetzt. Wenn so et- Nationalismus mehr oder weniger anti- was in Paris, der Hauptstadt der Men- semitisch gefärbt; in manchen Ländern schen- und Bürgerrechte, passieren aber brauchte er den Antisemitismus ge- konnte, wohin ging dann Europa? radezu, um sich selbst zu definieren. Seitdem bestimmte der Antisemitis- Die Juden blieben ein Fremdkörper, mus Herzls ganzes Geistesleben. Er war den die neuen Nationen nicht verdauen der Ausgangspunkt seiner Ideen, der wollten. Aber weder die Antisemiten

AFP / DPA Mittelpunkt seiner Vorah- und den „Propheten des Staates“ nungen. Er beschäftigte ihn pausenlos. Seine gesamte Herzl wurde 1860 in Budapest gebo- politische Vision entwarf er ren, Sohn wohlhabender, ziemlich assi- als Antwort darauf. milierter jüdischer Eltern. Seit dem 19. Dieser Antisemitismus Lebensjahr lebte er in Wien, fühlte stellte etwas Neues dar, er sich stolz als „deutscher Schriftsteller“ war ein typisches Produkt und wollte sich als solcher einen un- der Zeit. Judenhaß hatte es sterblichen Namen machen. Vom Ju- im christlichen Europa zwar dentum wußte er so gut wie nichts; die seit je gegeben, im Gegen- assimilierten Juden, die er kannte, ver- satz zum islamischen Raum, achtete er. mit Verfolgungen, Vertrei- Er trat auf wie ein Dandy, legte bungen, Massenmorden, Po- größten Wert auf seine Kleidung, sah gromen. Darin steckten reli- auch gut aus, hochgewachsen, mit aus- giöser Fanatismus, Frem- drucksvollen braunen Augen. Früh ließ denhaß und Aberglaube. er sich einen Bart stehen, um älter zu Aber der neue Antisemitis- wirken. Frauen fühlten sich von ihm mus war etwas anderes, angezogen, aber er blieb einsam, galt nicht durch Zufall entstand als hochnäsig und hatte keine Freunde. er gerade in der zweiten Während seines Jurastudiums trat er Hälfte des 19. Jahrhunderts. einer deutsch-nationalen Burschen- Überall, vom Atlantik bis schaft bei, nahm Fechtunterricht, zum Kaukasus, regte sich schlug sich auch einmal. Er heiratete damals Nationalismus. Klei- ein reiches Mädchen und hätte sein ne Völker, die jahrhunderte- Leben wohl als ein angesehener, mit- lang friedfertig unter frem- telmäßiger Autor beendet, wenn er den Monarchen gelebt hat- nicht mit einer unerklärlichen Erschei- ten, besannen sich plötzlich nung in Berührung gekommen wäre, auf ihre eigene Kultur, auf die ihren Namen in der zweiten Hälfte ihre (wirkliche oder erfunde- des 19. Jahrhunderts erhalten hatte: ne) glorreiche Vergangen- dem Antisemitismus. heit. Tschechen, Slowenen, Natürlich hatte Herzl schon als Jun- Letten, Ukrainer, Serben, ge in Budapest antisemitische Bemer- Polen und andere Völker- kungen erlebt, und auch Wien, wo da- schaften verlangten nationa- mals zehn Prozent der Einwohner jü- le Anerkennung, nationale

disch waren, pflegte seinen eigenen Autonomie, nationale Selb- BPK Antisemitismus. Herzl nahm das aber ständigkeit. Herzl (1896): Eintritt in die Weltgeschichte

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AUSLAND SYGMA Jüdische Einwanderer aus Osteuropa Ende der zwanziger Jahre bei der Ankunft in Jaffa: „Palästina oder Argentinien“

noch die Juden selbst sich in Massen taufen wußten klar zu sagen, lassen, in riesigen, dra- worin das Besondere, matischen Zeremo- Andersgeartete der Ju- nien, unter Leitung des den lag. Auch Herzl, Papstes. ein ziemlich oberfläch- Derlei wurde natür- licher Denker, sah nur lich nicht ernst genom- die äußeren Erschei- men, aber dann kam nungen – Berufsneid Herzl auf den Gedan- oder Beschränkung der ken, der ihn zu einer Juden auf Geschäfte weltgeschichtlichen Fi- wie Handel und Börse. gur machte. Kurz und In Wirklichkeit war in modernen Begriffen es die neue Welt der ausgedrückt: Wenn die Nationen, welche Ju- ganze Welt nationali- den zu etwas Besonde- stisch wird und wenn rem machte. Vor zwei alle Nationen keinen Jahrtausenden waren Platz für die Juden ha- die Juden als religiös- ben, dann müssen die kulturelles Weltvolk ei- Juden sich eben als ei-

nes von vielen. Ihr J. NUBILE / FOCUS gene Nation konstituie- Zentrum befand sich in Orthodoxe Juden in New York: Ein Weltvolk geblieben ren und sich einen eige- Palästina, aber sogar nen Staat irgendwo in als jüdische Könige noch in Jerusalem men annahmen. Im Islam bedeuteten der Welt schaffen. Darin besteht der regierten, lebten schon die meisten Ju- Rasse, Volk und Land nichts – die Reli- moderne, politische Zionismus. den verstreut von Persien bis zur Iberi- gion bestimmte die Identität, und des- Das Wort stammt nicht von Herzl; es schen Halbinsel, mit wichtigen Gemein- halb blieben die Juden dort ein „norma- war einige Jahre vorher von einem an- den in Städten wie Alexandria, Antio- les“ Volk. Aber im modernen europäi- deren Wiener, Nathan Birnbaum, er- chia und Babylon. Hellenistische, jüdi- schen Nationalstaat entsprachen die Ju- funden worden als Bezeichnung für die sche, christliche und viele andere sol- den nicht mehr der Normalität, sie hat- Bestrebungen, in Palästina jüdische Ko- cher Gemeinschaften lebten unter sich, ten keinen angestammten Platz. lonien zu errichten. Für diese Kolonien, regierten sich selbst. Ohne die kulturgeschichtlichen Vor- die ab 1882 gegründet und zum Teil vom Die Völker von damals waren nicht gänge ganz zu verstehen, erkannte französischen Baron Edmond de Roth- an ein Territorium gebunden, sondern Herzl intuitiv die ungeheure Gefahr, die schild finanziert wurden, hatte Herzl zu- an eine Religion. Das galt als normal, sich über den Juden in Europa zusam- nächst nichts übrig. Er fand sie sinnlos, wurde später ein Bestandteil der byzan- menballte. Er suchte einen Ausweg. ja geradezu schädlich. tinischen Staatsform und lebte im osma- Zuerst dachte er, die Juden sollten Zion ist ein Hügel in Jerusalem – der nischen Millet-System bis ins 20. Jahr- sich total assimilieren und damit aufhö- Name wurde schon in der Bibel als Syn- hundert fort. ren, Juden zu sein. Vielleicht könnte onym für die Stadt Davids gebraucht. Das Besondere an den Juden war, man durch allgemeine Mischehen dem Aber als Herzl den Ausdruck über- daß sie diese Lebensart in Europa eigen- Problem ein Ende setzen. Dann entwik- nahm, dachte er nicht an Jerusalem und sinnig beibehielten, als die europäischen kelte er eine für ihn typische theatrali- auch nicht an Palästina. Im Grunde war Völker längst andere Gesellschaftsfor- sche Idee: Die Juden in Europa sollten es ihm egal, wo das jüdische Volk seinen

142 DER SPIEGEL 7/1996 Staat errichten würde. Am liebsten wäre ihm Argentinien gewesen, und er sann viel darüber nach, wie die Völker Süd- amerikas zu überzeugen seien, den Juden einen Teil des Kontinents abzutreten. Erst kurz vor der Veröffentlichung seiner Broschüre, als er in London mit briti- schen Juden in Berührung kam, gewöhn- te er sich an die Idee, daß der Zionismus doch im Lande Zions verwirklicht wer- den sollte. In England war eine Art christlicher Zionismus schon lange gang und gäbe. Er beruhte auf christlich-theologischen Grundlagen und wurde um so populärer, je mehr sich Großbritannien für den Weg nach Indien interessierte. Gott und das Empire paßten ja gut zusammen. Herzls Desinteresse an Palästina er- klärt, warum in seiner Broschüre das Wort Araber noch nicht vorkommt, wie in ihr überhaupt kein einziges Wort über die Geographie und Demographie Palä- stinas zu finden ist. Palästina wird nur bei- läufig erwähnt: Ein kleines Kapitel trägt die Überschrift „Palästina oder Argenti- nien“, es sagt, daß die zionistische Bewe- gung nehmen werde, „was man ihr gibt und wofür sich die öffentliche Meinung des Judenvolkes erklärt“. Als Herzl zwei Jahre später Palästina zum erstenmal be- suchte und dort den deutschen Kaiser Beim ersten Kongreß der Zionisten herrschte Frackzwang traf, machte er kein Hehl daraus, daß ihn das „öde“ Land nicht begeisterte. Die Araber, damals eine halbe Million in Pa- lästina, existierten für ihn so gut wie gar nicht. Der Widerhall der Broschüre war ent- täuschend. In England wurden im ersten Jahr ganze 160 Exemplare verkauft, und Herzl mußte den Verleger aus eigener Tasche bezahlen. Die reichen Juden ver- achteten den Verfasser, die frommen Rabbiner verschmähten ihn als Frevler, weil er vollbringen wollte, was nach jüdi- scher Tradition nur der von Gott gesand- te Messias vollbringen durfte. Die ängst- lichen assimilierten Juden wollten kein Aufsehen erregen, die Zionsvereine, die Siedler in Palästina unterstützten, sahen in ihm einen Störenfried. Aber immerhin fanden sich am 29. Au- gust 1897 in Basel 204 Juden ein, um an dem ersten Zionistenkongreß teilzuneh- men. Herzl bestand darauf, daß keiner ohne Frack Einlaß bekam. Sogar der be- rühmte, ebenfalls in Budapest geborene Kulturkritiker Max Nordau mußte insein Hotel zurück, um sich umzuziehen, nach- dem Herzl ihn mit Tränen in den Augen dazu beschworen hatte. Eigentlich hätte der Kongreß in Mün- chen stattfinden sollen, aber die jüdische AUSLAND

Gemeinde dort lehnte die Veranstaltung ten“ gebe; da diese die Juden loswerden aufs schärfste ab – sie hatte Angst und wollten, der Zionismus sie aber in Palä- wollte vom Zionismus nichts wissen. stina haben wollte, schien ihm eine Zu- Der Kongreß entschied wenigstens sammenarbeit ganz natürlich. Dieser die Frage nach der Heimstatt: Es ging naive Glaube spukte noch lange im Zio- nur noch um Palästina. Um den türki- nismus herum, bis der Holocaust ihm schen Sultan nicht zu provozieren, for- ein schreckliches Ende setzte. derten die Zionisten lediglich eine „öf- Die Briten hatten das meiste Ver- fentlich-rechtlich gesicherte Heimstätte ständnis für den Zionismus und gaben in Palästina“. Herzl aber schrieb in sein 13 Jahre nach Herzls Tod den Zionisten Tagebuch den berühmt gewordenen ihre Magna Charta – die Balfour-Dekla- prophetischen Satz: „In Basel habe ich ration, die 52 Jahre nach Erscheinen der den Judenstaat gegründet.“ Broschüre zur Errichtung des Juden- Das konnte vor 99 Jahren komisch staates führte. Herzl, der mit 44 Jahren klingen, und viele lachten auch. Denn an einem Herzleiden starb, wäre zu der hinter Herzl stand so gut wie nichts – Zeit 88 Jahre alt gewesen. keine wirkliche Bewegung, kein Geld, In Israel gibt es eine Stadt Herzlija, keine Zeitung. Es ist auch heute noch und auch alle anderen Städte haben ein Rätsel, wie es ihm gelang, von Für- Herzlstraßen und Herzlplätze. National- sten, Ministern und anderen Staatsmän- helden wie jetzt Jizchak Rabin werden nern empfangen zu werden. Das hat auf dem Herzlberg zu Jerusalem beige- wohl viel mit seiner charismatischen setzt. Viele Männer tragen den Vorna- Persönlichkeit zu tun, vielleicht auch men Herzl, darunter auch Israels be- mit der Illusion, daß er über die Millio- kanntester Verbrecher. Herzls Bild ist nen der jüdischen Hochfinanz verfügen der einzige Schmuck im Plenarsaal der könne. Knesset, offiziell wird er als „Prophet Der Hohen Pforte in Istanbul schlug des Staates“ bezeichnet. er vor, als Gegenleistung für Palästina Ein Teil seiner Prophezeiung ging tat- die notorischen Finanzprobleme des Os- sächlich in einer unglaublichen Weise in manischen Reiches zu lösen – ein Ver- Erfüllung, doch hätte sich Herzl wohl sprechen, das jeder Deckung ermangel- über viele Aspekte des modernen Israel te und das Gott sei Dank vom Sultan ab- gewundert und geärgert. Offiziere und gelehnt wurde. Herzl, der keine Ah- Rabbiner spielen im Staat eine gewalti- nung vom Orient hatte, wußte natürlich ge politische Rolle, obwohl er verspro- nicht, daß es für den Kalifen ganz un- chen hatte, „die Offiziere in den Kaser- möglich gewesen wäre, islamisches nen festzuhalten und die Rabbiner in Land an Ungläubige ab- zugeben. Mit Hilfe des Großher- zogs von Baden, der sich der Sache verschrieb, kam eine kurze Romanze mit Wilhelm II. zustande. Ihm bot Herzl ein deut- sches Protektorat über ein jüdisches, deutsch- sprechendes, autonomes Gemeinwesen in Palästi- na an. Der Versuch, die hebräische Sprache zu be- leben, kam Herzl lächer- lich vor. Auch für Demo- kratie war er nicht zu ha- ben. Er stellte sich eine „aristokratische Repu- blik“ mit einem gewähl- ten Fürsten vor. Wilhelm II. war ein Antisemit, der einem Witz zufolge später ge- sagt haben soll: „Der Zio- nismus ist eine prachtvol- le Idee – nur mit Juden ist sie nicht auszuführen.“ Aber Herzl verhandelte gern mit Antisemiten, in Deutschland wie in Groß- britannien und Rußland. Er behauptete sogar, daß Herzl, Wilhelm II. 1898 in Palästina es „anständige Antisemi- Deutsches Protektorat?

144 DER SPIEGEL 7/1996 den Synagogen“. Fast jeder fünfte Israe- li ist ein Araber. Hebräisch ist Alltags- sprache, so gut wie keiner spricht deutsch. Die intellektuelle Mode ist „postzionistisch“, selbst der Begriff „Judenstaat“ wird in Frage gestellt. Herzl hatte sich vorgestellt, daß das ganze jüdische Volk organisiert nach Pa- lästina übersiedeln würde. Wer nicht mitgehen wollte, sollte bleiben, wo er war, und würde aufhören, Jude zu sein. So ist es nicht gekommen. Israel be- steht und gedeiht, aber in der ganzen Welt leben nach wie vor Juden, und vie- Sein Vorbild war das „starke, prachtvoll verwaltete Deutschland“ le Gemeinden blühen wie noch nie. Die Juden sind ein Weltvolk geblieben, ob- wohl in Israel eine neue Nation ent- stand. Der Unterschied zwischen einem reli- giös-kulturellen Weltvolk und einer po- litischen Nation war Herzl nie klar. Ein Weltvolk wie die Juden überlebt durch Flucht – es zieht von einem Land in ein anderes, wenn die Lage zu brenzlig wird, von Toledo nach Smyrna oder Fes, von Mainz nach Krakau, von Kra- kau nach Wien. Darin besteht die Ge- schichte der Juden, und darum konnten sie auch den Holocaust überleben. Ju- den glänzten nie durch große Bauten wie die Araber. Sie schufen nur, was sie bei der Flucht im Kopf mitnehmen konnten. Eine Nation aber überlebt, indem sie ihr Territorium mit Waffengewalt ver- teidigt, und das haben die Israelis schnell und gründlich gelernt – im Kampf mit den Palästinensern und den anderen arabischen Völkern, deren Exi- stenz Herzl sein Leben lang ignorierte. Sein Vorbild war der deutsche Natio- nalismus des Kaiserreiches. Er zeigte sich begeistert von „diesem starken, sitt- lichen, prachtvoll verwalteten, stramm organisierten Deutschland“, wie er in sein Tagebuch schrieb. Er suchte ein Land, so wie die europäischen Mächte Kolonien suchten, er wollte eine „Kolo- nialbank“ für die jüdischen „Koloni- sten“ gründen. Eingeborene existierten für ihn höchstens als malerischer Teil der Landschaft. Nur in einem war er seiner Zeit vor- aus: Er ahnte, was der Antisemitismus den Juden antun würde, obwohl er wahrscheinlich nie geglaubt hätte, daß gerade sein geliebtes Deutschland das schrecklichste aller Verbrechen begehen könnte. Die Musik Wagners, die Herzl vor hundert Jahren so bewegte, wird bis heute in Israel boykottiert, weil Hitler sie so liebte. Y Werbeseite

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AUSLAND KASSIN FOTOS: P. Reklametafel für US-Landwirtschaftsprodukte in Moskau: „Großes Risiko – große Möglichkeiten“

Von dort strömen immer mehr Kul- güter-Produktion zu den Erfolgsbran- Rußland turbringer ins ehemalige Feindesland: chen. Kaugummi, Kosmetika, Zahnpa- Glücksritter, Lebenshelfer, Missionare, sta – derart althergebrachte Marktlük- Wahlkämpfer, Finanzexperten, vor al- ken sind mit Westprodukten schon gut lem jedoch Geschäftsleute. Die Voka- gefüllt. Alles erlaubt bel „Bisnesmen“ gehört längst zur russi- „Großes Risiko – große Möglichkei- schen Umgangssprache. ten“, mit diesem Slogan wirbt die Han- Kaugummi, Kochtips, Kapitalismus Die einst kleine US-Kolonie in Mos- delskammer für einen Sturm über Eura- – 10 000 Amerikaner in Moskau kau ist bereits auf 10 000 Zugereiste an- sien: „Go East.“ Wer kommt, fühlt sich gewachsen. Gut 100 Diplomaten wa- als Pfadfinder in einer Wildnis: „No risk unterrichten die Russen in ihrer chen über Washingtons Interessen und – no fun.“ Lebensweise. befühlen den matter werdenden Puls Heute liegen die Vereinigten Staaten des militärischen Konkurrenten um die nicht nur mit ihrem Moskauer Personal- Weltmacht. Nahezu 700 US-Firmen in einsatz vorn, sondern auch bei den Inve- ichael Batts ist ein Mister Mo- Moskau suchen Kunden und Gewinn. stitionen: 1,35 Milliarden Dollar sind es neymaker wie aus dem Bilder- Anwälte und Steuerberater mit ameri- seit 1991, mehr als ein Fünftel des west- Mbuch. Er hat den armen Russen, kanischen Diplomen bieten in 60 Kanz- lichen Gesamtengagements (Deutsch- die hinter zugeklebten Fensterscheiben lei-Filialen ihre guten und teuren Dien- land 1995: etwa 150 Millionen Mark). in schlecht geheizten Räumen vor dem ste an. Sicher, „die miserable Infrastruktur Fernsehschirm Ablenkung suchen, In der russischen Hauptstadt hat sich schreckt ab“, warnt Sean Wood vom „Baywatch“ gebracht – eine TV-Serie inzwischen eine amerikanische Handels- Moskauer Büro der Werbeagentur mit viel kalifornischer Sonne und dem kammer etabliert; sie rechnet Finanzwe- BBDO: „Auch bei der Steuer geht alles Körperkult von Malibu Beach. sen, Telekommunikation und Konsum- drunter und drüber.“ Jeden Tag müsse Auf seinem Kasino-Schiff er „gegen eine korrupte Regie- „Alexander Blok“ lehrt er zu- rung und eine unglaubliche Bü- dem die Besserbetuchten, stil- rokratie ankämpfen“, klagt voll Roulette und Bakkarat zu auch Polaroid-Verkaufsleiter spielen. An den Ufern des Rick Winter. Doch das Ge- Moskwa-Flusses möchte Batts schäft brummt: Über eine Milli- im Frühling sogar einen künst- on Kameras mit dem schnellen lichen Strand installieren, für Bild verkauft das Unternehmen schicke Partys ganz wie aus mittlerweile für 196 Millionen der Traumfabrik. Dollar jedes Jahr in Rußland, Geldmacher Batts propagiert dem zweitgrößten Markt nach als Draufgabe auch noch gern den USA. seine persönliche Ideologie: Deloitte & Touche, Steuer- „Kultureller Imperialismus“, kanzlei mit Hauptsitz in New predigt der Mann aus Holly- York, war der Quartiermacher wood mit unerschütterlichem für den Kapitalisten-Treck: Be- Selbstbewußtsein, „ist in Ord- reits 1988 hatte die Firma nung, solange er aus Amerika eine dreiköpfige Vorhut hinter kommt.“ US-Werbestratege Wood: „Eine Art Umerziehung“ die „sowjetischen Linien“ ge-

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schickt, wie die Mitarbeiterzeitschrift gibtesinMoskau inzwischen170 ähnliche Russisch-Amerikanisches Presse- und rühmt. Zwei Jahre später eröffnete der Klubs, mit Namen wie „Night Flight“, Informationszentrum (Rapic) bittet zu geschäftsführende Gesellschafter Wil- „Golden Palace“ oder „Manhattan Ex- regelmäßigen Schulungen: Die russi- liam Potvin die ersten Büroräume in der press“. schen Journalisten sollen lernen, so Ra- UdSSR. Die US-Firma Pizza Hut war Die USA sind für viele der ehemaligen pic-Vize Anthony Salvia, was „gegensei- schon da und sicherte dem Gastarbeiter Sowjetmenschen noch immer Inbegriff tige Beeinflussung von politischen Kam- mit ihren Teigfladen das Überleben. Der des Reichtums, aber auch der Dekadenz pagnen und Information“ bedeutet. Einsatz an der Ostfront hat sich gelohnt: und menschlicher Kälte. „Bis zur russi- Die Moskauer Radiostation „Na- Heute betreuen mehr als 750 Deloitte- schen Seele kann kein Amerikaner vor- deschda“ (Hoffnung) sendet für US- Mitarbeiter Mandanten bisnach Sibirien. dringen, dazu fehlt ihm jegliches Ver- Bürger in Rußland und für lerneifrige „Rußland ist eine Goldgrube“, ständnis“, sagt Wladimir Woinowitsch, Russen ein eigenes Programm, speziell schwärmt Alexander Bek, russischer Di- Autor zahlreicher Satiren auf das russi- für Frauen: „Wassilijs Neighbourhood“. rektor einer kleinen Moskauer Werbefir- sche Leben. Selbst 1980 aus der Sowjet- Und so klingt es denn in breitem Ameri- ma, und Entrepreneure aus Nordameri- union vertrieben, hält er es „für eine un- kanisch bis in die letzte Ecke des Lan- ka sichern sich emsig die besten Schürf- sinnige Annahme, die Russen würden des: Wie bewältige ich Eheprobleme rechte. von sich aus das Lager wechseln, sobald und Unvermögen beim Sex? Dazu Kon- Mit ganzen Einkaufslisten für kluge sie sehen, wie gut es sich in Amerika sum- und Kochtips – Wassilij ist nie um Köpfe und technisches Know-how grasen lebt“. einen Rat verlegen. sie die Zentren der Weltraum- und Waf- Emigration ist auch gar nicht mehr nö- Die lehrreiche „Nadeschda“-Sende- fentechnik ab. Gekauft wird alles, „was tig. Wer wendig ist und genügend Dollar stunde „Im Hühnerstall“ erreicht inzwi- die Sicherheit unseres Landes garan- macht in der entfesselten russischen Pri- schen 270 000 private Bauernhöfe und drei Millionen ehemalige Kolchos- Landwirte. Janet Macy hatte die Idee dazu. Sie arbeitet bei Winrock Interna- tional, einer der zahlreichen US-Organi- sationen, die in Moskau als nichtstaat- lich und gemeinnützig firmieren. Werbemann Sean Wood, der eng mit der amerikanischen Handelskammer zu- sammenarbeitet, bekennt sich freimütig „zu einer Art Umerziehung – anders als nach dem Zweiten Weltkrieg in West- deutschland, aber schon so ähnlich“. Soziales Gewissen, praktizierende Nächstenliebe – so etwas müßten die Russen ebenfalls neu lernen, behauptet Nancy Galloway, Vorsitzende von Uni- ted Way Moscow, einer Organisation, die russische Partner im Fach Wohltätig- keit unterrichtet: „Nein zu Alkohol und Narkotika“, „Sorgentelefon für mißhan- delte Frauen“, „Stiftung Menschliche

P. KASSIN Seelen“. US-Show im Moskauer Kasino „Golden Palace“: „Das Gute aus dem Westen“ Keiner der von Galloway betreuten Verbände – etwa ein Dutzend von rund tiert“, heißt es in einem Weißbuch der vatwirtschaft, kann sich laut Reklame- 300 in Rußland, die sich der Barmher- russischen Geheimdienste: CIA-Leute Manager Bek „längst zu Hause die Frei- zigkeit widmen – hat bisher das Klassen- hätten beim Abwerben von Fachleuten heit kaufen, die er braucht“. ziel erreicht: „Die haben oft keine Ah- die meisten Erfolge, auch die „längste Das rauschhafte „Alles ist erlaubt“ der nung“, klagt die sanfte Frau aus der Erfahrung“. neuen Oberschicht, eine Ex-und-hopp- Neuen Welt. Dafür kommen Landsleute zurück, Mentalität, versetzt sogar die amerikani- „Wir lehren hier alte Techniken des die im westlichen Exil die Tugenden des schen Lehrmeister in Staunen. Die westlichen Business, die in Rußland neu Kapitalismus erfahren haben. Ex-So- „Angst vor plötzlicher politischer Insta- sind“, doziert Polaroid-Vertreter Win- wjetbürger Alex Grim, 1973 erst nach bilität“ (Bek) hält die Moskauer Geldeli- ter. An der Manager-Akademie im Österreich, später nach Amerika ausge- te in Atem, und sie gebärdet sich deshalb Moskauer Süden lassen sich Professoren wandert, kehrte zu Beginn der Gorba- bei der Bereicherung und beim Geldaus- von US-Universitäten per Satellit in das tschow-Zeit heim, mit harter Währung geben so hektisch, als tanze sie pausenlos Klassenzimmer schalten, russische Stu- und einer neuen Heilslehre: „Im Westen auf einem Vulkan. denten können sogar zurückfragen: Wie habe ich gelernt, was gut und was Den Takt dazu schlagen die Entwick- mache ich meine erste Million? schlecht ist, und nun bringe ich meinem lungshelfer aus Übersee. Premier Wiktor Ein sehr alter Amerikaner, Symbol Land das Gute.“ Tschernomyrdin hatte für die Wahlkam- der reinen kapitalistischen Lehre, über- Das war zunächst eine der ersten pagne seiner Honoratiorenpartei „Unser rascht die junge Ellenbogengeneration Moskauer Spielhöllen, inzwischen ist es Haus Rußland“ die US-Werbeagentur mit einer radikalen Botschaft. Sie soll- das Etablissement „Madame Sophie“. DMB&B engagiert. Inklusive Organisa- ten um Himmels willen „nicht die USA Dort läßt Grim Abend für Abend eine tionsmanager und Imagemaker, so hat als wirtschaftliches Vorbild wählen“, rät pompöse Las-Vegas-Show abtanzen, die Moskauer Tageszeitung Iswestija aus- Weltökonom und Nobelpreisträger Mil- mit viel Federputz und nackter Haut. gerechnet, konnte ein Parlamentsman- ton Friedman, 83: Denn „die Vereinig- Doch das Gute setzt sich wie immer dat bis zu 300 000 Dollar teuer werden. ten Staaten sind heute auf dem besten nur langsam durch: Der Saal ist leer, die Vor allem bei den Massenmedien setzt Weg, ein sozialistisches Land zu wer- Geschäfte gehen schlecht. Schließlich amtliche US-Volksaufklärung an. Ein den“. Y

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Ob Hund, Katze, Meerschweinchen landflug von Schottland nach London- Großbritannien oder Tanzmaus, ob das Tier aus dem be- Heathrow. Doch dort wurde vergessen, nachbarten europäischen Ausland oder ihn zu entladen; die Maschine flog nach aus der Dritten Welt stammt – die Amsterdam weiter, wo das Tier schließ- Grenzbehörden sind gnadenlos: Haus- lich im Frachtraum entdeckt wurde. Mit An die Gurgel tiere, die mit ihren Besitzern Inselboden der gleichen Maschine Stunden später betreten, landen von der Fähre oder nach England zurückgekehrt, mußte der Tausende von Haustieren müssen vom Flughafen weg für ein halbes Jahr Irrläufer seinen kurzen Auslandstrip mit jedes Jahr in Quarantäne. Nun ver- in einem der 79 lizensierten Zwinger. Quarantäne büßen. Dort geht es mitunter brutal zu. Aus- Selbst für Blindenhunde gibt es keine langt Brüssel freien Grenzverkehr. gestiegene Tierpfleger berichten von Ausnahme. Britische Behindertenver- mißhandelten und unterernährten Krea- bände klagen, daß viele Blinde auf Aus- as Jahr fing nicht gut an für Max: turen. Den Besitzern wird gelegentlich landstrips verzichten müssen, um ihre erst die strapaziöse Flugreise von aus „seuchentechnischen Gründen“ der vierbeinigen Helfer nicht anschließend DAustralien nach London und Besuch ihrer Lieblinge verwehrt. für ein halbes Jahr zu verlieren. dann die Einzelhaft. Seine gleichfalls Manchmal enden die Opfer auch im Dennoch glaubt Paul Hayward vom eingesperrten Nachbarn kann er zwar Verbrennungsofen. Im vergangenen Londoner Landwirtschaftsministerium, durch die Gitterstäbe sehen, riechen Jahr starben etwa 150 Tiere in staatli- daß die meisten Briten das Quarantäne- und vor allem hören, näherer Kontakt cher Verwahrung. Die US-Bürgerin Ca- Gesetz gutheißen: „Wenn wir laxer wä- ist aber strikt verboten. Selbst Hofgang thy Campagna bekam ein Postpaket; es ren, hätten wir vielleicht Tollwut im fällt aus. Für die nächsten sechs Mona- enthielt die Asche ihrer Hündin Tara. Land. Und dann geht uns die Bevölke- te darf Max, 6, den engen Käfig mit Boxer Max hat es vergleichsweise gut rung garantiert an die Gurgel.“ dem häßlichen Betonboden nicht ver- getroffen. Die Quarantäne-Station des Richtig ist, daß die britischen Inseln lassen. Tierhändlers Nigel Hurst, 40, gilt als se- seit 1922 tollwutfrei sind – für traditions- FEATURES FOTOS: REX Englischer Quarantäne-Zwinger, Tierpflegerin: Sechs Monate hinter Gittern

Was habe der Insasse denn ausgefres- riöse Adresse im Haustier-Gulag; 1500 bewußte Untertanen Ihrer Majestät ein sen, daß er „seine Freiheit verlor und Pfund (etwa 3300 Mark) kostet die weiterer Beweis britischer Überlegen- wie ein Krimineller im Knast steckt?“ Zwangspflege, Futter, Impfungen und heit gegenüber den Kontinentaleuropä- fragt Edit Todd empört: „Nichts. Unser tierärztliche Kontrolle inklusive. ern. Doch unter den über 160 000 Haus- Max ist Opfer britischer Behördenwill- Auf seinem Anwesen, das von meter- tieren, die seit 1972 in britischer Qua- kür und barbarischer Gewinnsucht.“ hohen Drahtzäunen umgeben ist, hat rantäne darbten, befand sich nicht ein Im Januar zog die gebürtige Dänin Hurst 35 Hundekäfige und Platz für 50 einziges infiziertes Tier. mit ihrem australischen Mann, zwei Katzen – ein lukratives Geschäft, wie Deshalb glaubt der schottische Publi- Kindern und Hausrat in die britische der Jaguar-Fahrer einräumt: „Wir sind zist Neal Ascherson, daß der englische Hauptstadt, wo Gatte David die näch- immer ausgebucht.“ Tollwutwahn „auf einem Mythos be- sten Jahre als Anwalt arbeiten wird. Dafür sorgt der eiserne Wille der ruht“. In Wirklichkeit ängstige sich das Für Max, einen Boxer mit glänzend- Londoner Regierung. Trotz wachsen- Inselvolk vor dem „Virus des Wandels: braunem Fell und weißen Pfoten, be- den Drucks der Brüsseler EU-Kommis- Eine engere Anbindung an Europa deutet der Ortswechsel sechs Monate sion will sie die strengen Gesetze keines- könnte die Tradition des britischen Quarantäne in einem Zwinger. wegs lockern. Während im übrigen Eu- Herrschaftsapparats mit seinem einzig- Der Hund vom fünften Kontinent ist ropa bei Haustier-Einfuhren aus dem artigen Vertrauen in Staatsgewalt und eines der jüngsten Opfer des ebenso EU-Raum Schutzimpfungen und tier- Autorität untergraben“. unerbittlichen wie umstrittenen Qua- ärztliche Atteste ausreichen, verharrt Für Edit Todd, Frauchen von Max, ist rantäne-Gesetzes, mit dem sich Eng- Großbritannien ungerührt in seiner das Vertrauen in ihr Gastland schon land gegen die Einschleppung gefähr- splendid isolation. nach wenigen Tagen schwer erschüttert: licher Seuchen wie Tollwut schützen Gelegentlich mit bizarren Folgen: „Wer so mit Tieren umgeht, wie geht will. Kürzlich reiste ein Hund auf einem In- der erst mit Menschen um?“ Y

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WISSENSCHAFT

Aids Viren im Kreuzfeuer Jahrelang prägten Enttäuschungen die Arbeit der Aids-Forscher. Jetzt sprechen einige von ihnen schon vorsichtig von „Heilung“. Anlaß für den Optimismus sind zwei neue Medikamente, die den Virenpegel im Blut dramatisch senken. Erstmals wurde die lebensverlängernde Wirkung einer Therapie nachgewiesen.

s waren zwei Minuten und 21 Se- ten vor allem den berühmtesten HIV- dem elektronenmikroskopisch kleinen kunden gespielt, als Trainer Del Patienten der Welt an. Nach viereinhalb Gegner trotzt, der seit Jahren eine Dau- EHarris seiner Nummer 32 zunickte Jahren Spielpause kehrte er jetzt in die erschlacht gegen sein Immunsystem und sagte: „Let’s go!“ amerikanische Basketball-Liga zurück – führt. Die Details dieser Schlacht, von Kurz darauf täuschte Nummer 32 ei- ein Symbol der Hoffnung für weltweit den Aids-Forschern erst kürzlich ge- nen Paß an, ließ den übertölpelten Ver- 19 Millionen HIV-Infizierte. klärt, klingen erschreckend: Allein wäh- teidiger der Golden State Warriors ste- Mit seinem Comeback demonstriert rend der 27 Minuten, die Johnson für hen, sprintete vorwärts, schubste den Earvin Johnson, 36, wie er noch immer die Lakers auf dem Feld war, produzier- Ball über den Korbrand ten die infizierten Zellen und tat damit der Welt in seinem Körper rund kund: Earvin Johnson, 100 Millionen HI-Viren; genannt „The Magic“, ist 100 000 neue T-Helfer- wieder da. zellen wurden mit dem Das Publikum heulte Virus infiziert. auf. Doch der Jubel an Trotzdem hat die diesem Dienstag vorletz- schleichend fortschrei- ter Woche galt nicht nur tende Infektion die Kon- dem Superstar, der 19 dition und Wendigkeit Punkte und 8 Rebounds des Top-Sportlers bisher für die Los Angeles La- nicht geschmälert. Noch kers einheimste. Die strahlt er dieselbe Mi- 17 505 Zuschauer im schung von Kumpelhaf- Great Western Forum tigkeit und Optimismus von Los Angeles feuer- aus, die ihn vor Jahren zum Publikumsliebling * Bei Hoffmann-La Roche; das machte. Medikament Saquinavir (gelb)

blockiert das HIV-Enzym Protei- T. KERN / LOOKAT Aber wie lange noch? nase (rot/blau). Aids-Forschung am Molekül-Modell*: Biochemische Maulsperre Das ist die Frage, die den

Invasion gestoppt Wirkungsweise von Aids-Medikamenten

Im ersten Nachdem das Virus in die Zelle ein- Die Virus-DNS wird in das Auf der Boten-RNS ist der Befehl zum Bau Schritt dockt gedrungen ist, wird seine RNS von Erbgut der Wirtszelle ein- von Proteinen kodiert, aus denen sich das Virus an dem Enzym „Reverse Transkriptase“ gebaut. Dort wird sie von neue HI-Viren zusammensetzen. sein Opfer an. in DNS umgeschrieben. der Zelle wieder in Virus- Proteinase-Hemmer wie Saquinavir, Rito- Medikamente wie AZT, ddC, ddI und RNS und sogenannte navir und Indinavir verhindern, daß die 3TC behindern dieses Enzym. Boten-RNS übersetzt. Hüllproteine des Virus zurecht- geschnitten werden. T-HELFER-ZELLE

ZELLKERN Zellkern- DNS Integrierte Boten- Die Virus-Nachkommen Virus-DNS RNS knospen als fertige HI-Viren auf Virus-RNS Proteine der Zellober- fläche.

Virus-DNS Virus-RNS Knospung

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US-Basketball und damit und um einen Markt die ganze amerikanische konkurrieren, dessen Nation bewegt. Wann Volumen auf 3,6 Milliar- wird Johnsons Immunsy- den Dollar pro Jahr ge- stem kapitulieren ange- schätzt wird. sichts der Dauerbelage- Die Produzenten der rung durch das Virus? neuen Hoffnungspillen Wann wird HIV John- beeilen sich allerdings zu sons Kräfte zu schwä- betonen, eine Heilung chen beginnen? Wann sei damit noch nicht in wird er unter den ersten Sicht. Allenfalls könne Durchfällen, den Fieber- es gelingen, das Virus anfällen und Ausschlä- länger als bisher in gen leiden, die den Be- Schach zu halten. ginn der Krankheit Aids Allzugut ist noch die ankündigen? ernüchternde Geschichte Möglicherweise noch des Anti-Aids-Mittels sehr lange nicht. Das je- AZT in Erinnerung. denfalls ist die hoff- 1986, nur drei Jahre nungsvolle Antwort, die nachdem der Erreger zwei US-Firmen in eben HIV entdeckt worden der Woche verkündeten, war, schien die erste in der Johnson sein Pharmawaffe gegen die Comeback feierte. Seuche einsatzbereit. „Es ist dramatisch: Sie attackiert das En- Die Patienten gewinnen zym Reverse Transkrip- an Gewicht, sie gehen tase und damit die ver- zurück zur Arbeit“, er- meintlich verwundbarste klärte Andre´ Pernet, Stelle der Mikrobe, Chefentwickler einer gleichsam das Herzstück neuen Substanz beim der tückischen retrovira- Chemiekonzern Abbott. len Strategie von HIV Die Konkurrenten bei (siehe Grafik Seite 154). Merck gaben bekannt: Doch nur wenige Jah- „Wir haben die Zulas- re später trafen die sung eines neuen Medi- Hiobsbotschaften aus kaments beantragt, mit den Kliniken ein: Zwar dem wir jeden Patienten läßt sich mit AZT das ge- in einen Langzeitüber- schwächte Immunsystem lebenden verwandeln der Patienten kurzzeitig könnten.“ stabilisieren. Doch hef- Aber nicht nur die tige Nebenwirkungen Hersteller der beiden zwingen oft zum Ab-

neuen Präparate verbrei- ALLSPORT bruch der Behandlung. teten Hoffnungsparolen. Basketball-Star Johnson (r.) nach Comeback: Symbol der Hoffnung Zudem bilden sich Auch Norman Letvin, schnell HIV-Mutanten, Aids-Forscher an der Harvard Universi- naten im Blut nicht mehr nachweis- denen das Medikament nichts mehr an- ty, glaubt jetzt Medikamente zur Hand bar waren. haben kann. Eine andauernde Eindäm- zu haben, „die das Leben von HIV-Infi- i Eine weitere Studie belegte, daß die mung der Virusvermehrung läßt sich zierten um 10, 15 oder 20 Jahre verlän- Menge der Viren im Blut tatsächlich weder mit AZT noch mit seinen chemi- gern könnten“. Und der Münchner ein guter Indikator für den weiteren schen Verwandten – den inzwischen Aids-Arzt Hans Jäger sieht bereits „den Verlauf der Infektion ist: Das Schick- ebenfalls erhältlichen Wirkstoffen ddC, Begriff ,Heilung‘ in diskutierbare Nähe sal von 181 HIV-positiven Patienten ddI und 3TC – erreichen. gerückt“. wurde fünf Jahre lang verfolgt. Nach Deshalb bemühten sich die Moleku- Jahrelang hatten Enttäuschungen die dieser Zeit waren 65 Prozent derjeni- laringenieure in den Entwicklungslabors Aids-Forscher zermürbt. Jetzt verbrei- gen gestorben, bei denen am Anfang der Pharmaindustrie, andere Werkzeu- teten drei Studien unverhofften Opti- der Studie mehr als 34 500 Viren pro ge des HI-Virus lahmzulegen. Vor allem mismus: Milliliter Blut gemessen worden wa- die Proteinase schien dafür geeignet, ei- i Die Todesrate unter Aids-Patienten, ren. Von denen, in deren Blut weni- ne molekulare Schere, mit deren Hilfe die sieben Monate lang mit dem neu- ger als 5000 Viren pro Milliliter ge- sich das Virus seine Eiweißhülle zu- en Wirkstoff Ritonavir von der Firma schwommen hatten, lebten noch alle. rechtschneidert. Diese Schere wollten Abbott behandelt wurden, sank auf Damit sehen viele Ärzte nun eine die Forscher blockieren. Denn nackt, die Hälfte. neue Ära der Aids-Behandlung anbre- ohne Hülle, ist das Virus unfähig, seine i Das Konkurrenzprodukt Indinavir chen. Die Milliarden, die in die Ent- Wirtszelle zu verlassen. HIV wäre damit vom Pharmakonzern Merck reduzier- wicklung wirksamerer Medikamente gleichsam zum Gefangenen seines Op- te, zusammen mit den bereits zugelas- geflossen sind, beginnen sich auszuzah- fers gemacht. senen Medikamenten AZT und 3TC len. In einem beispiellosen Wettlauf be- verabreicht, bei 24 von 26 Patienten Bis zu einem Dutzend neuer Substan- gannen die Forscherteams in der Phar- die Zahl der Viren so stark, daß die zen gegen Aids werden im Laufe des maindustrie, Zehntausende von Sub- Erreger für die Dauer von sechs Mo- nächsten Jahres in die Kliniken drängen stanzen auf ihre Wirksamkeit als bioche-

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Todesrate halbiert Neue Medikamente gegen Aids

SAQUINAVIR RITONAVIR INDINAVIR Hersteller Hoffmann-La Roche Abbott Merck Wirkung Reduktion der mehr als 1000fache bei 24 von 26 Patienten Virusbelastung Reduktion der Virenbe- in Kombination mit AZT deutlich höher als bei lastung in Kombination und 3TC Verminderung den Reverse-Trans- mit AZT und ddC der Virusbelastung bis skriptase-Hemmern unterhalb der Nachweis- grenze Todesrate unter bisher keine Daten Patienten mit fort- bisher keine Daten über lebensverlän- geschrittenem über lebensverlän- gernde Wirkung Aids halbiert gernde Wirkung

Neben- Durchfall, Übelkeit; Durchfall, Schwindel, bei zwei bis drei wirkungen keine Organschäden Übelkeit; Prozent der Patienten keine Organschäden Nierensteine

Zulassung in den USA zugelassen Zulassung beantragt Zulassung beantragt am 7. 12. 1995 am 21. 12. 1995; am 31. 1. 1996; erwartet bis erwartet bis Sommer 1996 Sommer 1996

mische Maulsperre der Proteinase zu te- meist dauert es kaum mehr alseinige Mo- sten. nate, bis sich irgendeine Mutante als im- Der Schweizer Pharmakonzern Hoff- mun gegen ein Medikament erweist. In- mann-La Roche war der erste, der im nerhalb von Wochen kann dieses einzel- Dezember letzten Jahres von der US- ne Virus milliardenfachen Nachwuchs Gesundheitsbehörde FDA die Zulas- hervorbringen, die Wirkung des Medika- sung für den Proteinasehemmer Saqui- ments verpufft. navir (Markenname: Invirase) bekam. „Deshalb ist jedes einzelne Präparat Im Sommer dieses Jahres hoffen Abbott dazu verurteilt zu scheitern“, urteilt Da- und Merck mit ihren womöglich noch vid Ho vom Aaron Diamonds Aids Re- wirksameren Präparaten nachziehen zu search Center in New York. Nur eine können. Kombination verschiedener Stoffe kön- Die Genehmigung allerdings, das ist ne zum Erfolg führen. bereits abzusehen, wird auf vergleichs- „Wir kreisen das Virus sozusagen von weise dürftigen Daten beruhen. Die verschiedenen Seiten her ein“, so um- Zahl der Patienten, an denen die neuen schreibt Abbott-Forscher Pernet die Medikamente getestet wurden, ist klein. Strategie. Im chemischen Kreuzfeuer Und vor allem die langfristige Wirkung hoffen die Forscher die Wandlungslust ist bisher kaum erforscht. des Virus im Keim zu ersticken. Allen Zweifeln zum Trotz drängen Die jetzt veröffentlichten Resultate die einflußreichen Gruppen der Aids- sprechen dafür, daß das Kalkül aufgehen Aktivisten in den USA auf eine schnelle könnte. Wird das Virus gleichzeitig durch Zulassung der neuen Hoffnungsträger. Blocker von Proteinase und Reverse Bei einer unheilbaren Krankheit wie Transkriptase torpediert, scheint es sich Aids, so ihr Argument, sei ungewöhnli- zumindest vier bis fünf Monate lang nicht che Eile geboten. zu erholen. So werden die Proteinasehemmer ih- Aids-Aktivisten und Kliniker sehen ren Weg ins Standardarsenal der Aids- unterdes eine andere Gefahr voraus: Der Ärzte finden, längst ehe die Schlüssel- Pharmamix gegen Aids wird teuer. Noch frage beantwortet ist, die allein über den weigern sich Merck und Abbott, den langfristigen Erfolg entscheiden wird: Preis ihrer neuen Kreationen bekanntzu- Wann kommt es zu Resistenzen? geben. Doch Schätzungen von 20 000 bis „Das Aids-Virus ist das perfekte Bei- 40 000Mark pro Jahr füreine Kombinati- spiel Darwinscher Evolution“, erläutert onstherapie gelten als realistisch. Emilio Emini, Chefforscher bei Merck. Für die Millionen der in der Dritten Alle fünf Stunden werden im Körper ei- Welt dahinsiechenden Aids-Patienten nes Infizierten rund eine Milliarde HI- wird das ein unerschwinglicher Preis sein. Viren gebildet. Und jedes von ihnen ist Doch auch für die USA prognostiziert ein Unikat, das sich an irgendeiner Stel- das Nachrichtenmagazin Time bereits ei- le seines Erbguts von allen anderen Vi- ne paradoxe Entwicklung: „Je wirksamer ren unterscheidet. die HIV-Behandlung wird, desto weni- Dieser Variantenreichtum ist die ge- ger Amerikaner werden davon profitie- fährlichste Waffe des Erregers. Denn ren.“

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TECHNIK

Obwohl die Staatsanwaltschaft dies Spiegeln im Netz entstehen und wieder Datennetze nicht gefordert hatte, reagierte die Tele- verschwinden. Durch sogenannte Hy- kom prompt: In ihrem Netz T-Online perlinks im World Wide Web (WWW) blockte sie alle Verbindungen zum Inter- lassen sich Kontrolleure problemlos an net-Rechner von „Webcom“ ab –der Fir- der Nase herumführen: Beliebige Wör- Schweinkram ma in Santa Cruz, auf der neben den Da- ter in einem elektronischen Text kön- ten von etwa 1500 Anbietern auch Zün- nen durch digitale Markierung in Hin- dels Archiv lagert. weisschilder auf andere in den rund drauf Mit den Folgen hatten die rechtschaf- vier Millionen Computern des globalen fenen Deutschen nicht gerechnet. Inner- Netzes verborgene Inhalte verwandelt Die Internet-Gemeinde wehrt sich ge- halb weniger Tage solidarisierten sich werden. gen Zensur. Alle denkbaren Kontrol- ausgewiesen linke amerikanische Stu- Ein Beispiel: Am 2. Februar löste denten mit dem Erzrechten und über- Carnegie-Mellon-Student und Zensur- len lassen sich sowieso unterlaufen. spielten die braunen Daten auf die Rech- feind Declan McCullagh sein Zündel- ner ihrer Universitäten. Archiv nach nur drei Tagen wieder auf ieder hört man den Tritt derber Gegen dieses Daten-„Spiegeln“ ver- und hinterließ die Nachricht „Ich di- Stiefel. Sie stapfen hirnlos auf der sprechen die Maßnahmen der Telekom stanziere mich von diesem Material.“ WInfobahn herum“, zürnt ein Es- genausowenig Schutz wie mittelalterliche Wer auf das Wort Material klickte, sayist im Nachrichtenmagazin Time.Im Stadttore gegen Ameisenheere. Denn im fand die Nazi-Parolen prompt an ei- Internet schwebt der kantige Reichsadler Internet reisen die Nachrichten nicht wie nem anderen Ort im Netz wieder. über einer rotbraun eingefärbten deut- schen Landkarte. Der Vorwurf der Netz- Aktivisten: „Deutschland hat sich an die Spitze der Spitze der Internet-Zensoren gesetzt.“ Den Vorwurf können Juristen nicht verstehen. Mannheimer Staatsanwälte waren auf neonazistisches Gedankengut aufmerksam geworden: auf die Thesen des Ernst Zündel, eines alten Bekannten aus der Revisionistenszene, der sich ins kanadische Exil zurückgezogen hat, um von dort auf gewohnte Weise den Juden- mord im Dritten Reich zu bestreiten. Doch diesmal geht es nicht um hastig gedruckte Pamphlete, die Helfer über die Grenze schmuggeln. Seit Zündel auf ei- nem Rechner im kalifornischen Santa Cruz seine Hetzschriften elektronisch ar- chiviert, muß ihn das deutsche Verbot nicht mehr sonderlich kümmern: Jeder Computerbenutzer, der einen Internet- Zugang hat, kann sich mit einigen Maus- klicks die Zündel-Propaganda auf den

Bildschirm holen. D. POWAZEK Längst haben sich Extremistengrup- Protest gegen Internet-Zensur: Anstößiges Material? pen wie „Stormfront“ (Motto: „Weltwei- ter weißer Stolz“) auf dem Netz konstitu- bei einer Telefonverbindung von Punkt Auch das Deutsche Forschungsnetz iert und knüpfen Kontakte zwischen eu- zu Punkt. Der Datenstrom wird viel- (DFN), über das die Internet-Anbindung ropäischen Skinheads und Wirrköpfen mehr in kleine „Pakete“ unterteilt, die der meisten deutschen Hochschulen der amerikanischen „Bürgermilizen“. sich, einzeln mit Absender- und Zielko- läuft, verweigerte vorübergehend den Auch der pseudo-wissenschaftliche dierung versehen, ihre Wege durch die Transport von Zündels Daten. „Report“, mit dem der in Deutschland zahllosen im Internet verknüpften Doch nach einigen Tagen ließ DFN- per Haftbefehl gesuchte Fred Leuchter Rechnernetze suchen. Geschäftsführer Klaus-Eckart Maass die beweisen will, daß es in Konzen- Zwar hatten die Telekom-Ingenieure Sperre beenden: „Wir wollen Rechtsver- trationslagern keine Gaskammern gab, dafür gesorgt, daß in ihrem Netz die von stöße nicht dulden, aber dieser Fall hat liegt auf dem Internet bereit. Webcom kommenden Pakete nicht wei- uns gezeigt, daß das nicht der richtige Mit Zündel griffen sich die Mannhei- tergeleitet wurden. Als die Zündel-Sei- Weg ist. Wir hätten immer mehr Rechner mer Staatsanwälte den vermeintlich ein- ten jedoch unter anderen Adressen im sperren müssen.“ Dabei habe offenbar fachsten Fall heraus. Letzten Monat er- Internet auftauchten, ließen die wachsa- „erst die Kontrolle das Interesse an dem öffneten sie ein Ermittlungsverfahren ge- men Vermittlungsrechner sie passieren. Material geweckt“. gen ihn wegen des Verdachts der Volks- „Ich habe dieses Spiegel-Archiv nicht Die automatisierte Adressenkontrolle verhetzung. Ins Visier der Juristen gerie- eingerichtet, weil ich mit Zündels Poli- ist der Netzguerrilla gegenüber machtlos, ten auch die Betreiber der Online-Dien- tik übereinstimme“, begründet etwa Mi- eine inhaltliche Überwachung von Daten ste Compuserve, AOL Bertelsmann On- chael Loomis von der Carnegie Mellon schon aufgrund ihrer schieren Menge völ- line und T-Online: Geprüft wird, ob sich University in Pennsylvania seine Initiati- lig illusorisch. Allein durch das deutsche die Unternehmen der Beihilfe schuldig ve, „aber ich bin gegen Zensur.“ Hochschulnetz fließen im Monat rund gemacht haben, weil sie ihren Online- Um zu demonstrieren, wie undankbar vier Millionen Megabyte. Kunden den Zugang zu den verbotenen die Arbeit des Aufsehers ist, ließen die Im Fall Zündel versetzen deutsche Schriften ermöglichen. Aktivisten ein rundes Dutzend von Strafverfolger schon zum zweitenmal die

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TECHNIK

Internetgemeinde in Daten im juristischen mehr oder weniger Gemeingefährden- Aufruhr. Ende No- Sinne? Wer ist für den des und provozieren ihre Häscher mit vember vergangenen Inhalt verantwortlich? einem kämpferischen „Holt mich doch, Jahres hatte die Staats- Selbst nachdem ihr Wichser.“ anwaltschaft München Compuserve die bean- Immerhin eines stellt der vielgeschol- der deutschen Nieder- standeten Daten von tene Decency Act klar: Internet-„Provi- lassung von Compu- seinen Rechnern ge- der“, also Firmen, die lediglich den Zu- serve, einem der größ- löscht hatte, war es für gang zum Netz ermöglichen, aber kei- ten Online-Anbieter technisch Bewanderte nen Einfluß auf die Inhalte nehmen der Welt, einen Be- nicht schwierig, Zu- können, müssen in den USA keine such abgestattet. gang zu dem Material Strafverfolgung befürchten. Wen die Der Vorwurf: In ei- zu erlangen. Längst Justiz dann allerdings dingfest machen nigen Internet-Diskus- veröffentlichen Tüftler kann, entscheidet sich in einem Katz- sionsforen, die über im Netz die Daten- und-Maus-Spiel, in dem die Übeltäter Compuserver zugäng- adressen von anderen immer schon eine Runde weiter sind. lich sind, sei mit Kin- Newsservern, die das Wer heiße Ware, etwa Kinderpor- derpornographie ge- Gefahrgut weiterhin nos, verbreiten will, braucht dabei im handelt worden. Die verbreiten. Netz keine Spuren zu hinterlassen. Die Ermittler überreichten Die Versuche der Szene ist längst mit entsprechenden

rund 200 Namen soge- M. GÖBEL deutschen Staatsan- Programmen ausgerüstet. So läßt sich nannter Newsgroups, Neonazi Zündel wälte, durch dieses etwa das harmlose Smalltalk-Medium die an irgendeiner Dickicht juristische „Internet Relay Chat“ (IRC) zum ge- Stelle des Titels das Wort Sex führen, Schneisen zu schlagen, fallen in eine heimen Datentransport zweckentfrem- und legten Compuserve nahe, „entspre- Zeit, da die Internet-Volksseele ohne- den. chende Schritte“ zur Überprüfung zu hin kocht: Am 1. Februar verabschiede- Dazu wählen sich Interessenten in ei- unternehmen. te der US-Kongreß den „Communicati- nen der über tausend IRC-Kanäle ein, „Wenn wir die Inhalte dieser Foren ons Decency Act“. Danach muß in den die meist auf den Rechnern von Uni- selektieren müßten, würden wir Zensur USA künftig mit 250 000 Dollar Geld- versitäten eingerichtet sind und auf de- ausüben, und das lehnen wir ab“, er- strafe oder zwei Jahren Gefängnis rech- nen Quasselfreunde sich die Zeit ver- klärte Compuserve-Sprecherin Marielle nen, wer „anstößiges“ Material über treiben, ähnlich wie beim CB-Funk. Bureick. In bizarrer Logik sperrte die Online-Medien verbreitet. Die Eingeweihten melden sich mit Firma daher sämtliche fraglichen „Ein schwarzer Donnerstag für das „Anyone to trade?“ (Will einer was Newsgroups, und zwar, weil es tech- Internet“, klagte die Szenezeitschrift tauschen?) und beginnen mit Gleichge- nisch nicht anders ging, gleich für alle Wired. „Ein Begriff wie ,anstößig‘ ist ju- sinnten eine private Kommunikation. weltweit über vier Millionen Kunden. ristisch völlig unbrauchbar“, urteilt auch Ist man sich handelseinig, verschickt Bei amerikanischen Onlinern gilt Com- Thomas Hoeren, Spezialist für Medien- das Programm die brisanten Bilder von puserve seither als Feigling, die Rolle recht an der Universität Düsseldorf: Ei- einem Heimcomputer zum anderen – des Buhmanns fällt wiederum den deut- ne Prozeßlawine könnte die Folge sein, ohne daß Dritte etwas davon bemer- schen Behörden zu. welche die Regelung ad absurdum führt. ken. Der Uni-Rechner dient nur als Denn Compuserves undifferenzierter Wie eine Horde trotziger Kleinkinder Durchreiche. Notbremsung fielen nicht nur schmud- garnieren nun unzählige Online-Aktive Fast scheint es, als wollten die Staats- delige Digitalpornos zum Opfer, son- ihre WWW-Seiten mit Verweisen auf anwälte in München und Mannheim dern auch Foren von mit ihren Sisyphus-Ver- Selbsthilfegruppen und fahren den Gesetzgeber Safer-Sex-Informationen. zwingen, sich endlich mit Medienwirksam ließen der schwer greifbaren protestierende Schwulen- Materie auseinanderzuset- organisationen vor dem zen. Von Politikern gibt Goethe-Institut in San es in Sachen Internet be- Francisco Beck’s Bier in stenfalls wolkige Absichts- den Gully rinnen. erklärungen. Mit der Verfolgung der So forderte Zukunfts- Newsgroups haben sich minister Rüttgers auf ei- die Ermittler auf Treib- nem internationalen Tele- sand begeben – Vorschrif- kom-Kolloquium vorletz- ten über diese Form der te Woche die G7-Staaten Nachrichtenverbreitung auf, ein „international gül- gibt es in keinem Gesetz. tiges Regelwerk“ zu erar- Zwar steht bei jedem On- beiten. line-Service ein Rechner, Wie das in der Praxis der die Kunden mit den aussehen könnte, malte gewünschten Nachrichten sich, rührend naiv, ein beliefert. Doch alle der Sprecher des Ministeriums ungezählten „Newsserver“ so aus: „Die Behörden ei- stehen untereinander in nes Landes könnten die Kontakt und tauschen, Behörden eines anderen gleichsam als globale Landes informieren: Da Pinnwand, die Diskussi- ist ein Server bei euch, da onsbeiträge des Publikums ist Schweinkram drauf, aus. Wem gehören diese Zündel-Pamphlet im Internet: Die Wächter sind machtlos stellt das mal ab.“ Y

158 DER SPIEGEL 7/1996 Werbeseite

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WISSENSCHAFT

Ernährung Falsche Früchte In britischen Supermärkten gibt es jetzt Tomatenpüree aus dem Gen- labor – bald auch in Deutschland?

igentlich wollte die Biofirma Zene- ca gleich das ganze britische Insel- Evolk mit der blutroten Pampe zu- schütten. Doch die magere Ernte reich- te nur für ausgewählte Supermärkte. 800 000 Blechbüchsen mit Tomatenpü- ree liegen seit vergangener Woche in

den Regalen. „Probiert, wie die Zu- WILSON / GAMMA / STUDIO X kunft schmeckt“, umwirbt Zeneca-Ma- Tomatenpflanzen im Genlabor: „Signale aus der schönen neuen Welt“ nager Simon Best seine Landsleute. Mit dem Zeneca-Mus kommt erstmals zwecken ein Antibiotika- Die staatlichen Lebens- ein gentechnisch verändertes Lebens- Resistenzgen eingepflanzt mittel-Überwacher rüsten mittel auf den europäischen Markt. Im worden. Gentechnik-Kri- für den Ernstfall. „In we- Erbgut der Püree-Tomaten haben Mole- tiker fürchten, die verspei- nigen Jahren werden gen- kularbiologen ein Gammel-Gen ausge- sten Tomaten könnten im veränderte Lebensmittel schaltet. Auch nach drei Wochen sollen Darm lebenden Krank- unseren Markt über- die falschen Früchte noch knackig frisch heitskeimen ihre Abwehr- schwemmen, auch illegal aussehen. So spart die Industrie Kosten: formel gegen Antibiotika eingeführte“, warnt Ge- Die haltbaren Gen-Tomaten können zustecken. org Schreiber vom Berli- ohne Matschverluste über weite Strek- Doch Gen-Übertragun- ner Bundesinstitut für ge- ken transportiert werden. gen dieser Art passieren sundheitlichen Verbrau- Proteste gegen den neuen Gen-Fraß beim Essen ständig. Mit cherschutz und Veterinär- blieben aus. Engländer sind Allesesser. jedem zerkauten Salat- medizin (BgVV). Von „Bin ich wirklich der einzige“, fragte blatt flutschen Millionen mehreren Labors ließ das Prinz Charles verzweifelt, „der über die von Bodenbakterien in BgVV Meßverfahren te- SAINSBURY ersten Signale aus der schönen neuen den menschlichen Körper, Gen-Tomatenpüree sten, mit denen sich Gen- Welt besorgt ist?“ die gegen bestimmte Anti- manipulationen in Kartof- Auch in Deutschland könnte Zeneca biotika resistent sind. „Von der Auster feln oder Joghurtkulturen aufspüren las- seine Pampe aus der Techno-Frucht je- bis zur Artischocke verschlucken wir sen. derzeit in die Läden bringen. Der Kon- fremde Gene, jeden Tag mehrere Die Freiburger Firma Hydrotox bietet zern benötigt keine Genehmigung, er Gramm DNS“, sagt der Molekularbio- demnächst Privatkunden den Service an, müßte die Behörden nicht einmal infor- loge Walter Doerfler von der Uni Köln. nach Genveränderungen in Fleisch und mieren. Denn das Gentechnik-Gesetz „Wer das vermeiden will, muß aufhören Gemüse zu fahnden. „Will etwa ein Ba- regelt nur den Umgang mit lebenden, zu essen.“ bynahrungshersteller seinen Kunden vermehrungsfähigen Organismen. Probleme können allerdings Allergi- gentechnikfreien Brei garantieren“, sagt Unter diese Kategorie fällt zwar die ker bekommen, wenn die Gene ver- Geschäftsführer Rolf Willmund, „weisen genveränderte Tomatenfrucht – nicht schiedener Tiere und Pflanzen immer wir anhand von Stichproben nach, ob die aber der daraus gepreßte Brei, Saft oder wieder neu kombiniert werden. Wer gelieferten Tomaten koscher sind.“ Ketchup. Die Gesetzeslücke würde erst kein Fischeiweiß verträgt, darf auch Zu diesem Zweck wird ein molekula- durch die „Novel-Food“-Verordnung nicht jene Tomaten essen, die das „An- rer Spürhund auf das Tomaten-Erbgut geschlossen, die das Europaparlament ti-Frost-Gen“ einer in arktischen Ge- losgelassen, der gezielt nach dem verän- im nächsten Monat verabschieden will. wässern lebenden Schollenart enthalten, derten Gen sucht. Der Aufwand ist groß. Fraglich ist nur, ob Zeneca in damit die Pflanzen bei kühler Witterung „Über Datenbanken“, so Willmund, Deutschland einen Händler fände. Bei wachsen können. Allergiker sind des- „müssen wir ständig die Szene beobach- den Verbrauchern haben genveränderte halb auf einen Warnhinweis auf der ten, damit uns keine neu eingeführte Speisen und Getränke kaum Chancen. Verpackung angewiesen. Gensequenz entgeht.“ Umfragen zufolge lehnt es eine Zwei- Nach dem vorliegenden Entwurf der Unter günstigen Umständen werden drittelmehrheit strikt ab, den unheimli- EU-Kommission für die „Novel-Food“- die Freiburger Gen-Detektive sogar chen Gen-Fraß zu kaufen. Verordnung sollen aber allein solche dann noch fündig, wenn die Tomaten Ob der Verzehr der Anti-Matsch-To- Gen-Speisen gekennzeichnet werden, längst zu Püree für Pizza oder Pasta ver- mate, bei der ein vorhandenes Gen die sich in „signifikanter Weise“ von manscht worden sind. Es müssen nur ge- blockiert wird, gesundheitlich unbe- herkömmlichen Lebensmitteln unter- nügend Gen-Schnipsel vorhanden sein. denklich wäre, ist noch umstritten. Wie scheiden. Da bleibt viel Spielraum für Willmund ist zuversichtlich: „Mit kri- bei fast allen genmanipulierten Organis- Interpretationen – mit Etikettenschwin- minalistischer Feinarbeit kriegen wir das men ist den Früchten aus Markierungs- del muß gerechnet werden. hin.“ Y

160 DER SPIEGEL 7/1996 Werbeseite

Werbeseite TECHNIK 35 Techniker arbeiten zur Zeit am er- zigarrenförmigen Ballon befestigt, den Luftfahrt sten Exemplar der neuen Luftschiffgene- nur der Gasdruck in Form hält. Die Be- ration namens Zeppelin NT. Das Kürzel zeichnung hat einen lautmalerischen Ur- steht für „Neue Technologie“. Den An- sprung. Zur Prüfung der Prallheit wird stoß dazu gab Mugler als oberster Sach- mit dem Finger gegen den Gaskörper Kinder des walter des Zeppelin-Erbes vor acht Jah- geschnippt. Ist er gut voll, macht es ren. Die Idee entsprang einer Mischung „Blimp“. von Geschäftssinn und Nostalgie. „Wir Unter Nostalgikern der Luftschiffahrt Grafen alle“, sagt Mugler, „sind Kinder der Ent- sind die Blimps verpönt, obgleich die be- wicklungen des Grafen.“ vorstehende Zeppelin-Renaissance zwei- Der erste Zeppelin der Nachkriegs- Das Firmenimperium am Bodensee fellos von den simplen Repliken profi- mit weltweit 35000 Angestellten, das tiert. Ohne sie gäbe es keine ausge- zeit wird am Bodensee gebaut – im heute im wesentlichen aus dem Getriebe- bildeten Luftschiffpiloten mehr. Scott Dienst von Wissenschaft und Frei- hersteller ZF besteht, gehört zu der Stif- Dannecker, der erste Testflieger im neuen tung, die Luftfahrtpionier Ferdinand Graf Friedrichshafener Zeppelin-Werk kommt zeitspaß. Zeppelin 1908 gegründet hatte. Luft- vom amerikanischen Blimp-Hersteller schiffe wurden dort nicht mehr gebaut, Westinghouse. n Interessenten mangelt es nicht. seit Reichsluftfahrtminister Hermann Für beschauliche Gleitflüge mit Passa- Wissenschaftler, Regierungen, Göring 1940 allen fliegenden Gasgurken gieren sind Blimps schon deswegen AKaufleute und Reiseveranstalter den Garaus machte („Nee, meine Herren, kaum geeignet, weil ihre Motoren man- melden sich aus allen Erdteilen. Alle mit det is nischt“). Der Krieg ging vor. gels anderer Haltepunkte direkt an die demselben Wunsch: Sie wollen einen Es gibt keine Zeppeline mehr, abgese- Gondel montiert sind, was die Fluggäste Zeppelin. hen von sogenannten Blimps, die gele- ohrenbetäubendem Getöse aussetzt. Etwa 60 ernstzunehmende Anfragen, gentlich als schwebende Litfaßsäulen am Der Zeppelin NT dagegen wird wie sagt Max Mugler, Geschäftsführer der Himmel erscheinen, den Namen des Gra- seine Vorfahren über einen starren Rah- Zeppelin Luftschifftechnik GmbH, seien fen aber nicht tragen dürfen. Äußerlich men im Gaskörper verfügen. Seine drei im Laufe der vergangenen Jahre in Fried- gleichen sie den historischen Vorbildern, Motoren, zwei seitlich, einer im Heck, richshafen eingetroffen, seit die Kunde sie sind jedoch anders konstruiert. können deshalb im Bereich der Außen- geht von der Rückkehr der fliegenden Ein Blimp hat keinen tragenden Rah- haut befestigt werden – zugunsten von Riesen. men. Seine Gondel ist mit Seilen an dem Komfort und Manövrierfähigkeit. Höchste Sicherheitsstandards schwe- ben den Friedrichshafener Luftschiffern vor. Im Vorfeld der Neukonstruktion ver- tieften sie sich in Unfallanalysen aus dem Zeppelin-Archiv. Im Gegensatz zum Fa- brikgelände hatte die Schriftensammlung die Kriegswirren unversehrt überstanden. „Kurze Anleitungen und praktische Winke für die Führung von Zeppelin- Luftschiffen“ zählen zum überlieferten Material; verfaßt wurde der Leitfaden von Hugo Eckener, dem 1954 gestorbe-

WERKFOTO ZEPPELIN nen prominentesten Luftschifflenker aus Geplanter Zeppelin NT (Zeichnung): Jungfernflug in einem Jahr der Zeit der großen Transatlantikflüge. „Ruhig Blut behalten“, gemahnt Eckener etwa bei Leckagen an den Gaszellen. „Es macht nichts, wenn das Schiff vorerst eine Weile durchfällt, wenn man sich nicht gerade nahe über dem Boden befin- det.“ Spektakuläre Havarien markieren die bewegte Zeppelin-Historie der ersten Jahrhunderthälfte. 118 der 162 nach gräf- licher Art gebauten Luftschiffe endeten durch Unfälle. Die Serie der Bruchlan- dungen begann im Jahr 1900, als Zeppe- lins erstes Luftschiff, die LZ 1, bäuch- lings in den Bodensee klatschte. Der He- bel des Laufgewichts, das den Schwe- bekörper in der Balance hält, war gebro- chen. Die Serie der Unfälle endete mit der Explosion der „Hindenburg“ 1937 im amerikanischen Lakehurst, als aus bis heute ungeklärten Gründen die Wasser- stoffüllung Feuer fing. 35 Insassen star- ben in den Flammen.

K. SCHÖNE / ZEITENSPIEGEL * Mit einem Leichtbauträger für den Tragrahmen Zeppelin-Chef Mugler*: Kabine im Kleinbusformat des Zeppelin NT.

162 DER SPIEGEL 7/1996 SÜDD. VERLAG Luftschiff „Graf Zeppelin“ bei der Landung (1928)*: „Ruhig Blut behalten, es macht nichts, wenn das Schiff durchfällt“

Die extreme Feuergefahr ist heute ge- schlossen werden. Mit seinen schwenk- An Größe kann es der Nachwuchs- bannt, denn alle Luftschiffe fahren in- baren Propellern soll er als erstes Luft- Zeppelin nicht annähernd mit den Luft- zwischen mit Helium, das etwas weni- schiff der Welt ähnlich wie ein Hub- schiffen der dreißiger Jahre aufnehmen, ger tragfähig als Wasserstoff, dafür aber schrauber gleichsam im Stand lenkfähig die über 200 Meter lang waren und bis zu unentflammbar ist. Große Gefahren sein. Er werde aus eigener Kraft am Bo- 127 Reisende in hotelähnlichen Riesen- drohen nur noch von der Witterung. den aufsetzen, sagen die Erbauer. Erst gondeln mit Rauch- und Lesesaal trans- Stürme zerfetzten etliche der fliegenden dann müsse ein Helfer eingreifen, um die portierten. Der 68,4 Meter lange Zeppe- Riesenzigarren, unter ihnen das giganti- Ankerleine am Bodenmast zu befestigen. lin NT wird nur eine Kabine im Klein- sche US-Marine-Luftschiff „Macon“ Die sanfte Landung soll bis zu Wind- busformat für zwölf Passagiere und zwei vor der Küste Kaliforniens im Februar geschwindigkeiten um Stärke 7 (55 Mann Besatzung tragen. 1935. km/h) funktionieren. In der Luft, behaup- Beschauliche Fernreisen werden also Besonders schwierig sind Lande- ten die Konstrukteure, werde der Zeppe- nicht geboten. Gut die Hälfte der Anfra- manöver bei starkem Wind, denn ein lin NT auch Orkanböen bis zu 130 km/h gen kommt von Wissenschaftlern oder Luftschiff bisheriger Bauart läßt sich nur abwettern, dabei allerdings kaum noch Behörden, die den Gasgleiter für Beob- steuern, solange es Fahrt macht. Kommt Fahrt machen. Seine Höchstgeschwin- achtungszwecke einsetzen wollen. Die es zum Stillstand, ist es jedem überra- digkeit liegt bei 140 km/h. andere Hälfte bilden Reiseveranstalter, schenden Windstoß ausgelie- die von Rundflügen an gutbe- fert. suchten Urlaubsorten träumen. Auch kleinere Blimps kön- Laut Luftschiffbauer Mugler ist nen deshalb bei der Landung die „übersättigte Freizeitgesell- oft nur durch Dutzende von schaft“ reif für derlei Attraktio- Helfern gebändigt werden. Das nen. Die Investition von 11,5 gefährliche Manöver forderte Millionen Mark für einen Zep- im Mai 1994 zwei Opfer im pelin NT einschließlich Pilo- hessischen Gießen. Die beiden teneinweisung könne sich rasch Männer zählten zur Bodencrew bezahlt machen. eines landenden Werbe-Blimps. Schon heute treffen Angebo- Als sie sich an die Halteringe te für Teilnahmen am Jungfern- klammerten, wurde das Luft- flug im Frühjahr 1997 bei Mug- schiff abrupt von einer Bö em- ler ein. Der württembergische porgerissen. Der Pilot sah die Briefmarken-Großhändler Her- beiden nicht, startete durch und mann Walter Sieger aus Lorch stieg auf 100 Meter Höhe. Von bestellte schon fünf Flugkarten dort stürzten die Helfer entkräf- für je 10 000 Mark. tet zu Boden. Über den genauen Tarif wol- Beim neuen Zeppelin NT le er gern noch verhandeln: soll ein solches Unglück ausge- „Wenn Sie denken“, schrieb er dem Zeppelin-Chef, „daß es * Oben: in Staaken bei Berlin, mit Ber- zweckmäßig und richtig wäre, liner Schutzpolizisten als Helfer beim den Preis etwas zu erhöhen – Heranziehen an den Landemast; unten: an Bord der „Hindenburg“ auf dem Flug M. EHLERT / DER SPIEGEL ich würde mitziehen, ja, ich nach Rio de Janeiro. Zeppelin-Reisende (1936)*: Riesengondeln wie Hotels würde es sogar empfehlen.“ ™

DER SPIEGEL 7/1996 163 Werbeseite

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frontal auf einen harten Kern geprallt, Jahren das letzte und schwerste Quark, Atomphysik schwirrten die Fragmente in alle mögli- das „Top“, gefunden hatte (SPIEGEL chen Raumrichtungen auseinander. 18/1994) – eine Entdeckung, die zu- Seit die CDF-Truppe ihre Ergebnisse nächst als triumphale Bestätigung des Ende Januar zur Veröffentlichung ein- sogenannten Standardmodells galt. Harter Kern gereicht hat, sind die Teilchenphysiker Jetzt wankt das Theoriegebäude, er- in Aufruhr. „Wenn das stimmt, dann schüttert von eben jenen Physikern, Neue Daten vom Chicagoer Fermilab wäre es sehr, sehr wichtig“, sagte etwa die seine Fundamente soeben erst ge- erschüttern die Fundamente der Guido Altarelli von der europäischen festigt zu haben schienen. Möglich ge- Teilchenforschungsfabrik in Genf. Pe- macht hat das die enorme Energie des Physik. Lassen sich Quarks spalten? ter Zerwas, leitender Theoretiker bei Ringbeschleunigers Tevatron, der den Desy in Hamburg, pflichtet ihm bei: Detektor CDF mit Protonen und Anti- ie rätselhaften Teilchensplitter wa- „Das wäre eine Revolution.“ protonen versorgt. Wie ein giganti- ren unvorstellbar winzig. Sie leb- „Streuung unter großen Winkeln“ ist sches Mikroskop erlaubt die Maschine Dten nur Bruchteile von Sekunden. unter Physikern ein Begriff mit Magie. Blicke bis tief in das Proton hinein. Und doch könnten sie die Physik in ih- Schon zweimal stand er am Beginn ei- Noch zehntausendmal kleiner als der ren Grundfesten erschüttern. ner Umwälzung ihres Weltbilds. Kernbaustein selbst sind die jetzt er- Seit William Carithers rund 1500 die- 1911 bombardierte der englische spähten Strukturen: ein hundertmilli- ser subatomaren Ereignisse beobachte- Physiker Ernest Rutherford Goldfolie onstel milliardstel Zentimeter. Doch te, stellt sich der Hochenergiephysiker mit Alphateilchen, den Kernen von das ist genug, das Standardmodell in vom Fermilab in Chicago ketzerische Heliumatomen. Gemäß dem damals Frage zu stellen, eine Theorie, die von Fragen: Sind Quarks, jene als funda- vorherrschenden „Plumpudding-Mo- den Physikern wie ein Heiliger Gral mentale Bausteine aller Materie gelten- dell“ der Atome glaubte er, seine Pro- der Weisheit gehütet worden war. Vorerst bemühen sich die Forscher noch, ihre in jahr- Kleinere kleinste Teile zehntelanger Detailarbeit ge- Neue Erkenntnisse über die Struktur der Atome wonnene Vorstellung von der Struktur der Materie zu ret- 1 Zu Beginn dieses 2 Die moderne Physik 3 Neutronen und 4 Jüngste Experi- ten. Möglicherweise, so argu- Jahrhunderts hielt man erkannte, daß das Atom Protonen bestehenaus mente am Fermilab mentieren einige, seien bei Atome für die kleinsten, überwiegend „leer“ ist je drei Quarks, die nach deuten darauf hin, den Experimenten Quarks unteilbaren Bausteine und einen Kern aus Pro- ihrer Ladung als „up“ daß auch Quarks nur unter extrem ungewöhnli- der Materie. tonen und Neutronen oder „down“ bezeich- wiederum aus noch chen Umständen aufeinander- sowie eine Hülle aus net werden. kleineren Teilchen geprallt, oder ein bislang un- Elektronen besitzt. bestehen. Neutron: bekanntes Teilchen habe die Kollisionen verfälscht. Sehr überzeugend klingen up down derlei Erklärungen kaum, zu- mal auch sie nur mühsam mit down dem Standardmodell zu ver- söhnen sind. „Auf jeden Fall Proton: ist das ein Schlag gegen die bisherige Theorie“, sagte die up Quark Forscherin Brenna Flaugher Elektron up nach der sorgfältigen Analyse der Daten. „Es wird sich noch down zeigen, wie schmerzhaft er ist.“ Einfach haben sich die CDF-Physiker ihren Anschlag den Teilchen, gar nicht fundamental? jektile auf strukturlose, gallertartige auf das Glaubensbekenntnis ihrer Zunft Lassen sie sich vielleicht sogar spalten? Kugeln zu schießen. Zu seiner Ver- nicht gemacht. Drei Jahre lang stritten Auf diese Gedanken brachten ihn und blüffung jedoch schienen fast alle Al- sie untereinander, ob nicht doch ein seine 443 Team-Kollegen subatomare phateilchen die Goldfolie praktisch un- Fehler der Meßapparatur für die uner- Karambolagen, bei denen die Trümmer gehindert zu passieren. Dafür jagte je- warteten Ergebnisse verantwortlich sei. in völlig unerwartete Richtungen aus- des 8000. Geschoß unter besonders Dann erst wagten sie sich an die Öffent- einandergespritzt waren. Milliardenfach großen Winkeln davon: Sie waren auf lichkeit. hatten die Physiker in ihrem haushohen den Kern eines Goldatoms geprallt Waren die Experimentatoren in den Meßgerät, dem sogenannten CDF und wie Billardkugeln in den Raum letzten Jahrzehnten schon frustriert, daß (Collider Detector at Fermilab), Proto- gestreut worden. ihnen nur noch die Aufgabe zukam, mit nen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit Anfang der siebziger Jahre gaben immer größerem Aufwand die Vorher- gegen Antiprotonen geschleudert. wiederum ungewöhnlich hohe Streu- sagen der Theoretiker zu bestätigen, so Milliardenfach waren die Bruchstücke winkel den ersten Hinweis darauf, daß könnte sich das jetzt grundlegend än- nach der Kollision, nur geringfügig ab- auch in den Bausteinen des Atom- dern: Nun ist es Aufgabe der Theoreti- gefälscht, geradeaus weitergeflogen – kerns, den Protonen und Neutronen, ker, die Erklärung für das Rätsel vom als seien sie durch einen weichen, struk- noch kleinere Elementarteilchen ihrer Fermilab zu liefern. turlosen Gegenstand fast widerstandslos Entdeckung harrten: die Quarks. Noch herrscht weitgehend Ratlosig- hindurchgerast. Doch bei jenen 1500 Inzwischen haben die Hochenergie- keit. „Es gibt zwar Spekulationen über Zusammenstößen war offensichtlich et- physiker sechs verschiedene Quarks Subteilchen im Quark“, sagt Desy-For- was Ungewöhnliches passiert: Als seien identifiziert. Ausgerechnet Carithers’ scher Zerwas. „Aber wirklich funktio- sie irgendwo im Innern eines Quarks Truppe war es, die vor knapp zwei nieren tut keine von ihnen.“ Y

166 DER SPIEGEL 7/1996 Werbeseite

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WISSENSCHAFT PRISMA

Computer Urahn entstaubt

Eniac, der Urahn aller modernen Computer, soll nächste Wo- che, zu seinem 50jährigen Jubiläum, noch einmal feierlich in Betrieb genommen werden. Techniker der University of Penn- sylvania haben dieTeile, dievondem ersten vollelektronischen Rechner der Welt übrig sind, wieder zusammengesetzt. Die Rechenmaschine wog ursprünglich 30 Tonnen und erreichte mit 18000Elektronenröhren eine Rechengeschwindigkeit, die ihre elektromechanischen Vorgänger, etwa die Z3 des Deut- schenKonrad Zuse, um dasTausendfache übertraf. Eniacs Ar- beitsspeicher von einem Kilobyte war vieltausendfach kleiner als der Speicher moderner Heim-PC. Dennoch reichte er den US-Militärs für komplizierte Simulationsberechnungen, die für den Bau der Wasserstoffbombe nötig wurden. Eniac wurde 1955 nach über neun Jahren ausrangiert. Die Hälfte der Zeit

AP hatten nicht Wissenschaftler, sondern Elektriker an ihm gear- Eniac-Computer beitet: Täglich gingen zwei Röhren zu Bruch.

Medizin Flugerlaubnis für Herzkranke Bisher gingen Ärzte davon aus, der in den Kabinen von Passagierflugzeugen herr- schende Unterdruck vermindere bei Herzkranken die ohnehin niedrige Sauerstoff- sättigung der roten Blutkörperchen, was zu Durchblutungsstörungen am Herzen oder im Gehirn führen könne. Das Ergebnis einer Studie niederländischer Medizi- ner läßt diese Sorge nun alsunbegründet erscheinen. Die Forscher setzten Patienten mit angeborenen Herzmißbildungen zuerst in einer Druckkammer, dann bei realen

Jet-Flügen dem verminderten Druck aus. Die Analysen zeigten, daß die während W. SCHURIG / OKAPIA der echten und simulierten Flüge gemessene Sauerstoffversorgung des Blutes bei Luchs herzkranken Fluggästen weniger beeinflußt wurde als bei gesunden Kontrollperso- nen. Die Autoren der Studie folgern, daß Flugreisen auch für Herzkranke kein be- Artenschutz sonderes Risiko darstellen. Allerdings sollten begleitende Streßfaktoren wie etwa Kofferschleppen nicht unterschätzt werden. Die Ärzte raten den Kranken daher, Jagd frei auf Luchse nie ohne eine über ihren Zustand informierte Begleitperson zu reisen. Erst in den letzten Jahren hat die nor- wegische Regierung gegen die Einwän- Multimedia ihre Ängste und Wünsche sprechen. de der Artenschützer eine beschränkte Das Projekt ist vor allem für Kinder Anzahl von Walen und Robben zum Phantasiewelt gedacht, die aufgrund ihrer Krankheit Abschuß freigegeben. In den kom- oder der Therapie längere Zeit streng menden zwei Monaten soll nun auch für kranke Kinder isoliert leben müssen. fast ein Drittel der Luchse in dem skandinavischen Land erlegt werden Amerikas Golfkriegsheld Norman dürfen. Das ist die höchste Jagdquote Schwarzkopf, der den TV-Zuschauern seit über 120 Jahren. Auch weibliche weltweit so anschaulich die Treffsicher- Tiere mit Jungen dürfen bejagt wer- heit amerikanischer Laserbomben er- den. Nach der letzten offiziellen Schät- läuterte, hat einen neuen multimedia- zung aus dem Jahr 1990 liegt der Rest- len Job. Er ist oberster Spendensamm- bestand bei kaum mehr als 300 bis 400 ler der Starbright Foundation. Diese Tieren. Luchse werden von Viehzüch- Stiftung, die schwerkranken Kindern in tern als Bedrohung ihrer Schafherden Kliniken bei der Bewältigung von angesehen, die den Sommer über un- Schmerz und Streß helfen will, hat dazu beaufsichtigt in den Bergen grasen. einen multimedialen Verbund geschaf- Die meisten der scheuen Raubkatzen fen: die Starbright World. Mit Hilfe ei- leben in der nur schwer zugänglichen nes Computers können die Kinder je- Fjellandschaft Mittelnorwegens. Im weils in eine Cartoon-Figur schlüpfen Nachbarland Schweden liegt der und dann eine Phantasiewelt mit Wü- Luchsbestand bei rund 1000 Exempla- sten, Bergen, Flüssen und Wasserfällen ren. Dort werden aber nicht mehr als erkunden, sich mit ihren Mitspielern in 45 Tiere zum Abschuß freigegeben. entfernten Kliniken über das Gesche- Norwegen ist Mitunterzeichner der

hen auf dem Bildschirm austauschen MOUNT SINAI HOSPITAL Berner Konvention, die bedrohte Tie- oder auch über ihre jeweilige Situation, Krebspatient, „Starbright“-Computerspiel re unter Schutz stellt.

168 DER SPIEGEL 7/1996 Werbeseite

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Werbeseite Fresko-Detail aus dem Treppenhaus der Würzburger Residenz (mit Amerika-Szene): Farbenglut und Form-Ekstase

Kunst Wellenritt des Zauberers Tiepolos Deckenfresko im Treppenhaus der Würzburger Residenz gilt als eines der größten Kunstwerke des Abend- lands. Von einem „Zeremonialweg“ aus sollen es die Besucher einer dort eigens inszenierten Ausstellung jetzt neu sehen. Jüngere Forschungen enthüllen höfische Funktion und ironische Untertöne des Kolossalgemäldes.

mpfang bei Hofe – eine wahrhaft sätzliche Gestalten auf, vor allem aber Schon seinen Zeitgenossen mag es, erhebende Zeremonie. Stufenweise scheint der Himmel sich zu öffnen – ein vor fast zweieinhalb Jahrhunderten, Esteigt der Gast zu höheren Sphären dramatisch bewegtes Firmament in merkwürdig vorgekommen sein, daß auf. In der dämmrigen Eingangshalle Hellblau, Rosa und Gewittergrau, von die prachtvolle Empfangskulisse weder des Palastes wird er nach links zu einer überirdischen Lichtwesen durchflat- Papst noch Kaiser noch König zu Prunktreppe geleitet, und schon von de- tert. Diensten war, sondern nur einem ren Fuß aus erfaßt sein Blick ein locken- Dann, als würde die Einstellung abge- Fürstbischof von Würzburg, Carl Phil- des Fernbild in der Höhe: blendet, entschwindet das gemalte Ge- ipp von Greiffenclau. Gerahmt durch den Bogen über dem tümmel; architektonische Raumelemen- Ausgerechnet dieser geistliche Duo- Treppenaufgang, erscheint eine exoti- te schieben sich ins Blickfeld. Erst die dezherrscher hat sich in seiner Resi- sche Tier- und Menschengruppe, aus Kehrtwendung des Besuchers auf dem denz eine beispiellose Apotheose des der eine bräunliche Frauenschönheit Treppenabsatz läßt, wie nach einem Absolutismus auf 677 Quadratmeter aufragt, im Federschmuck, mit bloßen Schnitt, eine neue Episode beginnen: Gewölbefläche malen lassen; der vene- Brüsten und wegweisender Gebärde. Die Randfiguren an der Deckenwöl- zianische Künstler Giovanni Battista Beim gemessenen Gang hinauf – ra- bung ordnen sich zu Triumphzügen in Tiepolo (1696 bis 1770) lieferte damit sches Treppensteigen entspräche nicht Richtung auf eine zentrale Szenerie, sein Meisterwerk. dem Protokoll – weitet sich die Perspek- und über dieser schwebt, von Putten Standesgenossen und Lehnsleute des tive Schritt für Schritt. Wie in einem und allegorischen weiblichen Gestalten Fürstbischofs müssen es beim offiziel- Film tauchen von rechts und links zu- emporgetragen, das Bild des Souveräns. len Entree als rauschendes, wenngleich

172 DER SPIEGEL 7/1996 KULTUR minutenkurzes Schauspiel erlebt ha- rühmten Fresken imTreppenhaus und im geschätzt, dessen Werk alsbald „gese- ben. sogenannten Kaisersaal präsentiert Aus- hen und vergessen“ sei (Johann Joachim So wie sie sollten, zumindest probe- stellungsleiter Krückmann zugehörige Winckelmann), sie haben ihm „wu- weise und zur Einstimmung, auch heu- Skizzen in Öl und Kreide, außerdem chernde Ausartung“ (Jacob Burck- tige Besucher das Würzburger Trep- Leinwandbilder, die Tiepolo während hardt) und „anachronistische Rhetorik“ penhausfresko anschauen, statt sich seines dreijährigen Würzburg-Aufent- (Roberto Longhi) vorgeworfen. Doch gleich bei peniblem Detailstudium die halts nebenher für diverse Interessenten Tiepolos Werk blendet nicht nur mit Hälse zu verrenken. Das fordert der schuf. Und auch die Künstlersöhne Gio- Oberflächenglanz, es offenbart eine be- Münchner Experte Peter O. Krück- vanni Domenico und Lorenzo, vom Va- sondere „Intelligenz der Malerei“ – so mann. Nach seiner Überzeugung ist ter als Gehilfen mitgebracht, werden ge- schreiben die angelsächsischen Kunsthi- die gewohnte „touristische oder selbst würdigt. storiker Svetlana Alpers und Michael kunsthistorische“ Sehweise schuld dar- Der Katalog erhellt, nicht nur mit Baxandall in einem schwungvollen Es- an, daß „eines der größten Kunstwerke Krückmanns plausibler „Zeremonial- say, der dieser Tage auch auf deutsch er- des Abendlandes in seiner komplexen weg“-Analyse, politische wie kunsthisto- scheint**. Struktur bisher nur ansatzweise er- rische Hintergründe des Dekorations- Tiepolo, erklären die Autoren, bricht kannt wurde“: Erst von den Stationen projekts und referiert überraschende mit der Tradition des geschlossenen er- des „Zeremonialwegs“ her, aus einer maltechnische Einsichten aus einer zählerischen Bildmotivs, er bevorzugt Folge festgelegter Blickwinkel betrach- gründlichen Untersuchung der Treppen- „Entdeckungsszenen, die das Schauen thematisieren“, und split- tert die Komposition asymmetrisch in getrenn- te Figurengruppen auf. Er läßt dem Betrachter keine Ruhe, sondern for- dert ein „Auge auf Bei- nen“, während er selbst geschmeidig auf wech- selnde Lichtverhältnisse im jeweiligen Raum rea- giert, etwa auf die Refle- xe vom Wasserspiegel ve- nezianischer Kanäle – „ganz wie ein Wellenrei- ter, der nach der perfek- Tiepolo-Entwurfszeichnung, Tiepolo-Fresko-Detail (Mars): Akt auf dem Karton ten großen Welle Aus- schau hält“. hausdecke im vergan- Diese Herausforderung erlebte er in genen Jahr. Wie Tiepo- Würzburg. Keine Kirche und kein Palaz- lo das Riesenwerk be- zo, für die Tiepolo schon Altarbilder und wältigte, wird nach all- Fresken gemalt hatte, nahm esan Dimen- dem ein Stück klarer. sion und künstlerischem Rang mit der Von der „großen Residenz der fränkischen Fürstbischöfe Kunsterfahrenheit“ auf. seines Auftragnehmers In einer „fast gahr zu großen Idea“, wie hatte der Fürstbischof, einer von ihnen beklommen notierte, laut einem Aktenver- hatten sie sich seit 1720 unter der Leitung merk, „vollkommen des Architekten Balthasar Neumann ein persuadirt“ sein kön- prächtiges Barockschloß mit 168 Meter nen. Tiepolo, dessen breiter Fassade bauen lassen. Neumanns Persönlichkeit sich der Handschrift trägt insbesondere der Re- Nachwelt fast nur noch präsentationsbereich samt dem riesigen, aus seinen Werken er- technisch kühn von einem einzigen fla- schließt, stand auf der chen Gewölbe überspannten Treppen- Höhe seiner Fähigkei- haus. ten und seines europäi- Fürstbischof Greiffenclau fand bei sei- schen Ruhms – der spä- nem Amtsantritt 1749 das Bauwerk fertig Tiepolo-Selbstporträt: Für ein „Auge auf Beinen“ te Erbe venezianischer vor, doch ohne malerischen Schmuck. Farbenglut und Form- Schon im Jahr darauf, nachdem ein erster tet, erschließe sich Tiepolos mitreißen- ekstase, dessen theatralische Manier Kandidat nur „erbärmliche Nichtnuzig- des Bilder-„Crescendo“. dann freilich noch zu seinen Lebzeiten keit“ zustande gebracht hatte (so der Be- Das ist von jedermann nachzuvollzie- aus der Mode kam. richt eines Höflings), ließen Seine Gna- hen, wenn die Würzburger Residenz am Generationen von Kritikern haben den bei Tiepolo vorfühlen, ob der be- Donnerstag dieser Woche nach sechs ihn als virtuosen Schnellmaler gering- rühmte Künstler wohl für den Auftrag zu Wochen der Schließung wieder geöffnet gewinnen sei. Er sagte zu. wird, und zwar mit einer Sonderausstel- * Bis 19. Mai. Zweibändiger Katalog im Prestel Vom Treppenhaus war noch nicht aus- lung zum 300. Geburtstag des Meisters Verlag, München; 208 und 192 Seiten; 39 und 49 drücklich die Rede, sondern erst einmal (am 5. März): „Tiepolo in Würzburg – (Buchhandelsausgabe 78 und 86) Mark, zusam- vom Kaisersaal, dem durch Prunkarchi- Der Himmel auf Erden“*. men 79 (148) Mark. tektur und Rokoko-Stuck hervorgehobe- ** „Tiepolo und die Intelligenz der Malerei“. Aus Ein Glücksfall der Kunstgeschichte, dem Englischen von Ulrike Bischoff. Dietrich Rei- nen eigentlichen Empfangsraum der Re- ein verzweigtes Thema: Neben den be- mer Verlag, Berlin; 196 Seiten; 98 Mark. sidenz. In diesen Dekor galt es Wandbil-

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eignet, entwickeln dann die farbige Ge- samtwirkung, Kreide- und Rötelzeichnungen bereiten Einzelmotive vor und halten wohl auch Zwischenstadien an Wand und Decke fest. Dabei war die Mit- arbeit der Tiepolo- Söhne gefragt. Der Äl- tere, der bei Ankunft in Würzburg 23jährige Giovanni Domenico, durfte sogar drei Wandfelder über Tü- ren mit Szenen aus der frühen Kirchenge- schichte schmücken – auf eigene Rechnung, aber möglichst doch, so ein Zeitgenosse, als „wahrhafte Kopie des Originals, nämlich des virtuosen Herrn Va- ters“. Um dem Junior- künstler besser gerecht zu werden, zeigt Aus- stellungsmacher Peter

SCHAPOWALOW Krückmann die frisch Residenz-Treppenhaus mit Deckenfresko: Verklärung des Absolutismus auf 677 Quadratmetern restaurierten Lein- wand-„Supraporten“ der einzufügen, die einen Würzburger dem Gemälde „Der Tod des Hya- nun auf Augenhöhe in einem Nachbar- Bischof des 12. Jahrhunderts als Ehe- zinth“, anschaulich. Denn gerade für raum; im Gesamtkunstwerk Kaisersaal stifter und Lehnsmann Kaiser Barba- die Würzburger Fresken haben sich bleiben dadurch empfindliche Lücken. rossas zu zeigen hatten, so daß auf der kaum Feder- und Pinselstudien in Tu- Seinen Beitrag zu diesem Raumwun- höheren, allegorischen Ebene eines sche erhalten. In diesem Medium aber der markierte Giovanni Battista Tiepo- Deckengemäldes der „Genius Imperii“ pflegte der Künstler anfängliche Bild- lo abschließend mit dem Datum 1752 – und der „Genius Franconiae“ zusam- ideen, auch schon mit malerischen Ef- und war danach für die noch weitaus menfinden könnten. Denn beim Reich fekten, zu erproben – eine souveräne größere Aufgabe im Treppenhaus be- suchte der Fürstbischof Beistand gegen „Reflexion durch das Handgelenk“ reit: Im April desselben Jahres legte er die drohende Säkularisierung seines (Alpers/Baxandall). Ölskizzen, zur Be- dem Fürstbischof den Entwurf für ein Ländchens – das 50 Jahre später doch gutachtung durch den Auftraggeber ge- Deckenbild vor. von Bayern geschluckt wurde. Aber das Probestück, wohl identisch Tiepolo bekam eine Skizze des Rau- mit einem Ölgemälde im New Yorker mes sowie einen ausführlichen Text Metropolitan Museum (das als Be- mit dem vorgesehenen Bildprogramm standteil einer Stiftung nicht nach – nebst der Zusicherung, wenn er Würzburg ausgeliehen wurde), konnte „etwas besseres vorzuschlagen“ wisse, die Gestaltenfülle des geplanten Fres- beabsichtige der Bischof nicht, ihn „in kos höchstens andeuten und einen Ein- seinem concept zu hinderen“. druck von der Grunddisposition ver- Das Vertrauen in „angerühmte Con- mitteln: Unter einem offenen Himmel duite“ und „redlichkeit“ des Meisters mit dem Sonnengott Apollo und über war groß. Eine erste Vorschußzahlung einem Gesims mit plastischen Stuckfi- auf das stattliche Honorar von 10 000 guren wenden sich die tributpflichtigen rheinischen Gulden sollte bereits in Erdteile Amerika, Asien und Afrika Venedig, eine zweite bei Ankunft am huldigend der Verkörperung Europas Arbeitsplatz geleistet werden, noch be- zu. Noch fehlt neben vielen anderen vor der Maler einen Entwurf vorgelegt Elementen auch die bildliche Verherr- hätte. Am 12. Dezember 1750 traf Tie- lichung des Auftraggebers. polo mit den beiden Söhnen und ei- Auf dem Malgerüst wurde vieles an- nem Diener in Würzburg ein. ders. Wie Krückmann herausgefunden Wie er seine Aufgabe anging, hat, ging Tiepolo so penibel vor, daß schrittweise nämlich, demonstriert jetzt er sogar für den geharnischten Kriegs- die Ausstellung. Die vermutlich erste gott Mars, der über Wolken fast ver- Arbeitsphase allerdings wird, notge- schwindet, erst noch eine Aktstudie drungen, fast nur durch den Vergleich Tiepolo-Skizze „Tod des Hyazinth“ zeichnete. In undurchschaubarer Ar- mit anderen Tiepolo-Projekten, etwa Nachdenken mit dem Handgelenk beitsteilung pausten der Meister und

174 DER SPIEGEL 7/1996 Werbeseite

Werbeseite .

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seine Hilfskräfte ihre Bildmotive par- tienweise mit spitzen Griffeln von Ent- wurfs-„Kartons“, die sie ans Gewölbe nagelten, auf den feuchten Putz durch. Der wurde jeweils für einen Arbeitstag aufgetragen. 218 solcher „Tagwerke“ von durch- schnittlich 3,1 Quadratmetern hat der Restaurator Matthias Staschull voriges Jahr von seinem Spezialgerüst aus ge- zählt. Er entdeckte aber auch, daß Tiepolo keineswegs nur solide „affres- co“ (ins Frische) malte und malen ließ, sondern daß er viele Lasuren und Kor- rekturen „secco“ auf den schon abge- bundenen Putz auftrug – mit dem Er- gebnis, daß manche Farbschichten sich CENTURY FOX abzulösen drohen. Eine gründliche Si-

cherung wird fällig. TWENTIETH Wie ein Wunder erscheint es, daß „Broken-Arrow“-Stars Travolta, Slater: Unwiderstehlicher Schurke Tiepolo bei der ständigen Nahsicht aufs Gewölbe nicht den Blick für das auf düsteren, blutspritzenden Gangster- große Ganze verlor, nicht für die Ba- Film balladen, in denen ein gewisses christli- lance von Motiven, Farben und Licht- ches Erlösungspathos brodelt, deren In- wirkungen und nicht für die Perspekti- szenierung jedoch alle bei Melville, ve eines die Treppe emporschreitenden Scorsese oder Kurosawa abgeguckten Residenzbesuchers. Der kann bei- Volle Pulle Regie-Finessen zu einem Erzählstil von spielsweise ein angebliches „Loch“ in verblüffender Rasanz verbindet. der Bildkomposition, das Kunsthistori- „Operation: Broken Arrow“. Spielfilm Auch „Operation: Broken Arrow“ ist ker vor Weitwinkelfotos des Freskos von John Woo. USA 1996. fabelhaft rasant inszeniert, aber wie eine bemängeln, gar nicht wahrnehmen. Komödie von Pointe zu Pointe: Es ist, Und die Pyramide im Asien-Teil des als hätte gerade bei diesem leichtsinni- Freskos, die aus dem Touristenblick- er Diebstahl von Atombomben ist gen Stoff Woo seinen ganzen Virtuosen- winkel des oberen Treppenhausum- kein Kavaliersdelikt. Als es in den Ehrgeiz daran gesetzt, ein Feuerwerk gangs hoffnungslos schief steht, er- Dweiten Einöden des Staates Utah von Oberflächenreizen zu entzünden, scheint vom „Zeremonialweg“ aus ta- einem Schlaumeier (mit Hilfe eines eine bedeutungsfreie Montage-Choreo- dellos senkrecht. Stealth-Düsenbombers) gelingt, zwei graphie des Kampfs. Angeblich sind In der „Haltung eines Zauberers“ dieser Dinger, die aussehen wie Desi- zu diesem hohen Zweck 60 000 Schuß (Alpers/Baxandall) blickt der Künstler gnerschränkchen für einen Frisiersalon, Munition verpulvert worden: Volle selbst, begleitet von einer nicht sicher aus einem Air-Force-Depot zu entfüh- Pulle Geballer, vielleicht ist das ein identifizierten Entourage, aus einer ren, ist, wie man sich vorstellen kann, Rekord. Ecke des Riesenbildes in den Raum. im Pentagon rasch der Teufel los. Sogar Obwohl eine hochgerüstete halbe Ar- Neben ihm ragt das Gestänge eines dem Mr. President, so heißt es, stünden mee hinter dem Bombendieb her ist, lie- Malgerüsts auf, hinter ihm im Bild er- vor Entsetzen die Haare zu Berg. fert, wie in „Speed“, ein kaum bewaff- hebt sich das „Nordoval“ der Resi- Dies ist der zweite Drehbuch-Bom- netes Draufgänger-Pärchen allein alle denz, jener Gebäudeteil, in dem Tie- benstreich des jungen kanadischen Pfif- Bravourstücke. Christian Slater als hel- polo vermutlich sein Würzburger Ate- fikus Graham Yost; der erste hieß denmütiger Stehaufmann hat eine bur- lier hatte und den er von dieser Stelle „Speed“, und wie dort geht es nun aber- schikose Sandra-Bullock-Replik namens aus durch die gegenüberliegenden Fen- mals vorbildlich geradlinig von Anfang Samantha Mathis an seiner Seite: Sie ster sehen konnte. bis Ende einzig darum, eine losgelasse- übererfüllt die Frauenquote, indem sie Verglichen mit dem Maler-Selbstpor- ne Bombe vor der Katastrophe abzufan- sich wie eine Kung-Fu-Artistin über die trät, wirkt das ovale Bildnis des Für- gen. irdische Schwerkraft erhebt. sten merkwürdig wesenlos. Tiepolo Verglichen mit dem Bus, der panisch Und doch ist alles anders als in macht sich, bei allem Respekt, über durchs Verkehrsgewühl von Los Ange- „Speed“, denn diesmal ist der Schurke die Ideologie, die seiner Kunst zu les brettert, ist das atomare Spielzeug in der Star, und das ist John Travolta. Sei- Grunde liegt, auch ein bißchen lustig. den Händen eines Gentleman-Verbre- ne Kunst, eine Figur ganz unpsycholo- In spielerischer Leichtigkeit läßt er, so chers jedoch ein recht unwahrscheinli- gisch und insofern altmodisch von außen der Kunsthistoriker Frank Büttner im cher, irrealer Thriller-Treibsatz. Das her aus einer Handvoll scharfer Manie- Ausstellungskatalog, „die Brüchigkeit heißt: Statt auf jenen realen Nervenkit- rismen (die meisten aus dem Hum- dieses ideellen Gebäudes“ spüren. zel zu zielen, der nur auf der Basis einer phrey-Bogart-Repertoire) aufzubauen, Hoch der Fürst: Er ist nur ein ge- gewissen glaubhaften Realität zu erzeu- ist wieder einmal unwiderstehlich; und rahmtes Bild im Bild, und so ent- gen ist, muß „Operation: Broken Ar- warum er trotzdem nie einen Oscar schwebt er einer entgeisterten Allego- row“ möglichst pausenlos die Sensati- kriegt, weiß ja jeder. rie der Malerei, die Pinsel und Palette onslust bedienen, muß also Zirkusnum- Für das übrige gilt: Wenn man sich noch in der Hand hat, wie ein freige- mer an Zirkusnummer reihen. gut amüsiert hat, darf man nicht klein- lassener Luftballon. Sein Wappentier „Operation: Broken Arrow“ ist der lich sein und nachrechnen wollen, wie jedoch, ein teufelsähnlicher Greif, zweite amerikanische Film von John viele Tote es auf der Strecke gegeben klammert sich an den Rahmen und be- Woo, 49, der seit langem als brillante- hat. Auf ein Dutzend mehr oder weni- droht den hohen Herrn mit spitzem ster Haudegen des Hongkong-Kinos ger kommt es heutzutage nicht an. Schnabel. gilt. Sein Kult-Ruhm im Westen gründet Urs Jenny

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SPIEGEL: Sie vermuteten jedoch zeitwei- Zeitgeschichte lig, Eichmann sei in Damaskus. Wiesenthal: Das beruhte auf Informa- tionen des FBI. Aber natürlich ist meine Arbeit eine Jagd, bei der nicht jeder „Wer hat ermittelt?“ Schuß ein Treffer sein kann. SPIEGEL: Sie glaubten auch, der KZ- Interview mit Simon Wiesenthal über die Angriffe gegen ihn Arzt Josef Mengele lebe in Paraguay. Gefunden wurde seine Leiche in Brasi- lien. SPIEGEL: Herr Wiesenthal, Sie gelangten SPIEGEL: Was war Ihr schwierigster Wiesenthal: Von Mengele besitze ich als Nazi-Verfolger zu Weltruhm. Ver- Fall? den paraguayischen Staatsbürger- gangenen Donnerstag hat Sie die ARD- Wiesenthal: Von 1958 bis 1963 suchte schaftsnachweis. Eine Gruppe von ame- Sendung „Panorama“ heftig attackiert. ich den Mann, der Anne Frank verhaf- rikanischen Senatoren hat aufgrund Redaktionsleiter Joachim Wagner be- tet hat. Als ich ihn fand, war endlich meiner Bemühungen die Regierung von fand: „Wiesenthal ist eine tragische Fi- Schluß mit dem Zweifel, den Neonazis Paraguay gezwungen, ihm die Staats- gur. Er war mehr Maulheld als Held.“ an der Existenz dieses Mädchens und ih- bürgerschaft abzuerkennen. Wiesenthal: In 50 Arbeitsjahren macht rer Tagebücher äußerten. Doch „Pan- SPIEGEL: Und den Hitler-Sekretär Bor- man nicht nur Negatives. Ich wurde von orama“ wollte auch darauf nicht einge- mann, der wahrscheinlich schon 1945 der ARD-Redaktion vorherzurStellung- hen. ums Leben kam, wähnten Sie noch Jahr- nahme aufgefordert. Meine einzige, al- SPIEGEL: Immerhin sagte in der ARD zehnte später in Brasilien? lerdings nicht erfüllte Bedingung war, auch der ehemalige Mossad-Chef Isser Wiesenthal: Seit 1945, bis Willy Brandt daß auch andere, erfolgreiche Fälle dar- Harel, er habe beim Ergreifen von 1970 die Ostverträge machte, hat die So- gestellt würden, etwa meine Rolle beim Adolf Eichmann 1960 in Argentinien wjetunion oft lanciert, daß Bormann Aufspüren des Kommandanten lebte. Danach erst wurden seine des Lagers Treblinka, Franz Knochen gefunden. Stangl, seines Stellvertreters so- SPIEGEL: Der schwerste politische wie des stellvertretenden Kom- Vorwurf von Eli Rosenbaum lau- mandanten vonSobibor. Auch die tet, Kurt Waldheim wäre ohne Ih- hundertfache Kindsmörderin re Unterstützung nicht 1986 zum Hermine Braunsteiner aus Majda- Bundespräsidenten Österreichs nek, die ich über Wien nach Kana- gewählt worden. da bis nach New York verfolgen Wiesenthal: Ich habe Waldheim konnte, hätte erwähnt werden von Anfang an einen Konflikt mit müssen. der Wahrheit vorgeworfen. Aber SPIEGEL: Der Chefder NS-Verfol- er ist kein Verbrecher. Sein Sohn gungsbehörde im US-Justizmini- kam zu mir: „Was sollen wir tun? sterium, Eli Rosenbaum, behaup- Mein Vater istzustolz, für Aufklä- tet, Siehätten inIhrem Leben statt rung zu sorgen.“ Da habe ich ge- 1200 Kriegsverbrechern „viel- sagt: Watschen wird er kriegen für leicht weniger als zehn“ aufge- seinen Stolz. Wenn ich so aufge- spürt und „in allen großen Nazi- treten wäre wie damals der Jüdi- Fällen versagt, bei Bormann, Bar- sche Weltkongreß oder andere Ju- bie, Mengele und Eichmann“. den, die ihn ohne Beweise einen Wiesenthal: Allein bei den Au- Mörder nannten, wäre Waldheim ßenstellen des Konzentrationsla- mit einer noch größeren Mehrheit gers Mauthausen in Oberöster- gewählt worden. reich waren etwa 1500 SS-Leute SPIEGEL: Rosenbaum war damals tätig. Die Amerikaner hattennach selbst Mitarbeiter des Jüdischen dem Krieg zwar Internierungsla- Weltkongresses in New York.

ger eingerichtet, wußten aber J. H. DARCHINGER Greift er Sie darum so heftig an? nicht, wo sich die Leute aufhiel- Fahnder Wiesenthal: „Watschen wird er kriegen“ Wiesenthal: Rosenbaum hat in ten. Da habe ich sehr erfolgreich den USA ein Buch geschrieben, Zeugen gesucht. Der oberste Chef der von Ihnen nichts bekommen, „das für das nicht gut gegangen ist. Jetzt hofft er, United States War Crimes Commission die Operation von irgendwelcher Be- daß er nach dieser Sendung in Deutsch- hat mir dafür schriftlich gedankt. Da- deutung war“. land einen Verlag finden wird. Das hat mals waren die, welche mich jetzt ankla- Wiesenthal: Erst mal: Schon 1947 habe mir der Redakteur von „Panorama“ ge- gen, noch gar nicht geboren. Ich bin ein ich erfahren, daß Frau Eichmann in sagt. Privatmann, ich habe keine Polizei wie Bad Ischl ihren Mann für tot erklären SPIEGEL: Werden Sie gegen „Panora- die Leute von den Ministerien. wollte. ma“ juristisch vorgehen? SPIEGEL: Wenn es um Zahlen geht . . . 1953 schrieb ich dann an den israeli- Wiesenthal: Ich bin jetzt gerade 88 Jah- Wiesenthal: . . . 39 Nazis, die in der schen Konsul in Wien, daß Eichmann re alt geworden. Mein Lebenswerk läßt DDR-Presse leitende Positionen hatten, in Argentinien sei. Ende der fünfziger sich nicht von ein paar Leuten, die ja habe ich enttarnt. Der 40. war der Mini- Jahre bekam ich vom israelischen Bot- selbst kaum etwas getan haben, mit Hil- ster für Information. Dann habe ich 50 schafter in Wien, der früher Polizeimi- fe quotensüchtiger Fernsehjournalisten Nazis in der DDR-Volkskammer ermit- nister war, einen Brief, die Leute in Is- zunichte machen. Wer außer Neonazis telt und 100 Nazi-Professoren. Wer hat rael, die mit der Sache Eichmann zu wird der Nutznießer von all dem Negati- sich damit befaßt? Etwa die Frau Beate tun hatten, seien mit meiner Hilfe sehr ven sein? Ich liege im Krankenhaus – Klarsfeld? Wer hat denn ermittelt außer zufrieden. Harel selbst hat auf meine mein einziger Kommentar zu der ganzen mir? Berichte mit genauen Fragen reagiert. Geschichte ist dieses Interview. Y

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KULTUR P. SEITZ / ZEITENSPIEGEL Geplantes Festspielhaus in Baden-Baden (Zeichnung): „Neuer Weg in die herrliche Musikwelt“

Dirigenten Goldene Eier aus der Gruft In Wien eine neue Gedenkstätte, demnächst weltweit Freilichtaufführungen mit Filmen des Verblichenen – die Vermarktung des toten Herbert von Karajan läuft wie geschmiert: Im Klassikgeschäft ist der Maestro nach wie vor Umsatzprimus; nun wird er in Baden-Baden auch noch Galionsfigur eines bombastisch aufgezogenen Festivals.

er Stuck strahlt blütenweiß, der chische Bundespräsident Thomas Kle- Immerhin hatte Karajan, als er im Juli Marmor glänzt, das Parkett ist ge- stil besang die „Hingabe“ des Entschla- 1989 starb, allein bei seinem Lieblingsla- Dwienert. Und es ist, wie es sich fenen „an das Kommende“, der greise bel Deutsche Grammophon 115 Millio- ziemt, totenstill. Die Besucher schreiten Kardinal König pries den „Gottsuchen- nen Tonträger abgesetzt. Jahrelang wa- scheu über die 550 Quadratmeter der den“. Danach gab es Beuscherln und ren die Plattenläden mit seinem ff frisier- Gedenkstätte. Rollmops vom Lachs. ten Konterfei tapeziert, und das Recy- Von den Paneelen und Stellwänden in Das Herzstück des Centrums ist in- cling seines Repertoires nahm kein Ende. allen Räumen blickt ihnen stets ein und zwischen voll in Betrieb. Insgesamt 3500 Irgendwann könnte es auch mit dem Ver- dasselbe Haupt entgegen – selten lok- Titel von 132 Komponisten hat der Un- kaufsschlager des Jahrhunderts reichen. ker, meist verklärt, immer aufs feinste ermüdliche hinterlassen, die- gestylt. Es ist der immer noch führende ses Konvolut ist komplett am Kopf im Klassikgewerbe des 20. Jahr- Lager und kann aus einer hunderts: der verstorbene Dirigent und Kommandozentrale auf acht quicklebendige Wirtschaftsfaktor Her- Monitore und in ein Beschal- bert von Karajan (1908 bis 1989). lungssystem der Spitzenklasse Am Kärntner Ring 4 in Wien, dem geschaltet werden. Später sol- früheren Schratt-Palais, gegenüber der len auch noch sämtliche Da- Staatsoper, ist für den Gottvater der ten, Fotos, Briefe, Kritiken, CD-Ära seit kurzem ein stiller Ort re- Bücher und bislang unveröf- serviert, bei 17 000 Mark Monatsmiete fentlichten Tonbänder von und ein Walhall der Luxusklasse. über Karajan abrufbar sein. Zur Weihe des „Herbert von Karajan Nun tuscheln die Neider der Centrums“ trafen sich vor ein paar Wo- Szene, der kostspielige Ge- chen Hinterbliebene und Nachlaßpfle- denkplatz sei nichts anderes als ger des Maestros mit dem harten Kern eine Wiederaufarbeitungsanla- seiner unzertrennlichen Entourage – al- ge; der Maestro sei nämlich len voran die Witwe Eliette, die schon out, seine Erbschaft Ladenhü- im Entree von einem querformatigen ter. Hier werde nur Erinne- Großfoto aus dem Gegenlicht grüßt. rung hochgepusht, um die Die Taufe des Memorials verlief, Kauflust auf den emsigsten

standes- und landestypisch, als Staatsakt Plattenspieler der Klassik noch R. HUBER / LOOKAT PHOTOS mit gehobenem Schmäh. Der österrei- mal anzuheizen. Karajan-Anwalt Kupper: Nicht von Pappe

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Alles Wunschdenken, wie es scheint: „Karajan hat nicht ab- gewirtschaftet, ganz im Gegen- teil.“ Niemand weiß das besser und sagt es, bei aller Zurück- haltung, entschiedener als der eidgenössische Advokat Wer- ner Kupper, 55, der Testa- mentsvollstrecker und Nach- laßverwalter des Dirigenten und als solcher der diskrete Kassenwart über eine immer noch bodenlose Goldgrube. Soviel steht fest: Nicht hin- ter der noblen Fassade des Wiener Schratt-Palais, son- dern in Kuppers gediegener Kanzlei im vierten Stock der Zürcher Löwenstraße 11 ist das wahre Herbert-von-Kara- jan-Zentrum. Hier spielt die Musik des Verewigten. Mit Geschick managt Kup- per von hier aus das kompli- zierte Geflecht des europawei- ten Karajan-Verbundes. In diesem gilt das „International Music Establishment“ mit Sitz in Liechtenstein als eine Art Stamm-Mutter; das Unterneh- men thront als Glucke über all den goldenen Eiern.

Beispiel: „Telemondial“ in S. LAUTERWASSER Monte Carlo vermarktet die Dirigent Karajan bei Plattenaufnahme (1968): Renner von erhabener Öde Video-Aktivitäten des Stab- führers. Die „Salzburger Osterfestspie- satter Tantiemen verspricht die Lizenz- Von 1997 an will der Zürcher Jurist le“ sitzen als Stiftung in St. Moritz, als abrechnung: gut und gerne fünf Millio- über Telemondial jede Menge Karajan- gleichnamige GmbH in Salzburg. Die nen Mark a` Konto der Erben. Filme unter freiem Himmel vorführen „Pfingstkonzerte GmbH Salzburg“ wer- Diese Erben – die Witwe Eliette und lassen. Nachdem beim Pilotversuch in den von einer Aktiengesellschaft in Zü- die beiden gemeinsamen Töchter – kas- Wien Hunderttausende den Maestro auf rich gehalten. Das neue Wiener „Cen- sieren derzeit über zehn Millionen Mark Großleinwand bestaunten, sollen nun trum“ gehört als gemeinnützige, steuer- im Jahr aus der Verwertung der Hinter- auch die Karajaniden in Peking, Tokio, freie GmbH wiederum zur „Telemondi- lassenschaft. „Ich lache, wenn ich auf die Buenos Aires und Paris zu Feierstunden al“. Das ist noch nicht alles. Aber bei Bank gehe“, verplapperte sich Madame zusammengetrommelt werden. alldem spielt Kupper, meist als Präsi- Eliette in der Münchner Abendzeitung. „Bei diesen Ereignissen“, sagt Kup- dent, leise die erste Geige. Auch Kupper hätte gut lachen, aber er per, „stellen wir die Software selbstver- Bei ihm spucken die Faxmaschinen lacht nicht. Mit einem Mienenspiel, als ständlich kostenlos zur Verfügung.“ Was zweimal im Jahr rund zwölf Kilogramm Kupper nicht sagt: daß sich der Gratis- Computerbilanzen aus, die für jede ein- Service auszahlt. Denn im Freilichtkino zelne Karajan-Aufnahme die Lizenz- Die Gemeinde des wird die Erinnerung an den Verstorbe- summen ausweisen. Was Kupper als Te- Maestros stirbt nicht aus, nen laufend aufgefrischt, so stirbt die Ka- stament vollstreckt, ist nicht von Pappe. rajan-Gemeinde nicht aus, und das 1995 steuerte der weltweite Umsatz und das Fränkli rollt Fränkli rollt. an Karajan-Produkten auf 250 Millionen Neuerdings hat Kupper im nördlichen Stück zu – Weltrekord im Klassikge- sei selbst er über den unverblaßten Schwarzwald gewinnbringend Fuß ge- schäft. Die Deutsche Grammophon Glanz seines Pflegefalls verblüfft, faßt. Jahrelang hatte der Anwalt aus Zü- macht auch sechs Jahre nach Karajans spricht er verhalten vom Dienst am to- rich mit dem früheren Stuttgarter Mini- Tod immer noch mehr als ein Viertel ih- ten Kunden, dieser „Jahrhundertfigur“. sterpräsidenten Lothar Späth kunstsin- res gesamten Umsatzes mit seinen Ein- Er stehe bei Karajan im Wort, „alles nig gemauschelt, dann war das Projekt spielungen. Dagegen klimpert bei Ab- daranzusetzen, um das Vermächtnis le- spruchreif: Baden-Baden wird ein Fest- bado und Barenboim nur Kleingeld. bendig zu halten“. spielhaus bauen, Herbert von Karajan als Immer noch startet der Dahingeschie- In diesem Jahr werden bei Sony end- philharmonischer Kurschatten Pate ste- dene überraschende Renner. Das im lich jene 45 „Home Video“-Produktio- hen, Kupper mal wieder die Fäden zie- März 1995 von der Grammo aufgelegte nen vollständig vorliegen, auf denen hen. Potpourri „Adagio“, ein aus elf langsa- sich Karajan „für kommende Generatio- 120 Millionen Mark wird der Tempel men Sätzen kompilierter Tranquilizer nen als eine Art letzter Zeuge“ glaubte kosten. Für kommenden Mai ist von erhabener Öde, ist mit weit über 1,5 verewigt zu haben: ein Sortiment aus der erste Spatenstich geplant, Ende Millionen Stück derzeit konkurrenzloser selbstverliebt gefilmten Auftritten, die 1997 soll der Bau – Baden-Badens „Al- Hit. „Ewige Schönheit großer Musik“, Kupper den Japanern für – geschätzt – ter Bahnhof“ als Foyer mit angeklotz- verheißt der Untertitel, ewigen Zufluß 100 Millionen Mark angedient hat. tem Neutrakt – stehen. Festspielstart:

DER SPIEGEL 7/1996 179 Mai 1998. Der Wert des „Markenartikels Festspielhaus KG) manövriert und den Karajan“ (Kupper) ist das Grundkapital Irrglauben festgeschrieben, viele Wo- der kurstädtischen Schnapsidee: früh- chen „höchstes internationales Niveau“ sommerliche Opern, Konzerte und Bal- bieten und Scharen von Schwarmgeistern lettabende in memoriam des Maestros. an den Schwarzwaldrand locken zu kön- Auf seine feine, knallharte Art hat nen. Kupper den Marktwert seines verschie- Kupper indes ist bei diesem Roulette denen Mandanten eingebracht. Erst als der Spielkasino-Stadt fein drin und fein er, mit dem Ja-Wort von Eliette, die raus: Die „RechtsnachfolgerHerbert von Übernahme der in Salzburg längst ver- Karajans und die zu seinem Nachlaß zäh- blaßten Pfingstkonzerte zusagte, über- lenden Unternehmen“ haben sich näm- nahm der Stuttgarter Ministerpräsident lich bloß verpflichtet, die „Pfingstfest- Erwin Teufel die Schirmherrschaft, und spiele“ von 1998 an „unbefristet, d. h. das Land Baden-Württemberg sagte, für dauerhaft und exklusiv“, nach Baden- 25 Jahre, einen jährlichen Zuschuß von Badenzuverlegenund dortalsVeranstal- fünf Millionen Mark zu. So wird der tote tung „unter Verwendung des Namens Karajan noch einmal in ein kommerziel- Karajan“ weiterzuführen. Im „Eventbe- reich“ zwischen Opern, „Galas, Bällen und Magic Show“ soll das Ansehen des Zwischen Galas, Bällen Verstorbenen mit Snob-Appeal versil- und Magic Show bert werden. Damit Baden-Baden demnächst im wird Kasse gemacht Namen des Herrn von Karajan seine Bet- ten füllen kann, kaufen sich Besserver- les Gesamtkunstwerk eingebunden, wie dienende für 1000 Mark Jahresspende in er es selbst geschätzt und genutzt hat. einen Förderverein ein. Letzte Woche reisten Baden-Badens Als künstlerischer Leiter der feinen CDU-Oberbürgermeister Ulrich Wendt Gesellschaft feiert ausgerechnet Wolf- und Rainer Vögele, Chef der Manage- gang Gönnenwein, alter Späth-Spezi und ment-Firma Dekra Promotion, nach Zü- Mittelklasse-Dirigent, sein Comeback: rich und besiegelten in Kuppers Kontor Der von der Staatsanwaltschaft der Haus- das krude Projekt. haltsuntreue verdächtigte Ex-General- Unternehmen Größenwahn: So hat intendant verheißt, schon ganz karaja- sich die Stadt Baden-Baden mit elf Ver- nesk, die klingende Totalmobilmachung trägen in ein undurchschaubares Gesell- des verschlafenen Kurorts. schaftsgeflecht (unter anderem Fest- Im erweiterten Vorstand des Förder- spielhaus GmbH, Festival Baden-Baden vereins sitzt Dieter Thomas Heck, und so GmbH Programmproduktion & Media- gehört auch dieser Schreihals aus der Concept, Baden-Baden Marketingge- Schlagerbranche, nach Wendts Worten, sellschaft für Kur-, Touristik- und Stadt- „zu den Menschen, die diesen neuen Weg entwicklung GmbH, Tanja Grund- in die herrliche Musikwelt mit uns gehen stücksverwaltungs GmbH & Co. Objekt wollen“. Das Ganze, sagt Wend, „hat handfeste * Bundespräsident Klestil, Karajan-Witwe Eliette, ökonomische Hintergründe“. Anders ge- Kardinal König. sagt: Das Ganze ist im Sinne Karajans.

Eröffnung des Wiener Karajan-„Centrum“*: Taufe mit Rollmops

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KULTUR

meegeneral und Generalstabschef eini- ge Überwindung gekostet haben, ausge- rechnet den schrillen Wehrdienstverwei- gerer für sich singen zu lassen. In seinen morbiden Songs verbreitet Geffen das düstere Bild von einem ge- walttätigen Israel, von mordlustigen Kindern, die zu Waffen greifen, und Vä- tern, die ihre Töchter vergewaltigen. Selbst Rabin, der den Whisky schätzte, bekam in einem Geffen-Hit sein Fett ab: „Und wer torkelt da betrunken herum? Der Ministerpräsident.“ Regierungsbeamte wollten die gesun- gene Majestätsbeleidigung verbieten lassen, doch Rabin nahm den rotzigen Rebellen lieber an seine Brust. Er woll- te die verdrossene Jugend, für die Gef- fen steht, in das Lager der Friedensbe- wegung holen. „Ich übersetze Rabin für die Jugend“ lautet nun, nach dem Mord, Geffens

A. BRUTMANN Motto und: „Ich will den Krieg gewin- Popstar Geffen*: „Sei stark dort droben“ nen, den Rabin begonnen hat. Der Krieg für Frieden ist auch mein Krieg.“ Feind zu Helden zu werden, hockt die- Früher war seine Botschaft zwar pazi- Musik ser gerade mal 50 Kilo leichte Jüngling fistisch, doch ziemlich diffus. „Anachnu bis frühmorgens in fragwürdigen Tel dor mesujan“ lautet der Titel seines bis- Aviver Kneipen, knabbert an den Fin- her größten Hits, was soviel wie „Wir gernägeln und schützt Rückenprobleme sind die beschissene Generation“ be- Starker vor, um nicht zur Armee zu müssen. deutet. Und nun lieben ihn die Kids. Zu Er habe „nichts gegen Araber in Tel Zehntausenden strömen sie in seine Aviv“, ließ Geffen wissen, und niemand Schwächling Konzerte. Selbst das zuvor völlig ver- dürfe „bereit sein, für sein Land zu tö- störte Establishment umarmt plötzlich ten“. Als Antityp trug er statt dessen lie- Rock statt Zionismus – Israels Ju- den bösen Buben des israelischen Rock. ber „die Fahne der Schwäche“ – voran. gend verehrt einen Popstar, der den Aviv Geffen ist nicht nur zur „Stimme Es sei „total o.k., schwach zu sein“ und seiner Generation“ geworden, wie sein „zu heulen“, bedeutet er seinen Fans im Wehrdienst verweigert. Manager behauptet. Er hat im ideolo- Macho-Land Israel. Mehr als jede politi- gisch tief zerklüfteten Israel auch sche Meinung ist es wohl dieser Gestus, erfekt stilisiert sich Aviv Geffen „Brücken zwischen den Generationen für den ihn die jungen Israelis lieben. zum Antitypen: Die melancholi- gebaut“, meint sogar Ministerpräsident Es scheint, als würden sie nun das Pschen braunen Augen sind von Peres. Wie das? nachholen, was ihre Eltern 1968 verpaßt Mascara umflort, als hätten sie zeitle- Die Turbo-Transformation vom Re- haben. Als die Hippies im Westen der bens nichts als Elend gesehen; bis in den bellen zum nationalen Symbol begann Parole „make love not war“ nachlebten, Haaransatz reicht die helle Schminke, am 4. November letzten Jahres. Aviv siegten die jungen Zionisten im Krieg die ihn schrecklich leidend wirken läßt. Geffen war der letzte Mensch, den Jiz- gegen die arabischen Nachbarn. Im Ein heftig bemalter Mund und volles chak Rabin in die Arme nahm. Die Ver- Kriegstaumel dachten die Israelis im Haar verleihen dem 22 Jahre alten Sän- stärker seiner Band „The Mistakes“ Hippie-Alter gar nicht daran, ihre Auto- ger zudem einen gewissen Tunten-Ap- brummten noch, als Rabins Attentäter ritäten zu stürzen. peal – und das in einem Land, in dem die tödlichen Schüsse abfeuerte. Geffens Devise „Sex and Drugs and Schwule noch mehr verachtet werden Am Ende der großen Friedensdemon- Rock’n’Roll“ hat insofern noch Neuig- als Araber. So hat sich auch niemand stration hatte Geffen, „einem spontanen keitswert. Seine Musik allerdings hört gewundert, als eines Morgens eine Gefühl folgend, sonst nichts“, ein klei- sich eher betulich an: harmlose Lied- Morddrohung auf seiner Wohnungstür nes sentimentales Lied gespielt. Es be- chen zum Mitsingen, nichts Avantgardi- in Tel Aviv klebte. singt einen toten Freund im Himmel: stisches. Um Geffen zu lieben, muß man Der Bursche provoziert vorsätzlich: „Ich komme zu Dir und weine. Sei stark Israeli sein. Seine Lieder leben vor al- Bei Rockkonzerten legt er sich schon dort droben im Himmel.“ lem durch seine Lebensgeschichte. In Is- mal eine schußsichere Weste an – um so Eben dieses Lied „Ich weine um rael weiß jeder, welche Strecke der zu demonstrieren, daß „in Israel Men- Dich“, das im Moment des Mordes ver- schrille Bursche, dessen Vorfahren einst schen von Fanatikern bedroht“ sind, je- klang, wurde wenig später zur heimli- aus Osteuropa ins Land kamen, schon denfalls solche wie Aviv Geffen. chen Hymne jener Israelis, die bis heute bewältigt hat. Wie haben sie ihn gehaßt im wehrhaf- um ihren ermordeten Regierungschef Es ist nicht einfach, den totalen Anti- ten Israel – vor allem weil er den Wehr- trauern. Rund um die Uhr spielen die typen zu geben, wenn der Vater Jona- dienst verweigert. Während Altersge- Radiosender Geffens Zeilen: „Auf im- than einer der bedeutendsten Journali- nossen nach wie vor davon träumen, mer und ewig, mein Freund, werde ich sten des Landes ist, der Staatspräsident beim Kampf gegen den arabischen an Dich denken.“ Eser Weizman zur Familie gehört und Rabin selbst hatte das musikalische der Onkel kein geringerer als der einäu- * Am 12. November 1995 bei der Rabin-Gedenk- Schmuddelkind auf die nationale Bühne gige Kriegsheld Mosche Dajan war. feier in Tel Aviv. geholt. Es muß den altgedienten Ar- Oder gerade erst recht. Y

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KULTUR

„Der Junge will der größte Entertainer Gemeinsam haben die beiden älteren Pop der Welt werden, und er ist es gewor- Herren in Los Angeles in den vergange- den.“ nen Monaten eine CD produziert; „für Auch Berry Gordy, 66, ist heute eine die Rente fühle ich mich noch zu jung“, legendäre Figur: Sie nennen ihn den sagt Gordy. Ratten „Paten der schwarzen Musik“. 1953, Daß er mit seinem Wiedereinstieg ins nach einer hoffnungsvollen, aber letzt- Popgeschäft an die zumindest für ihn lich nur mäßig erfolgreichen Karriere als höchst glorreichen sechziger Jahre an- und Soul Boxer, eröffnete er als 23jähriger in De- knüpfen kann, ist allerdings eher un- troit einen Plattenladen namens 3-D Re- wahrscheinlich: Damals brachten es Berry Gordy, Gründer der legendären cord Mart; ein paar Jahre später war Gordy und seine Motown-Mitstreiter in- schwarzen Plattenfirma „Motown“, daraus ein Musikverlag mit diversen La- nerhalb eines Jahrzehnts auf rund 80 bels geworden, deren bekanntestes Top-ten-Titel in der amerikanischen kehrt zurück in die Popwelt. „Motown“ hieß und den Ruhm der Hitparade, Detroit galt als „Hitsville“ „Motorstadt“ Detroit in die Welt hin- der USA und die unabhängig von den ie Luxusvilla steht hoch über Los austrug. Mit Stars wie Stevie Wonder großen Musikkonzernen arbeitende Angeles in den Hügeln von Bel und Diana Ross, Smokey Robinson, Plattenfirma Motown als Symbol eines DAir, vor dem Haus parkt ein Por- Marvin Gaye, den Temptations wurde neuen schwarzen Selbstbewußtseins. sche, und auf dem Tennisplatz im Gar- Motown noch vor dem Konkurrenzun- Radikale farbige Bürgerrechtler aber ten hat auch Boris Becker gelegentlich ternehmen „Stax“ zum Inbegriff schwar- warfen Gordy vor, er habe die aus kirch- ein paar Trainingsspiele absolviert. Der zer Popkultur. lichem Gospelgesang und Blues-Traditi- Empfangssalon der Residenz aber bietet Mit Motown, das er 1988 an den on entstandene Soulmusik für einen viel Platz für Erinnerungen an große MCA-Konzern verkaufte, hat Gordy weißen Markt domestiziert. Der Unter- Zeiten. „Sehen Sie sich das Foto an“, heute kaum mehr zu tun. Es scheint, als nehmer, der seinen Stars mit Hilfe eines sagt Berry Gordy, „damals war Michael zehre der Mann von seiner glorreichen festen und nahezu anonymen Studio- gerade acht Jahre alt, ein Junge wie je- Vergangenheit, von den Tantiemen di- teams den typischen „Motown-Sound“ der andere.“ verser Sammelalben etwa – zuletzt er- verpaßte und so in seiner Hit-Fabrik Die Rede ist natürlich von Michael schien „Motown Magic“, worauf sich eine Art Fließband-Produktion ein- Jackson, dem ebenso verschrobenen wie Hits wie Mary Wells’ „My Guy“ und führte, richtete eine „Benimm-Anstalt“ erfolgreichen Pop-Superstar; und es war Marvin Gayes „I Heard It Through The („Charm School“) für seine meist aus Berry Gordy, bei dem Jackson, damals Grapevine“ finden – und von den Erträ- den Schwarzen-Ghettos stammenden noch gemeinsam mit seiner Familien- gen seiner 1994 unter dem Titel „To Be Stars ein. „Wir versuchen einfach, mit dem Markt Schritt zu hal- ten“, rechtfertigte sich Ro- binson einmal. Gordy, selbst in einem Ar- menviertel Detroits aufge- wachsen, versuchte sich da- gegen mit kühnen Sprüchen Respekt zu verschaffen. Nicht nur auf die Qualität der Songs lege er Wert, sagte der Motown-Chef im Jahr 1965, sondern auch auf die Gedan- kenwelt, die seine Hits ver- mittelten: „Unsere Musik er- zählt von Ratten, Kakerla- ken und Soul.“ In Wahrheit gelang es Gor- dy wie kaum einem anderen Songwriter, Rassen-Barrie- ren mit den Mitteln der Mu- sik zu überwinden. Sein aller- erstes Lied schrieb er bereits als 20jähriger – und schickte es ausgerechnet an Doris

OUTLINE Day, die Vorzeigefrau des Gordy-Entdeckung „Jackson Five“ (1973): Symbol schwarzen Selbstbewußtseins weißen, sauberen Amerika. „Der Song hieß ,You Are band „Jackson Five“, als Kind die ersten Loved“ veröffentlichten Autobiogra- You‘, und er enthielt die Zeile ,Only Platten aufnahm. phie, die in den USA zum Bestseller you can be the one my heart burns for‘“, „Ich erinnere mich an unsere erste wurde. erinnert sich Gordy heute, „sie wäre die Begegnung“, sagt der Hausherr der Bel- Tatsächlich aber will Gordy es noch perfekte Interpretin gewesen, das Mäd- Air-Villa, „er hat jede meiner Gesten einmal wissen. Dazu hat sich der Unter- chen von nebenan, einfach und ehrlich.“ beobachtet und sehr genau zugehört, nehmer, dem einst auch als Komponist Doris Day hat Gordys Lied nie gesun- und bis heute ist er wie ein Schwamm, und Produzent allerhand Hits gelangen, gen. Der Liedermacher aber berichtet der alles aufsaugt, was er zuvor genau wieder mit seinem wohl wichtigsten stolz, daß er ihr sein Werk 40 Jahre nach studiert hat, ob Walt Disney, Charlie Weggefährten zusammengetan – mit dessen Entstehung vorgetragen habe – Chaplin oder Marcel Marceau.“ Schon William „Smokey“ Robinson, dem gro- „und Sie können mir glauben: Doris hat damals, erzählt Gordy, habe er kapiert: ßen Kumpan der frühen Motown-Tage. geweint“.

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„Die Seele Amerikas“ Interview mit Popmanager Berry Gordy über die Plattenfirma „Motown“, Boxen und schwarze Musik

mir die Finanzberater: „Berry, du bist pleite.“ Die Frage war: Wie kannst du deine Legende retten, dein Lebens- werk? SPIEGEL: Diana Ross hatte Ihre Firma schon zuvor verlassen, nach 21 Jahren Zusammenarbeit, und obwohl sie mit Ihnen ein gemeinsames Kind hat. War- um? Gordy: Ihr sind 20 Millionen Dollar ge- boten worden, da konnte ich nicht mit- halten. Ich war einfach zu stolz. Sie wollte sich wohl auch von mir befreien. Ich war ein Perfektionist und habe im Gefühl, sie beschützen zu wollen, über- zogen. Ich war von ihr besessen. Sie brach mir das Herz. Sie war nicht die be- gabteste Sängerin, die ich kennenge- lernt habe, ihr Ton war zu nasal, aber sie hatte alles andere – Gefühl, Zer- brechlichkeit, Vitalität. SPIEGEL: Auch Michael Jackson und die Jackson Five haben Sie verloren. Gordy: In den ersten elf Monaten unse- rer Zusammenarbeit haben wir vier Sin- gles der Jackson Five zu Top Hits ge- macht. SPIEGEL: Trotz der Hits hat Vater Jack-

M. MONTFORT son seinen Vertrag mit Ihnen gebrochen Musikmanager Gordy*: „Ich fühl’ mich noch nicht reif für die Rente“ – warum? Gordy: Er wollte die Macht zurück, die SPIEGEL: Mr. Gordy, Zeitungen wie die an MCA zu verkaufen, verärgert. er mir vertraglich zugesichert hatte. Ich New York Times Book Review haben Auch der Bürgerrechtler Jesse Jackson habe deshalb geklagt. Ich erkläre den Sie als einen „afroamerikanischen Kul- hat versucht, Sie davon abzubringen – Künstlern immer: „Wenn du unbekannt tur-Helden von historischer Dimension“ Motown war nicht irgendeine Platten- bist, brauchst du mich, wenn du einen gefeiert. Trotzdem haben Sie eine krea- firma, sondern symbolisierte „black Hit landest, brauche ich dich.“ Es dau- tive Pause eingelegt. Warum? soul“ . . . erte oft lange, einen Star aufzubauen, Gordy: Ich habe fünf Jahre lang an mei- Gordy: . . . die musikalische Seele viele Jahre. Die Vermarktung einer Sin- ner Autobiographie gearbeitet. Das war Amerikas. Schön, zunächst war Jesse gle kostete mich damals um 100 000 nicht nur kreative Arbeit, aber wahr- über meine Entscheidung nicht be- Dollar, ohne Garantie auf Erfolg. scheinlich die härteste, die ich je gelei- glückt; aber nachdem ich ihm erklärt SPIEGEL: Warum ist Michael nicht zu- stet habe. Außerdem baue ich gerade hatte, daß ich die Firma verkaufen rückgekommen als er 21 wurde und meinen Musikverlag „Jobete“ um, da- mußte, um sie zu erhalten, mit wir im 21. Jahrhundert konkurrenz- hat er mich verstanden. fähig bleiben. Und dann ist da noch das SPIEGEL: Von 1961 bis 1985 Plattenprojekt mit Smokey Robinson. hat Motown 75 Nummer- SPIEGEL: Was hat Sie daran gereizt? eins-Hits produziert und Geld haben Sie sicher genug – der Ver- Künstler wie Diana Ross, kauf von Motown hat 61 Millionen Dol- Marvin Gaye und Stevie lar auf Ihr Konto gebracht. Wonder weltberühmt ge- Gordy: Richtig, in meinem Sparschwein macht, dazu Gruppen wie habe ich einige Dollar. Aber ich fühl’ The Temptations, The Su- mich noch nicht reif für die Rente – die premes, The Jackson Five. Welt braucht kreative Software, und die Wieso waren Sie auf einmal werde ich demnächst wieder anbieten, vom Konkurs bedroht? in der Musik, im Film, wer weiß. Gordy: Das hat wohl mit SPIEGEL: Viele schwarze Amerikaner meinem Arbeitsstil zu tun. FILE waren über Ihre Entscheidung, Motown Ich bin ein Kreativer, einer, der aufbaut, aber das tägli-

* Vor seinem Haus in Los Angeles mit SPIEGEL- che Geschäft verschmäht. C. PULIN / STAR Redakteur Helmut Sorge. Und irgendwann erklärten Gordy-Entdeckung Ross: „Sie brach mir das Herz“

DER SPIEGEL 7/1996 183 . AP Gordy-Idol Louis*: „Boxen und Musik sind Wissenschaften“

über sein Leben selbst entscheiden tanzten und sich die Straßen mit konnte? schwarzen Menschen füllten, die glück- Gordy: Das wollte er, wir haben drüber lich waren. geredet – er hatte seiner Plattenfirma SPIEGEL: Und damals haben Sie sich sogar ein Telegramm geschickt und er- entschlossen, dem schwarzen Helden klärt, er wolle zu Motown zurückkeh- nachzueifern? ren. Daraufhin sind die unglaublich Gordy: Natürlich – hier war ein Typ, der stark eingestiegen. Eine Platte nach nicht wie mein Vater vom Morgengrau- der anderen haben die mit ihm produ- en bis tief in die Nacht schuften mußte ziert. und trotzdem von allen geliebt wurde. SPIEGEL: Mit den Hits und dem großen Da ich oft müde und faul war, wollte Glamour ist es vorerst vorbei; es bleibt ich einen Job wie Louis haben. Ich bin der Verlag, mit dem Sie angeblich jähr- Boxer geworden und an einem Kampf- lich um 20 Millionen Dollar verdienen tag in den Ring geklettert, in dem auch – nicht übel für jemanden, der sagt, er Louis kämpfte – ein Märchen. habe die ersten 30 Jahre seines Lebens SPIEGEL: Letztlich haben Sie erkannt, überhaupt nichts zustande gebracht. so schreiben Sie in Ihrer Autobiogra- Gordy: 29, um genau zu sein. Bis zu phie, daß Boxer, die 23 Jahre alt sind, meinem 29. Geburtstag war ich ein ab- aussehen wie 50, und Bandleader, die soluter Versager. Mir hat mal jemand 50 sind, wie 23. Und damit war der gesagt: Erfolg ist, wenn man Niederla- Traum von der Box-Karriere ausge- ge auf Niederlage einsteckt und sich träumt? trotzdem nicht entmutigen läßt. Gordy: Genau. Mein Leben hat sich im- SPIEGEL: Sie galten immer als geheim- mer zwischen Musik und Boxen entwik- nisvolle, pressescheue Figur. Auch kelt. Beides sind Wissenschaften, ob- heute leben Sie ziemlich zurückgezo- wohl natürlich die Inspiration aus dem gen in Bel Air. Herzen, aus dem Gefühl, aus dem Gordy: Gut, aber draußen im Garten Bauch kommen muß. Nat King Cole können Sie eine Mauer sehen, eine war mein musikalisches Idol, Sugar Ray graue Wand mit bunten Malereien, die Robinson mein Vorbild im Ring. Mit Szenen meiner Herkunft darstellen. Ich Joe Louis habe ich in Las Vegas Golf habe meine Wurzeln, die Eastside von gespielt, und auch Sugar Ray wurde zu Detroit, nie vergessen. einem engen Freund. Ich habe 1989 an SPIEGEL: Als Vorbild für Ihre Musik- seinem Grab die Trauerrede gehalten. karriere haben Sie einmal den schwar- Ich mochte immer Kämpfer-Typen wie zen Boxer Joe Louis genannt. Louis, Muhammad Ali und Jimmy Gordy: Ich war acht Jahre alt, als Joe Connors – und einen, der mich sehr be- Louis den weißen Deutschen Max eindruckt hat: Boris Becker, ein wirk- Schmeling k. o. geschlagen hat. Ich lich brillanter Bursche. sah, wie Vater und Mutter vor Freude SPIEGEL: Was können Sie mit der heute erfolgreichen schwarzen Musik von * Im Kampf gegen Max Schmeling 1938 in New Rappern wie Dr. Dre oder Snoop Dog- York. gy Dogg anfangen? .

KULTUR

Gordy: Ich habe mich immer für die künstlerische Freiheit eingesetzt, nicht Autoren nur bei Motown. Und heute bin ich mehr über die Zustände auf den Straßen erbost als über die Texte der Rapper. Die sechziger Jahre waren voll Hoff- Der Liebe Fluch nung und Idealismus. Die Neunziger scheinen die des Ärgers, der Angst und Marcel Reich-Ranicki über Monika Marons Roman „Animal triste“ der Frustration zu sein. Und diese Rap- per versuchen, über Musik ihre Gefühle zu vermitteln. Vielleicht ist diese Musik eine Art Aufklärung, die zur Lösung der Probleme beiträgt. SPIEGEL: Die schwarze Bürgerrechtlerin C. DeLores Tucker ist dagegen der Mei- nung, daß die Rapper zum „Völker- mord“ beitragen und die amerikanische Nation zerrütten. Gordy: Wenn die Nation zerfällt, dann sicher nicht wegen der Rapper, sondern wegen der Wurzeln des Übels. Die Welt, in der wir leben, ist das wirkliche Problem. Würden die Probleme etwa verschwinden, wäre die Nation nicht be- droht, wenn Rapper-Lieder nicht mehr vermarktet würden? SPIEGEL: Haben Sie jemals bedauert, daß Sie 1971 von Detroit nach Holly- wood umgezogen sind, aus der Arbei- terwelt in die Stadt der Illusionen? Gordy: Ich wollte Filme machen. Ich ha- be meine Träume in Hollywood ver- wirklicht. SPIEGEL: Filme über das grandiose, schöne, schwarze Amerika, wie „Lady Sings the Blues“ und „Mahogany“. Gordy: Ich bin nie glücklich darüber ge- wesen, wie Schwarze in Filmen porträ- tiert werden – als Trottel nämlich. Men- schen, die Angst vor allen und allem ha- ben, die verschreckt und verblödet mit

großen Augen in die Ferne sehen. Die- S. BERGEMANN / OSTKREUZ ses Image war mir schon als Kind pein- Schriftstellerin Maron: Franz ist durchaus interessiert lich. Natürlich habe ich darüber gelacht, das war ja komisch. Die Schwarzen, mit ird in unserer Zeit seltener ge- Fluch der Liebe ist nicht von uns genom- denen ich aufgewachsen bin, waren ganz liebt als einst oder jedenfalls we- men. Das hat eine eigentümliche Ent- anders, nämlich klug und menschlich. Wniger heftig? Ist aus der alles wicklung zur Folge: Während das Sexu- Später habe ich die anderen kennenge- übertrumpfenden Liebe, aus jener, die elle immer offener zutage tritt, wird das lernt, die zum Boxkampf kamen, in keine Grenzen kennen will, mittlerweile Außersichsein der Liebenden, wird die Pelzmänteln und Juwelen, chic angezo- ein Anachronismus geworden? große Passion, die Raserei und Sucht in gen, provokativ, eine andere Variante Nein, das glaube ich nicht: Auch heu- einem ist, meist verheimlicht oder zu- schwarzer Realität. Fünf Oscar-Nomi- te werden die Menschen von der Liebe mindest getarnt. nierungen haben wir für „Lady Sings the überwältigt, doch nimmt sie in der mo- Das Schamgefühl hat sich deutlich Blues“ erhalten, zehn wären angemes- dernen Welt mit ihren (oft von uns un- verschoben: Vielen Menschen fällt es sen gewesen. terschätzten) wunderbaren Möglichkei- jetzt offenbar leichter, über intime kör- SPIEGEL: Inzwischen hat auch Holly- ten und ihren ungeahnten Gefahren an- perliche Schwierigkeiten zu sprechen als wood eine andere Wirklichkeit des dere Formen an. Die Leiden des jungen über die großen seelischen Krisen, über schwarzen Amerika entdeckt. Werther gibt es nach wie vor, aber ihre die Katastrophen, die ihr ganzes Leben Gordy: Nein, keine andere Realität. Es Opfer greifen wohl häufiger zur Droge gefährden. Aber worüber sich mit nie- gibt eine andere kreative Ausrichtung, als zur Pistole. mandem reden läßt, das sucht man in je- andere Perspektiven. Das soll natürlich nicht heißen, der ner Gegenwelt, auf die wir letztlich alle- SPIEGEL: Sehen Sie immer noch rassisti- Selbstmord sei aus unserem Leben ver- samt angewiesen sind – in der Literatur, sche Mechanismen am Werk? schwunden. Nur spielt unter seinen Mo- im Theater, im Film. Der enorme und Gordy: Der Rassismus ist institutionali- tiven der Eros nicht mehr jene Rolle, durchaus berechtigte Erfolg der Liebes- siert, Musik und Kino allein können den die ihm einst zufiel. So haben sich auch romane von Marguerite Duras und Mar- nicht abbauen. Bei Motown haben die Konsequenzen gewandelt: Wie im- griet de Moor und erst recht der eines Schwarze, Weiße, Juden zusammenge- mer man sie beurteilen mag – sie er- Gabriel Garcı´a Ma´rquez hat hiermit zu arbeitet. Gemeinsam haben wir die Ras- scheinen uns mit Sicherheit weniger tun. senbarriere überwunden, im täglichen grell, sie alarmieren die Gesellschaft Und unsere Monika Maron, die nüch- Leben, mit unseren Songs. nicht mehr so wie früher. Aber der terne Dichterin? In ihren Romanen er-

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KULTUR

kennt man die Intelligenz einer erregten vermißt man es nicht. Und was wird uns Essayistin, in ihren Aufsätzen die Vor- statt der Handlung geboten? Vereinfa- stellungskraft einer geistreichen Erzäh- chend und abkürzend ließe sich sagen: lerin. Sie ist eine umsichtige Schriftstel- ein Zustandsbild. Monika Maron schil- lerin mit viel Temperament, wie Klär- dert und zeigt, verdeutlicht und verge- chen immer freudvoll und leidvoll zu- genwärtigt jenen unerklärlichen Zu- gleich. Aber ob auf sie auch die letzten stand, für den wir nur ein einziges Wort Worte des herrlichen Klärchen-Liedes haben: Liebe. zutreffen – „Glücklich allein ist die See- Die Ich-Erzählerin, eine Ost-Berliner le, die liebt“ – , konnten wir ihren bishe- Wissenschaftlerin, die in einem Museum rigen Büchern nicht entnehmen. arbeitet und Mutter einer längst erwach- Denn in ihnen, zumal in den Roma- senen Tochter ist, hat offenbar eine Le- nen „Flugasche“ (1981) und „Stille Zeile bensphase erreicht, in der ihr eine Auf- sechs“ (1991), stand die Kritik der Hei- gabe fehlt. Ihren Weg kreuzt um das mat der Monika Maron, also der Deut- Jahr 1990 ein Mann, der etwas älter ist schen Demokratischen Republik, und als sie und den sie Franz nennt. Sie habe die Abrechnung mit der geistigen Welt, ihn, versichert sie, weder erwartet noch in der sie aufgewachsen ist, also mit dem gesucht. Das stimmt: Denn was sie un- Kommunismus, im Vordergrund und entwegt erwartet und gesucht hat, was verdrängte alle anderen Motive. Für die sie um jeden Preis noch einmal erleben Liebe war da kaum Platz. Aber auch der möchte, ist nichts anderes als die große Olymp ist – wie uns Kleists Jupiter ver- Leidenschaft. traulich mitteilt – öde ohne Liebe. Doch vielleicht hat Monika Maron die Erotik zunächst ausgespart, weil sie, was wir ihr nicht verübeln sollten, ganz einfach Angst hatte? Weil sie vor einer Aufgabe zurückschreckte, die, heute mehr denn je, von allen Seiten mit Fallen umstellt ist? Weil sie den Exhibitionismus fürch- tete, der sich hier, wenn man es ernst meint, gar nicht ver- meiden läßt? Es sind die schlechtesten Schriftsteller nicht, die ein Thema, so wich- tig und reizvoll es auch sein mag, liegen lassen, bis sie sich ihm gewachsen fühlen. Das Ergebnis, der Roman „Ani- mal triste“, ist denn auch au- ßerordentlich: aufregend und aufbrausend und dennoch an- mutig, hitzig und heißblütig und doch von erstaunlicher

Ruhe und Reife**. E. HENRICHS Wenn trotz dieser Wider- Roman-Thema Penthesilea* sprüche und Spannungen ein Sie tobt und rast ohne Maß in sich geschlossenes Prosa- werk gelingen konnte, so hat das zwei Noch einmal? Kühl und kritisch be- Gründe. Zunächst: Monika Maron hat trachtet sie ihren alternden Körper: nicht gezögert, alles auf eine Karte zu „Wer so aussah, konnte noch lieben, setzen. In jeder Episode, auf jeder Sei- aber nicht mehr geliebt werden.“ Sie irrt te dieses Buches ist sie ganz da. sich, Franz ist an ihr durchaus interes- Ferner: Sie hat den Stil gefunden, der siert, er besucht sie regelmäßig, er die radikale, die provozierende Exi- schläft mit ihr gern. Doch will er immer stenz ihrer Heldin beglaubigt. Diese nur einige Stunden in ihrem Bett ver- Prosa hat einen eigenen Ton, der na- bringen. Darüber läßt er nicht mit sich türlich und geschmeidig ist und ohne reden: Der Rest der Nacht gehört einer Aufwand eindringlich. anderen Frau – seiner Gattin. So hat er Den Inhalt des Romans wiederzuge- eine neue Geliebte, gewiß. Aber letzt- ben ist schwierig und beinahe überflüs- lich bleibt für ihn alles beim alten. Ihr sig. Es ereignet sich allerlei, doch die Leben hingegen ist wie verwandelt. Für einzelnen Elemente führen nicht zu ei- * Lena Stolze in Kleists „Penthesilea“ am Ham- ner Handlung im landläufigen Sinne. burger Thalia Theater (1985). Dies indes, so sonderbar es auch klin- ** Monika Maron: „Animal triste“. S. Fischer Ver- gen mag, merkt man kaum, jedenfalls lag, Frankfurt am Main; 240 Seiten; 36 Mark. Werbeseite

Werbeseite KULTUR

sie, die einsame Wissenschaftlerin, gilt sich von seiner Ehefrau abzuwenden: Er jetzt, was der alte Goethe in der „Ma- könne sie nicht verlassen, weil sie – er rienbader Elegie“ bekennt: „Mir ist das sagt es offen und unbarmherzig – „so All, ich bin mir selbst verloren.“ Im wenig für ein Unglück trainiert“ sei. Das Laufe der Jahre hatte sie einige amourö- muß der Geliebten genügen. se Affären, sie war auch verheiratet. Sie tobt, sie rast, aber sie kann nichts Doch jetzt mißt sie all dem keine Bedeu- ändern. Ihre Begierde hat keine Gren- tung mehr zu, nachträglich scheint es zen. Ihr Fühlen und Verlangen kennt ihr, als könne ihr bisheriges Leben nur ein Ziel – und überhaupt kein Maß: dann einen Sinn ergeben, wenn sie es als „Der Gott der Liebe hatte mich ereilt./ ein einziges langes Warten auf Franz versteht: Denn „Glück war das Uner- reichbare“, Liebe könne, meint sie, „nur außerhalb des wirklichen Lebens BESTSELLER existieren“. So wird in ihrer Vorstellung „die Sa- BELLETRISTIK che mit Franz“ sofort ins Irreale verlegt: „Es gab nichts zu entscheiden, weil von Evans: Der Pferdeflüsterer (1) der ersten Minute an alles entschieden 1 C. Bertelsmann; 44,80 Mark war.“ In der Tat, aber nur für sie, nicht für ihn. Sie kann an nichts anderes den- Gordon: Die Erben (2) ken als an ihre Liebe, sie ist von ihr be- 2 des Medicus sessen. Für Glück und Unglück, für Er- Droemer; 44 Mark lösung und Verdammnis hat sie nur die- ses eine Wort: Franz. Ihr Porträt wird zu Gaarder: Sofies Welt (3) einer Studie des erotischen Wahns, der 3 Hanser; 39,80 Mark sexuellen Obsession: „Das eigentliche Wunder waren unsere Körper, die . . . Pilcher: Heimkehr (4) mehr zu wissen schienen als wir . . . Sie 4 Wunderlich; 49,80 Mark sehnten sich nach einander, als hätte man sie ihr Leben lang gewaltsam von- Tamaro: Geh, wohin dein (5) einander ferngehalten.“ 5 Herz dich trägt Dies alles sehen wir mit den Augen ei- Diogenes; 32 Mark ner Frau, die fest entschlossen ist, aus Irving: Zirkuskind (6) 6 Diogenes; 49 Mark „Er schläft Heidenreich: Nero Corleone (7) bei ihr, aber er 7 Hanser; 26 Mark schläft mit dir“ Crichton: The Lost World – (10) 8 Vergessene Welt ihrem Leben eine „nicht endende, un- Droemer; 44 Mark unterbrochene Liebesgeschichte“ zu machen, der Ich-Erzählerin also. Aber Wood: Die Prophetin (8) liebt sie tatsächlich diesen Mann, an den 9 W. Krüger; 49,80 Mark sie unentwegt denken muß? Oder liebt sie vielmehr – der Verdacht drängt sich Grisham: Die Kammer (11) immer stärker auf – bloß ihr neues Da- 10 Hoffmann und Campe; sein, jenes, das sie freilich ihm, nur ihm 48 Mark verdankt? Mit Entschiedenheit verkün- det sie: „Ich will nicht wissen, wie Franz Allende: Paula (9) lebt, wenn er nicht bei mir ist.“ Aber 11 Suhrkamp; 49,80 Mark das ist nicht wahr. In Wirklichkeit möchte sie gerade das unbedingt wissen. Gaarder: Das (12) Sie brennt vor Eifersucht, sie kann 12 Kartengeheimnis sich kaum noch beherrschen, sie sucht Hanser; 39,80 Mark Franz telefonisch dort, wo er den Ur- laub mit seiner Frau verbringt – in ver- Grimes: Inspektor Jury (14) schiedenen britischen Orten und Hotels. 13 steht im Regen Sie kann nicht mehr schlafen, sie stellt Wunderlich; 36 Mark sich diese Frau entkleidet vor und läßt sich „von dem Ekel erregen“, der sie da- Grant: Akte X – Wirbelsturm bei überkommt. Die Nacktheit dieser 14 VGS; 25 Mark Frau verfolgt sie: „die gespreizten Schenkel, das offene Geschlecht“. 15 Camus: Der erste Mensch Eine Freundin versucht sie zu beruhi- Rowohlt; 42 Mark gen: „Das Beste von dem Mann hast Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom du . . . Er schläft bei ihr, aber er schläft Fachmagazin Buchreport mit dir.“ Schon wahr, aber eben nur die halbe Nacht. Und er denkt nicht daran,

188 DER SPIEGEL 7/1996 Doch von zwei Dingen schnell beschloß gehütet, diesen „Aufruhr des Alles- ich Eines, / Dich zu gewinnen, oder um- odernichts“ in einen abstrakten, einen zukommen.“ luftleeren Raum zu projizieren. Was Kleists Penthesilea, die grausa- Im Gegenteil: Die Ich-Erzählerin ver- me Königin der Amazonen, dem König bindet das Scheitern ihrer großen Passi- der Griechen herausfordernd gesteht, on mit ihrer Epoche, sie möchte es auf bildet, hier mehrfach zitiert, das Zen- den Zeithintergrund im weitesten Sinne trum des Romans – ohne daß ein Stil- zurückführen. Sie glaubt also zu wissen, bruch oder ein Mißklang uns stören was ihr Glück mit Franz vereitelt hat. würde. Denn Monika Maron hat sich Die Weltgeschichte ist es. Wie das? Zu sehr ist die Ich-Erzählerin mit sich selber, mit ihren Gefühlen und Gedan- ken beschäftigt, als daß sie Lust hätte, ihrer Vergangenheit viel Aufmerksam- keit zu widmen. Aber woran sie sich SACHBÜCHER doch erinnert, was sie knapp erzählt und noch knapper kommentiert, be- Ehrhardt: Gute Mädchen (1) zieht sie stets auf ihre glücklich-un- 1 kommen in den Himmel, glückliche Liebe. Sie wuchs auf und böse überall hin wurde erwachsen in einer „seltsamen W. Krüger; 29,80 Mark Zeit“, die Franz nur aus den Zeitungen kennt. Damals geriet das Leben der Carnegie: Sorge dich (2) Ost-Berlinerin „unter die Willkür des 2 nicht, lebe! Absurden“. Ihm, der aus Ulm kommt, Scherz; 44 Mark ist dies erspart geblieben. Bednarz: Fernes nahes Land (6) Der „Wandel der Zeit“, der also nur 3 Hoffmann und Campe; sie und nicht ihn betraf, sei, bildet sich 39,80 Mark die Ich-Erzählerin ein, schuld an der Unterschiedlichkeit ihrer gegenseitigen 4 Paungger/Poppe: Vom (5) Zuneigung. Wollte Monika Maron auf richtigen Zeitpunkt diese Weise die Komplexe und Ressen- Hugendubel; 29,80 Mark timents der ehemaligen DDR-Bürger Klemperer: Ich will Zeugnis (4) andeuten? Wie auch immer: Ich gebe 5 ablegen bis zum letzten zu, daß mich diese historische Begrün- Aufbau; 98 Mark dung nicht ganz überzeugt. Wichtiger ist, daß die Reminiszenzen Wickert: Der Ehrliche (3) und Miniaturen sich als Mosaiksteine 6 ist der Dumme erweisen, die ein fragmentarisches, Hoffmann und Campe; 38 Mark doch verblüffend anschauliches Bild des Ost-Berliner Alltags ergeben. Monika Hauser/Kienzle: Noch (9) Maron hat ihr Handwerk gelernt, sie 7 Fragen, Kienzle? Ja, Hauser! kann mit Details – den charakterisieren- Hoffmann und Campe; den, den sprechenden, den schreienden 39,80 Mark – fabelhaft umgehen. Wickert: Das Buch (7) Dieser monologische, dieser konse- 8 der Tugenden quent in sich gekehrte Roman ist, was Hoffmann und Campe; 48 Mark es sonst nicht gibt: zart und aggressiv in einem. Er will weder die Vielfalt der 9 Kelder: Die Fünf „Tibeter“ (8) Schöpfung verkünden noch das Ge- Integral; 19 Mark heimnis des Daseins ergründen. Er will Gates: Der Weg nach vorn (10) nur das Glück und Unglück einer Lie- 10 Hoffmann und Campe; benden spürbar und erkennbar machen, 49,80 Mark einer Frau, die es der Liebe verdankt, daß ihre Existenz einen Sinn hat und die Carnegie & Assoc.: Der (12) Frage überflüssig wird, „warum ich lebe 11 Erfolg ist in dir! und eines Tages sterben muß“. Scherz; 39,80 Mark Es hat sich in den letzten Jahren her- ausgestellt, daß einige prominente von Weizsäcker/ (15) Schriftsteller aus der DDR durch den 12 Lovins/Lovins: Faktor Vier Zusammenbruch dieses Staates ihr The- Droemer; 45 Mark ma eingebüßt haben. Ihre Bücher wa- Genscher: Erinnerungen (11) ren von Interesse, solange diese Auto- 13 Siedler; 78,80 Mark ren nicht sagen durften, was sie sagen wollten. Die Zensur war, paradox und 14 Knopp: Hitler – Eine Bilanz (13) schrecklich genug, ihr Glück. Monika Siedler; 46,80 Mark Maron hat die umgekehrte Entwick- Este´s: Die Wolfsfrau (14) lung durchgemacht, sie hat mit „Ani- 15 Heyne; 48 Mark mal triste“, dem Roman über der Liebe Fluch und Segen, ihr Thema ge- funden. Y

DER SPIEGEL 7/1996 189 . SZENE

Autoren Einsame Spiele Alles fließt: am Morgen zwei Highballs, zum Mittagessen französischer Wein, nachmittags mit drei, vier Freunden drei, vier Flaschen Whiskey, und zum Abendessen Chianti aus der Korbflasche, vier oder fünf Liter. Ein Tag im Leben des Ernest Hemingway. William Faulkner „bewegte sich selten ohne einen Flach- mann in der Tasche“, Eugene O’Neill „betrank sich mei- stens ganz still“, John Steinbeck gingen „Wein, Bier und Brandy runter wie Wasser“, und Sinclair Lewis, auch an der Flasche, fragte: „Können Sie mir fünf amerikanische Au- toren seit Poe nennen, die nicht an der Trunksucht gestorben sind?“ Von den ersten sechs US-Autoren, die den Literatur-Nobelpreis bekamen, wa- ren fünf, die Genannten, Alkoholiker. Der amerikanische Psychiater Donald W. Goodwin meint, daß Trunksucht un- ter den US-Literaten jener Zeit „das Ausmaß einer Epidemie annahm“. In seinem Buch „Alkohol & Autor“

CAMERA PRESS (Edition Epoca, Zürich; 48 Mark) klopft Steinbeck Goodwin Leben und Werk der Trinker subtil und kenntnisreich ab, sucht Schmerzpunkte, Phobien, Traurigkeiten und stellt die Frage: „Haben literarische Begabung und Alkoholismus vielleicht dieselben Wurzeln?“ Goodwins Befunde: Schriftsteller sind Einzelgänger, Alkoholiker auch; Schreiben und Trinken sind zwei Arten, „nicht allein sein zu müssen“; Schreiben ist Phantasie, Alkohol fördert sie. Seine Gewißheit: Kreativität, das manisch-depressive Syndrom und Alkoholismus „stehen auf genetischer Ebene in einem Zusammenhang“. Eugene O’Neill, der sich mit 37 Jahren dem Suff entzog, fühlte sich hinterher wie von der „Lepra“ geheilt. Doch er

vermißte „die einsamen Spiele mit den eigenen Hautschup- R. CAPA / MAGNUM / AGENTUR FOCUS pen“. Hemingway (1941)

Literatur sal dieses jüdischen Mädchens aus ei- trägt enge Badeanzüge wie alle Mäd- gener Erfahrung. Abraham, 35, chen ihres Alters, sieträgtdurchsichtige Verstoß gegen wuchs, wie ihre Heldin, in einer chas- Nylons – beides angeblich ein Verstoß sidischen, also strenggläubigen Fami- gegen die guten Sitten –, und schließlich die guten Sitten lie auf. Nur mühsam löste sie sich aus befreit sie sich sogar aus einer ihr von den Fesseln der Orthodoxie und lebt den Eltern aufgezwungenen Ehe. Das Buch, so lautet eines der schön- heute als Englischlehrerin in Brook- Pearl Abraham macht aus all dem eine sten Komplimente an die Literatur, lyn. spannende Geschichte, sie erzählt befreie den Leser von Vorurteilen und Hinter dem Bücher-Tabu, ebenso schlicht wie er- bedrückenden Traditionen. Wer lese, das ihre Heldin Rachel so greifend; das gilt auch sei mit sich allein – und schon deswe- mutig mißachtet, verbirgt für die übersetzte Fas- gen ganz Herr seiner selbst. sich weit mehr als nur rigi- sung von Rosemarie Ebendarum wird das Lesen auch für de Tradition. Verboten Bosshard. Deutschen Le- Rachel Benjamin zur Leidenschaft. wird der freie Umgang sern allerdings dürfte bei Rachel ist die älteste Tochter eines or- mit Gedanken und Ge- aller Sympathie für das thodoxen Rabbiners in New York. fühlen an sich. Der Rab- Aufbegehren der heran- Und sie liebt nichts mehr als die Lek- biner und seine kaltherzi- wachsenden Rachel et- türe von Liebesromanen. Heimlich ge Frau stehen für eine was unbehaglich zumute stiehlt sie sich in die Leihbibliothek, körperfeindliche Kultur, sein. Der Widerwille die- um immer neuen Stoff für ihre Träume an der schon so manches ses beherzten Mädchens, zu suchen – ganz gegen den Willen der Kind zerbrochen ist. sein Protest richtet sich strengen Eltern, die dem Teenager al- Rachel Benjamin freilich, Pearl Abraham gegen jene aus Osteuro- lenfalls religiöse Erbauungsbücher zu- so lautet die optimistische Die pa stammende jüdische billigen wollen. Botschaft des Romans, ist Romanleserin Kultur, die hierzulande Pearl Abraham schildert in ihrem Ro- stark genug, um sich mit C. Bertelsmann schon vor mehr als 50 man „Die Romanleserin“ das Schick- Erfolg zu wehren. Sie 39,80 Mark Jahren vernichtet wurde.

190 DER SPIEGEL 7/1996 .

KULTUR

Touristik „Kuba, wie es lebt und kämpft“. Die 15tägige Mit Sitte Flugreise dorthin kostet nur 2420 Mark, einschließ- an die Riviera lich Übernachtung und Halbpension „ingutklassi- Bis zur Wende amtierte Klaus Eichler, gen Hotels“, Besuchen 56, als Präsident des Deutschen Turn- von Betrieben in Industrie und Sportbundes der DDR. Dann und Landwirtschaft, Bil- machte sich der gelernte Chemie-Inge- dungs- und Gesundheits- nieur selbständig und eröffnete in Ber- einrichtungen und – auch lin ein Reisebüro: „Touristik und Kon- hochmotivierte Bildungs- takt International GmbH“. Er bietet reisende wollen sich ent- „Erlebnisfahrten“, etwa nach „Nizza, spannen – einem dreitägi- Cannes und in das Fürstentum Mona- gen Aufenthalt im ehe-

co“, zum „Volksfest der KPÖ nach C. EISLER / TRANSIT mals feudalen Badeort Wien“ und zum „Pressefest der l’Hu- Sitte Varadero. Eichler scheint manite´ nach Paris“. Doch Eichlers eine Marktlücke entdeckt Spezialität sind Bildungsreisen unter tugal, Frank Bochow, nach Lissabon zu haben; mit seinem Programm be- der Führung ehemaliger Reisekader: und an die Algarve; mit dem Mara- dient er offenbar Bedürfnisse von Ost- mit Professor Willi Sitte, einem be- thon-Olympiasieger Waldemar Cier- wie Westdeutschen. Bei der letzten kannten Maler der DDR, an die Rivie- pinski „nach Athen und in den antiken Kuba-Reise kamen zwei Drittel der ra zu Zentren von Kunstwerken der Hain von Olympia“; mit dem lang- Teilnehmer aus dem Westen, bei den Malerei und Architektur; mit dem ehe- jährigen Botschafter der DDR in Riviera-Fahrten mit Willi Sitte sind da- maligen Botschafter der DDR in Por- Kuba, Heinz Langer, in die Karibik: gegen Ostdeutsche in der Mehrzahl.

INTERVIEW

Popstars „Bruce, Bruce, Bruce“

Yvonne H. Ewers, 47, Mitherausgeberin des ersten deutschen Bruce-Springsteen-Erlebnisbuchs („It’s like coming home“, Ewers Verlag), über ihr wildes Leben als Fan

SPIEGEL: Heute beginnt Bruce Springsteen in Frank- J. RÖTZSCH / OSTKREUZ Ludwig II. furt seine Europa-Tournee. Haben Sie sich schon um Ewers Karten gekümmert? Computerspiele Ewers: Aber selbstverständlich. Ich habe 2200 Ein- heiten vertelefoniert innerhalb einer Woche. Jetzt Dem Kini auf der Spur habe ich Karten für vier Auftritte. SPIEGEL: Sie wollen sich viermal die gleiche ruhige, Nun hat die US-Unterhaltungsindu- epische Musik anhören? strie endlich auch Bayerns Märchenkö- Ewers: Ach was episch – beim ersten Konzert bin ich nig Ludwig II. entdeckt: Sierra aus so aufgeregt, daß ich nur die Hälfte mitbekomme. Seattle bietet neuerdings ein interakti- Die Feinheiten höre ich erst beim dritten. ves Detektivspiel auf CD-Rom an, bei SPIEGEL: Und darüber schreiben Sie in Ihrem Buch? dem das mysteriöse Ende des „Kini“ Ewers: Nicht nur ich. Wir haben fast 30 Fan-Berichte Pate gestanden hat. „The Beast With- gesammelt. Einige von uns hat Bruce sogar auf die in“, allein für Deutschland in einer Bühne geholt. Auflage von 150 000 Stück produziert, SPIEGEL: Kreischen Sie bei den Konzerten?

lädt zur Spurensuche im heutigen baju- Ewers: Normalerweise ja, aber diesmal hat Bruce sich STILLS / STUDIO X warischen Umfeld ein. Geheimnisvolle jedes Mitsingen oder -klatschen verbeten. Ein Fan- Springsteen Morde harren der Aufklärung – zwi- Kollege von mir will trotzdem zwischen den Liedern schen Schloß Neuschwanstein, Mün- „Bruce, Bruce, Bruce“ schreien. Ich habe ihm gesagt, wenn er das macht, sind chens Marienplatz oder Altötting kann wir geschiedene Leute. Was der Boss will, ist Befehl. sich der virtuelle Schnüffler nahezu SPIEGEL: Was fasziniert Sie, neben der Musik, so an Springsteen? realistisch, sogar mit der U-Bahn, be- Ewers: Seine Oberarme, die sind vollkommen. wegen. Hat er genügend Hinweise bei- SPIEGEL: Die werden Sie aber, wie man hört, auf dieser Tour nicht zu sehen be- sammen, findet er schließlich in den kommen. Kellern von Neuschwanstein eine ver- Ewers: Man ahnt sie. schollene Wagner-Oper und darf zum SPIEGEL: Kennt Springsteen Ihr Buch? Showdown mit den Herren eines baye- Ewers: Wir wollen es ihm in Hamburg auf die Bühne werfen. rischen Jagdvereins ins Münchner Re- SPIEGEL: Damit er was reinschreibt? sidenztheater eilen. Ewers: Aber nein. Das ist unser Buch – wenn einer da was reinschreibt, dann wir.

DER SPIEGEL 7/1996 191 Werbeseite

Werbeseite .

SZENE

Internet lich eingespielt. Wer Richters Bandbreite Virtueller Atelierbesuch noch nicht kennt, kann jetzt beim russischen Mario Schifano, Italiens berühmter ab- Label Melodija Auf- strakter Maler, will sein Studio 50 Mil- nahmen aus seiner frü- lionen Besuchern öffnen – durch einen hen Glanzzeit in neu- Anschluß ans Internet. Alles soll zu be- er Digitalüberspielung sichtigen sein, dem Künstler sind Stö- auf insgesamt zehn rungen genehm. Seine Gäste dürfen CDs entdecken (BMG ihm über ihren Bildschirm bei der Ar- 74321 29460-2), darun- beit zuschauen, mit ter Paradestücke von ihm plaudern oder Chopin, Franck oder sein privates Fotoal- Rachmaninow, aber bum durchblättern, in auch filigrane Solo- dem die wichtigsten nummern von Schu- Köpfe der italieni- mann und Skrjabin.

schen Nachkriegskul- GAMMA / STUDIO X Entfesselt kräftig, tur versammelt sind. Richter doch transparent trägt Außerdem möchte Richter zwei Beetho- der Künstler sein Ge- Pianisten ven-Sonaten vor. Selbst für Fans des samtwerk ins Netz ge- Strukturalisten mit Leidenschaft, der ben; wasihnen gefällt, Richter für Entdecker jeden Klavierabend als neue Improvi- dürfen sich die Besu- sation betrachtet (und entsprechend

A.TURETTA / CONTRASTO cher kostenlos aus- Noch mit über 80 Jahren hat er die alte Lampenfieber hat), ist Ungehörtes da- Schifano drucken. Zur Erinne- Lust am Neuen: Wenn Swjatoslaw bei, etwa eine vertrackt schwere Sona- rung an die fernen Richter, scheuer Klavier-Riese mit ge- te des sowjetischen Superromantikers Zeiten, in denen man zum Kunstgenuß waltigem Repertoire und fotografi- Mjaskowski. Die CD mit drei Konzer- noch das Haus verlassen mußte, wird schem Gedächtnis, eines seiner selte- ten von Rimski-Korsakow, Glasunow den Besuchern am Ende ein Gästebuch nen Konzerte gibt, erwartet die Zuhö- und Richters Freund Prokofjew gehört vorgelegt, in dem sie sich samt E-Mail- rer nie das Übliche. Das hat er ja, von als musikhistorisches Lehrstück sowie- Adresse verewigen dürfen. Bach bis Barto´k, meist schon vorbild- so aufs Referenz-Regal.

KINO IN KÜRZE

„Circle of Friends“ heißt ein Roman der auch hierzulande „Jade“. Den Drehbuchautor Joe Eszterhas lieben – und geschätzten Bestseller-Schreiberin Maeve Binchy, die als Ir- bezahlen – Hollywoods Herren dafür, daß er ihre feuchten lands Rosamunde Pilcher gilt, und der irische Regisseur Pat Träume hemmungsloser als jeder andere für die Leinwand O’Connor hat nun einen Film daraus gemacht: Mit gutmüti- präpariert. Mit lästigen Details wie einer stimmigen Hand- ger Betulichkeit erzählt er von drei Dorfmädchen, die Ende lung und glaubhaften Charakteren hält er sich ungern auf. der fünfziger Jahre in der großen Stadt Dublin einige Lie- Nun hat Eszterhas sogar seinen Erfolgsthriller „Basic In- bes- und Lebenserfahrungen sammeln und dann wieder stinct“ einfach recycelt: Wieder stirbt ein Milliardär bei heimkehren aufs Land. Der Zufall will, daß diese Woche ein Sado-Maso-Spielchen, wieder gerät eine geheimnisvolle zweiter irischer Film in die deutschen Kinos kommt, „Fran- Liebeslady in Verdacht. Diesmal spielt Linda Fiorentino kie Starlight“ (Regie: Michael Lindsay-Hogg), der ebenfalls von den Mysterien des Erwachsenwerdens in den irisch-bi- gotten fünfziger Jahren handelt. Der Titelheld ist ein bezau- bernder, aber eigensinniger Zwerg, der viel Kummer durch- machen muß, bis er ein Bestseller-Autor wird und seine gro- ße Jugendliebe heiraten darf.

„Verhängnis“. Der deutsche Kino-Glückspilz der Saison ist Fred Kelemen, 31. „Verhängnis“, eine Semesterarbeit an der Berliner Filmhochschule, brachte ihm 1995 einen Bun- desfilmpreis ein samt einer Prämie von 700 000 Mark für ei- nen neuen Film. Später sind gut 100 000 Mark aus Brüssel dazugekommen, um „Verhängnis“ alias „Fate“ in fünf Nachbarländern ins Kino zu bringen, und nun hat der Film

auch einen deutschen Verleih. „Verhängnis“ besteht im we- UIP sentlichen aus zwölf nicht enden wollenden Kameraeinstel- Eszterhas-Film „Jade“ lungen, auf Videomaterial gedreht, die durchs Umkopieren auf Film etwas lemurenhaft Verwischtes und einen fäulnis- die gefährliche Klassefrau und David Caruso den ihr ver- farbenen Stich gewonnen haben. Bei den Filmfiguren han- fallenen Ermittler, Chazz Palminteri tritt als mächtiger delt es sich um Ausländer, die Story (Dialog wird nur als Ehegatte der Femme fatale auf – eine Menge vergeudetes Geräusch, Gegrunze, Gebrüll behandelt) könnte man als ar- Talent. In den Vereinigten Staaten fiel „Jade“ (Regie: chaische Ballade von Geilheit, Besoffenheit und Gewalt William Friedkin) denn auch prompt durch. Immerhin: umschreiben: in Kontrast zum gängigen Tralala also ein Besser als das Eszterhas-Werk „Showgirls“ ist der Film al- schwerer Fall von Filmkunst. lemal.

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SPORT DPA Jubelnde Volleyball-Nationalspielerinnen nach der Olympia-Qualifikation: „Plötzlich waren wir nicht mehr Bittsteller“

Finanzen Krümel für die Kleinen Der deutsche Sport zerfällt in eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Fußball, Tennis, Boxen und Formel 1 werden mit Sponsoren- und Fernsehgeldern überschüttet – für die traditionellen Disziplinen bleibt nur wenig. Wenn nach Olym- pia die öffentliche Förderung reduziert wird, ist Spitzensport in vielen Bereichen nicht mehr wie bisher möglich.

ernd Büsken empfand die Szenen in drohte eine Finanzpleite – und das zu Der neue Fernsehvertrag zwischen der Bremer Stadthalle wie Aufnah- Zeiten, in denen es dem deutschen dem Deutschen Fußball-Bund und dem Bmen für einen Werbefilm. Zwölf Sport noch verhältnismäßig gut geht. Rechtehändler ISPR über 540 Millionen junge Mädchen zwischen 22 und 30 Jah- Bis Olympia fließen die öffentlichen Zu- Mark für drei Jahre hat die letzten ren hüpften und tanzten vor laufenden schüsse wie gewohnt. Doch schon jetzt Zweifler im Lager der Randsportarten Fernsehkameras wild übers Parkett, roll- steht fest, daß nach den Spielen die überzeugt: Der Fußball-Boom in deut- ten schließlich, mit Freudentränen in den Etats teilweise auf die Hälfte zusam- schen Landen droht Ringer, Handballer Augen, als jubelndes Menschenknäuel mengestrichen werden müssen. und Leichtathleten an die Wand zu unters Volleyballnetz. In den nächsten Jahren werden nur je- drücken. „Die wachsende Ungleichheit Der überschwenglich gefeierte und ne Verbände, die für Olympia qualifi- zwischen armen und reichen Sportar- fernsehfreundlich inszenierte 3:2-Sieg ziert sind und den Geldgebern aus der ten“, sagt der Darmstädter Sportsozio- über Rußland brachte der deutschen Na- Industrie auch Erfolge vorzuweisen ha- loge Helmut Digel, „birgt die Gefahr tionalmannschaft nicht nur die Qualifika- ben, wie bisher Spitzensport betreiben der Selbstzerstörung des Spitzensports tion für die Olympischen Spiele in Atlan- können. Die Hoffnung, die ausbleiben- in sich.“ ta. Er sicherte gleichzeitig der Rand- den Bonner Mittel, in diesem Jahr im- Im Volleyball und bei den Fechtern sportart das finanzielle Überleben. merhin noch 339 Millionen Mark, durch mußten die Mitglieder mit ihren Beiträ- „Es ist verrückt“, sagt Mannschaftsbe- Sponsoren- oder TV-Gelder ersetzen zu gen kurzfristig für die klamm geworde- treuer Büsken, der inPersonalunion Ver- können, haben die meisten Verbands- nen Dachorganisationen einspringen markter des Deutschen Volleyball-Ver- herren bereits aufgegeben. Viele muß- und Etatlücken ausgleichen. Selbst in bandes (DVV) ist, „plötzlich waren wir ten erkennen, daß ihre Sportart für das vermeintlichen Boomsportarten wurden bei den Sponsoren nicht mehr Bittsteller Finanzgerangel nicht fit genug ist. Vol- Vereine zahlungsunfähig, drei Eishok- – die kamen von sich aus auf uns zu.“ leyballmann Büsken hat im Kampf um key- und zwei Basketballklubs überga- Der unerwartete Erfolg von Bremen die Gelder schon „blanken Darwinis- ben in den letzten beiden Jahren ihre kam gerade noch rechtzeitig. Dem DVV mus“ ausgemacht. Geschäfte Konkursverwaltern. In zahl-

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reichen Sportverbänden wird Personal ten beeindrucken, die gekürzt, werden Trainingslager redu- derzeit offensichtlich ziert oder ganz gestrichen und Stütz- nur im Fußballgeschäft punkte geschlossen. Gleichzeitig aber zu erzielen sind. Die wächst die internationale Konkurrenz, Bierkutscher, mit de- und es wird zunehmend teurer, sportli- nen Holsten in der che Spitzenleistungen zu produzieren. Sat-1-Sendung „ran“ Geld ist zwar reichlich vorhanden, warb, steigerten den vergangenes Jahr steigerte sich das Bekanntheitsgrad des Sportsponsoring in Deutschland auf Hamburger Gersten- rund 1,7 Milliarden Mark. Doch den saftherstellers von 54 Kuchen teilen Fußball, Tennis, Formel auf 72 Prozent. Den 1 und Boxen unter sich auf – ebenjene Namen des Autobau- Sportarten, die auch von den TV-Sen- ers Sˇkoda kannten dern umworben werden. Für den gro- nach einer Werbeof- ßen Rest bleiben die Krümel. fensive, die sich über Besonders der Fußball saugt die vor- eine Fußballsaison er- handenen Mittel geradezu wie ein streckte, 200 Prozent Schwamm auf. Das belegt beispielhaft mehr Menschen als der harte Konkurrenzkampf unter vorher. Und der Ge- Deutschlands Brauereien. Jede größere schäftsführer von Die- Marke möchte im Umfeld von Klins- bels findet seinen Ent- mann und Kollegen präsent sein. Gün- schluß, sich als Trikot- ther Lohre, Mitinhaber einer auf Sport sponsor bei Borussia spezialisierten Vermarktungsagentur, Mönchengladbach ein- hat festgestellt, der Drang zu den Kik- zukaufen, immer noch kern habe zu „einem wahren Kanniba- „goldrichtig“, die Wer- lismus geführt“. Die Bierproduzenten te der Marktforschung haben die Autokonzerne als größte seien „phantastisch“ Sponsorbranche überholt. gewesen. Auch Bierbrauer, die sich bisher in Viele Geldgeber des anderen Sportarten engagierten, glau- Sports, die sich in bes- ben, nicht mehr an der Einheit von Pils seren wirtschaftlichen und Fußball vorbeizukommen. So inve- Zeiten noch als gütige stierte die Krombacher Brauerei jähr- Zahler feiern ließen, lich rund vier Millionen Mark in die stellen mittlerweile

Deutsche Eishockey-Liga. Nun wollen kalte Kosten-Nutzen- BONGARTS die Siegerländer hier ihren finanziellen Rechnungen auf und Medienstar Maske: Hollywoodreife Dramaturgie Einsatz kürzen und sich verstärkt im kürzen konsequent ih- Fußball engagieren. Auch Veltins kün- re Mittel. So haben sich IBM und die Weißflog, jetzt habe er feststellen müs- digte bereits seinen Ausstieg aus dem Lufthansa weitgehend vom Tennis zu- sen, daß Athleten „mit Millionenverträ- Acht-Millionen-Vertrag mit den Basket- rückgezogen, die Deutsche Bahn finan- gen ausgestattet werden, die noch nie in ballern an. Selbst Branchenprimus War- ziert keine Marathonläufe mehr. ihrem Leben etwas geleistet haben“. steiner, der bisher jährlich rund 20 Mil- Selbst Mercedes-Benz, das jahrzehn- Weißflog hatte mit seiner Kritik unter lionen Mark im Skisport, im Volleyball telang als Samariter des deutschen anderen die Eiskunstläuferin Tanja und im Motorsport ausgab, sponserte im Sports das Füllhorn großzügig über Rei- Szewczenko im Sinn, die wegen ihres un- vergangenen Jahr erst- ter und Fechter, über Segler bekümmerten Auftretens in kürzester mals ein Fußballspiel und die Olympiastützpunkte Zeit zum Medienstar aufstieg, nach zu- im Fernsehen. ausschüttete, gibt seine Millio- letzt schlechteren Wettkämpfen aber als Die Marketingexper- nen jetzt vornehmlich für Mo- „Luxusweib auf Kufen“ (Sport-Informa- ten der Firmen lassen torsport, Tennis und Fußball tions-Dienst) verspottet wird. Als der sich durch Erfolgsquo- sowie beim Internationalen blonde Teenager seine mangelhafte Olympischen Komitee aus. Form mit dümmlichen Ausreden begrün- 180 Die Konzentration der Wirt- dete, knöpfte sich Manager Werner Kö- Der goldene Schuß schaft auf einige wenige Sport- ster seinen Schützling vor. Als die privaten Sender die arten hat – nicht nur im Fußball Medienexperte Köster weiß, daß sich Fernsehrechte für die Fußball- 150 – die Gehälter explodieren las- nur noch diejenigen Sportler für Wer- Bundesliga übernahmen, 125 sen. Die meisten Athleten aus bungstreibende anbieten, die sich durch den abgeschobenen Diszipli- eine geschickte Inszenierung im Fernse- explodierten die Kosten; ISPR/ Honorare in Millionen Mark nen haben sich mit der unglei- hen aus der Masse hervorzuheben verste- Sat 1 100 chen Vergütung vergleichbarer hen – was nur selten gelingt. Die Verbän- Leistungen auch abgefunden. de unterschätzten in ihren Prognosen Handeln die Sponsoren jedoch über künftige TV-Präsenz, daß „in einer 50 völlig außerhalb sportlicher Be- Überflutungssituation von Informatio- 50 wertungsmaßstäbe, regt sich nen und Bildern“, wie der Kölner Sport- ARD/ZDF Ufa/RTL Unmut. Bisher habe er ge- wissenschaftler Joachim Mester analy- 12 4,8 6,3 dacht, daß „die Industrie nach siert, „nur noch die Sensation heraus- 0 dem Leistungsprinzip vor- ragt“. 1975/76 1980/81 1985/86 1990/911995/96 1999/2000 geht“, raunzt der dreimalige So konnte die Formel 1 nach den Sie- Skisprung-Olympiasieger Jens gen von Michael Schumacher wieder gute

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Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Einschaltquoten erzielen, mit der holly- woodreifen Dramaturgie der Auftritte von Axel Schulz und Henry Maske er- reichte das Boxen Rekordzahlen (siehe Grafik Seite 200). Ebenso erlebte der Fußball dank der Showinszenierungen von „ran“ eine Renaissance – auch des- halb sprach der Deutsche Fußball-Bund vorletztes Wochenende Sat 1 erneut die Übertragungsrechte für die Bundesliga zu. Unter den 75 meistgesehenen Sport- übertragungen des vergangenen Jahres waren 65 Fußballspiele. Traditions- sportarten wie Handball, Turnen und Leichtathletik sind in der Hitliste nicht verzeichnet. Sie entsprächen einfach nicht dem Massengeschmack, glaubt der Bertelsmann-Manager Bernd Schip- horst (siehe Seite 199). Selbst die Basketballvereine, denen Fachleute nach dem Gewinn der Euro- pameisterschaft 1993 eine glänzende TV-Zukunft prophezeit hatten, wurden Funktionäre überschätzen den Wert der Ware Sport arg enttäuscht. Sogar das Deutsche Sportfernsehen (DSF), oft letzte Ret- tungsinsel für minder telegene Sportar- ten, mochte die Bundesliga nicht mehr live übertragen. Das DSF war nur bereit, weiter zu senden, wenn sich die Klubs an den Produktionskosten beteiligt hätten – ein Deal, der in einigen Sportarten längst gängig ist. So beliefern die Snowboarder die Fernsehsender ko- stenlos mit Bildern vom Weltcup. Auf diese Weise drängt der internationale Verband die Modesportart ins Fernse- hen und sorgt gleichzeitig für sponso- renfreundliche Bilder. Zu ähnlichen Geschäften mit den Fernsehanstalten sind die meisten deut- schen Verbandsherren nicht bereit, vie- le überschätzen immer noch den Wert der von ihnen angebotenen Ware Sport. Letztlich werden sich aber in Deutschland amerikanische Verhältnis- se einstellen: In den USA werden auch nur American Football, Basketball, Eishockey, Baseball und Boxen von den TV-Sendern hofiert – alle anderen Sportarten müssen mit aufwendigen Werbekampagnen auf sich aufmerksam machen. Mit einem „Förderkonzept 2000“ hat sich der Deutsche Sportbund auf die neue Situation eingestellt. „Das wird einigen richtig weh tun“, ahnt Volley- ballmanager Büsken. Besonders bei Leichtathleten, Schwimmern und Tur- nern, die in Atlanta keine sonderlich rosigen Medaillenaussichten haben, wird der neue Berechnungsschlüssel, .

SPORT

der sich streng am Erfolg orientiert, an die finanzielle Substanz gehen. Die ungewisse Zukunft des Spitzen- sports verlangt offensichtlich nach star- ken Männern. In jüngster Zeit drängt es den Bundeskanzler ungewöhnlich oft in die Nähe der Athleten, die für ihn und Deutschland siegen. Dabei verlangt der Ehrenkapitän des Ruder-Achters immer ungenierter von den Sportfans auf dem Sofa, für ihr sportliches TV-Vergnügen auch zu zahlen – mit Spenden für die Sporthilfe. Helmut Kohl hat 21 führende Wirt- schaftsvertreter und 13 Sportfunktionä- re nach Bonn eingeladen, um am „Runden Tisch“ unter seiner Modera- tion Meinungsverschiedenheiten zwi- schen Sport und Wirtschaft auszuräu- men. Die Funktionäre fordern konkrete Finanzmittel – auch für weniger attrakti- ve Sportbereiche –, und sie wehren sich gegen eine Bevormundung durch die In-

dustrie. Die Wirtschaft wiederum ver- W. STECHE / VISUM langt nach effizienten Organisationsfor- Medienmanager Schiphorst: „Es gibt kein Einsammeln der Kollekte“ men und Konzepten des Sports. Allzu häufig haben die Sponsoren in der Vergangheit erleben müssen, daß Dilettantismus der Funktionäre ihren Investitionen entgegenwirkt. So droht „Zuviel erwartet“ die vor 17 Monaten hoffnungsvoll ge- startete Deutsche Eishockey-Liga Interview mit Bernd Schiphorst über die Vermarktung des Leistungssports (DEL) zu scheitern. Lähmende Perso- nalquerelen haben den Blick für die Realitäten getrübt. Nach einer Berech- Schiphorst, 53, brach als Geschäfts- die Formel 1, für die eine nahezu per- nung des Branchendienstes Sponsor führer der Ufa 1988 das öffentlich- fekte Medienvermarktung stattfindet. News gibt die DEL 70 Prozent der Um- rechtliche Monopol der TV-Sportbe- SPIEGEL: Also müssen sich die Athleten sätze für Spielergehälter aus, das Ge- richterstattung, verschaffte dem Sport in den olympischen Kernsportarten genstück in Amerika verteilt nur 43 Millionen. Heute ist er Europachef der Leichtathletik, Schwimmen und Turnen Prozent der Einnahmen an die Pro- AOL Bertelsmann Online. damit abfinden, daß für sie nicht mehr fis. viel übrigbleibt? Auch Klaus Henter, Präsident des SPIEGEL: Herr Schiphorst, Sie galten Schiphorst: Im Gegenteil – einer der Deutschen Schwimm-Verbandes, ver- schon einmal als Retter des Sports. Weil großen Profiteure des Fernsehwettbe- prellte in der vergangenen Woche ein- die privaten Sender aber letztlich nur werbes ist doch die olympische Bewe- mal mehr seine Geldgeber. Henter hatte Fußballer und Tennisspieler reich ge- gung. Wenn nun einige Verbände Pro- einen Ausrüstervertrag mit der Firma macht haben, sind Sie wieder gefragt. bleme haben, dürfen sie das nicht immer Speedo abgeschlossen. In der Freude Können Sie jetzt den anderen helfen? aufs Fernsehen abwälzen. Der Interna- über die neue Einnahmequelle übersah Schiphorst: Das sind zwei Paar Schuhe – tionale Leichtathletik-Verband hat her- er aber, daß 18 Schwimmer des Olym- der runde Tisch beim Kanzler und die vorragende TV-Verträge abgeschlossen, piakaders bereits eigene Verträge mit Förderung des Spitzensports. Wir haben dennoch geriet die Sportart, zumindest Konkurrenzfirmen besitzen. uns seinerzeit nicht vorgestellt, daß mit in den USA, in eine schwere Krise. Solch kleinkarierter Hickhack treibt den ersten TV-Verträgen für Fußball- SPIEGEL: Aber es muß doch Gründe da- auch die letzten Sponsoren in den hoch- Bundesliga und Wimbledon eine so un- für geben, daß sich einige Verbände kommerziellen Showsport. Selbst gutge- geheure Lawine ins Rollen kommen vom Fernsehen benachteiligt fühlen. meinte Marketing-Ideen können den würde. Inzwischen sind die Preise für Schiphorst: Einige Sportarten haben für Ausverkauf nicht mehr stoppen. Bas- Sport-Übertragungsrechte ins damals eine werbefinanzierte Fernsehland- ketball-Bundesligist Brandt Hagen ent- Unvorstellbare gestiegen. Auch Olym- schaft offensichtlich nicht jenes Potenti- wickelte eine gemeinsame Vermark- pia und Sportarten wie Boxen, das ei- al, das wir ihnen zugetraut hatten. Neh- tungsstrategie mit dem örtlichen Stadt- gentlich keiner mehr auf der Rechnung men wir Handball, sehr populär und te- theater. Die langen Athleten spielten hatte, profitieren vom Boom. legen: Wir haben 1993 versucht, bei Vox fortan schon mal in Aufführungen mit, SPIEGEL: Boxkämpfe wurden erst durch ein Bundesligaspiel live zu übertragen. Schauspieler belebten im Gegengeschäft TV-Inszenierungen zu einem Ereignis. Wir haben das tapfer ein halbes Jahr die Bundesligaspiele mit ihren Auftrit- Schiphorst: Fernsehen kann einen Sport lang durchgezogen, doch es hat einfach ten in den Pausen. nur bedingt schöner machen, als er in nicht die erwarteten Quoten gebracht. Dennoch ziehen sich jetzt Sponsoren Wirklichkeit ist. Aber es ist unbestrit- Für Spartenkanäle ist Handball interes- zurück, denen der Werbeeffekt der Bas- ten, daß das Fernsehen eine erhebliche sant, im Wettbewerb der großen Sender ketballer immer noch als zu gering er- Promotionskraft ausüben kann. Letzt- aber bringt Handball in der Hauptsen- schien. Der Verein muß den Etat für die lich setzen sich aber jene Sportarten dezeit zuwenig Zuschauer. kommende Saison um ein Drittel kürzen durch, die am professionellsten gema- SPIEGEL: Die Zwei-Klassen-Gesell- und sich von Spielern trennen. nagt werden – wie Fußball, Tennis oder schaft zwischen telegenen und minder

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telegenen Sportarten ist als unabänder- und fürchten einen zu gro- lich zu akzeptieren? Die Sport-Lieblinge im Fernsehen 1995 ßen Einfluß der Wirt- Schiphorst: Sicher ist die Schere weiter schaft. meistgesehene Zuschauer Markt- auseinandergegangen. Aber die Ver- Übertragungen Platz in Millionen anteile Schiphorst: In Deutsch- hältnisse für den Sport haben sich insge- land sind wir so weit da- Schulz – Botha 1 18,0 68,0% samt nicht verschlechtert. Sie haben sich WM-Kampf von entfernt, daß wir über nur nicht in dem Maße verbessert, wie diese Ängste nicht disku- Maske–Rocchigiani es sich viele erhofft haben. 2 17,6 73,2% tieren müssen. Wenn sich 2. WM-Kampf SPIEGEL: Was raten Sie denn etwa der der Staat zunehmend aus Deutschland–Bulgarien Präsidentin des Deutschen Volleyball- 3 14,3 45,0% der Sportförderung ab- EM-Qualifikation Verbandes, wenn sie am runden Tisch meldet, ist es eine schlich- beim Bundeskanzler um Rat bittet? Maske–Rocchigiani 4 12,9 57,9% te Überlebensfrage, ob Schiphorst: Um solche Fragen geht es 1. WM-Kampf der Sport den Dialog mit Wales–Deutschland diese Woche in Bonn nicht. Im übrigen 5 12,5 41,4% der Wirtschaft verstärkt, finde ich: Volleyball wird doch gut geco- EM-Qualifikation um neue Einnahmequel- erfolgreichste Sendungen vert. Die Großereignisse werden von verschiedener Sportwettbewerbe len zu schaffen. ARD und ZDF übertragen, es gibt eine SPIEGEL: Als Vertreter München–Lissabon 11 10,5 34,5% ausreichende Zahl von Sponsoren – viel Uefa-Pokal eines Medienkonzerns, mehr gibt der Markt nicht her. Die Er- der über den Sport sei- Bremen–Dortmund 15 9,6 33,7% wartungen etlicher Sportfunktionäre, Bundesliga ne Marktposition gestärkt was Sponsoren- und TV-Gelder betrifft, hat, kann Ihnen diese Bitt- M’gladbach–Kaisers- 16 9,6 35,1% waren einfach viel zu hoch. lautern; DFB-Pokal stellerhaltung nur recht SPIEGEL: Wem fällt denn dann die Rolle sein. als Retter zu? Großer Preis von 31 8,4 31,5% Schiphorst: Wer will denn Argentinien; Formel 1 Schiphorst: Gefragt sind nicht Retter, Bittsteller? Geben und „ran“ vom 18.11.1995 sondern Förderer. In Bonn geht es um 32 8,4 35,5% Nehmen ist das Thema. Bundesliga grundsätzlichere Dinge wie Nachwuchs- Jedem Funktionär steht Sampras–Becker 60 7,4 54,1% frei, wie weit er die Ver- förderung, Leistungsbereitschaft, Ju- Wimbledon-Endspiel gendarbeitslosigkeit – wir wollen die ge- marktung seiner Sportart sellschaftliche Rolle und Kraft des Internationales 68 7,3 40,8% treiben will. Wimbledon Sports stärken. Hier sehen die Initiato- Neujahrs-Springen ist das beste Beispiel: Der ren eine Gesamtverantwortung. Tennis-Klub hat sehr ge- SPIEGEL: Jede Hilfestellung wird unter sponsoring, sagen Untersuchungen, nau darauf geachtet, Marketing und dem Begriff Sportsponsoring subsu- wächst weiter. Werbung auf dem Platz nicht zu über- miert. Jede Mark, die in telegene Sport- SPIEGEL: Professor Helmut Digel, der treiben – und er hat dabei nicht immer arten investiert wird, fehlt anderswo. Präsident des Deutschen Leichtathletik- auf den letzten Penny gesehen. In Schiphorst: Das ist nicht zwangsläufig Verbandes, hat ein Ende der leeren Deutschland fehlt es oft an Leuten, die so. Richtig ist, daß der Sport zuneh- Versprechen verlangt und konkrete mä- einen Sensor dafür haben, wie man den mend auf die finanzielle Hilfe der Wirt- zenatische Leistung eingefordert. Ist die Sport professionell an den Mann bringt. schaft angewiesen sein wird. Wenn von Wirtschaft dazu bereit? SPIEGEL: Sie können Wimbledon doch der Wirtschaft aber Geld gefordert Schiphorst: Der runde Tisch wird nicht nicht allen Ernstes mit irgendeinem wird, muß der Sport die Argumente da- die Probleme eines einzelnen Präsiden- deutschen Sportfest vergleichen. für liefern. Dann wird sich die Wirt- ten lösen. Es wird beim Kanzlerge- Schiphorst: Wir haben in Deutschland schaft nicht verschließen. Das Sport- spräch kein Einsammeln der Kollekte einen der umkämpftesten Fernsehmärk- geben. Die Wirtschaft will auch gar te der Welt, der absolut quotenorien- 1400 nicht als Mäzen auftreten, sondern wir tiert ist. Privatsender können es sich ein- verstehen uns als Sponsoren, die Lei- fach nicht leisten, Sport für Minderhei- stungen gegen Leistungen stellen wol- ten zu zeigen. Sie laufen Gefahr, daß 1200 Neuer Rekord len. Der Sport hat ja einiges anzubieten sich in dieser Zeit ihre angestammten – nur die Verpackung stimmt nicht im- Zuschauer wegzappen. Es gibt durchaus Preise für die Über- 1000 mer. Eitelkeiten und schlichtes Macht- Fälle, wo Sportveranstalter für die tragungsrechte der streben müssen durch ein klares Marke- Übertragung sogar zahlen wollen. Doch

Olympischen Spiele Sydney ting-Konzept ersetzt werden. die großen Sender müssen ablehnen, für die USA und Europa SPIEGEL: 800 Das Grundproblem scheint zu weil sie befürchten, daß die Delle in in Millionen Dollar Atlanta sein: Wirtschaft und Sportfunktionäre der Zuschauerquote den ganzen Tag SOMMER sprechen zu oft eine andere Sprache. nicht mehr aufgeholt werden kann. Bei WINTER 600 Das blockiert eine Zusammenarbeit. reinen Sportkanälen ist das Bild positi- Schiphorst: Unabhängig vom runden ver. Barcelona Tisch muß sich jeder Verband fragen, SPIEGEL: Die Hoffnung auf zusätzliche

Salt Lake City Salt Lake ob er zusätzliches Potential hat, das er Einnahmequellen trügt?

Seoul 400 der Wirtschaft anbieten kann. Und er Schiphorst: Einige Sportarten, die es im Los Angeles Nagano muß für mögliche Investitionen profes- werbefinanzierten Fernsehen nicht ge- 200 sionelle Ansprechpartner bieten, die so- schafft haben, bekommen künftig durch Moskau Calgary fort entscheiden können. Beim Deut- Pay per view oder interaktive Services Montreal Lillehammer Albertville schen Sportbund und dem Nationalen eine neue Plattform. Ich denke zum Bei- 0 Olympischen Komitee wäre eine Kon- spiel an eine Vernetzung von Fernsehen 1976 1980 1984 19881992 1996 2000 2004 2008 zentration dringend notwendig gewe- und neuen Online-Diensten. Wir ent- sen. Jetzt marschieren beide getrennt. wickeln gerade mit dem Deutschen Ten- Lake Placid SPIEGEL: Die Funktionäre verweisen nis-Bund und dem Deutschen Sport- Sarajevo Innsbruck auf das aggressive Marketing von Nike bund entsprechende Projekte. Y

200 DER SPIEGEL 7/1996 Werbeseite

Werbeseite . REGISTER

Gestorben Dirigent durchaus Anklang. Solange er konnte, spielte der in seiner Heimat als John Testrake, 68. Als „Insel der Ruhe“ „König Midas“ der Musik verehrte (New York Times) erwies sich der Maestro täglich eine Stunde Bach auf TWA-Flugkapitän während der 17 dem Klavier. Gianandrea Gavazzeni schreckensvollen Tage im Juni 1985, als starb vergangenen Montag in Bergamo. schiitische Terroristen seine Boeing 727 in ihrer Gewalt hielten, um in Israel ein- sitzende Hisb-Allah-Angehörige frei- Derek Warlock, 76. Überzeugend wie zupressen. Die eingeschlossenen Flug- nur wenige katholische Würdenträger gäste wurden brutal behandelt und ver- setzte der Erzbischof von Liverpool ge- prügelt. Testrakes Funkspruch an den mäß dem Zweiten Vatikanischen Kon- Tower von Beirut, der ihm die Landeer- zil die Zusammenarbeit mit anderen laubnis verweigern wollte, wurde in al- christlichen Kirchen in die Praxis um: ler Welt gehört: „Sie drohen, die Passa- Gemeinsam mit dem anglikanischen Bi- giere zu töten, vor allem aber brauchen schof David Sheppard galt der enge wir Treibstoff und müssen landen.“ Das Freund des Papstes als Architekt einer Bild, das Testrake am Cockpitfenster einzigartigen ökumenischen Partner- schaft – zum Vorteil einer der sozial wie wirtschaftlich angeschlagensten Regio- nen im Vereinten Königreich. Die bei- den Kirchenfürsten, laut Volksmund untrennbar „wie Fisch und Chips“, ent- schärften in der Hafenstadt am Mersey Rassenkonflikte wie religiöse Gegen- sätze und trugen maßgebend dazu bei, daß sich die Spannungen nicht wie im nordirischen Belfast in Haß und Gewalt entluden. Erzbischof Derek Worlock

AFP / DPA erlag vergangenenDonnerstag inLiver- pool einem langen Krebsleiden. mit der Pistole eines Hijackers vor der Nase zeigt, erkoren Amerikas Fotogra- fen zum „Foto des Jahres 1985“. Beiläu- Adolf Galland, 83. Er wurde mit Orden fig erwähnte Testrake später, er habe in überhäuft, von Beförderungen gerade- dasFoto, mitdem dieHijacker ihre Ent- zu verfolgt und vom Nazi-Regime als schlossenheit dokumentieren wollten, smarter Vorzeigeheld präsentiert: Ge- erst eingewilligt, als die Waffe entladen rade mal 30 Jahre war der damals schon war. John Testrake starb vergangenen legendäre Jagdflieger Adolf Galland Dienstag in St. Joseph (Missouri) an alt, als er im November 1941 zum Gene- Krebs. ral der deutschen Jagdflieger ernannt wurde. Doch der Schreibtischposten lag

Gianandrea Gavazzeni, 86. Er war ein Profi ohne Gloriole, ein Maestro ohne Mätzchen, ein Musiker mit stiller Welt- karriere –ein Fossil also in der Zunft der flotten Macher. 1948, nach Klavier- und Kompositionsstudien, debütierte der Rechtsanwaltssohn aus Bergamo an der Mailänder Scala und übernahm 1966 für zwei Jahre sogar die Leitung der Re- nommierbühne. Bei mehr als 80 Scala-

Aufführungen stand Gavazzeni auf DPA dem Podium, begleitete dort so promi- nente Stars wie Maria Callas oder Mario ihm nicht. Immer wieder stritt er sich del Monaco und reiste mit dem Ensem- mit der Luftwaffenführung, verlor seine ble des italienischen Nationalheilig- Stellung aber erst Anfang 1945, als er tums bis nach Moskau und Montreal. Hitler selbst wegen der katastrophalen Auch an der New Yorker Met und der Luftverteidigung der deutschen Zivil- Lyric Opera Chicago war er als profun- bevölkerung anging. Nach dem Krieg der Kenner der Opernkunst geschätzt. arbeitete Galland lange Zeit als Militär- Aus seinen eigenen Kompositionen berater des argentinischen Diktators „wurde nichts Richtiges“, wie er einge- Pero´n, später verdingte er sich als Bera- stand, doch als Entdecker und Heraus- ter für deutsche, amerikanische und ka- geber unbekannter Opern, als Autor nadische Luftfahrtfirmen. Adolf Gal- von Komponistenporträts und als Me- land starb am vergangenen Freitag in moirenschreiber fand der bescheidene seinem Haus in Remagen bei Bonn.

202 DER SPIEGEL 7/1996 Werbeseite

Werbeseite .. PERSONALIEN

rsula Andress, 59, in Uder Schweiz geborene Schauspielerin („Vier für Texas“, „Was gibt’s Neues, Pussy?“), erhielt zum 60. Geburtstag, der am 19. März begangen wird, ei- ne verführerische Offerte. Das Hochglanzheft für den abgeklärten Herrn, der amerikanische Playboy, bot 250 000 Dollar, wenn sich das Sex-Symbol der

sechziger Jahre nackt foto- AVALA / SIPA grafieren und abbilden las- Mladic´ (l.), Karremans (r.) se. Daraus wird wohl nichts, obwohl die ehemali- on Karremans, 47, Oberst in der ge 007-Gespielin („James Tholländischen Armee und weltbe- Bond jagt Dr. No“) noch kannter Blauhelmsoldat, erhält eine immer attraktiv ist. Sohn neue Funktion. Der umstrittene Sol- Dimitri, 16, erhebt Ein- dat, der mit dem vom Uno-Tribunal wände. Ihm reichen bereits als Kriegsverbrecher gesuchten serbi- die derben Scherze seiner schen General Ratko Mladic´, 52, nach Schulkameraden, die die den Massenmorden in Srebrenica ein Filme seiner Mutter gese- Gläschen hob, wird – nach einem hen haben. Crash-Kurs in Englisch – niederländi- scher Verbindungsoffizier an einem Schulungszentrum für Taktik und neue Waffen im US-Staat Virginia. Derweil ist es zwischen Hollands Verteidi- gungsminister und dem Oberbefehls- haber der Koninklijke Landmacht zu einer heftigen Auseinandersetzung ge- kommen. Die Militärs hatten den Mi- nister nicht über die Versetzung infor- miert.

ngela Merkel, 41, Bundesumwelt- Aministerin, scheiterte beim Ver-

STILLS / INTERTOPICS TEUTOPRESS such, symbolische Politik zu betrei- Sean Connery, Ursula Andress (Filmszene aus „James Bond jagt Dr. No“, 1962), Andress 1995 ben. Zum 10. Jahrestag der Reaktor- katastrophe von Tschernobyl am 26. April hastete die stellvertretende lain Juppe´, 50, französischer Pre- sche Premier in mehreren Provinzzei- CDU-Vorsitzende in 54 Stunden Amierminister und Bürgermeister tungen, „angezettelt vielleicht von durch die Ukraine und Weißrußland. von Bordeaux, stolperte über eine Leuten unter Hammer und Sichel“. Bei 7 Stunden im Flugzeug und etwa Juppe´-Huldigung, die Frankreich zum Warum nicht gleich „von Juden und 20 Stunden im Bus blieb zur Informa- Lachen brachte. Auf Initiative von Freimaurern?“ höhnte daraufhin der tion kaum Zeit. Im Krankenhaus von Juppe´-Freunden im Rathaus der Wein- sozialistische Oppositionsführer Gilles Gomel, wo weißrussische Strahlen- stadt wurden in Unterrichtsräumen Savary im Bordelaiser Stadtrat. opfer behandelt werden, verbrachte der städtischen Schu- Frau Merkel für die deutschen Fern- len Fotos des Politi- sehnachrichten drei Minuten zwischen kers aufgehängt. Die krebskranken Jungen. Zudem über- Aktion begann in reichte sie zwei Gymnastikbälle, Bezirken mit traditio- „damit sich die Kinder nicht so lang- nell sozialistischer weilen“. Leider fehlt in der Klinik die und kommunistischer passende Pumpe für die schlaffen Mehrheit. Nach star- Gummihüllen. Viel dringender benö- ken Protesten wählte tigt die Krebsstation Medikamente Juppe´ den Angriff als für die Chemotherapie. Mit den die beste Form der 70 000 Mark, die allein der Flug ko- Verteidigung. Es stete, hätte Arznei für vier Wochen handle sich bei der Bil- beschafft werden können. Doch für der-Affäre um „einen lästige Details war keine Zeit. „Los charakteristischen An- jetzt“, drängelte die Ministerin immer schlag“ auf seine Se- wieder. Am Dienstag abend mußte

riosität als Politiker, PELLETIER / SYGMA sie schließlich pünklich zu einem erklärte der gaullisti- Juppe´ Abendessen wieder in Bonn sein.

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olker Rühe, 53, Bundesvertei- Vdigungsminister, leistete Le- benshilfe für den neuen Bundes- wehr-Generalinspekteur Hartmut Bagger, 57. Der hatte sich über die im SPIEGEL (3/1996) zitierte Aussage des SPD-Wehrexperten und Mitglieds des Verteidigungs- ausschusses im Bundestag, Man- fred Opel („Wenn Bagger einen Handel für Gebrauchtwagen hät- te, stünde am Eingang eine War- teschlange“), geärgert. Dies sei, mußte Rühe den vergrätzten Mi- litär vergangene Woche belehren, mitnichten als Kritik auszulegen. Vielmehr handele es sich um ein Lob und einen Beleg für das Ver-

trauen, das der General im Ver- DEUTSCHE SCHILLERGESELLSCHAFT teidigungsausschuß genieße. Für Else Lasker-Schüler (um 1909) Politiker könne es „kein größeres Kompliment geben“. Rühe: „Damit ajo Jahn, 56, Geschäftsführer der kann man in Amerika Präsident wer- H Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft, den“. soll dem Finanzamt Wuppertal-Elber- feld eine knifflige Frage beantworten. mberto Bossi, 54, Chef der italieni- Unter der Adresse der Literaturgesell- Uschen Autonomiebewegung Lega schaft und mit Geschäftszeichen Nord, wirbt für sich und seine Partei 132/234/WV hatte die Behörde der nach Art des berühmten Pirelli-Kalen- Dichterin mitgeteilt, sie habe „im Ka- ders. Zwölf nordbündlerische Mädel, lenderjahr 1994 verschiedene Zahlun- für jeden Monat eines, posieren in lufti- gen von dem Sender Deutschland-Ra- gem Outfit. Dazu trägt ein jedes ein T- dio erhalten“. Sie möge mit Frist bis Shirt, eine Fahne, einen Schirm oder ei- zum 1. März 1996 mitteilen, „inwie- ne Schärpe mit dem Parteislogan weit diese Zahlungen bereits steuerlich „Immer hart und rein“. Das Kalender- erfaßt worden sind“ sowie „unter wel- deckblatt schmückt Bossi selbst: Vor cher Steuernummer und bei welchem wehenden Lega-Fahnen steht der Lega- Finanzamt“ die Kleist-Preisträgerin Führer am Rednerpult, das Gesicht in bislang steuerlich geführt worden sei. die ferne Zukunft gerichtet, das Hemd Else Lasker-Schüler floh 1933 vor den aufgeknöpft bis zum unerotischen Un- Nationalsozialisten ins Exil und starb terhemd, auf der haarigen Brust ein 1945 verarmt in Jerusalem. skar Lafontaine, 49, Osaarländischer Mini- sterpräsident und SPD- Vorsitzender, befolgt jetzt einen Rat seines früheren Parteigegners Helmut Schmidt im Übermaß. Der von La- fontaine einst ge- schmähte Ex-Kanzler („Sekundärtugenden, mit denen man ein KZ leiten kann“) hatte den Deutschen 1978 emp- fohlen, wenigstens ein- mal in der Woche einen fernsehfreien Tag einzu- legen. Vor der Fried- Bossi-Kalender rich-Ebert-Stiftung in Bonn warb Lafontaine Goldkettchen samt Anhänger, die für mehr lesen und weniger fernsehen. Faust drohend erhoben. Der Erfolg ist „Wir haben unseren Fernseher in den enorm, der Kalender für 8000 Lire ist Keller gestellt“, lobte sich der Sozial- ausverkauft. Im nächsten Jahr soll es demokrat. „Seitdem habe ich mehr einen neuen geben, dann vielleicht Zeit zum Lesen und schaffe das Drei- auch mit nordbündlerischen Athleten. fache an Lektüre.“ . FERNSEHEN

MONTAG 12.2. nicht in den Fängen des Dicken. Nach 20.45 – 0.35 Uhr Arte Großtantchens Tod erbt Lillian (So- Die schöne Querulantin 19.25 – 21.00 Uhr ZDF phie von Kessel) die Bruchbudenknei- Amerika pe. Und weil es das Genre des Mär- Ein lebenssatter Maler (Michel Picco- chenhaften so will, entschließt sich die li), sein schönes Modell (Emmanuelle In Ronald Eichhorns Regiedebüt ist junge Frau, mitsamt der Crew (Hagen Be´art), die flirrende Sommerluft des Amerika ein Ort der beschränkten Mueller-Stahl, Gudrun Okras, Weijian Südens – Jacques Rivettes Verfilmung Möglichkeiten. Das zwischen Chem- Liu) dem kapitalistischen Raffke zu einer Balzac-Vorlage (Frankreich trotzen und ein kleines, 1991) wärmt im kalten Winter. feines Restaurant aus der verkommenen Klit- 21.00 – 21.40 Uhr ARD sche zu machen. Der Report sympathische Film ver- sucht keine Sekunde Themen aus München: Das brutale realistisch zu sein, son- Robbenschlachten im Nordatlantik / dern kommt in seinen Lafontaine auf Öko-Crashkurs: Die westernangehauchten Energiepolitik im Saarland / Operation Bildern jenen Reklame- „Leder“: Stasi und Fußball / Reibach spots nahe, mit denen mit Ferienwohnungen: Eine Timesha- für Jeans oder Whiskey ring-Gesellschaft sahnt ab / Gewalt im geworben wird. Das Rockkonzert: Keine Macht den Be- verwundert nicht: Der hörden. Grazer Eichhorn, 29, verdiente sich erste 23.00 – 23.50 Uhr Sat 1

KINDERMANN Sporen als Werbefil- News & Stories „Amerika“-Darsteller Kessel, Stephan Ullrich mer. Trotz Märchen und Werbung über- Alexander Kluge nennt die Amerika- nitz und Leipzig gelegene Nest Ameri- zeugt das Stück: Sophie von Kessel hat nerin Sara Paretsky, 48, „eine der be- ka soll für einen Gewerbepark platt ge- so schöne strahlend blaue Augen, und sten Krimiautorinnen der Welt“. Er macht werden. Viele haben schon an die Musik (Dieter Schleip) nimmt ei- besuchte die promovierte Historikerin den fetten Grundstücksspekulanten nen mit Schwung mit auf der Fahrt in Chicago, wo sie von ihren russischen verkauft, nur der „Alte Krug“ ist noch durch dieses deutsche Roadmovie. Großeltern erzählt.

DIENSTAG 13.2. on zunächst folgenlos, doch nach Jah- ten, sabbernden Wracks wurde eine ren zeigten sich die Schäden, die das Gruppe singender und tanzend ihr Er- 20.00 – 21.55 Uhr Pro Sieben Virus im Hirn angerichtet hatte: Die wachen, ihre Auferstehung feiernder Inzest – Ein Fall für Sina Teufel Patienten versanken in absolute Star- Erwachsener. Doch viele der Erweck- re. Der aus England in die USA ge- ten fielen schon bald wieder in die alte Nach dem brutalen Raubmord an ei- kommene Mediziner Oliver Sacks ver- Krankheit zurück, weil sie, deren Be- nem Senator erbt dessen Tochter (Ju- abreichte 1969 den von ihm betreuten wußtsein bei Eintritt der Krankheit liane Köhler) ein immenses Vermö- Schlafkrankheitsopfern ein hochdo- stehengeblieben war und die nun phy- gen, ihr homosexueller Bruder (Felix siertes Medikament namens L-Dopa, sisch viel älter waren als ihre Seele, oft Eitner), eigentlich Liebling des Vaters, und aus den erstarrten, verkümmer- den Zusammenprall mit der Realität erhält nur den Pflichtteil. Die nicht verkrafteten. Penny Mar- Münchner Anwältin Sina Teufel shalls Film (USA 1990) zeigt (Renan Demirkan) soll die Erb- überzeugend den Kampf der Pa- schaft abwickeln und entdeckt tienten. Überragend: Robert De schon bald die schicksalhafte Niro als krampfgeschüttelter Verstrickung der Geschwister. Mann, der die Krankheit trotz Klaus Emmerich („Rote Erde“) übermenschlichen Willens nicht verfilmte mit dieser Pro-Sieben- besiegen kann. Eigenproduktion den Krimi „Brüderlein, Schwesterlein“ von 20.15 – 23.10 Uhr RTL Lara Stern. Kölle Alaaf! 20.00 – 22.15 Uhr Kabel 1 RTL-Chef Helmut Thoma ist als Zeit des Erwachens frischernannter Generalleutnant der Prinzengarde zu sehen und Die „Europäische Schlafkrank- tanzt mit dem Quotenmariechen. heit“ wurde zuerst 1916 in Wien beobachtet, breitete sich um die 22.15 – 22.45 Uhr ZDF halbe Welt aus, fand etwa fünf Halleluja turbogeil Millionen Opfer und erlosch nach einem Jahrzehnt so plötz- Jana Matthes und Andrea lich, wie sie aufgetaucht war. Ein Schramm beschreiben die neue

Teil der Erkrankten starb rasch, CINETEXT charismatische Frömmigkeit in andere überstanden die Infekti- „Zeit des Erwachens“ mit De Niro (r.), Robin Williams Ostdeutschland.

206 DER SPIEGEL 7/1996 .

12. bis 18. Februar 1996

MITTWOCH 14.2. Dame. „Walker“ heißen die Mietboys 0.50 – 2.10 Uhr zwischen 24 und 60 Jahren, sind min- ARD 20.00 – 22.00 Uhr Sat 1 destens 1,80 Meter groß und kosten 70 Eine andere Frau Der König Mark pro Stunde. Besonders Ge- schäftsfrauen bedienen sich männli- Durch einen Lüf- Die erste Staffel mit Günter Strack als cher Begleitung, stellen sie bei Ge- tungsschacht hört eigenbrötlerischem Kommissar im Un- schäftsbesprechungen als ihre Assi- eine Karrierefrau ruhestand brachte 1994 durchschnitt- stenten vor und sind so vor lästigen (Gina Rowlands) lich 5,6 Millionen Zuschauer und Ver- Einladungen sicher. den Gesprächen ei- ärgerung bei den Bild-Lesern: Der nes Psychoanalyti- leibstarke Protagonist sollte – so die 23.05 – 1.00 Uhr Arte kers zu, was sie in Meinung der Mehrheit – nicht mehr Der Prozeß eine Krise stürzt. mit Bartstoppeln spielen. So ist Strack Die Handlung hat jetzt öfter rasiert. Anthony Perkins, Jeanne Moreau und Bezüge zur inneren Romy Schneider in Orson Welles’ Situation des Regis- 22.00 – 22.30 Uhr ARD Verfilmung (Frankreich/Italien/BRD seurs Woody Allen: Männer zum Mieten 1962) des berühmten Kafka-Romans. Er verlor sich in Der Film gehorcht mehr den Obsessio- Symbolen, weil er Yasmina Bauernfeind beobachtete die nen des Regisseurs, als daß er dem Vorbild Ingmar

Herren einer Wiener Begleitagentur Prager Dichter gerecht wird. Großar- Bergman allzusehr TELEBUNK auf ihrem Dienst an der Seite einer tig ist er dennoch. folgte. Rowlands

DONNERSTAG 15.2. mit einem Sex-im-Cockpit-Komplex, schen die Schenkel einer Badenden hoch über der Stadt mit einem Leut- bohrt. 20.10 – 22.45 Uhr Vox nant treibt. Spielberg zitiert in dieser 1941 – Wo, bitte, geht’s nach 40-Millionen-Dollar-Sahnetorte bei- 20.15 – 22.30 Uhr ZDF Hollywood? nahe alle Kriegs- und Katastrophenfil- Mer losse d’r Dom in Kölle me sowie sein eigenes Kinostück „Der 24 Stunden kurz nach dem Überfall weiße Hai“ – wenn sich plötzlich das W’r glauben es ja, ihr braucht es nicht auf Pearl Harbor taucht in Steven Periskop der verirrten Japaner zwi- jedes Jahr aufs neue zu versprechen, Spielbergs Kata- ihr Domis. strophen-Komödie (USA 1979) ein ja- 21.00 – 21.45 Uhr ARD panisches U-Boot Monitor vor der kaliforni- schen Küste auf und Themen: Asylbewerberheime: der löst in Los Angeles Staat als Brandstifter / Arbeitslosig- ein Chaos aus. Ein keit: die Büttenreden der Politiker / General sitzt gerade Beitragsverschwendung von Kranken- im Kino, während kassen / Doping durch Hamburger. draußen auf dem Hollywood Boule- 0.00 – 1.00 Uhr Sat 1 vard seine Soldaten Die Harald Schmidt Show auf die weihnachtli- FILM che Dekoration bal- Werder-Wotan Super-Mario Basler

lern und es seine COLUMBIA wird heute durch das Schmidtzel-Werk Sekretärin, behaftet Szenenfoto aus „1941 – Wo, bitte, geht’s nach Hollywood?“ gedreht. Siehe auch Seite 120.

FREITAG 16.2. für Sat 1, den Kult um Captain Kirk & 20.15 – 23.15 Uhr ZDF Co. mit etlichen Wiederholungen zu Mainz bleibt Mainz, wie es singt 18.54 – 19.53 Uhr ARD feiern. 1979 entstand für 42 Millionen und lacht Herzblatt Dollar dieses „Enterprise“-Kinostück: Eine geheimnisvolle Energiewolke Das Sing-Sing des deutschen TV- 3200 Kandidaten haben zunächst Rudi droht, die Erde zu zerstören. Das Humors. Ohne die Gonsbachleichen, Carrell und dann Rainhard Fendrich Raumschiff unter dem Kommando von äh -lerchen. 2400 Fragen beantwortet, aber die James T. Kirk (William Shatner) Flirtshow – heute 200. Ausgabe – dringt bis in ihr Zentrum vor. Die Na- 20.45 – 22.15 Uhr Arte geht weiter. Das macht jeden Scherz vigatorin Ilia (Persis Khambatta) wird Kleiner König Erich platt. von der Wolke entführt. Der verschrobene Sohn (Alexander 20.00 – 22.30 Uhr Sat 1 20.15 – 21.45 Uhr ARD Wagner) soll bei seinem Vater, dem Star Trek – Der Film Klinik unter Palmen Brotfabrikanten (Klaus Höhne), in die Firma einsteigen – doch der Uhrma- Vor 30 Jahren wurde bei NBC zum er- . . . sollte eine geschlossene Abteilung cher will nicht, weil er nicht so lei- stenmal eine Folge der Serie „Raum- werden: Der TV-Schwachsinn ist ge- stungsbewußt tickt. Komödie von Tho- schiff Enterprise“ ausgestrahlt – Anlaß meingefährlich. mas Bahmann.

DER SPIEGEL 7/1996 207 .

FERNSEHEN

SAMSTAG 17.2. und wie stets bei Stone ist es eine ge- DIENSTAG waltige Verschwörung, die den ausein- 22.00 – 23.00 Uhr Sat 1 20.00 – 23.40 Uhr Kabel 1 anderstrebenden Geschichtspartikeln SPIEGEL TV REPORTAGE Lawrence von Arabien erst Sinn und Zusammenhalt verleiht. Straßenkinder in Deutschland Peter O’Toole als englischer Offizier 22.00 – 0.30 Uhr RTL Sie lügen und stehlen, kiffen und sau- T.E. Lawrence, das weiße Gewand Boxen fen, prügeln sich und verkaufen ihren flatternd im Wind, zu Pferd durch die Körper. „Jugendliche in besonderen Pro- Wüste. Der heldenhafte Colonel führt Erst singt Startenor Jose´ Carreras blemlagen“ nennt die Bundesregierung während des Ersten Weltkriegs die auf- „Amore perduto“, dann soll in der eine wachsende Zahl junger Menschen, ständischen Araber gegen die Türken. Dortmunder Westfalenhalle Halb- Keine Minute ist David Leans Monu- schwergewichts-Weltmeister Henry mentalwerk (England 1962) langwei- Maske aus dem Jamaikaner Duran lig. Williams Amore kaputto machen. Vorsichtshalber wird den Promis Sekt 20.45 – 21.35 Uhr Arte im Pappbecher ausgeschenkt. Wild Palms 22.40 – 23.25 Uhr 3Sat Die Zukunft als Verschärfung der Ge- Foyer genwart: Im 21. Jahrhundert wird der Staat Kalifornien von einer Sekte be- Im August 1995 hatte im Berliner Sze- herrscht, deren Ähnlichkeiten mit ne-Klub „Ex & Pop“ das von Ben

Scientology nicht bloß zufällig sind. Becker geschriebene und inszenierte SPIEGEL TV Die Menschen aber beten die toten Bil- Theaterstück „Sid & Nancy“ Premie- Straßenkind der auf ihren Fernsehschirmen an, und re. Es basiert auf der Geschichte von der technische Fortschritt hat es so weit Nancy Spungen und Sid Vicious, dem die ihren Lebensmittelpunkt auf die gebracht, daß die Zombies aus den Bassisten der Punk-Band Sex Pistols, Straße verlegt haben. Die Bahnhofsmis- Bildschirmen steigen und als dreidi- die beide Ende 1978 / Anfang 1979 in sion in Halle registrierte allein im Janu- mensionale Hologramme den Leben- New York tragisch ums Leben kamen. ar 741 Besuche von 14- bis 17jährigen, den die Präsenz und die Identität rau- Die Hauptdarsteller in der Inszenie- mehr als doppelt so viele wie im Vor- ben und sich an deren Stelle setzen: rung sind Schwester Meret Becker, der jahr. Die SPIEGEL-TV-Autoren Kathrin Nicht die Menschen begeben sich in Gitarrist der Musikgruppe Einstürzen- Warkotz und Marco Berger sprachen mit den Cyberspace – vielmehr kommt der de Neubauten, Alexander Hacke, so- Kindern und Eltern. Cyberspace zu den Menschen und läßt wie Ben Becker selbst. Die filmische ihnen keine Chance, sich der Realität Dokumentation von Uli M. Schüppel noch zu vergewissern. Filmregisseure folgt dem intensiven, bisweilen auch FREITAG wie Phil Joanou („State of Grace“) und chaotischen Prozeß dieses in völliger 22.05 – 23.00 Uhr Vox Kathryn Bigelow („Strange Days“) ha- Eigeninitiative aufgezogenen Projekts ben die sechs Folgen dieser Serie (zwei- bis zur Aufführung und dokumentierte FREITAGNACHT ter Teil am nächsten Samstag) insze- mit Montagen am Rande der Proben Käfer für Kläffer niert; produziert hat sie Oliver Stone, die Atmosphäre. Magazin mit Sandra Maischberger. Un- ter anderem besucht Herbert Feuerstein Feinschmeckerläden für Hunde und Kat- SONNTAG 18.2. deutsch-französische Kanal seinen zen. Themenabend. Höhepunkt (22.10 20.45 – 2.00 Uhr Arte Uhr) „Down by law – Alles im Griff“. Themenabend: New Orleans „Halb Märchen, halb Alptraum“ SAMSTAG nannte US-Regisseur Jim Jarmusch 22.00 – 24.00 Uhr Vox Den schönen und häßlichen Seiten der seinen 1986 gedrehten Schwarzweiß- SPIEGEL TV SPECIAL Geburtsstadt des Jazz widmet der film. Ein kleiner Zuhälter (John Lu- rie), ein gefeuerter Diskjok- Kult auf Rädern key (Tom Waits) und ein Inlineskaten, Mountainbiker fahren quer italienischer Tourist (der durch Amerika – Extremsportarten wer- italienische Komiker Rober- den immer populärer. Die Freaks scho- to Benigni), der einen Men- nen weder Leib noch Leben, noch Land- schen erschlagen hat, tref- schaft. fen im Knast aufeinander. Ihnen gelingt auf wunderba- re Weise der Ausbruch. In SONNTAG den Sümpfen von Louisiana 21.55 – 22.40 Uhr RTL treffen sie auf eine Hütte, in SPIEGEL TV MAGAZIN der eine schöne Italienerin Pasta kocht. Schön ist der Serien-Killer – die Erforschung eines Film wegen seiner ruhigen tödlichen Phänomens / Amnesty gegen Bilder, mit denen Regisseur Polizeigewalt – was ist aus den Opfern Jarmusch Landschaft zeigt. geworden? / Das Hochseedrama als Ver-

CINETEXT Keine deutsche Synchroni- sicherungsbetrug – neue Legenden um Szenenfoto aus „Down by law“ sation stört. die „Titanic“.

208 DER SPIEGEL 7/1996 Werbeseite

Werbeseite HOHLSPIEGEL RÜCKSPIEGEL

Aus der Arzneimittelbeschreibung für Zitate das Medikament Flutamex unter der Überschrift „Das Leben weiter lieben“: Die Hamburger Morgenpost zum SPIE- „Einzelfälle von Leberschädigung mit GEL-Gespräch mit Modemacher Wolf- tödlichem Ausgang wurden berichtet. gang Joop über Bisexualität und Tabu- Bei zwei männlichen Patienten wurden brüche: ROLLENWECHSEL SIND ERO- Knoten in der Brust beobachtet, die TISCH (Nr. 5/1996): nach 3 – 5 bzw. 9 Monaten als bösartige Geschwulst diagnostiziert wurden. Ab- Nach seinem sexuellen Outing im SPIE- norme Labortests: Leberfunktionswer- GEL ist der Hamburger nun auch in den te, Blutharnstoff und Serumkreatinin. USA ein gefragter Interviewpartner. Er In der Regel erforderte die Intensität selbst ist über das große Echo auf sein Bi- dieser Nebenwirkungen keine Dosisre- Plädoyer verwundert:. „Ich versteh’ das duktion bzw. Absetzen der Therapie.“ nicht. Seit wir aus den Höhlen gekrochen sind, wissen wir, daß wir alle irgendwie Y bisexuell sind.“ Das Thema weiter aus- walzen will er nicht, und schon gar nicht möchte er sein Privatleben bloßlegen: „Die Sache ist für mich abgeschlossen.“

Aus der Frankfurter Allgemeinen Der ehemalige stellvertretende Chefre- dakteur des SED-Zentralorgans Neues Deutschland, Harald Wessel, in seinen Y „Erinnerungen an den Herbst 1965“ in der Jungen Welt:

Fürjemanden wiemich,der inseinem Le- ben bis dahin fast nur „obrigkeitstreue“ Aus einer Werbung für ein Hotelzim- Blätter kennengelernt hatte, war der mer in der Neuen Gastronomischen SPIEGEL ein Faszinosum – vor allem wegen seiner enthüllenden Faktizität, Y seiner unkonventionell assoziativen Sprache und seiner demonstrativen Un- abhängigkeit. Auch Hermann Kant und Klaus Korn, die ich als Doktorand an der Berliner Humboldt-Universität kennen- lernte und mit denen ich die Studenten- Aus der Rhein-Zeitung zeitschrift tua res fabrizierte, waren SPIEGEL-Fans. Fast alle damaligen Stu- Y dentenjournale in Westberlin und West- deutschland – einschließlich der aufstre- benden Zeitschrift konkret – waren so oder so auf den SPIEGEL fixiert.

Aus dem Traunsteiner Wochenblatt Der SPIEGEL berichtete . . . Y . . . in Nr. 6/1996 TIERMAST – MIT KOMBIS ÜBERS LAND über alarmierend hohe Kupferrückstände in Kalbslebern: 1995 enthielten bundesweit 41 Prozent aller Proben mehr als 200 Milligramm Kupfer pro Kilogramm.

Am Mittwoch voriger Woche konnten sich die obersten Veterinär- und Lebens- mittelkontrolleure bei einer Bund-Län- der-Besprechung im Bonner Gesund- heitsministerium nicht auf einen national verbindlichen Grenzwert einigen. Fest- gelegt wurde lediglich ein vorläufiger Aus der Hannoverschen Allgemeinen „Warnwert“ von 200 Milligramm pro Ki- Zeitung lo. Bei höheren Rückständen soll nach den Verursachern geforscht, die Ver- Y braucher dennoch nicht informiert wer- Aus dem Rüsselsheimer Echo: „Von den den – „ein äußerst mageres Ergebnis“, so 700 000 nichtdeutschen Tatverdächtigen ein baden-württembergischer Teilneh- waren 1993 nach Angaben von Stein- mer, angesichts möglicher Gesundheits- bach mehr als ein Drittel ausländischer gefahren durch kupferhaltige Lebensmit- Herkunft.“ tel.

210 DER SPIEGEL 7/1996