Zukunftsforum Politik

Broschürenreihe herausgegeben von der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

Nr. 2

Peter Graf Kielmansegg, Klaus-Peter Schöppner und Hans-Georg Wehling Wieviel Bürgerbeteiligung im Parteienstaat? Sankt Augustin, April 2000

Redaktionelle Betreuung: Ulrich von Wilamowitz Moellendorf, Gabriele Klesz

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Vorwort

„Wie geht’s weiter mit den Parteien in Deutschland?“ war das Thema einer Veranstaltungsreihe, in der sich die Konrad-Adenauer-Stiftung im Frühjahr 2000 mit den Folgen der Krise um Parteifinanzen in Deutschland auseinander- setzte. In fünf Hearings äußerten sich anerkannte Wissenschaftler zur Zukunft der Parteien und den wesentlichen Herausforderungen, vor denen die demo- kratische Gesellschaft in diesem Zusammenhang steht:

· Wieviel Macht den Parteien? · Wieviel Bürgerbeteiligung im Parteienstaat? · Welche Finanzierung für die Parteien? · Welcher Weg für die CDU? · Welches Ethos in der Politik?

Im zweiten Hearing „Wieviel Bürgerbeteiligung im Parteienstaat?“ befaßten sich die eingeladenen Experten vor allem mit den Fragen:

· Wie läßt sich die interne Willensbildung in den Parteien verbessern? · Welche Vorschläge zur besseren Bürgerbeteiligung lassen sich machen? · Welche Vor- und Nachteile würde eine zeitliche Begrenzung von Regie- rungs- und Parteiämtern bringen?

Im vorliegenden Heft sind die Stellungnahmen der Wissenschaftler dokumen- tiert und die Ergebnisse der Diskussion zusammengefaßt.

Dr. Stephan Eisel Leiter der Hauptabteilung Innenpolitik und Soziale Marktwirtschaft 4

Klaus-Peter Schöppner

Bürgerbeteiligung, um Vertrauen in die Politik zurück zu gewinnen?

Demoskopischer Überblick über das, was wirklich passiert ist: 1 Nie zuvor hat eine Partei das Vertrauen der Wähler so erschüttert, wie die CDU seit der „KW 47“. Der Woche des Jahres 1999, als aus der Kiep die Kohl Affäre wurde. Noch im November sonnte sich die CDU im wundersamen Stimmungsaufschwung ohne programmati-sche Substanz. Dann das Drehen und Wenden vor den Augen der zunehmend entsetzten Öffentlichkeit im Spendensumpf. Innerhalb kürzester Zeit verlor die CDU das Vertrauen der Wähler in einer noch nie dagewesenen Weise:

Vertrauen in unsere Parteien Großes Vertrauen in

in %

50 CDU / CSU SPD

45

40

35 34 30 31

25

20

15

12 10 8 5

0 1998 2000

Denn gerade noch 8 % setzten großes Vertrauen in die CDU. Vor zwei Jahren waren es noch 31%.

Doch nicht nur die Union traf der Spendensumpf. Auch die SPD ständige Filz- vorwürfe. Die Frage, die nun wichtig ist und durch die Grafik bereits vorweg- genommen wurde: Hat sich die tägliche Flug- und Finanzierungssoap in- zwischen zur Staatskrise ausgeweitet? Zumal Rot-Grün, die eindeutig in der besseren Lage sind, weil beide Affären mit anderen Wertigkeiten gesehen

1 Alle im folgenden verwendeten Daten beruhen auf Umfragen des EMNID-Instituts. 5 werden, auf die täglich neuen Enthüllungen lange Zeit nur mit einer Politik der Nadelstiche reagierte. Bis heute denken deren Politiker gar nicht daran, irgend etwas zur Rettung unseres Parteienstaates zu unternehmen, weil sie mög- lichst lange Nutznießer des CDU – Fiaskos bleiben wollten.

Doch diese Strategie zeugt von unrealistischer Einschätzung der Stimmungs- lage. Schließlich ist das Vertrauen in die SPD kaum besser:

Gerade mal 12% haben Anfang 2000 großes Vertrauen in die SPD. 1998 waren es noch 34%

Die Parteispendenaffäre hat katastrophale Auswirkungen. Vor allem für die CDU, weit über den eklatanten Vertrauensverlust hinaus. So wie in den USA haben Wahlsiege inzwischen auch bei uns nur noch wenig mit Können und Konzepten zu tun. Viel mehr mit Image, Ausstrahlung und öffentlicher Stimmung. Nistet sich ein Urteil erst mal in die Köpfen der Deutschen, egal ob „Die können‘s nicht“, wie im Herbst bei der SPD oder „Filz ohne Ende“ nun bei der CDU, dann hat nüchterne Sacharbeit kaum mehr eine Chance, die Wähler zu erreichen. Die politische Stimmung, nichts anderes mehr, entscheidet Wahlen. Und bestimmt damit über politische Sachentscheidungen.

Als vor gerade mal zwei Monaten die Wähler vom ewigen Ruck-Zuck und Hin und Her der rot-grünen Regierung die Nase voll hatten, sahen die Wähler die Union noch in 7 der 10 wichtigsten Aufgabenfeldern kompetenter als die SPD. Heute führt die SPD in 9 dieser 10. Teilweise mit einem noch nie dage- wesenen Vorsprung.

In der Steuerpolitik halten inzwischen 34% die SPD für besser, nur noch 17% die Union. Bei der Schuldenbegrenzung glauben 35% an die SPD – Konzepte, nur noch 15 an die der Union. Besonders deutlich aber ist der Trend bei der Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Anfang 99 lag die SPD mit 43:22% vorne. Dann verbesserten CDU/CSU ihre Kompetenz ständig und lag im Spätherbst mit 33:26 in Front. Um jetzt wieder mit 18:35 klar hinter die SPD zurück- zufallen. 6

Kompetenzvorsprung der SPD

in %

50 50 SPD CDU / CSU 45

40

35 35 35 34 30

25

20

18 15 17 15 13 10

5

0 Sozialpolitik Steuerpolitik Staatsschulden Arbeitslosigkeit

Eigentlich hat die Union kaum andere Ideen als die SPD für die Lösung der wichtigsten Politaufgaben. Erst recht keine anderen als sie selbst noch im November. Doch wer moralisch am Pranger steht, dem wird auch in der poli- tischen Alltagsarbeit kaum etwas zugetraut. Stimmt der Rahmen nicht, hat keiner mehr Lust, sich das Bild näher anzuschauen.

Die Sozialdemokraten haben derzeit leichtes Spiel, im politischen Alltag das durchzusetzen, was sie wollen. Weil die Union abgestürzt ist wie nie zuvor: 48% unterstellten ihr noch im November die kompetentere Wirtschaftspolitik. Nun nur noch 31%. Bei der inneren Sicherheit verlor sie gleich 15%-Punkte: Sturz von 43 auf 28%. Bei den Renten ging‘s hinunter von 30 auf 19%. Und bei den Steuern sind es statt 29 nur 17%, die die Union noch für die kompe- tentere Partei halten.

Spätestens nach Brent Spar gibt es auch in Deutschland den Beruf des Krisen-Managers. Der dafür Sorge trägt, daß aus einem kurzfristigen Debakel kein langfristiges Desaster wird, das auf Jahre einen Vertrauensverlust zur Folge hat. Nie hätte eine Partei diesen nötiger gehabt. 7

„Wenn rauskommt was reinkommt, komme ich rein, wo ich nicht mehr raus- komme“ klagte einmal ein Schatzmeister, übrigens einer der SPD, über seine Schwierigkeiten mit der Geldbeschaffung. Also sind auch die Sozial- demokraten nicht so weit vom Kraterrand entfernt, wie sie uns glaubend machen wollen. Das Mißtrauen der Deutschen trifft alle Parteien.

Längst geht es um weit mehr als nur um deren Ansehen. Es geht darum, ob unsere Parteien noch eine Chance haben, ihre Glaubwürdigkeitskrise zu be- wältigen. Die Wähler geben ihnen noch eine letzte Chance.

53% glauben, daß die Parteien noch aus ihrer Vertrauenskrise herauskommen und ihre Arbeit wieder Anerkennung finden wird.

Weg aus der Krise Nach Parteien-Präferenz

in %

Total CDU / CSU SPD 100

90

80 85 70

60

50 53 53 46 47 40

30

20 14 10

0 Parteien kommen wieder aus Parteien kommen nicht der Krise wieder aus der Krise 8

Es gibt einige Möglichkeiten auf dem Weg dorthin. Z.B. den Rüttgers – Vor- schlag, die Politisierung des öffentlichen Lebens zu reduzieren. Ihre Omnipräsenz in allen möglichen Gremien, ob bei Rundfunk, Schulen, Spar- kassen, bei der Justiz und den Unis wünschen viele Wähler abgeschafft:

55% halten diese „Wir-sind-überall-Seuche“für falsch.

Omnipräsenz der Parteien Es ist richtig, wenn Parteien vieles bestimmen

k. A. 5%

richtig 40%

falsch 55%

Auch die zeitliche Limitierung politischer Ämter könnten die Parteien als „ver- trauensbildende Maßnahme“ verbuchen: 9

83% würden das, nicht zuletzt angesichts 16 Jahren Helmut Kohl, befür- worten. Nur 15% sind für zeitlich unbegrenzte Ämter.

Zeitliche Begrenzung politischer Ämter

contra zeitliche Begrenzung k. A. 15% 2%

pro zeitliche Begrenzung 83%

Politik – so inzwischen die Mehrheitsmeinung – ist also auch in Deutschland käuflich. 69% befürchten, daß Parteispenden viele politische Entscheidungen in Deutschland beeinflußt haben. Auch Politiker – so lehren uns viele Beispiele über alle Parteigrenzen hinaus – sind Menschen, die gern mal Geld, Geschenke und Gefälligkeiten annehmen, für die dann irgendeine Gegen- leistung erwartet wird. Das gilt auch für die Hessenwahl. Für 52% haben hinterrücks geflossene Gelder einen Einfluß gehabt.

Kontrolle, Offenheit, Transparenz und Bürgernähe sind die Möglichkeiten der Union, verlorenes Vertrauen zurück zu gewinnen.

Eine wirklich funktionierende Demokratie zeichnet sich auch dadurch aus, daß sie mit Personal zurechtkommt, das dem Ideal nicht immer ganz entspricht. Und trotzdem am Ende garantiert, daß das Gute siegt und das Böse unterliegt. Insofern funktioniert unsere Demokratie. 10

62% sehen die Aufdeckung der verschiedenen Affären als Zeichen für deren Funktionsfähigkeit. Dennoch besteht unsere Demokratie den Lackmustest Spendenäffäre nicht ohne Federn zu lassen. Verfehlungen von Kohl, Kanther, Schäuble und Glogowski gehen an deren Substanz. Obwohl sie aufgedeckt, geächtet und bestraft werden, leidet auch unser Vertrauen in die Demokratie:

Funktioniert Demokratie Aufdeckung der Skandale ist ein Zeichen dafür, daß die Demokratie funktioniert

k. A. 4%

stimmt nicht 34%

stimmt 62% 11

Derzeit haben nur noch 30% „großes Vertrauen“ in unsere Demokratie. 65% waren es noch ’98.

Vertrauen in die Demokratie

in %

100

1998 2000 90

80

70

65 60

50 52

40

30 30 27 20 17 10 7 0 großes Vertrauen mittleres Vertrauen kein Vertrauen

Demokratie ist Herrschaft aus dem Volk durch das Volk für das Volk. Vor allem beim „für das Volk“ hapert es noch beträchtlich. Damit sie auf Dauer keinen Schaden nimmt, ist es wichtig, daß das Volk Konsequenzen bei Fehlverhalten hautnah erlebt. Deshalb war der Schäuble-Rücktritt so wichtig. 58% der Wähler halten ihn für den entscheidenden Befreiungsschlag. Nun kann die Union glaubhaft einen Neuanfang starten.

Das Problem unserer Demokratie ist, daß sie eben nicht Volksherrschaft ist. Das Volk herrscht nie direkt, sondern immer durch seine Volksvertreter. Manchmal muß halt eine funktionierende Demokratie das Volk auch vor seinen Vertretern schützen 12

Dennoch hat auch das, aber nicht nur das, dazu geführt, daß die Wähler vor immer größeren Unsicherheiten bei Wahlen stehen und Wahlen immer spon- taner, unvorhersehbarer, zufälliger werden.

Wählen gehen oder doch nicht wählen gehen? Abstimmen oder abwählen? Programmatisch oder taktisch die Stimme geben? Die Politik im Land oder doch im Bund wählen?

Das Kreuz mit dem Kreuzchen wird von Jahr zu Jahr für immer mehr Wähler zur unlösbaren Herausforderung. Bisher waren es nur drei Gründe, die dazu führten, daß Wahlverweigerungen deutlich zunahmen und zudem der Wechselwähleranteil in den letzten zehn Jahren von 30 auf 60% anstieg.

Da ist die zunehmende Inkompetenz der Parteien. Diesen Eindruck verur- sachte die CDU 1997, als sie Reformen propagierte – aber weder Renten-, Gesundheits-, Steuer-, noch eine akzeptabele Haushaltsreform hinbekam. Wer Probleme anprangert, sich als Retter in Szene setzt, dann aber nirgendwo eine Lösung schafft, der gilt fortan als inkompetent. Und zieht die anderen Parteien mit in den Strudel: Noch 1996 zweifelten nur etwa 25% an der Lösungsfähigkeit unserer Parteien bei den wichtigsten politischen Auf- gaben. Inzwischen ist es jeder zweite. Die Parteien verlieren ihre Legitimation, für uns zu sprechen. Warum also wählen – und erst recht: Wen überhaupt?

Nächster Grund: Weil keiner den Parteien mehr vertraut, nimmt das politische Interesse deutlich ab. Noch 1983, unmittelbar nach Helmut Kohls Regierungs- antritt, interessierten sich 50% für die politischen Neuigkeiten des Tages. Heute ist es nur noch jeder Vierte. Wenn Politik kein Interesse mehr hervorruft, nimmt natürlich die Informiertheit über politische Zusammenhänge ab.

Anstelle des Wettstreits um Argumente werden Wahlen zum Plebiszit über ein individuelles Nebenthema, oder dienen gar zur Abstrafung der da oben. Also fragen sich immer mehr Wähler: Wofür eigentlich taugen noch die Parteien?

Der dritte Grund: Die politische Farbenlehre stimmt längst nicht mehr: Die Roten sind höchsten noch rötlich, die Ökopartei eben noch grünlich, die Schwarzen doppelt gräulich. Alle austauschbar, längst ohne wahrnehmbare Unterschiede. Und wenn alle Parteien doch irgendwie gleich sind, haben Wählen gehen und Wahlentscheid keine Bedeutung mehr. Was soll die Mühe? 13

Neuerdings kommt sogar noch ein 4. Grund hinzu: Die Selbstgerechtkeit und Selbstbedienungsmentalität, hautnah miterlebt durch Spenden-, Flug- und Filzaffäre. „Haben die Parteien“ – so die Fragen ohne Antwort der Wähler – „überhaupt meine Stimme verdient. Und sollen die an mir auch noch Wahl- kampferstattung kassieren?“ Nie haben es die Politiker ihren Wählern schwerer gemacht, aus Überzeugung zu wählen, als derzeit.

Heute sind nur noch 40% Stammwähler, Wahlberechtigte, die immer dieselbe Partei wählen, ganz egal was passiert. 20 bis 40% sind – je nach Bedeutung der Wahl – notorische Nichtwähler. Und fast jeder Dritte gehört inzwischen zu den von Demoskopen völlig ungeliebten Mitleids-, Strategie- oder „Den zeigen wir’s mal“ – Wählern. Der Wähler wird zum immer undurchsichtigeren Wesen.

Nicht ein einziges Mal seit 1994 gelang es auch nur einer Partei eine Politik zu machen, die wenigstens von der Hälfte der Wähler akzeptiert wurde. Nie zuvor artikulierten die Bürger in Umfragen größeren Unmut über ihre Volksvertreter – und damit sind die von Opposition und Regierung gemeint.

Wahlen werden, ähnlich dem „neue Markt“ an der Börse, zum Entscheid über den Tageskurs zwischen den in Frage kommenden Parteien. Hier übrigens kann die Demoskopie Wahlen beeinflussen, weil deren Ergebnisse die Strate- gien der Strategen mitbestimmen.

Den Meinungsforschern wird ganz warm um’s Herz, wenn sie an die gute alte Zeit denken, als Wahlkämpfe noch ein Streit um die richtigen Argumente und noch nicht taktisches Ränkespiel um die optimale Beeinflussung zur richtigen Zeit war. Die Demoskopen denken mit Wehmut an die früheren Tage zurück, als die Kreuzchen noch Stimmen und nicht Stimmungen waren. 14

Peter Graf Kielmansegg

Helfen gegen den Parteienstaat nur noch Volksentscheide?

1. Ob die Zeit heftiger öffentlicher Erregungen wirklich die Stunde der insti- tutionellen Reformen ist, darüber kann man streiten. Öffentliche Erregung verschafft Reformthemen Aufmerksamkeit, sie sensibilisiert für Probleme, sie mobilisiert Energien. Aber sie reduziert auch die Bereitschaft und die Fähigkeit, klar zu denken. In Augenblicken öffentlicher Erregung gewinnen die einfachen Antworten plötzlich eine unwiderstehliche Plausibilität.

Die Notwendigkeit, einen klaren Kopf zu behalten, gilt ganz besonders, wenn es um das demokratische Regelwerk geht. Denn Veränderungen des demokratischen Regelwerkes wirken sich auf eine unbestimmte Vielzahl zukünftiger Entscheidungen aus. Die meisten der gegenwärtig diskutierten Reformüberlegungen betreffen das demokratische Regelwerk. Wahr- scheinlich hat keiner der bisher ins Gespräch gebrachten Vorschläge mehr Gewicht und auch mehr Überzeugungskraft als der, die repräsentative Demokratie des Grundgesetzes mit einer kräftigen Dosis direkter Demo- kratie zu versetzen. „Die Zeit“ hat diesen Vorschlag in ihrer Ausgabe vom 2. März in die suggestive Schlagzeile gefaßt „Gegen den Parteienstaat helfen nur noch Volksentscheide“. Und darüber die inzwischen etwas wohlfeil gewordene Parole „Wir sind das Volk“ gesetzt. Angesichts der Popularität der Forderung, direkte Demokratie müsse her, will ich mich mit meinem Plädoyer, sich auch in Zeiten öffentlicher Erregung einen klaren Kopf zu bewahren und, was die Sorgfalt des Denkens angeht, keine Konzessionen zu machen, auf diesen Reformvorschlag konzentrieren. Im Grunde geht es nur darum, daran zu erinnern, daß Argumente, die bisher ihr Gewicht hatten, nicht einfach belanglos geworden sind, nur weil plötzlich eine starke Stimmung, daß etwas geschehen müsse, um sich greift. Krisenerfahrungen können und sollten durchaus Anlaß sein, den bisherigen Diskussionsstand von neuem sorgfältig zu überprüfen. Aber sie sind keine Rechtfertigung dafür, ihn zu ignorieren.

2. Ich beginne mit einem Hinweis auf die Notwendigkeit begrifflicher Präzi- sion, nicht aus Pedanterie, sondern weil nur die mit begrifflicher Präzision geführte Diskussion vernünftige Ergebnisse liefern kann. Die Unter- scheidung zwischen repräsentativer und direkter Demokratie kann nur auf 15

die Unterscheidung zwischen Wahlen und Abstimmungen gegründet werden. In Wahlen wird Entscheidungsvollmacht von den Bürgern auf Zeit, widerruflich auf Repräsentanten übertragen. In Abstimmungen entscheiden die Bürger selbst in der Sache. Das sind zwei ganz verschiedene Formen der Teilhabe der Bürger an den öffentlichen Angelegenheiten. Es gibt keinen vernünftigen Grund dafür, bestimmte Wahlen, etwa Parlaments- wahlen, der repräsentativen Demokratie zuzurechnen und andere, etwa die Wahl des Staatsoberhauptes oder die von Bürgermeistern, der direkten Demokratie. Das ist, um es deutlich zu sagen, begriffslogischer Unfug, der in der Diskussion nur Verwirrung stiftet. Wahlen sind Wahlen. Und Wahlen sind der Teilnahmemodus der repräsentativen Demokratie, in all ihren Erscheinungsformen.

Man muß also, wenn man für mehr Bürgerbeteiligung plädiert, klar unter- scheiden, ob man dem Bürger mehr „Wahlrechte“ geben – damit bleibt man im Regelsystem der repräsentativen Demokratie – oder die Wahlrechte durch Abstimmungsrechte ergänzen will – dann verknüpft man repräsentativ-demokratische mit direkt-demokratischen Bauelementen. Wenn man den Bürger oder auch das Volk, die Demokratie stärken will, etwa gegen die Parteien, kann man den einen wie den anderen Weg gehen, natürlich auch beide. Aber es ist keineswegs gleichgültig, ob man mehr Bürgerbeteiligung so oder so zu erreichen versucht.

3. Ich erinnere, zweitens, daran, daß die deutsche Demokratie falsch wahrge- nommen wird, wenn sie, wie es oft geschieht, als rein repräsentative Demokratie beschrieben wird. Wir leben bekanntlich in einer Demokratie mit mehreren Entscheidungsebenen. Auf zwei von drei Ebenen (ich lasse die europäische hier beiseite), der kommunalen und der Landesebene, hat der Bürger neben dem Wahlrecht auch, in unterschiedlicher Ausgestaltung und mit unterschiedlicher Reichweite, Abstimmungsrechte mitsamt den dazugehörigen Initiierungsrechten. Das ist Teil unserer Demokratie als eines politischen Gesamtsystems, und es gibt keinerlei Anlaß darüber hin- wegzusehen. Nur auf der Bundesebene fehlen, vom Sonderfall des Art. 29 GG abgesehen, Abstimmungsrechte.

Verfassungsrechtlich entspricht das den Verhältnissen in den USA. Auch dort kennen nur Kommunal- und Landesverfassungen nicht aber die Bundesverfassung direktdemokratische Entscheidungsverfahren. Gewiß gibt es einen wichtigen Unterschied: Die Staaten der USA haben viel weiter 16

gespannte Gesetzgebungskompetenzen als unsere Länder, was bedeutet, daß auch für die direkte Demokratie ein viel weiteres Wirkungsfeld offensteht als bei uns auf der entsprechenden Ebene. Die Differenz hat er- hebliche Bedeutung. Ich werde am Ende noch einmal auf sie zurück- kommen. Aber sie ändert nichts daran, daß die Beschreibung der Bundes- republik als rein repräsentative Demokratie nicht korrekt ist.

4. So unscharf die Wahrnehmung der eigenen Verhältnisse häufig ist, so un- scharf ist, drittens, oft auch das Bild, das wir uns von den Verhältnissen in anderen Ländern machen. Der Blick über die Grenze spielt ja gerade bei diesem Thema eine wichtige Rolle. Nicht selten wird der Eindruck erweckt, als sei Deutschland mit der Zurückhaltung des Grundgesetzes gegenüber der direkten Demokratie ein bedauerlicher Sonderfall im großen Kreis der Demokratien der Welt; als hätte Deutschland da etwas nachzuholen. Und dann wird mit großer Selbstverständlichkeit die Einführung des vollen Instrumentariums der Volksgesetzgebung: Initiative – Volksbegehren – Volksentscheid als ein längst fälliger Normalisierungsschritt gefordert.

Das ist eine zumindest in hohem Maße ungenaue Argumentation. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß die Bundesrepublik im Kreis der Demokratien ein viel normalerer Fall ist, als es auf den ersten Blick er- scheint. Wenn man als konstitutive Merkmale der direktdemokratischen Bürgerbeteiligung ansieht, daß die Bürger selbst das Initiativrecht besitzen und daß ihre Entscheidung verbindlich ist, dann wird man feststellen, daß direkte Demokratie in diesem substantiellen Sinne nur ausnahmsweise und nicht regelmäßig Bestandteil des demokratischen Regelsystems ist. Von allen Mitgliedstaaten der EU (eine globale Betrachtung würde kein wesent- lich anderes Bild erbringen) kennt nur Italien eine solche direkt- demokratische Bürgerbeteiligung. Und selbst für Italien gilt, daß das Initiativ- und Abstimmungsrecht der Bürger eingeschränkt ist. Nur abroga- tive Entscheidungen sind zulässig, also Entscheidungen, durch die geltende Gesetze aufgehoben oder abgeändert werden. Überall sonst fehlt entweder das Initiativrecht der Bürger – in Frankreich etwa liegt es allein beim Staatspräsidenten – oder die Verbindlichkeit ihres Entscheids.

Natürlich gibt es die Schweiz mit ihrem sehr ausgebauten, intensiv ge- nutzten System von direktdemokratischen Bürgerrechten. Aber selbst für die Schweiz gilt, daß sie auf der Bundesebene die Gesetzesinitiative nicht kennt, das Bürgerrecht also, ein Gesetzgebungsverfahren zu initiieren. 17

Gewiß, es gibt die Verfassungsinitiative. Und die Verfassungsinitiative wird faktisch oft wie eine Gesetzesinitiative genutzt, mit der viel beklagten Folge, daß die Verfassung sich mit Regelungen füllt, die nicht in eine Verfassung gehören. Aber gerade die Tatsache, daß die Schweiz sich trotz dieses Mißstandes bis heute nicht dazu entschlossen hat, die Gesetzesinitiative einzuführen, ist aufschlußreich. Sie beweist, daß selbst im Mutterland der direkten Demokratie das vollständig ausgebaute Volksgesetzgebungsrecht nicht als unproblematisch wahrgenommen wird.

Der Blick über die Grenzen zeigt also: Es würde sich keineswegs um einen Normalisierungsschritt handeln, wenn der Verfassungsgesetzgeber die Volksgesetzgebung mit Initiative – Begehren – Entscheid in das Grund- gesetz hineinschriebe. Deutschland würde mit einer solchen Verfassungs- änderung gewissermaßen eine Art von Vorreiterrolle übernehmen. Es würde zu dem Sonderfall werden, der es angeblich ist. Das ist, für sich genommen, natürlich kein Argument gegen eine solche Verfassungs- änderung. Aber man muß den Sachverhalt doch jedenfalls zur Kenntnis nehmen und sich mit ihm auseinandersetzen.

5. Der gravierendste Mangel der bisherigen Diskussion über den Einbau direktdemokratischer Elemente in unser politisches System ist die fast voll- ständige Vernachlässigung systemischer Bezüge. Direkte Demokratie kommt in der Welt der modernen Demokratien ja niemals rein vor sondern immer nur als Teil eines Ensembles verschiedener Elemente; vor allem ist immer eine Verknüpfung mit repräsentativ-demokratischen Verfassungs- strukturen gegeben. Für die Beurteilung der Wirkungen direkt- demokratischer Entscheidungsverfahren ist dieser institutionelle Kontext von großer Bedeutung, wird aber, um es noch einmal zu sagen, nur selten beachtet. Es macht, beispielsweise, einen Unterschied, ob direkt- demokratische Mitwirkung in einer parlamentarisch oder in einer präsiden- tiell verfaßten Demokratie praktiziert wird. Mehrheitsdemokratien und Kon- sensdemokratien, um eine zweite in der Politikwissenschaft gebräuchliche typologische Unterscheidung zu zitieren, sind von direktdemokratischen Bauelementen im Verfassungsgefüge auf unterschiedliche Weise betroffen.

Hat man sich das einmal klargemacht, wird man die Tatsache, daß gerade in der Schweiz und in den USA – auf der Ebene der Gliedstaaten – direkte Demokratie am intensivsten praktiziert wird, kaum noch für einen Zufall halten. Die Schweiz und die USA haben dies miteinander gemein, daß sie 18 keine parlamentarischen Demokratien sind. Die parlamentarischen Demo- kratien – alle älteren europäischen Demokratien gehören in diese Kategorie (der Streit um den Sonderfall Frankreich braucht hier nicht geführt zu werden) – sind gegenüber direktdemokratischen Mitentscheidungs- verfahren sehr viel zurückhaltender. Gibt es dafür eine Erklärung?

Worin unterscheiden sich parlamentarisch verfaßte von nicht parlamen- tarisch verfaßten Demokratien? In parlamentarischen Demokratien bedarf die Regierung der Unterstützung durch die parlamentarische Mehrheit. Die parlamentarische Mehrheit kann die Regierung jederzeit durch ein Mißtrauensvotum stürzen. Aus dieser Abhängigkeit ergibt sich im parla- mentarischen System die Notwendigkeit einer auf Zeit stabilen Mehrheits- Minderheitsstruktur im Parlament. Mit anderen Worten: Für das parlamen- tarische System ist eine klare Trennung zwischen Regierungs- und Oppo- sitionsfunktion konstitutiv. Die Wähler weisen diese Rollen den konkur- rierenden Parteien auf Zeit fest zu. Und sie können beide Akteure, Mehrheit wie Minderheit, dann dafür zur Verantwortung ziehen, wie sie die ihnen zu- gewiesene Rolle gespielt haben.

Zu dieser Logik der repräsentativen Demokratie in ihrer parlamentarischen Form – Demokratie heißt „responsible government“ – paßt das Inter- ventionsrecht der direkten Demokratie nur schlecht. Denn unter den Bedingungen des institutionalisierten Mehrheits-Minderheitskonfliktes, wie er für die parlamentarische Demokratie charakteristisch ist, wird die direkte Demokratie unweigerlich in den Sog dieses Konfliktes geraten, das heißt zu einem Instrument der Opposition werden. Die Opposition wird versucht sein, mit Hilfe dieses Instrumentes den Handlungsspielraum der Mehrheit so gut es geht einzuengen, ihr Recht zu regieren in Frage zu stellen. Mit anderen Worten: Die Logik der parlamentarischen Demokratie, die der Mehrheit befristet Entscheidungsvollmacht und Verantwortung zuweist, und die Wirkung eines Interventionsverfahrens, das es der Opposition ermög- licht, unermüdlich an der Delegitimierung der Mehrheit zu arbeiten, prallen aufeinander. Die Mehrheit ist zugleich verantwortlich und nicht verantwort- lich für die Politik, die gemacht wird. Die Minderheit ist zugleich Opposition und eine Art von Mitregierung. Daß eine solche Konstruktion zu erhebli- chen Funktionsstörungen führt, scheint mir ziemlich wahrscheinlich zu sein.

Dabei ist sicher zu beachten, daß das nicht für alle parlamentarischen Demokratien in gleicher Weise gilt. Es gilt vor allem dort, wo wir stark 19

kompetitive, polarisierte oder jedenfalls dualistisch strukturierte Parteien- systeme haben, Zwei-Parteien- oder auch Zwei-Block-Systeme. Es gilt weniger dort, wo Viel-Parteien-Systeme mit wechselnden, wenig stabilen Koalitionsbildungen existieren. Deutschland gehört zur ersten Gruppe. Man muß also im deutschen Fall durchaus mit jenen Funktionsstörungen rechnen, die zu erwarten sind, wenn parlamentarische Demokratie mit einem voll ausgebauten System direktdemokratischer Interventionsrechte kombiniert wird.

6. Noch einmal: Probleme dieser Art werden in den Plädoyers für mehr direkte Demokratie selten zur Kenntnis genommen. Das ist jetzt nicht anders, als es in früheren Phasen der Diskussion war. Freilich könnte man allen Einwänden entgegnen: Man nehme sie durchaus ernst. Aber die Not- wendigkeit, den Parteien eine Gegenmacht entgegenzustellen, sie in die Schranken zu weisen, habe sich nun einmal in den jüngsten Ereignissen als so überragend dringlich erwiesen, daß der Rückgriff auf die direkte Demokratie selbst um den Preis gewisser Reibungen mit der parlamenta- risch verfaßten repräsentativen Demokratie unabdingbar sei.

Wer so argumentiert, muß sich die Frage gefallen lassen: Ist direkte Demo- kratie wirklich eine Therapie gegen die Übel des Parteienstaates? Helfen, um „Die Zeit“ noch einmal zu zitieren, gegen den Parteienstaat wirklich Volksentscheide? Wenn man meint, es komme einfach nur auf eine Schwächung der Parteien an, die zu mächtig geworden seien, dann mag man diese Frage bejahen. Direkte Demokratie schwächt in der Tat immer und notwendig die Parteien. Das heißt dann aber: Die Übel des Parteien- staates sollen durch die Übertragung beliebiger Gesetzgebungsgewalt vom Parlament auf das Volk kuriert werden. Das ist jedenfalls keine sehr zielge- naue Therapie. Und eine, die Funktionsstörungen der skizzierten Art von beträchtlicher Intensität in Kauf nimmt. Wenn man hingegen der Ansicht ist, es gehe um spezifische Übel, denen gezielt begegnet werden müsse, dann ist es sehr fraglich, ob direkte Demokratie hilfreich ist. Zwei konkrete Hinweise können das verdeutlichen:

- Im Zentrum der Debatte stehen Verstöße gegen Regeln, die das Par- teiengesetz für die Parteienfinanzierung aufgestellt hat. Niemand wird erwarten, daß direkte Demokratie solche Verstöße zu verhindern vermag. Ebenso wenig wahrscheinlich ist es, daß wir durch direkte Demokratie zu besseren, sachgerechteren Regeln kommen. Die 20

geltenden Vorschriften für die Parteienfinanzierung sind in einem kom- plizierten Wechselspiel zwischen Parlament und Bundesverfassungs- gericht entwickelt worden. Man mag sie für verbesserungsbedürftig halten. Aber die Hoffnung, daß ausgerechnet für die Parteienfinan- zierung vernünftigere Resultate zu erwarten sind, wenn man das Volk als Gesetzgeber einschaltet, hat nicht viel für sich.

- Der Parteienstaat tritt besonders problematisch in Erscheinung im ungehemmten Zugriff der Parteien auf alle ihnen nur irgendwo erreich- baren öffentlichen und halb-öffentlichen Ämter. Besonders bedenklich ist, daß bei der Besetzung höherer Richterstellen parteipolitische Zu- gehörigkeiten und Affinitäten eine immer größere Rolle spielen. Das ist fraglos ein wirkliches Übel. Aber wiederum gilt: Wie dem durch direkte Demokratie abzuhelfen sei, hat noch keiner von denen, die gegen den Parteienstaat die direkte Demokratie setzen wollen, präzise dargelegt.

7. Das alles heißt nicht, daß die Forderung „Mehr Bürgerbeteiligung“ zu den Akten zu legen sei. Wie sehr die Demokratie darauf angewiesen ist, daß der politischen Klasse in ihrer Selbstbezüglichkeit und mit ihren Eigen- interessen eine aktive, lebendige, freilich auch faire und urteilsfähige Öffentlichkeit gegenübersteht, haben die Ereignisse der letzten Monat ja wieder einmal eindringlich gezeigt. Daß nach einer solchen Erfahrung die Frage gestellt wird, ob man den Bürgern nicht mehr förmliche Mitwirkungs- rechte geben könne und solle, ist sehr verständlich. „Mehr Bürgerbe- teiligung“ muß ja nicht heißten „mehr Abstimmungsdemokratie“. Nach der eingangs getroffenen Unterscheidung zwischen zwei unterschiedlichen Modi der Bürgerbeteiligung kann es auch heißen „mehr Wahldemokratie“.

Es gibt eine Reihe von Vorschlägen, den Bürger als Wähler zu stärken. Sie alle fügen sich ohne weiteres in die Logik der repräsentativen Demokratie ein. Die Direktwahl einzelner Amtsträger gehört hierher – bei den Bürger- meistern ist man in den letzten Jahren überall in der Bundesrepublik dazu übergegangen. Auch bei Listenwahlen kann der Bürger als Wähler gestärkt werden. Ebenso, das betrifft zumindest die Parteimitglieder, bei den Nomi- nierungsverfahren, die den Wahlen vorausgehen. In all diesen Fällen ließen sich die Gewichte zwischen Wählern und Parteien etwas anders, nämlich stärker zugunsten der Wähler, austarieren. 21

Wenn man damit nicht zufrieden ist und auf einem Mehr an direkter Demo- kratie besteht, so gibt es mehr als einen Weg zu diesem Ziel. Seit geraumer Zeit schon wird eine Debatte über eine Föderalismusreform in der Bundesrepublik geführt. Zur Konzeption eines stärker auf Wettbewerb angelegten Föderalismus gehört auch der Gedanke, den Ländern als Gesetzgeber wieder einen weiteren Handlungsspielraum zu eröffnen, im wesentlichen durch Rückübertragung von Gesetzgebungskompetenzen, die zum Bund abgewandert sind, auf die Länder. Das Ziel, das mit solchen Überlegungen, mit der Idee des Wettbewerbsföderalismus verfolgt wird, ist zunächst einmal ein ganz anderes. Aber ein Effekt der Reform wäre, daß mit den Kompetenzen der Landesgesetzgeber sich auch der Eingriffs- bereich für die direkte Demokratie erweitert. Denn im Zuständigkeitsbereich des Landesgesetzgebers ist schon nach geltendem Landesverfassungs- recht die legislatorische Intervention des Bürgers grundsätzlich möglich. Dieser behutsamere Weg der Reform hat, wie mir scheint, gegenüber einem tiefen Eingriff in das Grundgesetz – und um den würde es sich handeln – viele Vorzüge.

Noch einmal zurück zum Anfang: Daß die Zeit heftiger öffentlicher Erregung wirklich die Stunde institutioneller Reform ist, daran kann man zweifeln. Man kann auch daran zweifeln, daß sich aus den aufgedeckten Finanzierungs- skandalen die Notwendigkeit institutioneller Reform tatsächlich so selbstver- ständlich ergibt, wie das vielfach angenommen wird. Wichtiger als alle anderen denkbaren Vorkehrungen gegen Machtmißbrauch durch die politische Klasse sind, wie sich gezeigt hat, eine wachsame Öffentlichkeit und eine urteilsfähige Wählerschaft. Damit scheint es in der Bundesrepublik so schlecht nicht bestellt zu sein. Im übrigen: Liegt es nicht im Interesse der politischen Klasse, aus dem Geschehen der letzten Monate zu lernen? Krisen können Verhaltensänderungen ganz unabhängig von Regeländerungen bewirken. 22

Hans-Georg Wehling

„Wieviel Bürgerbeteiligung im Parteienstaat?“

1. Macht und Ohnmacht der Parteien – Einleitung Den politischen Parteien im Parteienstaat Bundesrepublik Deutschland werden zwei – scheinbar sich ausschließende – Vorwürfe gemacht: Parteien seien omnipotent, indem sie alle Lebensbereiche penetrieren – nicht nur die Politik und die politischen Institutionen, sondern auch Verwaltung, Bildungssystem, Massenmedien, insbesondere die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, ja selbst die Justiz. Hier könnten sie, und zwar nicht nur in den Spitzenstellungen, in Gestalt von Patronage ihnen genehme, vielleicht sogar hörige Persönlichkeiten unterbringen. Ziel sei die Ausrichtung an der Parteilinie sowie die Belohnung von Parteigängern, und zwar auf Kosten der Funktionstüchtigkeit: „Der Staat als Beute“, wie ein Buchtitel von Hans Herbert von Arnim unterstellt.

Gleichzeitig jedoch seien die Parteien, allem Potenzgehabe zum Trotz, impo- tent, und zwar wenn es um die Lösung drängender Gegenwartsprobleme wie um Zukunftsfragen unserer Gesellschaft geht. Angeführt werden hier u. a. Wirtschaftsentwicklung, Arbeitsmarktpolitik, Bildungspolitik, langfristige Sicherung der sozialen Sicherungssysteme.

Der Widerspruch wird aufgehoben, beide Vorwürfe lassen sich miteinander verbinden: Gerade weil die Parteien alles wollen und sich auch alles zutrauen, übernehmen sie sich: Der Potenzprotz versagt im entscheidenden Augenblick, weil von ihm zuviel erwartet wird und er sich zuviel zugetraut hat, er wird Opfer seiner selbst.

2. Bilder von Volk und Eliten Die Forderung nach mehr Möglichkeiten direkter Demokratie – wenn sie nicht die radikale Systemveränderung beabsichtigt – zielt auf eine Korrektur sowohl der unterstellten Omnipotenz als auch der Impotenz: Die Zurückdrängung der personellen Durchdringung mit parteigenehmen Funktionsträgern – besser wäre es zu sagen: von durch die Parteiführungen lancierten Parteigängern – soll die Leistungsfähigkeit, die Funktionsgerechtigkeit und die Unabhängigkeit von Institutionen erhöhen. Damit soll zugleich aber auch die Leistungsfähigkeit des gesamten politischen Systems erhöht werden: Das repräsentative System 23 bekommt Konkurrenz durch direktdemokratische Elemente – und nach der Philosophie der Marktwirtschaft belebt Konkurrenz das Geschäft, will heißen: das Angebot wird besser, den aktuellen Bedürfnissen besser angepaßt, so- wohl personell als auch inhaltlich.

Mehr – direkte – Demokratie stößt einerseits auf begeisterte Zustimmung und andererseits auf Widerstand. Dahinter stecken unterschiedliche Demokratie- modelle: Demokratie als ein Wert an sich, als Lebensform. Oder Demokratie als Instrument: zur Machtbegrenzung, zum friedlichen Konfliktausgleich, zur Erzielung optimaler Ergebnisse: Ein input-orientiertes Demokratie-Modell versus ein output-orientiertes Demokratie-Modell. Sichtbar werden dahinter unterschiedliche Menschenbilder wie auch unterschiedliche Einschätzungen von Politikern und Volk. Einerseits die korrupten, nur an den eigenen Vorteil denkenden Politiker gegen das gute Volk. Andererseits die wissenden, klugen Staatslenker gegen ein Volk, das nur seinen niedrigen Instinkten folgt, unwissend und unberechenbar. Gerade bei uns in Deutschland ist eine Art Ur- angst vor dem demos zu beobachten, die Volk als etwas Unberrechenbares, Manipulierbares, Verführbares, letztlich auch Grausames ansieht. Die ganze Rezeption der Französischen Revolution in Deutschland – wie sie lange Geschichtsforschung und vor allem auch Schulgeschichtsbücher bestimmt hat – ist von diesem Axiom her bestimmt. Fortgeführt wurde dieses Muster in der Deutung des Nationalsozialismus, wonach das Volk durch den Demogogen Hitler verführt worden ist. Gab es nicht auch in der Weimarer Reichs- verfassung die Möglichkeit zum Volksentscheid, die von den National- sozialisten skrupellos für ihre Zwecke genutzt worden ist, und zwar nicht nur auf Reichsebene, sondern in vielen Ländern auch auf Gemeindeebene? Das Grundgesetz, das ganz bewußt aus den Erfahrungen von Weimar lernen wollte, hat deshalb die Bonner Demokratie konsequent als repräsentative Demokratie konstruiert. Vor allem kam im Zeichen des Antikommunismus und des „Kalten Krieges“ die Furcht vor kommunistischen Agitatoren hinzu. Die neue Bundesrepublik stellte sich unter „plebiszitäre Quarantäne“ (Otmar Jung).

Beide Vorstellungen – die vom guten Volk und den bösen Politikern wie die vom unwissenden und unfähigen Volk und den zur Führung berufenen Politikern – sind in ihrer Rigidität empirisch nicht haltbar. Entsprechend der Fragestellung wollen wir uns darauf konzentrieren, in welchem Umfang die Bevölkerung stärker als bisher an der politischen Willensbildung und Ent- scheidungsfindung beteiligt werden könnte, im Sinne von mehr an direkter 24

Demokratie, und in welchen Formen das geschehen könnte. Das Partei“volk“ soll ausdrücklich miteinbezogen werden.

3. Grundprobleme bei der Einführung von mehr Demokratie Die Forderung nach mehr direkter Demokratie muss sich – nach Rainer-Olaf Schultze – mit fünf Gundproblemen auseinandersetzen:

- dem Größenproblem :Setzt direkte Demokratie nicht kleine, überschaubare Einheiten voraus? - dem Komplexitätsproblem: Sind die politischen Entscheidungsgegenstände nicht zu kompliziert? - dem Aufwandsproblem: Sind die Kosten an Zeit und Geld, insbesondere auch die Informationskosten nicht zu hoch und letztlich nur von den „Profis“ aufbringen? - dem Homogenitätsproblem: Ees muß ein Grundkonsens über Werte und Spielregeln bestehen. - dem Gleichheitsproblem: Politische und gesellschaftliche Gleichheit dürfen nicht zu weit auseinanderklaffen.

Größenproblem, Aufwandsproblem und zum Teil auch Komplexitätsproblem sind durch die modernen Kommunikationsmittel insbesondere Fernsehen und Internet deutlich entschärft worden. Die Entscheidungsgegenstände sind mit diesen Medien bis ins Detail landesweit vermittelbar. Das Informationsangebot wird auch in hohem Maße wahrgenommen. Aus den öffentlich-rechtlichen Funkhäusern z.B. ist zu erfahren, dass die Sondersendungen zur „Partei- spendenaffäre“ durchweg zwischen vier bis sechs Millionen Zuschauer hatten – das ist „Krimiqualität“ ! Auch ausgesprochene Sachthemen eher trockener und komplexer Natur wie Steuerpolitik werden durch eine Sendung wie „Christiansen“ einem sehr breiten Publikum in seiner Komplexität und Kontro- versität ausgezeichnet vermittelt. Der Bekanntheitsgrad etwa von Friedrich Merz beruht gerade auf solchen TV-Auftritten. Mit Sendungen dieses Typs wird nicht nur das Informationsangebot nach Verfügbarkeit und Qualität ver- bessert, auch die Informationskosten werden rapide gesenkt: Eine Stunde „Christiansen“ oder „ Mitte“ verschaffen einen schnelleren Durchblick – sowohl was die Komplexität des Problems als auch die politischen „Knack- punkte“ angeht – als ein ganzer Tag Parlamentsdebatte, gerade weil hier in unmittelbarer Rede und Gegenrede kein Nebeneinander von Standpunkten abläuft, sondern Fakten und Argumente sich im Wechselgespräch behaupten müssen. Durch die Beobachtung von Mimik und Körpersprache kann sich der 25

Zuschauer – etwa im Vergleich zu einem Zeitungsbericht – zusätzliche Infor- mationen leicht beschaffen. Der – fast turtelnde – Umgang von Finanzminister Hans Eichel und Kurt Biedenkopf miteinander in einer „Christiansen“ -Sendung zum Thema Sanierung des Bundeshaushaltes machte für den Zuschauer deutlich, dass Biedenkopf eine „Blockadepolitik“ keineswegs mitmachen würde. Eine Diskussion von Heiner Geißler und Thomas Goppel in „Berlin Mitte“ zeigte in aller Deutlichkeit die Bandbreite christlich-demokratischer Politik auf, gerade auch, wenn es um Werte geht. Kurz: An die Stelle der parlamentarischen Öffentlichkeit ist die Medienöffentlichkeit getreten. Die von Walter Bagehot dem Parlament zugeschriebenen Funktionen: expressive, teaching und informing functions sind weitgehend abgewandert, geblieben sind lediglich creative und legislative functions. Es wird darüber nachzudenken sein, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind.

Als Einwand gegen eine solche Entwicklung wird angeführt, dass die Sach- themen zu kurz kämen, dass sie in der öffentlichen Aufmerksamkeit von Per- sonen verdrängt würden. Mehr noch: Das Unbehagen ist zu spüren, ob aus den genannten Gründen der „Parteispenden-Skandal“ durch die Medien über- groß herausgekommen ist, mit dem Focus auf Personen wie Helmut Kohl oder Roland Koch. – Demokratie, erst recht repräsentative Demokratie, lebt vom Vertrauen, und zwar vom Vertrauen in diejenigen, die die Bevölkerung reprä- sentieren. Sie stehen als Personen für politische Richtungen wie für konkrete politische Inhalte. Das dient der Entlastung für die Wähler, die dann nicht alles wissen müssen und sich nicht um alles kümmern müssen. Meinungsumfragen, die das Wissen der Bevölkerung zu Einzelfragen abfragen, greifen hier unter Umständen zu kurz, wenn nicht gar daneben. Ob man dem einzelnen Politiker nun vertrauen kann oder nicht – selbst die Frage, ob man durch diese oder jene Person eigentlich repräsentiert sein möchte, etwa wenn sie immer allzu rechthaberisch und herablassend auftritt – , wird nicht zuletzt durch den optischen Eindruck am Fernsehgerät entschieden: Im Fernsehen schaut man dem Volksvertreter ins Gesicht !

Bemerkenswert ist, dass – auch in der „Parteispenden-Affäre“ – die Betroffenen selbst den Kontakt mit dem Wahlvolk wie dem Parteivolk direkt, mit Hilfe des Fernsehens, aufnehmen, mit Auftritten, die sie selbst herbeigeführt haben, siehe Kohl, siehe Wolfgang Scheuble.

Natürlich kommt auch der Einwand, welche Konsequenzen das Fernseh- zeitalter für die Auswahl von politischem Personal hat und wie das zu 26 bewerten ist: Visibilität und Telegenität als Auswahlkriterien. Wenn das negativ gemeint sein sollte, ist zu bedenken, ob der Selektionsprozess, der durch ver- räucherte Hinterzimmer führt und mit unverwüstlicher Gesundheit – ein- schließlich resistenter Leber – verbunden ist, bessere – das heißt: funktions- gerechtere – Ergebnisse in der Rekrutierung politischer Eliten zeitigt.

Das Gleichheitsproblem wird kräftig entschärft durch die „Bildungsrevolution“ in Deutschland, die nicht zuletzt auch durch christlich-demokratische Politikerinnen und Politiker (z.B. Hanna-Renata Laurien, Wilhelm Hahn) in den letzten Jahrzehnten bewirkt worden ist. Nur noch jeder Zweite in der deutschen Bevölkerung hat nicht mehr als einen Hauptschulabschluss aufzu- weisen, bei den Erwerbspersonen sind es sogar noch einmal rund fünf Prozentpunkte weniger. Der Trend geht noch weiter, wie die Entwicklung der Schulabgängerzahlen zeigt: Verließen 1960 nur 6,1% der Schulabgänger die Schulen mit Hochschulreife, sind es heute 36,8%.

Die „Bildungsrevolution“ ist eng mit der „partizipatorischen Revolution“ (Max Kaase) verknüpft: Allen empirischen Untersuchungen zu Folge sind die Bereit- schaft zur politischen Partizipation sowie die tatsächliche Nutzung von Partizi- pationsmöglichkeiten in hohem Maße vom gesellschaftlichen Status abhängig, der wiederum ist stark an den Bildungsstand gebunden. Gleiches wird man sagen können, was die Beschaffung und Verarbeitung von Informationen zur politischen Urteilsbildung und Entscheidungsfindung angeht. Zwar gibt es selbstverständlich urteils- und entscheidungsfähige Hauptschulabsolventen, genau so wie es auf der anderen Seite unfähige Hochschulabsolventen gibt. Nur: Der Spur nach wird man sagen können, dass die Fähigkeit zu politischer Urteilsbildung und Entscheidung mit dem Bildungsstand wächst. Die Daten zum Bildungsstand unserer Bevölkerung lassen es nicht länger zu, vom „dummen“ Volk zu sprechen, das man im politischen Entscheidungsprozess mediatisieren und auf die Teilnahme an Wahlen beschränken müsse. Das „Volk“ ist anders geworden: qualifizierter, „gebildeter“, „reifer“ für mehr Demo- kratie, die man heute ruhig wagen kann. Dem entspricht es, dass in Folge der „partizipatorischen Revolution“ mehr Teilhaberechte eingefordert werden, Folge eines umfassenden Wertewandels als Ergebnis eben dieser Bildungs- revolution: von den Pflicht- und Akzeptanzwerten hin zu Selbstbestimmungs- und Partizipationswerten (Helmut Klages). 27

4. Erfahrungen mit mehr direkter Demokratie Die Gemeindeordnungen haben dem längst Rechnung getragen. Waren Baden-Württemberg und Bayern über Jahrzehnte hinweg die einzigen Bundesländer, die die Direktwahl des Bürgermeisters kannten, so ist diese Möglichkeiten inzwischen in allen Flächenstaaten der Bundesrepublik gege- ben. Kumulieren und Panaschieren bei der Wahl der Gemeindevertretungen gibt es – nachdem jüngst Hessen dazu gekommen ist – in 10 Ländern, mit vermutlich steigender Tendenz. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid kannte über die Jahrzehnte hinweg nur die Gemeindeordnung von Baden- Württemberg. Auch hier haben inzwischen alle Flächenstaaten nachgezogen, zuletzt Bayern, wo diese Möglichkeit von unten, via Volksentscheid nach der Bayerischen Verfassung am 1. Oktober 1995 erzwungen worden ist.

Ein wesentlicher Anstoß für diese Entwicklung kam aus den neuen Bundes- ländern, für die solche direktdemokratischen Elemente von vornherein selbst- verständlich waren, war es doch der verbreiteten Einschätzung nach das Volk selbst, das das kommunistische Regime zur Implosion gebracht und die Wiedervereinigung erzwungen hatte: „Wir sind das Volk!“ und „Wir sind ein Volk!“ Wenn sich aber die Bevölkerung in den neuen Bundesländern nach mehr als 50 Jahren Leben unter Diktatur als „reif“ für mehr Demokratie erwiesen hatte, konnte man der Bevölkerung der alten Bundesländer nach 44 Jahren Erfahrung mit der Demokratie diesen Reifegrad schwerlich absprechen. Walter Wallmann (CDU), der damalige hessische Minister- präsident, hat von sich aus – sicherlich nicht frei von Opportunismus ange- sichts bevorstehender Landtagswahlen mit schlechten Prognosen für ihn diese Schlußfolgerung gezogen und die Direktwahl von Bürgermeistern und Land- räten vorgeschlagen; die Zustimmung in einer Volksabstimmung vom 20. Januar 1991 von 82% zeigte dann auch, wie populär eine solche Forderung war. Von da ab war mehr Demokratie das Oppositionsthema in allen Bundes- ländern. Die partizipatorische Revolution in den alten Bundesländern und die Anstöße aus den neuen vereinigten sich zu einem Siegeszug für mehr direkte Demokratie. Die „plebiszitäre Quarantäne“ war aufgebrochen.

Welche Möglichkeiten zur Ausweitung bieten sich an und sollten ergriffen werden? Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten sollten in allen Flächenstaaten eingeführt werden. Bei den Landräten ist das bislang in Baden-Württemberg und Brandenburg noch nicht der Fall. Desgleichen sollten die Quoren bei Bürgerentscheiden wenn nicht überhaupt aufgehoben, so doch deutlich ge- 28 senkt werden. Ein Quorum von 30% erscheint uns zu hoch. Bei der Aus- weitung der Entscheidungsgegenstände sollte gefragt werden, ob nicht alle Angelegenheiten, über die die Gemeindevertretung befinden kann, auch einem Bürgerentscheid zugänglich sein sollten. Das könnte auch Haushalts- angelegenheiten betreffen. Das Gegenargument ist hier immer, die Bürger könnten sich als allzu spendabel erweisen, da sie die Finanzlage nicht über- blickten und nicht die Verantwortung übernehmen müßten. Darin könnte aber vielleicht auch ein Anreiz bestehen, den Haushalt auch für normale Menschen verständlich zu machen. Gegenwärtig sind Haushaltspläne auch für viele Volksvertreter ein Buch mit sieben Siegeln. Das wichtigste Argument kommt aus der Empirie: In der Schweiz muß auf Gemeindeebene über die Haushalte durch die Bürger abgestimmt werden – mit der Folge, dass gerade kostenauf- wendige Vorhaben wenig Gnade finden: Die Bürgerinnen und Bürger sind in Geldangelegenheiten sehr viel zugeknöpfter als die Volksvertreter! Daraus läßt sich freilich auch der Umkehrschluß ziehen, dass so die großen, zukunftsweisenden Entwürfe wenig Chancen haben. Aber dem läßt sich vielleicht mit stärkerer und früherer Einbeziehung der Öffentlichkeit bei- kommen.

Die weitestgehenden Regelungen insgesamt weist Bayern auf – weil sie von unten, durch einen Volksentscheid, erzwungen worden sind. Es ist immer mißlich, für eine Regierung und die sie tragende Partei abträglich, wenn sie sich Regelungen aufzwingen lassen müssen, die anderswo fast schon Standard sind. Das sage ich auch in Hinblick auf die gegenwärtige Diskussion in Baden-Württemberg.

Wenn man die Einführung von Referenden auch für andere politische Ebenen in Erwägung zieht, sollte man vorab bedenken, dass Entscheidungen auf Gemeindeebene im Normalfall Einzelfallentscheidungen und keine generellen Regelungen sind.

Elemente direkter Demokratie kennen alle Länderverfassungen, die der ehe- maligen amerikanischen und französischen Zone von Anfang an. Durchweg waren sie jedoch so gestaltet, dass sie kaum praktikabel waren und deshalb so gut wie nicht genutzt worden sind. Am stärksten genutzt ist die Möglichkeit zu Volksbegehren und Volksentscheid in Bayern, in die Bayerische Ver- fassung eingeführt durch die beiden „Väter“ der Bayerischen Verfassung Wilhelm Hoegner (SPD) und Hans Nawiasky (CSU), die beide während des „Dritten Reiches“ im Schweizer Exil waren. Bislang ist von diesem Instrument 29 meiner Zählung nach 15 bzw. 16mal Gebrauch gemacht worden, in den letzten fünf Jahren zur Einführung von Bürgerbegehren und –entscheid in die Gemeindeordnung, zur Abschaffung des Senats (beides erfolgreich gegen den Willen der Staatsregierung), zur Schulpolitik (am Unterschriftenquorum ge- scheitert, nicht zuletzt, weil sich in den Städten die „Singles“ für das Thema nicht interessierten), schließlich zur Änderung der Richterbestellung bei der Unteren Instanz und vor allem beim Staatsgerichtshof (der Staatsgerichtshof, der über die Verfassungsgemäßheit des Volksbegehrens zu entscheiden hat, hat das auch in eigener Sache bejaht, nur dafür je ein eigenes Refenrendum verlangt).

Der Bund kennt bislang keinen Volksentscheid außer dem Territorial- referendum nach Art. 29 GG (bzw. 118 und 118a).

Mehr Auswahlmöglichkeiten bei Wahlen über die Gemeindeebene hinaus gibt es einzig bei den Landtagswahlen in Bayern, mit der Möglichkeit, einem Kandidaten die Zweitstimme zu geben, und zwar auf der Bezirks-Liste (es gibt in Bayern sieben Regierungsbezirke). Davon profitieren prominente Kandi- daten wie Monika Hohlmeier, die Strauß-Tochter, die nach auf der Bezirks-Liste Oberbayern die meisten Stimmen holt. In der Ver- gangenheit war der bekannteste Fall der von Hildegard Hamm-Brücher, die als aufmüpfige FDP-Kandidatin schlecht platziert wurde und regelmäßig nach oben kumuliert worden ist. Von größerer praktischer Bedeutung ist diese Mög- lichkeit bei der politischen Auseinandersetzung im Stadt-Umland-Bereich, wo man jeweils sogar mit Plakaten dafür wirbt, den Kandidaten des eigenen Bereichs (z. B. des Umlands von Nürnberg gegen die Stadt-Kandidaten) mit einer Stimme zu bedenken. Von den Parteien wird ein solches Vorgehen toleriert. Besonders betroffen von diesem frei verfügbaren Recht zur Zweit- stimme sind die Kandidaten der Parteien, die den Wahlkreis nicht gewinnen (können): Denn deren Stimmen im Wahlkreis werden mit den für sie abgege- benen Stimmen auf der Bezirksliste addiert. Es ist somit von Vorteil, sich auch in einem Wahlkreis direkt zu stellen.

5. Ansatzpunkte für mehr direkte Demokratie Für Bundestagswahlen hatte bereits die Enquête-Kommission Verfassungs- reform 1973 „die Einführung begrenzt offener Listen nach bayerischem Vorbild für die Abgabe der Zweitstimmen“ empfohlen, war damit aber nicht auf Ge- genliebe gestoßen. Bemerkenswert war die Rechtfertigung der Kommissions- mehrheit für ein solches Wahlverfahren, nämlich „daß eine Verwischung von 30

Parteiverantwortung für die Kandidatenaufstellung nicht zu erwarten sei, daß auch die Kandidaten mit begrenzt regionalem Bekanntheitsgrad in einem solchen System bessere Chancen hätten und daß dieses Wahlsystem den Parteien eine Überprüfung der Frage ermögliche, welche innerparteiliche Richtung die bessere Unterstützung durch die Wählerschaft erfahre.“

Aber das letzte will das Parteiestablishment – ganz gleich von welcher Partei – wohl gar nicht so genau wissen, weil es ihm den Interpretationsspielraum nehmen würde, was denn nun der Parteiwille sei.

1983 hatte die CDU das Thema „Bayerisches Wahlsystem“ in ihr Programm für die Bundestagswahlen aufgenommen, es wurde aber nicht weiterverfolgt. Negativ endete schließlich auch der Vorstoß in der Gemeinsamen Ver- fassungskommission von und Bundesrat 1993 zu einer entspre- chenden Änderung des Wahlsystems. Die Mehrheit wollte das Wahlsystem nicht in der Verfassung festgeschrieben haben.

Ein Mehr an Demokratie könnte es bedeuten, Bundeskanzler und Minister- präsidenten direkt vom Wahlvolk wählen zu lassen. Das würde aber gleich- zeitig ihre Position verstärken, nicht zuletzt auch ihre Unabhängigkeit gegen- über der eigenen Partei. Zweierlei ist dabei allerdings zu bedenken:

- Es könnte dabei durchaus vorkommen, dass der so Gewählte keine Mehr- heit im Parlament hätte, dass also z. B. – unter günstigeren Vorzeichen für die CDU – die Wähler in Schleswig-Holstein die beliebte Heide Simonis in ihrem Amt als Ministerpräsidentin bestätigt, die Wahlen zum aber eine Mehrheit für CDU und FDP ergeben hätten. Selbst bei der Bundes- tagswahl von 1998 hätte sich ja die CDU samt FDP behaupten können, doch Gerhard Schröder wäre zum Kanzler gewählt worden. Was dann? Solche Konstellationen kommen auf Gemeindeebene durchaus vor, doch das Wahlsystem zur Gemeindevertretung mit Kumulieren und Pana- schieren sorgt hier für sehr lockere Fraktionsbildungen, die es einem „andersfarbigen“ Bürgermeister erlauben, Mehrheiten über alle Fraktionen hinweg zu bilden. Für den Bundestag ist das einstweilen schwer vorstell- bar.

- Nachdem die Landesparlamente ihre Gesetzgebungsfunktion weitgehend an das Bundesparlament verloren haben – unter tatkräftiger Mitwirkung der eigenen Landesregierungen, die dafür mit Mitwirkungsmöglichkeiten via 31

Bundesrat entschädigt worden sind – und nachdem ihnen auch die Öffentlichkeitsfunktionen zu einem guten Teil zugunsten der Medien, ins- besondere des Fernsehens, abhanden gekommen sind (s. o.), bleibt ihnen neben der Kontrollfunktion eigentlich nur noch die Funktion, eine Regierung zu kreieren und am Leben zu erhalten (oder auch zu stürzen). Was bliebe von den Landesparlamenten noch übrig, wenn ihnen diese Funktion auch noch genommen würde? Einen solchen Schritt sollte man sich zumindest gründlich überlegen.

Allerdings stehen auch heute schon die Kandidaten für das Amt des Bundeskanzlers und des Ministerpräsidenten so sehr im Vordergrund einer Wahl, dass sie einem Plebiszit gleichkommt, allerdings verknüpft mit dem Wahlerfolg für das Parlament, so dass das Ergebnis harmonisiert ist.

In der Diskussion ist gegenwärtig ferner die Frage, ob die Amtszeiten von Kanzlern, Ministerpräsidenten und Parteiführern begrenzt werden sollten. Hier kann ich mich voll und ganz der Argumentation von (in der FAZ vom 9. Februar 2000) anschließen, die auf meiner Linie der Einschätzung des Wahlvolkes liegt: Eine zeitliche Begrenzung der Amtszeit von Kanzler und Ministerpräsidenten von Rechts wegen stellt letztlich eine Unmündigkeits- erklärung der Wählerinnen und Wähler dar, die eigentlich selbst entscheiden müssten, ob sie noch einmal dieselbe Person an der Spitze sehen wollen. Sie sind nicht ohne weiteres durch den Amtsbonus geblendet, wie die „Abwahl“ von Helmut Kohl nach 16 Amtsjahren eindeutig beweist: Die Ergebnisse der Wahlforschung zeigen, dass 1998 nicht die CDU, sondern Helmut Kohl die Bundestagswahl verloren hat; die Menschen wollten mehrheitlich eine andere Person als Kanzler sehen.

Da Parteien rechtlich Vereine sind – freilich mit Privilegien -, kann der Staat ihnen nicht ohne weiteres die Amtsdauer ihrer Funktionsträger vorschreiben.

6. Verstärkter Mitgliedereinfluß in den Parteien? Auf einem anderen Blatt steht, ob die Parteien nicht selbst Änderungen im Modus ihrer Personalauslese vornehmen sollten. Was steht eigentlich dage- gen, Parteiführer und Kanzlerkandidaten von den Parteimitgliedern wählen zu lassen, außer den anfallenden Kosten? Das ist ein Bißchen mehr als eine Mit- gliederbefragung, zumindest der Qualität, wenn auch nicht unbedingt dem Er- gebnis nach! Irgend etwas sollten die Parteimitglieder als Gegenleistung für ihren Beitrag doch wohl bekommen. Die Zahlungsmoral würde sich dadurch 32 erhöhen lassen – bekanntlich ist sie, was die Selbsteinschätzung angeht, ge- rade in der CDU schlecht, eine strengere Überprüfung würde dann eher hin- genommen werden. Somit würden auch die Kosten für das aufwendigere Verfahren zumindest ausgeglichen. Richtungsentscheidungen würden auf eine breitere Basis gestellt, von Qualitätsentscheidungen ganz abgesehen. Mit der demokratischen Qualität von Delegiertenversammlungen ist es nicht immer gut bestellt.

Auf Wahlkreisebene werden die Kandidaten bei der CDU – in viel stärkerem Maße als bei der SPD – bereits durch die Mitglieder selbst nominiert. Manipulationen, die schon einmal vorgekommen sind (bekanntes Beispiel: Landtagswahlkreis Münsingen-Hechingen in Baden-Württemberg), sind gege- benenfalls durch Schriftlichkeit des Verfahrens einzuschränken. – Schwierig- keiten bei der Fraktionsplanung hängen zunächst einmal vom Wahlsystem ab und sind andererseits durch Sichtbarmachung des Problems zu minimieren.

Zu überlegen wäre auch, ob durch eine Form der Primaries nach US- amerikanischem vorbild das Interesse an den Parteien und der Mitgliedschaft in ihnen zu steigern wäre.

7. Die Folgen von mehr direkter Demokratie auf die Elitenrekrutierung Die Elitenrekrutierung in Staat und Parteien kann durch mehr direkte Demo- kratie bzw. mehr Mitgliederbeteiligung an Qualität eigentlich nur gewinnen. Das zeigen beispielhaft die jahrzehtelangen Erfahrungen mit der Direktwahl von Bürgermeistern in Baden-Württemberg und Bayern. Die Wählerinnen und Wähler achten sehr genau auf die Funktionseignung und Unabhängigkeit der Kandidaten und sind auch bereit, Außenseiter zu wählen, die nicht die „Ochsentour“ innerhalb der Parteien durchlaufen haben und sich nicht vor allem durch Anpassung auszeichnen. So sind ca 90% der hauptamtlichen Bürgermeister in Baden-Württemberg gegenwärtig gelernte Verwaltungs- fachleute, obwohl die Gemeindeordnung keinerlei Qualifikation vorschreibt. Rund die Hälfte ist im übrigen parteilos, die andere Hälfte hat eher ein instru- mentelles Verhältnis zu ihrer Partei.

Insgesamt leidet der Parteienstaat doch allzu sehr darunter, dass langfristig angelegte Karrieren – von der Schülerorganisation der Partei angefangen – immer wieder Anpassung verlangt haben und geradewegs – ohne in anderen Bereichen Lebenserfahrung zu sammeln – in Partei- und Staatsämter führten. Gerade die Abschließung zur Kaste, die die Fühlungnahme mit den 33

Problemen des Alltags (einschließlich des korrekten Umgangs mit Geld) ver- hindert, stellt eines der zentralen Probleme des Parteienstaates dar. Andere Rekrutierungsformen würden stärker als bisher Seiteneinsteiger und kreative Querdenker fördern können.

Wenn man Reformen in Angriff nimmt, sollte man sich davor hüten, sie an den Interessen des eigenen Machterhalts zu orientieren. Wie die Geschichte der Wahlrechtsreformen lehrt, geht das immer schief, zumal wenn man meint, auch nach einer Reform könne man so weitermachen wie gewohnt. Jüngstes Beispiel sind die Änderungen des Kommunalwahlrechts in Nordrhein-West- falen durch die dortige SPD-Mehrheit: die Zusammenlegung von Bürger- meister- und Ratswahlen mit dem davon erwarteten parteipolitischen „Über- schattungseffekt“ auch bei der Personenwahl des Bürgermeisters, das Nomi- nierungsmonopol der Parteien, die Weigerung, Kumulieren und Panaschieren als notwendiges Pendant zur Direktwahl des Bürgermeisters zu akzeptieren – all das sollte dazu führen, die Macht der dominierenden Partei zu sichern. Tat- sächlich aber fiel dadurch die Niederlage der SPD bei den Kommunalwahlen vom 12. September 1999 nur um so deutlicher aus, selbst zur Überraschung der CDU, die vielleicht den einen oder anderen Kandidaten nicht aufgestellt hätte, wenn sie mit dem Sieg gerechnet hätte.

8. Mehr direkte Demokratie als Ergänzung der repräsentativen Demokratie – Schluß Parteiverdrossenheit wird bei uns gerne unter Verweis auf deutsche Tradi- tionen abgetan. Zumindest aber sollte man zugestehen, dass von den Par- teien zu wenig getan worden ist, ihr Negativ-Immage zu verändern. Dazu ge- hört auch die Aufgabe des Anspruchs, „Volksersatz“ (von Arnim) zu sein, wie er durch Gerhard Leibholz und durch die von ihm geprägte Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts gerechtfertigt worden ist (Auguren sprechen davon, dass das Bundesverfassungsgericht nur auf die Klage der CDU gegen den „Thierse-Bescheid“ gewartet habe, um diese Rechtssprechung revidieren zu können.) Vor allem aber auch müssen sich die Parteien durch ihre interne Revitalisierung und durch Leistung legitimieren. Dazu kann die Einführung von Elementen direkter Demokratie helfen:Politik wird dadurch in ihrem Ergebnis prinzipiell besser, nicht unbedingt, weil die Bürger, Parteimitglieder einge- schlossen, klüger, informierter, politisch verantwortungsvoller, weniger egoistisch wären als die Mitglieder des politischen Establisments. Sondern weil so ein Element marktwirtschaftlicher Unsicherheit in den politischen Prozeß kommt, mehr Konkurrenz also, die auch das politische Geschäft 34 belebt. Mandatsträger verlieren ihre zeitweise Monopolstellung, sehen sich der Konkurrenz von unten ausgesetzt, der Zugang zum politischen Markt ist so auch während der Amtszeiten prinzipiell offen. Und Konkurrenz belebt das Geschäft, allein schon der Gedanke, dass es im Falle schlechter, d. h. ein- seitiger, die eigenen Interessen der politischen Klasse allzu sehr begünstigen- den Entscheidungen Konkurrenz von unten geben könnte. Die Argumentation hier ist, wie Sie sehen, streng marktwirtschaftlich ausgerichtet. Ziel ist es also, durch eine verbesserte input-Orientierung den output des politischen Systems zu verbessern! Damit wird zugleich die Funktionsfähigkeit des repräsentativen Systems gestärkt: durch ein Mehr an direkter Demokratie. Keine Systemver- änderung also, sondern eine Systemverbesserung. 35

Literaturhinweise

Hans Herbert von Arnim: Der Staat als Beute, München 1993

Oscar W. Gabriel: Das Volk als Gesetzgeber: Bürgerbegehren und Bürgerent- scheide in der Kommunalpolitik aus der Perspektive der empirischen Forschung, in: Zeitschrift für Gesetzgebung Heft 4, 1999, S. 299 – 331

Max Kaase: Stichwort „Politische Beteiligung“, in: Dieter Nohlen (Hrsg.): Lexikon der Politik Band 3 Die westlichen Länder, München 1992, S. 339-346

Helmut Klages/Hans-Jürgen Hippler/Willi Herbert: Werte und Wandel, Frankfurt a. M., 1992

Franz-Ludwig Knemeyer: Bürgerbeteiligung und kommunale Politik, 2. Auflage, Landsberg am Lech 1997

Otmar Jung: Siegeszug direktdemokratischer Institutionen als Ergänzung des repräsentativen Systems? Erfahrungen der 90er Jahre, in: Hans Herbert von Arnim (Hrsg.): Demokratie vor neuen Herausforderungen, Schriften- reihe der Hochschule Speyer Band 130, Berlin 1999, S. 103 – 137

Theodor Pfizer/Hans-Georg Wehling: Kommunalpolitik in Baden-Württemberg, 3. Auflage, Stuttgart 2000

Rainer-Olaf Schultze: Stichwort „Partizipation“, in: Dieter Nohlen (Hrsg.): Lexi- kon der Politik, Band 1 Politische Theorien, München 1995, S. 396 – 406

Hans-Georg Wehling/H.-Jörg Siewert: Der Bürgermeister in Baden- Württemberg, 2. Auflage, Stuttgart 1987 36

Ulrich von Wilamowitz Moellendorff

Zusammenfassung der Diskussion

Bis November 1999 befand sich die CDU im Stimmungshoch. In den vorange- gangenen Landtagswahl und der Europawahl hatte sie höchst erfolgreich ab- geschnitten und in der Wahlabsichtsfrage wurde sie von allen Meinungs- forschungsinstituten weit vor der SPD gesehen. Im Zuge der Spendenaffäre erfolgte ein steiler Absturz. Die SPD ist Anfang 2000 in der Wahlabsichtsfrage deutlich an der Union vorbeigezogen.

Das bedeutet allerdings nicht, daß die Wähler der SPD wesentlich mehr Ver- trauen entgegenbringen als der CDU. Auch die SPD hatte ihre Affären und das ist beim Wähler nicht unbemerkt geblieben und hat zu einem ähnlichen Vertrauensverlust geführt wie bei der CDU. Noch 1998 brachten 31 Prozent der Wähler der CDU großes Vertrauen entgegen; für die SPD lag der Anteil bei 34 Prozent. Anfang 2000 war der Anteil für die CDU auf 8 Prozent gesun- ken, für die SPD auf 12 Prozent.

Zudem wird die Kompetenz der Parteien, die vordringlichsten politischen Auf- gaben lösen zu können, zunehmend in Frage gestellt. Zwar wird die SPD der- zeit in den meisten Politikfeldern für kompetenter gehalten als die CDU. Dies resultiert aber eher aus den Problemen der Union und weniger aus Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der SPD. Insgesamt haben die Parteien ihr tradi- tionelles Profil weitgehend eingebüßt. Am häufigsten trauen die Wähler keiner Partei die Lösung der dringlichsten politischen Probleme zu.

Man zweifelt also zunehmend an der Kompetenz der Parteien. Vor dem Hintergrund zunehmenden politischen Desinteresses – das Interesse an der Politik hat sich seit 1983 etwa halbiert – bekommen daher Wahlen immer mehr den Charakter von Plebisziten für Nebenthemen, wobei die Tagespolitik den Wahlausgang entscheidet. Der Wahlausgang wird dadurch immer beliebiger.

Bei dieser Ausgangslage wird der Ruf nach mehr direkter Demokratie immer stärker. Zahlreiche Vorschläge beschäftigen sich damit, den Bürger stärker in politische Entscheidungsprozesse einzubeziehen und/oder mehr politische Sachfragen direkt durch die Bürger entscheiden zu lassen. 37

Vielen dieser Vorschläge mangelt es allerdings an Sorgfalt und theoretischer Fundierung. Allzu naiv ist die Gleichsetzung von mehr direkter Demokratie mit wahrer Demokratie. Begrifflich wird häufig nicht unterschieden zwischen der Forderung nach mehr Wahlen und Forderung nach mehr Abstimmungen über Sachthemen. Bei Wahlen bevollmächtigen die Bürger Personen, über Sach- themen zu entscheiden. Es wird also das repräsentative Prinzip beibehalten, und die Bürger entscheiden nicht über mehr Sachthemen als bis jetzt. Mehr direkte Wahlen sind also nicht unbedingt gleichzusetzen mit mehr direkter Demokratie. Sowohl mehr direkte Wahlen als auch mehr Abstimmungen über Sachthemen bedeuten aber unter Umständen eine Schwächung der Parteien.

In der Bundesrepublik Deutschland fallen politische Entscheidungen auf mehreren Ebenen, wobei der Bund, die Bundesländer, die Kreise und die Kommunen am bedeutsamsten sind. Auf den unteren Ebenen sehen die Länderverfassungen durchaus plebiszitäre Elemente vor, z.B. in Form von Volksbegehren bzw. Volksentscheiden. Deutschland ist also keine rein repräsentative Demokratie. Die Bundesebene sieht allerdings keine Möglich- keit der direkten Bürgerbeteiligung vor.

Im internationalen Vergleich nimmt das deutsche politische System aber keine Sonderstellung ein. Von allen Staaten der Europäischen Union räumt allein Italien seinen Bürgern auf der Ebene des Gesamtstaates mehr direkte Mitwir- kungsrechte ein als Deutschland. Alle anderen Staaten der EU kennen auf der Ebene des Gesamtstaates keine direktdemokratische Bürgerbeteiligung. Selbst die USA, die häufig als Beispiel für mehr direkte Demokratie genannt werden, kennen für den Gesamtstaat keine direkten Entscheidungen der Bürger über Sachthemen. Lediglich in Kalifornien besitzen die Bürger ein Vollgesetzgebungsrecht. Auch die ebenfalls häufig genannte Schweiz besitzt auf der Bundesebene kein Vollgesetzgebungsrecht für die Bürger. Allerdings ist hier auf der Kantonsebene die direkte Mitwirkung der Bürger erheblich stärker ausgeprägt als in Deutschland und die Bürger haben die Möglichkeit, die Verfassung zu ändern. Im Unterschied zu Deutschland handelt es sich bei der Schweiz aber um einen vergleichsweise kleinen Staat, dessen Situation nicht mit der deutschen zu vergleichen ist. In einem Staat von der Größe Deutschlands wäre es kaum denkbar, die Bürger beispielsweise über außen- politische Themen mit internationalen Konsequenzen abstimmen zu lassen.

Der internationale Vergleich zeigt auch, daß Staaten mit parlamentarischen Systemen ihren Bürgern in der Regel sehr wenig oder keine Möglichkeiten der 38 direkten Mitbestimmung in politischen Sachfragen einräumen. Zwischen parlamentarischen System und direkter Demokratie liegt sogar eine system- immanente Unvereinbarkeit vor. Das parlamentarische System setzt nämlich eine strikte Trennung von Regierung und Opposition voraus, die durch direkte Verfahren unterlaufen würde. Damit würde die Logik des gesamten politischen Systems in Frage gestellt und seine Funktionsfähigkeit nachhaltig gestört. Außerdem würden die Parteien durch mehr direkte Demokratie geschwächt, da die Entscheidungen außerhalb der Parteien getroffen würden.

Dies alles gilt für die Bundesebene. Die Verfassungen der Bundesländer ent- halten durchaus plebiszitäre Elemente, die allerdings teilweise kompliziert ausgestaltet sind, so daß sie bislang wenig genutzt wurden. Dabei wäre auf der Ebene der Länder und Kommunen durchaus eine Ausweitung plebiszitärer Elemente denkbar, ohne daß gravierende Störungen im politischen System zu befürchten wären.

Dabei können einige Probleme auftreten. So setzt direkte Demokratie kleine, überschaubare Einheiten voraus (Größenproblem), die Sachverhalte dürfen nicht zu kompliziert sein (Komplexitätsproblem) und die Bürger müssen Zeit und Geld aufbringen, um sich entsprechend zu informieren (Aufwands- problem). Außerdem muß ein Grundkonsens über gemeinsame Werte und Spielregeln bestehen (Homogenitätsproblem). Zuletzt darf das Ausmaß politischer und gesellschaftlicher Ungleichheit nicht zu groß sein (Gleichge- wichtsproblem). Größenproblem, Aufwandsproblem und zum Teil auch Komplexitätsproblem sind durch moderne Kommunikationsmittel wie Fernsehen und Internet ent- schärft worden. Durch populär aufbereitete Sendungen wie „Sabine Christiansen“ oder „Berlin Mitte“ werden komplexe Sachverhalte einem sehr breiten Publikum vermittelt. An die Stelle der parlamentarischen Öffentlichkeit ist die Medienöffentlichkeit getreten. Damit verbunden sind allerdings auch gravierende Probleme. Teilweise werden komplexe Sachverhalte verkürzt und nicht selten auch falsch dargestellt. Es besteht die Gefahr, daß Sachthemen zu kurz kommen und durch Personen verdrängt werden. Außerdem gewinnen Visibilität und Telegenität einen gewissen Einfluß auf die Auswahl des politischen Personals.

Das Gleichheitsproblem wird durch die Bildungsrevolution, die seit den 60er Jahren in Deutschland stattgefunden hat, entschärft. Der Anteil der Bürger mit 39 höheren Schulabschlüssen hat sich erheblich ausgeweitet und damit ist das Wahlvolk auch qualifizierter und gebildeter geworden.

In den Gemeindeordnungen hat die Tendenz zu mehr direkter Demokratie schon verbreitet ihren Niederschlag gefunden. Die Direktwahl der Bürger- meister ist inzwischen in allen Flächenstaaten der Bundesrepublik vorge- sehen. Kumulieren und panaschieren gibt es inzwischen in zehn Bundes- ländern und wird sich voraussichtlich weiter ausweiten. Ein wesentlich Anstoß für diese Entwicklung kam aus den neuen Bundesländern, für die solche direktdemokratischen Elemente von vornherein selbstverständlich waren. Allerdings treten gerade in den neuen Bundesländern große Probleme bei der Kandidatensuche auf. Immer weniger Personen sind z.B. bereit, sich für ein Amt zur Verfügung zu stellen. Der Mangel an Kandidaten ist auch einer der Gründe für Ämterhäufungen bei den verbliebenen Amtsträgern.

Mehr Auswahlmöglichkeiten bei Wahlen auf der Länderebene gibt es bisher nur in Bayern, wo man einem Kandidaten auf der Bezirksliste die Zweitstimme geben kann. Dieses Modell war bereits von der Enquête-Kommission Ver- fassungsreform 1973 für Bundestagswahlen empfohlen worden, was aber bislang nicht aufgegriffen wurde. Eine Direktwahl der Ministerpräsidenten würde Stellung gegenüber den Parteien, aber auch gegenüber den Parla- menten stärken. Dagegen bedeutet eine zeitliche Begrenzung von Amtszeiten eine Entmündigung der Bürger und ist außerdem rechtlich schwer durchzu- setzen.

Insgesamt könnte die Ausweitung direktdemokratischer Elemente zumindest auf den unteren Ebenen die Konkurrenz untereinander verstärken. Nach dem Prinzip der Marktwirtschaft führt vermehrte Konkurrenz aber zu Qualitäts- verbesserungen, was im Sinne einer verbesserten Politik den Bürgern nur nutzen könnte. Direktdemokratische Elemente können aber die repräsentative Demokratie immer nur ergänzen, nicht ersetzen. 40

Die Autoren

Prof. Dr. Peter Graf Kielmansegg Geb 1937, Politikwissenschaftler und Historiker, Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Mannheim

Klaus-Peter Schöppner Geb. 1949, Markt- und Meinungsforschung Leiter des EMNID-Instituts, Bielefeld

Prof. Dr. Hans-Georg Wehling Geb. 1938, Politikwissenschaftler Professor für Politikwissenschaft an der Universität Tübingen

Dr. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff Geb. 1952, Soziologe Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung