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Das

Ein deutscher Grenzraum Schriftenreihe

der Niedersächsischen Landeszentrale

für politische Bildung

Niedersachsen – vom Grenzland zum Land in der Mitte

Folge 6 2 3

Das Eichsfeld

Ein deutscher Grenzraum

Peter Aufgebauer Dietrich Denecke Klaus Grote Markus Krüsemann Eckart Schröder Hans-Georg Wehling

Duderstadt 2002 Mecke Druck und Verlag 4

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliothek; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ; abrufbar.

© NLpB

Herausgegeben von der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung (NLpB) mit freundlicher Unterstützung der Stadt Hannover 2002

Redaktion: Peter Hoffmann, NLpB, und Dr. Hans-Heinrich Ebeling, Stadt Duderstadt

Herstellung und Gestaltung: Niedersächsische Landeszentrale für politische Bil- dung

Die Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung dar. Für die inhaltlichen Aussagen tragen die Autoren die Verantwortung.

ISBN 3-932752-95-3 Mecke Druck und Verlag, Duderstadt Printed in Alle Rechte vorbehalten.

Umweltfreundlich hergestellt auf chlorfrei gebleichtem Papier. 5

Inhalt

Dietrich Denecke Das Eichsfeld – Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes in historisch-geographischer Perspektive ...... 7

Klaus Grote Die Ur- und Frühgeschichte im Untereichsfeld Zur Besiedlungsentwicklung von der Altsteinzeit bis zum frühen Mittelalter ...... 47

Eckart Schröder Die mittelalterliche ländliche Kulturlandschaft und ihr Wandel durch die Wüstungsvorgänge im Untereichsfeld ...... 62

Peter Aufgebauer Geschichte einer Grenzlandschaft...... 66

Markus Krüsemann Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg ...... 80

Hans-Georg Wehling Das katholische Milieu im Eichsfeld ...... 109

Literatur ...... 119

Abbildungsnachweise ...... 122

Verfasser ...... 124 6 7 Das Eichsfeld - Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes in historisch-geographischer Perspektive Dietrich Denecke

Da ist keine Geschichte ohne Grenzen inneren Regionalbewusstseins. Die Ele- und keine Grenze ohne Geschichte, mente der Charakterisierung sind raum- jedoch – Grenzen fordern immanent, sie werden von der Bevölke- zu ihrer Überwindung heraus. rung getragen und werden in ihr ge- weckt, sie werden raumgestaltend und wirtschaftsfördernd zur Wirkung ge- Charakterisierung bracht. und Regionalbewusstsein des In einem Logo des Eichsfeldes, das Eichsfeldes nach der Wende entworfen worden ist, sind charakterisierende Wahrzeichen Die Charakterisierung, Geschlossen- zusammengefasst, die die Landschaft, heit und Zusammengehörigkeit einer Re- ihre Geschichte und ihren ästhetisch-tou- gion wird immer wieder und heute mehr ristischen Wert plakativ und stellvertre- denn je in den „Merkwürdigkeiten“ im tend ansprechen. Das Mainzer Rad aus ursprünglichen Sinne, in markanten dem Wappen des Erzbistums Mainz, das Wahrzeichen, in werbenden Logos uns als Symbol der langen territorialen plakativen Slogans zum Ausdruck ge- und kirchlichen Zugehörigkeit noch über- bracht, es bildet sich von außen her gese- all entgegentritt (Wappen, Inschriften, hen ein Image der Region und ihrer Be- Grenzsteine u.a.), steht für die gemeinsa- wohner, das man von innen her auch po- me Territorialgeschichte, die Burg Hans- sitiv zu beeinflussen sucht, auf der tein symbolisiert die Macht und den Ein- Grundlage der Förderung eines aktiven fluss der zahlreichen mittelalterlichen

Ein vormaliges Logo des Eichsfeldes in der touristischen Werbung 8 Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes 9

Grundherren, die später oft in die Amts- verwaltungen eintraten, dargestellt im alten Burgsitz (Haus auf dem Wall) der Herren von Minnigerode und Sitz des ehemaligen Amtes , das Rathaus Duderstadt vertritt die Bedeu- tung und wirtschaftliche Macht der Städ- te des Eichsfeldes, und im Mittelfeld steht die Wallfahrtskirche auf dem Hülfensberg für die katholische Einheit des religiös geprägten Eichsfelder Rau- mes. Mit dem weiten Offenland, den Waldhängen und der Wasserfläche des Seeburger Sees, dem „Auge des Eichsfel- des“, wird der Landschaftscharakter zum Ausdruck gebracht, einer Landschaft, die mit ihrer durchaus eigenen Natur wie auch den Elementen ihrer Geschichte (Burgenromantik, Wallfahrtsorte, Fach- werkstädte) zur Freizeitgestaltung und zum Tourismus einlädt. In Werbesprüchen mit einem deutli- chen Regionalbezug wird die zentrale Lage im heutigen Deutschland und die Überwindung der einstigen Grenzlage thematisiert. Das Eichsfeld – „Die geogra- phische Mitte Deutschlands“, das Eichs- feld – „Natur und Kultur im Herzen Deutschlands“ oder das Eichsfeld – „Die grenzenlose Region“, „Die Region des Brückenschlages“. So ist auch zur Welt- ausstellung 2000 in Hannover ein dezen- trales Expo-Projekt im Eichsfeld durchge- führt worden, unter dem Motto „Das Eichsfeld – die grenzenlose Region – Überwindung der Teilung für Mensch und Natur“. Mit den lokalen Slogans „Duderstadt – Das Tor zum Eichsfeld“ oder „Worbis – Das Tor zum Ohmge- birge“ wird die Zentralität der Orte, aber gerade auch die Verbundenheit mit ih- rem Umfeld hervorgehoben. Das Motto „Das Eichsfeld – Deutschlands nördlich- ster Süden“ spielt auf überregionale Ver- gleiche und Verbindungen an, repräsen- tiert besonders in der religiös-katholi- schen Geschlossenheit, der Traditions- gebundenheit einer dörflichen Gesell-

Karte des Eichsfeldes 10 Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes

Das Rathaus in Duderstadt schaft und einem Erholungswert abseits des unzugänglichen Grenzraumes über- von der Hektik der Ballungsräume. Mit wunden werden. Das Image des Eichs- den Errungenschaften der heutigen Ge- feldes im 19. Jahrhundert, „Das Armen- genwart soll die Vorstellung der noch na- haus Preußens“ zu sein, gehört in der Tat hen Vergangenheit des peripheren und der Vergangenheit an. Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes 11

Das Eichsfeld – Aue am südlichen Harzrand und im We- sten das Leinetal mit dem Moringer und ein Territorium und Grenzraum Einbecker Becken. Ganz anders sind die natürlichen Ressourcen wie auch der Be- Das Eichsfeld ist im nördlichen Teil siedlungsgang in den benachbarten Mit- eine offene Beckenlandschaft mit frucht- telgebirgszügen, dem naheliegenden baren Böden (’Goldene Mark’) und um- , dem hessischen Bergland wie auch rahmenden bewaldeten Höhenzügen, dem Weserbergland. die nach Süden hin landschaftsbestim- mend werden. Es ist ein schon in prähi- Der bis heute wirksame territoriale storischen Epochen agrarwirtschaftlich Zusammenhalt wie auch die Bezeichnung genutzter Altsiedelraum, eine seit dem ’Eichsfeld’ gehen zurück bis in das frühe Mittelalter territoriale, katholisch ge- Mittelalter, auf den kleinen Eichsfeldgau prägte Einheit in einem protestantischen um Dingelstädt (erstmals genannt 897), Umfeld und letztlich bis heute ein territo- auf die „Terra Eichsfeldiae“, die Ende des rialer Grenzraum, was sich immer wieder 13. Jahrhunderts von einem Grafenge- vielseitig ausgewirkt hat. Naturräumlich schlecht an den Erzbischof von Mainz und siedlungsgeschichtlich im Umfeld verkauft wird. Vom Erzbistum Mainz aus vergleichbar besonders mit dem nördli- wird dann in der Folgezeit, bis in die chen Eichsfeld sind im Osten die Goldene zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts hin-

Karte des Fürstentums Eichsfeld von E. Gaebler, 1886 12 Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes

Historische Grenzmarkierungen der ehemaligen Grenze zwischen dem Kurfürstentum Mainz (Gem. Gieboldehausen) und dem Fürstentum Grubenhagen (Gem. Wulften) am Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes 13 ein, durch eine gezielte Erwerbspolitik in innerdeutschen Grenze ist nicht nur his- der Nachbarschaft und in Konkurrenz mit torisch, sondern in ihren Nachwirkungen welfischen, thüringischen und hessischen zu verdeutlichen. Territorialbestrebungen das Mainzer Ter- ritorium des Eichsfeldes ausgebaut, das Charakteristische Züge des Eichsfeldes, als solches bis 1802 bestanden hat. Mit die Ikonographie der Landschaft, lassen dem Wachstum des Territoriums sind in sich wahrnehmen in den weiten Einbli- cken von den randlichen Höhenzügen in die Bezeichnung Eichsfeld verschiedene die offenen Agrarlandschaften, in der weitere Teilgebiete eingeschlossen wor- Lage des Eichsfeldes in den weiten Pass- den, u.a. die Goldene Mark, das im nörd- landschaften zwischen Harz, Thüringer lichen Teil gelegene Gebiet des seit 1815 Wald und , in der dörflichen Prä- hannoverschen und heute niedersächsi- gung der Siedlungslandschaft, in der einst schen Untereichsfeldes. Immer wieder im kleinteiligen agraren Betriebs- und Flur- Laufe der Geschichte, besonders jedoch struktur mit den heutigen Transforma- in der jüngsten Zeit der geschlossenen tionen im Siedlungsbild und der funktio- Grenze der DDR, haben sich die territo- nalen Wanderungs- und Pendlerstruktur. rialen Abgrenzungen auf die Entwick- Weitere Charakteristika finden sich in lung des Raumes ausgewirkt, die Situati- den Zeichen in der Landschaft und im kul- on eines Grenzraumes ist im Eichsfeld turellen Leben der Bevölkerung, die von einst und auch noch heute ein wesentli- einem katholischen Milieu geprägt sind. cher raumwirksamer Faktor. Die heutige Landschaft birgt viele An- Grenzen und ihre Veränderungen im zeichen in sich, die den historischen Wer- Charakter zwischen einer totalen Ge- degang dieses durchaus eigenen Raumes schlossenheit, einer Durchlässigkeit und erkennen lassen. Die Spuren sind rück- einer Offenheit wirken sich auf unter- blickend aufzusuchen und landschafts- schiedliche Entwicklungen der Land- geschichtlich zu erklären, um gegenwär- schaft, der Wirtschaft und Gesellschaft tige Strukturen zu verstehen und nach- auf beiden Seiten der Grenzlinie aus haltig weiterentwickeln zu können. Die (entfremdete-koexistierende-kooperie- retrospektive Landschaftsanalyse vermag rende-integrierte Grenzregionen und Beziehungen zum Lebensumfeld zu ver- Binnenregionen in ehemaligen Grenzre- mitteln, sie führt zum Lesen des Buches gionen). Grenzräume sind in sich eigen- der Landschaftsgeschichte, zum Bezie- ständige Raumeinheiten, die auch eine hungsgefüge zwischen Mensch und Na- spezifische Grenzraumforschung und tur, zum Raumverhalten des Menschen in Grenzraumanalyse verlangen. Gerade in seiner Umwelt. Fragen sind zu richten an der Geschichte Mitteleuropas haben ter- unsere heutige gewordene Kulturland- ritoriale Grenzen eine hervortretende schaft, die exemplarisch zu beantworten raumwirksame Rolle gespielt, und die ge- gesucht werden, um die Vielfalt in der genwärtigen Wandlungen der Bedeu- Einheit verständlich zu machen, ohne da- tung von Grenzen im sich vereinigenden bei eine Ganzheit erreichen zu wollen Europa fordern dazu heraus, Grenzraum- und zu können. Der Landschaftsraum des forschungen zu verfolgen, die auch dann Eichsfeldes ist in seinem Zusammenhang und vielleicht gerade noch Problemfelder seit dem 19. Jahrhundert schon vielfach aufzugreifen haben, wenn der Charakter beschrieben worden. Behandelt werden einer geschlossenen staatlichen Grenz- Landschaft und Geschichte, Siedlung und barriere nicht mehr gegeben ist. Das Wirtschaft, Mensch und Kultur. Die Dar- Eichsfeld ist ein charakteristisches Beispiel stellungen sind entwicklungsgeschicht- und Forschungsfeld für eine historisch- lich ausgerichtet, auf Sachbereiche oder politische und historisch-geographische auf Örtlichkeiten bezogen. Sind die frü- Grenzraumforschung, die anwendungs- hen landeskundlichen Beschreibungen bezogen von regionalpolitischer und meist historisch-statistisch oder chronika- regionalwirtschaftlicher Bedeutung ist, lisch aufgebaut, eng verbunden mit his- vor allem auch als Grundlage für Regio- torischen Fakten und Ereignissen, („Erd- nalplanung und Regionalentwicklungen. beschreibung“, „topographisch-histori- Die Raumbedeutsamkeit der ehemaligen sche“ oder „historisch-romantische Be- 14 Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes schreibung“, „geographisch-historische fürstentum gehörige geistliche Territori- Übersicht“), so folgen die jüngeren um bestimmt, das sich als Einheit an sei- Landeskunden der ersten Hälfte des 20. nen Grenzen nach außen hin zum Her- Jahrhunderts einer systematischen Abfol- zogtum Braunschweig, zur Grafschaft ge einer Abhandlung der naturräum- Thüringen und zur Landgrafschaft Hes- lichen Voraussetzungen (Klima, Gewäs- sen zu behaupten hatte, so geht die in- ser, Geologie, Böden, Flora und Fauna) nere Teilung in ein Untereichsfeld und und dann folgend der anthropogenen Obereichsfeld auf die 1803 erfolgte Auf- Elemente (Siedlung, Bevölkerung, Wirt- lösung der geistlichen Territorien zurück schaft, Verkehr). Die beschreibende Da- (Fürstentum Eichsfeld) und die 1815/16 tensammlung der frühen Zeit bezweckte nachfolgende Aufteilung an zwei ver- eine Bereitstellung von Information für schiedene Staaten, Kurhannover und das den praktischen Gebrauch und eine geis- preußische Thüringen. 1866 wird der han- tige Beschäftigung, die jüngeren land- noversche Teil als Provinz Hannover eben- schaftsräumlichen Darstellungen sollten falls preußisch, unter Beibehaltung der in der Form von Landeskunden oder nunmehr provinzialen Verwaltungsgren- Heimatkunden landeskundliche Bildung ze. Die Grenzziehung setzt sich bei nur und Kenntnisse des engeren Lebensrau- geringen Änderungen in der 1945 gezo- mes vermitteln, im Sinne einer ’Erdkun- genen Grenze zwischen der britischen de’ und einer ’Heimatkunde’. und sowjetischen Besatzungszone fort, sie wird 1949 Grenze zwischen der Bun- Seit den 1970er Jahren ist die landes- desrepublik und der DDR, in den 50er kundliche Forschung darum bemüht, im und 60 Jahren durch Grenzbefestigungen Sinne einer Regionalforschung problem- undurchdringlich geschlossen, um dann orientierte Raumanalysen vorzunehmen, nach der Wiedervereinigung 1990 zur Lan- Akteure, raumwirksame Prozesse und desgrenze zwischen den Bundesländern Prozessregler sowie Raumnutzungskon- Niedersachsen und Thüringen zu werden. flikte zu thematisieren. Wahrnehmung der Umwelt, Regionalbewusstsein und Liegt die Grenzziehung damit etwa Identifikation mit dem Lebensraum stel- 170 Jahre zurück, so hat sich die Qualität len den handelnden und bewussten und Auswirkung der Grenze doch mehr- Menschen wie auch die Gesellschaft in ihr fach verändert, wobei sich die geschlos- Umfeld hinein, für das sie nachhaltig Sor- sene „Staatsgrenze“ zwischen den „Terri- ge zu tragen haben. Damit ist auch die torien“ der Bundesrepublik und der DDR Zielsetzung einer modernen politischen am gravierendsten ausgewirkt hat und Landeskunde umschrieben, die zur Bil- die heutige Landesgrenze ihre eigendy- dung und Ausbildung verantwortungs- namische Wirkung tut, so dass die Bestre- bewusster und aktionsbereiter Bürger bungen zu einer inneren Einheit des beitragen soll. Eichsfeldes, auch auf dem Hintergrund einer historisch gewachsenen Zusammen- Als Ziel und raumpolitische Aufgabe gehörigkeit, keineswegs ungebrochen wird es nach der Wende 1990 angesehen, sind. Es stellt sich vielmehr die Frage, wel- die gegebenen Unterschiede der regio- chen einigenden und welchen trennen- nalen Struktur der beiden Grenzräume, den Maßnahmen und Kräften der tradi- die Nachwirkungen der bis 1989 ge- tionelle Grenzraum Eichsfeld auch wei- schlossenen Grenze sowie die noch wirk- terhin ausgesetzt ist, wieweit eine innere samen Grenzerfahrungen nach Möglich- Einheit von einem wesentlich historisch- keit durch Kooperation auf allen Gebie- kulturellen Bewusstsein geprägt raum- ten auszugleichen bzw. das Einigende in wirksam und tragfähig ist, oder wieweit einer Zusammenarbeit sowie in einem andererseits das Regionalbewusstsein auf gemeinsamen Bewusstsein der Bevölke- der Basis der 40jährigen innerdeutschen rung zu stärken, um damit die einstige Trennung und der getrennten Länder- innerdeutsche Teilung zu überwinden zugehörigkeit eher auf den jeweils eige- und zu einer gemeinsamen staatlichen nen Landesteil gerichtet ist. deutschen Einheit zusammenzuwachsen. War der Grenzraum Eichsfeld über lange Ländergebundene Planungs- und Ent- Zeit durch das zum Erzbistum und Kur- wicklungsmaßnahmen sowie gewachse- Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes 15 ne Raumbindungen und Raumvorstellun- Die innerdeutsche Grenze gen (regional gebundene Assoziationen, Prägungen, emotionale Vorbehalte u.a.) 1949 bis 1989 – können trennend wirkende Kräfte in sich Auswirkungen und Nachwir- bergen, die dem propagierten Ziel einer kungen länderübergreifenden innerregionalen Kooperation in einem Gesamteichsfeld Ist mit der Wiedervereinigung 1989/ entgegenstehen. Nach der Euphorie der 90 die fast 40 Jahre bestehende geschlos- Wiedervereinigung 1989/90 und einer sene und kontrollierte Grenze auch ge- Wende-Depression 1994/95 stellen sich fallen, so sind doch Nachwirkungen der bei einer durchaus ständigen Verbesse- Grenzraumsituation auf beiden Seiten rung eines Gemeinschaftsgefühles nun durchaus noch wirksam, nunmehr auch aber auch Verwaltungshemmnisse und auf der neuen Ebene der Ländergrenzen. Reibungsverluste ein wie auch gegensei- Raumwirksam für die beiderseitigen tige Vorbehalte, die ein West gegen Ost Grenzräume waren die staatlich gesteu- oder auch die „Herausbildung zweier erten Maßnahmen der Grenzsicherung Eichsfelde“ unter neuen Vorzeichen ent- und Grenzkontrolle, die von der separie- stehen lassen. Da als grundlegendes In- renden Staatsführung der DDR ausgin- strument der Regionalentwicklung die gen. Wesentliche Schritte waren dabei regionale Identität ein regional bezoge- die bereits 1946 beginnende und seit nes Handlungsverhalten tragen soll, 1952 durch Sperranlagen immer weiter ohne historisch bedingte Stereotypen be- ausgebaute Abriegelung des „Territori- mühen zu müssen, ist ein aus den gegen- ums der DDR“, aber auch die Eröffnung wärtigen Zielsetzungen und Aufgaben der Grenzübergangsstelle Duderstadt/ heraus geprägtes Regionalbewusstsein Worbis im Jahre 1973. von entscheidender Bedeutung.

Grenzanlagen und Sperrgebiet der DDR 16 Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes

Grenzübergang Duderstadt-Worbis, mit Sicherungs- und Abfertigungsanlagen, DDR, um 1985. Blick vom Westen.

Chronik der innerdeutschen Grenze 1945-1990, unter besonderer Berücksichtigung des Eichsfelder Raumes 1945 (4. –11.02.) Konferenz von Jalta: Aufteilung Deutschlands unter den vier Sie- germächten in vier Besatzungszonen, getrennt durch Demarkartionslinien. (01.-03.07.): Rückzug der amerikanischen Truppen aus Sachsen und Thürin- gen, Nachrücken der sowjetischen Besatzung. Lokale Grenzverschiebungen an der Demarkationslinie zur sowjetischen Besatzungszone (SBZ): Grenzkorrektu- ren (besonders Beanspruchung der Gemarkungen Werleshausen und Neusee- sen für die Fernbahnstrecke Bremen – Bebra – Süddeutschland durch die Amerikaner). Markierung der Grenzlinie durch Holzpfähle an den Bäumen. Straßen bei Gerblingerode und durch Schlagbäume gesperrt. 1946 Die britische Besatzungsmacht überträgt der deutschen Zollverwaltung die Kontrolle der Demarkationslinie („Eiserner Vorhang“), in der SBZ „Deutsche Grenzpolizei“. Sperrung der Demarkationslinie durch die sowjetische Militär- verwaltung, beschränkte Passage nur mit Interzonenpass. 1949 Gründung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und der Deutschen Demo- kratischen Republik (DDR). 1951 Gründung des Bundesgrenzschutzes (BGS) zur Grenzkontrolle von Seiten der BRD. 1955/56/60 Stationierung des BGS in Duderstadt. 1952 „Verordnung über Maßnahmen an der Demarkationslinie“ von Seiten des Mi- nisterrates der DDR: Einrichtung eines fünf Kilometer tiefen Sperrgebietes und eines 500 Meter breiten Schutzstreifens an der Zonengrenze entlang. Ab- bruch aller infrastruktureller Zusammenarbeit, Ausbau der Grenzanlagen: Zehn Meter breiter gepflügter Kontrollstreifen (K-10), Stacheldrahtzaun, zwangsweise Ausweisung von Bevölkerung aus der Sperrzone, Schießbefehl bei Grenzverletzungen. Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes 17

1953 Beginn regionaler Einzelprojekte im Zonenrandgebiet der Bundesrepublik. Kreis Duderstadt als Zonengrenzkreis zum Notstandsgebiet erklärt. 1954 Einrichtung einer Visumpflicht durch die Passbehörde der DDR, seit 1968 Pass- und Visumzwang für Reise- und Transitverkehr. Grenzüberwachungstürme zwischen Bösekendorf und Zwinge. Vergeblicher Versuch des Kreises Duder- stadt, eine Grenzübergangstelle bei Gerblingerode zu erwirken (1955). 1956 Grenzmaßnahmenverordnung der DDR. 1957 Bezeichnung der Grenze der DDR als „Staatsgrenze West“; Jedes nicht- genehmigte Verlassen der DDR wird als „Republikflucht“ geahndet. 1958 Verstärkung der Sperranlagen der DDR, Stationierung schwerer Waffen, 1961- 72 Stolperdrähte und Hundelaufanlagen. 1961 Investitionszulagengesetz zur Förderung des Zonenrandgebietes der Bundes- republik. 13 neue Beobachtungstürme der DDR zwischen Freienhagen und Tettenborn. Minenverlegung zwischen Duderstadt und Lindenberg. 23 Erd- beobachtungsstände; Abholzungen an der Grenze. 1964 Zulassung von Besuchsreisen von Bürgern der DDR im Rentenalter; Einfüh- rung eines Mindestumtausches für Besucher aus der Bundesrepublik. 1965 Be- ginn von Rahmengesetzen und –programmen einer Zonenrandförderung mit dem Bundesraumordnungsgesetz der Bundesrepublik. 1966 Installierung eines zweireihigen Metallgitterzaunes und Anlage eines „Kraft- fahrzeug-Sperrgrabens“, 1969 Bau von Beobachtungstürmen aus Beton (BT11, rund, seit 1976 eckig). 1967 Aufstellung von Grenzsäulen (DDR) und Warnschildern „Halt! Zonengrenze“, seit 1974: „Hier Grenze“ (BRD). 1971 Einbau erster Selbstschussanlagen (SM-70) und schwenkbarer Scheinwerfer; im Eichsfeld werden die Holztürme durch Betontürme ersetzt. 1972/73 Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der BRD und der DDR. 1973 Weiterer Ausbau der Grenzanlagen: Schutzstreifenzaun im Sperrgebiet 500 Meter vor der Grenzlinie. Vier neue Grenzübergangsstellen für Kfz und Pen- delbusse, u.a. Duderstadt-Worbis, mit der Einrichtung des „Grenznahen Ver- kehrs“ (Kleiner Grenzverkehr). Tagesreisen von grenznahen Kreisen der BRD in benachbarte Kreise der DDR. 1983/85 Beseitigung der Selbstschussanlagen und Minenfelder, Ersatz durch „Grenz- signalzaun 80“. 1985 Anlage von Spurensicherungsstreifen und Kolonnenfahrwegen. 1989 Meldung, dass die DDR Genehmigungen für Auslandsreisen ohne besondere (9.11.) Voraussetzungen erteilen werde. Dies gibt spontan einer bereits aufgestauten befreienden Volksbewegung Raum. Von beiden Seiten passieren Tag und Nacht Menschenmassen den Grenzübergang. Aufhebung des Schießbefehls und der Sperrzone. Demontagen der Grenzanlagen in engagierter Selbsthilfe der Bevölkerung. 1990 Aufhebung sämtlicher Kontrollen an der innerdeutschen Grenze auf der (01.07.) Grundlage des Ersten Staatsvertrages zwischen der BRD und der DDR über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. (03.10.): Festschreibung des ehema- ligen Grenzverlaufes der innerdeutschen „Staatsgrenze“ als Landesgrenze zwischen den Bundesländern Niedersachsen (Landkreis Göttingen) bzw. Hes- sen und dem Land Thüringen (Kreis Worbis und Kreis Heiligenstadt, später Eichsfeldkreis). Zwischen Eichenberg und Brochthausen 8 neue Grenzüber- gänge für Pkw und 9 für Fußgänger. 18 Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes

Grenzübergänge im Juli 1990 aus: Grenze im Eichsfeld, Dr. Ebeling

Die Folge der Grenzschließung war wurde im Westen seit 1953 durch Förder- eine Kappung der Verkehrsverbindun- maßnahmen aufzufangen gesucht, deren gen, mit entsprechenden Auswirkungen Ergebnisse auch heute noch deutlich er- im zentralörtlichen Gefüge, besonders kennbar und wirksam sind. Im Osten führ- der Städte Duderstadt, Heiligenstadt, ten die ideologisch gesteuerten staats- Nordhausen und Mühlhausen, eine sepa- politischen Eingriffe und Maßnahmen der rate Entwicklung von Siedlung und Wirt- teilweisen Aussiedlung aus dem Sperrge- schaft eines kapitalistischen Systems ei- biet, die Kollektivierung der Landwirt- nerseits und einer sozialistischen Ideolo- schaft und staatliche Organisation der gie und Planwirtschaft andererseits wie Agrarproduktion, die Ansiedlung neuer auch eine separate Entwicklung der sozi- Industrien und Staatsbetriebe sowie die okulturellen Struktur der Bevölkerung, gezielten Maßnahmen der Zuwanderung deren inneres und äußeres Beziehungs- von Arbeiterbevölkerung und Grenz- gefüge grundlegend gestört war. kontrollpersonal aus dem zentralen Mit- teldeutschland zu gravierenden Umge- Die merkliche wirtschaftliche Schwä- staltungen der Wirtschafts-, Landschafts- chung des ins Abseits geratenen Raumes und auch der Sozialstruktur des Raumes. Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes 19

Ausbau und Modernisierung der in- potentials wandelt sich im Laufe der hi- dustriellen Spinnerei und Weberei im storischen Entwicklung eines Siedlungs- Obereichsfeld seitens der DDR-Regierung und Wirtschaftsraumes, Einfluss und im Zuge des 1959 aufgestellten „Eichs- Wert können langfristig, aber auch nur in feldplanes“ wurden aus der Sicht der so- einer bestimmten Epoche von kurzer zialistischen Sozial- und Wirtschaftsideo- Dauer sein. logie des „Arbeiter- und Bauernstaates“ in historisch-politischer Perspektive dar- Dauerhaft wirksam ist das Relief. Die gestellt, ohne die politischen Zielsetzun- Kuppen und Höhenzüge der geologisch gen einer Veränderung der Bevölke- mesozoischen Landschaft, in die größere rungsstruktur im katholischen Eichsfeld und kleinere Becken und Täler eingela- und Grenzgebiet zu thematisieren: Der gert sind, teilen die Landschaft auf in Aufbau der modernsten Spinnerei in der siedlungsgünstige Standorte mit den zu- DDR in Leinefelde (1961ff.), nach der be- gehörigen lössbedeckten Ackerflächen, reits erfolgten Anlage der Weberei (Werk in vielseitig positionierte, ebenfalls weit- 6) des VEB Nortex in Bernterode, „wird gehend gerodete Hangbereiche und in das Gesicht des gesamten Eichsfeldes ver- viele kleine und auch größere bewaldete ändern und dazu beitragen, dass nun Höhen. Der mittlere Bundsandstein und wieder alle Eichsfelder im Eichsfeld Ar- der Muschelkalk sind die Gesteinsforma- beit und Brot finden. Während im Kapi- tionen der Höhen, die in den steileren talismus jede neue Spinnmaschine für die Hängen besonders nach Norden gerichte- Eichsfelder Hunger und Elend bedeutete, te Stufen bilden und die, weitgehend sorgt die sozialistische Planwirtschaft da- durch Abtragung bedingt, oft nur noch für, dass die Produktionssteigerung der eine geringmächtige Bodendecke tragen. Maschinenspinnerei den Werktätigen zu Die Strukturformen des Reliefs gehen aus Gute kommt. Damit ist die Zeit eichsfel- von zunächst weitgehend horizontal ge- discher Wanderarbeiter und eichsfel- lagerten Triasschichten (besonders die discher Webernot endgültig vorbei. Obereichsfelder Platte), die dem Zech- Durch den VEB ,Baumwollspinnerei und stein aufliegen, die dann jedoch im spä- –zwirnerei Leinefelde’ wird das Eichsfeld ten Mesozoikum und vor allem in der wiederum ein bedeutendes Textilgebiet. Zeit des Tertiär im Zuge der Hebung des Der Fleiß der Eichsfelder wird mit dazu Harzes und des Thüringer Waldes tekto- beitragen, dass mit der Hilfe des von un- nisch (endogene Prozesse) zerbrochen serer Regierung geplanten und gebauten (Bruchschollen, Grabenbrüche, Störungs- Betriebes wieder ein glückliches Eichsfeld zonen) verstellt und gefaltet worden entsteht, in dem alle Eichsfelder Arbeit sind. Im nördlichen Teil des Eichsfeldes ist und Brot finden. So sprießt aus der heute es der Bundsandstein (bis zu 400 Meter Geschichte gewordenen eichsfeldischen mächtig, vor allem der im Westen am Handspinnerei und Handweberei eine weitesten verbreitete Mittlere Bundsand- moderne sozialistische Industrie.“ (W. stein (Bausandstein), was in Bereichen Prochaska, Die Entwicklung des Textilge- geringerer Lössauflage an den rötlichen werbes auf dem Eichsfelde, 1963, S. 68). Böden erkennbar ist, an Felspartien in oberen Taleinschnitten und dem vorherr- schenden roten Sandstein als Baumateri- al (Werkstein) in den Siedlungen. Tekto- nisch wirksam werden aber auch die plas- Naturräumliche Eigenheiten tischen Bewegungen und Auslaugungen und Ressourcen in den löslichen Gesteinen des Zechsteins (Salztektonik), die größere und kleinere Die naturräumlichen Bedingungen Einbrüche verursacht haben (Seeburger sind nicht nur gegebene, grundlegende See, ehem. Luttersee u.a.). Landschaftselemente, sondern sehr we- sentlich auch ein Dargebot an Ressourcen Bei der exogenen Formung besonders für eine Besiedlung und Nutzung, ver- bedeutsam ist in weiten Teilen des südli- bunden mit der Aufgabe einer nachhalti- chen Eichsfeldes die Wirkung der was- gen Entwicklung und Pflege. Die Bedeu- serstauenden Tonschichten des Oberen tung und Inwertsetzung eines Nutzungs- Bundsandsteins (Röt), dem der meist ban- 20 Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes kige und abtragungsresistentere Mu- lem in der Höhenstufung in den pheno- schelkalk aufliegt. Der morphologische logischen Erscheinungen, den kurzfris- Prozess der Abtragung setzt im Röt am tigen Unterschieden der Blütezeit glei- Hangfuß an, im Bereich von Quellaustrit- cher Pflanzen- und Baumarten, die bis zu ten und Rutschungen und führt im Mu- 15 Tagen erreichen können. Die groß- schelkalk zu Schichtstufenbildungen, die räumlichen Verhältnisse der Klimaregion im morphologischen Bild des Obereichs- „Oberes Leinebergland“ sind gegeben in feldes charakteristisch sind. relativ hohen Jahresniederschlägen (bis 650/700 mm/Jahr), bei einem besonderen Die geologischen Formationen des Anteil im Sommer (Mai bis Juli), was für Eichsfeldes lassen keine bemerkenswer- die Vegetation sehr förderlich ist, wobei ten Bodenschätze erwarten, ganz im Ge- allerdings gerade in den Becken und Tal- gensatz zum nahegelegenen Harz mit bereichen rund 100 mm weniger Regen seinen paläozoischen Gesteinen und Erz- fällt als im Gesamtdurchschnitt. Die frost- gängen, deren Abbau seit dem frühen freie Zeit liegt bei 173 bis 183 Tagen, und Mittelalter eine bedeutende Industrie- die mittlere Temperatur in der Vegeta- landschaft hat entstehen lassen. tionszeit beträgt 13 bis 14 Grad Celsius. Dies sind günstige Voraussetzungen für Allein der Abbau von Kali in der Zech- einen Ackerbau wie auch durchaus für steinformation hat vor allem in der Zeit Sonderkulturen (Tabak, Hopfen u.a.), ob- vor dem Ersten Weltkrieg um das Ohm- gleich mit zunehmender Höhe sehr bald gebirge herum mit Schachtbetrieben bei Grenzen erreicht sind. Bernterode, Holungen, Sollstedt oder Bischofferode eine Rolle gespielt, bei Die seit der Jungsteinzeit anhaltende weiteren, jedoch aufgegebenen Mutun- Rodung und Ackernutzung im Eichsfeld gen bei , bei Heiligenstadt und im hat die postglaziale, holozäne Bildung Kreis Worbis. Die sehr rasch gewachsene von bis zu fünf Metern mächtigen Para- Konkurrenz (1892 in Deutschland 20 Be- braunerden im Löss weitgehend und spä- triebe, 1924 bereits 219) und mangelnder testens seit dem Mittelalter flächenhaft Absatz führten sehr bald zu einer Kon- unterbrochen. Auf den offenen Flächen zentration der Kaligewinnung auf wirt- setzte im hängigen Gelände eine lineare schaftlich und technisch besonders lei- (Kerbtäler, Rinnen), aber auch flächen- stungsfähige Schachtbetriebe, wozu im hafte Abtragung ein, bei der die holo- Eichsfeld besonders der Schacht Bisch- zäne Bodendecke weitgehend beseitigt offerode gehörte, dessen Betrieb, nach und in den Talzonen abgelagert wurde, einigen Bemühungen um eine Erhaltung, gefolgt von einer zwei bis vier Meter nach der Wende eingestellt worden ist. mächtigen Akkumulation von Kolluvien Bedeutsam waren für das Eichsfeld auch aus oberen Hangbereichen an den mitt- die auf guten Tonvorkommen beruhen- leren und unteren Hängen. Ist der Pro- den Ziegeleibetriebe, die, einst weit ver- zess des Bodenabtrags in heute offenen breitet, heute auf zwei moderne Großbe- Hangbereichen immer noch virulent, so triebe zurückgegangen sind. konnte sich bei einer Wiederbewaldung im 15. Jahrhundert wüstgefallener mit- Charakteristisch für die klimatischen telalterlicher Ackerfluren im Kolluvium Verhältnisse ist es, dass – im Mittelge- erneut ein Parabraunerde-Horizont her- birgsraum gelegen – großräumig eine ausbilden, allerdings bei einer weiten geschützte Lage gegeben ist, die klein- und für das Eichsfeld typischen Verbrei- räumig durch das bewegte Relief merk- tung sich rückschreitend einschneidender lich differenziert wird. Besiedlungsgang, Erosionsrinnen. Siedlungsstandorte, besonders aber auch die kleinstrukturierte differenzierte In der flächenhaften Kappung und Landnutzung waren an diesen Gegeben- Umlagerung der Bodenhorizonte sowie heiten orientiert. Relief- und auch expo- der Verfüllung und Einschneidung von sitionsbedingt differieren die Nieder- tiefen Erosionsgräben und Rinnen wird schläge, die Temperaturen und die frost- die langzeitige Ackernutzung des lössbe- freien Tage. Anschaulich sichtbar werden deckten Eichsfeldes sehr anschaulich die kleinräumigen Unterschiede vor al- greifbar. Die heutigen Bodenoberflächen Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes 21

Relief- und Bodenentwicklung nach einer Rodung und Wiederbewaldung, Wüstung Thiershausen, Untereichsfeld

und Böden des Raumes sind das Ergebnis ner Gewinnungszentrale in , eines bereits rund 4000 Jahre währenden einem leistungsfähigen Wasserwerk Eingriffs des Menschen durch seine Land- „Rhume“, einem zentralen Hochbehälter bewirtschaftung in den Naturhaushalt auf dem Euzenberg und der Betriebs- und Bodenbildungsprozess. zentrale in Duderstadt. Die Tiefenzonen des Eichsfeldes sind reich an Wasservorräten, besonders be- dingt durch die umgebenden Höhenzüge und das Gebirge des Harzes. Ein anschau- liches Beispiel für die notwendige Umori- Erholung und Fremdenverkehr entierung und Neuschaffung von Versor- – Natur- und Kulturvermittlung gungseinrichtungen und Infrastrukturen durch die Schließung der Grenze ist der Das reiche und differenzierte Natur- Aufbau eines neuen Systems der Trink- angebot des Eichsfeldes ist heute eine wasserversorgung für den Kreis Duder- bedeutsame Ressource für Erholung und stadt. Eine zentrale Wasserversorgung Fremdenverkehr, die landschaftspflege- wurde erstmalig 1929 eingerichtet, durch risch zu betreuen wie auch zu erschlie- ein Werk für den Landkreis und ein wei- ßen ist. Das Obereichsfeld ist Teil des teres für die Stadt Duderstadt, mit einer 1867 km² umfassenden „Naturpark Eichs- Hauptquelle im Kreis Worbis. Beide Wer- feld-Hainich-Werratal“ mit dem National- ke fusionierten 1972 zur „Eichsfelder En- park Hainich. Großräumig umgeben ist ergie- und Wasserversorgungsgesell- diese Schutz- und Erholungsregion im schaft mbH (EEW)“, unter deren Führung Norden vom Naturpark und Nationalpark ein von der DDR unabhängiges Gewin- Harz, im Westen vom Naturpark Solling- nungs- und Versorgungssystem für das Vogler und im Südosten vom Thüringer Untereichsfeld ausgebaut wurde, mit ei- Wald. 22 Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes

Erschlossen ist der Naturpark Eichsfeld museum Eichsfeld, unmittelbar an den mit seinen naturnahen Lebensräumen, ehemaligen Grenzanlagen entlang. Felswänden und kleineren Naturschutz- gebieten u.a. durch eine Informations- Die ehemaligen Grenzanlagen der stelle in Fürstenhagen, durch Bootstou- DDR, die das Eichsfeld und Deutschland ren, dem 300 km langen Werratal-Rad- von 1952 bis 1990 – von dem Grenzüber- weg, durch den 118 km langen „Natur- gang Duderstadt-Worbis abgesehen – un- park-Wanderweg“ (Heiligenstadt-Creuz- überwindlich teilten, sind weitgehend burg), durch Naturlehrpfade und einen beseitigt. Zur Erinnerung und histori- Wanderbus. schen Dokumentation sind an einigen markanten Stellen des Grenzverlaufes Eine Besonderheit im nördlichen Eichs- museale Einrichtungen geschaffen wor- feld ist das „Naturerlebniszentrum Gut den, bei denen möglichst viele Grenzan- Herbigshagen“ bei Duderstadt, das zu- lagen authentisch erhalten, integriert gleich Verwaltungssitz der Heinz-Siel- und erläutert werden. Für den Eichs- mann-Stiftung ist. Heinz Sielmann eröff- felder Raum ist 1990/95 das ‚Grenzland- nete in dem ehemaligen Stadtgut Her- museum Eichsfeld‘ am Ort des 1973 ein- bigshagen 1996 ein Natur-Erlebniszen- gerichteten Grenzüberganges bei Duder- trum, in dem besonders Kinder und Ju- stadt durch Initiativen der zuständigen gendliche in Kursen und Wanderungen kommunalen Verwaltungen und des Mu- an einen „Naturschutz als positive Le- seumsverbandes Südniedersachsen be- bensphilosophie“ herangeführt werden. gründet worden, das seit 1996 unter der Zu den Einrichtungen gehören eine prä- Trägerschaft des ‚Grenzlandmuseums sentierte naturnahe Tierhaltung, ein Bau- Eichsfeld e.V.‘ steht. erngarten, ein Naturlehrpfad, ein Wild- tiergehege und vor allem ein durch mo- Zu den originalen Außenanlagen dern gestaltete Informationspavillons er- (Grenzsperranlagen) gehören der ‚Müh- schlossener Biotopverbund im Zuge ei- lenturm‘ mit Überwachungskanzel des nes acht Kilometer langen Weges zwi- Grenzüberganges, das ehemalige Zollab- schen Herbigshagen und dem Grenzland- fertigungsgebäude (mit einer Ausstellung

Natur-Erlebniszentrum Gut Herbigshagen/Duderstadt Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes 23

Übersichtsplan des Grenzlandmuseums zur Geschichte der Sperranlagen), der ‚Pferdebergturm‘, die ehemalige Grenz- Grenzrundweg mit Beobachtungsbunker, information von der westlichen Seite her, Hundelaufanlage, Kolonnenweg, Kfz.- mit einem weiten Überblick. Sperrgraben und Signalzaun sowie der 24 Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes

Im Rahmen der EXPO 2000 ist das Region“ ein Zusammenschluss von mehr Grenzlandmuseum als eines der vielen als 20 Betrieben, die unter dieser Vorga- dezentralen Projekte unter dem Titel be und diesem Signet produzieren und ‚Das Eichsfeld – die grenzenlose Region: anbieten. Eine ähnliche Initiative hat sich Überwindung der deutschen Teilung für unter der Bezeichnung „Eichsfeld Pur“ Mensch und Natur‘ im Verbund mit der gebildet, eine Produktions- und Verwer- ‚Bildungsstätte am Grenzlandmuseum‘, tungskette von Landwirten, Schäfern und der Ausstellung des Naturschutzbundes Gastwirten. Regionalinitiativen dieser Art ‚Grenze – Land – Natur‘ und der ‚Mo- sind als Vorbilder in vielen anderen Regi- dellregion Eichsfeld‘ als Dokumentations- onen in Deutschland entwickelt worden, und Gedenkstätte zur einstigen Teilung ganz besonders im Rahmen von Biosphä- Deutschlands und der historischen Ein- renreservaten (z.B. Biosphären- reservat heit des Eichsfeldes präsentiert worden. Rhön). Im Eichsfeld kann hier jedoch auf In der angegliederten ‚Bildungsstätte für ein Regionalbewusstsein gebaut werden, politische Bildung‘ werden in Seminaren das einen nachhaltigen Erfolg verspricht. Kenntnisse zur jüngeren deutschen Ge- schichte vermittelt, in Zusammenarbeit mit verschiedenen Institutionen der poli- Der Siedlungsraum, die tischen Bildung. Wirkungsvoll und ein- Besiedlung und die Siedlungen prägsam ist dabei der authentische Ort der einstigen Grenzerfahrung während Die Siedlungsgunst der größeren Be- der DDR-Zeit für die Menschen diesseits cken und breiteren Talzonen auf der und jenseits des trennenden Grenz- Grundlage einer bäuerlichen Gesellschaft zaunes. war schon in neolithischer Zeit (4000 bis 2000 v.Chr.) ein leitender Standortfaktor Weitere Informationen: der Landnahme und Rodung des mit ei- Grenzlandmuseum Eichsfeld, Duderstäd- nem Eichen-Buchenwald bestandenen ter Str. 5, 37339 und http:// Raumes, was in bandkeramischen Sied- www.grenzlandmuseum.de) lungsfunden besonders im Umfeld von Duderstadt nachweisbar ist. Von Einzel- Für das Untereichsfeld bedeutsam ist gehöften oder kleinen Weilern aus wur- auch das Naturschutz- und Erholungsge- den in Rodungsinseln frühe Weizenarten biet mit dem Freizeitgelände Seeburger (Emmer und Einkorn), Gerste sowie Erb- See, dem Erholungsort Seeburg und ei- sen, Linsen und Lein angebaut, bereits nem Rundwanderweg um den See mit sie- gehaltene Haustiere (Rind, Schwein, ben Informationsstationen. Schaf und Ziege) brachte man im Umland zur Waldweide, so dass in dieser Zeit ein Allgemeinen gegenwärtigen regio- bereits merklicher Eingriff in den Natur- nalpolitischen Zielsetzungen und Initiati- haushalt in Pollenspektren wie auch in ven folgend, sind auch im Eichsfeld im einer einsetzenden Bodenerosion deut- Rahmen der Regionalinitiative des „Na- lich wird. Die Besiedlung und Nutzung turschutzbundes Deutschland“ (NABU) des Raumes in vormittelalterlicher Zeit und des „Deutschen Verbandes für Land- zeigt allerdings keine Kontinuität oder schaftspflege“ (DLF) sowie umweltscho- stetige Entwicklung, sondern weist, be- nende Entwicklungen des Tourismus im sonders in der Bronzezeit und der Eisen- Eichsfeld unter dem Motto „Aus der Re- zeit (500 bis Christi Geburt) Phasen einer gion – für die Region“ eigenständige Ak- vermehrten Siedlungstätigkeit in kleinen tivitäten entstanden, mit dem Ziel, ein re- Gehöftgruppen auf, die von deutlichen gionales, naturnahes Wirtschaften mit Regressionen und damit auch entspre- Ansprüchen eines Umwelt- und Natur- chenden Ruhephasen im flächenhaften schutzes zu verbinden. Unter regional- Prozess eines Bodenabtrages in den offe- wirtschaftlichen Gesichtspunkten geht es nen Nutzflächen unterbrochen werden um die Vermarktung regionaler Produk- (Römische Kaiserzeit, Völkerwanderungs- te, bei einer umweltverträglichen, art- zeit, 350 bis 500 n.Chr.). gerechten agraren Produktion im Ver- bund mit dem Anbieter. So ist der Ver- Der siedlungsgünstige Raum hat im- band „Eichsfeld – aus der Region – für die mer wieder Bevölkerungsgruppen von Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes 25 verschiedenen Seiten her angezogen, alter in das System der zahlreichen klei- was zu Verdrängungen oder Überfor- nen Adelssitze übergingen. mungen führte. In der La-Tène-Zeit (200 bis Christi Geburt) werden Beziehungen Deutlich werden die sich ablösenden zum keltisch geprägten mitteldeutschen Einflüsse von verschiedenen Stammesge- (thüringischen) Raum deutlich, um Christi bieten aus in den Eichsfelder Raum hi- Geburt drängen von Norden her die ger- nein mit unterschiedlichen Systemen ei- manischen Cherusker in den Raum ein, in ner Siedlungsstruktur und Raumorgani- der jüngeren römischen Kaiserzeit sowie sation, die letztlich im frühen und hohen im frühen Mittelalter sind wieder Verbin- Mittelalter in eine sich stabilisierende dungen zum thüringischen Stammesge- und in den Grundstrukturen persistente biet erkennbar. Im frühen Mittelalter (um Siedlungslandschaft einmündeten. 800) wird das kurzfristig von Norden und Westen in den Raum expandierende Zum Eichsfeld lassen sich insgesamt sächsische Stammesgebiet dann von Süd- 146 Siedlungen rechnen, darunter 139 westen her in das fränkisch-karolingische Dörfer, drei Flecken und vier Städte. Da- Reich integriert, im Zuge einer christli- bei gehören zum niedersächsischen Un- chen Missionierung, die weiter im Osten tereichsfeld, dem ehemaligen Landkreis mit der Eroberung des Thüringer Reiches Duderstadt bzw. dem heutigen Landkreis durch die Franken (531) schon früher ein- Göttingen 26 Dörfer, die Flecken Giebol- gesetzt hatte. Auf die fränkische Erschlie- dehausen und Lindau (Kreis ) ßung, Missionierung und Raumorganisa- sowie das Mittelzentrum Duderstadt. tion vom thüringischen Kernraum aus Zum thüringischen Obereichsfeld gehö- geht der innere Landesausbau im alten ren insgesamt 116 Orte in den Landkrei- Siedlungsbestand wie auch die früh- und sen Heiligenstadt (59), Worbis (45), beide hochmittelalterliche Expansion des Sied- 1995 zusammengeführt im „Eichsfeld- lungsraumes (Rodung, neue Siedlungen) kreis“ und Mühlhausen (12). Zwei Orte im Eichsfeld zurück, mit der Einrichtung (Werleshausen und Neuseesen) waren im von Verwaltungsgebieten (Gaue, Graf- Grenzaustausch nach dem Kriege nach schaften), der Organisation grundherr- Hessen gekommen, heute gehören sie schaftlicher Strukturen (Villikationssys- wieder zum Landkreis Heiligenstadt in tem einer Fronhofwirtschaft abhängiger Thüringen. In dieser statistischen Über- und abgabenpflichtiger Bauern), einer sicht wird deutlich, dass das Obereichs- Hufenverfassung wie auch einer Namen- feld, jedenfalls in der heutigen Auftei- gebung für die Siedlungen. lung des Eichsfeldes, den weitaus größ- ten Anteil ausmacht. Sind seit dem hohen und späten Mit- telalter die Städte Duderstadt und Hei- Das Eichsfeld, vor allem der nördliche ligenstadt die führenden Zentren wirt- Teil mit der Goldenen Aue, ist ein Alt- schaftlicher und zentralörtlicher Macht siedelland, das heißt, dass die günstigen im Eichsfelder Raum, so hat es in der Zeit Siedlungsstandorte in den lössbedeckten davor zentrale Orte verschiedenster Art Becken und Talungen schon in prähistori- gegeben: Befestigte Großsiedlungen (Erd- schen Zeiten besiedelt gewesen sind. Der werk bei ) und zentrale Opfer- heutige Siedlungsbestand geht weitge- plätze (Rhumequelle) in der Jungstein- hend in das frühe und hohe Mittelalter zeit, stadtartige befestigte Höhensied- zurück, wobei die Siedlungsstandorte bei lungen (Pipinsburg bei ) in der manchen Konzentrationsvorgängen, ge- keltisch geprägten La-Tène-Zeit, strategi- ringen Verschiebungen und einzelnen sche Stützpunkte der fränkischen Raum- Ortsverlegungen konstant geblieben sind. organisation im frühen Mittelalter (Ha- Der Vorgang der Besiedlung, der mit den senburg bei Großbodungen) mit kleinen Erstnennungen, die allgemein weit spä- befestigten Sitzen des Adels (Bernshau- ter liegen als die Ansiedlung selbst, be- sen), sowie frühmittelalterlichen Gauzen- sonders für die frühe Zeit kaum greifbar tren mit zentralen, sächsisch geführten wird, spiegelt sich in etwa in den Grund- Verwaltungsorten (Katlenburg) und un- worten der Ortsnamen (Toponyme) wie- tergeordneten Haupthöfen (z.B. Berns- der, die als „Geschichtsquelle“ herange- hausen), die im hohen und späten Mittel- zogen werden. In die Gruppe der früh- 26 Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes

Die mittelalterlichen Fernverkehrswege im Raum Göttingen mit den verkehrsorientier- ten Anlagen und Siedlungen (auch Wüstungen: Kreissignatur) Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes 27 mittelalterlichen Siedlungsnamen gehören ihrer territorialen Ansprüche. Dies wird die im nördlichen Teil des Untereichsfeldes besonders deutlich in den Bemühungen zahlreichen Ortsnamen auf –hausen. Süd- um eine Wiederbesiedlung zerstörter lich des Seeburger Sees tritt als jüngere oder wüstgefallener Siedlungen in Ortsnameschicht häufig die Endung –inge- Grenzbereichen, wie sich dies am Beispiel rode und –rode auf. Weiter nach Süden in der Siedlungen in der unmittelbaren das Obereichsfeld hinein und in die Täler Nachbarschaft zum Eichsfeld deutlich zei- und Hangbereiche vorgeschoben häufen gen lässt. sich die hoch- bis spätmittelalterlichen Namen auf –hagen, -bach oder –bich, ne- Strittig waren sehr oft und in vielen ben den auch hier dominierenden Na- Fällen auch auf längere Zeit die Besitz- men auf –rode. Der Aufsiedlungsprozess und Nutzungsrechte sowie die Grenzen ist damit von den tieferliegenden weiten in den siedlungsfernen Waldgebieten. Becken und Tälern ausgegangen und ist Mit großer Wahrscheinlichkeit hängt dann weiter talaufwärts mit der Rodung auch die Ansetzung von Glasmachern im fortgeschritten, nach Süden in die bergi- späten Mittelalter und der frühen Neu- ge Landschaft hinein. zeit in dem keineswegs sehr waldreichen Gebiet des Eichsfeldes mit dem Ziel einer Siedlungsstandorte und Siedlungsna- Beanspruchung und Sicherung einer Nut- men gehören somit zu den weit zurück- zung grenznaher strittiger Waldareale zu- reichenden Zeugen der Gestaltung der sammen, die mit ihren wenn auch nur heutigen Siedlungslandschaft, nicht je- temporären Wanderglashütten zeitweilig doch das Verbreitungsbild der Siedlun- Standorte im Vertrag mit den Grundher- gen, das im Mittelalter weit dichter ge- ren besetzten und zugleich auch die vor- wesen ist. Etwa 50% des mittelalterlichen handenen Holzressourcen nutzten und Siedlungsbestandes im Eichsfeld ist, bei damit zu Einkünften verhalfen. regionalen Differenzierungen, im späten 14. und im 15. Jahrhundert wüstgefallen. Die Grundherren, zumeist kleine Die Bevölkerung ist im Zuge eines Kon- Adelsfamilien, hatten ihren Sitz (befestig- zentrationsprozesses und Sicherheitsbe- tes Haus, kleiner Burgsitz) in einem der dürfnisses in benachbarte und damit ge- ihnen zugehörigen Dörfer, nach denen wachsene Dörfer sowie in die heran- sie ihr Geschlecht auch benannten. Aus wachsenden Städte gezogen, Bevölke- der Geschichte der Dörfer ist eine solche rungsverluste, Zerstörungen bei Fehden Tatsache auch heute allgemein bekannt. sowie bei den jüngeren Rodesiedlungen Im Untereichsfeld waren es die Adelsge- auch Ungunst des Siedlungsstandortes schlechter von Bernshausen, von Gie- kommen als Ursachen hinzu. Die gerade boldehausen, von Hagen, von Weste- im Eichsfeld, aber auch in umliegenden rode, von Hilkerode, von Seulingen, von Gebieten ausgeprägte spätmittelalterli- Wrochthausen, von Rode wie auch von che Wüstungsperiode hat die einstige Minningerode. Enge besitzrechtliche Be- Siedlungsdichte deutlich reduziert, die ziehungen bestanden auch vom Ober- übriggebliebenen heutigen Siedlungen eichsfeld her von den Familien von Bo- wie auch deren Gemarkungen und Nutz- denhausen, von Bülzingsleben, von Han- flächen sind auf Kosten der Wüstungen stein, von Gleichenstein und von Wint- gewachsen, periphere Siedlungsstand- zingerode. Diese Familien stellten oft orte wurden wieder dem Wald überlas- auch Amtsleute des Erzbischofs von sen. Keine der späteren Siedlungsvor- Mainz, besonders aber auch Ratsmitglie- gänge hat sich so gravierend ausgewirkt der in den Städten Duderstadt oder wie die spätmittelalterliche Wüstungs- Heiligenstadt. Einige Gutsbetriebe, die im periode. kleinbäuerlichen Untereichsfeld im Ver- gleich zum Obereichsfeld und zum - Hinter den Siedlungsvorgängen stan- tal allerdings nur eine untergeordnete den im hohen Mittelalter die Territorial- Rolle spielen, gehen auf einstige Adels- herren und im späten Mittelalter zuneh- besitzungen zurück (z.B. ehemaliges Rit- mend die zahlreichen Grundherren, mit tergut Lindau, Freiherrlich von Minnin- ihren Interessen an einer Besiedlung, gerodisches Rittergut in Gieboldehausen Nutzung und Inwertsetzung, aber auch als größtes, sowie Rittergüter der Grafen einer politisch-strategischen Behauptung von Wintzingerode zu Bodenstein in Es- 28 Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes

Das Duderstädter Landgebiet im Untereichsfeld

plingerode und Immingerode). Von den dienste), so dass ein eigenes „Landge- mittelalterlichen Herrensitzen in den biet“ um Duderstadt gegeben war, des- Dörfern ist kaum etwas erhalten, ein an- sen grundherrliche Rechte die Stadt bis in schauliches Beispiel ist der ehemalige das 19. Jahrhundert hinein genoss und Burgmannensitz der Herren von Min- mit denen andererseits die Dörfer bis in ningerode (seit 1502) in Gieboldehausen. diese Zeit belastet waren. Zu den territo- rialen Abgrenzungen kamen damit in der Mit dem Wachstum der wirtschaftli- inneren Gliederung der Territorien weite- chen Macht der Städte betreiben diese, re grundherrliche Beziehungen und wirt- zum Teil in Konkurrenz mit dem Adel, schaftliche Abhängigkeiten, die freie auch eine eigene raumgreifende Politik, wirtschaftliche Entwicklungen hemmen wofür Duderstadt als überragendes städ- mussten. tisches Zentrum des Untereichsfeldes ein gutes Beispiel ist. Seit dem 14. Jahrhun- Eine besondere Form der Tradierung dert bis in das 16. Jahrhundert hinein ge- siedlungsräumlicher Beziehungen und lingt es dem Rat der Stadt Rechte an 16 Nutzungsgefüge waren die Berechti- umliegenden Dörfern (elf „Ratsdörfer“ gungsgemeinschaften der sogenannten und fünf ein eigenes Kirchspiel bildende „Erbschaften“. Dies waren – zurückrei- „Kespeldörfer“) zu gewinnen (Steuerein- chend bis in das 13./14. Jahrhundert – Zu- künfte, Knickgeld, Hand- und Spann- sammenschlüsse der Erben von Nutzungs- Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes 29 berechtigungen an einem Flur- oder Gehöfte nur noch im Siedlungskern frühe Waldareal, meist eines wüst gefallenen Strukturelemente erhalten sind. Die vor- Dorfes, deren Zweck eine gemeinsame nehmlich frühmittelalterliche Besiedlung Regelung der Nutzung und Verwaltung hat keine Planformen entstehen lassen, der ererbten Wirtschaftsflächen war, wo- die vorherrschende primäre und dann für auch eigens Vögte (Verwaltungs- weiterentwickelte Siedlungsform des beauftragte) gewählt wurden. Eichsfeldes ist das Haufendorf. Das Zen- trum ist sehr häufig ein kleiner zentraler Mit den Erbschaften werden in fast Platz, der im Untereichsfeld als „Tie“, im allen Fällen Nutzungsrechte an wüstge- Obereichsfeld als „Anger“ bezeichnet fallenen Gemarkungen vom späten Mit- wird. Ursprünglich ein zentraler ummau- telalter bis in das 19. Jahrhundert hinein erter Versammlungsplatz mit einem stei- tradiert, allerdings bei einem vielfachen nernen Tietisch für dörfliche Gerichtsver- Wechsel der streng reglementierten Mit- handlungen und einem Lindenbestand, glieder, ein Beispiel für die beharrliche ist dieser öffentliche Bereich später auch Konstanz landschaftsbezogener Rechts- als Standort zentraler Einrichtungen ge- verhältnisse. nutzt worden (Schule, Pfarrhaus, Sprit- Einem zunehmenden Wandel unter- zenhaus u.a.). Der Anger ist als Dorfkern worfen waren die Grundrisse der Sied- im Zuge einer Dorferhaltung und Dorfer- lungen (Ortsformen), so dass im heutigen neuerung ein in bevorzugter Weise zu Siedlungsbild und der Anordnung der gestaltender und zu pflegender Bereich,

Typisches Bild eines Tie oder Anger als dörflicher Mittelpunkt in 30 Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes wenn auch seine zentrale Funktion im gramms in vielen Orten (z.B. Seeburg) täglichen Leben der Dorfgemeinschaft noch wesentlich gefördert worden sind. weitgehend verlorengegangen ist. Die alten Wirtschaftsgärten, die einst ei- ne wesentliche Rolle in der Selbstversor- Die alten Ortskerne sind durch Aus- gung spielten, sind weitgehend zu Zier- siedlung, Verkehrsausbau und Abriss von gärten geworden, Baumgärten und Streu- Nebengebäuden aufgelockert worden, obstwiesen an den Ortsrändern werden vor allem aber ist der Altbaubestand der kaum noch genutzt. Im Zuge der Flurbe- Gehöfte durch die Aufgabe der klein- reinigungen sind in einiger Ortsentfer- bäuerlichen Betriebe vielgestaltig um- nung in manchen Gemarkungen (beson- und ausgebaut worden, zu einem großen ders Gieboldehausen, Seeburg u. a.) in Teil in Eigenarbeit, unter Einsatz von Ka- den 1960/70er Jahren Aussiedlerhöfe an- pital, das in außerlandwirtschaftlichen gelegt worden, die heute, wie auch die Berufstätigkeiten außerhalb des eigenen wenigen noch wirtschaftenden Agrar- Wohnortes verdient worden ist. Die Er- betriebe in den Orten selbst, meist mit ei- weiterung der Wohnbereiche, Garagen- nem hohen Anteil an Pachtland wie auch bauten sowie Umnutzungen von Stall- durch Spezialisierungen überleben konn- und Scheunengebäuden sind die wesent- ten. In fast allen Dörfern, bevorzugt in lichen Maßnahmen dieses Transforma- den stadtnahen und verkehrszentralen tionsprozesses der alten Dorfkerne, die Orten (z.B. Lindau, Tiftlingerode, Rüders- im Rahmen des Dorferneuerungspro- hausen, Nesselröden, Seulingen) wie

Erosionsgraben in einer erodierten Wölbackerstreifenflur, Gem. Lütgenhausen; zeit- genössische Darstellung von 1768 Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes 31

Erosionsgräben und Ackerterrassen nördlich Duderstadt 32 Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes auch in Orten mit Gewerbebetrieben (z. B. und Besitzstruktur in Form ehemaliger , Westerode, Gieboldehau- Ackerterrassen erkennbar. Im Laufe ihrer sen) sind seit den 1960er Jahren Einfami- Nutzung seit dem Mittelalter haben Ero- lienhaussiedlungen angegliedert worden, sionsvorgänge diese Wölbacker- und Ter- vornehmlich Ansiedlungen der jüngeren rassenfluren durch Rinnen und tiefe Gra- Generation, die im Gewerbe oder in benrisse in den reliefierten Bereichen zu Dienstleistungsberufen im Ort arbeiten großen Teilen zerstört. oder als Pendler, zumeist in die Städte Du- derstadt, Northeim wie besonders auch Göttingen, täglich zur Arbeit fahren. Zentralörtliches Gefüge: Die Die Nutzflächen werden heute von Stadt Duderstadt nur noch wenigen aufgestockten Betrie- ben bewirtschaftet, in der Verteilung von Die Stadt Duderstadt ist seit dem Mit- Grünland und Ackerland hat sich, an die telalter das Zentrum der Goldenen Mark ökologischen Verhältnisse angepasst, we- und des Untereichsfelder Raumes, in ih- nig verändert. Die gegenwärtigen Nutz- ren Blütezeiten, ihrer stagnierenden Ent- flächen sind durch die Verkopplung in wicklung und ihren vielfachen Anstren- der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gungen Schritt zu halten im Städtenetz durch die Flurbereinigungen der Nach- des Umfeldes spiegeln sich die zuneh- kriegszeit und durch folgende Pacht- mend von einer peripheren Lage be- verhältnisse zu größeren Block- und stimmten Entwicklungsphasen des agra- Streifeneinheiten zusammengewachsen. risch geprägten Grenzraumes Eichsfeld In manchen Taleinschnitten mit steileren recht deutlich wieder. Territorialpolitische Hängen, so z.B. im Raum nördlich Duder- und städtische Macht nutzten die Lage- stadt, ist die einstige äußerst schmalstrei- gunst des Standortes und Durchgangs- fige und kleinteilige Parzellen- , Betriebs- gebietes sowie das wirtschaftliche Poten-

Plan der Altstadt von Duderstadt, 1975; Grundkarte 1:5000, verkleinert Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes 33 tial des agraren Gunstraumes. Territorial- leistet, zugleich aber auch die Möglich- politisch immer wieder in der Peripherie, keit einer Sicherung des Platzes, beson- in der Wirtschafts- und Sozialstruktur ders durch das Sumpfgebiet des „Wes- kleinteilig und rückständig reichte die terborn“ gegeben war. Die erste Ansied- Wirtschaft des Umlandes seit der Neuzeit lung geht auf fränkisches Reichsgut und für ein modernes städtisches Wachstum einen Wirtschaftshof König Heinrichs I. nicht aus, der Einzugsbereich verlor in zurück, der noch im 15. Jahrhundert als der Konkurrenz der expandierenden „Herzogshof“ fortlebte, obgleich schon Leinetalstädte, eine Folge von Rückschlä- 974 die Stadt aus der Hand des Reiches gen in der zentralörtlichen Funktion lie- durch eine Schenkung Kaiser Ottos II. an ßen die Stadt trotz mancher gezielter das Servatiuskloster in Quedlinburg wei- Entwicklungsmaßnahmen immer wieder tergegeben wurde. Das Areal der Pfalz- ins Hintertreffen geraten. anlage und der zugehörigen Kapelle bil- Im Grundriss der Stadt sind noch heu- det den Westteil der inneren Altstadt, te wesentliche Elemente des Siedlungs- um die spätere Kirche St. Servatius her- vorganges der Stadt erkennbar. Der um. Unter grundherrlichem Schutz bilde- Standort der Ansiedlung war im Mün- te sich im östlichen Teil der späteren in- dungsbereich mehrerer kleiner Bäche in neren Altstadt eine Marktsiedlung im Be- die Hahle, die letztlich der Rhume und reich des im frühen 13. Jahrhundert er- Leine zufließt, gewählt, womit die Was- richteten Rathauses und der Oberkirche serversorgung und –entsorgung gewähr- St. Cyriakus heraus.

Grundriss von Duderstadt, 1801. Plan von J.G. Lingemann; mit eingetragenen Brunnen 34 Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes

Die Verbindung beider Siedlungsteile ge sind in ihren Auswirkungen noch stellte seit dem späten Mittelalter die greifbar. Das im 14. Jahrhundert mit der breite Achse eines Straßenmarktes dar, in weit vorgeschobenen Wallbefestigung der Zeit einer ersten inneren Mauerbe- prospektierte Wachstum der Stadt wie festigung (erstmals genannt 1397) und auch die Entwicklung der vorgesehenen einer Etablierung des zentralen Ortes als Neustadt trafen nicht ein, da schon im privilegierte Stadt, ausgestattet mit ver- 15. Jahrhundert die Bevölkerung von schiedenen städtischen Rechten, durch rund 4000 auf 3100 sank, bis heute wie die mittelalterlichen Stadtherren, die kaum in einer anderen deutschen Stadt Herzöge von Braunschweig (1314: Stadt- ein weites, weitgehend noch offenes gericht, Zollrecht, Geleitsrecht), unter de- Gartenland innerhalb der Wallbefesti- ren Herrschaft (1247 bis zur nie wieder gung hinterlassend. Mehrere große Brän- eingelösten Verpfändung an das Erzbis- de zerstörten immer wieder einzelne Tei- tum Mainz 1334) die Ansiedlung vom le der Stadt, so schon 1424, wobei mit zentralen Ort zur Stadt heranwuchs, 340 Häusern der gesamte nördliche Teil wozu bereits der Grund gelegt war durch der Stadt abbrannte, allein in den Jahren die Landgrafen von Thüringen, die 1239 1720 bis 31 wüteten 7 große Brände, vom Stift Quedlinburg mit der Mark 1852 brannten 108 Häuser und 162 Duderstadt belehnt worden waren. Die Scheunen im Nordosten der Stadt (Jü- nahzentrale Marktfunktion für das un- denstraße, Obertor) ab, 1911 wurde im mittelbare Umland und zugleich die fern- Westen der Bereich Sackstraße/ Spiegel- zentrale Handelsfunktion an den Han- brücke mit 44 Häusern vollständig zer- delsstraßen aus dem süddeutschen und stört und letztlich 1915 zerstörte ein dem Thüringer Raum zu den norddeut- Brand 39 Häuser mit 68 Nebengebäuden schen Handelsstädten brachten die Stadt im Bereich Untermarkt/ Haberstraße. im 15. und 16. Jahrhundert zu einer wirt- schaftlichen Blüte und regionalen Macht- Die Brände hatten allerdings nicht position. Dies wird deutlich in der Ent- nur einen zerstörerischen Effekt, sondern wicklung von drei Vorstädten, in der Pla- es wurde danach auch meist einheitlicher nung einer inneren Neustadt (1436/37: und aufwendiger wieder aufgebaut, wie „Benebenstadt“ zwischen Westertor und deutlich erkennbar in den späten Fach- Neutor), in der großräumigen Neuanlage werkkonstruktionen zwischen Unter- eines zweiten Befestigungsringes (Wall- markt/ Obermarktstraße und Hinter- befestigung), in dem Erwerb von 16 Rats- straße nach dem Brand von 1852 und ei- dörfern und damit einem eigenen städti- ner städtebaulich interessanten Neube- schen Territorium, mit dem Gewinn ent- bauung des Bereiches „Im Sacke“ durch sprechender Abgaben und einer wirt- den Berliner Regierungsbaumeister Frei- schaftlichen Bindung an die Stadt, in dem herr Wilhelm von Tettau. Wenn Duder- Erwerb von Stadtwaldungen für die stadt heute touristisch zu recht mit der Holzversorgung und Waldweide wie historisch gewachsenen und seit den 70er auch in der Anlage eines weiträumigen Jahren grundlegend sanierten Bausub- Landwehrsystems. So hatte sich innerhalb stanz als Fachwerkstadt wirbt, so ist es der territorial entfernt liegenden Enklave die Geschlossenheit des Gesamtbestandes des Erzbistums Mainz ein kleines städti- mit etwa 550 Häusern, aber gerade auch sches Machtzentrum herausgebildet, das die Vielfalt der Konstruktions- und Stil- eine eigenständige wirtschaftliche Kraft typen des mitteldeutschen Fachwerks in in der Region beanspruchen konnte. den einzelnen Entwicklungsstufen von Raumgestaltende Elemente dieser Blüte- der frühen Renaissance bis zum Ende die- zeit sind heute noch in Resten erhalten ser Bauweise um 1880/ 90, die unter an- als ein anschauliches aber auch doku- derem durch die Brände und entspre- mentierend sprechendes historisches Po- chende historische Neubauten, aber auch tential, das in der Identität des Eichs- durch die ausgebliebene moderne Über- felder Bewusstsein nicht vergessen wer- formung der Stadt im 19./20. Jahrhundert den sollte. bedingt ist. Aber auch raumwirksam gewordene Zu den stilistischen Einzelheiten gehö- Stagnation, Niedergänge und Rückschlä- ren Hausinschriften, zeitgenössische Tü- Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes 35

Stiltypen und Bauperioden der Stadt Duderstadt ren, historische Ladeneinbauten wie auch Formenschatz. Duderstadt liegt auch an letztlich die Bürgergärten im südlichen der „Deutschen Fachwerkstraße“, die aus Teil der unbebauten Flächen zwischen dem Thüringer Wald kommend mit Mauer- und Wallbefestigung. Duderstadt Mühlhausen, Worbis und Bleicherode das kann als Modellprojekt einer Stadt- Eichsfeld berührt und sich im Harz besichtigung dienen, für ein Sehen ler- (Stolberg, Quedlinburg) weiter fortsetzt, nen in einer gebauten Umwelt mit einem was zu vertiefenden und vergleichenden besonderen Reichtum an historischem Betrachtungen herausfordert.

Fachwerkbauten verschiedener Stilepochen in Duderstadt; Hinterstraße 36 Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes

Die gut erhaltene historische Bausub- raum entscheidenden Nordsüdverkehrs stanz zeigt eine stagnierende Entwick- auf die Achse des Leinetals mit Göttingen lung im 18. und 19. Jahrhundert an, man und Northeim (Ausbau der ersten Chaus- hatte sich in dieser Zeit zufriedenzuge- see im Land Hannover von Göttingen zur ben mit dem, was man hatte. Entwick- Residenzstadt 1764/68, Hauptstrecke der lungsrückstand und wirtschaftliche Not, Eisenbahn 1853, Autobahn A7, ICE-Strek- die sich auch in der Zeit davor schon hier ke) ins Abseits geraten. Die Hauptachsen und da ankündigten, werden nun beson- des Nordsüdverkehrs im Leinetal und das ders auch im Vergleich und in Konkur- Oberzentrum Göttingen liefen Duder- renz mit den Leinetalstädten besonders stadt Schritt für Schritt besonders seit deutlich. Vor allem in der Zeit zwischen dem Ende des 18. Jahrhunderts den Rang 1840 und 1860 zeigt sich eine verstärkte ab, an dem Duderstadt und das Eichsfeld Abwanderung, und auch ein beschleu- jedoch auch durch die Verbindungen nigtes Wachstum durch Geburtenüber- nach Göttingen teilzuhaben versuchte schuss wirkt sich zwischen 1820 und 1920 (Pendler, Eisenbahn- und Autobahnan- nur in einer Bevölkerungszunahme von schluss, Infrastruktur). 50% aus, während sich die Bevölkerung in den Leinetalstädten Northeim und Ein Eisenbahnverkehr spielt im Eichs- Einbeck in der gleichen Zeit verdoppelte. feld heute keine bedeutende Rolle mehr, Ist für Northeim für die Zeit von 1850 bis obgleich im 19. Jahrhundert verschiede- 1910 eine Zunahme im Gebäudebestand ne Anstrengungen gemacht wurden, den von 68% und für Einbeck immerhin noch Raum durch Eisenbahnanschlüsse wirt- von 28% zu verzeichnen, so liegt diese schaftlich zu entwickeln bzw. die Verbin- Ziffer bei Duderstadt nur bei 12%. dungen zu den wachsenden Wirtschafts- zentren zu ermöglichen.

Die Lage an einer geschlossenen Grenze änderte sich – vornehmlich für Der Verkehrsraum – Duderstadt - mit der Öffnung des neuen im zunehmenden Abseits Grenzüberganges Duderstadt-Worbis am 21.06.1973, als Kfz- und Pendelbusüber- Das Eichsfeld, einerseits ein politisch- gang für den großen Reiseverkehr in die kultureller Grenzraum, ist andererseits DDR wie auch den „kleinen Reisever- naturräumlich aber auch ein durch Ver- kehr“ für Tagesaufenthalte von Bewoh- kehrspässe zugängliches Durchgangsge- nern grenznaher Kreise der Bundesrepu- biet, was vornehmlich bis in das Mittelal- blik. Damit war eine Tür geöffnet in die ter hinein wirksam gewesen ist. Auf die für 20 Jahre verschlossene Nachbarschaft zentral im Siedlungsraum der Goldenen des Eichsfeldes, die getrennte Familien Mark gelegene, 1247 mit Stadtrecht ver- zusammenführte, aber auch einen Ein- sehene Stadt Duderstadt gerichtet, bilde- blick vermitteln konnte in die Lebensum- te sich im Mittelalter eine Verkehrsspinne stände im anderen Teile Deutschlands. von Fern- und Regionalstraßen heraus, in Hoffnung wurde mit diesem Anziehungs- der die Verbindungen nach Thüringen punkt von Verkehr aber auch gesetzt auf und Sachsen (Nordhausen: Thüringer/ wirtschaftliche Impulse für die Stadt Nordhäuser Heerstraße), nach Nord- Duderstadt, besonders für den Einzelhan- deutschland (Braunschweig-Lübeck: del, Tankstellen, Kfz-Werkstätten sowie Braunschweiger Heerstraße) wie auch das Gaststätten- und Beherbergungs- die Verbindung nach Süddeutschland gewerbe. (Mühlhausen und Erfurt: Nürnberger Heerstraße) im großräumigen Verkehrs- Die Anbindung an den Fernverkehr pass zwischen Harz und Solling die größ- der Nord-Süd-Achse der Autobahn (A7) te Bedeutung hatten, als Mainzer Geleit- durch die B247 und B446 war keineswegs straßen mit einer reichen verkehrs- optimal, am Grenzverkehr waren aber orientierten Ausstattung (Warten, Rast- doch nicht nur das südliche Niedersach- häuser, Siechenhäuser u.a.) versehen. Seit sen und nördliche Hessen vornehmlich der frühen Neuzeit ist Duderstadt jedoch beteiligt, sondern auch deutlich hervor- mit der Verlagerung des für den Grenz- tretend Nordrhein-Westfalen. Im kleinen Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes 37

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Die Entwicklung des Eisenbahnnetzes im Eichsfeld

Grenzverkehr waren es an erster Stelle sich, bei manchen Schwankungen, be- die nächsten Nachbarn, der Landkreis dingt durch Veränderungen der Geldum- Göttingen (30-60%), gefolgt von Reisen- tauschquote, der Information und einer den der Landkreise Osterode, Northeim Erkundungssättigung ein Mittelmaß ein- und Goslar. Schon im ersten halben Jahr gependelt hatte. (1973) passierten über 72000 Reisende aus dem Westen die Grenze bei Duder- Ein erhoffter wirtschaftlicher Auf- stadt, im zweiten Jahr waren es gut schwung stellte sich kaum ein, der Grenz- 121000 und 1976 mehr als 219000, womit verkehr passierte die Stadt, um aus der 38 Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes näheren Umgebung kommend, für den bewusstseins sowie in Erforschung und Tagesbesuch wie auch aus der weiteren Studium der Geschichte des Eichsfeldes, Ferne kommend, das Ziel im Osten mög- um damit für die Gegenwart und Zu- lichst ohne Aufenthalt zu erreichen. Al- kunft zu lernen. lerdings wurden Duderstadt und das Eichsfeld durch den Grenzübergang weit Einen stetig wachsenden und bleiben- über die Grenzen hinaus bekannt und den Niederschlag findet die vielseitige manche ehemaligen Eichsfelder, die es in Regionalforschung und Vereinstätigkeit den westlichen deutschen Raum verschla- in ihrem regionalen wie auch breiten ört- gen hatte, kamen im Zuge ihrer alten lichen Spektrum in der seit 1992 neu her- ausgegebenen Zeitschrift „Unser Eichs- Bindungen in nun schon unbekannt ge- wordene Gefilde zurück. Wenn eine feld“, die die durch die Trennung der Fremdenverkehrsentwicklung auf der Nachkriegszeit enstandenen Vierteljahrs- Grundlage eines durchgehenden Grenz- schriften des gleichnamigen Heimat- verkehrs auch nicht zu erreichen war, so vereins „Die Goldenen Mark“ (1950 bis setzte man, die Struktur des Raumes rich- 1991) für das Untereichsfeld im Westen und die „Eichsfelder Heimathefte“ (1916 tig einschätzend, doch zu Recht weiter- hin gezielt auf einen Ausbau der Infra- ff, 1961 vom Kulturbund der DDR weiter- struktur, der Einrichtungen und Angebo- geführt bis 1999) ablöst. Daneben beste- te für einen spezifischen Tagungs- und hen als Mitteilungsblatt die „Eichsfelder Besucherverkehr, mit dem sich das Eichs- Heimatstimmen“, die Monatszeitschrift feld zunehmend einen auch wirtschaft- „Eichsfeld“, die „Zeitschrift für Heimat- arbeit im Kreis Duderstadt“ (1950ff) und lich nicht unbedeutenden Namen macht. das 1993 vom „Heimatverein Goldene Mark“ (Untereichsfeld) sowie vom „Ver- ein für eichsfeldische Heimatkunde“ Soziale und kulturelle Bindungen (Obereichsfeld) herausgegebene „Eichs- feld – Jahrbuch“. Die besonderen regionalen Bindun- Wirksam wird die regionale Verbun- gen und Beziehungen der Eichsfelder Be- denheit der Eichsfelder Bevölkerung be- völkerung werden deutlich in einem re- sonders auch in dem schon lange dauer- gen heimat- und regionsbezogenen Ver- haften Bestand der Tageszeitung „Eichs- einsleben und Publikationswesen sowie felder Tageblatt“, die den regional- einer Verbandsorganisation. Nach der politischen Informationskreis und kultu- Wiedervereinigung wurde 1991 der „Ver- rellen Horizont prägt und festigt. ein für eichsfeldische Heimatkunde“ als Dachorganisation regionaler Forschungs- Die regionalbewusste raumwirksame und Vermittlungsarbeit für das gesamte Mitgestaltung aus der Bevölkerung her- Eichsfeld neu begründet. Erstmals ins Le- aus auf einer planungspolitischen und ben gerufen wurde der Verein unter glei- praxisbezogenen Ebene hat in diesen tra- chem Namen im Zuge der damaligen ditionell geprägten Bindungen ihre trag- heimatkundlichen Bewegung im Jahre fähige Basis. Dies wird deutlich im 1906, zunächst getrennt für das Ober- regionalplanerischen Bereich, im Rahmen eichsfeld und das Untereichsfeld, bis der Stadtsanierung und Dorferneuerung, schon 1916 ein Zusammenschluss erfolg- in Naturschutz und der Landschafts- te. Die Belastungen durch den Krieg lie- pflege. Auch hier führen Kooperationen, ßen die Vereinstätigkeiten 1942/45 zum Zusammenschlüsse und Verbände zu ei- Erliegen kommen. ner effektiven und wirksamen Arbeit, un- ter anderem getragen von dem „Land- Grundlage der Vereinsarbeit sind ein schafts-, Heimat- und Verkehrsverband bemerkenswert aktives heimatkundliches Eichsfeld e.V.“, mit seinem seit 1973 er- Interesse in der Bevölkerung, eine ausge- scheinenden, nunmehr auch im Ober- prägte Heimatverbundenheit und eine eichsfeld weit verbreiteten Publikations- besondere Lebendigkeit von Traditionen. organ der „Eichsfelder Heimatstimmen“. Ziele der Tätigkeit liegen in der Förde- rung einer Heimatliebe, der Weckung ei- Den Heimatvereinen, sowie regional- nes regionalen Traditions- und Kultur- geschichtlichen Bezügen, Arbeiten und Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes 39

Veröffentlichungen wird bei der Förde- besitzrechtlichen Grenzen, die einer agrar- rung eines gemeinsamen Regionalbe- wirtschaftlichen Expansion gesetzt wa- wusstseins über die Nachwirkungen der ren, Zeiten einer Bevölkerungszunahme einstigen geschlossenen Grenze und der durch Geburtenüberschuss, das Fehlen heutigen Landesgrenze hinweg eine wir- von Rohstoffen, Bodenschätzen und na- kungsvolle Bedeutung beigemessen. Tref- türlicher Energie und damit zusammen- fend äußerte sich hierzu im Zuge der hängender Industrien, die notwendige Wiedergründung des „Vereins für Eichs- Symbiose von Gewerbe und Handwerk feldische Heimatkunde“ im Jahre 1991 mit einer zugehörigen Ackernahrung, der ehemalige Landrat des Kreises Heili- der Niedergang der häuslichen Gewerbe, genstadt: „Es scheint, als suchten sich die vor allem des führenden Textilgewerbes, Eichsfelder nach 40jähriger Trennung mit dem Aufkommen der industriellen ihre Gemeinsamkeiten in der Gegenwart Produktion – all diese Faktoren ließen über jene der Vergangenheit zu erarbei- den Raum zunehmend mit dem Ende des ten. Wohl blieb der Glaube und die heiße 18. Jahrhunderts für eine wirtschaftliche Sehnsucht nach der Zusammengehörig- Existenz und Entwicklung zu eng erschei- keit auch während der Teilung lebendig. nen, sie setzten einen Verdrängungspro- Es zeigt sich aber auch, dass der Wegfall zess in Gang, der zur Wanderarbeit, zur von trennendem Stacheldraht und die Abwanderung und zur Auswanderung Schaffung einer gemeinsamen politi- führte. schen Ordnung noch lange nicht Aufhe- bung der Trennung bedeutet. Vieles hat Von außen waren im 19. Jahrhundert sich diesseits und jenseits der Demarkati- zugleich aber auch vermehrte Arbeits- onslinie anders entwickelt und mit dem und Verdienstmöglichkeiten gegeben, Gang der Entwicklung auch ein partielles deren Angebot anziehend wirken muss- Anderssein der Menschen, der Eichsfel- te, mit den expandierenden und sich mo- der, begründet. Es wäre vermessen, woll- dernisierenden Städten in der Nähe, be- te man meinen, allein über die vorgefer- sonders aber in den aufkommenden In- tigten Bilder das Wesen und die Details dustriegebieten, aber auch mit den der verschiedenen Entwicklungen verste- gleichzeitig entstehenden agraren Inten- hen zu können. Diese bedürfen aus dem sivgebieten einer modernisierten, markt- neuen Stand der wiedererlangten ge- orientierten Landwirtschaft, etwa in den meinsamen Staatlichkeit der Aufar- Niederlanden oder den Börden (u.a. beitung im Sinne einer nachherigen Be- Zuckerrübenanbau). trachtung mit dem Anliegen, Vergangen- heit aus dem Nachhinein heraus besser Anschaulich schildert ein Wollzeug- zu verstehen.“ (aus: Konradi, Unser Eichs- fabrikant aus Dingelstädt diese Verhält- feld, 1991, S.1). Hier wird deutlich ge- nisse im Jahre 1842 in einem Brief an das macht, dass die 40 Jahre währende staat- Ministerium in Berlin: „Hier im bekann- liche Trennung auch lang nachwirkende ten armen Eichsfelde, wo Arbeitslust, ge- Spuren hinterlassen hat und dass Pflege paart mit treuer Redlichkeit heimisch ist, und Verstehen einer Zusammengehörig- herrscht beim Mangel an Arbeitsgele- keit noch für lange Zeit eine Aufgabe genheit große Armut und Verdienstlosig- bleiben wird. keit. Im Frühjahr, sobald die erste Lerche in den blauen Lüften des eichsfeldischen Hochlandes ihr Liedchen singt, zieht eine Schar arbeitskräftiger und arbeitslustiger Bewegungen und Beziehun- Bewohner in entfernte Gegenden, weil gen über enge Grenzen bei überfüllter Bevölkerung ihm eine ste- hinaus: Wanderarbeit, rile Heimat keine Nahrung und Arbeits- verdienst gewährt. Abwanderung und Auswan- derung Die Städte Magdeburg, Potsdam, Ber- lin und Umgegend, Frankfurt a.Main, das Die kleinbäuerliche Struktur des Eichs- angrenzende Königreich Hannover, Her- feldes im Zusammenhang mit der Real- zogtum Braunschweig, Kurfürstentum erbteilung, die naturräumlichen und Hessen und mehrere andere fremde Her- 40 Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes ren Länder werden von eichsfeldischen, aus der Heimat durch Not und Arbeitslo- sigkeit vertriebene Bewohner übersät, und Weiber und Kinder fallen bei persön- licher Armut und Dürftigkeit der Obsorge der verarmten Communen während der Abwesenheit ihrer Ehemänner unter Ent- behrungen der nötigsten Lebensbedürf- nisse anheim. Im Spätherbste kehren die Ausgewanderten, gleich den Zugvögeln wieder in die heimatlichen Hütten zu- rück. Die beim abgehärmten Leben in der Fremde mit Mühe und Entbehrung ersparten Groschen werden zur Bezah- lung herrschaftlicher Steuern und Abga- ben, zur Bezahlung der rückständigen Hausmietgelder und für ein erpachtetes Stück Kartoffelland verwendet. Sind die Schulden bezahlt, so ist die Ersparnis ver- griffen, die Familie lebt im Winter von Kartoffeln, und Arbeitslosigkeit tritt wie- der für Mann und Maus ein.“ (zit. aus: Stadt Duderstadt, Wanderarbeiter aus dem Eichsfeld, 1990, S. 43).

Das Eichsfeld war an dieser neuzeitli- chen, zunächst allgemein saisonalen Ar- beiterwanderung im deutschen Raum in ganz besonderer und auch vielfältiger Weise beteiligt. Ende des 18. Jahrhun- derts waren es junge Leute und die Väter armer Familien, die als Wollkämmer in Anwerbung landwirtschaftlicher Arbeits- die zentralen Gebiete der modernen Ma- kräfte nufakturen zogen, in der Zeit um 1830 bis 1880 waren es einerseits landwirt- schaftliche, meist weibliche Saisonarbei- katholischen Gesellenvereine teil, ver- ter, die besonders im Zuckerrüben- und bunden mit der Gründung von Gesellen- Zichorienanbau in der Magdeburger Bör- häusern. Sie brachten die Anregung mit de Arbeit suchten, andererseits Bau- in die Heimat, wo bereits 1856 ein erster handwerker, die in den jungen Industrie- Kolping-Gesellenverein gegründet wur- gebieten und -städten im Haus-, Fabrik-, de. Es folgten 1897 Vereine in Rüders- Eisenbahn- und Brückenbau Verdienst- hausen und Nesselröden, in Hilkerode möglichkeiten fanden. Ende des 19. Jahr- (1900) und Werxhausen (1915). Diese aus hunderts und bis zum Ersten Weltkrieg der Wanderzeit stammende Tradition wird suchten Eichsfelder in den Webereien heute im Untereichsfeld in 26 Orts- und Spinnereien der modernen Industrie- verbänden, zusammengeschlossen im Kol- ping-Bezirksverband Untereichsfeld wie betriebe in Westdeutschland Ausbildung auch in der Kolping-Familienferienstätte und Arbeit zu finden. (gegründet 1982) bei Gerblingerode wei- Allgemein waren es Einzelpersonen, tergeführt, vornehmlich mit Zielen einer Vermittlung der katholischen Soziallehre die in der Fremde in Kost und Logis gin- und breiter Bildungsangebote. gen, in eigens eingerichteten Heimen oder auch in Gesellenhäusern Unterkunft Wie sehr das Leben vieler Eichsfelder fanden. Eichsfelder Gesellen nahmen im 19. Jahrhundert von Arbeitswande- vielfach an der von Adolf Kolping 1846 in rung und Ausbildung in der Fremde be- Wuppertal gegründeten Bewegung der stimmt war, wird uns mit dem charakte- Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes 41

Wege der agrarischen Wanderarbeiter ristischen Lebenslauf eines Duderstädter Zeit hinein zu versetzen, zugleich aber Handwerkers vor Augen geführt. Heute auch Vergleiche zu ziehen zu heutigen gelesen fordert er dazu auf, sich in seine Lebensumständen:

Auf Wanderschaft „Ich, Carl Friedrich Dieck, wurde am 7. August 1821 geboren. Vom 6. Lebensjahre an besuchte ich die Volksschule in Duderstadt. Nach der Schulzeit kam ich als Metzger bei meinem Vater in die Lehre. Als Lehrling musste ich schon eine Fortbildungsschule besuchen, die 1833 durch den Magistrat gegründet war und den Namen „Realschule“ führte. Am 26. August 1839 erhielt ich den Lehrbrief und wurde Geselle. Nun began- nen die schönen Wanderjahre. Mit dem Wanderbuch in der Tasche ging es auf Schus- ters Rappen von Ort zu Ort, von Meister zu Meister. Bis 1842 arbeitete ich in Altona und Hamburg. Im Januar 1842 musste ich zurück in meine Vaterstadt, um mich der hannoverschen Militär-Aushebungskommission zu stellen. Ich zog bei der Auslosung die Losnummer 19, hatte somit zu erwarten, dass ich bald Soldat werden musste. Weil ich aber im väterlichen Betrieb nötig war, durfte ich einen Stellvertreter stellen. Ich tauschte meine Nummer mit dem Baumwollweber Carl Artmann, der später drei Jah- re lang jedes Jahr zehn Wochen Militärdienst tun musste. Mein Vater musste dafür 14 Taler zahlen. Ich setzte meine Wanderschaft fort, kam über Hannover nach Bremen, Hamburg und Lübeck. Im April 1843 reiste ich mit dem Dampfer nach Kopenhagen, wanderte in Dänemark einen Monat und kehrte über Rendsburg, Flensburg, Schleswig, Eutin, Travenmünde, Schwerin, Güstrow nach Lübeck zurück. In der alten 42 Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes

Hansestadt fand ich Arbeit bis zum März 1848. Um diese Zeit tobten die Revolutions- wirren. Da zog ich es vor, nach Duderstadt zurückzukehren. Aber auch da war Revolutionsstimmung, die Bewohner der zu Duderstadt gehörenden Dörfer glaubten, die Gelegenheit wahrnehmen zu können, sich von den lästigen Abgaben und Zehn- ten zu befreien. Sie drohten mit einem Überfall auf die Stadt. Der Magistrat berief die Schützenkompanie, das Jägerkorps, das Freikorps und die Landwehr. Ich war nur kurze Zeit bei dem Freikorps. Aber jeden Abend um sechs Uhr wurde angetreten und exerziert. Nachdem es wieder ruhiger im Lande wurde, ging ich nochmals auf Wan- derschaft bis 1851. Dann zog es mich zurück ins Vaterhaus. In demselben Jahre er- warb ich noch das Bürgerrecht. Jetzt konnte ich vor der Metzgergilde mein Meister- stück machen. Als Mitmeister der Gilde übernahm ich nach meiner Verheiratung das Geschäft meines verstorbenen Vaters in der Jüdenstraße. Aber nicht lange sollten wir hier wohnen. Am 19. September 1852 brach ein gewaltiger Brand aus, der sich bis zur Oberkirche einerseits und bis zur Löwenapotheke andererseits ausbreitete. 108 Wohnhäuser und 162 Hintergebäude wurden Opfer der Flammen. Sogar die Türme der Oberkirche brannten nieder. Ich zog zum Steintor hinab und errichtete im Eltern- haus meiner Frau einen Fleischerladen, dem sich später die Gastwirtschaft „Zum An- ker“ angliederte.“ (aus: Buerschaper, Heimatlese 5, S. 32f).

Die saisonale Wanderungsbewegung nabrück, Oberhausen oder Wuppertal, führte vielfach in der zweiten Hälfte des weitgehend mit Mitarbeiten aus dem 19. Jahrhunderts auch zu definitiven Ab- Eichsfeld besetzt, zur Werbung im Kreise wanderungen. Bemerkenswert ist bei der „Heimatfreunde“, zur Gründung ka- dieser Ansiedlung von Eichsfeldern in der tholischer Kirchengemeinden in der Dias- Fremde ein bewusst gepflegter „lands- pora (Bremen/Blumenthal, Hamburg/ mannschaftlicher“ Zusammenhalt. Es Wilhelmsdorf, Delmenhorst) wie beson- kam zu Firmengründungen, z.B. Bauge- ders auch zu Vereinen der Eichsfelder an schäfte in Hannover, Braunschweig, Os- zahlreichen auswärtigen Standorten.

Werbung eines Eichsfelder Metzgers Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes 43

Gründungen Eichsfelder Vereine in der Fremde 1 Essen 1892 39 Bochum-Langendreer 1925 2 Berlin 1896 40 Braunschweig 1925 3 Hannover 1896 41 Duisburg 1925 4 Erfurt 1900 42 Fulda 1925 5 Gelsenkirchen 1901 43 Gotha 1925 6 Hamburg 1903 44 Hildesheim 1925 7 Herne/Westf. 1905 45 Haspe 1925 8 Dortmund 1906 46 Hagen 1926 9 Düsseldorf 1906 47 Krefeld 1926 10 Bochum 1908 48 Altona 1927 11 Köln 1908 49 Bad Salzuflen 1927 12 Leipzig 1908 50 Unna/Westf. 1927 13 Halle 1908 51 Wanne-Eickel 1927 14 Münster 1908 52 Berlin-Schöneberg 1928 1910 Gründung des „Bundes der Eichsfelder 53 Sundern 1928 Vereine” in Herne, 54 Oberhausen 1928 Unterbrechung 1914-1923 55 Celle 1929 Wiederbeginn 1924 56 Essen-Süd 1930 15 Bremen 1910 57 Essen-Ost 1932 16 Hannover-Döhren 1910 58 Altenessen-Karnap 1935 17 Neheim 1911 59 Merseburg 1930 18 Nordhausen 1911 60 Zschernowitz 1930 19 Frankfurt/Main 1911 61 Schötmar/Lippe 1931 20 Magdeburg 1912 62 Hemer/Iserlohn 1932 21 Kassel 1912 63 Hildesheim-Moritzberg 1933 1913 Erstes Treffen des „Bundes” in 64 Osnabrück 1933 Heiligenstadt 65 Bochum-Gerthe 1934 22 Witten/Ruhr 1921 66 Bielefeld 1935 23 Bottrop/Westf. 1922 67 Korbach/Waldeck 1935 24 Hamm/Westf. 1922 68 Rheine/Westf. 1935 25 Paderborn 1923 69 Weimar 1938 26 Buer/Westf. 1924 70 Mühlhausen 1939 27 Castrop-Rauxel 1924 71 Kansas City, Missouri 1939 28 Gelsenkirchen Buer 1924 72 Offenburg/Baden 1952 29 Gladbeck 1924 73 1953 30 Hamborn/Rhein 1924 74 Bonn 1954 31 Hattingen 1924 75 Herbede-Sprockhövel 1954 32 Herne-Sodingen 1924 76 Göttingen 1955 33 Leverkusen-Wiesdorf 1924 77 Werne/Lippe 1955 34 Lippstadt/Westf. 1924 78 Hann. Münden 1955 35 Menden/Westf. 1924 79 Bigge/Westf. 1955 36 Recklinghausen/Westf. 1924 80 Mannheim 1964 37 Schlebusch/Köln 1924 81 Angerstein-Neuböseckendorf 1970 38 Dortmund-Marten 1925 82 Wanfried 1980 Zusammenstellung nach T. Müller, 1997 44 Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes

Die geringen wirtschaftlichen Ent-  in der Vielfalt naturnaher Biotope in wicklungsmöglichkeiten, die kleinstruk- einer alten Nutzlandschaft, turierte, marktwirtschaftlich nicht mithal-  in den reizvollen Landschaftsbildern tende Landwirtschaft und der Verfall des und Ausblicken, die sich aus dem en- Textilgewerbes, familiäre Belastungen, gen Nebeneinander offener Nutzflä- Schulden und Erbstreitigkeiten führten in chen und bewaldeter Höhen ergeben, der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor allem in den 1870er und 80er Jahren  in den geschlossenen Dorfkernen mit zu einer Welle von Auswanderungen, ihren oft mittelalterlichen Kirchen, besonders nach Amerika. Das Land der Dorfplätzen und Fachwerkgehöften, Freiheit, der „unbegrenzten Möglichkei-  in den Städten mit einem reichen Be- ten“ bot die Verheißung eines Neuan- stand an Fachwerkhäusern und histo- fanges mit der Perspektive einer wirt- risch-städtebaulichen Elementen, schaftlichen Aufwärtsentwicklung im  in dem religiösen Landschaftsinventar Vertrauen auf die eigenen Kräfte und ih- an Monumenten, Prozessionswegen ren Einsatz, auf einen eigenen, bleiben- und Wallfahrtsorten, den und stetig wachsenden Besitz. Selb-  sowie generell in dem Charakter einer ständigkeit, Eigentum und individueller „Traditionslandschaft“, die sich durch Gewinn waren in der engen, klein- Grenzlage und geringe wirtschaftli- strukturierten und von der industriellen che Entwicklung in einem wenig ge- Entwicklung unberührten Eichsfelder störten Zustand hat erhalten können, Heimat nicht zu erwarten, was bei man- bis hin zu den ökologischen Nischen chen tatkräftigen jungen Leuten zu der im ehemaligen Grenzbereich. harten und als unwiederbringlich ange- nommenen Entscheidung einer Auswan- Kultur ist jedoch nicht nur in der Land- derung führte. schaft selbst und in ihrer Geschichtlich- keit wahrzunehmen, sondern sie wird auch vielseitig in vielen zeitgemäßen Kulturlandschaft Eichsfeld: Kultureinrichtungen angeboten, um Kul- Werte, Angebote, Wahr- tur zu vermitteln und Freizeit zu gestal- nehmung und Erlebnis ten, besonders auch im Rahmen eines touristischen Angebotes. Hierzu gehören Unter der Kulturlandschaft ist der be- vor allem das Heimatmuseum in Duder- siedelte, bewirtschaftete und vom Men- stadt und das Eichsfelder Heimatmuseum schen gestaltete Landschaftsraum zu ver- in Heiligenstadt für das Obereichsfeld stehen, es ist das kulturelle Landschafts- (seit 1932), die Eichsfeldhalle in Duder- angebot und Erbe, das über einen langen stadt, die Obereichsfeldhalle in Leinefel- Siedlungszeitraum hin von den Bewoh- de, das Eichsfeldkulturhaus und der nern der Region geschaffen worden ist. Mainzer Hof in Heiligenstadt wie auch Der gegenwärtigen Generation ist es je- die Bildungs- und Ferienstätte in . weils aufgegeben, die gegebenen Res- Von überregionaler und spezifischer Be- sourcen weiterhin schonend zu nutzen deutung sind das Grenzlandmuseum Du- und die Siedlungslandschaft nachhaltig derstadt und das „Natur-Erlebniszentrum zu gestalten, unter der Berücksichtigung Gut Herbigshagen“ bei Duderstadt. Un- einer Kulturlandschaftspflege, um mit terkunft bieten vor allem das Jugend- dem Erleben der „schönen“ und vielfälti- gästehaus in Duderstadt und die Kol- gen Landschaft auch zu einer bereichern- ping-Familienferienstätte. den Lebensqualität des Menschen beitra- gen zu können. Die Werte und Qualitä- Sehr bewusst und mit Nachdruck wird ten der Eichsfelder Kulturlandschaft lie- auf eine touristische Entwicklung gesetzt, gen: die von verschiedenen Institutionen und Verbänden betreut wird, so von der  In den Relikten einer weit in prähisto- „Landesausstellung Natur im Städtebau rische Zeit zurückreichenden Sied- Duderstadt 1994 GmbH“, der HVE-Eichs- lungstätigkeit (Boden- und Baudenk- feld Touristik oder dem Verkehrsverband male), Heiligenstadt. Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes 45

Weihnachtskrippe in der katholischen Pfarrkirche „St. Georg und Juliana” in Küllstedt (Eichsfeld)

Zu den jährlich stattfindenden großen naus. Allgemein angedeutete Fragestel- Kulturveranstaltungen gehören eine gro- lungen mögen dazu anregen, ähnliche ße Zahl von Prozessionen, darunter die Ansätze und Problemstellungen auch in Dreifaltigkeitsprozession auf dem Hül- anderen Landschaftsräumen zu verfol- fensberg oder die Palmsonntagsprozes- gen. Dabei ließen sich folgende Fragen- sion in Heiligenstadt, der weihnachtliche komplexe herausstellen: Südeichsfelder Krippenweg (seit 1990),  Vergleichbare Regionen und Land- zu dem vom Mittelpunkt Küllstedt ausge- schaftsräume in Deutschland mit ei- hend zehn weitere Kirchen mit ihren ner ähnlichen Ausstattung und Ent- Krippendarstellungen gehören, der „Kul- wicklung, bei einer Herausstellung tursommer“ oder auch der „Eichsfelder der Ähnlichkeiten und Unterschiede Gartenmarkt“ in Duderstadt.  Die Ikonographie und Merkzeichen des kulturellen Erbes der Landschaft, die sich letztlich in Wahrzeichen und einem Logo verdichten lassen Das Eichsfeld als Beispiel-  Raumwirksamkeit von Ideologien, region, im Raumvergleich und Konfessionen und politischen Syste- als Landschaftsindividuum men in einer Landschaft und Region Die landeskundliche Charakterisie-  Ausbildung, Wirkung und Bedeutung rung einer Region soll Leitlinien einer von Regionalbewusstsein und regio- räumlichen Entwicklung hervorheben, naler Identität auf die Gesellschaft ei- Problemfelder räumlicher Prozesse her- ner Region und ihren Aktionsraum ausarbeiten und letztlich auch weiterfüh-  Zusammenhang und Heimatbezie- rende Fragestellungen anregen, für die hung von Abwanderern aus der Regi- Region selbst, aber auch über diese hi- on in die Fremde 46 Landschaftsräumliche Strukturen und Beziehungsgefüge eines Grenzraumes

 Raumwirksame Maßnahmen unter-  Ursachen und Strukturen eines her- schiedlicher politischer Systeme in ih- vortretenden Wandergewerbes und rer Bedeutung für die Siedlungs- und einer Wanderarbeit in der Neuzeit Landschaftsentwicklung.  Wirtschafts- und sozialräumliche Fak- toren einer besonderen heimatlichen Enger auf das Eichsfeld bezogen sind Bindung und regionalen Identität wesentliche Raumqualitäten der Region  Das Eichsfeld als Teilgebiet des Grenz- aufzuzeigen, die vergleichbar mit man- raumes an der 1380 Kilometer langen chen anderen Räumen sind, für die das innerdeutschen Grenze (wirtschaftli- Eichsfeld einen exemplarischen Charakter che Schwächung; Fördermaßnahmen) haben könnte. Als beispielhaft ließen sich folgende Kriterien anführen:  Auswirkungen und fördernde Strate- gien in der Randlage zu einer nahen  Die Auswirkung des agrarwirtschaft- Zentralregion (Leinetal, Göttingen). lichen Gunstraumes auf eine sehr frü- he und andauernde Besiedlung und Eine Region ist stets auch ein land- Bewirtschaftung (Altsiedelland, lang- schaftliches Individuum, mit spezifischen fristiger Eingriff in den Naturhaus- natürlichen und kulturellen Eigenheiten, halt) die jedoch vornehmlich von innen her er- fahren und empfunden werden, in der  Die raumpolitischen und kulturellen heimatlichen und landsmannschaftlichen Auswirkungen in einer territorialen Bindung an den selbsterlebten Ort, an und konfessionellen Enklave das erlebte Lebensumfeld. Eine Region ist  Strukturen und Probleme eines peri- regionalpolitisch sehr wesentlich aus sich pheren Agrarraumes in der Zeit der heraus zu verstehen, zu entwickeln und Industrialisierung (Selbstversorgung; zu gestalten, gerade auch in einem Euro- Abwanderung zu Arbeitsplätzen) pa der Regionen.

- Da ist keine Geschichte ohne Gegenwart und keine Gegenwart ohne Geschichte - 47 Die Ur- und Frühgeschichte im Untereichsfeld Zur Besiedlungsentwicklung von der Altsteinzeit bis zum frühen Mittelalter Klaus Grote

Jäger- und Sammlergruppen Chr., klingt in der Stufe der Mittelstein- zeit die Epoche der wildbeuterischen Le- vor 15.000 bis 8.000 Jahren: bensweise aus. Die danach anbrechende Leben unter Felsschutzdächern neue Zeit der jungsteinzeitlichen Bauern- kulturen veränderte das Leben – und die Die mit Abstand längste Zeitspanne Landschaft – ganz erheblich. menschlicher Geschichte ist durch das Le- ben als Jäger und Sammler geprägt. Über Trotz der langen Zeitdauer der Alt- rund eine halbe Million Jahre ist in Euro- und Mittelsteinzeit sind aus dem Eichs- pa gesicherte archäologische Kenntnis feld bislang nur sehr wenige archäologi- über Menschengruppen der Altsteinzeit – sche Funde bekannt. Bis auf eine gewich- während der Eiszeiten und Zwischen- tige Ausnahme: in den bewaldeten Berg- eiszeiten – vorhanden. Das materielle Da- landzonen des westlichen Eichsfeldran- sein, kulturelles und soziales Verhalten des und des oberen Leinetales ist mit den waren extrem abhängig von einer Unter- sog. „Abris“, den Felsschutzdächern als ordnung unter die Gegebenheiten der urgeschichtlichen Siedlungsstätten eine natürlichen Umwelt. Die Spuren, die die archäologische Denkmalkategorie von Archäologie aus dieser urgeschichtlichen besonderer Aussagekraft gerade für die Phase sichern kann, beziehen sich zu- Spätzeit der Jäger- und Sammlerkulturen meist auf die materiellen Hinterlassen- vorhanden. Es handelt sich um natürliche schaften des „Alltags“, so auf die steiner- Verwitterungsbildungen in den Sand- nen Werkzeuge und unter günstigen steinfelsen der schluchtartigen Täler, die Umständen auf Überreste der Jagdbeute hauptsächlich nach Auflösung weicherer (Tierknochen, z. B. von Wildpferd, Ren, Schichten zu dachartigen Überständen Mammut). Am Ende dieser Zeit, der End- härterer Felspartien geführt haben und phase der letzten Eiszeit (Weichselglazial) so geräumige geschützte Aufenthalts- seit ca. 30.000 Jahren vor heute, ist dann plätze für Menschen aller Jahrtausende bereits ein differenziertes und hochent- entstehen ließen. wickeltes Kulturmuster erkennbar. Zahl- reiche Ausgrabungen gerade in Mitteleu- In den teilweise bis drei Meter mäch- ropa haben hier den hohen Stand bei- tigen Ablagerungen aus Sand, Verwitte- spielsweise der Siedlungs- und Behau- rungsschutt und eingewehtem eiszeitli- sungsanlagen, der Jagdstrategien, Werk- chem Löss an der Basis dieser Felsdächer zeugtechniken (Stein, Knochen, Geweih, konnten bei verschiedenen Ausgrabun- Holz) und nicht zuletzt auch der Sozial- gen durch die Kreisarchäologie Göttin- organisation aufgezeigt. Hingewiesen sei gen eindeutige und gut erhaltene Be- zudem auf die Äußerungen künstleri- siedlungsschichten aufgedeckt werden. schen Schaffens: neben den allgemein Es zeigte sich, dass bei einer Anzahl von bekannten Höhlenmalereien und -gravie- Stellen die Befunde und Funde durch die rungen sind in großer Zahl auch Klein- überlagernden jüngeren Sediment- kunstwerke (Knochen- und Elfenbein- schichten hervorragend eingebettet wa- schnitzereien) sowie verzierte Werkzeuge ren und sich für die alt- und mittelstein- und Jagdwaffen überliefert. Mit den ers- zeitlichen Aufenthalte regelrechte Sied- ten Jahrtausenden am Beginn der jetzi- lungsmuster rekonstruieren lassen. Ne- gen Nacheiszeit, von ca. 9.000 bis 6.000 v. ben einer Vielzahl von Funden, so den 48 Die Ur- und Frühgeschichte im Untereichsfeld

Abriß Hohe Leuchte II. Felsdach im Sandsteinklippengebiet südöstlich von Göttingen mit Überresten urgeschichtlicher Besiedlung. Die Ur- und Frühgeschichte im Untereichsfeld 49

Geräten aus Stein (dazu deren Herstel- Die ältesten Bauernkulturen lungsabfällen) und Knochen, lagen auch die Überreste von Mahlzeiten und der der Jungsteinzeit: Jagdbeute in den Kulturschichten: in den Siedlungen und Funde aus den späteiszeitlichen Schichten die – teilweise Lößgebieten, eine Befesti- zur Markgewinnung aufgeschlagenen – Knochen von Wildpferd, Ren, Steppen- gungsanlage und ein Kultplatz wisent, Wolf, Eisfuchs und Schneehase, in Das Auftreten erster Bauernkulturen, den mittelsteinzeitlichen Schichten die der Wandel von der wildbeuterischen Le- verkohlten Fruchtkerne von Haseln, bensweise letzter mittelsteinzeitlicher Jä- Schlehen, Himbeeren, die Knochen von ger und Sammler hin zur produzierenden Reh, Wildschwein, Rothirsch, Ur, außer- Wirtschaftsweise mit allen ihren kenn- dem von diversen Fisch- und Vogelarten. zeichnenden Elementen wie Anbau von Eine bis 20 cm dicke Lage aus einge- Kulturpflanzen und Haltung domesti- wehter Vulkanasche des Vulkanausbruchs zierter Nutztiere, wird in Mitteleuropa vom Laacher See im Mittelrheingebiet nach derzeitiger Kenntnis um etwa 5.500/ hat um rund 10.800 v. Chr. auch unter 5.000 v. Chr. angesetzt. Zu verbinden ist den Felsdächern manche späteiszeitliche dies mit der Kultur der Linienbandkera- Besiedlungssituation außerordentlich gün- mik, deren Träger sich innerhalb nur we- stig konserviert. Dadurch eröffnen sich niger Generationen von Südosteuropa bei den heutigen Grabungen überra- (letztlich vom Nahen Osten über Ana- schende Momentaufnahmen in die da- tolien, die Ägäis und den Schwarzmeer- malige Besiedlung. Beispielsweise fand raum) ausgehend über Mitteleuropa vom sich unter einem Abri – bei 1,2 bis 1,4 m Pariser Becken bis an die Oder ausgebrei- unter heutiger Oberfläche – rings um tet hatten. Ob hier eine echte bäuerliche eine steingesetzte und mit Holzkohlen Einwanderung oder stattdessen die Über- angereicherte Feuerstelle noch ein mit zu- nahme der neuen Wirtschaftsform durch sammengesuchten Steinplatten gepflas- die alteingesessenen Jäger- und Samm- terter Arbeitsbereich, auf diesem lag zu- lergruppen stattgefunden hat, ist in der sammen mit Steinwerkzeugen (aus Feu- Archäologie unentschieden. Vermutlich erstein und Kieselschiefer) ein fast kom- trifft beides mit gewissen, innerhalb der pletter Rothirschschädel, dem die Stan- europäischen Landschaften wechselnden gen künstlich abgetrennt waren, sowie Anteilen zu. der Unterkiefer eines Hundes – einer der ältesten Belege für die Domestikation Für das Eichsfeld kann anhand der des Hundes in Mitteleuropa. Unter einem jüngsten Forschungen unter den oben anderen Felsdach ließ die regelhafte An- genannten Felsdächern auf beides in ordnung der Feuerstellen innerhalb einer zeitlicher Reihenfolge geschlossen wer- fundreichen Kulturschicht der Mittel- den: zuerst erfolgte – dem Wirtschafts- steinzeit (um ca. 7.500 v. Chr.) auf eine wandel vorauslaufend – eine Übernahme vermutlich gleichzeitige Anwesenheit von neuer Elemente wie Kenntnis und Nut- fünf Kleingruppen (Familien) schließen. zung des ältesten Getreides (Emmer und Einkorn) sowie die Haltung von Schafen Letztlich sind unter den Felsdächern und Ziegen durch die Altbevölkerung der auch Bestattungen vorgenommen wor- späten Mittelsteinzeit ab etwa 5.600 v. den. So konnten zwei mittelsteinzeitliche Chr. Dieser frühe Ideenstrom verlief Kindergräber von etwa 7.000 v. Chr. mit- hauptsächlich vom westlichen Mittel- samt ihren Beigaben (Steinwerkzeuge, meergebiet über Südwestfrankreich nach Schmuck, Speisereste) freigelegt werden. Norden ins mittlere Europa. Um ca. 5.300 v. Chr. setzte sich mit der genannten schnellen und nachhaltigen Ausbreitung der bandkeramischen Kultur die vollent- wickelte bäuerliche Lebensweise durch, und zwar weitgehend gebunden an die ackerbaulich günstigen Lössflächen bis an deren Nordgrenze im Nordsaum des 50 Die Ur- und Frühgeschichte im Untereichsfeld

Mittelgebirgsrandes, in Niedersachsen bis lein zwei Plätze im heutigen Stadtgebiet zur Linie Helmstedt - Braunschweig - von Duderstadt (am Euzenberg und in Hannover - Hameln und Minden. Über der Göttinger Straße), bekannt gewor- rund 800 Jahre blieb in der Folge die den durch Untersuchungen und Funde bandkeramische Kultur mit gewisser Wei- schon in der ersten Hälfte des 20. Jahr- terentwicklung und Regionalausprägun- hunderts. Weitere sind in den Gemarkun- gen vorherrschend. Danach setzten ver- gen von Obernfeld, Mingerode, Werx- stärkte kulturelle Regionalisierungen und hausen, Seulingen, Seeburg, Ebergötzen, ein Auseinanderbrechen der bisherigen , Gieboldehausen und Einheitlichkeit ein, was die Archäologie Bodensee nachgewiesen. Sie liegen über- in einem differenzierten und noch lange wiegend in heutigen überackerten Flä- nicht endgültigen Schema zeitlich und chen und sind in ihrer Ausdehnung (bis regional abgegrenzter Kulturgruppen zu zu 10 Hektar Größe !) über die ausge- rekonstruieren versucht. pflügten Siedlungsfunde und Bauspuren unübersehbar. Durch zahlreiche aufgefundene ehe- malige Siedlungsplätze und archäologi- Aufgrund der von Anfang an komple- sche Untersuchungen sind wir über die xen, hochentwickelten Bau- und Sied- materiellen Erscheinungsformen der lungsweise sind bis heute die archäologi- bandkeramischen Kultur gut informiert. schen Überreste gut erhalten. Die aus Benannt ist sie nach der typischen, mit vielen Grabungen und anderen Flächen- Ritzlinien, Einstichen und plastischen untersuchungen, z. B. Luftbildauswertun- Wülsten in Spiral-, Mäander- und Winkel- gen und geophysikalischen Prospektio- bandmotiven verzierten Gebrauchskera- nen (Magnetometereinsatz) ermittelten mik. Insbesondere in den Lössflächen des jungsteinzeitlichen Gebäudeformen sind flachwelligen, durch kleine Wasserläufe als große, stabile Rechteckbauten zu re- und Talzüge vielfältig gegliederten Un- konstruieren. Die manchmal bis über 40 tereichsfeldes sind Siedlungen der Band- m langen und 6 - 8 m breiten Häuser be- keramik vorhanden. So befinden sich al- standen aus einem tragenden Pfosten-

Rekonstruierte Gefäße der bandkeramischen Kultur aus dem Siedlungsplatz am Euzen- berg in Duderstadt. Die Ur- und Frühgeschichte im Untereichsfeld 51

Langhaus der bandkeramischen Kultur. Pfostengrundriss aus einer Siedlungsgrabung im Leinetal bei Nordstemmen, darüber die Rekonstruktion des Pfosten-, Wand- und Dach- aufbaus gerüst – eine Mittelpfostenreihe, dane- Nachbarschaft zum Wald für den Holz- ben je eine weitere Pfostenreihe, in Drei- bedarf und die Waldhutung. ergruppen war das Hausinnere dabei in Querjochen gegliedert – und den statisch Entsprechend der aufwändigen Haus- nicht besonders tragenden vier Außen- bauweise, für die viele Pfostenlöcher und wänden aus Pfosten und Flechtwerk, al- Lehmentnahmegruben gegraben werden les überdeckt durch ein großes, tief hin- mussten (die als Bodeneingriffe über alle abreichendes Satteldach aus Stroh. Ob in Jahrtausende unvergänglich bleiben), solchen Großbauten die bäuerliche Fami- sind die archäologischen Überreste im lie, eventuell sogar mehrere Familien, mit Untereichsfeld nicht selten. Ausgrabun- oder ohne Vieh und Vorräten unterge- gen haben bislang auf drei Plätzen statt- bracht waren, ist bislang nicht sicher zu gefunden: in Duderstadt am Euzenberg- entscheiden. Zumindest für die Vorrats- hang (zwischen 1939 und 1958), bei Gie- haltung sind weitere Kleinbauten als boldehausen (1976) und bei Seeburg Speicher in den Siedlungen nachgewie- (1991). Jedesmal zeigten sich nach dem sen, vereinzelt auch eingegrabene Si- Abschieben der pfluggestörten heutigen logruben. Deckschicht auf der Fläche des freigeleg- ten Lössuntergrundes die dunkel verfärb- Die Siedlungsplätze sind in der Regel ten, verfüllten ehemaligen Eingrabungen über Hunderte von Jahren (wieder-)be- der Pfostenkonstruktionen und Gruben legt worden. Die Häuser und Nebenge- verschiedenster Zweckbestimmungen. bäude bildeten einzelne Hofstellen, die Nach Freilegung mehrerer hundert Qua- einzeln oder weilerartig gruppiert liegen dratmeter wurden dadurch die Grundris- konnten, immer umgeben von den Wirt- se der Großhäuser ganz oder in Aus- schaftsflächen für den Ackerbau, den schnitten erkennbar. Aus den zahlreichen Weideflächen für die Viehhaltung und in anderen Gruben dazwischen stammt 52 Die Ur- und Frühgeschichte im Untereichsfeld reichhaltiger Siedlungsabfall – Keramik- Flechtwerkabdrücken, Holzkohlen). In bruch, Feuersteinwerkzeuge, geschliffene der Siedlung bei Gieboldehausen konnte Felsgeräte wie Beil- und Hackenklingen, auch eine eingetiefte Vorratsgrube für Getreide-Handmahlsteine – sowie ver- Getreide erkannt werden, darin nach brannter Bauschutt (Wandlehm mit dem einstigen Abbrennen der verkohlte

Lageplan des jungsteinzeitlichen Erdwerks auf dem Kohligsberg am Ortsrand von Seulingen. Doppelter Ring der verfüllten Wehrgräben, im Innenraum Spuren der Besied- lung (Oberflächenfunde gepunktet). Die Ur- und Frühgeschichte im Untereichsfeld 53

Hauptteich der Rhumequelle bei Rhumspringe. Durchsieben der Teichsedimente wäh- rend der Sanierungsarbeiten im Februar 1999

Inhalt aus Tausenden von Getreidekör- sicht über die Goldene Mark, über den nern, und zwar Weizen (Emmer und Ein- Seeburger See bis zum Südwestharz. In korn), Gerste sowie auch wenige Erbsen. den Luftbildern zeichnet sich eine annä- Aus anderen Siedlungen sind zudem Lin- hernd ringförmige Wehranlage anhand sen, Lein und Mohn belegt. Die nur sel- der Bodenverfärbung zweier parallel ver- ten erhaltenen Tierknochen lassen bei laufender, heute verfüllter Gräben ab; der Tierhaltung auf die domestizierten die einstmals dahinter gelegenen Erd- Formen von Rind, Schwein, Schaf, Ziege wälle sind längst eingeebnet. Diese dop- und Hund schließen; Überreste von Wild- pelte Wall- und Grabenlinie umschlosss tieren sind sehr selten. Fernbeziehungen einen Innenraum von rund 300 m Durch- sind über die verwendeten Rohmateriali- messer. Durch eine Probegrabung ist die en der Steinwerkzeuge (norddeutscher Form der Gräben und die Datierung der Raum, Gebiet um Aachen/Belgien) ange- Anlage abgesichert. Im Innenraum konn- deutet. Einige Bernsteinperlen und – ver- te bei der Grabung und durch zahlreiche mutlich als Amulette genutzte – fossile ausgepflügte Oberflächenfunde eine Seeigel stammen aus dem Ostseeküsten- Teilbesiedlung des Areals festgestellt raum. werden. Die Funde wie Keramikbruch, Feuersteinwerkzeuge, Pfeilspitzen und Der Auswertung von Luftbildern ver- Steinbeile verweisen auf eine lange danken wir die Kenntnis einer Großanla- Lebensdauer des Erdwerks. Sie beginnt ge der Jungsteinzeit, die über einen ein- bereits mit der bandkeramischen Kultur, fachen Siedlungsplatz in Funktion und die Hauptbesiedlung fand aber danach in Bedeutung weit hinausgeragt haben den Jahrhunderten zwischen 4.000 und wird. Es handelt sich um eine aufwändig 3.500 v. Chr. statt. gebaute Befestigung, ein sog. Erdwerk auf dem Südostabhang des Kohligsber- Derartige Erdwerke sind in den letz- ges am Dorfrand von Seulingen. Der heu- ten Jahren infolge der intensivierten te überackerte Platz bietet weite Fern- Luftbildarchäologie auch in Südnieder- 54 Die Ur- und Frühgeschichte im Untereichsfeld sachsen mehrfach entdeckt worden, im für eine ur- und frühgeschichtliche kulti- gesamten Eichsfeld ist dies die bislang sche Nutzung prädestiniert erschienen, einzige erkannte Anlage. In der jung- wurde die 1998/1999 durchgeführte Sa- steinzeitlichen Siedlungslandschaft müs- nierung des Teiches und seines Umfeldes sen Erdwerke aufgrund der besonderen von Anfang an archäologisch begleitet. Befestigungen, die vermutlich durch eine Tatsächlich ergab sich bei der akribischen zentrale (politische, gesellschaftliche, kul- Durchsicht des aus dem Teichgrund her- tisch-religiöse) Kraft als Gemeinschafts- ausgeholten Sedimentgutes eine Serie leistung angeordnet waren, eine zentrale auffälliger Fundstücke. Hier sei nur auf Funktion eingenommen haben. Denkbar die Funde aus der Jungsteinzeit einge- sind hier Zufluchtsorte, kultische Ver- gangen. So liegen mehrere aus Felsge- sammlungsplätze, Häuptlingssitze. stein geschliffene beilförmige Hacken, außerdem Feuersteingeräte sowie Gefäß- Ebenfalls eine noch junge Entdeckung scherben verzierter Keramik vor. Sie las- ist, dass die Rhumequelle bei Rhumsprin- sen sich zeitlich und kulturell in den Zu- ge am nordöstlichen Rande des Eichs- sammenhang der bandkeramischen bäu- feldes in der Jungsteinzeit als Opferplatz erlichen Kultur (um ca. 5.000 v. Chr.), da- gedient hat. Da die mit rund 1.500 bis mit in die Frühphase der Jungsteinzeit 5.500 l pro Sekunde stark schüttende einordnen. Da die Quelle und der Teich, Quelle und ihr fast 7 m tiefer Quellteich in dessen versumpftem Umkreis hunderte

Archäologische Funde aus dem Teich der Rhumequelle. Verzierte Gefäßscherben der bandkeramischen Kultur (um 5.000 v. Chr.) und gleichalte geschliffene Steinhacken. Außerdem: Steinbeil aus geschliffenem Feuerstein (unten rechts, mittlere Jungsteinzeit, ca. 4.000 v. Chr.) und Bügel einer bronzenen Gewandfibel aus der jüngeren Eisenzeit um ca. 100 v. Chr. (unten Mitte) Die Ur- und Frühgeschichte im Untereichsfeld 55 weitere Quellen zutage treten, für die flächen der Lößebenen längs der Bach- Anlage einer profanen Ansiedlung unge- läufe, damit grundsätzlich gleichartig wie eignet waren, ist hier nicht von einfachen schon vorher in der Jungsteinzeit und Siedlungsabfällen auszugehen. Die ge- Bronzezeit. Die wichtigsten Plätze befin- samte Situation der Topografie, der spek- den sich bei Gieboldehausen, Woll- takulären Naturbesonderheit und brandshausen, Seeburg, Seulingen, De- Fundumstände spricht für die Annahme singerode und Duderstadt. Grabungen von Opferhandlungen. Kult- und Opfer- haben bislang nur vereinzelt und mit plätze an Quellen, Brunnen, Teichen und flächenmäßig kleinen Maßnahmen statt- Seeufern sind in Mitteleuropa archäolo- gefunden. Daher sind wir, was Hausbau, gisch häufiger nachgewiesen. Die frühe Wirtschaftsweise und andere Allgemein- Datierung in die bandkeramische Zeit aussagen anbetrifft, vorläufig auf die Er- macht die Rhumequelle aber zu einer be- gebnisse aus benachbarten Landschaften sonderen historischen Stätte. Sie war of- angewiesen, so aus dem Leinetal oder fensichtlich der Anziehungspunkt für die dem Südwestharzvorland. Zusammenfas- umliegenden jungsteinzeitlichen Sied- send lässt sich die Eisenzeit im Unter- lungsräume des Untereichsfeldes und des eichsfeld als eine Zeit bäuerlicher Besied- Südharzvorlandes. Ausweislich jüngerer lung in kleinen weilerartigen Gehöft- Funde bis zum Mittelalter und in die gruppen beschreiben. Die Kulturflächen Neuzeit hat die Quelle immer wieder für waren – wie schon vorher – aus der groß- Opferungen und Deponierungen im Rah- flächigen Bewaldung inselartig heraus- men volksreligiöser Bräuche gedient. gerodet, das Vieh trieb man sicherlich zur Weide in die Wälder (Eichel-, Buchecker- und Laubmast) und in die Tal- bzw. See- randniederungen. Siedlungen in der Eisenzeit Für die intensiver besiedelte Zeit der vor 2.500 bis 2.000 Jahren: letzten zwei Jahrhunderte vor Chr. Geb. (mittlere und späte Latènezeit) ist eine keltische Einflüsse, die ersten kulturelle Bindung an das süddeutsche Germanen keltische Kerngebiet erkennbar, insbe- sondere an den südöstlich angrenzenden Seit der frühen Jungsteinzeit verläuft mitteldeutsch-thüringischen Raum. Der im Untereichsfeld die Besiedlung mit keltische Kulturkreis war durch stadtar- Ackerbau und Viehhaltung über die tige Großsiedlungen (Oppida) und einen nachfolgenden Jahrtausende der Bronze- hohen Stand der materiellen Kultur (spe- zeit bis in die Eisenzeit kontinuierlich zialisiertes Handwerk, Münzumlauf u. a.) weiter. Ein repräsentatives Bild dazu er- gekennzeichnet. Er erstreckte sich von möglichen die Aussagen der Pollenanaly- Spanien über Südengland und Frank- sen aus dem Lutteranger bei Bernshau- reich, Süddeutschland, den gesamten sen, einem kleinen Nachbarsee des See- Alpenraum bis zum Balkangebiet und burger Sees. Dort sind klare vegetations- war durch den Kontakt zum mediterra- geschichtliche Entwicklungsphasen seit nen Kulturraum beeinflusst. Kurz vor der dem Ende der letzten Eiszeit rekonstru- Zeitenwende geriet er in die Bedrängnis ierbar; die darin ebenso ausgeprägten durch das vorrückende römische Imperi- Besiedlungsindikatoren ergeben zusam- um und von Norden durch die germani- men mit dem Ergebnis der archäologi- schen Stämme. schen Forschung eine differenzierte Ab- folge von Besiedlungsauf- und -ab- Das Untereichsfeld (mit dem südli- schwüngen bis hin zum Mittelalter. Ein chen Leinebergland) lag in der äußersten Schwerpunkt liegt dabei auf den Jahr- Randzone des keltischen Einflussgebie- hunderten der Eisenzeit im letzten hal- tes. Aus den Siedlungsplätzen liegen ent- ben Jahrtausend vor Chr. Geb. sprechende materielle Hinterlassenschaf- ten vor. Zu erwähnen sind die Produkte Im Untereichsfeld sind bislang rund der Keramiktöpferei, und zwar Belege 15 eisenzeitliche Siedlungsplätze erkannt. der vermutlich professionell hergestellten Sie liegen in den heutigen Ackerbau- dünnwandigen, verzierten Drehschei- 56 Die Ur- und Frühgeschichte im Untereichsfeld

liche Periode der römischen Kaiserzeit, sie dauerte bis zum Beginn der Völker- wanderungszeit um 350 n. Chr. Der ar- chäologische Befund zu diesem Über- gang verdeutlicht für das Untereichsfeld, dass in der Tat ein Bruch in der Siedlungs- entwicklung stattgefunden hat, d. h. die alten latènezeitlichen Siedlungen bre- chen ab, die germanischen Plätze sind neu angelegt und wohl auch kleiner, eventuell als Einzelgehöfte in Streulage innerhalb der beibehaltenen Wirtschafts- flächen. Im archäologischen Fundgut zeigt sich ein Niedergang, so beispiels- weise bei der Keramik (keine Drehschei- benware mehr).

Verziertes Drehscheibengefäß aus der ei- senzeitlichen Siedlungsstelle „am Grase- weg“ bei Duderstadt und keltische Gold- Die Frühgeschichte der münze aus der Umgebung von Duder- stadt. Beide Funde datieren in das letzte heutigen Kulturlandschaft: Jahrhundert vor Chr. Geb. Thüringer, Sachsen, Karolinger Archäologische Ergebnisse rings um den Seeburger See benkeramik, ebenso Fragmente von of- Mit dem Ausklingen der römischen fensichtlich aus dem Süden importierter Kaiserzeit ist für die anschließende Völ- Keramik mit Graphitbeimischung im Ton. kerwanderungszeit (ca. 350 - 500 n. Chr.) Anzuführen sind auch der Fund einer kel- ein deutlicher Rückgang der Besiedlung tischen Goldmünze (gefunden bei Duder- konstatierbar, abzulesen ebenso im Pol- stadt) und eine bronzene Gewandfibel lendiagramm des Lutterangers, das für als Opferfund aus der Rhumequelle. In diesen Zeitraum eine Zunahme der An- diesen Kontext gehört die Pipinsburg bei zeiger für Wiederbewaldung andeutet. Osterode am Harzrand, eine eisenzeitli- Dieses Phänomen ist in den Nachbarland- che befestigte Höhensiedlung, die zwi- schaften ähnlich ausgeprägt. Dennoch schen 1953 und 1974 durch Ausgrabun- brach nicht die gesamte Besiedlung ab. gen teilweise untersucht wurde. Sie liegt Da schriftliche Überlieferungen noch in der genannten Grenzzone und weist nicht verfügbar sind, bleibt die Archäolo- deutliche Merkmale des keltischen Kul- gie jetzt und für die Phase der langsamen turraumes auf: ein über das ländliche Ni- Wiederaufsiedlung ab etwa 600 n. Chr. veau hinausgehendes Siedlungsgebilde weiterhin die wichtigste Geschichts- mit Hinweisen auf spezialisiertes örtliches quelle. Handwerk (z. B. Metall, Glas, Töpferei) – ein Anklang an das Prinzip der keltischen Als Ergebnis der systematisch zwi- Oppida. schen 1980 und 1997 durchgeführten ar- chäologischen Landesaufnahme in der Um die Zeitenwende traten im süd- Goldenen Mark, d. h. in den Gemarkun- niedersächsischen und nordwestthürin- gen rings um den Seeburger See, Lutter- gischen Eichsfeld germanische Stämme see und ehemaligen Westersee (heute: auf und verdrängten vermutlich die alt- Seeanger zwischen Seeburg und Eber- eingesessene keltisch geprägte Bevölke- götzen), kann diese frühgeschichtliche rung. Überwiegend dürfte es sich dabei Entwicklung an konkreten Befunden re- um Gruppen aus dem Stammesverband konstruiert werden. Ziel der Landesauf- der Cherusker gehandelt haben. Mit die- nahme in einem landwirtschaftlich ge- sem Wechsel begann die frühgeschicht- nutzten Areal von rund 35 qkm Größe Die Ur- und Frühgeschichte im Untereichsfeld 57 war die möglichst vollständige Auffin- Fundgut ist für eine feinchronologische dung, Erfassung und Datierung der ur- Zuweisung momentan zu indifferent. Die und frühgeschichtlichen Funde und Be- ältesten Besiedlungsflächen in Seeburg funde, was zu einer modellhaften Dar- erstreckten sich im heutigen Altdorf- stellung der mehrtausendjährigen Sied- bereich längs der fossilen Uferkante der lungsabfolge führen konnte. breiten, einst wassergefüllten Einmün- dung des Auebaches in den Seeburger Beispielhaft sei hier auf drei Plätze See. Deutlich wird auch, dass exakt hier eingegangen, für die auch Ergebnisse aus um etwa 800, in der Folge der Eingliede- Grabungen gewonnen wurden. Sie lie- rung Sachsens in das fränkisch-karolingi- gen bei Seulingen, Seeburg und Berns- sche Reich und der beginnenden Missio- hausen und lassen erkennen, dass die nierung, mit der Martinskirche eine der Ortsgeschichte jeweils mit hoher Wahr- frühen Kirchengründungen initiiert wur- scheinlichkeit schon in der jüngeren rö- de. Im Hochmittelalter entwickelten sich mischen Kaiserzeit begann und sich kon- an gleicher Stelle ein grundherr- tinuierlich hin zum Frühmittelalter, schaftlicher Wirtschaftsgroßhof und eine schließlich bis zum Einsetzen der schriftli- kleine Niederungsburg. chen Überlieferung fortsetzte. In Seu- lingen liegen zwei Teilbereiche der frü- Als drittes Beispiel kann die komplexe hen Siedlungszeit beiderseits des Suh- Befundsituation bei Bernshausen, am latales am östlichen Dorfrand. Hier haben Südostufer des Seeburger Sees, beschrie- zwei Flächengrabungen stattgefunden ben werden. Nach jahrelangen archäolo- und Baubefunde ergeben, so die Spuren gischen Forschungen der Göttinger Kreis- von großen Pfostenhäusern, kleineren archäologie seit 1980 bis 2002 (und wei- eingetieften Grubenhäusern sowie Spei- ter andauernd) ist hier eine Fülle diffe- chergruben. Neben den typischen Befun- renzierter Ergebnisse erarbeitet. Sie zei- den des Lebens mit Ackerbau und Vieh- gen eine prinzipiell gleichartige Abfolge: haltung zeigten sich hier auch Elemente an einem kleinen Gewässerlauf nahe des dörflichen Handwerks, wie die Webe- dem Seeufer befand sich innerhalb der rei, Eisenverarbeitung, Knochenschnitze- heutigen Ackerflur ein großflächiges rei. Über bestimmte stilistische und tech- Siedlungsareal der jüngeren römischen nische Elemente der Gebrauchskeramik Kaiserzeit; erste Funde lassen auf eine – lässt sich für den Zeitraum der jüngeren wohl reduzierte – Weiterbesiedlung in römischen Kaiserzeit (spätes 3. Jahrhun- der Völkerwanderungszeit schließen. Als dert) wie für das Früh- und Hochmittel- Folge salztektonischer Auslaugungsvor- alter (9. - 11. Jahrhundert) eine kulturelle gänge und Absenkungen des geolo- Ausrichtung zum südöstlich angrenzen- gischen Untergrundes im Seeburger See- den thüringischen Stammesgebiet ablei- Becken vergrößerte sich der Seespiegel, ten. und am Südostufer entstand eine Halb- inselsituation, nur 200 m unterhalb der Dies ist bemerkenswert, da im be- Altsiedlung. Letztere verlagerte sich jetzt nachbarten Ort Seeburg, der ebenso ar- zugunsten einer Nutzung der Halbinsel, chäologisch in Ansätzen erforscht wer- die durch eine Abschnittsbefestigung den konnte, eine derartige thüringische wehrhaft abgesichert und besiedelt wur- Prägung nicht erkennbar ist. Für sichere de. Nach archäologischem Befund ge- Aussagen müssen weitere Untersuchun- schah dies in frühmerowingischer Zeit um gen in Seeburg abgewartet werden. Die ca. 600 n. Chr. bisherigen archäologischen Kleinmaß- nahmen haben hier ein ansonsten ver- Eine solche burgartige Anlage lässt gleichbares Bild nachgezeichnet, mit mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die frü- Siedlungsresten aus der römischen Kai- he Existenz einer politisch führenden, lo- serzeit und einer Kontinuität von der kalen Zentralkraft schließen. Aufgrund Merowingerzeit bis heute. Wie an allen erster Funde von Stein- und Holzbau- anderen Orten bleibt die Völkerwande- resten, die bei taucharchäologischen Un- rungszeit archäologisch vorläufig uner- tersuchungen des heute wieder überflu- kannt, wenn sie vielleicht auch mit teten Platzes erkannt wurden, kann so- Befunden und Funden präsent ist – das gar ein herrschaftliches Milieu gegeben 58 Die Ur- und Frühgeschichte im Untereichsfeld

Bernshausen am Ostufer des Seeburger Sees in der Goldenen Mark, im Hintergrund der südwestliche Oberharzrand. Rechts des hellen Schilfgürtels befanden sich im Früh- und Hochmittelalter die Siedlungs- und Befestigungsanlagen eines grundherrschaftlichen Haupthofes. sein. In dieser Zeit war die fränkisch-thü- Bernshausen bekannt. Mit aller Vorsicht ringische Nordwestgrenze zum Leine- kann angenommen werden, dass der be- bergland hin vermutlich nur unscharf festigte Ansitz von Bernshausen in dieser konturiert. Die fränkische Binnener- Zeit der fränkischen Neuordnung des al- schließung der thüringischen Siedlungs- ten thüringischen Substrats seine Rolle gebiete – das alte Thüringerreich war um gespielt hat. 531 von den Franken erobert worden – Um etwa 700 erreichte die Ausbrei- erfolgte durchgreifend wohl erst seit der tung sächsischer Stammesteile von Nor- Mitte des 7. Jahrhunderts. Verbunden den her das südliche Niedersachsen zwi- mit der christlichen Missionierung, der schen Harz und Oberweser. Auch das Einrichtung von Gauen als Verwaltungs- Untereichsfeld und das obere Leinetal gebieten, mit einer fränkisch-grundherr- wurden von dieser Landnahme erfasst. schaftlichen Agrarreform und sukzessiver Eine exakte Linienbestimmung der Einführung der Hufenverfassung orien- Grenzsäume zwischen dem fränkisch-me- tierte sich diese Staatskolonisation an- rowingischen Reich (eingeschlossen fangs an die alten adligen und königli- Nordhessen und Nordwestthüringen) chen Zentralgebiete Thüringens. Letztlich und dem südlichen sächsischen Stammes- wurden auch die Randgebiete, mit Neu- gebiet ist für diese Zeit nicht eindeutig siedlungen und Umbau bzw. Ausbau der rekonstruierbar. Zwischen dem unteren Altsiedlungen, einbezogen. Im westli- Werraraum und dem Südharzrand verlief chen (westsaalischen) Thüringen stützte die Grenze quer durch das Eichsfeld, sich der Staat dabei offensichtlich auch eventuell annähernd gleichgerichtet wie auf die gezielte Ansiedlung fränkischer die spätere Grenze zwischen dem Ober- Kolonisten und die Stationierung fränki- und Untereichsfeld. scher Truppen auf befestigten Stütz- punkten. Ein solcher ist beispielsweise in In den Jahrzehnten um 800 wurde das dem befestigten Tafelberg der Hasen- sächsische Stammesgebiet, damit auch burg bei Großbodungen unweit von das Untereichsfeld, in das fränkisch-karo- Worbis, nur rund 25 km Luftlinie von lingische Reich eingegliedert. Nachhaltig Die Ur- und Frühgeschichte im Untereichsfeld 59 wurden jetzt großflächige Waldrodun- baches aus dem See, verlegt. Hier war ein gen und der innere Landesausbau mit erhöhtes und bereits früher zeitweise be- Gründung zahlreicher neuer Siedlungen siedeltes – in frühmerowingischer Zeit betrieben – ähnlich wie schon vorher im wohl auch als Friedhof genutztes – thüringischen Nachbargebiet. Weitere Uferrandgelände in idealer Weise für Neuerungen waren die Etablierung des eine repräsentative Anlage vorhanden. Villikationssystems (grundherrschaftliche Die Grabungen erschlossen für die karo- Fronhofwirtschaft mit abhängigen Bau- lingische und ottonische Zeit eine dichte ernstellen und Abgabesystemen) und die Bebauung mit Pfosten- und Gruben- organisierte Einführung des Christentums bauten, mit aufwändigem Brunnen, spe- mit Gründung von Missionskirchen (im zialisiertem Handwerk im Haushalt (We- Untereichsfeld z. B. die Martinskirchen in ben, Knochenschnitzerei) wie als Gewer- Seeburg und Heiligenstadt). Nach der be (Metallverarbeitung: Eisen, Blei, Bunt- Einteilung Sachsens in das karolingische metall). Erkennbar ist eine Zweiteiligkeit Comitatsystem (Grafschaften) gehörte mit einem Zentralbereich, der durch Wall das Untereichsfeld in den Liesgau. Dessen und Graben besonders eingehegt (und Verwaltungsort war die Katlenburg am befestigt) war, sowie angegliederten Zusammenfluss von Rhume und Oder ländlichen Wohnbereichen und Hand- nördlich des Untereichsfeldes. Die Gra- werksbetrieben. Die landwirtschaftliche fenfunktion übten im 9. und 10. Jahrhun- Produktion beruhte auf Ackerbau mit dert Angehörige des sächsischen adligen Anbau von Weizen, Roggen, Gerste, Familienverbandes der Immedinger aus. ebenso auf der Haustierhaltung mit Schwein, Rind, Schaf, Ziege, Huhn, Gans und Pferd, außerdem auf intensivem Fischfang im See. Der sächsische Großhof von Bernshausen: Nach weiterem Seespiegelanstieg war aus dem aufgewölbten Siedlungsgelände eine immedingische Curtis mit durch rückwärtige Überflutungen eine Fluchtburganlage rund 600 m lange Insel entstanden (Abb. 9), die so noch besser die repräsentativ- Die archäologischen Forschungen abgehobene und defensiv-wehrhafte Si- rings um den Seeburger See bei Berns- tuation herausstellte. Die alte Wall-Gra- hausen haben zu dieser Phase ein viel- ben-Fluchtburg südwestlich der Curtis, schichtiges Bild eines Villikationshaupt- ebenfalls mit auf der Insel, wurde im 10. hofes der Immedinger ergeben. Für die Jahrhundert noch einmal erneuert, und Region verhältnismäßig früh, in der Mitte zwar nach Einebnung der alten Anlage des 9. Jahrhunderts, ist der Besitz- durch einen Neubau als Steinmauerburg. komplex im Güterverzeichnis des kurz Sie besaß einen verrundet-rechteckigen vorher gegründeten Reichsklosters Cor- Grundriss mit Halbrundbastionen und ei- vey (Weser) überliefert. Um 1013 wurde nem Haupttor in Zangenform (einbie- die Villikation mit Hof (curtis) an das Bis- gende Torgasse). Auch jetzt blieb sie un- tum Paderborn übertragen. Der Haupt- besiedelt, lediglich eine zeitweilige Bunt- hof entwickelte sich ausweislich der metallgießerei ist archäologisch nach- Grabungsergebnisse aus der vorher be- weisbar. schriebenen, merowingerzeitlichen burg- artigen Halbinselsiedlung am Ostufer des Der Haupthof von Bernshausen verlor Sees. Nach tektonisch bedingter sukzessi- im späteren 12. Jahrhundert seine Bedeu- ver Vergrößerung des Sees und Überflu- tung, stattdessen entwickelte sich auf sei- tung der Halbinsel am Anfang des 9. nem Gelände eine kleine, mit einem Was- Jahrhunderts verblieb hier zwar eine sergraben umschlossene Niederungsburg Wall- und Grabenbefestigung, allerdings (Turmhügelburg vom Typ Motte), die von unbesiedelt und wohl nur als Fluchtburg den niederadligen Herren von Bernshau- bereitgehalten. Der Hof selbst wurde um sen bis um 1400 bewohnt wurde, sowie rund 300 m nach Nordosten, an den jetzt ein überörtlich bedeutsamer Landge- breiten wassergefüllten Auslauf des Aue- richtsplatz. 60 Die Ur- und Frühgeschichte im Untereichsfeld

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Osthälfte des Seeburger Sees bei Bernshausen. Lageplan der ehemaligen mit- telalterlichen Insel mit immedingischem Wirtschaftshaupthof (FSt. 2) und beigeordneter Fluchtburg (FSt. 3), Zustand des 10. und 11. Jahrhunderts.

Die Untersuchungen von Bernshau- einen früh- bis hochmittelalterlichen sen, die auch durch eine umfassende Zentralort herausgearbeitet. Für ver- Neubearbeitung der urkundlichen Quel- gleichbare Hauptorte in der Region, wie len (durch Gudrun Pischke) gestützt wor- Duderstadt und Gieboldehausen, stehen den sind, haben in idealtypischer Weise solche Studien noch aus. Die Ur- und Frühgeschichte im Untereichsfeld

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Hochmittelalterliche Haupthofanlage (Curtis) am Ostufer des Seeburger Sees bei Berns- hausen. Freigelegter Teilabschnitt der massiven Ringmauer der Fluchtburg des 10. bis frühen 12. Jahrhunderts 62 Die mittelalterliche ländliche Kulturland- schaft und ihr Wandel durch die Wüstungsvorgänge im Untereichsfeld Eckart Schröder

Das Bild der gegenwärtigen ländli- wurde (sog. Knickwall). Weit verbreitet chen Siedlungslandschaft geht in seinen waren beide im Obereichsfeld. Sie wur- Grundzügen auf die spätmittelalterlichen den in der fehdenreichen Zeit des späten Wüstungsvorgänge zurück. Das wohl Mittelalters angelegt. markanteste Ergebnis dieses Umbruchs ist, dass die heutige Zahl der Dörfer nur Die Kirchen und Kapellen waren die etwa 40 % der um 1300 bestehenden einzigen Steinbauten, alle übrigen Ge- ausmacht. Die zwischen 1300 und 1450 bäude waren Holzkonstruktionen, von aufgegebenen Orte werden als Wüstun- denen nichts überdauert hat. In der Re- gen bezeichnet. Sie sind jedoch nur ein gel lassen sich die Wüstungsplätze durch Element der ehemaligen Kulturland- das konzentrierte Vorkommen von Ke- schaft. Zu ihr gehörten ebenso die be- ramikscherben lokalisieren. Bisweilen fin- wirtschafteten Fluren und Wälder wie den sich dort auch Brocken verziegelten die Wege und Straßen. Die Rekonstrukti- Fachwerklehms; sie zeigen damit den on dieses Kulturlandschaftszustandes ba- Standort eines ehemaligen Gebäudes an. siert auf der Auswertung archivalischer Die Feinkartierung dieser Flächen kann Quellen, vor allem aber auf der archäolo- eine näherungsweise Vorstellung von der gischen Untersuchung noch vorhandener Größe der Dörfer geben. Sie bewegt sich Spuren. zwischen 150 bis 300 x 50 bis 150 m. Das würde etwa 10 bis 15 Hofstellen entspre- Die schriftlichen Nachrichten reichen chen. Diese Werte lassen sich auch auf meist nicht weiter als bis in das 14. oder die überdauernden Dörfer übertragen. 13. Jahrhundert zurück. Darüber hinaus Das keramische Fundgut umfasst meist enthalten sie außer dem Namen des Or- Scherben vom 9./10. bis zum 14./15. Jahr- tes in der Regel nur einzelne Fakten, die hundert. Es markiert damit zugleich die nur wenig zu einem Gesamtbild beitra- Dauer des Bestehens der Dörfer bis zum gen. Wüstfallen. Von den wüst gefallenen Dörfern sind Spuren des Ackerbaus haben sich nur die Ortsnamen häufig, sei es schriftlich unter Wald erhalten, und zwar als Lese- oder mündlich, als Flur- oder Waldbe- steinhaufen bzw. -reihen und als Wölb- zeichnungen lebendig geblieben. So sind äcker. Die Lesesteinreihen markieren bei den in der Karte aufgeführten „Alten einstige Feldgrenzen; sie sind die einzi- Dorfstellen“ zusätzlich Flurnamen wie gen Zeugen eines Flachackerbaus, der „Lemmshäuser Hellbrink“, „Marsfeld in sich sonst nicht nachweisen lässt. Die der Zwehr“, „Im Bonnekenhausen“ oder häufiger vorkommenden Wölbäcker sind „Werxhäuser Anger“ bekannt. Die exakte langgestreckte gewölbte Beete von 12 Lokalisierung ihrer ehemaligen Ortslagen bis 18 m Breite und 10 bis 30 cm Scheitel- ist unproblematisch, wenn bauliche Reste höhe. Sie gehen auf eine bestimmte vorhanden sind. Sie sind aber nur von ei- Technik des Pflügens zurück. Ihr Vorteil ner Kirche bzw. Kapelle zu erwarten oder war u. a. der, dass die Feldstruktur wäh- von einer Orts- oder Kirchhofbefesti- rend der eingeschalteten Brache erhalten gung. Während Letztere bisweilen aus ei- blieb. Botanische Untersuchungen haben ner Mauer bestand, waren die übrigen ergeben, dass alle vier Getreidearten an- wie auch die Ortsbefestigungen aus Wall gebaut wurden. Die Art der Bewirtschaf- und Graben, wobei der Wall durch eine tung war das Feldwechsel-System mit Hecke noch unüberwindbarer gemacht Sommer- und Winterfeld sowie Brache. Die mittelalterliche ländliche Kulturlandschaft und ihr Wandel 63

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1 Alte Dorfstelle Kl. Thiershausen 4 Alte Dorfstelle Totenhausen 2 Alte Dorfstellt Lemmeshausen 5 Alte Dorfstelle Bönnekenhausen 3 Alte Dorfstelle Werxhausen 6 Alte Dorfstelle Marsfelde 7 Wüstung Ecker

Die Wüstungen in der Gemarkung Gieboldehausen

Zur Zeit der maximalen Ausdehnung ser vielfältigen Nutzung hatte er einen der Ackerflächen war der Wald, von we- lichten gehölzartigen Charakter. nigen Ausnahmen abgesehen, weit zu- rückgedrängt, und zwar auf steile, nicht Die Orte waren durch Wege mitein- beackerungsfähige Hänge. Er musste ander verbunden. Sie waren unbefestigt. Bau-, Brenn- und Nutzholz liefern, außer- Der überregionale Verkehr bewegte sich dem trieb man Rinder und Schweine zur auf Fernstraßen. Sie orientierten sich an Hute und Mast in den Wald. Infolge die- den Städten. Auch sie waren Naturwege. 64 Die mittelalterliche ländliche Kulturlandschaft und ihr Wandel

Ihr Verlauf lässt sich nur streckenweise deutung. Reste ihrer Wälle und Gräben genau rekonstruieren. Direkte Zeugen finden sich unter Wald, die Warten sind sind z. B. Hohlwege, die sich an Steil- bis auf wenige abgebrochen worden. strecken oder unter Wald erhalten haben. Markante Punkte in ihrem Verlauf waren In der Zeit zwischen 1300 und 1450 die Durchlässe in den Landwehren. fielen fast zwei Drittel der Orte wüst. Die Ursachen dafür sind recht unterschied- Die Landwehren sind Einrichtungen lich. So wurde bei einer gewaltsamen der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts. Sie Zerstörung der gesamte Ort aufgegeben, wurden an landesherrlichen Gebiets- z. B. während einer Fehde. Diese Situati- grenzen angelegt, vor allem aber umga- on war bevorzugt im Bereich von Terri- ben sich die Städte mit ihnen als Aus- torialgrenzen gegeben, im Unteren Eichs- druck ihrer erstarkenden Macht. Sie be- feld zwischen der Landgrafschaft Hessen, standen entweder aus einer dichten He- Kurmainz und dem welfischen Territori- cke oder aus einem ein- oder mehrfachen um. Der normale Vorgang des Wüstfal- Wall-Graben-System. Die Wälle waren zu- lens war der, dass nach und nach einzel- sätzlich mit einer undurchdringlichen He- ne Höfe verlassen wurden. Die Leute zo- cke, dem Knick, bestockt. Die Durchlässe gen in benachbarte größere Orte um. sperrte man durch Schlagbäume. Wichti- Von dort aus bewirtschafteten sie ihre ge Durchlässe waren zusätzlich durch Felder weiter. Dieser Vorgang lässt sich Warten gesichert. Die Landwehren er- am Beispiel von Gieboldehausen aufzei- möglichten in friedlichen Zeiten eine gen. Dort gab es bis in das 19. Jahrhun- Kontrolle des Fernhandelsverkehrs. Sie dert hinein sog. „Erbschaften“ (Werxhäu- verhinderten das Eindringen räuberischer ser, Marsfelder, Ecker-Erbschaft), das wa- Horden, wie umgekehrt auch ein Ausbre- ren Gemeinschaften, deren Flurbesitz in chen des Viehs. In der fehdereichen Zeit den entsprechenden Wüstungsgemar- des Spätmittelalters bildeten sie ein wirk- kungen lagen. sames Hindernis bei plötzlichen Überfäl- len. Ab dem 16. und verstärkt im 17. Jahr- Auffallend häufig finden sich unter hundert verloren die Landwehren ihre Be- den Wüstungen Orte mit der Ortsnamen-

Wüstung Dodenhusen bei Gieboldehausen. Graben und Wall der ehemaligen Kirchhof- befestigung. Die mittelalterliche ländliche Kulturlandschaft und ihr Wandel 65 endung -rode oder -hagen. Sie sind Sied- ren die Städte wegen ihrer höheren Ein- lungen, die erst zwischen 1000 und 1200 wohnerdichte und der schlechten hygie- gegründet worden sind, und zwar in den nischen Verhältnisse stärker betroffen als damals noch bewaldeten, stark reliefier- die Landbevölkerung. Für sie wiederum ten Gebieten. Sie waren für den Acker- verschlechterte sich durch den Preisverfall bau sehr ungünstig, dementsprechend ihrer Produkte die agrarökonomische Si- stark waren sie von bodenerosiven Pro- tuation. Die Folge war, dass eine Land- zessen betroffen. flucht einsetzte („Stadtluft macht frei“). Die Städte boten ihnen mehr Schutz und Für die Orte im Altsiedelland, z. B. um persönliche Freiheit. Gieboldehausen, können dies nicht die Ursachen gewesen sein. Eine nicht uner- Nur wenige Orte sind später wieder hebliche Rolle haben Seuchen gespielt, aufgesiedelt worden. Aber auch Einzel- besonders die Pest. Von dem durch sie höfe, z. B. Herbigshagen, nehmen den verursachten Bevölkerungsrückgang wa- Platz ehemaliger Wüstungen ein. 66 Geschichte einer Grenzlandschaft Peter Aufgebauer

Das Hochmittelalter: und Mark Duderstadt wurden im frühen 13. Jahrhundert die Landgrafen von Thü- Königtum und Kirche ringen aus der Linie der Ludowinger be- Die Landschaft, die uns in den Schrift- lehnt, die allerdings bald darauf im Jah- quellen seit dem späten Mittelalter unter re 1247 mit Heinrich Raspe ausstarben. der Bezeichnung „Eichsfeld“ begegnet, Dieser Lehnsheimfall ereignete sich gera- tritt im 10. Jahrhundert erstmals in den de in der ersten Expansionsphase des Bereich der urkundlichen Überlieferung. 1235 als Reichsfürstentum begründeten Bezeichnenderweise sind es die beiden welfischen Herzogtums Braunschweig- späteren Hauptorte, Heiligenstadt im Lüneburg unter Herzog Otto I., genannt Obereichsfeld und Duderstadt im Unter- „das Kind“. Dieser ließ sich nun vom eichsfeld, deren Namen zuerst genannt Quedlinburger Stift mit Duderstadt und werden: Duderstadt begegnet uns dem zugehörigen Umland belehnen und erstmals im Jahre 929 in einer Urkunde verfügte fortan mit (Hann.) Münden, König Heinrichs I., dessen in Sachsen be- Göttingen, Duderstadt und Northeim heimatete Familie hier reich begütert über befestigte Plätze, die bereits städti- war. Damals übertrug Heinrich I. Besit- schen Charakter hatten. zungen in und um Duderstadt an seine Gemahlin Mathilde, zur Sicherung ihres Heiligenstadt ist urkundlich erstmals Lebensunterhalts im Falle seines vorzeiti- zum Jahre 993 genannt, und zwar an- gen Todes. Dieser Fall trat einige Jahre läßlich eines Aufenthalts Kaiser Ottos II. später, 936, tatsächlich ein, und Mathilde Ein befestigter Herrenhof der Mainzer sollte ihren Mann um mehr als dreißig Erzbischöfe auf dem heutigen Stiftsberg Jahre überleben. Als sie dann im Jahre bot den repräsentativen Rahmen für den 968 starb, gelangte der Besitz um Du- Aufenthalt des königlichen oder erzbi- derstadt, die später so genannte „Mark schöflichen Hofes; auch spätere Könige, Duderstadt“, wegen ihrer fruchtbaren so Otto III. und Friedrich Barbarossa, ha- Böden auch „Goldene Mark“ genannt, ben sich hier gelegentlich aufgehalten. an ihren Sohn, Kaiser Otto I. und danach Noch in der Phase der von Mainz ausge- an dessen Sohn, Kaiser Otto II. Dieser henden Missionierung des 9. Jahrhun- schenkte den Besitzkomplex an das derts wurde Heiligenstadt zum kirchli- Kanonissenstift St. Servatius in Quedlin- chen Zentrum; umfangreiche und bedeu- burg, in dessen Kirche sich die Grablege tende Reliquienübertragungen aus Heinrichs I. und Mathildes befindet. Mainz (die Heiligen Sergius, Martin, Bac- chus, Aureus, Justinus) machten den Ort Unter der Zugehörigkeit zum Qued- tatsächlich zur „Stadt der Heiligen“. Die linburger Stift entwickelte sich im späten beherrschende kirchliche Einrichtung am 12. und frühen 13. Jahrhundert der Ort Ort war das um 960 begründete Chor- zur Stadt im Rechtssinne. Der Quedlin- herrenstift St. Martin, das unter anderem burger Besitz im Duderstädter Umland im Jahre 1022 von Kaiser Heinrich II. mit befand sich in charakteristischer Gemen- Güterschenkungen bedacht wurde, und gelage mit Reichsgutkomplexen und das im Laufe der Zeit einen beachtlichen sächsischem Adelsbesitz; seit dem 11. Streubesitz im Eichsfeld übertragen be- Jahrhundert lassen sich die Immedinger kam. Für die Mainzer Erzbischöfe gehör- und die Grafen von Northeim, zwei Fami- te Heiligenstadt neben Nörten zu den lien des sächsischen Hochadels, sowie das nördlichen Vorposten ihres weltlichen Hildesheimer Michaeliskloster mit Besitz Herrschaftsbereiches, des „Erzstiftes“. auf dem Eichsfeld nachweisen. Die Äb- Von hier aus sollten dann seit dem 13. tissinen des Quedlinburger St. Servatius- Jahrhundert die Mainzer Erzbischöfe ei- stiftes haben ihren großen Streubesitz nerseits der in Konkurrenz zu ihnen ex- nicht durchweg selbst verwaltet. Mit Ort pandierenden welfischen Landesherr- Geschichte einer Grenzlandschaft 67 schaft Schranken setzen, während sie an- nächst das Kloster Reifenstein, begründet dererseits selbst versuchten, ihre Herr- im Jahre 1162 von den Grafen von schaft auszubauen und sie sowohl gegen Tonna-Gleichen, die bereits dreißig Jahre die Welfen als auch gegen die Landgra- zuvor in Volkerode bei Mühlhausen ein fen von Thüringen zu befestigen. Zisterzienserkloster gestiftet hatten. Eine Generation später, um 1200, riefen die Die vorstädtische Phase von Heiligen- Herren von Bodenstein das Zisterzienser- stadt und Duderstadt, das 12. Jahrhun- Frauenkloster Beuren ins Leben. Wie- dert, ist auch die Zeit der Klostergrün- derum zwei Generationen später folgte dungen auf dem Obereichsfeld. Das Stift die zu den Reichsministerialen zählende St. Martin war das ganze Mittelalter hin- Familie von Schieferstein mit der Grün- durch das maßgebliche geistige Zentrum dung des Zisterzienser-Frauenklosters des Eichsfeldes. Es trug aber auch erheb- Breitenbich, das zunächst durch die Wir- lich zur wirtschaftlichen Entwicklung bei, ren des thüringischen Erbfolgekrieges indem es an mehr als 50 Orten einen wei- gefährdet war und nach Anrode verlegt ten, ihm durch Schenkungen übertrage- wurde. nen Streubesitz verwaltete und kultivier- te. Mit Heinrich von Rusteberg wurde im Von Beuren aus wurde um 1260 auf 13. Jahrhundert sogar ein Heiligenstädter dem Territorium - und das heißt: mit Zu- Propst auf den Bischofsstuhl von Hil- stimmung - der Äbtissin von Quedlinburg desheim erhoben. das Zisterzienser-Frauenkloster Teistun- genburg ins Leben gerufen, ihm folgte Dem Stift traten seit dem späten 11. Anfang des 14. Jahrhunderts das Zisterzi- Jahrhundert die Ordensklöster an die Sei- enser-Frauenkloster Worbis als Gründung te, als erstes das vor dem Jahre 1100 be- der Grafen von Beichlingen. gründete Benediktinerkloster Gerode. Seine Stifter stammten aus dem sächsi- Die Mainzer Erzbischöfe bestätigten schen Hochadel, aus der Familie der Gra- diese Gründungen nicht nur, sondern för- fen von Stade, die mit der Königsfamilie derten sie ihrerseits, indem sie den regio- der Liudolfinger eng verwandt war. Der nalen Adel zu reichen Schenkungen an diesem Kloster durch Schenkungen über- die Klöster aufriefen, denn Gründung tragene Besitz erstreckte sich über das und Förderung von Klöstern sind fromme Eichsfeld hinaus bis nach Bleicherode, Taten. Sondershausen und Langensalza. Eben- falls zum Benediktinerorden gehörte das Es sind aber, nach mittelalterlichem um 1175 westlich von Mühlhausen ge- Verständnis, zugleich fromme Taten, die gründete Kloster Zella, ursprünglich sich auszahlen; denn mit ihnen fördert vielleicht eine von Fulda oder Hersfeld man zugleich das eigene Seelenheil, weil ausgehende Filialgründung, zu der die die Mönche und Nonnen der Klöster re- Herren von den Grund und gelmäßig für die verstorbenen Angehö- Boden gestiftet hatten. rigen der Gründerfamilie und die Wohl- täter des Konvents beten. Daneben sind Stärker aber als von den Gründungen aber mit der Klostergründung auch di- des Benediktinerordens ist das Eichsfeld rekt meßbare Vorteile verbunden: eine vom Ordenszweig der Zisterzienser ge- Verbreitung handwerklicher, technischer, prägt worden, der im frühen 12. Jahr- bautechnischer Kenntnisse im Zusam- hundert in Burgund als Reformbewe- menhang mit der Errichtung des ummau- gung aus dem damals schon mehr als ein erten Klosterbezirks, insbesondere bei halbes Jahrtausend alten Benediktineror- Steinbearbeitung, Steintransport, Wege- den herausgewachsen war; eine dynami- bau, Holzbearbeitung, Gerüstbau, Werk- sche, insbesondere auf den Adel unge- zeugherstellung, Architektur, Statik. Das- wöhnlich attraktiv wirkende geistige Be- selbe gilt im Zusammenhang mit dem Be- wegung, die einen so starken Zuspruch treiben von Mühlen (Wasser- und Wind- erfuhr, daß innerhalb von nur zwei Gene- mühlen) sowie dem Gartenbau; ebenso rationen mehr als 500 Klöster nach der dienen die Klöster der Verbreitung land- Zisterzienser-Regel gegründet werden wirtschaftlicher Kenntnisse durch eine konnten. Auf dem Eichsfeld war dies zu- planvolle Verbesserung der Bewirtschaf- 68 Geschichte einer Grenzlandschaft tung der dem Kloster übertragenen Län- Herstellung von Pergament, Farben, Tin- dereien, es gibt Verbesserungen in Acker- ten, Schreibgerätschaften, Textilien. bau und Viehzucht. Hinzu kommt die Schließlich pflegen die Klöster christliche Verbreitung künstlerisch-kunsthandwerk- und antike Bildungsinhalte, ferner la- licher Kenntnisse und Fertigkeiten: die teinische Sprachkenntnisse, zusammen

Die Entwicklung der Mainzer Landesherrschaft auf dem Eichsfeld. Geschichte einer Grenzlandschaft 69 mit der Verbreitung und Kultivierung des mühungen der Landgrafen von Thürin- Prinzips der Schriftlichkeit, sowie kirchli- gen bzw. der Landgrafen von Hessen als che und weltliche Rechtskenntnisse. Das ihren Nachfolgern im Süden und Südwes- Kloster ist die maßgebliche, häufig die ten, der Herzöge von Braunschweig- einzige Bildungseinrichtung der Region, Lüneburg im Westen. Die rechtliche seine Vorsteher können nützliche politi- Schutzherrschaft über das Zentrum Hei- sche und geistliche Berater sein. Das je- ligenstadt wurde im Auftrag der Erzbi- dem Kloster angegliederte Hospital ist in schöfe von ‘Vögten’ wahrgenommen; in der Regel zumeist die einzige größere dieser Funktion begegnen uns Angehöri- Einrichtung der Armenpflege und Beher- ge des regionalen Adels, wie die Grafen bergung von Reisenden; es ist zugleich von Lutterberg, zeitweise auch der säch- ein Zentrum der Heilkunde und der mit sische Herzog Heinrich der Löwe. Von ihr verbundenen Naturkenntnisse (Pflan- Heiligenstadt aus erfolgten der Ausbau zen, Tinkturen, Medikamente). Der dem und die Sicherung der Mainzer Herr- Kloster oftmals angegliederte Markt ist schaft mittels einer planvollen Burgen- ein wichtiger Beitrag zur Verbesserung politik: Spätestens im frühen 12. Jahr- der wirtschaftlichen Infrastruktur eines hundert erwarben die Erzbischöfe den Herrschaftsgebietes. Rusteberg westlich von Heiligenstadt und bauten ihn zum befestigten Herrschafts- Die älteren Klöster wurden rund 100- sitz aus. Hier amtierte ihr Stellvertreter 150 Jahre, bevor Orte wie Duderstadt für das Eichsfeld und die Mainzer Besit- oder Heiligenstadt sich zu regelrechten zungen im angrenzenden Hessen, der Städten entwickelten, ins Leben gerufen. Vize-Dominus (Vicedom, Viztum). Gleich- Man kann sich leicht ausmalen, in welch zeitig gebot er über den am frühesten hohem Maße die kirchliche, kulturelle geschlossenen und größten Verwaltungs- und wirtschaftliche Entwicklung des distrikt, das Amt Rusteberg, zu dem 16 Eichsfeldes außer durch die städtischen Dörfer gehörten; seit dem 13. Jahrhun- Siedlungen und außerhalb der Städte dert hatten verschiedentlich Angehörige durch die Klöster geprägt und gefördert der Familien von Hanstein, von Harden- worden ist, wenn man sich die Anzahl berg, von Uslar dieses Amt inne. der Orte vergegenwärtigt, in denen die Ebenfalls im frühen 12. Jahrhundert er- Klöster Besitz hatten: Das Martinsstift in wirbt der Mainzer Erzbischof das Heiligenstadt hatte Besitz an 72 Orten, Klostergericht Gerode mit den zugehöri- Kloster Gerode an 68 Orten, Reifenstein gen sechs Dörfern, östlich von an 96, Zella an 32, Beuren an 67, Anrode Duderstadt gelegen. Wenige Jahre später an 40 Orten, Teistungenburg an 43 und folgt der Erwerb der Burg Harburg und Worbis an 15 Orten. Hinzu kommt der der Ausbau des zugehörigen Besitzkom- ebenfalls sehr reiche Streubesitz des plexes zum Amt Harburg. Burg und Ge- Quedlinburger Stiftes, der sich auf mehr richt Hanstein im Südwesten des Eichs- als 80 Orte erstreckt, davon allein 36 auf feldes erlangte Erzbischof Siegfried II. dem Untereichsfeld. von Eppstein im frühen 13. Jahrhundert aus der Verfügungsgewalt des welfischen Kaisers Otto IV., der auf politische Unter- stützung durch den Erzbischof im stau- fisch-welfischen Thronstreit hoffte. Damit Unter der Landesherrschaft war der Mainzer Besitz zur Werra und der Braunschweiger Herzöge gegen den Einflußbereich der ludowin- und des Mainzer Erzbischofs gischen Landgrafen von Thüringen hin gesichert. Die Herausbildung des „mainzischen“ Eichsfeldes als einer einigermaßen ge- Eine wesentliche Erweiterung des schlossenen Landesherrschaft begann im Mainzer Herrschaftsbereiches und eine 11. Jahrhundert und erstreckte sich, kei- Arrondierung der bisher nicht zusam- neswegs geradlinig verlaufend, bis an menhängenden Besitzkomplexe bringt das Ende des Mittelalters. Und sie erfolg- das Jahr 1294: Erzbischof Gerhard II. von te in Konkurrenz zu vergleichbaren Be- Eppstein kaufte dem Grafen Heinrich von 70 Geschichte einer Grenzlandschaft

Gleichen, genannt von Gleichenstein, Duderstadt mit dem zugehörigen Gericht und den Herren Hermann und Albert sowie die Hälfte des Gerichts zu Berns- von Lobdeburg die Burgen Gleichenstein, hausen am Seeburger See an den Erz- Scharfenstein und Birkenstein zusammen bischof von Mainz, der wegen strittiger „mit dem ganzen Land, das auf deutsch Wahl damals durch den Erzbischof Eichsfeld (Eychesvelt) genannt wird“, ab. Balduin von Trier vertreten wurde; die Der Erwerb umschließt alle zugehörigen Pfandsumme betrug 600 Silbermark, Besitzungen, Herrschafts- und Nutzungs- mehr als das Zehnfache der jährlichen rechte - erkennbar sahen sich die Grafen Steuern, die Duderstadt den Herzögen zu von Gleichen aus finanzieller Not zu die- zahlen hatte. Zuvor hatte Heinrich den sem Verkauf genötigt. Anteil seines Bruders Ernst pfandweise übernommen, um überhaupt die erfor- Weitere wichtige, die Mainzer Herr- derliche Manövriermasse für dieses Ge- schaft ausdehnende Erwerbungen erfolg- schäft in die Hand zu bekommen. Einen ten im 14. Jahrhundert: Im Süden gelangt weiteren Anteil am gemeinsamen Besitz die Burg Stein, später ‘Bischofsstein’ ge- behielt der jüngere Bruder Wilhelm. nannt, über die Herren von Hardenberg aus ehemals thüringischem in erzbischöf- Die Verpfändung von 1334 erfolgte lichen Besitz; das später dieser Burg zu- mit der Maßgabe, dass dem Herzogspaar geordnete Amt umfasste rund ein Dut- eine Leibrente von 50 Mark jährlich ga- zend Dörfer. Und nordöstlich von Hei- rantiert werde und dass frühestens nach ligenstadt gelangte das Gericht Western- Ablauf von zwei Jahren die Pfandobjekte hagen an Mainz. wieder ausgelöst werden können, wobei die Auslösung ein halbes Jahr zuvor an- Ebenfalls infolge Geldnot gelangte gekündigt werden mußte. Dazu ist es dann zwischen 1334 und 1358 schrittwei- aber nie mehr gekommen. Mit dieser se die Goldene Mark von den welfischen Verpfändung hatten die Grubenhagener Herzögen von Braunschweig-Lüneburg Herzöge die aus ihrer Herrschaft über aus der Linie Grubenhagen an Mainz: große Teile des Untereichsfeldes fließen- 1334 versetzte zunächst Herzog Heinrich den regulären Einnahmen zunächst auf II. von Grubenhagen gemeinsam mit sei- längere Sicht halbiert. Aber nicht nur an ner Frau Hedwig die Hälfte der Burg zu den Einnahmen, sondern auch an allen Gieboldehausen, die Hälfte der Stadt hoheitlichen Rechten über Duderstadt und Gieboldehausen ist der Mainzer Erz- bischof fortan als Pfandinhaber zur Hälf- te beteiligt. In seiner Vertretung hat in- folgedessen Balduin von Trier auch sogleich Duderstadt in seinen Schutz ge- nommen und seinerseits die Privilegien der Stadt bestätigt. Den bisher noch nicht verpfändeten Anteil Wilhelms von Grubenhagen er- warb das Erzstift Mainz dann wenige Jahre später, 1336, ebenfalls als Pfand. Hierbei läßt sich interessanterweise beo- bachten, daß die Stadt Duderstadt dem Mainzer Erzbischof 150 Silbermark zur Pfandsumme vorschoß; ihr war offenbar daran gelegen, aus dem finanziell und wirtschaftlich ärmlich wirkenden welfi- schen Fürstentum Grubenhagen zu ent- kommen. Im Jahre 1342 ging die Veräußerung Siegel der (welfischen) Stadt Duderstadt des Untereichsfeldes weiter: Erneut wur- an einer Urkunde von 1338 de ein Drittel von Duderstadt sowie Geschichte einer Grenzlandschaft 71

Der „Verkaufsgegen- stand“, Rat und Bürgerschaft von Duderstadt, hat aller- dings nicht protestiert. Denn ein verschuldeter Landesherr bot keine sichere Gewähr mehr für stabile Verhältnisse und Frieden im Lande. Und der Erzbischof von Mainz nahm als Erzkanzler des Heili- gen Römischen Reiches deut- scher Nation einen viel be- deutenderen Rang ein als der Grubenhagener Herzog. Un- ter Mainzer Schutz boten sich für die Duderstädter Fern- handelskaufleute neue und aussichtsreiche Möglichkei- ten. Und als der Erzbischof im Jahre 1358 das letzte, ebenfalls zeitweise schon ver- pfändete Drittel von Duder- stadt von den Grubenhagen- er Herzögen aufkaufte, ge- lobten Rat und Bürgerschaft auch für dieses Drittel dem Erzbischof Gefolgschaft und Gehorsam. Damit war 1358 Der Mainzer Erzbischof Heinrich von Virneburg bestä- der schrittweise Erwerb der tigt 1342 die Privilegien der Burgmannen zu Giebol- Mark Duderstadt durch dehausen und der Stadt Duderstadt. Mainz abgeschlossen. Grubenhagen war das ein- wiederum die Hälfte von Gieboldehau- zige welfische Fürstentum, das durch ver- sen nebst anderem Besitz an den Main- hältnismäßig umfangreiche Gebietsver- zer Erzbischof übertragen, jetzt aber käufe einen dauernden Verlust hinneh- nicht mehr pfandweise, sondern im We- men mußte; seine wirtschaftlich schwa- ge des förmlichen Verkaufs; „aus be- che Stellung spiegelt sich in den Finanz- kannter leiblicher Not“, wie die herzogli- geschäften wider: Mehr als 50 Verpfän- che Urkunde ausdrücklich angibt. dungen durch die Herzöge sind nach- weisbar, aber nicht eine einzige Pfand- nahme. Rechtlich gesehen war dieser Verkauf an den Mainzer Erzbischof illegal, denn Die letzte Erwerbung erfolgte schließ- Duderstadt gehörte ja den Welfen nicht lich im 15. Jahrhundert nördlich an das als Eigengut (Allod), sondern war ihnen Amt Gieboldehausen anschließend: 1434 nur lehnsweise vom Quedlinburger St. übertrug der Hildesheimer Bischof Mag- Servatius-Stift übertragen worden. Dem nus von Sachsen-Lauenburg an Erzbi- Verkauf an den Mainzer Erzbischof hätte schof Dietrich von Mainz für einen Be- die Quedlinburger Äbtissin eigentlich zu- trag von 3500 Rheinischen Gulden pfand- stimmen müssen, aber sie wurde nicht weise die Hälfte der Burg Lindau. Dabei gefragt. Zwar protestierte im Oktober erfolgte gerade die teilweise Verpfän- 1343 die Quedlinburger Äbtissin Jutta dung an den Erzbischof nicht nur aus no- von Kirchberg gegen die von den torischer Geldknappheit des Hildeshei- Duderstädtern dem Mainzer Erzbischof mer Bischofs, sondern galt zugleich als geleistete Huldigung, doch blieb dieser ein geeignetes Mittel, ihrer beider politi- Einspruch ohne Folgen. sche Interessen hier in der Region gewis- 72 Geschichte einer Grenzlandschaft sermaßen zusammenzuzwingen und Zink und Zinn aus dem Handelsplatz weithin geltende und vereint auch Braunschweig, Zinn außerdem über Er- durchsetzbare Landfriedensgarantien zu furt aus Sachsen und Thüringen. Eisen gewährleisten. Der Mainzer Erzbischof brachten Fernhändler aus Westfalen her- tat dann aber einen entscheidenden bei. Das für den Guß von Geschützen be- Schritt in Richtung auf eine institutionali- nötigte Kupfer wurde aus dem thüringi- sierte Verwaltung des Lindauer Pfand- schen Arnstadt importiert. Aus den Kü- besitzes: Er setzte hier einen besonderen stenstädten führte man Seefisch ein, aus Amtmann ein, der die geistlichen und Lüneburg Salz, aus Friesland und aus weltlichen Bewohner, die Klöster, Ge- Stade Pferde. Im Gegenzug exportierte folgsleute, Burgmannen, Bürger, armen man aus dem Untereichsfeld Tuche, Woll- Leute und Hintersassen in diesem jetzt und Leinenerzeugnisse, sowie Duder- ausdrücklich als „Amt“ bezeichneten Be- städter Bier, das u.a. nach Sondershau- reich schützen sollte. Als erster Amtmann sen, Langensalza, Erfurt, Heiligenstadt, begegnet uns seit Ende 1437 der Edel- sowie an die welfischen Residenzen Mün- herr Otto V. von Plesse; dieser war zu- den und Herzberg verkauft wurde. gleich Domherr zu Paderborn und zu Hildesheim, und augenscheinlich bot er aus der Sicht des Erzbischofs die Gewähr für eine angemessene Interessenwah- Das konfessionelle Zeitalter rung im Hinblick auf die Zugehörigkeit des kleinen neuen Amtes Lindau zum und der frühneuzeitliche Staat Eichsfeld als Territorium des Mainzer Erz- Die Landesherrschaft des Mainzer Erz- stiftes. bischofs, die politischen und konfessio- nellen Verhältnisse auf dem Eichsfeld, wurden in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts schwer erschüttert: Die Duderstadt: von Martin Luther und seinen Anhän- Hauptort des Untereichsfeldes gern verbreitete neue Lehre fand aus dem benachbarten Kurfürstentum Sach- Für Duderstadt brachte der Übergang sen rasch Anhänger auch auf dem Eichs- an Mainz zunächst einen beachtlichen feld, vor allem beim Adel. Unter seinem Aufschwung. Dies zeigt sich einerseits in Schutz konnte sich der Protestantismus der Expansion in das Umland; sechzehn wirksam verbreiten, nicht zuletzt auch Dörfer geraten nach und nach unter den deshalb, weil die Reformation dem Adel bestimmenden Einfluß der Stadt. Der als geeignetes politisches Instrument er- weit vor das bewohnte Areal gezogene schien, um die Herrschaft des fernen Wall, baulich ebenso aufwendig wie fi- Mainzer Erzbischofs zu schwächen. In der nanziell, der großangelegte Ausbau der Tat haben die Erzbischöfe Albrecht von Kirchen und des Rathauses sind weitere Brandenburg (1514-1545) und Sebastian Belege, daß auch hier sich zunächst das von Heusenstamm (1545-1555) und ihre Sprichwort bewahrheitet hat: „Unter Amtsträger auf dem Eichsfeld, die erzbi- dem Krummstab ist gut leben“. Als schöflichen Kommissare in Heiligenstadt, Markt- und Handelsort stellte die Stadt der Ausbreitung des neuen Glaubens zu- eine wichtige Verbindung zwischen dem nächst mehr oder weniger tatenlos zuge- südlichen Niedersachsen und Thüringen sehen. So konnte der Vikar Johannes dar. Dementsprechend überwachte der Brandenburg seit den frühen zwanziger Rat den Handel auf dem städtischen Jahren des 16. Jahrhunderts in Duder- Markt und das produzierende Gewerbe stadt erfolgreich im lutherischen Sinne aufmerksam. Rohstoffe und manche predigen; auch wenn die Stadt nominell Handelsgüter mußten importiert werden; noch einige Jahrzehnte lang als katho- dazu gehörten das berühmte und teure lisch galt, war dennoch die Mehrheit der Einbecker Bier, auf dessen Verkauf hier Bevölkerung um die Jahrhundertmitte der Rat ein Monopol behauptete; ferner längst evangelisch geworden. So sah sich wurden Blei und Kupfer aus dem Harz dann schließlich 1559 der Stadtpfarrer eingeführt, Silber vom Rammelsberg, Nikodemus Veilmering, der noch katho- Geschichte einer Grenzlandschaft 73 lisch ordiniert worden war, gezwungen, Der eichsfeldische Adel und die Stadt nunmehr lutherischen Gottesdienst abzu- Duderstadt setzten diesem Bemühen halten; bis dahin waren die evangelisch hartnäckigen Widerstand entgegen; ein- gewordenen Bürger in nahegelegene zelne opferten ihr Leben, wie der fast thüringische Orte gegangen. siebzigjährige Barthold von Wintzinge- rode, der gefangengesetzt und 1575 in Zeitlich fiel die Verbreitung der neuen Mainz öffentlich enthauptet wurde. Zu Lehre zusammen mit den sozialen Unru- den ersten Opfern der Rekatholisie- hen des Bauernkrieges (1525), der im be- rungsbestrebungen zählten auch die Ju- nachbarten Mühlhausen und in Thürin- den. Seit rund zweieinhalb Jahrhunder- gen eines seiner Zentren hatte und vor ten waren in Duderstadt und Heiligen- allem das Obereichsfeld erheblich in Mit- stadt Juden ansässig, verfügten über Syn- leidenschaft zog. Zwar konnten sich agoge und Friedhof. Auf landesherrli- Duderstadt und Gerblingerode durch chen Befehl hatten die jüdischen Famili- Verhandlungen mit den bewaffneten en 1574 das Eichsfeld zu verlassen. Bauern vor Marodieren und Plünderung schützen, hatten als Gegenleistung aber Geld zu zahlen und Verpflegung zu lie- fern. Daraus leitete später der Mainzer Gefährdungen und Krisen: Erzbischof den Vorwurf ab, insbesondere Duderstadt hätte mit den Bauern pak- die Kriegszeiten des tiert und zwang die Stadt, ihm fünf Dör- 17. und 18. Jahrhunderts fer abzutreten, die Gilden aufzuheben, die Beweisurkunden für die städtischen Die Vorherrschaft des Luthertums in Freiheiten auszuliefern, desgleichen die Duderstadt wurde erst im 17. Jahrhun- schweren Geschütze. Diese „Albertinische dert, im Verlauf des Dreißigjährigen Krie- Ordnung“ von 1526, welche die Rechte, ges (1618-1648), zurückgedrängt. Diesen Möglichkeiten und Mittel Duderstadts grausamsten Krieg der frühen Neuzeit schwer beeinträchtigte, prägte, gewisser- bekam das Eichsfeld ab dem vierten maßen als ‘Grundgesetz’, die Geschicke Kriegsjahr besonders zu spüren: Herzog der Stadt über fast drei Jahrhunderte Christian von Braunschweig-Lüneburg, hinweg. evangelischer Bischof von Halberstadt, zog mit seinem Heer im Frühsommer Der Mainzer Erzbischof Daniel Bren- 1622 plündernd, mordend und zerstö- del von Homburg (1555-1582) leitete rend durch das Land. Unter den folgen- dann im Anschluß an eine Visitationsreise den militärischen Auseinandersetzungen durch das Eichsfeld im Jahre 1574 die Be- des „tollen“ (d.h. wildgewordenen) Her- mühungen um eine Rekatholisierung ein; zogs mit dem Feldherrn der Katholischen er war nach rund sechzig Jahren der ers- Liga, Johann Tserclaes von Tilly, hatten te Landesherr, der das Eichsfeld persön- Land und Leute vor allem in den Jahren lich aufsuchte - mit 300 Reitern im Gefol- 1623 und 1626 erneut schwer zu leiden; ge. In Heiligenstadt wurde ein Jesuiten- Seuchen und Hungersnöte waren die Fol- kolleg eingerichtet, dem insbesondere ge, die Pest verschärfte das Elend der Be- die erneute Verbreitung des katholischen völkerung. Mehr als 2000 Menschen star- Glaubens übertragen wurde. Zur Haupt- ben allein im Sommerhalbjahr 1626 an sache den Missionsbemühungen, dem ka- dieser Seuche, darunter auch etliche ritativen Einsatz und dem Schulwesen Jesuitenpatres, welche die Krankenpfle- des Jesuitenordens und vor allem der ge wahrnahmen. Es ist bezeichnend, daß Heiligenstädter Niederlassung ist es zuzu- das älteste auf dem Eichsfeld gedruckte schreiben, daß das mehrheitlich prote- Buch aus dem Jahre 1666 sich mit der Be- stantisch gewordene Eichsfeld im späten kämpfung der Pest befaßt; es stammt aus 17. und frühen 18. Jahrhundert zum Ka- der Feder des Arztes Dr. Henricus Wolf. tholizismus zurückkehrte. In der Schule des Heiligenstädter Kollegs sind während Eine schwere Belastung in Kriegszei- der zwei Jahrhunderte ihres Bestehen ten bedeuteten auch die Rekrutierungen insgesamt rund 5000 Schüler erzogen der unterschiedlichen Parteien, die ab- und ausgebildet worden. wechselnd die Region und den Hauptort 74 Geschichte einer Grenzlandschaft

Duderstadt besetzt hielten. Im Jahre 1632 wechselte allein in Duderstadt die Beset- zung sechsmal. Diese wechselnden Beset- zungen dauerten bis über den Westfäli- schen Frieden von 1648 hinaus an.

Die Friedensjahre der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ermöglichten einen raschen, wenn auch nur teilweise dauer- haften Wiederaufbau. Das Handelsnetz der Hanse, von dem insbesondere Duder- stadt über einen langen Zeitraum profi- tiert hatte, blieb zerstört und fand kei- nen brauchbaren Ersatz; eine besondere Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten lag darin, daß die überregionalen Frachtstraßen immer ausschließlicher durch das Leinetal liefen und das Eichsfeld mieden.

Der wirtschaftlichen Stagnation und dem ihr folgenden Rückgang der Bevöl- kerung sollte der um 1660 eingeführte Tabakanbau entgegenwirken. Wenn auch die in den Jahren 1681/82 erneut auftretende Pest vorübergehend einen schweren Rückschlag brachte, war der Abb. 4: Das Mainzer Rad mit Kurhut, Versuch doch auf längere Sicht erfolg- Schwert und Bischofsstab: der Sockel der reich: Der Tabakanbau blieb, auch über Mariensäule zu Duderstadt, 1711 gelegentliche Konjunkturschwankungen hinweg, bis in die Zeit um 1960 ein nen- nenswerter Wirtschaftsfaktor auf dem Eichsfeld.

Als territoriale Exklave des Erzstiftes Die territoriale Randlage ließ das Mainz befand sich das Eichsfeld nicht nur Eichsfeld und seine Bevölkerung immer geographisch, sondern auch zumeist poli- wieder zum Opfer der „großen Politik“ tisch in der Rolle einer Randexistenz; nur anderer Staaten werden. Das westlich be- besuchsweise und in großen zeitlichen nachbarte Kurfürstentum Hannover war Abständen suchten die Erzbischöfe als seit 1714 in Personalunion mit dem Kö- die Landesherren dieses Gebiet auf. Ent- nigreich England verbunden; infolgedes- sprechend groß war die Bedeutung der sen wurde es in die Konflikte, an denen hiesigen Amtsträger: der „Oberamtleute“ England beteiligt war, ebenfalls hinein- (seit 1732 „Statthalter“), der Amtleute gezogen. Im Jahre 1756 erwirkte König und der – adligen und klösterlichen – Ge- Georg II. eine gegen Frankreich gerichte- richtsherren. Als einziges der mainzischen te preußische Schutzgarantie für die wel- Territorien vermochte das Eichsfeld ein fischen Lande. Wenig später entschloss landständisches System auszubilden. Kle- sich der preußische König Friedrich der rus, Ritterschaft und Städte unter dem Große angesichts eines österreichisch- Vorsitz des Abtes von Reifenstein, seit französisch-russischen Bündnisses und 1732 alternierend mit dem Abt von Ger- alsbald folgender Kriegsvorbereitungen ode, nahmen als vornehmstes Recht die zum Präventivschlag. Neben Sachsen, Bewilligung der landesherrlichen Steuern Böhmen und Schlesien wurden auch der und Sonderabgaben wahr. Ebenso wirkten Süden des heutigen Niedersachsen und sie durch je zwei Assessoren pro Stand am die angrenzende Region zum Kriegs- Oberlandgericht für das Eichsfeld mit. schauplatz (1757 Schlacht bei Hastenbeck Geschichte einer Grenzlandschaft 75 südl. Hameln, 1759 Schlacht bei Minden, Rheines in der Auseinandersetzung mit 1761 Schlacht bei Langensalza). Das Un- dem revolutionären Frankreich erlitten tereichsfeld wurde hauptsächlich als Auf- hatten. Gemäß den Geheimvereinbarun- marsch- und Durchmarschgebiet, durch gen von Campoformio (17.10.1797) und wechselnde Einquartierungen, durch dem Vertrag von Lunéville (9.2.1801), Zwangsrekrutierungen und durch Plün- wonach der Rhein die deutsch-franzö- derungen seitens der verschiedenen sische Grenze bilden sollte, stand zu er- Kriegsparteien schwer in Mitleidenschaft warten, daß Preußen für seine links- gezogen: Im Frühjahr 1757 forderten zu rheinischen Verluste auf Kosten geistli- Duderstadt die Preußen von den Eichs- cher Territorien entschädigt werden feldischen Ständen Kontributionszahlun- würde. Dies bestätigte der am 24.3.1803 gen in Höhe von 130.000 Talern sowie als Reichsgrundgesetz verabschiedete 80.000 Taler für Getreide; im folgenden „Reichsdeputationshauptschluss“ unter Jahr erpreßten Hannoveraner und Hes- anderem in der Weise, dass das Erzstift sen 100.000 Taler. 1760 rekrutierten die Mainz als staatliche Einheit aufgehoben Hannoveraner zwangsweise 240 Mann und das besetzte Eichsfeld förmlich dem vom Untereichsfeld und 260 vom Ober- Königreich Preußen zugesprochen wurde eichsfeld. Duderstadt wurde 1761 ab- (§ 8 des Gesetzes). Wirtschaftlich bedeu- wechselnd von Franzosen und Hannove- teten diese Veränderungen einen Ein- ranern umkämpft und besetzt. Im Jahr bruch, denn gleichsam über Nacht gin- 1763 forderten preußische Husaren von gen die traditionellen Absatzgebiete der den Eichsfeldischen Ständen 600.000 Ta- Eichsfelder Textilienproduktion weitge- ler, 500 Pferde sowie einige tausend Mal- hend verloren. Allerdings hatte diese Re- ter Weizen; als Druckmittel drohten sie gelung nur für vier Jahre Bestand, denn mit allgemeiner Plünderung des Landes. nach der Niederlage bei Jena und Gemeinden und Privatleute mußten sich Auerstedt gegen Napoleon und dessen schwer verschulden, um diesen Forderun- Einmarsch in Berlin wurde Preußen im gen nachkommen zu können. Nach dem Juli 1807 im Frieden von Tilsit gezwun- Ende des Krieges war das Eichsfeld für gen, mehr als die Hälfte seines Territori- Jahrzehnte völlig verarmt, der Ge- ums, darunter alle Gebiete westlich der schichtsschreiber Johann Wolf summierte Elbe, somit auch das Eichsfeld, an Frank- 1792 die Zwangszahlungen auf rund 1,6 reich abzutreten. Preußen wurde auf we- Millionen Taler; noch länger als dreißig niger als die Hälfte seines Territoriums re- Jahre nach Kriegsende hatten viele Fami- duziert und hörte auf, eine Großmacht lien und Gemeinden an den Kriegsfolgen zu sein. Daraufhin hat Napoleon für sei- und den wirtschaftlichen Belastungen zu nen Bruder Jérome das sogenannte Kö- tragen. nigreich Westphalen mit der Residenz in Kassel etabliert. Das Eichsfeld wurde dem Harz-Departement des neu gebildeten Königreichs eingegliedert.

Das Ende der Mainzer Herrschaft Das geteilte Eichsfeld des Noch ehe sich das Land erholt hatte, Wiener Kongresses 1815 und kamen erneut politisch unruhige Zeiten: die Vereinigung unter Am 3. August 1802 wurde Duderstadt preußischer Herrschaft 1866 von preußischen Truppen besetzt, wenig später war das gesamte Eichsfeld in preu- Nach den erfolgreichen Befreiungs- ßischer Hand. Diese militärische Aktion kriegen gegen Napoleon (1813-1815) war war widerrechtlich; sie erfolgte aus preu- bei der Neuordnung Mitteleuropas durch ßischer Sicht im Vorgriff auf die zu erwar- den Wiener Kongreß und die Pariser Ver- tende Regelung, dass die deutschen Fürs- träge auch das Eichsfeld Verhandlungs- ten für die territorialen Verluste ent- gegenstand: Es wurde nunmehr zwischen schädigt werden sollten, die sie links des dem Königreich Hannover (Untereichs- 76 Geschichte einer Grenzlandschaft feld) und dem Königreich Preußen (Ober- des Untereichsfeldes zum Königreich eichsfeld) aufgeteilt. Gemäß den Wiener Hannover wurde es 1824 durch die Bulle Vereinbarungen vom 29.5.1815 erließ am „lmpensa Romanorum Pontificum“ Papst 16.12.1815 in Hannover der Prinzregent Leos XII. dem Bistum Hildesheim zuge- Georg (IV.) ein „Patent wegen der Besitz- ordnet. Seither nahm ein vom Hildes- nahme der Ämter Lindau, Giebolds- heimer Bischof eingesetzter „Kommis- hausen und des Gerichts Duderstadt“. sarius des diesseitigen Eichsfeldes“ das Darin heißt es: „Wir übernehmen dem- Amt wahr. Häufig wurden Duderstädter nach hiermit und in Kraft dieses Patents Pfarrer mit dieser Aufgabe betraut. Zu die Regierung besagter Ämter und Ge- den Pflichten und Befugnissen des richts, und indem wir uns die Ableistung Kommissarius gehörten die Visitationen der förmlichen Lehnshuldigung vorbehal- der Pfarreien, die Disziplinar-Aufsicht, die ten, wollen und begehren Wir gnädigst Leitung der kirchlichen und Schulan- von den gesammten Unterthanen und gelegenheiten, insbesondere auch die Einwohner der besagten Ämter und Ge- Aufsicht über die Erziehungs- und Pen- richts, weß Standes und Würde sie auch sionsanstalten im Duderstädter Ursuli- sein, daß sie von nun an, Uns als ihren al- nenkloster. Das Obereichsfeld hingegen leinigen Landesherrn anerkennen und gehörte fortan zum preußischen Bistum Uns, Unsern Erben und Nachkommen, Paderborn. treu, hold und gewärtig sein sollen...“ Dieses im Jahre 1815 begründete wel- fische Königreich hatte nur ein halbes Bescheidene Industrialisierung Jahrhundert Bestand: Im Deutschen Krieg von 1866 zwischen Preußen und Öster- Von der Industrialisierung des 19. reich stand das Königreich Hannover auf Jahrhunderts und dem Aufschwung der österreichischer Seite. Nach der Schlacht Gründerjahre profitierte das ländlich ge- bei Langensalza (27./29.6.1866) mußte prägte Eichsfeld weniger als viele andere Hannover kapitulieren und König Georg Regionen; Abwanderung, durch Armut V. ins österreichische Exil gehen. Preußen und Arbeitsmangel bedingt, sowie weit annektierte das Königreich Hannover als verbreitete Wanderarbeit von Männern nunmehr preußische Provinz Hannover. und Frauen sind geradezu sprichwörtlich Ein preußisches Gesetz vom 20.9.1866 für die Eichsfelder geworden: als Saison- verkündete: „ § 1. Das Königreich Hanno- arbeiter in Konserven- und Zuckerfabri- ver, das Kurfürstenthum Hessen, das ken, als Bauhandwerker im Ruhrgebiet, Herzogthum Nassau und die freie Stadt in Berlin, in manchen ausländischen Frankfurt werden ... mit der Preußischen Großstädten, als Fabrikarbeiter in Webe- Monarchie für immer vereinigt...“ Damit reien, Stickereien und Spinnereien West- war das Untereichsfeld nach fünfzig- und Norddeutschlands waren Arbeiter jähriger Zugehörigkeit zum welfischen vom Eichsfeld eine charakteristische Er- Königreich nunmehr preußisch gewor- scheinung. Der wirtschaftlichen Randlage den. Die Grenze zwischen Unter- und entsprach es, dass erst verhältnismäßig Obereichsfeld, von 1815 bis 1866 wel- spät, in den achtziger und neunziger Jah- fisch-preußische Staatsgrenze, war nun ren des 19. Jahrhunderts, das Eichsfeld an Binnengrenze zwischen den preußischen das Eisenbahnnetz angeschlossen wurde. Provinzen Hannover und Sachsen. Damit zusammenhängend, brachte dann das Ende des 19. Jahrhunderts doch ein gewissen Aufschwung, ablesbar bei- spielsweise an einer Zunahme der Du- Neue kirchliche Zuständigkeiten derstädter Einwohnerschaft: Jetzt - erst - wurde die Bevölkerungszahl von 4000 Entsprechend den politischen Verän- Einwohnern, welche die Stadt um das derungen des 19. Jahrhunderts änderten Jahr 1400 gehabt hatte, wieder erreicht sich für das Eichsfeld auch die kirchlichen und bald auch übertroffen. Im allgemei- Zuständigkeiten, nämlich die Diözesan- nen aber blieb die Region weiterhin eher organisation und die Kompetenzen der im Schatten der wirtschaftlichen Entwick- Kommissarien: Infolge der Zugehörigkeit lung, Wanderarbeit blieb die charakteri- Geschichte einer Grenzlandschaft 77

Im Zeichen des Hakenkreuzes: Das Duderstädter Rathaus im Sommer 1933 stische Erwerbsform eines beträchtlichen stungspolitik wurden 1941 die Polte-Wer- Teils der Bevölkerung. ke in Duderstadt eröffnet. Die Region, überwiegend geprägt von einem tief ver- wurzelten Katholizismus, stand dem na- Nationalsozialismus und Krieg tionalsozialistischen Regime und seiner Ideologie reserviert bis stark ablehnend Erfolgreiche Bemühungen um die An- gegenüber; ebenso entschlossen wehrte siedlung von Industriebetrieben gab es die kleinere evangelische Gemeinde Du- dann erst in den dreißiger Jahren; im derstadts die Bestrebungen der mit den Rahmen der nationalsozialistischen Rü- Nationalsozialisten sympathisierenden 78 Geschichte einer Grenzlandschaft

„Deutschen Christen“ ab und wählte sich Leben im Schatten Pastoren, die der Bekennenden Kirche angehörten oder nahestanden. Unter des „Eisernen Vorhangs“ dem zunehmenden Druck des Regimes Die Ereignisse des Zweiten Weltkrie- rückten die katholische und die evangeli- ges ließen die Region und die Stadt Du- sche Gemeinde zusammen, gab es eine derstadt äußerlich weitgehend unzer- freundschaftliche rege Zusammenarbeit stört; dass die Stadt noch heute einen, zwischen Propst Ernst und Pastor Reh- freilich aufwendig restaurierten „mittel- kopf. alterlichen“ Eindruck macht und davon Im Unterschied zu den Nachbarstäd- touristisch beträchtlich profitiert, hängt ten Göttingen und Northeim, die früh re- allerdings auch unmittelbar mit der Hy- gionale Hochburgen der Nationalsoziali- pothek der Nachkriegszeit zusammen: sten waren, hatte die NSDAP in Duder- Geographisch und wirtschaftlich befand stadt auch bei den Novemberwahlen sich das Untereichsfeld bis zur deutschen 1932 und denen vom März 1933 nicht Wiedervereinigung in einer so stark be- mehr als ein Drittel der abgegebenen nachteiligten Randlage, dass staatliche Stimmen erhalten. Hilfsprogramme, die so genannte Zonen- randförderung, erforderlich wurden. Hier Wehrlos aber war die kleine jüdische gab es kein stark boomendes Wirtschafts- Gemeinde; zur Zeit der sogenannten wunder, das mit seinen baulichen Be- Machtergreifung gab es sechs jüdische gleiterscheinungen den idyllischen Ein- Familien, die ausschließlich vom Handel druck des Stadtbildes hätte verschandeln lebten. Als auch in Duderstadt, wie über- können. Im Zuge der Aufteilung Deutsch- all im Reich, in der Pogromnacht des 9. lands in Besatzungszonen der Sieger- November 1938 die Synagoge niederge- mächte war die im ländlichen Alltag brannt wurde, wohnten nur noch drei jü- praktisch nicht spürbare Verwaltungs- dische Familien mit insgesamt 15 Perso- grenze zwischen den preußischen Provin- nen in der Stadt; im März und Juli 1942 zen Hannover und Sachsen zur Demarka- wurden die wenigen noch hier lebenden tionslinie zwischen der englischen und jüdischen Einwohner in den Osten depor- der sowjetischen Besatzungszone gewor- tiert - keiner von ihnen kehrte zurück. den, die schließlich zu Zeiten der DDR

Die Grenze ist offen: Trabbi-Schlange im November 1989 Geschichte einer Grenzlandschaft 79 zum hermetisch geschlossenen, vermin- vember gegen 1 Uhr ging der Schlag- ten und mit Selbstschussanlagen gespick- baum hoch, um eine kilometerlange ten Grenzsperrsystem ausgebaut wurde. Trabbi-Schlange mit mehreren Tausend Die westlich dieser „Staatsgrenze West“ Einwohnern aus dem Obereichsfeld und lebenden Bewohner des Untereichsfeldes den benachbarten Kreisen Nordhausen lebten getrennt von zahlreichen ihrer und Mühlhausen durchzulassen. Am fol- Verwandten im Obereichsfeld und waren genden Wochenende (18./19. November) jahrelang am Besuch des größeren Teils wurden allein in Duderstadt 20000 und ihrer eichsfeldischen Heimat gehindert. 30000 Besucher gezählt; der Verkehr Erheblich belastender war aber das staute sich von der offenen Grenze bis zu Schicksal der Obereichsfelder, die von der 25 Kilometer nach Westen, bis nach nationalsozialistischen unter die kommu- Göttingen, und bis zu 50 Kilometer nach nistische Diktatur gelangt waren und als Osten, bis Mühlhausen. Katholiken besonders durch den staatlich verordneten Atheismus drangsaliert wur- Die Atmosphäre der ersten Tage der den. Erst der Grundlagenvertrag von Wiedervereinigung: Freudentränen, spon- tane Volksfeste, der Geruch der Trabbi- 1972 und der in seiner Folge eingerichte- te „Kleine Grenzverkehr“ über Duder- Zweitakt-Motoren, die zahlreichen Dank- stadt-Worbis brachte für die Einwohner gottesdienste, ist mit Worten kaum ange- der grenznahen Region verbesserte regu- messen wiederzugeben. Bezeichnend für läre Besuchsmöglichkeiten, machte den das Zusammengehörigkeitsgefühl der „Eisernen Vorhang“ ein wenig durchläs- Eichsfelder ist der vom Heiligenstädter Landrat Dr. Henning vorübergehend ver- sig. Das 1995 in den Gebäuden der ehe- maligen Grenzabfertigungsanlage einge- folgte Plan, Ober- und Untereichsfeld ad- richtete „Grenzlandmuseum Eichsfeld“ ministrativ zusammenzuschließen und erinnert eindrucksvoll an das Leben an das Obereichsfeld nicht dem neuen Bun- und mit der Grenze; ein Teil der origina- desland Thüringen, sondern dem „alten“ len Sperr- und Sicherungsanlagen infor- Bundesland Niedersachsen anzugliedern. miert und mahnt zugleich. Wer heute das Eichsfeld durchquert wird optisch nur noch an wenigen Stellen an die ein halbes Jahrhundert lang her- Wiedervereinigung metisch geschlossene Grenze erinnert. Weitgehend ist hier innerhalb weniger Die „Friedliche Revolution“ der DDR- Jahre tatsächlich - um den früheren Bun- Bürger erzwang im November 1989 die deskanzler Willy Brandt zu zitieren - „zu- Öffnung der Grenze auch an dieser Stel- sammengewachsen, was zusammenge- le; in der Nacht vom 10. auf den 11. No- hört“. 80 Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg Markus Krüsemann

Wirtschaftsgeschichtlicher der politischen Geschichte des Mittelal- ters. Sie begann damit, dass Mainzer Erz- Rückblick bischöfe etwa ab dem 10. Jahrhundert Die wirtschaftlichen Gegebenheiten ihren Herrschaftsbereich von zunächst der heutigen Region Eichsfeld sind nur ersten Besitzungen bei Heiligenstadt zu einem geringen Teil auf die natürli- durch Kauf, Tausch, Pfändungen und Stif- chen landschaftlichen Bedingungen zu- tungen stetig ausgeweitet hatten. Seit rückzuführen. Zum besseren Verständnis dem 16. Jahrhundert schließlich bildete der spezifisch eichsfeldischen Wirtschafts- das Eichsfeld als eigenständiges Fürsten- struktur ist daher ein kurzer Rückblick tum ein geschlossenes inselartiges Herr- auf die den Wirtschaftsraum prägenden schafts- und Wirtschaftsgebiet der Ereignisse der politischen und wirtschaft- Mainzer Kurfürsten. Während dieser Zeit lichen Geschichte hilfreich. erlebte die Region im Schnittpunkt wich- tiger mittelalterlicher Handelsströme Das Eichsfeld als eigenständige Regi- eine schon im 11. Jahrhundert beginnen- on und Wirtschaftsraum basiert anders de lang anhaltende wirtschaftliche Blüte- als etwa der benachbarte Harz nicht auf zeit in Handel, Handwerk und Landwirt- einer naturräumlich vorgegebenen Ein- schaft. heit. Die Region bestand ursprünglich aus einer Reihe von Marken und Gauen Im Zuge großräumiger wirtschaftli- ganz unterschiedlicher Landschaftstypen. cher Veränderungen verlagerten sich die Die Entstehung eines einheitlichen regio- Handelsströme, so dass die Region ab nalen Wirtschaftsraums ist ein Produkt dem 15. Jahrhundert langsam in eine ab-

Das Eichsfeld: Landwirtschaft und Industrie auf engem Raum Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg 81 seitige Lage geriet und an Bedeutung zwanzigjähriger Verspätung dem 1834 verlor. Erst im 17./18. Jahrhundert erlebte gegründeten Deutschen Zollverein bei- das Fürstentum Eichsfeld eine neuerliche trat. Zeit wirtschaftlichen Wohlstands. Der Aufschwung der Region fußte diesmal im Im gleichen Zeitraum zerstörte die wesentlichen auf der Blüte des damals Ausbreitung des aus England kommen- noch handwerklich betriebenen Textilge- den mechanischen Webstuhls und die werbes. Abgesehen von der Landwirt- wachsende Konkurrenz der Baumwolle schaft fand ein Großteil der eichsfeldi- die auf der handwerklichen Woll- und schen Bevölkerung ein Auskommen durch Leinenproduktion fußende wirtschaftli- die Ausfuhr von Textilprodukten, die über- che Basis des Eichsfeldes. Die Weber der all in den Dörfern in Form der Hauswe- Region verfügten weder über das Kapital berei und Spinnerei hergestellt wurden. noch über die erforderlichen Energie- quellen, um ihre Produktion ebenfalls zu Zu Beginn des 19. Jahrhunderts führ- mechanisieren. Nach dem Niedergang ten politische Veränderungen und eine des Textilgewerbes blieb der verarmen- mit der Industrialisierung eingeleitete den Bevölkerung als wirtschaftliche grundlegende Umwälzung des Produkti- Grundlage wiederum nur die Landwirt- ons- und Wirtschaftssystems zu einer er- schaft erhalten, die jedoch keine ausrei- neuten krisenhaften Abwärtsentwick- chende Existenzsicherung für alle bieten lung. konnte. Der Arbeitskräfteüberschuss führte schließlich zur Abwanderung be- Mit der Annexion des Eichsfeldes trächtlicher Teile der erwerbsfähigen Be- durch Preußen 1802 verlor die Region völkerung in die aufstrebenden Indus- ihre politische Selbständigkeit. Der Weg- triegebiete und nach Übersee sowie zu fall territorialer Beschränkungen und die einer lang anhaltenden Tradition saisona- Integration in einen erweiterten Wirt- ler Wanderarbeit. schaftsraum sorgten zunächst für eine deutliche Belebung der überregionalen Da die Landesherren Preußen und Wirtschaftsbeziehungen. Doch begann Hannover es in dieser entscheidenden schon bald eine die wirtschaftliche Ent- Entwicklungsphase versäumten, den wicklung nachhaltig behindernde Phase überfälligen Strukturwandel durch eine wechselnder politischer Herrschaft und gezielte Wirtschaftsförderung herbeizu- eine bis zum Ende des 20. Jahrhunderts führen (z.B. in Form von staatlichen Zu- andauernde Geschichte politischer Tei- schüssen für den Bau von Manufaktu- lungen der Region. War das Eichsfeld ren), blieb das Eichsfeld auch weiterhin zwischen 1807 und 1813 kurzzeitig dem ein landwirtschaftlich geprägtes Gebiet von Napoleon errichteten Königreich mit zusätzlicher handwerklicher Erwerbs- Westfalen zugeschlagen, so besiegelte basis und einer äußerst geringen Aus- der den Napoleonischen Befreiungskrie- breitung industrieller Fabrikation. gen folgende Wiener Kongreß die 1816 vollzogene erste politische Teilung. Die Die in Preußen weiter fortschreitende Aufteilung der Region auf zwei Staaten Industrialisierung ging im weiteren Ver- des Deutschen Bundes orientierte sich lauf zwar nicht völlig am Eichsfeld vorbei, dabei nicht an gewachsenen kulturhisto- doch erfaßte sie die Region mit Verspä- rischen oder wirtschaftlichen Strukturen, tung und in abgeschwächter Form. Die sondern war allein das Ergebnis eines wirtschaftlichen Fortschritte blieben auch machtpolitischen Aushandlungsprozes- deshalb gering, weil die Region mit Aus- ses. Die nun mitten durch das Eichsfeld nahme von Kalisalzen über keine weite- verlaufende Grenze zerstörte den bis ren Rohstoffe verfügte, die für den Auf- dahin relativ homogenen Wirtschafts- bau einer industriellen Produktion nötig raum und brachte erhebliche wirtschaftli- gewesen wären. che Nachteile, da die Staatsgrenze auch eine Zollgrenze zwischen den Regionen Der Aufbau einer industriellen Infra- markierte. Die damit verbundenen Han- struktur kam auch in der ersten Hälfte delsbeschränkungen fielen erst 1854 des 20. Jahrhunderts kaum voran. Indu- weg, als das Königreich Hannover mit striearbeitsplätze boten im bescheidenen 82 Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg

Das Gelände der Polte-Munitionswerke in Duderstadt: Heute ein Gewerbepark

Maße einige Werke der Textil- und der kehrsungünstigen Randlage zu leiden Zigarrenfabrikation, mehrere Ziegeleien, hat. und eine Chlorkaliumfabrik. Weitere Im Mittelalter profitierte das Eichsfeld Beschäftigungsmöglichkeiten bot die von einer günstigen Verkehrslage. Von Kaliindustrie, deren Schächte aber zwi- überregional bedeutenden Handels- und schen 1926 und 1931 fast alle wegen Frachtrouten durchzogen, war die Regi- mangelnder Rentabilität wieder geschlos- on ein wohlhabender Handelsraum. Zen- sen wurden. Es kann daher nicht verwun- trale Bedeutung hatte dabei die durch dern, dass zu Beginn der 1940er Jahre die Duderstadt führende „Thüringer“ oder Ansiedlung eines Zweigwerks der Mag- „Nürnberger Heerstraße“, eine aus Itali- deburger Polte-Werke, eines Unterneh- en über Augsburg, Nürnberg und Erfurt mens der Rüstungsindustrie, in Duder- kommende Handelsroute, deren nördli- stadt enthusiastisch begrüßt worden ist. che Verlängerung zu den damals wichti- Für die Bevölkerung bot die Munitionsfa- gen Handelszentren Braunschweig und brik dann allerdings nur wenige Arbeits- Lübeck und anderen Städten der Hanse plätze, da vor allem sog. „Fremdarbeiter“ führte. Neben dem Nord-Süd-Verkehr aus Ost- und Westeuropa und ab 1944 war auch die östliche Verbindung nach verstärkt ZwangsarbeiterInnen aus Kon- Thüringen und Sachsen von größerer zentrationslagern beschäftigt worden wirtschaftlicher Bedeutung für das Eichs- sind. feld. Die ungünstige wirtschaftliche Ent- Wirtschaftliche Strukturveränderun- wicklung des Eichsfeldes ist auch auf gen führten zu einem allmählichen Ver- bereits im Mittelalter einsetzende Verän- fall der norddeutschen Hanse und zu ei- derungen wichtiger Verkehrsrouten zu- ner wachsenden Bedeutung der Städte rückzuführen. Zusätzlich sorgte die Ver- Frankfurt und Leipzig. Als Folge verscho- kehrspolitik des Königreichs Hannover im ben sich im 15. Jahrhundert die Haupt- 19. Jahrhundert dafür, dass die Region verkehrsachsen, was sich vor allem in der bis heute unter den Nachteilen einer ver- Verlagerung des Nord-Süd-Handelsver- Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg 83 kehrs ins weiter westlich gelegene Leine- de Verkehrsverbindungen begann in der tal dokumentierte. Damit geriet das ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Eichsfeld erstmals in eine verkehrs- dem Ausbau bestimmter Verbindungswe- geographisch abseitige Lage, die zu ei- ge zu Durchgangsstraßen und Chaus- nem starken wirtschaftlichen Bedeu- seen. Die erste große Verbindungsstraße tungsverlust führte. Von überregionaler durch das Eichsfeld wurde 1826 in west- Bedeutung blieb allein eine Harzquerung östlicher Richtung fertiggestellt. Als Teil von Duderstadt über Nordhausen nach der von Berlin über Kassel nach Köln füh- Halberstadt und weiter nach Magdeburg. renden „Großen Rheinstraße“ verband Sie bildete auch im 17. und 18. Jh. noch sie Leinefelde und Heiligenstadt. Bis 1834 eine wichtige Poststraße der Achse Berlin dauerte der Ausbau der zweiten wichti- - Kassel. gen Verkehrsachse, der Nord-Süd-Verbin- dung als Chaussee von Mühlhausen über Die Industrialisierung löste im 19. Worbis und Duderstadt nach Katlenburg Jahrhundert ein starkes Wachstum der und Northeim. Im Verein mit der Verkehrsnetze aus. Das Eichsfeld konnte ebenfalls in den Rang einer Chaussee er- davon nicht profitieren, sondern geriet hobenen Verbindung von Heiligenstadt vollends in eine räumliche Randlage. nach Göttingen war damit das Grund- Schuld daran war weniger das verkehrs- muster für das überregionale Straßen- technisch unvorteilhafte hügelige Boden- netz im Eichsfeld geknüpft. In seinen profil, als der zunehmende Bedeutungs- Grundzügen blieb es bis 1945 bestehen. gewinnn der Nord-Süd-Verkehrsachse durch das weiter westlich gelegene Lei- Es mag paradox klingen, doch war es netal. Mitverantwortlich für diese Ent- gerade die Entstehung des Eichsfelds als wicklung war auch die damalige Ver- eines geschlossenen und nach außen ab- kehrspolitik des Königreichs Hannover, gegrenzten Herrschaftsgebiets, die schon das einen bevorzugten Ausbau der Leine- im ausgehenden Mittelalter einen ersten talachse anstrebte. Grundstein für die spätere Struktur- schwäche legte. Bis zur Annexion durch Diese Politik dokumentierte sich unter Preußen 1802 war das Eichsfeld über anderem im Bau des Eisenbahnnetzes. Jahrhunderte eine klar umrissene Exklave 1854 wurde zunächst eine Nord-Süd-Stre- des Mainzer Kurfürstentums. Als weit cke über Northeim und Göttingen eröff- von Mainz entfernt liegendes Herr- net. Für das zu Preußen gehörende obere schaftsgebiet war die Region von Territo- Eichsfeld sahen die Planungen günstiger rien anderer Landesherren umgeben, die aus. Die Region erhielt in den 1860er Jah- ebenso wie die Mainzer Bischöfe ihre ei- ren einen Schienenanschluß durch die gene Wirtschafts-, Handels- und Ver- Strecke von Kassel über Heiligenstadt kehrspolitik betrieben. So lassen sich am und Leinefelde nach Halle. Das (hanno- Beispiel des Eichsfeldes schon früh die versche) untere Eichsfeld wurde dagegen Nachteile eines von Grenzen und den da- erst 1889 und nur in Richtung Norden an mit verbundenen Restriktionen umgebe- das umliegende Eisenbahnnetz ange- nen Wirtschaftsraums aufzeigen. Diese schlossen. Die 1897 endlich fertiggestellte Grenzraumlage hat in unterschiedlichen Diagonale von Wulften über Duderstadt Konstellationen die wirtschaftliche Ent- nach Leinefelde stellte den Anschluß wicklung der Region bis in die heutige nach Süden her, blieb aber immer von Zeit beeinträchtigt. untergeordneter Bedeutung. Letztlich konnte die verspätete Errichtung eines Die auch gegenwärtig noch fortbeste- alle größeren Orte miteinander verbin- hende wirtschaftliche Strukturschwäche dendes Eisenbahnnetzes nichts daran än- des Eichsfeldes wurde dann vor allem dern, dass im beginnenden 20. Jh. bereits durch die ungünstige Raumentwicklung alle wichtigen Verkehrsströme vollends seit dem Zeitalter der Industrialisierung um das untere Eichsfeld herumführten. begründet. Wirtschaftliche Umwälzun- gen und politische Fehlentwicklungen Die Erschließung des Eichsfeldes für bildeten eine problematische Konstellati- den überregionalen Straßenverkehr und on, die zu einer Situation des blockierten der Anschluß an überregional bedeuten- Strukturwandels führte. Wesentlichen 84 Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg

Anteil daran hatte die politische Teilung ihr Hinterland und damit auch einen der Region, die grenzbedingte Wirt- wichtigen Teil ihres ökonomischen Ein- schaftsbeschränkungen hervorrief. Das zugsbereichs. Besonders hart traf es Du- Ausbleiben von Wirtschaftshilfen und po- derstadt. Das Versorgungszentrum des litisch bedingte Defizite bei der Verkehrs- unteren Eichsfeldes verlor die Verbin- anbindung sorgten zusätzlich dafür, dass dung zu zwanzig wirtschaftlich eng ver- das Eichsfeld als Region mit schlechten bundenen Dörfern. Standortbedingungen praktisch bis zu Beginn des Zweiten Weltkriegs keinen Weit schwerer wog jedoch die Ab- nennenswerten Industriebesatz aufwei- trennung der überregionalen Wirt- sen konnte. schaftsbeziehungen. Das westliche Unter- eichsfeld verlor seine traditionell bedeu- tenden Verbindungen zu den mitteldeut- schen Industriezentren und mußte sich Die Situation des geteilten neu nach Westen hin orientieren. Für das Eichsfeldes als Grenzgebiet östliche Obereichsfeld bedeutete die Ab- trennung sogar eine völlige Herauslö- Wie in vielen Teilen Deutschlands war sung aus dem gesamtdeutschen Wirt- auch die Wirtschaft im Eichsfeld nach Be- schaftsverbund und die Einpassung in das endigung des Zweiten Weltkrieges stark völlig anders geartete Wirtschaftssystem beeinträchtigt. Der wirtschaftliche Neu- der sozialistischen Staatswirtschaft. anfang wurde hier aber besonders er- schwert durch die früh sich abzeichnende Beiderseits der Grenze kamen in der Teilung Deutschlands. Bereits im Sommer unmittelbaren Nachkriegszeit noch wei- 1945 wurde die quer durch das Eichsfeld tere spezifische Belastungen hinzu. So litt verlaufende ehemalige Verwaltungslinie der Aufbau der eichsfeldischen Wirt- zwischen den Provinzen zur mit Absper- schaft in der Sowjetischen Besatzungszo- rungen versehenen Demarkationslinie ne (SBZ) unter den hohen Reparationslei- zwischen der britischen und sowjetischen stungen, die an die Sowjetunion abzu- Zone. Die beiden getrenntenWäh- führen waren. Im Westen dagegen stand rungsreformen im Juni 1948 und erst das Untereichsfeld vor der schweren Auf- recht die Gründung zweier eigenständi- gabe, die große Zahl von Flüchtlingen ger deutscher Republiken im Jahre 1949 und Vertriebenen aus den deutschen Ost- vertieften die zunächst provisorische Tei- gebieten jenseits der Oder sowie aus der lung deutlich; die Demarkationslinie wur- SBZ in das dürre Wirtschaftsgefüge zu in- de zur Staatsgrenze. Für das Eichsfeld be- tegrieren. gann damit eine Phase neuerlicher Zer- schneidung mit diesmal noch rigiderer Abschottung der beiden Teilräume von- Die Wirtschaft im Obereichs- einander. feld von 1945 bis 1989 Unter solchen politischen Bedingun- Die wirtschaftlichen Umwälzungen im gen gestaltete sich der Neuaufbau wirt- thüringischen Obereichsfeld wurden schaftlicher Strukturen in beiden Teilen bereits im Sommer 1945 durch die Sowje- des Eichsfeldes schwierig. Die Teilung zer- tische Militäradministration eingeleitet. störte nicht nur einen historisch gewach- In einem ersten Schritt wurde mit einer senen, funktional und auch dem Selbst- zügig vorangetriebenen Bodenreform verständnis der Menschen nach zusam- der landwirtschaftliche Großgrundbesitz mengehörenden Raum, sondern auch al- von mehr als 100 ha sowie der Grundbe- le damit zusammenhängenden regiona- sitz von Kriegsverbrechern und Anhän- len und überregionalen wirtschaftlichen gern des Nationalsozialismus entschädi- Verflechtungen. Am sinnfälligsten kam gungslos enteignet. Von den örtlichen dies zum Ausdruck in der grenzbeding- Bodenreformkommissionen wurden da- ten Zerschneidung sämtlicher Verkehrs- bei insgesamt 41 Wirtschaften des Groß- und damit auch Gütertransportwege. So grundbesitzes, 32 Wirtschaften aktiver verloren die größeren Orte in Grenznähe Nazis und 5 staatliche Domänen sicherge- Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg 85

Grenzüberschreitender Warenverkehr 1936/37 und 1978 86 Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg stellt. Das Land ist anschließend Klein- Von der Zusammenlegung kleinerer und Neubauern zugeteilt worden. Die Wirtschaftseinheiten blieb auch das Abwicklung der Bodenreform ging dabei Handwerk nicht ausgenommen. Fast alle so zügig voran, dass Ende 1945 schon 537 obereichsfeldischen Handwerksbetriebe, Eichsfelder Neu- und Kleinbauern ihre die maximal 10 Arbeitskräfte beschäftig- Urkunde der Landzuteilung erhielten. ten, mußten sich zu Produktionsgenos- Insgesamt ist die enteignete Landfläche senschaften Handwerk (PGH) zusammen- im Obereichsfeld unter 4.583 Landneh- schließen. mer aufgeteilt worden. Wie sich aller- dings später herausstellte, waren die Die mit der Bodenreform begonnene kaum 20 oder weniger ha großen Land- „Schaffung sozialistischer Produktions- stücke für einen Großteil gerade der verhältnisse auf dem Lande“ wurde be- Neubauern zu klein, um deren wirt- reits zu Beginn der 1950er Jahre fortge- schaftliches Überleben sicherzustellen. setzt mit der Umsetzung von Plänen zur Kollektivierung der landwirtschaftlichen Die systematische Enteignung und Produktion. Ziel war die Bildung größe- Umverteilung von Boden bildete aber rer wirtschaftlicher Einheiten, den sog. nur den Auftakt zur Neustrukturierung landwirtschaftlichen Produktionsgenos- der Besitz- und der Produktionsverhält- senschaften (LPG), von denen man sich nisse. Bereits Ende 1945 leitete die sowje- eine höhere Produktivität bei der Nah- tische Besatzungsmacht die Enteignung rungsmittelerzeugung versprach. Solche von Wirtschaftsbetrieben vornehmlich LPG bestanden in ihrer einfachsten Form der Industrie ein. Unternehmen der Rüs- aus einem Zusammenschluß einiger Bau- tungsindustrie aber auch andere kleine ernhöfe zu einer Genossenschaft. Dabei und mittlere Betriebe wurden unter die mußte nur das Ackerland in Genossen- Kontrolle sog. Sequesterkommissionen schaftseigentum überführt werden, Ma- gestellt. Diese Kommissionen wählten Be- schinen und Vieh blieben in Privatbesitz. triebe aus, die zugunsten des Landes ent- Bei einem zweiten Typ bestand die Ver- eignet werden sollten. Bei großen und pflichtung, das gesamte Eigentum an Bo- volkswirtschaftlich bedeutenden Unter- den (Wald, Acker- und Grünland) sowie nehmen behielt sich die sowjetische Mili- Teile des Nutzviehs, des Maschinenparks tärregierung eine Entscheidung vor, was und der Wirtschaftsgebäude in die Ge- in vielen Fällen zu einer vollständigen nossenschaft einzubringen. In seiner Demontage dieser Unternehmen führte. höchstentwickelten und vom Staat bevor- Nach dem Entzug der Eigentumsrechte zugten Form des dritten Typs steht der wurden die Betriebe zunächst unter Begriff LPG aber für Produktionsver- Treuhandschaft gestellt und nach einiger bünde auf überörtlicher Ebene, die sich Zeit in Volkseigentum überführt. entweder auf die Pflanzenproduktion oder auf die Tierproduktion spezialisiert Die Umwandlung von privaten Unter- hatten. Die Landwirte mußten hier bis nehmen in staatliche, sog. volkseigene auf ihre Wohngebäude und den privaten Betriebe (VEB) begann im Obereichsfeld Hausstand alles betriebliche Eigentum in im Dezember 1945 in Heiligenstadt mit die Genossenschaft überführen. Die Pla- der Umwandlung einer Wäschefabrik in nung der Nahrungsmittelerzeugung er- das VEB Eichsfelder Bekleidungswerk. folgte durch staatliche Stellen, die auch Kurz darauf wurde die Engelmannsche alle Produktionsbedingungen vorgaben. Nadelfabrik zur VEB Kleinmetallwaren- werk umfunktioniert. Das Werk wuchs Die ersten LPG des Obereichsfeldes später als Kombinat VEB Solidor zu einem bildeten sich 1952 in , Born- der größten industriellen Arbeitgeber mit hagen, Bischhagen und . 1960 mehr als 6.000 Beschäftigten heran. Schon war der Kollektivierungsprozeß im We- bald folgten weitere staatseigene Betrie- sentlichen abgeschlossen. Bis dahin hat- be, darunter in Heiligenstadt der VEB ten alle Bauern der DDR (nicht immer Dienstleistungsbetrieb, das VEB Schrau- freiwillig) ihren Beitritt zu LPG der ver- benwerk, die VEB Papierfabrik und in schiedenen Typen erklärt. Im Laufe der Worbis das VEB Hobelwerk sowie in Din- Jahre hat sich landwirtschaftliche Pro- gelstädt das VEB Obertrikotagenwerk. duktion noch stärker konzentriert. Die Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg 87

Tab. 1: Entwicklung der LPG im Bezirk Erfurt von wurde auch eine weitere Intensi- 1955 bis 1989 vierung der (sozialistischen) Landwirtschaft angestrebt. Ein Anzahl Durchschnitts- Mitglieder Durchschnittl. Mit- dritter Aspekt betraf die Entwick- an LPG größe in ha insgesamt gliederzahl je LPG lung des geistig-kulturellen Le- 1955 340 154 12.600 37 bens der Region. Dahinter ver- 1961 1.368 304 99.900 73 barg sich immer auch der Versuch von SED und Staatsmacht, die in 1967 k. A. 414 94.900 k. A. ihrer großen Mehrheit christlich- 1971 k. A. 640 k. A. k. A. konservativ eingestellte Eichs- 1975 345 1.204 83.900 243 felder Bevölkerung für den sozia- listischen Staat zu ‘gewinnen’ 1979 k. A. 4.099 78.100 k. A. bzw., wie es hieß, „die sozialisti- 1985 k. A. 3.915 78.000 k. A. sche Kulturrevolution konse- 1989 298 3.898 79.300 270 quent fortzuführen.“

Quelle: Breitschuh, G. u.a. (1999): Thüringer Land- Die Strategie zur verstärkten wirtschaft zwischen 2. Weltkrieg und Wiederverei- Industrialisierung des Obereichs- nigung, Jena, eigene Berechnungen feldes konzentrierte sich auf die Entwicklung dreier industrieller Schwerpunkte in Bischofferode, Zahl der LPG wurde verkleinert, wobei in Deuna und in Leinefelde. In Bisch- die durchschnittliche Nutzfläche der Pro- offerode wurde mit hohem Investitions- duktionsgenossenschaften anstieg. aufwand der Untertage-Abbau kalisalz- haltiger Gesteine und die Produktion von Kalierzeugnissen (etwa Dünger) neu vor- angetrieben. Entsprechend erhöhte sich Politische Strukturhilfen - die Zahl der Arbeitskräfte von ca. 1.500 Der Eichsfeldplan im Jahre 1959 auf ca. 2.000 im Jahre 1966. In Deuna sollte ab 1964 das größte Das Obereichsfeld ist auch in den und modernste Zementwerk der Re- 1960er Jahren eine Region tiefgreifender publik entstehen. Anfang Juli 1968 konn- wirtschaftlicher und sozialer Veränderun- te die Produktion im VEB Eichsfelder gen gewesen. Im Mai 1958 beschloß die Zementwerke Deuna aufgenommen wer- Bezirksleitung der SED in Erfurt einen den. Noch 1989 stellten hier die insge- Siebenjahresplan, der die Entwicklung samt etwa 1.800 Beschäftigten 22,5% der des Eichsfeldes ökonomisch und kulturell gesamten Zementproduktion der DDR vorantreiben sollte. Der Eichsfeldplan re- her. agierte auf die wirtschaftlich rückständi- ge Situation des Eichsfeldes, das in den Das Kernstück des Eichsfeldplans bil- ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts dete aber der Aufbau einer Baumwoll- als ländlich-peripheres Gebiet unter gro- industrie in der damals kleinen Ortschaft ßen Strukturdefiziten zu leiden hatte, Leinefelde. Mit erheblichem finanziellen deren Behebung von politischer Seite Aufwand in dreistelliger Millionenhöhe bislang immer vernachlässigt worden entstanden in dem 1962 fertiggestellten war. Den Schlüssel für eine Beseitigung Kombinat VEB Baumwollspinnerei und der Entwicklungsrückstände sah man in -zwirnerei „Ernst Thälmann“ bis Mitte Ostdeutschland nun in einer verstärkten der 1960er Jahre bereits mehr als 2.000 Industrialisierung der Region. Daher war Arbeitsplätze. Neben dem eigentlichen es vorrangiges Ziel des Planes, dem land- Produktionsbereich, in dem Baumwoll- wirtschaftlich geprägten Gebiet neue in- garn vornehmlich für Auftraggeber aus dustrielle Impulse zu geben. dem Ostblock gesponnen wurde, um- fasste das Kombinat werkseigene Kü- Der Inhalt des Eichsfeldplans läßt sich chen, eine Konditorei, zwei Heizwerke nach insgesamt drei Interessensbereichen und eine Reihe betriebstechnischer Ab- unterscheiden. Neben dem Ziel der Ent- teilungen verschiedener Handwerksbe- wicklung von Handwerk und Industrie reiche. 1977 arbeiteten in dem größten 88 Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg

Betrieb Leinefeldes bereits 4.400 Beschäf- che Produktionssteigerung Investitionen tigte, darunter zu 70% Frauen. Die Be- für einen verstärkten Einsatz moderner schäftigtenzahl stieg in den folgenden Agrartechnik vor. Außerdem wurde eine Jahren noch weiter an auf zuletzt über weitere Zusammenlegung einzelner 5.000. landwirtschaftlicher Betriebseinheiten in die Wege geleitet, so dass die Landwirt- Die Entwicklung Leinefeldes zu einem schaft im Obereichsfeld schließlich über- industriellen Zentrum der Textilproduk- wiegend durch die Großproduktion in tion rief mit dem stetigen Beschäfti- LPGen geprägt war. gungswachstum auch einen enormen Be- darf an Wohnraum hervor. Allein bis Der dritte Zielkomplex des Eichsfeld- 1977 entstanden 3.200 Neubauwohnun- plans widmete sich infrastrukturellen gen in dem neu entstandenen Platten- Verbesserungen in den Bereichen Sozia- baugebiet in der Leinefelder Südstadt. les und Gesundheitswesen, Bildung und Aus dem ehemals kleinen Ort Leinefelde Kultur sowie Verkehr. Zu dem bereits er- mit seinen 1960 rd. 2.500 Einwohnern wähnten Bereich des Wohnungsbaus wuchs so innerhalb weniger Jahrzehnte wurde in den Bau von Schulen, Sport- eine planmäßig entwickelte sozialistische hallen, Kindertagesstätten, einer Polikli- Musterstadt mit zuletzt weit über 10.000 nik und einer Reihe von kulturellen Ein- Einwohnern. richtungen investiert. Hinzu kam ein Aus- Analog zu den Maßnahmen der Indu- bau des Straßennetzes und der Reichs- strieentwicklung wurde im Bereich der bahnstrecke Leinefelde-Erfurt-Halle. Landwirtschaft eine weitere Produk- tivitätssteigerung eingeleitet. Ziel war es, Zusammenfassend läßt sich sagen, bis 1962 die vollständige Versorgung der dass der Eichsfeldplan den Charakter ei- Bevölkerung aus dem Aufkommen der ner umfassenden regionalen Wirtschafts- eigenen Landwirtschaft zu sichern. Der förderung aufwies, indem er die Unter- Eichsfeldplan sah für die dazu erforderli- stützung vieler sich ergänzender Berei-

Modernisierte Plattenbausiedlung in der Leinefelder Südstadt Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg 89 che (Arbeit, Soziales, Verkehr) verfolgte. durch die extreme Nähe zur bald herme- Trotz seiner ideologischen Ausrichtung tisch abgeriegelten Zonengrenze große auf eine Stärkung der SED und die Standortnachteile. Dadurch setzte schon Durchsetzung einer sozialistischen Welt- früh eine wirtschaftliche Rückentwick- anschauung unter der Bevölkerung hat lung ein. Es kam zur Abwanderung von der Eichsfeldplan vor allem durch die Ver- Betrieben in finanzstärkere Regionen breiterung der industriellen Basis in die- und Bundesländer, wo sich auch neue ser strukturschwachen und lange Zeit Unternehmen lieber ansiedelten, als im überwiegend agrarisch geprägten Grenz- wenig attraktiven Grenzgebiet. Der ent- region einen entscheidenden Einfluß auf stehende Arbeitsplatzmangel bewog ge- die wirtschaftsstrukturelle Entwicklung rade junge und gut ausgebildete Arbeits- gehabt, wobei die Auswirkungen teil- kräfte dazu, die Region zu verlassen, um weise heute noch erkennbar sind. auf den weiter westlich und südwestlich langsam aufblühenden Arbeitsmärkten In den 1980er Jahren war das Ober- ihr Glück zu versuchen. eichsfeld fester Bestandteil des DDR- Wirtschaftsystems der sozialistischen Seit 1947 hatten sich zwar in den Planwirtschaft. Die volkseigenen Betrie- Werkshallen der ehemaligen Polte-Mu- be, die LPGen und die handwerklichen nitionsfabrik in Duderstadt etwa 20 Be- Produktionsgenossenschaften unterstan- triebe angesiedelt, die zumeist aus dem den den Leitungs- und Planungsgremien Osten gekommen waren. Zu Beginn der der Partei der SED, die vom Ressourcen- 1950er Jahre zeigte sich jedoch, dass die einsatz bis zur Verteilung der hergestell- meisten Unternehmen nicht mit weiter ten Güter die gesamte Produktion nach westlich gelegenen Wettbewerbern kon- vorab festgelegten Planungskennziffern kurrieren konnten. Betriebsschließungen organisierten. und neuerliche Abwanderungen waren die Folge. Die überlebenden Betriebe, darunter ein heute weltweit führender Hersteller orthopädischer Hilfsmittel, ent- wickelten sich in den folgenden Jahr- Wirtschaftsprobleme im zehnten aber zu den wichtigsten indust- Untereichsfeld nach 1945 riellen Arbeitgebern der Region. Der dem Westen zugeschlagene Teil Erst in der zweiten Hälfte der 1950er des Eichsfeldes sah sich ebenfalls einem Jahre zeigte sich eine allmähliche Stabili- ökonomischen Strukturbruch ausgesetzt, sierung der wirtschaftlichen Lage auf wenn auch anderer Ausprägung. Als die niedrigem Niveau. Der Wirtschaftsauf- durch die Grenzziehung hervorgerufe- schwung der Bundesrepublik hinterließ nen ersten schweren Belastungen der un- dann in den 1960er Jahren auch im mittelbaren Nachkriegszeit noch kaum Untereichsfeld positive Spuren etwa in bewältigt waren, zeichneten sich bereits Form eines anhaltenden Zuwachses an die Schwierigkeiten des wirtschaftlichen Arbeitsplätzen. Vor allem in Duderstadt Neuanfangs ab. Die Region um ihr Zen- siedelten sich zwischen 1958 und 1965 ei- trum Duderstadt hatte einen Großteil ih- nige Zweigwerke größerer Unternehmen res Hinterlandes verloren. Auf der Suche des Verarbeitenden Gewerbes an. Ende nach neuen Absatz- und Bezugsquellen 1966 wies die Gewerbestatistik für Du- mußte die regionale Wirtschaft sich wirt- derstadt immerhin 28 Industriebetriebe schaftlich völlig umorientieren und neue aus. Bezogen auf den gesamten Land- Märkte im Westen erschließen. Dort aber kreis hat sich die Zahl der Industriebetrie- traf sie auf die Konkurrenz aus den be und der dort Beschäftigten allerdings räumlich günstiger gelegenen Oberzen- nicht verbessert, da eine Reihe von Be- tren Northeim und Göttingen. Die Folge triebsschließungen die Duderstädter Zu- waren erhebliche Umsatz- und Gewinn- wächse wieder zunichte machten. einbußen. Besonders gravierende Auswirkungen Im Vergleich zu den westlichen Nach- hatte die Grenzziehung auf den Ver- barregionen besaß das Untereichsfeld kehrssektor. Mit der Teilung des Eichs- 90 Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg feldes wurden die auf den alten preußi- Der früher dominierende Ost-West-Ver- schen Verkehrswegen beruhenden regio- kehr wurde abgelöst durch einen Nord- nalen Verkehrsachsen zerschnitten. Alle Süd-Verkehr. Im südlichen Niedersachsen Straßen- und Bahnverbindungen zwi- wurde das Leinetal, durch das schon im schen dem oberen und unteren Eichsfeld 19. Jahrhundert wichtige Handelsströme endeten an der Zonengrenze, was zu ei- flossen, zu einer Hauptverkehrsachse im ner drastischen Verschlechterung der Osten der Bundesrepublik. Städte wie Verkehrsinfrastruktur führte. Insgesamt Göttingen und Northeim konnten von geriet das Untereichsfeld auch verkehrs- dieser Entwicklung profitieren. Das Un- technisch in eine extreme Randlage. tereichsfeld dagegen lag nun vollends im Abseits. Bei den Eisenbahnstrecken bestimm- ten in den nächsten Jahrzehnten Teil- Bis zur Wiedervereinigung hat sich schließungen und Gleisrückbauten das die unbefriedigende Verkehrssituation Bild. So wurde etwa die sowieso nur nicht grundlegend verändert. Im Ver- noch bis Zwinge führende alte Bahnver- kehrsschatten der überregionalen Ver- bindung zwischen Herzberg und Blei- bindungen gelegen blieb das Untereichs- cherode im Laufe der 1960er Jahre einge- feld ein Raum ohne nennenswerten stellt. Auf der nun in Duderstadt enden- Durchgangsverkehr. den Bahnlinie von Wulften nach Mühl- hausen wurde 1974 der Personenverkehr Die verkehrlichen Restriktionen ver- eingestellt. Der Güterverkehr zwischen stärkten die wirtschaftliche Randlage er- Wulften und Duderstadt wurde dagegen heblich, da ein zusätzliches Wirtschafts- trotz rückläufiger Zahlen noch bis zur wachstum durch die Ansiedlung neuer Wiedervereinigung aufrechterhalten. Mit Betriebe praktisch ausgeschlossen war. der Ausdünnung des Netzes verlor der Gerade die arbeitsplatzrelevanten größe- regionale Schienenverkehr völlig an Be- ren Unternehmen mit ihren überregiona- deutung, eine vernünftige Bahnanbin- len Vertriebsstrukturen achten sehr auf dung an den überregionalen Fernverkehr vernünftige Verkehrsanbindungen zu ih- war schon gar nicht gegeben. ren Absatzmärkten. In dieser Hinsicht blieb das Untereichsfeld bis in die Gegen- Die Folgen der Grenzziehung für das wart gänzlich unattraktiv. Straßennetz waren nicht minder negativ. Im Schatten der Zonengrenze wurden die Das Untereichsfeld war bereits unmit- Verkehrswege wenn nicht vernachlässigt, telbar nach Kriegsende eine Region, die so doch nicht mehr ausgebaut. Die Unzu- besonders unter den Kriegsfolgen zu lei- länglichkeiten der Straßenverhältnisse den hatte. Das größte Problem stellte zeigten sich spätestens, als die Entwick- dabei die Bewältigung der Flüchtlings- lung des motorisierten Individualverkehrs wellen dar. In den ersten Jahren nach voranschritt. Die Straßen waren der star- 1945 strömten mehr als 11 Millionen ken Motorisierung nicht gewachsen. Zur Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehe- Verbesserung der schlechten Verkehrs- maligen deutschen Ostgebieten und aus verhältnisse, unter denen vor allem der der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) Güterverkehr und die große Zahl der in die Bundesrepublik. Besonders belas- Berufspendler zu leiden hatten, trugen tet waren dadurch die ländlichen Gebie- Straßenneubauten und die Sanierung te und die Regionen entlang der Demar- vorhandener Strecken bei. Das dabei ent- kationslinie. stehende Schnellstraßennetz richtete sich nach Westen aus, um einen schnelleren Das Untereichsfeld zählte zu den Re- Anschluß an die nächstgelegenen Haupt- gionen, die besonders hohe Flüchtlings- verkehrswege der Bundesrepublik zu er- ströme zu verkraften hatten. In Duder- möglichen. stadt stieg allein die Zahl der registrier- ten Flüchtlinge zwischen November 1945 Ein weiterer Nachteil ergab sich mit und Mai 1948 von 2.424 auf 3.772. Noch der aus der Teilung Deutschlands resultie- 1950 waren von den 43.102 Bewohnern renden Umkehr der großen überregiona- des Kreises Duderstadt 2.801 Flüchtlinge len Verkehrsströme in Westdeutschland. und 9.133 Vertriebene. Der dadurch ent- Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg 91 standene Wohnraummangel konnte Aufgrund der Strukturschwäche und zunächst nicht gelindert werden. Auch der durch die Grenzziehung hervorgeru- die übrige Versorgungslage der Bevölke- fenen Zerstörung der regionalen Wirt- rung war in den ersten Jahren der Nach- schaftsbeziehungen reichte die wirt- kriegszeit extrem schlecht, es standen z. schaftliche Leistungsfähigkeit des Unter- B. kaum genug Nahrungsmittel zur Ver- eichsfeldes nicht aus, um die genannten fügung. ökonomischen und sozialen Probleme der Nachkriegsjahre aus eigener Kraft Die Folgen für den regionalen Ar- bewältigen zu können. beitsmarkt waren ebenfalls besorgniser- regend. Während sich die Arbeitslosen- Anfang der 1950er Jahre entschloß quote in der Bundesrepublik im Jahre sich die damalige Regierung Adenauer, 1950 auf 11,0% verringert hatte, lag sie den krisenhaften Entwicklungstendenzen im Kreis Duderstadt bei 26,4%. Obwohl in den von den Nachkriegsfolgen beson- zahlreiche Flüchtlinge und Vertriebene ders betroffenen Grenzregionen mit ei- das Untereichsfeld in den folgenden Jah- ner Reihe von sog. Notstandsmaßnah- ren wieder verließen, ging die Arbeitslo- men entgegenzutreten. Im Mai 1953 senquote in den nächsten Jahren kaum wurde der Kreis Duderstadt als Zonen- zurück auf 20,5% im Jahre 1958. Zu der grenzkreis zum Notstands- und Sanie- Zeit herrschte im übrigen Bundesgebiet rungsgebiet erklärt. Damit erhielt die Re- bereits annähernd Vollbeschäftigung, bei gion Finanzhilfen aus speziellen Förder- einer durchschnittlichen Arbeitslosigkeit programmen, die den Entwicklungsrück- von 1,3% im Jahre 1960. stand der Zonenrandgebiete beheben

Die ehemalige Reißwollfabrik Hollenbach in Duderstadt um etwa 1958 92 Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg sollten. Zunächst wurden nur einzelne rand oft unzureichend entwickelten In- Fördermaßnahmen wie etwa die bevor- frastruktur dienten. Finanzhilfen des zugte Vergabe öffentlicher Aufträge an Bundes von bis zu 60% der Investitions- Betriebe im Zonenrandgebiet beschlos- kosten erhielten schwerpunktmäßig ge- sen. In den Folgejahren wurden die un- förderte Gemeinden wie Duderstadt für terschiedlichen Förderprogramme im die Erschließung von Gewerbegebieten, Zuge einer sich konstituierenden Politik den Ausbau von Verkehrsverbindungen, der regionalen Wirtschaftsförderung zu von Versorgungs- und Entsorgungsein- regionalen Förderprogrammen zusam- richtungen und öffentlichen Fremdenver- mengefasst. Im Raumordnungsgesetz kehrseinrichtungen sowie für die Errich- vom 8. April 1965 wurde das Zonenrand- tung und den Ausbau von Bildungsstät- gebiet dann erstmals auf Bundesebene ten. als eigene und besonders zu fördernde Gebietskategorie anerkannt. Als Ergänzung zu den bisher aufge- führten Maßnahmen der direkten und Angesichts der auch 25 Jahre nach indirekten wirtschaftlichen Zonenrand- Kriegsende noch deutlich erkennbaren förderung war eine besondere Förde- starken Benachteiligung der Regionen an rung sozialer, kultureller und bildungs- der Zonengrenze, aber auch im Hinblick spezifischer Einrichtungen vorgesehen. auf die durch den kalten Krieg brisante Damit sollte die Attraktivität der Lebens- Stellung der Gebiete am Ostrand der al- bedingungen im Zonenrandraum gestei- ten Bundesrepublik Deutschland wurde gert und Abwanderungstendenzen ins- 1971 schließlich das Zonenrandförde- besondere der jüngeren Bevölkerung be- rungsgesetz geschaffen. Es erhob die Re- gegnet werden. Neben Gemeinden und gionen innerhalb eines bereits früher Gemeindeverbänden kamen hier auch festgelegten 40 km breiten Korridors zu gemeinnützige juristische Personen wie einem besonders zu berücksichtigenden Sportvereine oder Träger der freien Fördergebiet innerhalb der deutschen re- Wohlfahrtspflege als Zuwendungsem- gionalen Wirtschaftspolitik. Die Zonen- pfänger in Frage. randförderung zielte auf die Herstellung gleicher Lebensbedingungen ab und soll- Das Untereichsfeld hat von der seit te weiterhin einen Ausgleich für alle den 1950er Jahren gewährten finanziel- durch die Teilung Deutschlands verur- len Unterstützung vor allem in den Berei- sachten Nachteile bieten. chen Bildung, Kultur und Soziales sowie beim Ausbau der wirtschaftsnahen Infra- Die bevorzugte Förderung des Unter- struktur profitieren können. Allerdings eichsfeldes als Zonenrandgebiet ab 1971 sind durch die an die gewerbliche Wirt- hatte eine doppelte Zielrichtung. Zum ei- schaft geflossenen Investitionshilfen nur nen wurden Investitionen der gewerbli- verhältnismäßig wenig neue Industrie- chen Wirtschaft mit steuerlichen Vergün- arbeitsplätze entstanden. Die finanziel- stigungen und finanziellen Zuwendun- len Anreize der öffentlichen Hand reich- gen unterstützt, die in einer Höhe von bis ten nicht aus, um eine entscheidende zu 25% der Investitionskosten gewährt Verbesserung im Bereich des Produzie- wurden. Die Investitionshilfen galten so- renden Gewerbes herbeizuführen. Wenn wohl für die Errichtung neuer, als auch Industrieunternehmen sich überhaupt für die Erweiterung bestehender Betriebe, die Ansiedlung eines Betriebs im Zonen- wurden aber nur ausgereicht, wenn randgebiet entschieden, so zogen sie ver- dadurch neue Dauerarbeitsplätze ge- kehrsgünstiger gelegene Standorte wie schaffen wurden. Die Fördermittel sollten Kassel, Göttingen oder Northeim vor, die vor allem größeren Industrieunterneh- aufgrund des mit 40km sehr breit bemes- men einen Anreiz bieten, sich trotz der senen Förderstreifens ebenfalls mit gün- Standortnachteile in den Grenzregionen stigen Förderkonditionen aufwarten niederzulassen bzw. dort zu expandieren. konnten. Zum anderen wurden auch Investitio- Ein weiteres Problem betraf die Nach- nen der Gemeinden bezuschusst, inso- haltigkeit von Ansiedlungserfolgen. Bei fern sie der Verbesserung der am Zonen- den im Untereichsfeld neu errichteten Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg 93 oder verlagerten Produktionsstätten han- tur heraus. Da die Höfe und der Besitz delte es sich in der großen Mehrheit um laut Erbrecht an alle Nachkommen wei- regional nur gering verankerte Zweig- tervererbt werden mußten, kam es durch werke weitab von den Unternehmens- die oft unvermeidlichen Grundstücks- zentralen. Anders als die Stammbetriebe teilungen zu einer starken Zersplitterung sind solche oft auch als „verlängerte des landwirtschaftlichen Besitzes. Zwar Werkbänke“ bezeichneten Niederlassun- konnte so über einen langen Zeitraum gen bei schwierigen Konjunkturlagen die Selbstversorgung der Bevölkerung erstes Ziel von Betriebseinschränkungen gesichert werden, jedoch zwang die in und -schließungen. Zur Krisenanfälligkeit vielen Fällen zu schmale Existenzgrundla- trug auch die ungünstige Branchen- ge die Bauern dazu, die Landwirtschaft struktur der Produktionsbetriebe bei. In als Nebenerwerb zu betreiben und zu- der großen Mehrzahl handelte es sich um sätzlich einem handwerklichen Gewerbe Betriebe traditioneller Industriebranchen, nachzugehen. die im Fortgang des Strukturwandels von abnehmender Bedeutung waren (sog. Erst in den Jahren als Zonenrandge- Schrumpfungsbranchen). Betriebe aus biet setzte im Untereichsfeld ein verstärk- Wachstumsbranchen haben sich dagegen ter landwirtschaftlicher Strukturwandel kaum neu in der Region angesiedelt. ein. Die kleinteilige Agrarstruktur mit oft verstreut liegenden, eher kleinen Parzel- Insgesamt sind die von der Zonen- len veränderte sich, weil viele kleine Höfe randförderung ausgehenden qualitativen inzwischen aufgegeben hatten und Flä- Struktureffekte gering geblieben. Der chen zusammengelegt wurden. Vor allem Wirtschaftsraum des unteren Eichsfeldes in den 1970er Jahren ging die Zahl der blieb weiterhin durch Konjunkturanfäl- kleinen und mittleren landwirtschaftli- ligkeit, Strukturschwäche, überdurch- chen Betriebe stark zurück, während schnittliche Arbeitslosenquoten, einen Großbetriebe an Bedeutung gewannen. Mangel an höherqualifizierten Arbeits- Im Vergleich zum Bundesdurchschnitt plätzen und entsprechend geringen Ver- blieb die Agrarstruktur aber immer noch dienst- und Aufstiegsmöglichkeiten ge- übermäßig stark von Kleinbetrieben ge- prägt. prägt. Das Untereichsfeld mit seinen frucht- Bedingt durch die besondere histori- baren, lößhaltigen Böden der Goldenen sche Entwicklung der Wirtschaft im Eichs- Mark war bereits im Mittelalter ein Ge- feld und befördert durch die räumlich biet intensiv betriebener Landwirtschaft, periphere Lage am Zonenrand ist die die eine gute Existenzgrundlage für gro- Landwirtschaft als Wirtschaftszweig und ße Teile der Bevölkerung geboten hatte. Existenzbasis auch in den Jahren der Bedingt durch das damals gültige Er- deutschen Teilung von überdurchschnitt- brecht der Realteilung bildete sich jedoch lich großer Bedeutung für das Unter- eine extrem kleinbäuerliche Agrarstruk- eichsfeld geblieben. Auch das Handwerk hat im Eichsfeld Tab. 2: Entwicklung der Landwirt- eine lange Tradition mit strukturprägen- schaftsstruktur im Altkreis Duderstadt der Bedeutung. Als Realteilungsgebiet von 1949 bis 1971 (siehe oben) verfügte die Region immer schon über ein breit ausdifferenziertes Gesamtzahl Anteil der Betriebsklassen an der handwerkliches Gewerbe, das zumeist im der Betriebe Gesamtzahl der Betriebe (in Prozent) Nebenerwerb betrieben wurde. In den Jahren der deutschen Teilung blieb das 0,5-10ha 10-20ha > 20ha Handwerk ein zentraler Erwerbszweig 1949 3.913 87,7 10,5 1,8 des an Arbeitsplätzen armen Untereichs- 1960 3.492 83,9 13,5 2,6 feldes. 1971 2.225 74,6 14,1 11,3 Die Situation des regionalen Hand- werks ist in den Jahrzehnten nach dem Quelle: Ritter/Hajdu (1982): Die deutsch- Zweiten Weltkrieg durch zwei Entwick- deutsche Grenze, Köln. lungen geprägt worden, einer Bedeu- 94 Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg

Tab. 3: Industriebetriebe, Industriebeschäftigte und Industriedichte im Altkreis Duderstadt von 1955 bis 1972

Industriebetriebe Industriebeschäf- Industriedichte im Industriedichte in im Landkreis -tigte im Landkreis Landkreis Duder- der Bundesrepublik Duderstadt Duderstadt stadt (Industriebe- Deutschland (Industrie- schäftigte je beschäftigte je 1000 Einwohner) 1000 Einwohner) 1955 k.A. k.A. k.A. 125,6 1956 40 2.825 74,0 k.A. 1960 46 3.050 86,4 137,1 1961 48 2.955 78,3 k.A. 1963 45 2.812 71,4 k.A. 1965 41 2.975 k.A. 144,3 1966 44 2.975 74,2 145,2 1968 39 2.687 k.A. k.A. 1970 k.A. k.A. k.A. 146,5 1971 k.A. 2.802 68,1 k.A. 1972 36 3.219 k.A. k.A. Quelle: CDU Kreisverband Duderstadt (1968): Der Landkreis Duder- stadt in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; Ritter/Hajdu (1982): Die deutsch-deutsche Grenze tungsverschiebung innerhalb der einzel- Baunebengewerbe heraus. Da diese nen Gewerke und einem anhaltenden Branche besonders empfindlich auf kon- Konzentrationsprozeß. Zwischen 1945 junkturelle und saisonale Schwankungen und 1989 haben die bis dahin dominie- reagiert, kam es auf dem regionalen Ar- renden Bekleidungs-, Textil- und Leder- beitsmarkt immer wieder zu drastischen handwerke sowie die Nahrungsmittel- Beschäftigungseinbrüchen. handwerke stark an Bedeutung verloren. Seit etwa 1975 ist die Region dann immer Für die Industrie war die Region auch stärker durch den wachsenden Bestand nach dem Zweiten Weltkrieg ein kaum an Betrieben der Bau- und Ausbauhand- beachteter Standort. Der historisch be- werke sowie der Elektro- und Metall- dingte geringe Industriebesatz blieb handwerke geprägt worden. In der Nach- weiterhin ein Kennzeichen des Unter- kriegszeit ist die Zahl aller untereichs- eichsfeldes. So lag die Industriedichte feldischen Handwerksbetriebe von 893 1966 im damaligen Kreis Duderstadt bei im Jahre 1949 auf 430 Betriebe im Jahr 74 Industriebeschäftigten je 1.000 Ein- 1975 zurückgegangen. Gleichzeitig hat wohnern. Der Bundesdurchschnitt lag sich die durchschnittliche Betriebsgröße damals bei 145 Beschäftigten. aber erhöht, so dass 1975 insgesamt mehr Fachkräfte ihr Auskommen im Trotz der durch die Zonenrandför- Handwerk gefunden haben als noch derung bereitgestellten Investitionsanrei- 1949. ze erhöhte sich die Zahl der Industriebe- triebe auch in den 1970/80er Jahren Insgesamt spiegelt sich in der be- nicht. Der geringe Zuwachs an neuen Be- schriebenen Entwicklung ein für die da- triebsstätten wurde durch die Schließung malige Bundesrepublik typischer Struk- unrentabler Betriebe aufgezehrt. Beson- turwandel im Handwerk wider, der sich ders zwischen 1975 und 1985 hat es eine im Untereichsfeld allerdings auf einem Reihe von Betriebsstillegungen im Verar- stets höheren Niveau abspielte. Als pro- beitenden Gewerbe gegeben. Durch die blematisch stellte sich allerdings die ein- insgesamt 17 Werksschließungen im Un- seitige Ausrichtung auf das Bau- und tereichsfeld, davon allein 13 in Duder- Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg 95 stadt, gingen mehrere hundert Industrie- übergeordneter Behörden verbunden. arbeitsplätze verloren. Ein Verlust von Dienstleistungsarbeits- plätzen in dreistelliger Höhe war die Fol- Das Produzierende Gewerbe wurde ge. zunächst klar dominiert von traditionel- len Industriebranchen wie der Textil- und Bekleidungsindustrie, der Ziegelindustrie, Das Eichsfeld nach der der Tabakfabrikation und der Holzverar- beitung. Im Laufe der Jahre stellte sich je- Wiedervereinigung doch eine Bedeutungsverschiebung ein. Die Öffnung der Zonengrenze am 9. So ließ sich bis in die 1980er Jahre eine November 1989 markierte das Ende einer generelle Umgewichtung von der kon- historischen Epoche. Mit dem Zerfall des junkturanfälligen Verbrauchsgüter- zur kommunistischen Herrschaftssystems hob stärker wachstumsorientierten Investi- sich der eiserne Vorhang zwischen Ost tionsgüterindustrie beobachten, wobei und West. Damit waren auch im Eichsfeld sich an der großen Dominanz kleiner und die Jahre der weitgehenden Abschottung mittelständischer Unternehmen nichts der Teilregionen beendet. Die Menschen änderte. konnten wieder in den jeweils anderen Im Zuge des Strukturwandels der gro- Teil des Eichsfeldes reisen und machten ßen Industriegesellschaften hatte sich der davon sofort und reichlich Gebrauch. Tertiäre Sektor (Dienstleistungen, Han- del, Verkehr etc.) in der zweiten Hälfte Nach Bewältigung der ersten turbu- des zwanzigsten Jahrhunderts auch in lenten Phase stand die Politik beiderseits der Bundesrepublik Deutschland zu dem der ehemaligen Grenze vor der schwieri- am stärksten wachsenden Wirtschafts- gen Aufgabe, die Folgen der deutschen zweig entwickelt. Im Untereichsfeld verlief Teilung zu überwinden, räumliche Barrie- die Entwicklung dagegen weitaus langsa- ren zu beseitigen, die infrastrukturellen mer. Die periphere Lage und ein kaum Standortnachteile des Wirtschaftsraums voranschreitender wirtschaftlicher Auf- zu beheben und das sozioökonomische holprozeß ließen nur wenig Arbeitsplät- Gefälle zwischen Ober- und Untereichs- ze im Dienstleistungssektor entstehen. feld durch Maßnahmen einer An- gleichung der Lebensverhältnisse abzu- 1950 gingen im gesamten Bundesge- bauen. biet bereits 33,9% der Beschäftigten ei- ner Tätigkeit in den Bereichen Handel, Erste und vordringliche Planungen Verkehr und sonstigen Dienstleistungen betrafen den Abbau der Grenzbefesti- nach. Im ehemals eigenständigen Land- gungsanlagen und die rasche Entmilitari- kreis Duderstadt lag ihr Anteil erst bei sierung des ehemaligen Grenzraums. 21,7%. Der Dienstleistungssektor hat in Zeitgleich mußte aber auch der Ausbau den folgenden Jahren sowohl bundes- einer grenzüberschreitenden Infrastruk- weit als auch im Untereichsfeld stetig an tur vorangetrieben werden. Neben der Bedeutung gewonnen, ohne daß sich der Neuverknüpfung und Sanierung der von Entwicklungsrückstand im damaligen der Grenze durchschnittenen Verkehrs- Landkreis Duderstadt verringert hätte. verbindungen mußten auch andere 1970 waren hier 33,1% der Beschäftigten Versorgungsnetze etwa in den Bereichen im Dienstleistungssektor tätig. In der Energie und Kommunikation rasch in- Bundesrepublik lag die Zahl schon bei standgesetzt und ausgebaut werden. 42,4%. Die größten Schwierigkeiten hatte Durch die niedersächsische Gebiets- hier das Obereichsfeld zu bewältigen. In- und Verwaltungsreform von 1973 hat der nerhalb kürzester Zeit mußte die Umstel- Tertiärisierungsprozeß im Untereichsfeld lung von der Plan- auf die Marktwirt- einen spürbaren Rückschlag erlitten. Mit schaft vollzogen werden. Es galt eine der Überführung des Kreises Duderstadt umfassende Privatisierung der Wirtschaft in den neu zugeschnittenen Landkreis und die Auflösung der großbetrieblichen Göttingen war die Verlagerung der Kreis- Strukturen (Kombinate) durchzuführen. verwaltung und der Abzug weiterer Zudem war der Rückbau der aufgebläh- 96 Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg

Der frühere Grenzübergang zwischen Duderstadt und Teistungen ten Verwaltungsbürokratien bei einem Zustand. Durch den Verkehrsplan Deut- gleichzeitigen Aufbau eines modernen sche Einheit konnte aber eine allmähliche Dienstleistungssektors mit entsprechen- Anpassung der Straßen an das nach der der Infrastruktur unumgänglich. Auf Sei- Wende drastisch gestiegene Verkehrsauf- ten des Untereichsfeldes konzentrierten kommen erreicht werden. Weil auch das sich die Probleme zum einen auf die Be- Straßennetz im Untereichsfeld nicht auf wältigung der neuen Verkehrsströme, die die stärkeren Verkehrsströme ausgelegt durch Berufs- und Einkaufspendler her- war, ist auch hier eine grundlegende Re- vorgerufen wurden. Zum anderen muß- novierung und ein Ausbau der Verkehrs- ten Maßnahmen zur Abfederung von wege überfällig. Speziell die überregio- Verdrängungseffekten auf dem Arbeits- nale Anbindung zu den Wirtschafts- markt getroffen werden, die durch die zentren in West und Ost hatte sich in den neu hinzugekommenen Berufseinpendler letzten Jahren noch nicht wesentlich ge- aus dem Thüringer Raum hervorgerufen bessert. wurden. Mittlerweile ist eine entscheidende Bereits kurz nach der Grenzöffnung Besserung der Verkehrssituation abzuse- sind erste Anstrengungen unternommen hen. Der Ausbau der Bundesstraßen 247 worden, die unterbrochenen Verkehrs- und 446 und die zumindest in Thüringen verbindungen wieder miteinander zu bereits fortschreitende Fertigstellung der verknüpfen. Zunächst wurden die wich- an Heiligenstadt und Leinefelde entlang tigsten grenzübergreifenden Straßen- führenden neuen Autobahn A38 können verbindungen wiederhergestellt. Wenige das Eichsfeld aus seiner verkehrlichen Jahre später sind dann schließlich alle Lü- Randlage herausholen. Im Obereichsfeld cken im Straßennetz zwischen beiden konnten 2001 erste Abschnitte der A 38 Teilen des Eichsfeldes beseitigt worden. schon dem Verkehr übergeben werden. Dort füllen sich bereits die neuen Ge- Im thüringischen Obereichsfeld waren werbegebiete mit Unternehmen, die von die Straßen in den ersten Jahren nach der zukünftig guten Verkehrsanbindung der Wende in einem äußerst schlechten profitieren wollen. Für die Streckenab- Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg 97

Verkehrsnetz im Eichsfeld im Jahr 1939 98 Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg schnitte westlich des Eichsfeldes laufen dung vom Eichsfeld zum nächstgelege- die Planfeststellungsverfahren, so dass nen Oberzentrum Göttingen. Die letzte etwa im Jahr 2005 mit einer Fertigstel- Verbindung bestand nur 17 Jahre, und lung der A 38 auf ihrer gesamtem Länge zwar von 1867 bis 1884. von Friedland bis Halle zu rechnen ist. Sollte sich in diesem Zeitraum außerdem Die Wiederherstellung der übrigen al- der geplante Ausbau des niedersäch- ten Bahnverbindungen im Eichsfeld ge- sischen Teilabschnitts der B 247 verwirkli- lang dagegen nicht. Die ersten Pläne, mit chen lassen, so wäre auch das Untereichs- Streckenschlüssen ehemalige Bahnverbin- feld nicht mehr nur nach Norden zur B dungen wieder zu beleben, wurden erst 27, sondern auch nach Süden zur neuen nicht vorangetrieben und schließlich Autobahn auf kurzem Wege angebun- ganz aufgegeben. Mangelnde Rentabili- den. Für das gesamte Eichsfeld wäre da- tätserwartungen im Verein mit den als zu mit erstmals eine vernünftige Einbindung hoch angesehenen Investitionskosten in die bislang immer nur um die Region waren ausschlaggebend dafür, daß etwa herumführenden Hauptverkehrsströme die alte Eichsfelder Eisenbahnstrecke hergestellt. Duderstadt-Leinefelde ganz der Vergan- genheit angehört. Angesichts der stetig Der Ausbau und die Wiederinbetrieb- zurückgehenden Bedeutung des Schie- nahme des Schienennetzes ist weniger nengütertransports scheint dies aus re- erfolgreich verlaufen. Der wichtigste gionalwirtschaftlicher Sicht kein Nachteil Fortschritt konnte mit dem zweigleisigen zu sein. In nicht allzu ferner Zukunft Ausbau und der Elektrifizierung der könnte sich die Situation aber wieder zu- Bahnstrecke Halle-Kassel erreicht wer- gunsten der Schiene ändern. Eine Wie- den. Seit dem zusätzlichen Bau der sog. derinbetriebnahme des Schienenverkehrs „Eichenberger Kurve“ führt die Strecke auf der alten Trasse von Duderstadt über nicht nur nach Kassel, sondern zweigt Worbis nach Leinefelde hätte dann zu- auch nach Norden ab in das Leinetal mindest einen letzten Zugang zum Fern- Richtung Hannover. Damit besteht auch verkehr der Bahn erhalten. endlich wieder eine direkte Bahnverbin-

Lückenschluss bei : Die ‘Eichenberger Kurve’ Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg 99

Durch die Wiedervereinigung und die Deutschlands insgesamt gute Entwick- wachsende Verflechtung der wirtschaftli- lungsperspektiven. chen Teilräume ist beiderseits der ehema- ligen Grenze eine unterschiedliche Ent- Im Untereichsfeld setzte mit der wicklungsdynamik in Gang gesetzt wor- Grenzöffnung kurzfristig eine stürmische den. Während das niedersächsische Un- Wirtschaftsentwicklung ein. Diese Phase tereichsfeld nach der ersten Phase des ver- des sog. Vereinigungsbooms brachte fast einigungsbedingten Wirtschaftsbooms allen Wirtschaftsbereichen einen Schub. mittlerweile wieder stagniert, hat das Am meisten profitierten jedoch Handel, thüringische Obereichsfeld nach der dras- Handwerk und Fremdenverkehr. Die Ein- tischen wirtschaftlichen Rückentwicklung kaufspendler aus dem Obereichsfeld und der ersten Hälfte der 1990er Jahre die anderen Gebieten Thüringens bescherten Talsohle durchschritten und sich allmäh- vor allem dem Einzelhandel eine starke lich erholt, ohne jedoch vollständig zum Zunahme der Umsätze, was sich auch in Westen aufschließen zu können. Obwohl einem Beschäftigungszuwachs nieder- somit derzeit noch die Probleme des schlug. Zur gleichen Zeit sprang die Bau- Zusammenwachsens und der wirtschaft- konjunktur an, denn jenseits der ehema- lichen Angleichung im Vordergrund ste- ligen Grenze bestand ein hoher Bedarf hen, hat das Eichsfeld schon aufgrund an Bau- und Ausbauleistungen sowie seiner zentralen Lage im Zentrum Baustoffen, der vor Ort zunächst nicht

Tab. 4: Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte nach Wirt- schaftsabteilungen im Altkreis Duderstadt von 1990 bis 1999 (jeweils zum 30. September des Jahres)

1990 1992 1994 1996 1998

Land- und Forst- 111 94 101 91 95 wirtschaft, Fischerei Energie, Bergbau 69 74 70 63 65 Verarbeitendes 3.245 3.354 3.253 3.405 3.304 Gewerbe Baugewerbe 2.115 2.251 2.351 2.153 1.758 Handel 894 1.067 1.062 999 1.023 Verkehr, Nach- 205 223 228 241 277 richtenüber- mittlung Kreditinstitute, 308 411 428 410 416 Versicherungs- gewerbe Sonstige Dienst- 1.829 2.133 2.386 2.295 2.399 leistungen Gebietskörper- 424 452 442 435 460 schaften, Sozial- versicherungen Beschäftigte insgesamt 9.285 10.147 10.477 10.255 9.977

Quelle: Arbeitsamt Göttingen, Geschäftsstelle Duderstadt 100 Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg gedeckt werden konnte. Überdurch- Die wirtschaftliche Situation hat sich schnittliche Wachstumsraten verzeichne- auch durch ein Ausdünnen des Unter- te schließlich noch das Fremdenverkehrs- nehmensbestandes verschlechtert. Zwi- gewerbe, das eine durch die neuen Reise- schen 1990 und 2000 hat es im Unter- und Besuchsmöglichkeiten ausgelöste eichsfeld Betriebsschließungen und Be- Nachfrage befriedigen mußte. triebsverlagerungen in größerem Aus- maß gegeben. Betroffen waren in erster Schon 1992 neigte sich der Boom sei- Linie die Bereiche Industrie und Hand- nem Ende. Es zeigte sich, daß die alten werk, aber auch Handelsbetriebe haben Strukturprobleme des Untereichsfeldes ihrem alten Standort ganz oder teilweise nicht beseitigt, sondern von dem kon- den Rücken gekehrt. Die stärkste Schwä- junkturellen Hoch nur überdeckt worden chung der regionalen Wirtschaft haben waren. Im Handel machte sich ein starker die Betriebsschließungen eines elektro- Nachfragerückgang bemerkbar, und dem technischen Produktionsbetriebs und Handwerk erwuchs mit den neu gegrün- dreier Fabriken der Textil- und Beklei- deten ostdeutschen Unternehmen eine dungsindustrie hervorgerufen. Dadurch ernsthafte Konkurrenz. Nach dem ersten sind insgesamt mehr als 700 Industrie- Abflachen der Entwicklung verlief die arbeitsplätze verloren gegangen. Alle Beschäftigungsdynamik seit 1995 erneut vier Betriebe waren Zweigwerke großer negativ bei wieder steigender Arbeitslo- Unternehmen, die ihren Stammsitz sigkeit. Größere Arbeitsplatzverluste außerhalb der Region haben. Der Verlust mußten vor allem das Verarbeitende Ge- dieser vier Produktionsbetriebe ist im we- werbe und das Baugewerbe hinnehmen. sentlichen auf einen generellen, meist Im Dienstleistungsbereich verlief die Ent- mit dem Schlagwort Globalisierung ver- wicklung trotz des Rückgangs im Einzel- sehenen wirtschaftlichen Strukturwandel handel zwar positiver, doch ist auch hier zurückzuführen. In dessen Folge stand die Beschäftigung seit 1999 wieder rück- und steht gerade die Textilwirtschaft un- läufig. Insgesamt wurde mit den über- ter so erheblichem internationalen Wett- durchschnittlichen Beschäftigungsein- bewerbsdruck, dass die Produktion an brüchen ein Großteil der Beschäftigungs- Hochlohnstandorten kaum mehr gehal- gewinne des vorangehenden Zeitraums ten werden kann. wieder zunichte gemacht. So lag die Be- schäftigung in Duderstadt 1999 um 2% Zusammenfassend bleibt festzuhal- unter dem Niveau von 1989. ten, dass die strukturellen Wirtschafts-

Tab. 5: Entwicklung der Landwirtschaft im Obereichsfeld (Land- kreis Eichsfeld) von 1995 bis 1999

1995 1996 1997 1998 1999 Anzahl der landwirt- 436 419 442 443 396 schaftlichen Betriebe

davon: Einzelunternehmen 385 366 386 383 334 Personengesellschaften 16 20 22 26 25 Jurist. Personen 35 33 34 34 37 Landwirtschaftlich 49.217 49.459 49.293 49.209 49.417 genutzte Fläche in ha Durchschnittliche Betriebsfläche in ha 112,8 118,0 111,5 111,0 124,7

Quelle: Statistisches Landesamt Thüringen, eigene Berechnungen Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg 101 schwächen und die räumlichen Standort- Schließung aller der eigentlichen Produk- nachteile des Untereichsfeldes nach der tion nur angelagerten Bereiche sowie zu Grenzöffnung nicht beseitigt worden einem starken Abbau der Produktions- sind. Gleichzeitig wurde die Region in ei- kapazitäten. Dabei gingen rd. 4.000 Ar- nen durch die Grenzöffnung erweiterten beitsplätze verloren. Nachdem die Baum- Wirtschaftsraum entlassen. Nach einer wollspinnerei größtenteils verkauft wor- kurzen Phase eines sonderkonjunkturel- den war, arbeiteten Ende 1991 in dem zu len Aufschwungs zeigte sich, dass sie den einer GmbH umgewandelten Restbetrieb neuen Bedingungen und insbesondere kaum noch 800 Beschäftigte. Heute wer- der im neuen Bundesland Thüringen her- den in der seit 1997 zur international tä- angewachsenen Standortkonkurrenz nur tigen Falke Gruppe gehörenden Leine- schlecht gewachsen ist. felder Textilwerke GmbH verschiedenste Garne und Zwirne hergestellt. Im Obereichsfeld verlief die wirt- schaftliche Entwicklung anders und ins- Die enorme Unterbeschäftigung im gesamt weitaus dramatischer, galt es Obereichsfeld wurde dadurch gemildert, doch, die durch die Planwirtschaft verur- dass viele Arbeitnehmer als Berufs- sachten Strukturprobleme zu lösen und pendler Arbeitsplätze in Niedersachsen den großen Entwicklungsrückstand der und Hessen finden konnten. Die Entlas- Wirtschaft zu beheben. Der mit der un- tung des regionalen Arbeitsmarktes ist vermittelten Einführung marktwirtschaft- auch heute noch beachtlich. Im Jahre licher Strukturen ausgelöste abrupte 2001 sind täglich 6.800 Arbeitnehmer aus Strukturwandel führte hier zu einem weit- dem Obereichsfeld zu Arbeitsstellen in gehenden Zusammenbruch der staatlich Niedersachsen ausgependelt, 3.400 Ober- subventionierten Landwirtschafts- und eichsfelder pendelten zu Arbeitsplätzen Industriebereiche. Die Einführung der DM in Hessen. Zum anderen entwickelte sich beschleunigte den Zerfall des überkom- aber auch schnell eine mittelständische menen Wirtschaftsgefüges und führte zu Wirtschaft. Es kam zu einem geradezu einem Wegfall der alten Exportmärkte. explosionsartigen Anstieg von Hand- Betriebsstilllegungen und eine hohe Ar- werksunternehmen, die ebenfalls, wenn beitslosigkeit waren die Folge. auch in geringerem Umfang, neue Be- schäftigungsmöglichkeiten eröffneten. Nicht zuletzt aufgrund der Anstren- Die Wirtschaft im Obereichsfeld ist bis gungen des Eichsfeldplans war die wirt- heute stark von mittelständischen Klein- schaftliche Struktur des Obereichsfeldes betrieben geprägt. Meist handelt es sich vor der Wende durch große industrielle um kleine handwerkliche Familien- Produktionsbetriebe geprägt. Unter den betriebe mit etwa 10 bis 30 Mitarbeitern. neuen marktwirtschaftlichen Bedingun- gen waren diese Betriebe nicht mehr Zur Entwicklung der Wirtschaft im konkurrenzfähig, die Produktion brach Obereichsfeld haben aber auch die Un- zusammen. In der Folge kam es zu einer ternehmen des Untereichsfeldes und der regelrechten Deindustrialisierung der Re- gesamten Region Südniedersachsen ei- gion, Tausende von Industriearbeitsplät- nen wichtigen Beitrag geleistet. Zu nen- zen gingen verloren. nen sind hier vor allem die untereichs- feldischen Unternehmer, die im Ober- Am Beispiel der Baumwollspinnerei eichsfeld und weiter östlich Filialen und Leinefelde, dem einstmals größten indus- Zweigwerke errichtet oder einen weite- triellen Arbeitgeber des Obereichsfeldes ren eigenständigen Betrieb gegründet lässt sich der dramatische Umbruch ver- haben. Gerade in den ersten Jahren nach anschaulichen. Nach der Wiedervereini- der Wiedervereinigung dürfte die Er- gung blieben die Aufträge aus den ost- schließung eines neuen Marktes den europäischen Ländern aus. Neue Absatz- Hauptanreiz zur Expansion gegeben ha- märkte konnten nicht erschlossen wer- ben, zumal die Nachfrage in den neuen den, da der Betrieb im Vergleich zu den Ländern zunächst nicht von der erst im Billiganbietern aus Niedriglohn-Ländern Aufbau befindlichen heimischen Wirt- nicht konkurrenzfähig war. Der notwen- schaft gedeckt werden konnte. Im Be- dige Umstrukturierungsprozeß führte zur reich des Handwerks war die Eröffnung 102 Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg eines Zweigbetriebs im Obereichsfeld oft macht die Wirtschaft außerdem anfällig auch mit der Hoffnung verbunden, wei- für konjunkturelle Schwankungen. tere Aufträge zu akquirieren und bei der Auftragsvergabe vor Ort in eine bessere Die regionale Wirtschaftsschwäche Wettbewerbsposition zu gelangen. schlägt sich auch auf dem Arbeitsmarkt nieder. Beiderseits der ehemaligen Gren- ze herrscht weiterhin Unterbeschäfti- gung. Hinzu kommt ein Mangel an Ar- Aktuelle Probleme im Eichs- beitsplätzen vor allem für höherqualifi- feld zierte Kräfte. Speziell die jungen und gut ausgebildeten Arbeitnehmer reagieren Beide Teile des Eichsfeldes leiden mit Abwanderung, da die Region ihnen auch zwölf Jahre nach der Wiedervereini- zu wenig berufliche Perspektiven eröff- gung noch an den Strukturschwächen nen kann. Einige Industriezweige sehen und Standortproblemen aus den Zeiten für die Zukunft bereits das Problem des der deutschen Teilung. So ist die gesamte Facharbeitermangels auf sich zukommen. Region bis heute ein schwach industriali- sierter Raum geblieben. Trotz der ten- Für die Erneuerung der Wirtschaft ist denziell weiter abnehmenden Bedeu- die Neuansiedlung moderner und inno- tung der Industriebranchen in Deutsch- vativer Unternehmen aus den Bereichen land stehen immer noch zu wenig Indu- Industrie und produktionsnahe Dienst- striearbeitsplätze zur Verfügung. Statt- leistungen unabdingbar. Dank einer dessen prägen eine Vielzahl von hand- großzügigen Ausweisung neuer Gewer- werklichen Klein- und Mittelbetrieben begebiete und einer massiven Investiti- das Bild einer mittelständischen Wirt- onsförderung sind im Obereichsfeld schaft. Die große Dominanz von Betrie- schon erste Erfolge erzielt worden. Das ben des Bau- und Baunebengewerbes Untereichsfeld konnte sich bislang jedoch

Sozialversicherungspflichtig beschäftigte Arbeitnehmer nach Wirtschaftsabteilungen im Altkreis Duderstadt und im Landkreis Eichsfeld am 30. Juni 1999

Altkreis Duderstadt Landkreis Eichsfeld

Quelle: Statistisches Landesamt Thüringen, Statistisches Landesamt Niedersachsen Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg 103

Arbeitslosenquoten im Altkreis Duderstadt und im Landkreis Eichsfeld von 1990 bis 2000 (abhängig zivile Erwerbspersonen im Jahresdurchschnitt)

Quelle: Arbeitsamt Göttingen, Geschäftsstelle Duderstadt; Statistisches Landesamt Thü- ringen

„Die neuen Gewerbegebiete im Obereichsfeld füllen sich.“ 104 Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg nicht als ‘grenzenlos’ attraktiver Standort stufung der neuen Bundesländer als För- profilieren. Abgesehen von kleineren dergebiete mit hoher Fördermittelaus- Existenzgründungen und einigen Hand- stattung bei gleichzeitiger Mittelstrei- werksbetrieben, die aus der näheren Um- chung im alten Gebiet der Bundesrepu- gebung eingewandert sind, hat es in den blik Deutschland erwiesen sich in den letzten fünf Jahren keine wirtschaftlich letzten Jahren als problematisch für die relevanten Neuansiedlungen mehr gege- strukturschwachen Gebiete Westdeutsch- ben. Damit konnte der zurückgehende lands. Am Beispiel des Eichsfeldes lassen Bestand an Industriebetrieben auch von sich die Verwerfungen exemplarisch auf- dieser Seite aus nicht kompensiert wer- zeigen. den. Allerdings trägt hier auch das unten erörterte Fördergefälle zu den neuen Aufgrund seiner anhaltenden Struk- Bundesländern dazu bei, dass struktur- turschwäche und des wirtschaftlichen schwache und verkehrstechnisch noch Entwicklungsrückstands zählt das gesam- immer ungünstig gelegenen Regionen te Eichsfeld seit der Wiedervereinigung wie das Untereichsfeld für Unternehmen zu den vom Bund und der Europäischen Union bevorzugt geförderten Regionen. auf Standortsuche kaum mehr in Be- tracht gezogen werden. Allerdings wird das Eichsfeld entlang der ehemaligen Grenze eingeteilt in eine Re- Trotz dieser Entwicklungsprobleme gion mit höchsten Förderquoten und sollte nicht übersehen werden, dass die eine Region mit deutlich geringeren För- zunehmenden räumlichen Verflechtun- dersätzen. So ist das thüringische Ober- gen der wirtschaftlichen und sozialen Be- eichsfeld innerhalb der EU-Strukturfonds ziehungen auch auf einen neu sich her- den Ziel1-Gebieten (Regionen mit Ent- ausbildenden Wirtschaftsraum hinwei- wicklungsrückstand) zugeordnet. In der sen. Für die Zukunft könnte sich hier eine von Bund und Ländern gemeinsam finan- neue wirtschaftliche Dynamik entfalten, zierten Gemeinschaftsaufgabe „Verbesse- die beide Teile des Eichsfeldes mit ein- rung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ schließt. Als ein positives Beispiel sei hier (GRW) hat es als A-Fördergebiet den nur der Tourismussektor erwähnt, der höchsten Status. Das niedersächsische bereits zu den aufstrebenden Wirt- Untereichsfeld hat innerhalb der GRW schaftszweigen zählt. Vor der politischen den Status eines C-Fördergebiets und Wende war die Entfaltung des Tourismus wird von der EU als Ziel 2-Gebiet (Regio- im gesamten Eichsfeld durch die Grenzsi- nen mit Strukturproblemen) eingestuft. tuation eingeschränkt. Auf Seiten der In der Praxis ergibt sich daraus ein deutli- DDR stellten die Reisebeschränkungen ches Fördergefälle. das wesentliche Hindernis dar, während Am deutlichsten schlägt sich dies bei dem westlich gelegenen Untereichsfeld den Investitionshilfen der GRW für die re- das landschaftlich attraktive Hinterland gionale Wirtschaft nieder. Im Obereichs- des Obereichsfeldes fehlte. Mit dem feld können Investitionen der gewerbli- Wegfall der Grenze hat sich für die ge- chen Wirtschaft und des Fremdenver- samte Region eine neue Perspektive er- kehrsgewerbes bis zu 35% (bei kleinen öffnet. Sie stand vor der Herausforde- und mittleren Unternehmen bis zu 50%) rung, das landschaftliche und kulturelle bezuschusst werden. Im Untereichsfeld Potenzial in seiner Gesamtheit für den belaufen sich die Zuschüsse auf höchstens Tourismus zu erschließen und als wichti- 18% (kleine und mittlere Unternehmen gen Wirtschaftsfaktor zu nutzen. Es kam 28%). Die Förderpraxis im Land Nieder- schnell zu einer grenzübergreifenden Zu- sachsen lässt aber eine Ausschöpfung der sammenarbeit. Mit dem „Heimat- und Höchstsätze faktisch kaum noch zu. Auf- Verkehrsverband Eichsfeld“ (HVE) ist grund der Finanzknappheit ist das Land bereits im Oktober 1991 eine grenzüber- dazu übergegangen, die GA-Mittel zu greifende Institution gegründet worden, strecken, so dass Investitionsvorhaben die das Eichsfeld seither als einheitliche großer Unternehmen in der Regel nur Region touristisch vermarktet. noch mit 10% oder weniger bezuschusst Der Wegfall der Zonenrandförderung werden. Auch kleine und mittlere Unter- zum Ende des Jahres 1994 sowie die Ein- nehmen erhalten nur noch in seltenen Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg 105

Ausnahmen den vollen 28%igen Zuschuss, Für beide Teile des Eichsfeld wäre es sehr sondern müssen sich gemeinhin mit viel hilfreicher, wenn es gelänge, Unter- höchstens 18% begnügen. Anders verhält nehmen aus den wirtschaftsstarken es sich im thüringischen Obereichsfeld. Ballungsräumen Deutschlands und des Hier gelten die höheren Fördersätze, und Auslands zur Ansiedlung sowohl im Thüringen ist aufgrund einer besseren Ober- als auch im Untereichsfeld zu be- Finanzausstattung auch in der Lage, die wegen. beantragten Subventionen in voller Höhe auszuschütten. So wurde beispielsweise Für das Eichsfeld sind die Zeiten der im Spätherbst 2001 für die Neuansied- Teilungen und der hermetischen Abgren- lung eines Großunternehmens der Kunst- zung seiner Teilregionen vorbei. Seit stoffproduktion in (Land- 1990 ist die einzig verbliebene Grenze im kreis Eichsfeld) der Höchstfördersatz von Eichsfeld eine Grenze zwischen den Bun- 35% der Investitionskosten bewilligt. desländern Niedersachsen und Thürin- gen. Damit ist das Eichsfeld auch heute Stark unterschiedlich ist auch die Mit- nicht die in sich geschlossene Region, die telausschüttung der EU-Kommission. es zu Zeiten der kurmainzischen Herr- Während im Untereichsfeld die Ziel 2- schaft war. Die politisch-administrative Maßnahmen nur mit bis zu 50% von der Wiederherstellung einer in diesem Sinne EU finanziert werden, können bei Ziel 1- einheitlichen Region Eichsfeld kann je- Maßnahmen im Obereichsfeld die Kosten doch kein sinnvolles Ziel sein. Die heutige bis zu 75% durch EU-Mittel abgedeckt administrative Gliederung ist als Resultat werden. Die restlichen Finanzierungsan- der Geschichte zu akzeptieren, was um teile müssen durch nationale Mittel auf- so leichter fällt, als die Landesgrenzen im gebracht werden. Die ungleiche Förde- föderalen System Deutschlands kaum rung zeigt sich auch darin, dass für Ziel 1- noch Trennendes bewirken. Gebiete erheblich mehr Mittel bereitge- stellt werden, als für Ziel 2-Gebiete. Ungeachtet der Landesgrenze ist im Eichsfeld mit der Wende ein stetiger Für Regionen wie das Eichsfeld, das Prozeß der wirtschaftlichen, sozialen und sich über Fördergrenzen hinweg er- kulturellen Zusammenwachsens eingelei- streckt, ist die zu grobe Mittelabstufung tet worden. Diese positive Entwicklung problematisch. Hier an der Schnittstelle ist auch von überregionaler Bedeutung, des Fördersystems kommt es zu Wettbe- denn den ehemaligen Zonenrandgebie- werbsverzerrungen mit dem Resultat von ten kommt im wiedervereinigten Betriebsabwanderungen und kleinräumi- Deutschland eine Schlüsselrolle bei der ger Verlagerung von Arbeitsplätzen von Verschmelzung der beiden deutschen West nach Ost. Aus Sicht der Unterneh- Staaten zu. Hier muß sich besonders zei- men macht es zwar Sinn, sich der im gen, wie die Angleichung der alten und Obereichsfeld üppigeren Investitionshil- neuen Bundesländer gelingen kann. Das fen zu bedienen, um die eigene Wettbe- Eichsfeld als ehemals einheitlicher Kultur- werbsposition zu stärken. Für den regio- und Wirtschaftsraum kann hier eine Vor- nalen Wirtschaftsraum können derartige reiterrolle einnehmen, indem die alten, wirtschaftliche Aktivitäten jedoch kaum historisch gewachsenen sozialen und positive Effekte bewirken. Unter dem wirtschaftlichen Verflechtungen wieder- Strich handelt es sich um eine Art Null- belebt werden. summenspiel, weil im Prinzip keine neuen Arbeitsplätze entstanden sind. Allerdings stellt diese Aufgabe die Re- gion auch vor besondere Probleme. Ne- Das bestehende Förderkonzept be- ben dem Anwachsen der Verkehrsströme darf demnach einer Überarbeitung auch haben sie vor allem die Folgelasten aus in Richtung einer stärkeren räumlichen dem unmittelbar aufeinander treffenden Differenzierung und Verfeinerung der wirtschaftlichen Leistungsgefälle zu tra- Förderinstrumente, denn es kann nicht gen. Während die Landkreise der neuen Ziel einer Regionalpolitik sein, dass Ar- Bundesländer in den ersten Jahren nach beitsplätze von einer strukturschwachen der Wiedervereinigung mit großen Kauf- Region in eine andere verlagert werden. kraftverlusten leben mußten, weil der 106 Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg

Tab. 6: Pendlerverflechtungen im Raum Duderstadt von 1992 bis 1999

Anzahl der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Arbeitnehmer (jeweils zum 30. Juni des Jahres) 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 Beschäftigte am 13.456 13.271 13.301 13.263 13.251 12.938 13.053 12.956 Wohnort - darunter: Auspendler 7.924 5.862 6.006 6.140 6.313 6.292 6.297 6.431 insgesamt - in die neuen k. A. k. A. k. A. 237 268 322 299 355 Bundesländer Anteil der Pendler in k. A. k. A. k. A. 1,79 2,02 2,49 2,29 2,74 die neuen BL an den Sozialversicherungs- beschäftigten in % Beschäftigte am 9.860 10.137 10.267 10.090 10.049 9.714 9.835 9.723 Arbeitsort - darunter: Einpendler 4.328 2.728 2.972 2.967 3.111 3.068 3.049 3.198 insgesamt - aus den neuen Bundesländern 1.667 k. A. k. A. 2.013 2.115 2.089 2.103 2.123 Anteil der Pendler aus den neuen BL an den Sozialversicherungs- beschäftigten in % 16,91 k. A. k. A. 19,96 21,04 21,51 21,38 21,83

Quelle: Arbeitsamt Göttingen, Geschäftsstelle Duderstadt

Nachfrageboom den westlichen Grenz- Einer reibungslosen Integration der regionen zugute kam, leiden die Land- Wirtschaft in einen gemeinsamen Wirt- kreise in den alten Bundesländern heute schaftsraum steht derzeit auch noch das unter ihrer kostentechnisch schlechteren Lohngefälle entgegen. Zwar sind bei der Wettbewerbsposition. Lohnanpassung in den neuen Bundeslän- dern bereits große Fortschritte erzielt Hinzu kommen noch weitere Proble- worden. Angesichts des in weiten Berei- me, die ein Zusammenwachsen derzeit chen der Wirtschaft immer noch deutli- behindern. Durch das oben beschriebene chen Produktivitätsrückstandes ist eine Fördergefälle entsteht eine dem Zusam- endgültige Angleichung der Löhne und menwachsen abträgliche kleinräumige Gehälter auf absehbare Zeit jedoch eher Konkurrenz um die Auslastung von Ge- unwahrscheinlich. In Regionen wie dem werbeflächen. Wichtig wäre hier eine Eichsfeld, die an der Schnittstelle der un- größere Kooperationsbereitschaft der re- terschiedlichen Tarifgefüge liegen, sind gionalen politischen Akteure zur gemein- die mit dem Lohngefälle verbundenen samen Entwicklung des Wirtschafts- Strukturverwerfungen deutlich spürbar. raums. Ohne eine Umgestaltung der För- Hier kommt es neben Belastungen loka- dergrundlagen wird das aber wohl kaum ler Arbeitsmärkte auch zu Formen von zu verwirklichen sein. Umgekehrt birgt Wettbewerbsverzerrungen. ein Fortbestehen des hohen Förder- gefälles die Gefahr, dass sich eine neue Ein größeres Problem stellen die Be- Ost-West-Trennlinie bildet. lastungen des für das Untereichsfeld Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg 107 wirtschaftlich so bedeutsamen mittel- Bereichen Warenhandel und Finanzströme) ständischen Handwerks dar. Die neu er- zur Erschließung neuer Märkte durch Direkt- wachsene Konkurrenz aus Thüringen investitionen im Ausland. konnte sich in den letzten Jahren auf- grund von lohnkosten- und teilweise GRW – Gemeinschaftsaufgabe „Verbesse- auch subventionsbedingten Wettbe- rung der regionalen Wirtschaftsstruktur“: Das werbsvorteilen wachsende Marktanteile wichtigste, von Bund und Ländern je zur Hälf- erobern. Im Jahr 2001 realisierte allein te finanzierte regionalpolitische Förderpro- das Bauhandwerk aus dem thüringischen gramm. In ausgewählten Förderregionen er- Obereichsfeld 40% seines Auftragsvolu- halten Unternehmen Investitionshilfen zur Er- mens in den alten Bundesländern. Stel- richtung oder Erweiterung von Betriebsstät- lenweise ist im eichsfeldischen Handwerk ten. Gebietskörperschaften werden außerdem bereits eine erbitterte Konkurrenz um je- durch finanzielle Zuschüsse für den Ausbau den Auftrag entbrannt. Die Verärgerung der wirtschaftsnahen Infrastruktur unter- auf seiten der Untereichsfelder Betriebe stützt. ist besonders groß, wenn Aufträge an Hanse: Zwischen dem 14. und 17. Jahrhun- Wettbewerber aus Thüringen verloren dert bestehender städtischer Handelsbund mit gehen, die sich als ehemalige Mitkonkur- Schwerpunkt im norddeutschen Raum. Die renten erst vor kurzer Zeit wenige Kilo- Hanse geht zurück auf den Zusammenschluss meter jenseits der ehemaligen Grenze von Kaufleuten im 11. Jahrhundert zur ge- ganz oder teilweise neu angesiedelt ha- meinsamen Behauptung ihrer Handelsrechte ben. im Ausland. Im 14. Jahrhundert Weiterent- Solange hier nicht strukturelle Verbes- wicklung zur Städtehanse. Die an dem Fern- serungen erzielt werden, kann das gera- handelssystem teilhabenden überwiegend de an der Nahtstelle der beiden deut- norddeutschen Hansestädte erlangten zeit- schen Staaten so wichtige Zusammen- weise großen wirtschaftlichen und auch poli- wachsen geschweige denn die ökono- tischen Einfluss. misch vorteilhafte Schaffung eines regio- Deutscher Bund: 1815 nach den sog. Be- nalen Wirtschaftsraums nur schwer vor- freiungskriegen gegründeter Staatenbund ankommen. von insgesamt 37 deutschen Einzelstaaten, darunter Preußen und Österreich. Der Deut- sche Bund hatte Bestand bis zur Bildung des Glossar: Norddeutschen Bundes im Jahre 1866.

EU-Strukturfonds: Die verschiedenen För- Industriedichte: Maß zur Angabe der Be- dermitteltöpfe, aus denen die Europäische deutung des industriellen Sektors in einem Union ihre Strukturhilfen zum Abbau des Wirtschaftsraum, gemessen an der Zahl der wirtschaftlichen Gefälles in den Mitgliedsstaa- Industriebeschäftigten je tausend Einwohner. ten finanziert. Die Unterstützung der wirt- schaftsschwächsten EU-Regionen gliedert sich Infrastruktur: Ausstattung einer Region nach drei Zielen: Ziel 1 fördert alle Regionen mit Behörden, Bildungs-, Kultur- und Freizeit- mit Entwicklungsrückstand. Ziel 2 hilft ländli- einrichtungen, Gesundheits- und weiteren so- chen und industriellen Gebieten bei der Be- zialen Einrichtungen, mit Strom-, Wasser- und wältigung des Strukturwandels. Ziel 3 unter- Gasversorgung sowie mit Straßen, Schienen- stützt als Instrument der europäischen Be- und Wasserwegen, Flughäfen (Verkehrsinfra- schäftigungsstrategie die Modernisierung der struktur) und Kommunikationsanlagen. Bildungs-, Berufsbildungs- und Beschäfti- Kombinate: Große verstaatlichte industri- gungssysteme. elle Produktionskomplexe in der DDR und an- Exklave: Abgeschlossener Gebietsteil eines deren sozialistischen Ländern, die sich aus ei- Staates innerhalb eines fremden Staatsgebie- nem Verbund von einzelnen, oft auch räum- tes. Aktuelles Beispiel: die russische Exklave lich getrennten Einzelbetrieben zusammen- Kaliningrad. setzten. Teilweise gehörten zu den Kombina- ten auch Betriebe, die der eigentlichen Pro- Globalisierung: Internationalisierung jegli- duktion vor- und nachgelagerte Aufgaben er- cher Wirtschaftsaktivitäten (vor allem in den füllten. 108 Struktur und Entwicklung der regionalen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg

Reparationsleistungen: hier: Begleichung durch Bedeutungsverschiebungen in und zwi- von Forderungen der alliierten Siegermächte schen den Wirtschaftssektoren. nach dem Zweiten Weltkrieg zur Wiedergut- machung und Entschädigung der Folgekosten Wirtschaftsstruktur: Anteile der Wirt- des von Deutschland verschuldeten Welt- schaftsbereiche Land- und Forstwirtschaft (pri- kriegs. märer Sektor), Industrie (sekundärer Sektor) sowie Handel und Dienstleistungen (tertiärer Strukturwandel: Veränderung der Wirt- Sektor) an den gesamten wirtschaftlichen Ak- schaftsstruktur in einem Wirtschaftsraum tivitäten einer Region. 109 Das katholische Milieu im Eichsfeld Hans-Georg Wehling

Das Eichsfeld stellt politisch-kulturell heftig und gewalttätig tobte wie kaum in Deutschland eine Besonderheit dar: Es irgendwo sonst. Sei es die DDR, die ist ein geschlossen katholisches Gebiet in- allerdings letztlich resignierte, das Eichs- mitten eines protestantischen Umfeldes, feld als „Indianerreservat“ auswies und eine Enklave, Folge ehemaliger territoria- als Ausweis dafür verkaufte, wie religiös ler Zugehörigkeit zum geistlichen Kur- tolerant das Regime sein konnte. So fürstentum Mainz. Diese Insellage mag konnte die berühmte Palmsonntags- erklären, dass kein anderes Gebiet in prozession in Heiligenstadt während der Deutschland so katholisch ist wie das gesamten Zeit der DDR unbehindert Eichsfeld. stattfinden - eine Prozession, die in ihrer äußeren Gestalt eher an die Prozessionen So haben das Gefühl und Bewusstsein der Semana Santa in Spanien, nicht zufäl- der Zusammengehörigkeit unter dem Ei- lig, erinnert als an Prozessionen andern sernen Vorhang, der mitten durch das Orts in Deutschland. Selbst in DDR-Zeiten Eichsfeld ging, kaum gelitten. Vielleicht nahmen an die 5.000 bis 6.000 Menschen hat das Obereichsfeld auch deswegen so aktiv daran teil, von den Teilnehmern am schnell den Anschluss an die Entwicklung Rande ganz zu schweigen, die teilweise im Westen gefunden, schneller wohl als auch nicht bloß zuschauten, sondern zum andere Gebiete in der ehemaligen DDR. guten Teil mit sangen und beteten. Man- Das Eichsfeld ist sichtbar katholisch, cher, der wegen seiner exponierten Stel- dorther bezieht es seine Identität und lung Nachteile zu befürchten hatte, seinen Zusammenhalt, gerade in einem konnte auf diese Weise zwei sich aus- nicht katholischen Umfeld, unter Regie- schließende Loyalitäten miteinander rungen, die weitgehend protestantisch durch randständiges Mitmachen ver- bestimmt waren und unter denen man knüpfen. Immer war die Zahl der Teilneh- im Eichsfeld immer wieder auch zu leiden mer auch ein Indikator für die jeweilige hatte. Kirchen, Kapellen, Wegkreuze, politische Wetterlage - was man in SED- Wallfahrtsorte und Wallfahrten sowie Kreisen sehr wohl wusste. Die Tradition Prozessionen bestimmen das Bild. Wie dieser Prozession war nicht einmal in der nirgendwo sonst in Deutschland weisen unmittelbaren Nachkriegszeit unterbro- die Gottesdienstordnungen auch an chen: Der zuständige sowjetische Kultur- Werktagen eine solche Fülle angekündig- offizier war ein Theatermann aus Odessa, ter Gottesdienste auf, in beiden Teilen dem man die Prozession katholischerseits des Eichsfeldes. Wenn man Deutschland als „Volksschauspiel“ verkaufen konnte. Nord und Deutschland Süd als politisch- Das „Stück“ begeisterte ihn, über die ver- kulturell getrennt ansieht, dann ist es botenen Blechbläser sah er großzügig letztlich die konfessionelle Prägung hinweg. evangelisch - katholisch, die den Unter- Das Eichsfeld stellt den Musterfall ei- schied markiert. Von daher war es nes „sozialmoralischen Milieus“ dar, wie durchaus zutreffend, wenn die Touristik- es der Soziologe M. Rainer Lepsius defi- werbung das Eichsfeld so kennzeichnete: niert hat: als ein Sozialgebilde innerhalb „Deutschlands nördlichster Süden“! eines abgegrenzten Raumes, das durch Es war die Insellage, aber auch der ein Glaubens- und Wertesystem konstitu- äußere Druck „feindlicher“ Regierungen, iert und aufrecht erhalten wird (das ist die meinten, mit der kleinen Enklave die „moralische“ Komponente); als eine leichtes Spiel zu haben: Sie machten das Gesinnungsgemeinschaft, die sich zusam- Eichsfeld so katholisch, wie es sich auch mengehörig fühlt und gegenüber der heute noch präsentiert. Sei es der Preußi- Gesamtgesellschaft als „Subkultur“ ab- sche „Kulturkampf“, der im Eichsfeld so grenzt. In eine solche Gemeinschaft wird 110 Das katholische Milieu im Eichsfeld man hinein geboren, jedenfalls im Regel- (noch) als Angehörige dieses Milieus ver- fall. Kennzeichnend für sozialmoralische stehen. Die Wahlergebnisse im Eichsfeld Milieus ist eine hohe Dichte an Sozial- sowohl in Niedersachsen als auch in Thü- beziehungen in Kommunikation und In- ringen sind von daher bis heute sehr auf- teraktion, die sich bis zu einem Monopol schlussreich. verdichten können, wie insbesondere im katholischen Milieu. Eine ähnliche Dichte Dass hier im Eichsfeld das katholische weist nur noch das klassische (protestan- Milieu auch bei Wahlen sich so geschlos- tische) sozialistische Arbeitermilieu auf, sen zeigt wie nirgendwo sonst, ist Folge während die beiden anderen von Lepsius der historisch erfahrenen Bedrohung, die identifizierten Milieus, das (evangelisch) in der Zeit des „Kulturkampfes“ zwischen konservativ-agrarische und (evangelisch) liberalem Staat und katholischer Kirche liberal-städtische Milieu, nicht den gleich erlebt wurde. Die katholische Reaktion hohen Abschließungsgrad zeigen. Ein In- des „Ultramontanismus“ tat das Ihre, aus diz für die Konsistenz des Milieus ist der katholischen Kirche im 19. Jahrhun- allemal das Konnubium, die Ehe mit Au- dert einen Kampfverband zu formieren, ßenstehenden, die in jedem Fall Proble- in dem der Klerus das Offizierscorps ab- me mit sich bringt, bei exklusiven Milieus gab, mit den Bischöfen als Generalität wie dem katholischen letztlich den Über- und mit einem national schwer fassbaren tritt, die Konversion, verlangt. Oberbefehlshaber, dem Papst, jenseits der Alpen (ultra montes, daher der Gefestigt wird das Milieu durch ein Name). Die Abschließung als Diaspora, umfassendes Vereinswesen, das - wie im die massive Bedrohung durch den soziali- katholischen Bereich - nahezu alle stischen, atheistischen Staat der DDR hat menschlichen und gesellschaftlichen Be- dazu beigetragen, das Milieu hier länger dürfnisse abzudecken in der Lage ist. als anderswo aufrecht zu erhalten. Eine eigene Presse einschließlich Buchge- meinschaften und Bibliotheken versucht, die Kommunikation intern zu organisie- ren und mit der Außenwelt zu kontrollie- Von der Reformation zur ren, um konkurrierende Einflüsse weitge- Re-Katholisierung: das hend auszuschalten. Das Umfeld wird katholische Eichsfeld entsteht durch ein eigenes Verbandswesen zu be- einflussen versucht sowie durch eine ei- So katholisch das Eichsfeld sich heute gene politische Partei, die als politischer präsentiert und sich auch selbst definiert: Arm des Milieus begriffen werden kann. das darf nicht darüber hinweg täuschen, Im Falle des katholischen Milieus ist es dass das Eichsfeld in der Reformationszeit das Zentrum, als Nachfolge-Partei bis in schon nahezu geschlossen lutherisch war, unsere Tage immer noch die CDU. Bei po- darin nicht unähnlich der Mainzerischen litischen Wahlen wird in Folge dessen Stadt Erfurt. Doch während sich im Falle nicht entsprechend der Attraktivität des von Erfurt der Mainzer Landesherr nicht Programm- oder Kandidatenangebots in der Lage sah, daran - trotz Rechtstitel konkurrierender Parteien gewählt, son- des Augsburger Religionsfriedens von dern entlang der Milieu-Zugehörigkeit. 1555, der ihm die Entscheidung über die Dabei wird der Wahlakt zum Ausdruck Religionszugehörigkeit gab - etwas der Milieu-Zugehörigkeit. Anders herum grundsätzlich zu ändern, griff er im Fall formuliert: Im klassischen katholischen des bäuerlich-dörflichen Eichsfeldes voll Milieu stellt die Stimmabgabe bei politi- durch. Und zudem - wie wir noch heute schen Wahlen eine andere Form des sehen können - überaus erfolgreich. Glaubensbekenntnisses dar, man stellt Lediglich dem landsässigen Adel - wie mit der Wahl der „richtigen“ Partei seine zum Beispiel den Hansteins - gelang es, Zugehörigkeit unter Beweis. Die evangelisch zu bleiben. Wir haben es also Stimmenanteile der Milieupartei in ei- im Falle des Eichsfeldes - modern gespro- nem Gebiet geben dann Aufschluss über chen - mit einer erfolgreichen ideologi- die Festigkeit des Milieus, darüber, wie schen Umerziehung zu tun, von der das viele Menschen in diesem Raum sich verblichene DDR-Regime nicht einmal zu Das katholische Milieu im Eichsfeld 111

Burg Hanstein träumen wagte. Reizvoll ist es, die Er- nicht beugen wollte, konnte ohnehin folgs-Bedingungen dafür heraus zu prä- wegziehen, so dass immerhin eine er- parieren, zu fragen, wie ein solcher Um- zwungene Freiwilligkeit des Konfessions- erziehungsprozess gelingen konnte. Da wechsels gegeben war - bei allen schwer Vorarbeiten fehlen, dieses Forschungs- wiegenden wirtschaftlichen Nachteilen, feld noch weitgehend unentdeckt ist, die ein Wegzug zur Folge haben musste. kann das hier nur in Umrissen erfolgen. Dann setzte man rechtgläubige Pfarrer ein. Aber die hatten kein leichtes Leben. Die äußeren Abläufe dieses Umer- Nicht nur dass der Gottesdienst-Besuch ziehungsprozesses sind schnell aufge- zu wünschen übrig ließ: Man warf den zählt: Zuerst wurden der protestantische neuen katholischen Pfarrern die Fenster Kult verboten und die lutherisch geson- ein und einem legte man sogar heimlich nenen Geistlichen des Landes verwiesen. eine Dirne ins Bett, um ihn zu kompro- Der Besuch protestantischen Gottesdien- mittieren. Die Bauern hatten bei all dem stes außerhalb des Landes wurde bei noch die tatkräftige Unterstützung des Leibesstrafe untersagt. Wie erfolgreich protestantisch gebliebenen Adels, der eine solche Maßnahme sein konnte, lässt durchweg das Patronatsrecht besaß, also sich im Nachhinein schwer abschätzen; das Recht, die Pfarrer zu bestellen, auch jedenfalls konnte man seiner Zeit das wenn diese nach dem Willen des bischöf- Land nicht mit Mauer oder Stacheldraht lichen Landesherrn „altgläubig“ zu sein samt Todesstreifen abschnüren. Wer sich hatten. 112 Das katholische Milieu im Eichsfeld

Von strategischer Bedeutung war wegen der Abschließung des Eichsfeldes zweifellos, dass der Mainzer Kurfürst in vergleichsweise rein erhalten können. Heiligenstadt - der historischen Haupt- stadt des Eichsfeldes - ein Jesuiten- Der Mainzer Kurfürst Johann Schweik- kollegium einrichtete, am 8. Mai 1581, kard von Kronenburg konnte bald den damit eines der frühesten in Deutschland Vollzug feststellen, denn er hatte – (nach Erfurt kamen die Jesuiten 1583, das wieder Wolf zur Folge: Reglerkloster dort erhielten sie erst „das Vergnügen, alle Bürger von 1615). Der klerikale Geschichtsschreiber Heiligenstadt wieder katholisch zu sehen Johann Wolf - der sorgfältig aus den bis auf einen Einzigen...Dieser allein blieb Quellen schöpft und an dem man bei der der lutherischen Lehre treu und ward Darstellung der Geschichte des Eichs- deshalb auch, als er starb, nicht auf dem feldes auch heute noch nicht vorbei Gottesacker, sondern in seinem Garten kommt - vermerkt 1792/93 in seiner „Poli- beerdigt.“ tischen Geschichte des Eichsfelds“ dazu: Probleme gab es vor allem mit der Die Jesuiten „waren nicht müßig, pre- selbstbewussten Stadt Duderstadt, die digten mit unermüdlichem Eifer nicht nur zwar auch ihre Jesuiten bekam, in der in der Stadt (d. i. Heiligenstadt, We.) und sich aber die Lutherischen gut halten namentlich in der ihnen vom Stifte einge- konnten und Re-Katholisierungsversuche räumten Liebfrauenkirche, sondern auch offenbar eher oberflächlich blieben und auf dem Lande, hörten Beichte, unter- bei nächster Gelegenheit wieder kippten. richteten die Jugend und besuchten die Der Kurfürst griff zu wirtschaftlichen protestantischen Familien häufig, um sich Sanktionsmaßnahmen, indem er z. B. den mit ihnen über religiöse Angelegenhei- Untertanen außerhalb von Duderstadt ten zu besprechen und sie dadurch zu verbot, Bier aus Duderstadt zu kon- gewinnen, was ihnen, wie wir aus ihren sumieren. Heute jedoch ist Duderstadt so Tagebüchern sehen, überaus häufig ge- gut katholisch wie das Eichsfeld ins- lang.“ gesamt, nach „Meyers Konversationslexi- kon“ von 1890 gilt Duderstadt als Entsprechend dem gegenreformato- „Hauptplatz des strengsten Ultramonta- rischen Programm, stellten die Jesuiten nismus“. dem protestantischen Wortgottesdienst sehr gezielt den an die menschlichen Sin- Um kein Missverständnis aufkommen ne appellierenden katholischen Kult ge- zu lassen: Die Re-Katholisierungsmaß- genüber, zur Gewinnung der Menschen nahmen waren nach damaligem Reichs- bzw. ihrer Seelen. Insgesamt also war es recht legal. Das Erstaunliche und aus eine Zangenbewegung von obrigkeitli- heutiger Sicht Untersuchungswerte ist, chem Druck und sinnenorientiertem, auf weshalb diese Maßnahmen vergleichs- Überwältigung statt auf Überzeugung weise schnell und so gründlich greifen setzenden Kult, die letztlich zum Erfolg konnten, innerhalb von nur 30 Jahren. führte, wie der bereits zitierte spätere Von Bedeutung könnte gewesen sein, Chronist Wolf bezeugt: dass diese Maßnahmen - wegen des „ ... so blieb ihnen (d. h. den Lutheri- Augsburger Religionsfriedens - auch von schen, We.) fast nichts Anderes übrig, als den Betroffenen selbst als legitim ange- auszuwandern oder zum Katholizismus sehen worden sind. Und wer nicht woll- zurückzukehren, welches Letztere Viele te, konnte (oder musste) ja das Land ver- um so lieber taten, als der katholische lassen. Beides war Jahrhunderte später in Gottesdienst in Heiligenstadt mit großem der DDR grundlegend anders. Eifer und besonderer Feierlichkeit und die Prozessionen mit bisher noch nie ge- sehenem Glanze begangen wurden.“ Kulturkampf und katholisches Die „spanische“, d. h. jesuitische Prä- Milieu gung der Heiligenstädter Palmsonntags- Prozession bis zum heutigen Tage kommt Die ideologisch-soziale Verfestigung also nicht von ungefähr, hat sich dann zu einem Musterfall eines sozial-morali- Das katholische Milieu im Eichsfeld 113

Palmsonntagsprozession in Heiligenstadt 114 Das katholische Milieu im Eichsfeld schen Milieus im Sinne von M. Rainer Dritten Reich und schließlich in der DDR Lepsius erfuhr das Eichsfeld im Kultur- bewähren konnte. Wie es einem Priester kampf zwischen protestantisch-preu- ergehen konnte, der die „Mai-Gesetze“ ßisch-säkularem Staat und katholischer der Kulturkampf-Zeit respektierte, zeigt Kirche zwischen 1871 und 1879. Hier hat- das Beispiel des Pfarrers Schaffeld, dessen te das preußische Eichsfeld besonders zu Kirche nicht nur leer blieb, sondern der leiden. So brachte das Verbot von Män- auch persönlich belästigt wurde, und ner- und Frauenorden starke Einbrüche zwar massiv: durch Anpöbelungen, Acker im Schulwesen und im sozial-caritativen mit Steinen bewerfen etc. Bereich. Priestern wurde das Gehalt ge- kürzt oder gar gestrichen, je nach Wider- Katholisches Milieu im Eichsfeld heute setzlichkeit; nicht einmal das ihnen zuste- muss vor dem Hintergrund solcher kol- hende Holz aus dem Gemeindewald lektiven Schlüsselerlebnisse gesehen wer- durften sie beziehen. Dutzende von Seel- den. Überhaupt scheint mir die Bedeu- sorgern wurden ins Gefängnis gesteckt tung des Kulturkampfes für die Fragmen- oder des Landes verwiesen. Der zuständi- tierungen politischer Kultur in Deutsch- ge Bischof von Paderborn, Konrad Martin land zu wenig gewürdigt zu sein. Unter- (1812 - 1879), im Eichsfeld geboren, lan- schiede im Parteiensystem und im Wäh- dete wegen seiner Widerspenstigkeit in lerverhalten, Binnendifferenzierungen Festungshaft in Wesel am Niederrhein, zwischen den katholischen Teilen Deutsch- konnte dann vor einer erneuten Inhaftie- lands in Bezug hierauf sind zu einem gu- rung nach Holland entfliehen, entging ten Teil Ausfluss davon, wie heftig dort der Auslieferung durch Flucht nach Belgi- der Kulturkampf getobt hat - oder eben en, wo er unter falschem Namen in ei- auch nicht. nem von Nonnen geleiteten Mädchen- pensionat als Religionslehrer untertauch- te (dort ist er auch gestorben). Soziale Folgen der Randlage Im Zuge des Kulturkampfes mussten Wirtschaftlich ist das Eichsfeld traditi- Gemeinden über viele Jahre hinweg onell ein armes Land. Deshalb suchten ohne Pfarrer auskommen, es gab - viele Eichsfelder einen Ausweg in der zumindest nicht offiziell - keine kirchli- Saisonarbeit. Die Frauen verdingten sich chen Eheschließungen, Taufen, Sterbesa- als Landarbeiterinnen in der Magdebur- kramente, Beerdigungen. ger Börde im Zuckerrüben-Anbau, auf Manche Geistliche gingen allerdings den Spargelfeldern um Braunschweig. in den Untergrund, spielten mit den Die Männer zogen als Hausierer und Mu- Verfolgungsbehörden Katz und Maus, sikanten durch die Lande: Das Stereotyp wie der Wallfahrts-Seelsorger auf dem vom „schnorrenden Eichsfelder“ ent- Hülfensberg, Marcellus Oldemöhle, der stand. Das aufkommende Eisenbahn- überall auftauchte und „unbefugt“ kirch- zeitalter und die zunehmende Industria- liche Amtshandlungen und Sakramenten- lisierung boten den Eichsfelder Männern Spendungen vornahm. Der verfolgende Arbeit als Maurer, Eisenbahn- und Stra- Staatsanwalt schrieb an den zuständigen ßenbauarbeiter. Die Untergrundbahn in Landrat von Hanstein (protestantischer Berlin wurde nicht zuletzt durch Bau- Eichsfelder Adel!): arbeiter aus dem Eichsfeld erstellt. Zeit- „Eine Bekanntmachung (des Haftbe- weilig hielt sich bis zu einem Viertel der fehls - We.) im Kreisanzeiger unterlasse regulären Einwohner des Eichsfeldes ich absichtlich, da die Mitwirkung des Pu- außerhalb der Heimat auf: blikums ohnehin nicht zu erwarten ist...“ So hebt Vinzenz Gerlach hervor, dass (Brief vom 23. 4. 1878) „aus der Gegend von Worbis/Duderstadt etwa 15.000 Männer als Bauarbeiter im Auch Verräter, Denunzianten gab es norddeutschen Raum unterwegs waren“ also kaum, auf die sonst immer Verlass und so hieß es einst: „Wenn der Pfarrer ist. Das Milieu war offenbar zu geschlos- das Evangelium verliest ‚Jesus treibt die sen, verfügte über eine Wagenburg- Teufel aus‘ (im zeitigen Frühjahr), müssen Mentalität, die sich später dann auch im die Eichsfelder aus dem Land hinaus.“ Das katholische Milieu im Eichsfeld 115

Wallfahrtsort Hülfensberg

Die spezifisch eichsfelderische Wirt- Doch auch die Fernwanderung fand schafts- und Sozialstruktur hatte zur sozia- statt, bis ins preußische Rhein-Ruhr-Re- len Folge, dass die Frauen ein erhebliches vier. Auch hier hielt man zusammen, Maß an Selbstbewusstsein erreichten, sei Eichsfelder-Vereine entstanden hier, es, dass sie als Saison-Arbeiterinnen Geld kirchlich geprägt. Gegen Ende des 19. ins Haus brachten oder im örtlichen Ge- Jahrhunderts gab es rund 80 Eichsfelder werbe, sei es dass sie bei langer Abwe- Vereine außerhalb der Heimat, man führ- senheit der Männer auf dem Bau daheim te gemeinsame Wallfahrten durch, so die das Regiment führten und die Kinderer- Eichsfelder aus dem Ruhrgebiet zur Wall- ziehung allein in ihren Händen lag. fahrtskirche in Bochum-Stiepel. Auch in der Großstadt, auch bürgerlich geworden Wer aus wirtschaftlicher Not für im- und in neuer Umgebung heimisch, er- mer auswandern musste, fand zunächst kannte man sich, und zwar nicht nur an nahe der Heimat Arbeit im Magdeburger so eigenartigen Eichsfelder Familienna- Industriegebiet. Um im fremden protes- men wie Löffelholz, Vatterrodt, Schnee- tantischen Milieu Heimat zu finden, gans, Votsmeier oder Huschebett. schloss man sich eng in der Pfarrge- meinde zusammen, scharte sich um die Kirche, verkehrte vorwiegend im katholi- schen Vereinshaus, wo auch Sorge getra- Das Eichsfeld im Sozialismus gen war, dass man den „richtigen“, d. h. katholischen Ehepartner fand. Somit bil- Kriegsende 1945 und Besatzung be- deten die Eichsfelder den harten Kern scherten dem Eichsfeld ein Schicksal, wie der dortigen Diasporagemeinden, der ka- es 44 Jahre ganz Deutschland zu ertra- tholischen Subkultur, der treuen Zen- gen hatte: die Teilung. Mit der preußi- trumswähler (und vielleicht auch heute schen Provinz Hannover geriet das Unter- noch der CDU-Wähler). eichsfeld mit seiner Hauptstadt Duder- 116 Das katholische Milieu im Eichsfeld stadt unter britische Besatzung, das munisten. Doch die politökonomische Va- Obereichsfeld mit seiner Hauptstadt Hei- riante des sozialstrukturellen Ansatzes ligenstadt, wie Thüringen insgesamt, zu- wurde in der Realität falsifiziert: Die nächst kurz unter amerikanische, dann Menschen zog es am Wochenende aus ih- endgültig unter russische Besatzung und ren unwirtlichen Neubaugebieten, in wurde so Teil der DDR. Plattenbauweise, zurück in ihre Heimat- dörfer, sie nahmen dort am kirchlichen Nach der Teilung Deutschlands erwies Leben und kirchlich geprägten Gesellig- sich das in Thüringen gelegene Ober- keiten, Festen und Feiern teil - Leinefelde eichsfeld für die DDR als ein „steiniger wurde am Wochenende zur toten Stadt. Acker”. Die Schwäche des DDR-Regimes Geholfen hat es auch wenig, dass man im Eichsfeld bestand darin, dass es sich aus dem Raum Karl-Marx-Stadt/Chemnitz bei dem hermetisch geschlossenen katho- „atheistische“ Spinnerei-Arbeiter ange- lischen Milieu allenfalls auf protestanti- siedelt hatte. Denn ihrer ökonomischen sche oder -mehr noch - glaubenslose Zu- Lage nach waren die Eichsfelder eigent- wanderer stützen konnte, auf Heimatver- lich schon immer Proletarier gewesen; triebene, von der DDR-Regierung ins doch „an kärgliches Leben gewöhnt, Land Geholte, auf Außenseiter, Karrieri- dachten und fühlten sie entschieden mit- sten mit zweifelhaftem Ruf und nicht telständig, ein Gefühl, das noch verstärkt immer besonders ausgeprägter Intelli- wurde durch einen kleinen Grundbesitz,“ genz, Existenzen, mit denen man nicht in wie A. Hartung in einer Studie ermittelte. jedem Fall Staat machen konnte. Selbst Lehrerinnen, die hierher versetzt worden Hinzu kam ihr ausgeprägter katholi- waren, um die Kinder im Geiste des Sozi- scher Glaubensbesitz, der sie vor dem Ge- alismus zu erziehen, konnten manchmal fühl bewahrt hatte, Proletarier zu sein. nicht anders, als sich bei nicht ausblei- Ihre geistlichen Führer taten immer schon benden Disziplin-Problemen den Pfarrer alles, diesen Besitz zu wahren, auch in zu Hilfe zu holen. der Fremde, in den Eichsfelder Vereinen - und später eben in der sozialistischen Die katholische Kirche, Pfarrer wie DDR. Gläubige, stellten sich auf Überwintern ein, symbolisch sichtbar werdend am Hülfensberg, der alten Wallfahrtsstätte dicht an der Zonengrenze unweit von Eschwege, wo über Jahrzehnte hinweg Das Eichsfeld heute der Franziskanerpater Erwin allein mit Die „Wende“ 1989 innerhalb der DDR seiner Haushälterin ausharrte, nahezu vollzog sich im Eichsfeld vergleichsweise ohne Wallfahrer, die hier in der 500-Me- unproblematisch. In den Kreisen Heili- ter-Zone der DDR-Grenze faktisch keinen genstadt und Worbis stand genügend Zutritt hatten. unbelastetes Personal zur Verfügung, das Das Regime hatte freilich versucht, die entscheidenden politischen Positio- die wirtschaftliche Lage des Eichsfeldes nen besetzen konnte. Zumeist waren es zu verbessern, es aus der Situation des Ingenieure und Ökonomen aus den an- Armenhauses herauszuholen, nicht zu- sässigen Industriebetrieben. Denn wer letzt aber auch, um das Land ideologisch sozial aufsteigen wollte, ohne sich allzu damit aufzubrechen - mit dem Eichsfeld- eng an das Regime binden zu wollen, Plan, der auf Initiative des ersten DDR- hatte ein solches eher unverfängliches Ministerpräsidenten Otto Grotewohl zu- Studium gewählt. Unter den Sonder- rückging; er kannte die Verhältnisse im bedingungen des Eichsfeldes hatte man Eichsfeld sehr gut. Ausgangspunkt war darüber hinaus auch am wenigsten Kom- der Eisenbahn-Knotenpunkt Leinefelde. promisse mit dem Regime einzugehen brauchen. So mag es beispielsweise kaum Die damit verbundenen ideologischen verwundern, dass innerhalb der noch- Überlegungen: Industrialisierung bedeu- DDR Heiligenstadt mit Bernd Beck den tet Arbeiterschaft, Arbeiterschaft bedeu- ersten demokratischen Bürgermeister be- tet Proletariat, Proletariat bedeutet Kom- kam. Das katholische Milieu im Eichsfeld 117

Bei den Wahlen erhält die CDU im So spricht alles dafür, dass das Eichs- Eichsfeld Traumergebnisse. So bei den feld hüben wie drüben auch weiterhin Wahlen zum Thüringer Landtag von 1999 eine Hochburg der CDU und für die SPD in den Wahlkreisen Eichsfeld I 70,3% und ein schwieriges Feld bleiben wird. Selbst Eichsfeld II 66,8% Landesstimmen (= evangelische Pfarrer sind im Eichsfeld im Zweitstimmen). Zuge der Wende bei der CDU heimisch geworden. Hier im Eichsfeld zeigte sich bei den ersten freien Wahlen auch, dass nicht Vor dem Hintergrund einer starken überall in der noch bestehenden DDR CDU-Orientierung auf Grund einer bis- (wie auch später bei den Wahlen in den lang festen Milieu-Verankerung ist zu Neuen Bundesländern) die Wahlen reine verstehen, dass eine Diskussion um eine Progamm-Wahlen waren und sind, bei mögliche Wiedervereinigung des Eichs- denen nicht entlang überkommener feldes (Duderstadt/Niedersachsen - Heili- Parteibindungen gewählt wird, sondern genstadt/Thüringen) vorwiegend taktisch nach dem Nutzen, den man sich vom je- geführt wird: Ein Verlust des zu Thürin- weiligen Partei-Anbieter verspricht: gen gehörigen Eichsfeldes wird von der schnelle Wiedervereinigung und schnelle CDU in Erfurt genau so gefürchtet wie Einführung der DM beispielsweise. Wah- von der SPD in Niedersachsen: Die thürin- len also als Kosten-Nutzen-Kalkül im Sin- gische CDU benötigt das Eichsfeld zur ne der ökonomischen Theorie der Politik Stabilisierung ihrer Mehrheit, wohinge- von Anthony Downs. Hier im Eichsfeld gen die SPD-Mehrheit in Niedersachsen kamen und kommen demgegenüber durch eine Umgliederung des Kreises immer noch Wählertraditionen zum Zug, Heiligenstadt nach Niedersachsen gefähr- die nicht verschüttet oder überlagert sind det wäre. Aus denselben Gründen fände wie in anderen Teilen der ehemaligen die niedersächsische CDU eine solche DDR. Das protestantisch-liberale Milieu, Wiedervereinigung unter niedersächsi- das protestantisch-agrarische Milieu mö- schem Vorzeichen genau so positiv wie gen gegenstandslos geworden sein, das die thüringische SPD. Von daher wird sich sozialdemokratische Milieu mit seinem in absehbarer Zeit an der bestehenden organisatorischen Rückhalt in den Ge- Grenzziehung wohl kaum etwas ändern, werkschaften mag durch vierzig Jahre zumal die Bevölkerung - im Gegensatz zu DDR zerstört sein: das katholische Milieu den Zeiten der deutschen Teilung - unter hat zumindest im Eichsfeld die DDR ziem- dieser Teilung nicht zu leiden hat. lich unbeschädigt überstanden und äu- ßert sich deutlich im Wahlverhalten. 118

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Umschlagbild und Abb. S. 16: Foto: Konrad Abb. S. 41: Nach: Mannhardt 1865 u. v. d. Lochner Goltz, 1875 Abb. S. 7: Quelle: Heimatzeitschrift „eichsfeld” Abb. S. 42: Aus: Festschrift des Vereins der Abb. S. 8 + 9: Karte des Eichsfeldes aus: Topo- Eichsfelder in Gelsenkirchen, 1951 graphische Übersichtskarte 1:200.000 CC 4726 Abb. S. 45: Foto: Josef Keppler Goslar und CC 4718 Kassel, hrsg. vom Bundes- amt für Kartographie und Geodäsie 2002 Abb. S. 48: Foto: Kreisarchäologie Göttingen Abb. S. 10: Foto: Iris Blank Abb. S. 50: Foto: Kreisarchäologie Göttingen Abb. S. 11: Vgl. auch Hüther, 1997, S. 48 Abb. S. 51: Quelle: Kreisarchäologie Göttingen Abb. S. 12: Aus: B. Günkel: Wulftens Grenzen Abb. S. 52: Quelle: Kreisarchäologie Göttingen in Vergangenheit und Gegenwart. In: Greunig, Abb. S. 53: Foto: Kreisarchäologie Göttingen D. (Bearb.): Wulften am Harz. Horb 1989, S. 42 u. 46 Abb. S. 54: Quelle: Kreisarchäologie Göttingen Abb. S. 15: Aus: Grenzschutzkommando Nord, Abb. S. 56: Quelle: Kreisarchäologie Göttingen 1987, S. 6 Abb. S. 58: Foto: Kreisarchäologie Göttingen Abb. S. 16: Aus: Geostudien 14, 1995, Titelbild. Abb. S. 60: Quelle: Kreisarchäologie Göttingen Foto: Konrad Lochner Abb. S. 61: Foto: Kreisarchäologie Göttingen Abb. S. 18: Aus: Ebeling: Grenze im Eichsfeld, Eichsfelder Tageblatt, 27.7.1990 Abb. S. 63: Quelle: Topographische Karten Abb. S. 21: Aus: Bork/Rohdenburg, 1979, S. 124 1:25000, Nr. 4324 (Gieboldehausen), S. 4424 (Duderstadt) (verkleinert) Abb. S. 22: Erlebniszentrum Gut Herbigshagen Abb. S. 64: Foto: Eckart Schröder Abb. S. 23: Grenzlandmuseum Eichsfeld Abb. S. 68: Quelle: Niedersächsische Landes- Abb. S. 26: Ausschnitt aus D. Denecke Göttin- zentrale für politische Bildung gen im Netz der mittelalterlichen Verkehrs- wege. Kartenbeilage in: Denecke/Kühn (Hrsg.): Abb. S. 70: Quelle: Stadtarchiv Duderstadt Göttingen, Geschichte einer Universitätsstadt, Abb. S. 71: Quelle: Stadtarchiv Duderstadt Bd. 1, 1987 Abb. S. 74: Foto: Josef Keppler Abb. S. 28: Aus: Hussong, U., Die Verfassung der Stadt Duderstadt, 1989, S. 21 Abb. S. 77: Foto: Institut für Historische Lan- desforschung, Göttingen Abb. S. 29: Aus: Müller, Johannes: Der Dorfan- ger des Eichsfeldes, Heiligenstadt 1951 Abb. S. 78: Foto: Göttinger Bildwerk e.V., Abb. S. 30: Aus: Hempel, L., 1957, Karte IV Göttingen Abb. S. 31: Ausschnitt aus TK 25, Bl. 2522 Abb. S. 80: Foto: M. Krüsemann Duderstadt, 1910, verkleinert Abb. S. 82: Foto: M. Krüsemann Abb. S. 32: Stadt Duderstadt Abb. S. 85: Quelle: Ritter/Hajdu (1982): Die Abb. S. 33: Plan von J. G. Lingemann deutsch-deutsche Grenze, Köln Abb. S. 35: Aus: Sauerteig, H., 1940, Karten- Abb. S. 88: Foto: M. Krüsemann beilage 3 Abb. S. 91: Foto: H. Diedrich Abb. S. 35: Aus: Boeminghaus, D.,1976, Beilage) Abb. S. 96: Foto: J. Keppler Abb. S. 37: Aus: Pfeiffer, H., Die Verkehrser- schließung des Hannoverschen Eichsfeldes. In: Abb. S. 97: Quelle: Das Untereichsfeld und Neues Archiv für Niedersachsen 29, 1980, S. Obereichsfeld, Der Landkreis Duderstadt in Ver- 256a gangenheit, Gegenwart und Zukunft, hrsg. vom CDU-Kreisverband Duderstadt, 1968 Abb. S. 40: Aus: Wanderarbeiter aus dem Eichsfeld, Duderstadt 1989 Abb. S. 98: Foto: M. Krüsemann Verfasser 123

Abb. S. 103: Foto: M. Krüsemann Abb. S. 115: Quelle: Broschüre Orgelweihe auf dem Hülfensberg 7. Okt. 2001. Foto: Bruno Ha- Abb. S. 111: Foto: HVE Eichsfeld Touristik gedorn Abb. S. 112: Foto: HVE Eichsfeld Touristik Umschlagseite 4: HVE Eichsfeld Touristik

Die Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung dankt allen Rechteinhabern für die freundlichst erteilten Abdruckgenehmigungen. Wo es trotz intensiver Bemühun- gen in Einzelfällen nicht gelungen ist, Kontakte zu Rechteinhabern herzustellen, werden diese gebeten, sich gegebenenfalls mit der Landeszentrale in Verbindung zu setzen. 124

Verfasser

Dr. phil Peter Aufgebauer Akademischer Rat am Institut für Historische Landesforschung der Universität Göttingen

Dr. phil. Dietrich Denecke Professor für Geographie an der Universität Göttingen, i.R.

Dr. phil. Klaus Grote, M.A. Archäologieoberrat, Kreisarchäologe beim Landkreis Göttingen (untere Denkmalschutzbehörde)

Markus Krüsemann Soziologe, Mitarbeiter am Institut für Regionalforschung, Göttingen

Dr. Eckart Schröder Geograph, Mitarbeiter der Kreisdenkmalpflege Göttingen

Dr. Hans-Georg Wehling Professor an der Universität Tübingen, Leiter der Abteilung Publikationen der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg