Karl-Heinz Strehlke Meine Schulzeit im Dritten Reich

Mit einem Anhang von Rose Scholl: Nationalsozialistische Schulerziehung in Garbsen

c,.Schriftenreihe zur Stadtgeschichte, Heft 2 Karl-Heinz Strehlke

Meine Schulzeit im Dritten Reich

Mit einem Anhang von Rose Scholl: Nationalsozialistische Schulerziehung in Garbsen

Garbsen 1992

C.Schriftenreihe zur Stadtgeschichte, Heft 2 Redaktion: Rose Scholl, Stadtarchiv Garbsen

Die Verantwortung für Haupttext und Fotoauswahl liegt beim Autor.

Besonderer Dank an die Riedel-de Haen AG, Seelze, für die Abdruckgenehmigung von Abb. 1

c,.Stadt Kultur- und Sportamt

- Stadtarchiv - G arb sen 3008 Garbsen 4

ISSN 0940-0974

Gesamtherstellung: Ernst Knoth, Meile

Gedruckt auf chlorfreiem Papier. • Meine Schulzeit Im Dritten Meine Erinnerungen sind nicht frei von Eigensinn. Es muß damit gerechnet werden, daß nach einem Reich zeitlichen Abstand von mehr als fünfzig Jahren die Ereignisse dem Betrachter verschönt und ver­ I. klärters cheinen. Dennoch benötigen wir die Erin­ nerungen von Zeitzeugen, um uns ein Bild ma­ Ostern 1931 wurde ich in Seelze eingeschult. chen zu können. Nach Enzensberger ist die Ge­ Nach der Grundschulzeit besuchte ich am glei­ schichte der Völker geschrieben, die der Leute chen Ort im sei ben Gebäude die sogenannte noch nicht. «Gehobene Abteilung» und im Anschluß daran Dieienigen mögen ihre Scheu ablegen, wenn sie die Höltyschule in Wunstarf bis zu meiner Einbe­ etwas zu berichten haben. Wer seine Vergangen­ rufung am 01 . Juni 1942. heit verleugnen will, der fühlt sich ihr entweder Bis 1937 wohnte ich in Seelze, danach in Garb­ nicht gewachsen oder von ihr verfolgt. sen.

Je mehr ich mich in diesen Wachen erinnere, 11. desto näher rückt die Zeit mit den Ereignissen im Dritten Reich, obgleich sie sich doch mit iedem Dos Foto von meinem ersten Schultag mit der Tag weiter entfernt. Dabei muß ich feststellen, Zuckertüte gibt es nicht. Wie es eben Anfang der daß ich schon etliche Details aus iener Zeit ver­ dreißiger Jahre den Fotoapparat in Privatbesitz gessen habe. Oder habe ich als Betroffener den im allgemeinen nicht gab. Daher besitzen Fotos, bequemen Weg gewählt, einfach zu verdrängen, die meine Erinnerung stützen können, einen Sel­ damit lästige Erinnerungen gar nicht aufkommen tenheitswert. können? Es gibt aber keinen Zweifel darüber, daß uns Geschichte ist Vergegenwärtigung der Vergan­ August Behrens als Klassenlehrer vier Jahre lang genheit, das Gegenteil von Vergänglichkeit. Ich während der Grundschulzeit fest im Griff hatte. kann das ferne Land der Vergangenheit nicht "Wenn Du nicht aufpaßt, dann setze ich Dich auf mehr betreten. Ein Bild kann ich mir von ihr ent­ meine Hand», mit diesen Worten näherte er sich werfen. Andere machen sich ein anderes Bild. demonstrativ einem Fenster im Klassenraum, Zwischen den Bildern wird es Übereinstimmungen "öHne das Fenster und drehe die Hand um». In geben, aber auch Unterschiede. Daher müssen unserer Phantasie malten wir uns qualvoll aus, wir uns hüten, unsere persönlichen Erfahrungen wie ein Sturz aus dem ersten Stock ausgehen vor der Haustür voreilig zu verallgemeinern. könnte.

3 Ich sehe noch deutlich, wie sich Gerhard Nehring An einem Montag betrat August Behrens mit und Georg Stroh bach mit schmerzverzerrtem Ge­ freudiger Miene den Klassenraum. Es muß 1932 sicht ihren Plätzen wieder näherten, wenn sie eine nach einer Wahl gewesen sein. Entgegen seiner Tracht Prügel bezogen hotten. Da sie mit der sonstigen Gewohnheit, uns in der ersten Stunde Rechtschreibung, obgleich sie schon zweimal die mit Kopfrechnen einzuheizen, kam er auf die Klasse wiederholt hatten, auf Kriegsfuß standen, Wahl vom Sonntag zu sprechen. Die NSDAP ereignete sich diese Prozedur in jeder Woche mußte wohl bei einer Reichstagswahl Stimmen immer wieder aufs neue. Aus diesem Lernprozeß hinzugewonnen haben. "Was ist euch gestern gab es kein Entrinnen. Ich kann mich nicht erin­ aufgefallen?)) So ähnlich leitete er zum Thema nern, daß August Behrens wegen Krankheit ein­ über. Verschiedene Schüler berichteten. Auch ich mal seinen Dienst versäumen mußte. Als seine meldete mich zu Wort: "Herr Behrens, bei uns Frau verstorben war, hat uns ein Mädchen aus war ein Plakat an die Rinne geklebt. Darauf der 8. Klasse aus Robinson Crusoe vorgelesen. Es konnte man lesen: (Große Klappe, wenig Geist, blieb wie immer mucksmäuschenstill in der das Ganze heißt,)). Er verzog das Klasse. Gesicht ein wenig und schwieg.

Die großen Pausen kamen mir wie eine Erläsung Bei uns - das war in einer Arbeitersiedlung nahe vor. Im Sommer standen wir Schlange vor der der Firma Riedel de Haen. Dort standen 24 Häu­ Trinkanlage auf dem Schulhof. Wenn man einen ser mit je vier Wohnungen on einem KohIaschen­ Griff noch unten drückte, stieg eine dünne Fon­ weg. Die Wohnsiedlung, im Volksmund auch täne auf, die mehr oder weniger geschickt mit Kolonie genannt, war eine sozialdemokratische dem Mund aufgenommen wurde. Hochburg. Von den 96 Familien zeigten bei Wah­ len die weitaus meisten Fahnen mit den Farben Meine Mutter hatte mich aus Sorge um mein kör­ schwarz-rot-gold oder mit den drei Pfeilen auf perliches Wohlergehen nach Rücksprache mit Dr. rotem Grund. Nur wenige waren mit Hammer Bernis dazu verdammt, an der Schulspeisung und Sichel zu sehen. Von zwei Familien war be­ teilzunehmen. Dort unten im KeIlergeschoß rach kannt, daß sie sich der Nazibewegung ange­ es unerträglich nach Firnisöl, Schweiß und dem schlossen hatten. Suppengericht, das täglich wechselte. Frau Hoff­ mann konnte kochen, was sie wollte. Bis auf die 1932 wurde die Bevölkerung fünfmol an die Schokoladen- und Puddingsuppe habe ich nur mit Wahlurne gerufen, so daß eigentlich dauernd Widerwillen gegessen. Erst Jahre später habe ich Wa hlkampfstimmung herrschte. Verdöchtigungen meinen Widerstand aeqen Erbsensuppe aufgege­ und Beleidigungen des politischen Gegners wur­ ben. den kaum noch zur Kenntnis genommen. Das

4 laut kläffend auf die Männer zu, die inzwischen abgestiegen waren. Pflastersteine und Flaschen flogen hin und her. Die Tätlichkeiten endeten erst, als sich die Angreifer über die breite Freitreppe wieder ins lokal zurückzogen.

Da mon sich on solche Vorkommnisse längst gewöhnt hoHe, stellte sich in den Gärten alsbald wieder Sonntagsstimmung ein, als wäre nichts gewesen. Abb. 1: Die Kolonie WI,Irde um 1900 für Werksongehörige der Firmo Riedel de Hoen erbout, spOter in Oe Hoen-Stroße umbe­ Mein Vater hoHe oben auf dem Küchenschrank nonnl und in den 70er und 80er Jahren in Etappen abgerissen. einen Gummiknüppel bereit gelegt, der aus einem Bündel starker Drähte bestand, die mit gegenseitige Überstreichen von politischen Para· einem Gummischiauch überzogen waren. Der len war on der Tagesordnung_ So konnten wir obere Teil war zu einem Griff gebogen. Die SA fast an jedem Morgen on der Fabrikplanke der hatte nur einmal versucht, durch die Kolonie zu Firma Riedel de Haen eine neue Parole bewun· marschieren und holte sich eine handfeste Ab· dern, während eine andere unkenntlich gemocht fuhr. Noch war diese Bastion uneinnehmbar. war. Der Wahlkampf ortete ober auch in Gewalt· tätigkeiten aus, die keineswegs nur mit Fäusten, 111. vielmehr mit Schlagringen, Stahlruten und festste· henden Messern ausgetragen wurden. Damals wohnte mon noch ganz streng noch sei· An einem SonntagnachmiHag wurden wir aus nem sozialen Status. Die werkseigenen Wohn· unserer Gartenidylle durch auffällige Geräusche quartiere für die Mitarbeiter der chemischen aufgeschreckt. Wir konnten miterleben, wie auf Fabrik waren noch diesem Strickmuster errichtet. der Straße vor der laubenkolonie eine handfeste In der Kolonie wohnten die Arbeiter und Fachar· Schlägerei im Gange war. Eine Gruppe unifor· beiter, in den sogenannten Beamtenhöusern, mierter Reichsbannerleute auf Fahrrädern wurde ebenfalls in einem Siedlungscharakter erbaut, die aus dem nahegelegenen Kasino, das Speisewirt· Angestellten und Werkmeister, während die lei· schaft für Werksangehörige und auch Stammla· tenden Angestellten in Einzelhäusern, die sich in kai für Nazianhänger war, beschimpft und be· der gehobenen Bausubstanz von den anderen warfen. Temmings große gefleckte Dogge stürzte Quartieren deutlich abhoben, zu Hause waren.

5 Es gab Zeiten, da spielten wir aus der Kolonie rinnen paßten genau auf und zählten mit, um die gegen die Jungen aus den «Beamtenhäusern» Siegerin zu ermitteln. Fußball. Um den Sieg wurde verbissen gekämpft. Eine Niederlage ging uns an die Ehre, weil da An diese Spiele muß ich oft zurückdenken; denn sicherlich auch die sozialen Spannungen mit hin­ wieviel Zeit und Mühe muß die Sportlehrergene­ einspielten. Der Verlierer hat immer gleich ein ration von heute aufwenden, damit die Schülerin­ Revanchespiel gefordert. Wer sich dem nicht nen lernen, ganz einfach nur mit zwei Händen stellte, wurde als Feigling tituliert. Es gab aber einen Ball zu fangen. auch Zeiten, da wurden die Auseinandersetzun­ gen äußerst handgreiflich geführt. Der Kriegs­ Vier Jahre mußten meine Eltern mit mir in einem schauplatz war das Gebiet der Alten Leine zwi­ Zimmer bei meiner Großmutter in der Kolonie schen dem Fabrikgelände von Riedel und dem ausharren, bis sie endlich dort eine eigene Woh­ Mittellandkanal. Insgesamt überwog aber dach nung beziehen konnten. Die Räume unter dem die friedliche Epoche mit sportlichen Aktivitäten. Dach waren klein. In den Schlafräumen für mich und meine Eltern gab es nur jeweils ein kleines Weit geruhsamer ging es zu, wenn wir auf dem Dachfenster. Wenn man sich nicht auf einen Stuhl Marktplatz stundenlang den Pindop schlugen stellte, konnte man nur den Himmel sehen. Gleich oder uns in einem Geschicklichkeitsspiel gegen­ vom Treppenhaus aus erschlossen drei Türen den seitig die türkischen Bohnen ablotsten. Dabei Wohnbereich. Bei Strehlkes gab es in der Küche waren die bunten Bahnen, nämlich die «Kaiser» einen Herd und im Wohnzimmer einen Kohleofen. besonders begehrt. Dos war noch die gute alte Stube, die nur an Derweil erprobten die Mädchen ihre Geschick­ besonderen Feiertagen benutzt wurde. Die ande­ lichkeit mit dem Ball, der sogenannten «BalI­ ren Räume waren nicht zu beheizen. Es war keine probe». Dabei wurde der Ball mit der flachen Seltenheit, daß im Winter das Wasser im Wasch­ Hand, mit der Faust, mit dem Unterarm, dem geschirr gefror. In der Küche standen auf dem Oberarm, der Schulter, der Brust, dem Kopf und Wasserschrank zwei Eimer für Trinkwasser und in dem Knie so oft wie mäglich an die Hauswand der Ecke der für Schmutzwasser. Das eine mußte gedippt, ohne daß er auf den Boden fiel. Die bei Bedarf von der Pumpe auf der Straße nach Reihenfolge der in Aktion tretenden Kärperteile oben getragen werden, das andere wurde unten wechselte und wurde als Spielregel genau festge­ ausgeschüttet, so daß es irgendwo versickerte. Im legt. Manche Mädchen erhöhten den Schwierig­ Winter wurden die Pumpen in Stroh eingepackt keitsgrod noch, indem sie sich bei dieser Proze­ und waren bei strenger Kälte nur zu bestimmten dur um die eigene Achse drehten. Die Mitspiele- Zeiten zu benutzen.

6 In einem besonderen Gebäude befond sich für Liter Bier für 28 Pfennig oder eine Schachtel Ziga­ jede Mietportei ein Stoll mit Plumpsklosett. Für retten für 20 Pfennig. Oft waren sie auch damit jeweils zwei Mietporteien stond zur gemeinsamen beschäftigt, zwischen dem Werksgelände und der Nutzung eine Waschküche mit einem einge­ Kolonie einen Sportplatz zu bauen. Nach Fertig­ mauerten Waschkessel zur Verfügung. Hinter stellung wurde dort nach Herzenslust gebolzt, diesem Gebäude konnte jede Mietpartei eine jeder in seiner normalen Alltagskleidung, mit schmale Gartenparzelle nutzen, auf der in den Straßenschuhen, manchmal sogar mit Lackschu­ meisten Fällen eine Laube, ein Hühnerstoll oder hen oder gar barfuß. Wenn die Säureschwaden ein Holzschuppen errichtet waren. aus dem nahe liegenden Flußsäurebetrieb mit dem meist vorherrschenden Westwind Richtung Kolo­ Über unserer Wohnung hielt mein Vater auf dem nie getrieben wurden, mußten wir eine Ver­ Hausboden Brieftauben, durch deren Gurren vor schnaufpause einlegen, bis wir weiterspielen allem im Sommer die Hausbewohner sehr früh konnten. Die Fenster in den Häusern waren da­ geweckt wurden, leider auch am Sonntagmorgen. von blaugrün angelaufen. Damit hatte sich jeder Aber Beschwerden von Mitbewohnern habe ich abgefunden. Der Umweltschutz war kein Thema. nicht in Erinnerung. Über Nachbarschaftshilfe wurden keine Worte verloren, sie wurde aber Als besonderen Glanzpunkt empfanden wi res, täglich vielfältig praktiziert. wenn Karl Simoni mit dem Fahrrad auftauchte und unsere Bolzereien auf dem in Eigenleistung Diese Wohnungen waren in ihrer Funktion den erstellten Platz nahe der Kolonie unterbrach. Er Bewohnern ouf den Leib geschneidert. Sie waren war damals bei Arminia Hannover als Torwart in Eigentum der Firma, die eine günstige Miete der hächsten Spielklasse in aller Munde, und wir festgelegt hatte. Sie betrug monatlich 15 Reichs­ waren seine Bewunderer. Es war die Zeit, als er mark. Nebenabgaben entstanden kaum, von bei seinem Verein und beim Regime noch nicht in Stromkosten abgesehen. Mit dem Mietverhältnis Ungnade gefallen war. verbunden war so etwas wie eine Arbeitsplatzga­ rantie, die im Zeichen der Massenarbeitslosigkeit Er stellte sich im Straßenanzug einfach ins Tor, von über 6 Mio. im Jahre 1932 von unschätzba­ rollte uns die Bälle immer wieder schußgerecht rem Wert war. Familienväter und Witwen hatten vor die Füße und motivierte uns noch zusätzlich ihren Arbeitsplatz, junge Leute dagegen woren mit den Worten: "Wer ein Tor schießt, bekommt vor 1933 überwiegend arbeitslos. von mir Schokolode!" Und die gehörte für uns nicht zu den täglichen Naschereien. Hochmoti­ Ich sehe sie noch vor mir, wie sie durch die Straße viert schossen wir aus kurzer Distanz, aber nur um die Wette rannten. Es ging um einen halben selten waren wir erfolgreich und kamen in den

7 Genuß der ausgesetzten Prämie, einer kleinen auch für meine Eltern war, hotten sie doch noch Tafel Schokolade der Marke Trumpf, die damals den Erfahrungen der letzten jahre die Gewißheit, nur 10 Rpfg. kostete, ober trotzdem für die mei­ daß dieser Spuk schnell wieder vorübergehen sten unerschwinglich blieb. Genau so plätzlich würde. wie er gekommen war, verschwand er wieder. In der Schule blieb dos meiste beim alten. Militö­ risch streng ging es schon immer beim Aufstellen IV. noch der Pause zu. Der Einmarsch der Schüler­ massen durch dos hölzerne Schulportal erfolgte Da waren die täglichen Gewalttaten gleich vor erst, wenn Ruhe eingekehrt war. Einige Backpfei­ der Haustür, die Handgreiflichkeiten bei Wa hl­ fen wirkten Wunder. August Behrens erschien hin veranstaltungen auf dem Gebhordschen Saale und wieder an besonderen Feiertagen in Uni­ und die persänliche Sorge um den Arbeitsplatz form, der Hausmeister Mühlich trug sie häufiger. Themen von einem ganz anderen Kaliber. Dos Schließlich wollte er - einmal von einer SPD­ politische Geschehen auf häherer Ebene heizte Mehrheit im Gemeinderat eingestellt - seinen den Kessel zusätzlich noch on. Ich weiß noch, wie attraktiven Posten nicht aufs Spiel setzen. Beson­ sich die Kolonisten über Nomen wie General dere Veränderungen im Lehrkörper sind mir nicht Schleicher und von Popen erregten. in Erinnerung. Die Techniken des Lesens, Schrei­ bens und Rechnens boten kaum Anlaß zu politi­ Die Parteien, die die Weimarer Republik unter­ schen Beeinflussungen. stützten, hotten seit jahren keine Mehrheit mehr gefunden, ihre Gegner auch nicht. Der Reichsprä­ Einige Dinge verönderten sich erheblich. Am 1. sident von Hindenburg konnte kraft seines Amtes Mai 1933 traten olle Werktätigen ohne Ausnahme Reichskanzler einsetzen und wieder entlassen. auf der Straße vor der Firma on. Ein imposantes Von diesem Recht machte er auch Gebrauch. Bild, das ich noch in Erinnerung habe. Leitende Meine Eltern hatten diesen Reichspräsidenten Angestellte und einfache Chemiearbeiter in einer auch gewählt, weil die anderen Kandidaten für Front, der deutschen Arbeitsfront. Dem gegen­ dieses Amt - nämlich Hitler und Thälmann - dos über wirkten die Fußmörsche am 1. Mai vor der noch gräßere Übel waren. Die einzige Beständig­ Machtübernahme von Seelze in die Garbsener keit in der Politik war ihre Unbeständigkeit. Über Schweiz, on denen ich mit meinen Eltern regelmä­ ollem lagerte eine Atmosphäre der Ausweglosig­ ßig teilgenommen hotte, wie bescheidene Fami­ keit, die uns Kindern nicht verborgen blieb. Und lienausflüge. Unterwegs wurden wir nur mitleidig plötzlich war Hitler fast über Nacht zum Reichs­ belöchelt und mit spöttischen Blicken verfolgt. Im kanzler ernannt worden. So enttäuschend das übrigen vollzog sich die Veränderung 1933 merk-

8 würdig lautlos. Walter Blinzler stand zwar oft in der Kolonie hinten im Garten und übte auf seiner Trommel für den Spielmannszug des Jungvolks zackige Märsche.

Eines Tages marschierten wir zur Probe mit. Es war ein kalter Dezembertag. Kurt Temming, ein verdienter Kämpfer der NSDAP, war verstorben. Aus diesem Anlaß wurden alle Gliederungen der Partei zur Teilnahme an der Beisetzungsfeier aufgeboten, auch das Jungvolk.

Es machte Eindruck, vor allem auf uns selbst, wie wir mit klingendem Spiel durch die Straßen zo­ Abb. 2: Jungvolk mit Trauerflor ouf dem Morsch durch Seelze onläßlich des Todes des Reichspräsidenten von Hindenburg gen. Von dem Geschehen auf dem Friedhof selbst habe ich keine Erinnerung mehr. Ich weiß aber noch genau, wie wir hinterher im Kasino der storben ist. Für mich erstaunlich, daß ich mich Firma Riedel de Haen, das seit Jahren an die nicht mehr erinnern kann, aus diesem Anlaß an Familie Temming verpachtet war, mit Kuchen und einer Trauerfeier teilgenommen zu haben. Kakao bewirtet wurden. Ich war dabei, wie all Die Erinnerungen an meine Jungvolkzeit sind die anderen auch. Wir marschierten und sangen: blaß geblieben. Habe ich sie verdrängt? Wohl Die blauen Dragoner, sie reiten ... oder Halli, kaum! Wesentliches hat sich in den zwei Stunden hallo wir fahren, wir fahren in die Welt ... - vor­ pro Woche nicht ereignet. Die Aktivitäten in Uni­ erst nur mit Heinrich dem Löwen auf dem MitteI­ form waren ebenfalls eine zeitlich sehr begrenzte landkanal zur Porta Westfalica. - Beim Recher­ Variante unserer sonst üblichen Spiele. chieren bin ich in diesen Tagen bei einem Be­ kannten auf ein Foto gestoßen, auf dem ich in Meine Phantasieräume waren Geschichten über Pimpfenuniform durch Seelze marschiere. Deut­ den wilden Westen. Es gab herrliche Möglichkei­ lich kann man erkennten, daß wir um den linken ten, sie am Kanal, in der Alten Leine oder in der Arm ei nen Trauerflor tragen. Auf der Rückseite ist Leinemarsch im Spiel nachzuvollziehen. In dieser vermerkt: Marsch des Jungvolks durch Seelze Phase identifizierten wir uns mal mit Texas Jack, anläßlich des Todes des Reichspräsidenten von ein anderes mal mit Sitting Bull. Damals las ich Hindenburg. Ich habe natürlich irgendwann ge­ alles, was mir vor die Augen kam: Deutsche Hel­ lernt, daß Hindenburg am 02. August 1934 ge- densagen, den Lederstrump� aber auch Schmö-

9 ker wie BuHalo Bill, Tom Shork, Rolf To rring und Die Eisdecke auf dem Kanal hielt wieder. Wir Jörn Forrow. Wir sammelten mit einer Leiden­ suchten uns auf der mit hochstehenden Schollen schaft Zigaretten bilder, die nach der Machtüber­ übersäten Eisfläche die glatten Stellen zum Schur­ nahme immer mehr ein Abbild der nationalen ren. Dabei hatte ich nicht bedacht, daß ein Erhebung wurden: Bilder aus deutscher Ge­ schmaler Streifen entlang der Brücke auf beiden schichte, über unsere oder unsere Seiten nur von einer dünnen Eisschicht bedeckt Kolonien. Doch meistens waren wir unterwegs: war. In diesem Bereich wurde die Eisdecke regel­ an der Leine auf Wasserhuhnjagd, mit Flößen auf mäßig aufgehackt, um den Druck des Eises auf überschwemmten Leinewiesen, auf brüchigen Eis­ die Brücke zu verhindern. schollen auf dem Kanal, auf schmalen Brücken­ Ehe ich mich versah, brach ich ein und rutschte trögern über der Leine. Nichts war vor unserem bis zum Hals ins Wasser. Instinktiv breitete ich die Entdeckerdrang sicher. Unerschöpflich waren wir Arme aus. Da das Eis daneben hielt, war ich im Erfinden neuer Spiele, die uns ganz gefangen­ blitzschnell wieder draußen und rannte nach nahmen und nicht ungeföhrlich waren. Hause. Es war bitterkalt, so daß mir das Zeug am Leibe gefror. Leise schlich ich mich in die warme Eines Tages standen wir an der Leine hinter der Küche und versuchte, mein Mißgeschick zu vertu­ alten Kläranlage. Heinz (genannt Moppi) Rassau schen. Doch alsbald taute mein Zeug wieder auf, hatte einen Trommelrevolver für Schreckschußpa­ und ein Rinnsal brachte alles ans Tageslicht. tranen von 4,5 mm auf 6 mm aufgebohrt, damit Nachdem mich meine Mutter in einer Wanne heiß wir scharfe Munition verwenden konnten. Dann abgewaschen hatte, mußte ich die üblichen Vor­ peitschte der erste Schuß aus dem Lauf. Wir wa­ haltungen über mich ergehen lassen und wurde ren unendlich stolz. ins Bett geschickt. Schließlich war Horst Wetze I aus der Kolonie beim Spielen im Kanal ertrunken. Was wir hier täglich erlebten, waren Ernstsituatio­ Sein Schicksal habe ich mir von meiner Mutter oft nen; der Heimabend beim Jungvolk war dagegen anhören müssen. eine fade Spielerei und langweilig außerdem. Jeder Junge braucht seine Selbstbestätigung. Am anderen Morgen stand ich in der Schule im Manche konnten sie nicht in der Schule finden, Mittelpunkt des Interesses meiner Mitschüler, sondern suchten sie im außerschulischen Bereich. nachdem sich mein Erlebnis wie ein Lauffeuer Einige fanden sie daher auch bei der Hitlerju­ ausgebreitet hatte. Bereitwillig gab ich Auskunft. gend. Unsere echten Bewährungsproben erlebten Es tat mir ordentlich gut, von den anderen bewun­ wir ganz privat rings um unser Wohnquartier dert zu werden. In Wirklichkeit hatte ich vor herum. Schreck von dem kalten Wasser kaum etwas

10 gespürt. Selbst August Behrens erkundigte sich findlich betroffen. An bestimmte Rituale hatte man genau und erzählte uns die Geschichte vom sich gewöhnt. Irgendwann wurde immer eine "Büblein auf dem Eise». Ich kann mich noch deut­ Fahne gehißt oder ein Bauwerk eingeweiht. lich an seinen erhobenen Zeigefinger erinnern. Deutschland glich einer Arena der dauernden Massenaufmärsche, einer Volksfeststimmung ohne Ende. Der rechte Arm war trainiert, so lange V. beim deutschen Gruß in ausgestreckter Haltung auszuharren, bis sowohl das Horst-Wessel-Lied Das Dritte Reich, von Anfang an als tausendjäh­ als auch das Deutschlandlied endlich herunterge­ rig propagiert, kam langsam in die Jahre. Der sungen waren. Volkswille erschien schon bald nach der Macht­ übernahme nicht mehr, und die Niedersöchsische So schlimm konnte das Regime doch gar nicht Tageszeitung haben meine Eltern nie abonniert. sein. Schräg uns gegenüber wohnte Familie Auch der Gummiknüppel meines Vaters war Brandts, die mit ihren sechs Kindern vom Winter­ eines Tages vom Kleiderschrank verschwunden. hilfswerk unterstützt wurde. Schließlich war Herr Da wir keinen Volksempfänger besaßen, er­ Brandts bis 1933 als aktives Mitglied der SPD reichte uns die nicht so massiv. Am tätig gewesen. Seine Frau erhielt das Ehrenkreuz Sonntagmorgen lauschten meine Eltern dem Ha­ der deutschen Mutter, das sie zwar nicht mit Be­ fenkonzert, das aus der Nachbarwohnung zu uns geisterung angenommen, aber auch nicht abge­ herüberklang. Die Schlafzimmer grenzten anein­ lehnt hat. Und eines Tages wurde Herr Brandts ander. Mit Reinhold Schmidt wor nämlich verein­ sogar auserlesen, auf einem KdF-Schiff kostenlos bart worden, sein Gerät lauter zu stellen, damit eine Fahrt nach Madeira anzutreten. meine Eltern mithören konnten. Die Wohltaten des Regimes verschonten selbst Man ließ das Regime sich gebärden und zog sich seine ehemaligen Gegner nicht. Kann man sich ins Private zurück. Wenn die Welt da draußen auf Dauer gegen einen Staat wehren, wenn es zudringlich wurde, gab es Spielraum genug, um seinen Bürgern wirtschaftlich besser geht? Die auszuweichen. Im übrigen ist mein Vater nie be­ Gummiknüppelzeit geriet schnell in Vergessen­ drängt worden, Mitglied in der NSDAP oder in heit, als die Zahl der Arbeitslosen merklich zu­ einer ihrer Gliederungen zu werden. Betroffen rückging. waren in erster linie die aktiven Parteigenossen und die Opfer. Da die meisten Bürger im allge­ Noch kurz vor oder nach der Machtübernahme meinen keine Widerstandskämpfer waren, son­ hatte mein Onkel sich besonders auffällig umge­ dern sich anpaßten, waren sie auch nicht emp- dreht, als eine SA-Kolonne über den Kreuzweg in

11 Seelze marschierte. Er hotte damit in einer her­ durch dos persönliche Eingreifen des Führers sei ausfordernden Weise der mitgeführten Fahne den dos verhindert worden. So hieß es in der amtli­ Gruß verweigert. chen Sprach regelung. Die hohen SA-Führer - on der Spitze ihr Stobschef Röhm - wurden verhaftet Ein Kommando ertönte, ein Schlägertrupp löste und ohne Gerichtsverhandlung standrechtlich er­ sich aus dem Morschblock. Mein Onkel konnte schossen. sich in einen nahe gelegenen Hausflur retten, rannte die Treppe noch oben und wurde vom Erstaunlich ist, daß die Bevölkerung überwiegend Zahnarzt Redecker in dessen Wohnung versteckt. positiv reagierte. Schließlich hotte der Führer So entging er mit knopper Not einer Tracht Prü­ ohne Rücksicht auf Stand und Ansehen dos getan, gel. Sicher war nicht, ob es damit abgegangen was zum Wohle des Volkes nötig war. So glaubte ware. mon damals. Hierbei dorf nicht vergessen wer­ den, daß viele Bürger die SA wegen ihres rabau­ Schon einige Wochen später trat er 20-jährig als kenhaften Auftretens und ihres gewalttätigen Vor­ einziger in der Verwandtschaft in die SA ein, weil gehens in der Endphase der Weimarer Republik er sich davon einen Arbeitsplatz versprach. Er nicht gerade in guter Erinnerung hotten. Auch die wurde auch alsbald bei der Firma Riedel de SA-Mitglieder nahmen dos olles von einem Tag Haen eingestellt. Ob es dabei einen Zusammen­ zum anderen hin wie ein Wetterleuchten, dos den hang zu seiner SA-Zugehörigkeit gab, kann nur sehnsüchtig erwarteten Regenguß angedeutet, vermutet werden. ober doch nicht gebracht hotte. Mon ging wieder Irgendwann im Frühjahr des Jahres 1934 mochte zur Tagesordnung über. er meinem Vater gegenüber die geheimnisvolle Andeutung, daß die SA mit «Knorren» ausgerü­ VI. stet werden sollte. An diesen Ausdruck für Ge­ wehre kann ich mich noch genau erinnern. Wie Dabei dorf nicht verschwiegen werden, daß ein überhaupt der Gedanke on eine Bewaffnung hoher Einsatz erforderlich war, um die Existenz mich stark erregte. Der Waffenträger schlechthin einer Familie sicherzustellen. Soziale Hängemat­ stand bei uns in der gesellschaftlichen Rangord­ ten gab es nicht. nung auf einer hohen Stufe. Welcher Organisa­ Vor dem Achtstundentag bei Riedel mußte mein tion er angehörte, war uns völlig gleichgültig. Vater von der Leine Brennessein holen. Wir fütter­ Doch dazu ist es nicht gekommen. Am 30.06.1934 ten drei Schweine. Zwei wurden für den eigenen wurden wir durch die Nachricht überrascht, die Verbrauch geschlachtet, eins wurde verkauft. SA-Führung habe einen Putsch geplant. Nur Brieftauben und Hühner mußten versorgt werden.

12 Nach Feierabend ging es in den großen Garten, Hause gebracht. Apfelsinen gab es nur einmal im der in einer Gartenkolonie an der Straße nach Jahr zu Weihnachten. Lahnde gelegen war. Berge von Brennholz wur­ den mit der Hand gesägt, gehackt und gestapelt. Es verging kein Jahr, in dem mein Vater sich nicht Natürlich wurde dankbar jede Überstunde ange­ mit Nachbarn zur Bickbeerernte aufmachte. Man nommen, genauso wie eine Feuerwache am Wo­ fuhr dann am Samstagnachmittag mit dem Fahr­ chenende auf dem Werksgelände, die mit einem rad noch Schneeren, übernachtete bis zum Hell­ kleinen Entgelt belohnt wurde. Die meisten Kolo­ werden in einer Scheune und mochte sich dann nisten gehärten nämlich der Werksfeuerwehr an. ans Werk. Sie kehrten erst dann am Sonntag Die funktionierte wie eine Berufsfeuerwehr, ahne zurück, wenn der 10-Liter-Wassereimer gefüllt aber ihre Kasten zu verursachen, da ihre Angehä­ war. Der Lenker des Fahrrades war meistens rigen einer ganz normalen Tätigkeit im Betrieb geschmückt mit einem Strauß aus Bickbeersträu­ nachgingen. Die Mitglieder der Wehr wurden chern, die eine besonders reiche Ernte trugen. durch eine Sirene auf dem Marktplatz alarmiert Dieses Mitbringsel wurde für uns gleich zum und waren durch die räumliche Nähe der Woh­ Verzehr freigegeben. nungen zum Werk schnell am Gefahrenherd. Wir waren also nahezu Selbstversorger, Hin und Auch die Tätigkeit einer Hausfrau läßt sich mit wieder kaufte meine Mutter für mich ein Stück heutigen Maßstäben nicht messen. Ich sehe meine frische Mettwurst, ansonsten gab es nur Einge­ Mutter nach deutlich vor mir, wie sie am kleinen machtes. Dr. Bernis versuchte, mit dem gelben Kohleherd in der Küche hantierte. Er war der Lebertran meine Eßlust zu steigern, Einzelkinder wichtigste Einrichtungsgegenstand der Wohnung, waren auch damals Sorgenkinder. Im Winter strahlte seine glühende Platte eine wohlige Wärme aus. Jeden Tag, ohne Ausnahme, An jedem Werktag konnte mon ein einzigartiges war er im Winter und Sommer in Funktion, da es Schauspiel erleben: Um 11,25 Uhr ertönte auf immer etwas zu kochen und zu backen gab, dem Werksgelände der Heulton einer Dampfsi­ rene. In diesem Augenblick hasteten aus ollen Es gab das ganze Jahr etwas einzukochen: Im Hauseingängen der Kolonie, wie von Geister­ Sommer Gemüse und Obst aus dem Garten, im hand in Bewegung gesetzt, Frauen und Kinder zu Winter Wurst und Fleisch aus der Hausschlach­ Fuß oder mit dem Fahrrad Richtung Fabrik­ tung, Im Keller wurden Äpfel und Birnen aus planke. Sie olle hotten einen Korb oder Henkel­ eigener Ernte gelagert, Wenn das nicht reichte, topf bei sich und strebten auf dem KohIaschen­ wurde die Ernte einiger Apfelbäume an der Land­ weg einem bestimmten Punkt auf der Holzplanke straße ersteigert und mit dem Handwagen nach zu. Genau um 11.30 Uhr ertänte der Heulton zum

13 zweiten Mol. Eine Kloppe wurde geöffnet, Köpfe meiner Mutter töglich als selbstverständlich hin­ wurden sichtbar. Und sofort begann die Prozedur genommen wurden. Es wird für olle Nachgebore­ der Übergabe der Töpfe mit dem Mittagessen. nen fast unmöglich sein, sich ein Bild vom Um­ Ein kurzer Blick, fast wortlos lief olles ob. Jede fang der Tätigkeit der Hausfrau von damals zu Minute der halbstündigen Mittagspause war kost­ machen. Gab es doch weder Kühlschrank, bar. Die Menschen trugen ihre Arbeitskleidung. Waschmaschine noch Staubsauger im Haushalt. Ich kann mich noch erinnern, daß manche von Trinkwasser und Abwasser mußten im Eimer trep­ ihnen von den Füßen bis zu den um den Kopf pauf und treppab getragen werden. Wieviel gewickelten Tüchern goldgelb glänzten. Ihr Ge­ Eimer Wasser mußten allein on einem Waschtag sicht war von der gleichen Masse verstaubt und zusätzlich bewöltigt werden! verkrustet. Sie arbeiteten in einem Betrieb, in dem Goldschwefel hergestellt wurde. Über ollem la­ Ich erinnere mich on Familien, die ihren Winter­ gerte eine seltsame Mischung von Gerüchen der vorrat on Kohlen aus finanziellen Gründen zent­ verschiedensten Chemikalien, die uns auf den nerweise im Handwagen heranholten. Die Parale Magen gingen. Noch wenigen Minuten war der des Regimes zum Winterhilfswerk «Keiner soll Spuk vorüber. Wer ietzt erschien, kom zu spät. hungern und frie ren » hotte einen durchaus realen Hintergrund. Um 12.00 Uhr "hulte» - so bezeichnete der Volksmund dos Signal - es wieder und zeigte on, Es wird heute oft gedankenlos von der Mitarbeit daß die Mittagspause vorüber war. der Frau gesprochen. Gemeint ist dann die beruf­ liche Tätigkeit der Frau außerhalb der Familie. Es "hulte vor» und "hulte voll» - morgens bei Frauen hoben zu ollen Zeiten mitgearbeitet, in Arbeitsbeginn, mittags und zum Feierabend. Die der Zeit meiner Kindheit besonders hart und in­ Bewohner von Seelze und Umgebung stellten ihre nerhalb der Familie als "Nur-Hausfrau». Die Uhr danach. Dos Signal beendete unsere Spiel­ berufliche Tätigkeit der Frauen war damals kein aktivitäten, wo auch immer wir uns befanden. Es Thema. Es gab weder Stellen, noch konnte die diktierte zahlreichen Menschen den Rhythmus in Mutter im allgemeinen zu Hause auch nur stun­ ihrem Alltag mehr, als olle politischen Parolen denweise entbehrt werden. Wenn meine Mutter und Anweisungen es vermochten. mit Frau Torney im Sommerhalbiahr eine stattli­ che Zahl von Nachmittagen beim Bauern Stünkel Am allerwenigsten gab es den Achtstundentag für in Garbsen arbeitete, so war dos die Ausnahme, die Hausfrau, besonders dann, wenn sie noch weil nur Einzelkinder zu versorgen waren. Mutterpflichten wahrzunehmen hotte. Mir ist erst in diesen Togen beim Erinnern und Reflektieren An der Volksschule Seelze arbeiteten einige so recht bewußt geworden, wieviel Handgriffe weibliche Lehrkräfte, die ohne Ausnahme unver-

14 heiratet waren. Sie ließen sich von uns Schülern neuen Zeit kindgemäß aufgedrängt wurde. Ir­ mit Fräulein Pulch oder Fräulein Berger anreden, gendwann war ich dran und mußte on läßlich auch wenn sie im Schuldienst schon in Ehren einer Schulfeier - ich vermute, es war Hitlers ergraut waren. Sie standen im Unterricht «ihren Geburtstag - ein Gedicht aufsogen, von dem mir Mann» und litten unter keinem «Fräulein-Kom­ nur noch wenige Zeilen in Erinnerung geblieben plex». sind: "Und wer vor dem Heer herzog, ward Her­ zog genonnt, Herzog des Reiches, wie wir es Helden waren damals allerdings fast immer meinen, bist Du schon longe im Herzen der Dei­ männlich. Um so mehr bewunderten wir eine nen". junge Frau mit Nomen Eleonare Prohaska, die als Soldat in den Freiheitskriegen gegen Napoleon Hitler wurde als ein gottähnliches Wesen verherr­ gekämpft und bis zu ihrem Heldentod ihre weibli­ licht. Ihm war es vergännt, in einer einzigartigen che Identität verborgen hotte. Dieses Ereignis war Weise durch seine Führerqualitäten auch die auf einem Zigarettenbild der Marke Alla aus der uralte germanische Tradition zu verwirklichen. So Reihe «Bilder ous deutscher Vergongenheit» fest­ oder ähnlich hieß es in der amtlichen Sprachre­ geholten. Mon sah darauf, wie sie in einer muti­ gelung. gen Pose, die Trammelschläger noch in den Hän­ In jenen Togen des Jahres 1935 ging meine den, von einer feindlichen Kugel getroffen wurde. Grundschulzeit zu Ende. Eigentlich war die wel- Dieses Bild hoHe für uns einen hohen Sammler­ wert. Damals versuchten olle Zigarettenfirmen, durch Bildbeilagen zu werben. Und wir sammel­ ten, tauschten und bildeten uns auf diese Art fleißig, wenn es auch zum Kauf eines Albums meistens nicht reichte.

VII.

Die nationalsozialistische Bewegung fond im all­ gemeinen woanders statt, meistens auf einer häheren Ebene oder vor Ort, bisweilen ouch in Abo. 3 lehre' Bcrrens MII seme, dollen Klosse m Sommc' 1933 der Schule. Wir losen fleißig in der Schülerzeitung r deI Go'bsc:"er Sd'wc l, auf Klosscncusflug lu Fuß unlcrwegs «Hilf mit!», in der uns dos Gedankengut der "'., /,7 Schule,n

15 te re Schullaufbahn für den Sohn eines Facharbei­ Außerdem zeichnete sich in diesem Jahr ab, daß ters mit dem Besuch der Volksschule vargezeich­ wir wohl auf Dauer nicht in der Kolonie wohnen net. bleiben würden. Da die Gartenkolonie bebaut werden sollte, erwarben meine Eltern einen Bau­ In einem Gespräch beeinflußte mein Klassenleh­ platz in Garbsen zu einem Quadratmeterpreis rer August Behrens, der schon früh zur national­ von einer Reichsmark. Die Gesamtkosten beliefen sozialistischen Bewegung gestoßen war, meinen sich auf über tausend Reichsmark. Das war finan­ Vater, über dessen sozialdemokratische Vergan­ ziell ein erheblicher Brocken bei einem Monats­ genheit es keinen Zweifel gab, mich für den Be­ einkommen von ca. 120 Reichsmark. Dieses Er­ such der Gehobenen Abteilung in Seelze anzu­ eignis bat den Nachbarn für Wochen einen inter­ melden. Das wor eine realschulöhnliche Einrich­ essanten Gesprächsstoff. Es war nömlich damals tung ohne die Abschlußklassen 9 und 10. Die ungewöhnlich, wenn eine Familie ihre Wahnge­ nöchsten Standorte für höhere Schulen waren In gend verließ. Die meisten Familien wohnten seit Hannover und Wunstorf. Fertigstellung der Siedlung im Jahre 1902 bereits in der zweiten und dritten Generation hier und Doch die Auseinandersetzung über meine Schul­ waren durch ihren Arbeitsplatz stark verwurzelt. laufbahn ging zu Hause weiter; denn mein Vater verspürte immer noch keine Meinung, mit seinem Die Gleichschaltung im öffentlichen Leben griff Sohn die klassenbewußte Gewohnheit zu bre­ immer mehr um sich. Alle gesellschaftlichen Be­ chen, für die außerdem nach ein Schulgeld von reiche waren nach einem bestimmten Prinzip monatlich sechs Reichsmark gezahlt werden organisiert: Überall gab es Führer und Geführte. mußte. Doch meine Mutter gab den Ausschlag. Letztere waren die treue Gefolgschaft. Und der So war ich dann nach Ostern der einzige Schüler Führer Adolf Hitler schien auch immer recht zu aus der Kolonie, der die Gehobene Abteilung haben. Die Erfolge fielen ihm nur so in den besuchte. Gegenüber meinen Spielkumpanen Schoß: Das Saarland bekannte sich 1935 in einer kam ich mir wie ein Abtrünniger vor, obgleich überzeugenden Mehrheit zum Deutschen Reich unsere Klasse mit den Volksschulklassen im sel­ und kehrte nach 15 Jahren heim. Die Einführung ben Geböude untergebracht war. Es war damals der allgemeinen Wehrpflicht im gleichen Jahre durchaus nach üblich, durch das Tragen von brachte Proteste, aber letzi ich erkannte England Schülermützen die Zugehörigkeit zu einer be­ durch ein Flottenabkommen an, gegen das es stimmten Schule nach außen kenntlich zu machen. vorher noch protestiert hatte. Die braune Uniform Dadurch wollte ich aber auf keinen Fall auffallen. im Straßenbild wurde zunehmend durch das Feld­ Es war mir peinlich, eine solche Mütze zu tragen. grau des Heeres, durch das Luftwaffenblau oder

16 Marineblau verdrängt. Mag sein, daß wir nie gern von seinem Volk belächeln. «Links Lameffa, eine innere Verbindung zum Braunhemd hatten. rechts Lameffa, in der Mitte immer fetter, Her­ Die SA war seit dem Rähm-Putsch im Jahre 1934 mann heeßt er!" Mit diesen Worten wandte sich mehr zu einem Biertrinkerverein geworden und Claire Waldoff an die Öffentlichkeit und durfte trat kaum noch in Erscheinung. Die Hitleriugend bald nicht mehr auftreten. entwickelte sich mehr und mehr zu einem Fan­ Club der Wehrmacht. Wir trugen im Winterhalb­ Ein Hauch von Unbeschwertheit lag über allem. iahr oft die blaue Skihose und die Jungenschafts­ Die Menschen konnten immer etwas beiubeln: bluse, aber ohne Braunhemd. Diese Uniform­ 1936 den Einmarsch der Truppen in die entmilita­ stücke waren praktisch und mußten aus finanziel­ risierte Zone und im gleichen Jahr den Einmarsch len Gründen andere Kleidungsstücke ersetzen. der Jugend der Welt in das Olympiastadion in Berlin. Die Wellen der Begeisterung erreichten Die Uniformschneider hatten Hochkoniunktur. den letzten Winkel in den deutschen Landen - Keine Organisation ohne Uniform, die von ihren auch uns. aktiven Mitgliedern gern gezeigt wurde. Trauun­ Wir hatten gerade große Ferien. Wir rannten und gen in Uniform waren keine Seltenheit. Rangab­ sprangen um die Wette und wollten alle sein wie zeichen, Orden, Kappel- und Schulterriemen, Jesse Owens. Von rassischen Vorurteilen war in Karabinerhaken, Dolche und Säbel waren Mar­ diesen Tagen nichts zu hären. Jeden Tag zählten kenzeichen der gesellschaftlichen Stellung. Schü­ wir die Medaillen unserer Mannschaft. Am Ende lermützen paßten nicht mehr in die Zeit. Auch die waren wir in der Nationenbewertung klar vorn. Hitleriugend durfte bereits ein Fahrtenmesser Mein Idol der Olympischen Spiele war ein Haupt­ tragen, auf dessen Scheide die schicksalsschwe­ mann namens Stubbendorf, der an einem Hinder­ ren Worte «Blut und Ehre" eingraviert waren. nis vom Pferd stürzte und trotz Schlüsselbeinbruch Nach war alles ein fröhliches Spiel an sannenbe­ weiterritt und so seiner Mannschaft die Goldme­ glänzten Tagen voller Heiterkeit. Damals habe daille sicherte. ich sicherlich bedauert, daß ich mich mit dem Was man in diesen Wochen wahrnehmen konnte, Fahrtenmesser nicht schmücken konnte, weil war ein zur Schau gestelltes menschliches Antlitz meine Eltern das Geld dafür nicht bewilligten. eines Regimes, das den Erfolg für sich gepachtet zu haben schien. Uniformen machten also Leute. Hermann Göring brachte es zu einer einsamen Spitze, er wechselte Ein Hauch von Olympia verspürten wir im Herbst die Uniform täglich wie das Hemd. Wegen dieser des gleichen Jahres auch in Seelze, als anläßlich an Protzsucht grenzenden Narretei ließ er sich eines Schauturnens in der Turnhalle die Goldme-

17 daillengewinnerin Trudi Meyer am Schwebebal­ Kompanie aus Bremen unterbrochen wurde. In ken ihre olympische Kür vorturnte. jenen Tagen waren die Allerwiesen in Verden zu einem Feldflughafen umfunktioniert worden, auf Was in jenen Wachen und Monaten unsere Auf­ dem man hautnah die Starts und Landungen der merksamkeit eigentlich dauernd beanspruchte, Maschinen miterleben konnte. Während die Ver­ waren die militärischen Übungen. Irgend etwas anstaltung an einem Abend durch den großen war immer los. Da griffen Flugzeuge der neu Zapfenstreich beendet wurde, überflog eine Staf­ geschaffenen deutschen Luftwaffe eine Autoko­ fel JU 52 mit aufgeblendeten Scheinwerfern das lonne an, die sich auf dem Aschenweg des Alm­ Stadion. horster Waldes getarnt hatte. Die Doppeldecker berührten mit ihrem Fahrgestell fast die Baumkro­ Die Einheiten der Wehrmacht wurden nicht ver­ nen der Buchen und warfen Sandsäcke auf die steckt, sondern immer wieder ganz bewußt zur Fahrzeuge. Es verging kein Tag, an dem die Pulks Schau gestellt. Man hatte den Eindruck, ganz der übenden Flugzeuge nicht unsere Aufmerk­ Deutschland war ein einziger Truppenübungs­ samkeit erregten. Wer kann sich schon als Junge platz. dem Anblick entziehen, wenn Flugzeuge über ihm halsbrecherische Loopings drehen oder auf die Im Physikunterricht ließen wir Flugkärper an Kanalbrücke hinabstoßen, so daß wir deutlich einem Gerät kreisen und überprüften sie auf ihre ihren Luftzug verspürten. Manchmal beobachte­ Flugeigenschaften. Danach bauten wir Segelflug­ ten wir eine Staffel Flugzeuge über uns und fuh­ zeuge. Im Chemieunterricht stellten wir aus Papier ren einfach kurz entschlossen mit Fahrrädern zur Zellwolle her, um zu dokumentieren, daß sich Vahrenwalder Heide (das war damals der Flug­ Deutschland autark machen konnte. Wir unter­ platz von Hannover). um sie dann am Boden bewundern zu kännen. nahmen einen Schulausflug zur Vahrenwalder Heide. Höhepunkt war der Rundflug mit der Kin­ Wenn ich bei meinen Großeltern in Isernhagen dermöwe über Hannover und Umgebung. meine Ferien verbrachte, konnte man täglich vom nahe liegenden Truppenübungsplatz das Rattern War es die Faszination des Technischen oder der der Maschinengewehre vernehmen. Ein einziges Hang zum Abenteuer, was uns in den Bann zog?! Mal in der gesamten Schulzeit verreiste meine Jedenfalls kannten wir als Zwölfjährige alle Flug­ Mutter mit mir zu einer Tante nach Verden. Dort zeugtypen, trotz ihrer verwirrenden Vielfalt: Dop­ war gerade Reit- und Fahrturnier. Ich weiß noch peldecker, Mitteldecker, ob einmotorig oder genau, wie das sportliche Springreiten durch die zweimotorig, ob von Heinkel, Messerschmidt, Feldübung einer feldmarschmäßig ausgerüsteten Dornier oder Junkers konstruiert.

18 VIII. Eigenleistung die Elektraarbeiten erstellt, wäh­ rend der Elektrameister August Källing gegen ein Im privaten Bereich vollzog sich eine gravierende Entgelt von 50 Reichsmark durch seine Unter­ Veränderung. Am 01 .08.1937 bezogen wir am schrift die ordnungsgemäße Durchführung bestä­ Kampweg in Garbsen unser neues Haus. An tigte. Darüber hinaus wurde durch meinen Vater diesem Tage ging es morgens gegen 4.00 Uhr im nur nach der Lehmschlag auf den Baden ge­ dichten Nebel mit den Mäbeln über die Leine­ bracht. Das war es auch schon. Eine als Nach­ brücke, die unter der Last erzitterte. Ihre geringe barschaftshilfe getarnte Schwarzarbeit im graßen Tragfähigkeit wurde dabei mit Sicherheit über­ Umfang war damals einfach nicht mäglich. schritten. Meine Eltern waren glücklich, während ich zu­ Es war ein schmuckes Zweifamilienhaus, hell und nächst die äußerst aktiven Spielgemeinschaften freundlich, mit großen Fenstern. Die obere Woh­ aus der Kolonie vermißte. Mit einem Bein stand nung wurde für 30 Reichsmark im Monat vermie­ ich noch immer in Seelze, mit dem anderen not­ tet. Die Miete entsprach in etwa einem Wochen­ gedrungen in Garbsen. lohn. Diese Einnahme war scharf mit einkalku­ liert, um die hohen Belastungen tragen zu kän­ Am Montag, dem 28.09.1 937, war ein besonderes nen. Die Herstellungskosten des Gebäudes betru­ Ereignis in der Schule angesagt. Der Sonderzug gen ca. 12.000 Reichsmark bei einem verhältnis­ des Führers sollte mit seinem Gast Mussolini auf mäßig geringen Eigenkapital. Mein Vater hatte in der Fahrt nach Berlin Seelze durchfahren. Die Häuser waren mit Fahnen und Girlanden ge­ schmückt. Zusätzlich wurden nach an der Bahn­ strecke alle 20 m Fahnenmasten aufgestellt. Viele Neugierige waren an diesem strahlenden Sep­ tembertag unterwegs. Die Organisationen mar­ schierten geschlossen an die vorher festgelegten Stellen, um Spalier zu bilden. Wir Schüler nahmen auf der Straße zwischen Seelze und Letter Auf­ stellung, mit Fähnchen ausgerüstet. Auf einem Nebengeleis hielt ein Zug, der mit militärischem Gerät beladen war. Die Soldaten rekelten sich auf ihren Fahrzeugen in der Sonne. Wir standen Abb. 4: Die alte Leinebrücke zwischen Seelze und Garbsen und warteten. Endlich näherte sich ein Zug. Wir wurde 1938 durch eine neue ersetzt nahmen die Arme hoch und winkten auf Kom-

19 mando unseres Lehrers Fricke. Dann kam die eine Wahl bestätigen. Das Ergebnis betrug 99,4 Mitteilung: "Fehlalarm». Ich weiß nicht mehr, wie % und brauchte wohl nicht einmal gefälscht zu oft sich diese Prozedur wiederholte. Wir warteten werden. "Ein Volk, ein Reich, ein Führer)), wer wieder, die Spannung ließ nach. Endlich war es konnte unter diesen Umständen etwas dagegen so weit. Ein Zug mit zwei oder drei Waggons fuhr haben. mit verminderter Geschwindigkeit vorüber. Wie­ der Winken. Zum Jubeln sind wir gar nicht mehr Deutschland glich einer Großbaustelle. Das Wort gekommen. Doch dann erfuhren wir, daß das ein «Arbeitslosigkeit» war inzwischen zu einem Leerzug war, der aus Sicherheitsgründen vorweg­ Fremdwort geworden. Die Arbeitslosenquote war fuhr. Als der richtige Zug kam, ging alles sehr von 29,1 % im Jahre 1932 (6,1 Mill. Arbeitslose) schnell. Hinter den zugezogenen Abteilfenstern auf 1,9 % gesunken. Das war in der Welt nicht war rein gar nichts zu sehen. Wir waren sehr überall so. 1938 betrug die Quote in Großbrita­ enttäuscht. nien noch 12,1 % und in den Vereinigten Staaten sogar 26,1 %. So war das nun überall auf der langen Strecke. Auch im Raum Garbsen war das nicht zu überse­ Nur bei der Einfahrt nach Hannover soll sich hen. Die Firmen Continental und Varta AG nah­ Hitler der Conti-Belegschaft am Fenster gezeigt men In Kinderwagenentfernung zu uns ihre Pro- haben.

Die Ereignisse des Jahres 1938 brachte die mei­ sten Menschen geradezu in eine Art Rauschzu­ stand. Immer schneller, immer gräßer und kolos­ saler verlief die geschichtliche Entwicklung. "Der Führer hot immer recht)), diese Parole schien sich zu bewahrheiten. Die amtliche Propaganda er­ reichte mit dem Volksempfänger fast jedes Haus, die Sender Beromünster oder London waren mit diesen Geräten nicht zu empfangen. Deutschland lag wie unter einer großen Käseglocke. Die Kriti­ ker des Regimes hätten wohl damals mit einer "i Gegenmeinung kaum eine Chance gehabt. •

Im März 1938 vollzog sich der Anschluß Öster­ Abb. 5: Eingang zum Wahllokal in der Gaststätte Wind horn noch reichs. Im April ließ sich Hitler diese Tat durch der Machtübernahme

20 duktion auf. Der Bau der Autobahn ging zugig Im deutsch kund lichen Arbeitsheft aus dem glei­ voran. Gastarbeiter aus der Ostmark, wie es jetzt chen Schuljahr entdecke ich kaum Aufzeichnun­ hieß, tauchten im Ort auf. Sie ließen sich leicht gen, die auf eine starke Indoktrination durch integrieren. Einige von ihnen waren exzellente meinen Klassenlehrer Arnold Fricke hinweisen. Fußballer und verstärkten die Erste Mannschaft Immerhin war er nach meiner Kenntnis noch vor des TuS Garbsen. der Machtübernahme der NSDAP beigetreten. Es herrschte in Deutschland praktisch Vollbe­ Die Satzlehre nimmt im Arbeitsheft einen umfang­ schäftigung bei stabilen Preisen. Die wirtschaftli­ reichen Platz ein. Der Bereich der Dichtung wird che Erholung trug wesentlich dazu bei, daß Ab­ im wesentlichen durch die Klassiker abgedeckt. lehnung und Skepsis gegenüber dem Regime in Dem Inhalt der Bücher meiner Wahl nach, die ich Zustimmung umschlugen. Auch das Niederreißen gelesen habe, geht es dann doch verhältnismäßig von Milieuschranken wurde in Arbeiterkreisen mit kämpferisch zu, wie die von mir aufgeführten Wohlwollen betrachtet. Es war immer die Rede Titel zeigen: «Bei Ta nnenberg zwei Schlachtenll, von Arbeitern der Stirn und der Faust. «Jagd in Flanderns Himmelll, «Buschkampf in Ostafrikall ader «Von Pol zu PoilI. Auf einer Seite Inzwischen besuchte ich die Abschlußklasse der finde ich dann unter dem Titel «Deutsche Ge­ Gehobenen Abteilung in Seelze. Vor mir liegt in dichtell einige kernige Sprüche Hitlers: «Es ist diesen Tagen das Arbeitsheft in Geschichte aus wieder schön, ein Deutscher zu sein und ein diesem Schuljahr, das ich genauer betrachte. Die Glück, in Deutschland zu leben 11 oder «Mögen chronologischen Ereignisse enden mit den Auf­ wir sterben, unseren Erben gilt dann die Pflicht, es zeichnungen über den Youngplan 1929. Für mich zu gestalten und zu erhalten. Deutschland stirbt erstaunlich ist, daß die meisten Aufzeichnungen nicht!1I - Diese Seite wirkt in dem Arbeitsheft wie einer objektiven Geschichtsbetrachtung standhal­ ein Anhängsel, gleichsam wie eine per Erlaß ten, wenn ich einmal davon absehe, daß die verordnete Pflichtübung. Inflation in den 20er Jahren als jüdischer Volks­ Es machte sich in der Bevölkerung alles andere betrug bezeichnet wurde. Der Kernsatz in meinen als eine Untergangsstimmung breit, sondern die Aufzeichnungen über den Lebenslauf Hitlers lau­ Grundhaltung war ausgeprägt optimistisch. Ihr tet: Rettung des deutschen Volkes nur durch Ver­ haftete eher eine Unbekümmertheit an, gepaart einigung von Nationalismus und Sozialismus. So mit einer Portion kindlicher Unschuld, die auch einfach ging das. Ansonsten scheint es immer vor der älteren Generation nicht halt machte. schon eine Schwäche von Geschichtslehrern ge­ wesen zu sein, daß zur Behandlung der jüngsten Es gab immer etwas zu bewundern, was die Deut­ Vergangenheit die Zeit nicht mehr gereicht hat. schen zustande brachten. Bernd Rosemeyer und

21 Rasse als absolute Wahrheit zur Kenntnis zu neh­ men. Man glaubte an die Unfehlbarkeit eines biologischen Imperativs: «Werde, was Du Deinen Anlagen gemäß bisi)). Aber auch in den USA war dieses Ereignis wegen der ungelösten Rassenpro­ bleme mit Emotionen überfrachtet.

Am 27. Juni war es endlich soweit. Mitten in der Nacht, gegen 1.30 Uhr, klingelten in den deut­ schen Schlafzimmern die Wecker. Auch mein Vater weckte mich, damit wir den sportlichen Höhepunkt nicht verpaßten; denn die Direktüber­ tragung im Rundfunk war in amerikanischer Orts­ Abb. 6: Moiousmarsch nach der Mochtübernahme in Gorbsen zeit angesagt. Da wir noch kein eigenes Rundfunkgeröt besa­ Caracciala rasten von Rekord zu Rekord, bis ßen, mochten wir uns auf den Weg zu einer Fami­ Bernd Rasemeyer bei einem Rekordversuch töd­ lie Ruth am Mühlenbergsweg. Kaum hotten wir lich verunglückte. Eine Nation trauerte um ihren Platz genommen, da meldete sich auch schon der Helden. Man hatte sich ganz langsam daran Reporter. Er war nur sehr schwer wegen der at­ gewöhnt, Helden zu betrauern, seit Soldaten der masphörischen Störungen zu verstehen. Der deutschen Wehrmacht in der Legion Candar in Gong zur ersten Runde ging unter im Aufschrei Spanien im spanischen Bürgerkrieg im Einsatz der Massen. Was dann passierte, war wegen der waren. Begeisterung der fanatischen Zuschauer nicht zu verstehen, bis der Reporter mit seiner Stimme Dach in jenen Sommertagen des Jahres 1938 durchdrang. Es war kaum zu glauben. Max fieberten wir zunöchst einem ganz großen Ereig­ Schmeling lag bereits am Boden. nis entgegen, dem Boxkampf zwischen Jae Louis und unserem Boxidol Max Schmeling. Bereits Am Morgen erschien die Presse mit Balkenüber· 1936 hatte Schmeling Jae Louis durch K.O. be­ schriften. Von einem gemeinen Nierenschlag wa' siegt. Dieser Revanchekampf war mehr als eine unser Boxidol getroffen worden. Darüber erreg· sportliche Auseinandersetzung, er wurde hochsti­ ten sich die Gemüter. Daß dieser Schlag noch lisiert zu einem Vergleich zwischen der weißen amerikanischen Regeln nicht unerlaubt war, und schwarzen Rasse. Wir hatten im Biologie­ wurde in der heißen Diskussion meistens ver­ Unterricht die Überlegenheit der nordischen dröngt. Die Niederlage wurde als ein nationales

22 Unglück empfunden, über dem zu seiner Ab­ Zum Abschluß der Vorführungen flog eine Bom­ schwächung etwas Unerlaubtes schwebte. Mit berstaffel vom Typ He 111 einen Angriff auf ein einer gewissen Genugtuung wurde zur Kenntnis aus Attrappen erstelltes Dorf am Rande des Flug­ genommen, daß bei den Siegesfeiern im Stadtteil feldes. Während die Häuser mit einem lauten Harlem mehrere Farbige ums Leben gekommen Knall zusammenfielen, tänte es durch den Laut­ waren. sprecher: "SO wird es Benesch (das war der Staatspräsident der Tschechoslowakei) ergehen, Doch für die Gefühle der Deutschen gab es kein der kratzt seine letzten Dukaten zusammen." Auf Verweilen, sie wurden alsbald auf eine neue diese Weise wurde die Stimmung angeheizt. Schicksalsfrage gelenkt: Die Sudetendeutschen wollten heim ins Reich. Die Stimmung wurde Auf dem Höhepunkt der Sudetenkrise waren die angeheizt, die Spannung stieg von Tag zu Tag. Flugabwehrgeschütze und Scheinwerfer rings um Am 25. September 1938 war auf der Vahrenwal­ Hannover bereits in Stellung gegangen. Ein der Heide ein Großflugtag. Mehr als 100.000 Scheinwerfer stand in der Nähe der Flutbrücke. Menschen hatten sich an diesem herrlichen Spät­ Bei Dunkelwerden zogen die Garbsener mit Kind sommertag rings um den Flughafen versammelt. und Kegel in die Mosch, um den Such übungen beizuwohnen. Ein Raunen ging durch die Menge, Mein Onkel hatte mir sein neues Fahrrad zur wenn die einmotorige W 34 von den Scheinwer­ Verfügung gestellt. Da mein eigenes Fahrrad, fern erfaßt und im Kreuzungspunkt der Lichtkegel dessen besonderes Merkmal der Eigenbau aus festgehalten wurde. zusammengesuchten Teilen mit den Holzfelgen war, außerdem keine Beleuchtung aufwies, Und doch hat so recht an Krieg niemand gedacht, konnte ich es für die Fahrt zum Flughafen nicht auch wenn in jedem Hause eine Luftschutzspritze verwenden. Wir machten uns früh auf den Weg. und eine Luftschutz-Hausapotheke bereitgehalten Getränke nahmen wir mit, da zum Langneseeis wurden. Die allgemeine Stimmung war instinktiv das Taschengeld nicht reichte. Das tat der Stim­ gedrückt. Ein Gefühl der Erleichterung breitete mung keinen Abbruch. Das Kunstflugprogramm sich aus, als die europäischen Staatsmänner Da­ mit den Loopings, Rollen, Sturzflügen mit stehen­ ladier, Chamberlain und Mussolini in München dem Propeller und den Vorbeiflügen in Rücken­ Anfang Oktober mit Hitler zusammentrafen und fluglage knapp über dem Rollfeld nahm uns ganz ihm mit den Sudetengebieten alles vertraglich in seinen Bann. Ernst Udet trat leider an diesem zusicherten, was er gefordert hatte. Tage nicht auf. So konnten wir dieses Mal nicht bewundern, wie er mit den Flügeln seiner Ma­ Wieder ein triumphaler Einmarsch. Der Glaube schine ein Taschentuch vom Rollfeld aufnahm. an die Fähigkeit dieses Mannes bewegte sich in

23 übermenschlichen Dimensionen. Es war viel von tionalsozialistischen Gedankengut verlaufen. Da­ der Vorsehung die Rede. für bot Pastor Pabst, der schon 1932 einen deut­ schen Tag mit Gottesdienst für die aufmarschierte In Garbsen ging in diesen Wochen der Bau der SA-Standarte gestaltet hatte, eine sichere Ge­ Reichsautobahn seiner Vollendung entgegen. Im wöhr. Gegenmeinungen oder kritische Ansötze Spätsommer hatten wir schon von dem Baggersee waren daher im kirchlichen Bereich nicht zu er­ Besitz ergriffen, der vom Volksmund alsbald als Blauer See bezeichnet wurde. warten. Mein Konfirmandenbrief mit einer Abbil­ dung von Dürers Ritter, To d und Teufel war der An einem milden Dezembertag des Jahres 1938 Zeit entsprechend so recht wehrhaft aufgemacht. versammelte sich die Bevölkerung an der Auto­ bahnstrecke, um die Freigabe für den Verkehr Meinen Eltern wurde von meinen Lehrkräften der mitzuerleben. Wir standen auf der Brücke zwi­ Vorschlag unterbreitet, für mich eine Ausbildung schen Garbsen und Berenbostel mit brennenden zum Lehrer anzustreben. Alsbald lag auf meine Fackeln und warteten geduldig, bis sich eine Bewerbung eine Einladung vor. Ich weiß nach, Autokolonne vom Westen nöherte und unter Win­ daß ich mich in HJ-Unifarm in einem Lager ein­ ken und Rufen die Brücke passierte. Im ersten finden sollte, das in GelIersen bei Bad Pyrmant Fahrzeug stand, wenn ich mich recht erinnere, der gelegen war. Ein Leben in Uniform und außerdem Gauleiter aus Hannover, also nur eine Partei­ in einem Internat behagten mir nicht, so daß wir größe aus dem zweiten Glied. Zuviel wurde in kurzerhand die Bewerbung zurückzogen. ienen Tagen eingeweiht, als daß ein Prominenter aus der ersten Führergarnitur hötte teilnehmen Nach reiflicher Überlegung wurde ich zum neuen können. Schuliahr an der Höltyschule Wunstarf, einer Oberschule für Jungen in Aufbauform, angemel­ det. Das Pensum bis zur Reifeprüfung mußte an IX. dieser Schule in sechs Jahren, anstalt wie sonst Trotz dieser dramatischen Ereignisse ließen sich allgemein üblich in acht Jahren bewältigt werden. natürlich die ganz persönlichen Fragen des All­ Nach einer mehrtögigen Aufnahmeprüfung, an tags nicht verdröngen. Meine Konfirmation stand der außer mir nach ein anderer Schüler aus Han­ 1939 am Sonntag vor Ostern ins Haus, außerdem nover teilnahm, wurden wir unserem Alter ent­ ging meine Schulzeit in der Gehobenen Abteilung sprechend in die neunte Klasse aufgenommen. in Seelze zu Ende. Mein Tag war reichlich ausgefüllt. Soweit die Mein Konfirmandenunterricht war in einer totalen Witterung es erlaubte, fuhr ich ieden Tag mit dem Übereinstimmung und Gleichschaltung zum na- Fahrrad zur Schule in Wunstorf, einige Wochen

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Abb. 7; Der Spielmannszug des Jungvolks in Garbsen auf der Im Sommer des Jahres 1939 konnten wir - vier­ Treppe zum früheren Konsumgeböude am Kaslanienplotz zehniährig - endlich zum ersten Mal allein auf

25 Fahrt gehen. Mit Werner Rehling war ich wäh­ puffgasen. Jeder spürte, daß dieser Aufmarsch rend der großen Ferien mit dem Fahrrad an der mehr war als eine Fahrt ins Manövergelände. Weser unterwegs. Die Jugendherbergen waren Doch wie oft war in den letzten Jahren schon mit alle überfüllt. Doch kein Landwirt konnte es sich dem Säbel gerasselt worden, und immer wieder leisten, einem Jugendlichen mit gültigem HJ-Aus­ war es gutgegangen. weis ein Quartier in der Scheune zu verweigern. Irgendwann Ende August wurden den Haushal­ Und so kamen wir immer unter. tungen Lebensmittelkarten zugestellt. In diesen Morgens am Kaffeetisch lauschten wir den Nach­ Tagen wurden Willi Schmidt und Wilhelm richten aus dem Volksempfänger. Da war seit Grimpe, die als Kraftfahrer beim Hartsteinwerk Tagen die Rede von Greueltaten, die den Deut­ Hannover tätig waren, angewiesen, ihren Last­ schen von Polen zugefügt wurden. Die Volksseele kraftwagen nach Machtsum in der Nähe von kochte über. Es log in jenen Augusttogen eine Hildesheim zu überführen. Sie hatten sich an ungeheuere Spannung in der Luft. Noch einigen jenem Morgen wie immer verabschiedet, wenn Togen waren wir wieder zu Hause, früher als sie zur Arbeit gingen. Am Bestimmungsort wurden geplant. Wegen der angespannten Lage wurde sie kurzerhand in Uniform gesteckt und waren damit Soldaten der deutschen Wehrmacht, ob­ Ende August der «Parteitag des Friedens!! abge­ sagt, der im September in Nürnberg stattfinden gleich sie bis zu diesem Tage noch nicht eine sollte. einzige Stunde bei der militärischen Einheit ge­ dient hatten. Das Fahrzeug wurde beschlagnahmt An einem Sonntag Ende August - es muß der und erhielt einen Tarnanstrich. Ihre Angehörigen 27.08. gewesen sein - lagen wir am Blauen See, warteten abends vergeblich und machten sich um unseren Badefreuden nachzugehen. Es war Gedanken, bis sie auf einer Postkarten in den ein ungewähnlich schöner Spätsommertag. Und nächsten Tagen vor vollendete Tatsachen gestellt doch war etwas anders als sonst. Auf der Auto­ wurden. bahn gleich nebenan fuhren Militärkolonnen Beide wurden eines Tages als vermißt gemeldet Richtung Berlin, also nach Osten. Die Soldaten und kehrten aus dem Kessel von Stalingrad nicht waren feldmarschmäßig ausgerüstet. Trotz der zurück. Damit erlitten sie als Angehörige der glühenden Hitze trugen sie Stahlhelme. Immer sechsten Armee ein Schicksal, das gerade einer wieder stockte der Verkehr. Kradfahrer überhol­ gräßeren Zahl von Garbsenern bei der gleichen ten die wartenden Fahrzeuge, bis sich der feld­ Einheit nicht erspart blieb. graue Lindwurm aus Menschen und Material wieder in Bewegung setzte. Beim Auffa hren heul­ Auf menschliche Gefühle wurde bei der Einberu­ ten die Motoren auf. Überall roch es nach Aus- fung keine Rücksicht genommen. Von anderen

26 Einwohnern aus Garbsen weiß ich, daß ihnen ein sten Befehlshabers hat die We hrmacht den akti­ Stellungsbefehl vom Hauptlehrer Feilersmann ven Schutz des Reiches übernommen. In Erfüllung persönlich gegen MiHernacht ausgehändigt wer­ ihres Auftrages, der polnischen Gewalt Einhalt zu den mußte. Danach haHen sie sich bereits am gebieten, sind Truppen des deutschen Heeres anderen Morgen um 10.00 Uhr - es war am heute früh über alle deutsch-polnischen Grenzen 26.08.1939 - im Arbeitsdienstlager in Neustadt a. zum GegenangriH angetreten.» Rbge. einzufinden. Auch in diesem Fall haHen die Wir glaubten an einen Akt der Natwehr. Es Betroffenen bis zu diesem Tage noch nicht bei herrschte keine Begeisterung, eher machte sich einer militärischen Einheit gedient. Sie gehörten eine gedrückte Stimmung breit. Die meisten Re­ den Jahrgängen an, die bei der Einführung der servisten und andere waren schon vorher klamm­ allgemeinen Wehrpflicht 1935 nicht mehr einge­ heimlich eingezagen worden. Eine mit Trommel­ zogen worden waren. Sie wurden nach ihren wirbel und Getöse aufgemachte Mabilmachung handwerklichen Fähigkeiten zu einer Pionierkom­ gab es nicht. Diejenigen, die nach Ausbruch des panie zusammengestellt. Krieges einen Stellungsbefehl erhielten, verließen Einer von ihnen, der Maurer OHo Harders, haHe Garbsen ohne den spektakulären Rahmen einer nicht einmal Zeit, sein Handwerkszeug und seine feierlichen Verabschiedung entgegen den bisheri­ gen Gewohnheiten des Regimes, eher fast unauf­ Arbeitskleidung von seiner Firma abzuholen. Er fällig, wie durch eine Hintertür. Aber dennoch konnte domals Ende August 1939 nicht ohnen, wurden diese Schritte als notwendiges Übel ohne daß er erst achteinhalb Jahre später aus russi­ Zaudern getan. scher Kriegsgefangenschaft zurückkehren sollte. Schließlich erschien den Menschen die deutschen Mit unerbittlicher Härte wurden Familien ausein­ Forderungen nach der Rückkehr der freien Stadt andergerissen und persönliche Wünsche und Danzig und einer exterritorialen Straße nach Hoffnungen buchstäblich von heute auf morgen Ostpreußen als maßvoll und gerechtfertigt - zerstört. Von nun an verfügte das Regime noch verglichen mit der Besetzung der Tschechei durch mehr nach Belieben über Mensch und Material. deutsche Truppen im März 1939. Wir hatten keine Kenntnis von Dingen, die sich hinter der offiziel­ Am 01 .09.1 939 wurde ab 5.45 Uhr zurückge­ len Kulisse abgespielt hatten. Die Deutschen leb­ schossen, wie es in der amtlichen Sprochregelung ten wie unter einer Käseglocke und waren unent­ hieß. Von nun an hotte das Oberkommando der wegt den Parolen ausgesetzt. Wehrmacht jeden Tag etwas bekonntzugeben. Im ersten Wehrmochtbericht vom 01 .09.1939 hörte Erstaunlich für mich ist im nachhinein, daß wir uns sich das so an: «Auf Befehl des Führers und ober- in der gesamten Schulzeit nicht ein einziges

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- Mal mit Hitlers "Mein Kampfll ernsthaft auseinan­ So banal begann also der Krieg. Daran änderte dersetzen mußten. Bei uns zu Hause gab es das sich auch in den ersten Manaten nicht viel. Die Buch nicht, und all diejenigen, die es anläßlich Häuser wurden verdunkelt. Die wenigen Straßen­ ihrer Eheschließung ausgehändigt bekamen, ha­ laternen wurden abgeschaltet, was gegenüber ben wahrscheinlich auch nicht ein einziges Mal dem vorherigen Zustand auch nicht groß ins Auge darin gelesen, sonst hätte man doch solche Pas­ fiel. Der Leuchtturm an der Roten Reihe, bis dahin sagen nicht übersehen kännen: "Darüber muß ein Wahrzeichen der dörflichen Gemeinde Garb­ man sich doch klar sein, daß die Wiedergewin­ sen und weit über seine Grenzen sichtbar, stellte nung der verlorenen Gebiete nicht durch feierli­ seine Tätigkeit ein. Manche Einwohner waren che Anrufung des lieben Herrgoffs erfolgt oder nicht traurig darüber, daß die dauernd kreisen­ durch fro mme Hoffnungen auf einen Völkerbund, den Lichtkegel nicht mehr bei Nacht durch ihre sondern durch Woffengewaltll. Schlafzimmer huschten.

Es gab auch gelegentlich Fliegeralarm in der x. Nacht, wenn einzelne Störflugzeuge in den Luft­ raum eindrangen und am Anfang statt Bomben Am Nachmittag des 01 . September, einem trüben, wolkenverhangenen Freitag, versuchte ich, von Flugblätter abwarfen. Es faszinierte uns, wenn die Natur aus neugierig wie bei vierzehnjährigen Flakgranaten am nächtlichen Himmel explodier­ Schülern üblich, einen Hauch vom Kriegsgesche­ ten und ihre Splitter nicht ungefährlich durch die hen persönlich einzufangen. Daher begab ich Gegend surrten. Am anderen Morgen sammelten mich zu der ScheinwerfersteIlung, die nördlich wir sie und begutachteten ihre scharfkantigen und des Mittellandkanals nahe der Havelser Mühle bizarren Formen. Hin und wieder fanden wir im eingerichtet war. Gestrüpp der Garbsener Schweiz einige Flug­ blätter, die eigentlich hätten abgegeben werden Die Soldaten standen, lagen oder hockten im müssen. Doch so genau nahm man das damals Gelände herum und schienen Langeweile zu nicht. Ich erinnere mich noch, daß auf einem haben. Ich näherte mich einem Zelt, in dem ein Flugblatt Dr. Ley, der Führer der deutschen Ar­ Flaksoldat an einem Fernsprecher herumkurbelte beitsfront, als notorischer Säufer tituliert wurde, und Nachrichten weitergab. Man wußte nichts so was als Feindpropaganda abgetan wurde und recht mit meiner Anwesenheit anzufangen. Ein auf uns ouch keinen Eindruck machte. feindliches Flugzeug hatte bei Krefeld die Grenze überflogen. Das bekam ich mit. Dach es tat sich Endlich passierte mal ein bißchen mehr. In der sonst weiter nichts, und enttä uscht zog ich von Nacht zum Sonntag, den 19.05.1940 hatte es dannen. wieder Fliegeralarm gegeben. Wir waren eigent-

28 lich wie immer noch draußen gegangen und mit sich brachte, wurden ohne Murren in Kauf ergötzten uns am Feuerzauber der Flak. Dos genommen. Ein Stückehen Papier wurde über plötzliche Aufheulen von Flugzeugmotoren und Nacht zum Dreh- und Angelpunkt unserer Bedürf­ ihr jöhes Verstummen hotte uns neugierig ge­ nisse: Der winzige Abschnitt für 50 Gramm mocht. Fleisch oder Köse auf der Lebensmittelkarte, die Wie ein Lauffeuer ging es am anderen Morgen Punkte auf der Kleiderkarte, der Bezugsschein für durch Garbsen: Ein feindlicher Bomber ist bei ein paar Schuhe, eine Fahrraddecke oder für die Kalenfeld notgelandet. Wir fuhren nicht, wir jag­ Zuteilung von Brennmaterial. ten auf Fahrrödern zum Tatort, um nichts zu ver­ Am Anfang gab es z. B. noch 500 Gramm Fleisch passen. oder Wurstwaren wöchentlich pro Person. Als der Da log die zweimatarige Maschine vom Typ Krieg in die Jahre kom, wurden die Zuteilungen . .. Blenheim in ihrem dunkelgrünen Tarnanstrich Immer winziger. hilflos im Wiesengelönde, on ihrem Rumpf waren oben und am Heck deutlich Maschinengewehr­ Wir waren teilweise Selbstversorger, da wir Hüh­ löufe zu erkennen. Aber ansonsten erschien uns ner hielten und ein Schwein selbst fütterten. Die dos olles wenig eindrucksvoll, eher unscheinbar. Zuteilung on Fleisch für Selbstversorger war et­ Die Euphorie des ersten Eindrucks mochte als­ was höher, damit der Anreiz zur Eigenerzeugung bald einer enttöuschenden Ernüchterung Platz. nicht verlorenging. Wenn dos Schwein schlacht­ Die wilden Gerüchte über den Verbleib der Be­ reif war, wurde es in einem Kosten amtlich gewo­ satzung, die sich noch irgendwie im Gelönde gen. Heinrich Wulf sen. war als Amtsperson im versteckt hoben sollte, erregten dagegen unsere Auftrag der Gemeinde für diese Tätigkeit einge­ Phantasie erheblich und hielten uns noch Tage in setzt. Mit den Worten "Weg hier!!! vertrieb er ihrem Bann. meinen Vater von der Waage, während er mit den Gewichten hantierte. Wir hielten vom Ort der Dos Oberkommando der Wehrmacht gab töglich neue Erfolge bekannt, und außer der Reihe lock­ Handlung einen gehörigen Abstand, bis er auf ten uns die hellen Fanfarenklönge, die eine Son­ einer Karte dos Gewicht notiert holte. Dann ver­ dermeldung ankündigten, immer wieder on die schwand er sogleich. Lautsprecher. Die deutsche Wehrmacht eilte von Mit Erstaunen und Entzücken zugleich nahm mein einem Sieg zum anderen, und wir taumelten im Vater dos Gewicht zur Kenntnis. Heinrich Wulf Geiste mit. hotte offensichtlich für uns sehr gut gewogen, was Der richtige Krieg fond für uns immer noch woan­ hinterher nur schwer zu beweisen war. Er riskierte ders statt. Die Einschrönkungen im Alltag, die er viel, denn noch der herrschenden Rechtsauffas-

29 sung wäre dieses Vergehen an der deutschen rektor Huga mit den mittelalterlichen Herrschafts­ Volkswirtschaft ohne empfindliche Gefängnis­ geschlechtern und forderte in regelmäßigen Ab­ strafe nicht abgegangen. Hierbei war kein Eigen­ ständen einen Wachenbericht über die aktuellen nutz im Spiel. Triebfeder seines riskanten Han­ Kriegsereignisse. delns war, dem guten Bekannten das Leben in einer trostlosen Zeit etwas zu erleichtern. Bei dem Darüber hinaus gab es genug Stoff, der dafür Personenkreis, dem diese Unterstützung gewährt sorgte, daß wunderlicherweise die humanistische wurde, spielte sicherlich die gemeinsame politi­ Bildung damit nicht in einen Konflikt geriet. Die sche Vergangenheit eine Rolle. Es gab so etwas Lehrer waren redlich bemüht, ihr Fachwissen über wie eine stille Opposition gegenüber dem Re­ uns auszuschütten. Sie waren mit Sicherheit ohne gime. Dennoch wehre ich mich dagegen, solche Ausnahme Parteimitglieder. Sie brüsteten sich Aktionen auf der krampfhaften Suche nach Regi­ aber nicht damit. Ich kann mich nicht erinnern, ob megegnern als aktiven Widerstand einzustufen. jemand von ihnen in Uniform erschienen ist oder in der Stunde des Parteiabzeichen getragen hat. Auszuschließen ist es aber nicht. XI. Das Verhalten der Lehrkräfte uns gegenüber war In dem kasernenartigen Gebäude der Hälty­ eher bestimmt durch politische Zurückhaltung. schule, das eher abstoßend und lieblos als anzie­ Mir ist allerdings in der gesamten Schulzeit kein hend auf mich wirkte, verlief der Schulbetrieb Lehrer begegnet, der in uns Schülern Zweifel nach Vorschrift, wie zu allen Zeiten in deutschen gegen das Regime geweckt hat. Sie hätten eigent­ Schulen. Dos bedeutete praktisch: Der weitaus lich in jeder anderen Zeit auch als Lehrer tätig gräßte Teil des Unterrichts hatte mit politischen sein kännen - wie brave Beamte nun einmal ge­ Inhalten rein gar nichts zu tun. Im Deutschunter­ schaffen sind. Im Bewußtsein geblieben sind sie richt beschäftigten wir uns im Laufe der Jahre mir eigentlich nur durch ihre kleinen Stärken und auch mit Schriften wie Kalbenheyers Gregor und Schwächen im mitmenschlichen Bereich, die über Heinrich, Grimms Vo lk ohne Raum und Rasen­ ihre Wertvorstellungen nur sehr wenig aussagen. bergs Mythus des 20. Jahrhunderts. Hitlers Mein Kampf war nicht darunter. Diese neue «Hausbi­ Enttäuscht war ich von Studienrat Boedtger, we­ bel des Regimes» war in Wirklichkeit der ungele­ gen seiner Kärperfülle auch Bottich genannt, von senste Bestseller in jener Zeit. Begriffe wie Ehre, dem man sagte, daß er vor 1933 Freimaurer Vaterland, Treue und Tapferkeit tauchten irgen­ gewesen wäre. Daher durfte er nur die Fächer wann in den Deutschstunden auf. Im Geschichts­ Latein und Musik, aber nicht mehr Deutsch unter­ unterricht dagegen traktierte uns Oberstudiendi- richten.

30 In seinem Lateinunterricht saß neben mir Willi unter der Last seines Gewichtes erbärmlich Hellwig, dessen Vater Bürgermeister in Neustadt quietschte, und riß uns durch ein einziges Wort war. Sein Onkel war als Oberschulrat in der aus unseren geruhsamen Träumen über das lu­ Schulaufsicht tätig. Es war nicht zu übersehen, wie stige Lagerleben am Donauufer. Harmonielehre Studienrat Boedtger Willi Hellwig bei jeder Gele­ wurde angesagt. Sie brachte mich immer von genheit hofierte. Wir beiden schrieben etwo einer Verlegenheit in die andere. Und als Neuzu­ gleich gute Arbeiten. Eines Toges forderte mich gänge erfreuten wir uns seiner besonderen Zunei­ Bottich auf, zum Schreiben der Klassenarbeit gung. Kahlköpfig wie Bottich nun einmal war, ollein vorn an seinem Lehrertisch Platz zu neh­ betonte er vor der Klasse mehrfach seine feinsin­ men. nige Art, wie er die beiden Neuen unterscheiden konnte: «Friese mit der Polkatolle links, Strehlke Die gesellschaftliche Herkunft ließ bei ihm wohl mit der Polkatolle rechts. » Mit Sicherheit fand er keine Zweifel aufkommen, wer von wem abge­ seine Opfer. schrieben haben mußte. Nachdem trotz meiner Isolierung keine Veränderung bei der Benotung Mein Klassenlehrer, Studienassessor Jürgens, festzustellen war, wurde diese Prozedur nach wurde im Schultag von ganz anderen Prablemen zwei oder drei Versuchen wieder beendet. So geplagt. Er kam morgens häufig zu spät und schimpfte immer in der gleichen Weise über die ganz habe ich ihm diese Brüskierung nie verges­ Provinzstadt Wunstorf. Er meinte damit die sen. Schranke am Bahnübergang, die gerade immer Seinen Musikunterricht fanden wir immer dann dann geschlossen wurde, wenn er in Eile auf dem recht amüsant, wenn er sich auf den Schemel Wege zur Schule war. zwängte und den Klavierdeckel hochklappte, was Als er eines Morgens wieder verspätet mit hoch­ nicht oft vorkam. Mit einer theatralischen Ge­ ratem Kopf den Klassenraum betrat und gerade bärde schlug er auf die Tasten ein und begann zu dabei war, sich mit dem Taschentuch den singen. Er preßte den Text förmlich aus sich her­ Schweiß von der Stirn zu tupfen, betraten zwei aus: «Zelte, Posten, We rdarufer, lustige Nacht om Fahrschüler die Szene und brachten ihn in eine Oonouufer... » und dann wurde er ganz leise, fast peinliche Verlegenheit. Sie hatten ihm nämlich wehmütig klang es an unser Ohr: «Prinz fugen, aufgelauert und erklärten triumphierend vor der der edle Ritter. ..» Klasse, daß eine geschlossene Schranke bei der Verspätung nicht im Spiel gewesen sein könnte. An dieser Stelle fühlte er sich einmal durch Schü­ lergeräusche aus dem Hintergrund gestört. Jäh Das betuliche Hantieren mit dem Taschentuch bei drehte er sich auf dem Klavierschemel um, der Schweißausbrüchen infalge seines schlechten Ge-

31 wissens in der ersten Stunde ist uns forton ersport genüßlich über dem Bauch gefaltet, während wir geblieben. uns sportlich betätigten. Hin und wieder mischte er sich beim Geräteturnen mit Bemerkungen ein Professor Schrader, auch Pussel genannt, bom­ wie «Klingenberg, sitz da nicht wie auf dem bardierte uns im Englischunterricht mit seinen Kackstuhl!». Fürsorglich schickte er uns bei Flie­ feststehenden Redensorten. Der Begriff «Phrases» geralarm mit den Warten in den Keller: «Beeilt brochte ihn zum Entzücken und uns zur Verzweif­ Euch, ich will an Eurem Heldentod nicht schuld lung. Vor allem im amouräsen Bereich hielt er sein},) sich gern auf. «5he took 0 fo ncy fo r him» (sie gewann ihn lieb), so oder ähnlich ging es los. Studienrat Johst kam jeden Tag aus Hannover. Er Davon hatte er ei ne ganze Menge auf Lager. war die Nüchternheit in Person und brachte uns Dach in konkreter Farm hatte er es noch lieber. mit sparsamen Anweisungen Mathematik und Als er einmal mit Helge von Dähren in der Klas­ Physik bei. Er besprach vorher mit uns die Zeug­ sentür zusammenstieß, ließ er sich zu der Äuße­ niszensuren und härte sich wohl auch einmal die rung hinreißen: «Ach, war das schön!» Es kam Meinung von Schülern dazu an, was damals auch vor, daß er sich beim Lesen im Klassenbuch allgemein nicht üblich war. vorn am Pult erhob und dabei den Mädchen in der ersten Reihe in den Ausschnitt ihrer Sommer­ In einem Halbjahr hatte ich von fünf Mathematik­ kleider peilte. Einmal fühlte er sich dabei ertappt, arbeiten vier mit gut und eine mit mangelhaft als Fritz Flärke gerade in diesem Moment in der geschrieben. Er murmelte dazu vor sich hin: «le­ Reihe hinter den Mädchen ebenfalls aufstand und der kann mal einen schlechten Tag gehabt haben. ganz offensichtlich in die gleiche Richtung Die mangelhafte Arbeit werde ich nicht werten.» schaute. Pussel jedenfalls bekam einen hochroten Was dann auch geschah. Kopf und begann, aus Verlegenheit im Klassen­ Ganz anders verhielt sich Studienassessor Jür­ buch zu blättern. Im übrigen hatten wir durch gens in solchen Fällen. Er überraschte uns an Fahrschüler auskundschaften lassen, in welchen Lokalen er sich in Hannover gern oufhielt. einem Montagmorgen mit einem Deutschaufsotz. Wir sollten am Wochenende einige Kriegsbe­ Da die jüngeren Lehrkräfte alsbald alle eingezo­ richte über den deutschen U-Boot-Krieg durchor­ gen waren, hatten wir auch das Vergnügen mit beiten, wozu ich nicht gekommen war. Wir muß­ ihm im Sportunterricht. Zu Beginn mußten wir ten zwei Fronteinsätze zu einer Geschichte umar­ meistens mit dem Lied «Der Mai ist gekommen» beiten. Irgend jemand flüsterte mir noch ein Stich­ herummarschieren, auch wenn kein Mai mehr wort zu. Während ich den Tanker mit gewaltigen war. Dann zog sich Pussel zurück, die Hände Detonationen im Atlantik untergehen ließ, wurde

32 er in Wirklichkeit als Prise unbeschädigt in den verkürzten Zeit das Abitur anstrebte, wie eben auf Hafen geleitet. einer Oberschule in Aufbauform, der erwartete einfach hohe Anforderungen mit den notwendi­ Meine Arbeit war mit der Bemerkung versehen: gen Konsequenzen für sich selbst. Das fing schon «Sehr anschaulich und wirklichkeitsnah geschif­ an mit weiten und unbequemen Schulwegen. Der dert. Eine interessante Verknüpfung, aber leider Einzugsbereich der Höltyschule erstreckte sich am Inhalt varbei, daher mangelhaft. » Diese Zen­ von Hannover bis nach Bad Rehburg. Trotz des sur wurde bei der Zeugniszensur am Ende des autoritären Erziehungsstils war das Schulleben Halbjahres peinlich genau aufgerechnet. Ich hatte auch erfüllt von Zuwendung und Hilfsbereitschaft van ihm auch nichts anderes erwartet. der Lehrerschaft gegenüber den Schülern. Wer Studienrat Hinze, auch der Bulle genannt, stürmte allerdings nicht gelernt hatte, wurde mit einer jeden Morgen mit nach vorn gebeugtem Nacken fühlbaren Strafarbeit bedacht. in die Klasse, als ginge es darum, auf einem Wenn Dr. Dölle, während er bis zu einer gefährli­ sinkenden Schiff noch das letzte Rettungsboot zu chen Rückenlage auf seinem Stuhl hin und her­ erreichen. Er schwärmte uns gegenüber von schaukelte, beim Abfragen von unregelmäßigen einem Schüler, der seine Büchertasche mittags an Verben jemanden erwischt hatte und immer im die Garderobe hängte, um sie om anderen Mor­ gleichen Ritual rief: «Hinein Cousin, ein Dut­ gen ungeöffnet wieder abzunehmen, aber trotz­ zend!», dann hatte der Schüler das betreffende dem sehr gute Leistungen erzielte. Verb zwölfmal in allen Personen und in ollen Im übrigen war er stolz auf die unerbittliche Zeiten sowohl im Aktiv ols auch im Passiv durch­ Härte, mit der er im Elternhaus erzogen worden zukonjugieren. Diese Verben hat er Zeit seines war. Wenn er morgens von seinem Vater geweckt Lebens nicht mehr vergessen. Manche brachten wurde und nicht schon in der nächsten Minute es in einer Englischstunde auf mehrere Dutzend. aufstand, folgte die pädagogische Maßnahme Wenn auf dem Fuße: Ein Schlag mit dem Riemen oder ich mir auch der Tatsache bewußt bin, daß ein kalter Wasserguß zu seiner Ernüchterung. der Blick zurück gewisse Dinge verklärt und ver­ schönt, sind mir in der Schule relativ verständnis­ Wie gern wären auch wir in die Fußtapfen seines volle Lehrer begegnet, vorausgesetzt, man hatte Paradeschülers getreten, wenn uns der große sich auf sie eingestellt. Reinfall hinterher erspart geblieben wäre. Ausgerechnet an einem Tag, an dem ich einmal Schule vor 50 Jahren war immer verknüpft mit keine Hausaufgaben gemacht hatte, wurde ich einem erheblichen Leistungsdruck. Wer in einer von Studienrat Küster aufgerufen. Ich erhob mich,

33 schlug mein Hausheft auf und tat so, als ab ich Stundentafel waren wöchentlich fünf Stunden vorlas. Er beobachtete mich eine Zeitlang und Sport vorgesehen, was auf dem Zeugnisformulor hörte aufmerksam zu, bis er mich jäh unterbrach: deutlich zum Ausdruck kam. Im Zeugniskopf war «Sfrehlke, wann blättern Sie denn um?" Ich be­ eine Spalte für die allgemeine Beurteilung der wahrte Haltung und sagte: «Gleich, Herr Sfudien­ körperlichen, charakterlichen und geistigen Fä­ roh,. Eine kurze Zeit trug ich den Stoff noch weiter higkeiten vorgesehen. Hierbei möchte ich beson­ vor, dann erst schlug ich die nächste Seite auf und ders auf die Reihenfolge aufmerksam machen. las dem Schein nach noch etwas weiter. Als ich mich setzte, traf mich sein Blick mit den listigen Bei den Fächern war auf dem Zeugnisformular Augen und einem Schmunzeln im Gesicht. Damit die Leibeserziehung mit den einzelnen Disziplinen war die Sache für ihn abgetan. Leichtathletik, Turnen, Schwimmen, Spiele und Boxen an die erste Stelle gerückt. Dahinter folgte Ein blauer Brief der Schule sorgte eines Tages für die deutschkundlichen Fächer, danach die Natur­ Aufregung, die beim Lesen schnell in Freude wissenschaften und die Mathematik. An vierter umschlug. Oberstudiendirektor Hugo teilte mei­ Stelle rangierten die Fremdsprachen und als An­ nen Eltern kurz und bündig mit, daß mir aufgrund hängsel zum Schluß das Fach Religion. der erbrachten Leistungen das Schulgeld, das monatlich immerhin 20 Reichsmark betrug, bis Zur täglichen Sportstunde in der Schule kam die auf weiteres erlassen würde, was zu einer erheb­ sportliche Betätigung in der Hitlerjugend und im lichen Entlostung unseres häuslichen Budgets Sportverein. Unser Aktionsfeld war vorwiegend führte. das Sportgelände. Allerdings waren Turnhallen Im nochhinein ist diese Totsache für mich bemer­ selten. Im Bereich der heutigen Stadt Garbsen kenswert, denn meine Eltern gehörten nach wie gab es keine einzige. Auch die übrigen Sportan­ vor weder der Partei noch einer ihrer Gliederun­ lagen sind mit heutigen Maßstäben nicht zu mes­ gen an. Bei der Verteilung von Freistellen an sen. einer staatlichen Oberschule schien die politische So quälten wir uns beim Hundertmeterlauf über Linientreue in diesem Fall nicht den Ausschlag holprige Waldwege und spielten auf ungepfleg­ gegeben zu haben. Für mich persänlich bedeutete es fortan, doch erhebliche Energien aufzuwen­ ten Sportplätzen. Trotzdem gaben wir das letzte den, um diesen einmal erreichten Status zu halten. und empfanden ein Wohlgefallen an der Er­ schöpfung und Überanstrengung. Der Sieg war Wir lebten in einer äußerst leistungsorientierten uns schon wichtiger als nur die Teilnahme. Gesellschaft, die sich auf alle Bereiche erstreckte, Schließlich waren wir ernsthaft bemüht, die For­ besonders auf die körperliche Ertüchtigung. Laut derung Hitlers an die deutsche Jugend zu erfül-

34 len, schnell wie Windhunde, zäh wie Leder und hatten. Der Stürmer, ein Hetzblatt gegen die Ju­ hart wie Kruppstahl zu werden. den, wurde in Schaukästen öffentlich ausgehängt, aber von der Bevölkerung kaum beachtet. Vor mir liegt mein Leistungsbuch für das Jugend­ sporta bzeichen. Zu den persönlichen Angaben Den Juden von nebenan gab es nicht. In Garbsen darin gehören Angaben über die Schule, die HJ­ wohnten keine jüdischen Familien, daher waren Gliederung und den Sportverein. Daraus ist zu private Kontakte zu Juden äußerst selten. ersehen, wie verzahnt diese drei Institutionen Ich erinnere mich, daß in Seelze am Kreuzweg miteinander waren. Wer nicht in der Hitlerjugend Emil Willner ein Kurzwarengeschäft betrieb. war, konnte auch in keinem Verein Sport betrei­ Meine Eltern kauften dort bei Bedarf ein. Ob in ben. Das fettgedruckte Motto ouf der ersten Seite der Reichskristallnacht die Fensterscheiben dieses war nicht zu übersehen: Gesundheit ist der Geschäftes zerstört wurden, kann ich nicht mit Grundstein des Glücks. Sicherheit sagen. Der ehemalige Bürgermeister Koropp hat vor dem Entnazifizierungsausschuß XII. erklärt, er habe persönlich eingegriffen und die Zerstörung durch Angehörige der politischen SS­ Die Personolangaben endeten mit der Feststel­ Organisation aus Neustadt a. Rbge. verhindert. lung: «Der Bewerber ist deutschen bzw. artver­ Auf Befragen von Seelzer Bürgern, die Zeitgenos­ wandten Blutes». Die Richtigkeit des Lichtbildes sen des Geschehens waren, wurde diese Behaup­ und der Personalangabe wurden mir durch Unter­ tung nicht bestätigt. Nach ihrer Aussage wurden schrift und Siegel durch den Direktor der Hölty­ die Schaufensterscheiben sehr wohl zertrümmert. schule beglaubigt, ohne einen arischen Nachweis Jedenfalls müssen bei dieser Aktion Geschäftsbü­ zu diesem Zeitpunkt erbringen zu müssen. Die cher im aufgebrochenen Laden oder auf der Vererbungslehre und die Nürnberger Gesetze Straße gelegen haben. Von diesen Tagen war es wurden im Biologieunterricht ausgiebig behan­ ein offenes Geheimnis, daß auch Mitglieder der delt. Doch für uns hatte das zunächst keine prak­ NSDAP als Käufer hatten anschreiben lassen, tische Auswirkung. Die offizielle Propaganda darunter auch jemand, der in Garbsen als stram­ gegen die Juden bezog sich für die meisten auf mer SA-Mann in Erscheinung getreten war. einen abstrakten Bereich. Es war viel die Rede vom Kampf gegen das Weltjudentum. Wir hatten Mit Sicherheit waren überall in der «Reichskri­ die vage Vorstellung, daß sich dahinter einfluß­ stal/nach/!! Einzeltäter am Werk gewesen, die auf reiche Finanziers verbargen, die durch ihre Ma­ Befehl gehandelt hatten. Von einer brodelnden chenschaften Unglück über unser Volk gebracht Volksseele war entgegen der amtlichen Sprach re-

35 gelung keine Spur zu entdecken. Es gab aber drohender Gebärde: «Ihr Judenlümmel». Verstärt auch keine ernstzunehmende Solidarität mit den gingen die beiden auf die gegenüberliegende jüdischen Mitbürgern, wenn man vom Munkeln Straßenseite. Die meisten von uns waren peinlich und Protestieren hiner verschlossenen Türen ein­ berührt und redeten auf Horst Friese ein, der sich mal absieht. Die meisten Menschen wandten sich aber nicht beirren ließ. ab und nahmen es hin. Sie hatten es eilig, sich in Fortan wechselten die Zwillinge jeden Morgen ihren Alltag zurückzuziehen. Zu diesem Zeitpunkt rechtzeitig auf den anderen Bürgersteig, um dem hatten die Juden im Reich längst ihren bürgerli­ Pulk von Fahrschülern auszuweichen. Es dauerte chen Tod erlitten. Nachdem die Glasscherben nicht lange, bis wir ihnen nicht mehr begegneten. von den Betroffenen selber beseitigt waren, war Wahrscheinlich nahmen sie einen anderen Zug der Spuk so schnell wieder verschwunden, wie er oder einen anderen Weg. Von diesem Tag an gekommen war. waren sie uns buchstäblich aus den Augen und Darüber hinaus habe ich auch in Erinnerung, daß damit aus dem Sinn. in den Jahren bis 1937 ein jüdischer Kaufmann Aber erst Jahre später nach dem Kriege habe ich mit Namen Mendel von Zeit zu Zeit meine Eltern nähere Einzelheiten über sie erfahren: Ernst und zu Hause aufsuchte. Ich verknüpfte damit das Bild Ludwig Lazarus waren Schüler der Hältyschule, an einen weißhaarigen Mann, der mit dem Fahr­ bis ihnen der Schulleiter Hugo nach den Gewalt­ rad aus Wunstorf kam und seine Kurzwaren im akten im Zusammenhang mit der Reichskristall­ Koffer anbot. Meine Mutter kaufte gern bei ihm, nacht Ende 1938 nahelegte, die Schule zu verlas­ bis er eines Tages wegblieb. sen. Sie besuchten einige Zeit eine jüdische Schule in Hannover, die aber alsbald geschlossen Etwas genauer erinnere ich mich an eine Bege­ wurde. Danach erlernten sie im Elternhaus, das benheit aus meiner Wunstorfer Schulzeit. Es muß dem Schulgebäude gegenüberlag, das Schlosser­ wohl 1939 oder 1940 gewesen sein. Während wir handwerk, bis sie eines Tages deportiert wurden. als Fahrschüler vom Bahnhof Wunstorf Richtung Höltyschule eilten, begegneten uns regelmäßig Wie mir Hiddi Tärner, die Tochter des Oberstu­ zwei Jungen. Blond gelockt und von zierlicher diendirektors Hugo und seinerzeit Mitschülerin, in Gestalt, so sehe ich sie noch vor mir. Sie waren diesen Tagen dazu berichtete, habe sie mit Bär­ unverkennbar Zwillingsbrüder, deren Namen ich bel Bohne aus dem Fenster des Schulgebäudes damals nicht kannte. mit ansehen müssen, wie in den Tagen nach der Reichskristallnacht die Gebrüder Lazarus wäh­ Eines Morgens beschimpfte Horst Friese, ein rend einer Pause mit dem Rücken an der T urn­ Mitschüler aus meiner Klasse, die beiden mit halle gestanden haben, von einer Gruppe von

36 Mitschülern förmlich eingekesselt. Es haben sich bild wirkte er auf uns wie eine beneidenswerte nach ihrer Aussage hößliche Szenen abgespielt. Mischung aus Sonnyboy und Lausbube. Er lebte Die beiden wurden beschimpft und sagar be­ gern geföhrlich und eckte daher oft mit Behörden spuckt. Sie seien entsetzt gewesen. Van diesem an. Vorfall habe sie zu House ihrem Vater berichtet, Er fuhr jeden Morgen schwarz in der zweiten der ebenfalls sehr betroffen gewesen wöre. Ihr Klasse. Wenn ein Schaffner einmal kontrollierte, Vater sei doraufhin zu Herrn Lazarus gegangen, zeigte er eine Monatskarte vor, die so verwa­ der gegenüber der Schule wohnte, und habe ihn schen war, daß man das entscheidende Datum aus der Sorge um die Sicherheit gebeten, seine nicht mehr lesen konnte. «Meine Mutter hat aus Söhne abzumelden. Versehen die Monatskarte mit meiner Jacke ge­ Hierbei muß berücksichtigt werden, daß die Fa­ waschen)), pflegte er sich herauszureden. Mei­ milie Lazarus wohl kaum der Klischeevorstellung stens ging das gut. Am Bismarckbahnhof war er des Regimes über Juden entsprach, denn Herr dem Schaffner persönlich bekannt, so daß er Lazarus war handwerklich tötig und außerdem ohne Vorzeigen der Karte auf den Bahnsteig Frontkömpfer des Ersten Weltkrieges gewesen gelangte. Einmal ließ er in Wunstorf sogar einen wie Oberstudienrat Hugo auch. Zug mit Trillerpfeife und entsprechenden Kom­ mandos fünf Minuten früher abfahren, was ihm allerdings eine exemplarische Strafe durch die XIII. Schule einbrachte. Der HJ-Dienst nahm ihn so in Anspruch, daß Die Geschichte wirft bisweilen lange Schatten bis seine Schulleistungen darunter litten. Alsbald war in die Gegenwart. Horst Friese gehörte einer die Versetzung geföhrdet wegen mangelhafter Nobeleinheit der Hitlerjugend an und brachte es Leistungen in Latein und nur schwach ausrei­ in der Marine-JH zum Gefolgschaftsführer. Sein chende Leistungen in Mathematik. Daher wurde dienstlicher Tatart war also der Maschsee. Er trug für das Fach Mathematik eine mündliche Prüfung bisweilen besonders kurze Lederhosen, kam aber angesetzt. zur Schule nie in Uniform. Er stammte ous gutem Hause. Aus der vornehmen Wohngegend Wald­ Es war an jenem Morgen bereits zehn Minuten hausen hatte er töglich einen langen Schulweg nach acht Uhr, und noch immer war der Prüfling zurückzulegen. Vielseitig begabt, imponierte er nicht erschienen. Oberstudiendirektar Hugo war uns vor allem durch seine sportlichen Föhigkei­ aus diesem Anlaß extra anwesend und watschel­ ten. Auf gepflasterten Gehwegen schaffte er mit te - er war von einer aufföllig gedrungenen Ge­ Leichtigkeit einen Salto. In seinem Erscheinungs- stalt - ungeduldig an der Fensterseite hin und her.

37 Studienrat Jahst blätterte etwas hilflos in einem Eines Tages tauchte Horst Friese wieder auf und Mathematikbuch. Wir dagegen saßen unbe­ berichtete von einem Sportunfall während des schwert in den Bänken und genossen unser Stati­ HJ-Dienstes mit einem notwendigen Kranken­ stendasein. Man war drauf und dran, die Aktion hausaufenthalt. Er wurde aufgefordert, endlich abzubrechen, als sich die Klassentür äffnete. ein Attest vorzuzeigen, was er eines Tages auch Horst Friese betrat den Klassenraum. Sofort fiel tat. Dennoch blieb Studienassessor Jürgens miß­ ins Auge, daß sein Kopf stark verbunden war. trauisch und bedrängte Horst unter vier Augen, Deutlich war auch zu erkennen, daß der Verband die Wahrheit zu sagen. Er vertraute sich seinem on einigen Stellen durchblutet war. Mit gequälter Klassenlehrer an. Stimme teilte er mit, daß er mit seinem Fahrrad auf dem Wege zur Schule unter der Dedensener Horst hatte sich im Goseriedebad in Hannover Brücke von einem Lastwagen angefahren sei. schöne Tage mit kleinen Mädchen gemacht. Dort Fürsorglich wollte man die Prüfung verlegen, war er ganz in seinem Element. Er konnte durch doch Horst wollte es hinter sich bringen. Er pro­ seine akrabatischen Kopfsprünge glönzen, die duzierte an der Tafel einige Formeln und antwor­ wir oft genug im Schwimmunterricht bewundert tete auf Fragen. Dabei waren ihm die Spuren des hatten. Das Attest hotte er sich über seinen Bru­ Unfalls deutlich anzumerken. Mathematisch kam der, der Medizin studierte, besorgt. Studienasses­ nicht viel heraus, aber unter dem Eindruck des sor Jürgens gab den Tatbestand dennoch weiter Unfallgeschehens einigte man sich auf ein Ausrei­ an die Schulleitung. Horst Friese wurde daraufhin chend. Damit war die Versetzung gesichert. von der Schule verwiesen. Weder die berufliche Stellung seiner Eltern noch seine Führertötigkeit in Es wäre nie etwas herausgekommen. Aber sein der HJ konnten daran etwas ändern. Geltungsbedürfnis ließ ihm keine Ruhe. Er offen­ barte sich uns und sonnte sich im Glanze seiner Im Zivil leben, und dazu gehörte auch das Schulle­ tollen Idee. Der Unfall war gemimt und bis zur ben, begegnete uns überall der Normenstaat. roten Tinte im weißen Verband gut durchdacht. Seine Amtspersonen hatten darauf zu achten, gesetzliche Bestimmungen pedantisch genau Im nächsten Schuliahr fehlte Horst Friese wochen­ durchzuführen ohne Rücksicht auf Stellung oder lang. Studienassessor Jürgens fragte uns in seiner Herkunft der Person. Verfehlungen wurden mit Eigenschaft als Klassenlehrer, ob wir über seinen unerbittlicher Härte verfolgt. Zwischen den Verbleib etwas wüßten. Wir hatten in der Tat Rechtsnormen des Alltags und der hohen Krimi­ nichts gehärt, und Hannover war weit. Auf schrift­ nalität bei politischen Maßnahmen lagen unüber­ liche Anfragen der Schule erfolgten keine Reak­ brückbare Abgründe, die für nachgeborene Ge­ tionen. nerationen nur schwer nachzuvollziehen sind.

38 Zwei Jahre später begegneten wir uns auf Bor­ er mir stolz ein Plakat, ouf dem für eine Veran­ kum. Horst Friese war seiner Vergangenheit in staltung geworben wurde: Evelyn Künnecke auf der Marine-HJ treu geblieben und fuhr als Ge­ Bädertournee an der Ostsee, begleitet von der freiter auf einem Minensuchboot, während ich als Kapelle Horst Friese. Das muß so 1948 kurz vor Fähnrich zur See auf einem Röumboot das Vater­ der Währungsreform gewesen sein. land verteidigen wollte. Mit einem Blick auf mei­ nen Dienstgrad erklärte er mir, er sei in Wirklich­ Wir begegneten uns später noch einmal. Inzwi­ keit Sicherheitsoffizier und zur Tarnung in einen schen war er aber im Rheinland seßhaft gewor­ geheimen Auftrag als Gefreiter eingeschifft wor­ den. Auf seinen mitgebrachten Fotos war er fast den, um den Kommandonten zu überwachen. Von immer zu sehen, wie er den Tambourstock als den Besatzungsmitgliedern erfuhr ich jedoch, daß Zeichen seiner Würde theatralisch in die Höhe er vom Obergefreiten zum Gefreiten degradiert hielt und einem Trompeterkorps voranschritt. worden war, weil er beim Waffenreinigen einem Nach seinen Worten war gerade Karnevalszeit. Kameraden ins Bein geschossen hatte. Abends Danach habe ich nie wieder etwas von ihm ge­ bei uns an Bord war er ganz der alte und bril­ hört. Und wenn er sich noch bewegen kann, dann lierte mit seinem Akkordeon. Unter onderem wird er immer noch irgendwo seinen Auftritt ha­ spielte er einen von ihm komponierten Feuer­ ben und den Ton angeben. Er brauchte das ein­ wehrfoxtrott. fach, und dabei war ihm jeder Verein von der Hitlerjugend bis zur Karnevalsgesellschaft recht. Um dos Bild abzurunden, greife ich im zeitlichen Ablauf über meine Schulzeit hinous. War Horst Friese der Prototyp des linientreuen HJ-Führers?! Wohl kaum! Das Abgleiten in solch Einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg tauchte eine extreme Verhaltensweise war sicherlich nicht Horst Friese wieder in meinem Blickfeld auf. Er typisch, aber ein bißchen von Horst Friese steckte übernochtete in einem Zelt ouf dem Camping­ in jedem von uns. Es gab vielerlei Möglichkeiten, plotz am Blauen See, während er togsüber bei seinem Hang zur Selbstbestätigung nachzugehen. Karstadt ein Reinigungsmittel einführte, on dessen Wer sich in der Schule schwertat, konnte sich in Namen «Polish» ich mich noch genau erinnere. der Hitlerjugend hervortun. Dazu gab es reichlich Einige Schülerinnen ous meiner zehnten Klasse Gelegenheit. hotten ihn bei dieser Tätigkeit beobachtet und waren ganz ongetan von seiner Wortgewondtheit Zu den unerklärlich empfundenen Bildern aus und seinem Charme. Danach war er ganz «Hahn meiner Schulzeit gehört, daß wir trotz der bitteren im Korbe» und ständig von einer Traube junger Eingriffe, die der Krieg mit sich brachte, wiß- und Hausfrauen umlagert. Bei diesem Besuch zeigte lernbegierig jede Gelegenheit nutzten, um über

39 die Schule eine Fahrkar!e zum Aufstieg zu ergat­ reichs im Englischunterricht ihre Wirkung nicht tern. Wir taten so, als säßen wir gleichsam wie verfehlte. Th e Growth of the Brifish Empire hieß Robinson Crusoe auf einer Insel, auf der wir fer­ die Schrift, die schon vor Ausbruch des Krieges nab vom Tagesgeschehen ungestär! unseren Bil­ erschienen war. dungshunger stillen konnten. Wir waren unter Der Samstag war inzwischen zum Staatsjugend­ dem Druck der Ereignisse auf der Flucht in eine tag erklär! und blieb ausschließlich den Aktivitä­ Scheinwelt, während es aus dem Krieg, der über­ ten der Hitlerjugend vorbehalten. Hier war end­ all auf dem Vormarsch war, in Wirklichkeit kein lich mal ganz offiziell ein Bereich geschaffen, in Entrinnen gab. den die Erwachsenen nicht hineinreden konnten. Wie ist es auch anders zu verstehen, wenn mein Die Schule fiel aus, und außerdem wurde Jugend normaler Schultag meistens nach einer von Flie­ durch Jugend geführ!. Und alle waren gleich und geralarm gestär!en Nacht zeitlich so ablief: Ab­ hallen sich unterzuordnen, unabhängig von ihrem fahr! nach der Unterrichtszeit vom Bahnhof Wuns­ sozialen Status. Das führte zu einer ungeheuren torf nach 14.00 Uhr, Ankunft in Seelze gegen Steigerung des Wir-Gefühls bis hin zu einer orga­ 14.30 Uhr, Nachhilfe bei Gerd Dellmering in der nisierten Aufmüpfigkeit gegenüber den Erwach­ Kolonie von 15.00 Uhr bis 17.00 Uhr, danach Zeit senen. Jugend ist zu allen Zeiten ein bißchen zur freien Verfügung für die eigenen Schularbei­ mehr oder weniger Trunkenheit ohne Wein gewe­ ten, soweit die Verlockungen aus dem privaten sen. Von dieser psychischen Grundhaltung von Bereich damit nicht kollidier!en. Jugendlichen zu allen Zeiten bis zu den Kampflie­ dern der Hitlerjugend war es nur ein kleiner Das Geld aus dem Nachhilfeunterricht wurde für Schritt, wenn es da hieß: "Vorwärts, vorwärts, den Kauf von Büchern verwendet. Andere Mög­ schmettern die hellen Fanfaren, vorwärts, vor­ lichkeiten zur Ausgabe waren sehr begrenzt. Die wärts, Jugend kennt keine Gefahren.» Und die Anschaffungen erstreckten sich von T reitschkes nächste Stufe einer totalen Ergebenheit wurde Ausgewählte Schriften bis zu Paustions Lustige vieltausendfach in den Jubelszenen in allen deut­ Sprachzeitschrift, die ich abonnierte, um meine schen Landen immer wieder beteuert, gedanken­ Englischkenntnisse zu verbessern. los, unüberhörbar und meistens im Chor: "Führer Damals herrschte eine Unsere heimliche Bewunderung galt den Englän­ befiehl, wir fo lgen dir!» Aufbruchstimmung, die durch die Kriegsereig­ dern, die es verstanden hallen, ein gewaltiges nisse noch verstärkt wurde. Es war wie ein musi­ Weltreich aufzubauen, während wir die Habe­ scher Rausch mit Liedern und Trommeln. nichtse in der Welt waren. Daran konnte auch die amtliche Propaganda nicht viel ändern. Es mag So wurde der Krieg mit England als ein Betriebs­ sein, daß die Behandlung des englischen Welt- unfall angesehen, der schon wegen der rassi-

40 schen Verwandtschaft zwischen unseren Völkern sicherlich auf dem Wege der Verstöndigung beendet würde. Im übrigen sahen wir zwischen der nationalsozialistischen Devise «Recht ist, was dem Staate nützt!» und der englischen Version «Right or wrang my countryh, keinen Unterschied.

XIV.

Der Krieg war in die Jahre gekommen. Die Alarmzeiten, die wir im Keller verbringen mußten, wurden lönger. Das war noch löngst kein Grund für die Menschen, ihren Verpflichtungen am Mor­ Abb. 8: Auf dem Flokleilslond om Osterberg gen danach mit Verspätung nachzukommen. Wir waren müde und durften es nicht zeigen. Aus den wehrleuten ausgebildet und bei Moarbränden Flugblättern der ersten Tage waren löngst Brand­ und zur Luftschutzwoche im Spritzenhous einge­ und Sprengbomben geworden. Der Flakgürtel setzt. der Luftverteidigung für Hannover zag sich direkt durch Garbsen. Eine Flakbatterie stand in Stelin­ An einem strahlenden Junitag im Jahre 1940 gen, eine andere in Horst, eine weitere im Bereich begleitete ich Helmut Wolff von der Schule nach des heutigen Streitbergs und die nächste auf einer Seelze. Wir fuhren ouf unseren Fahrrädern ne­ Höhe bei Horenberg. Dazu waren Scheinwerfer beneinander her und beschäftigten uns wie so oft an verschiedenen Standorten in diesem Gebiet in bei solch einer Gelegenheit mit Schulproblemen. Stellung gegangen. Wenn die Flakbatterie vom In Gümmer woren deutlich Kirchenglocken zu Streitberg schoß, fielen manchmal bei uns in der hören. Das war ganz ungewöhnlich an einem Wohnung am Kampweg die Bilder von den Wän­ Alltag um die Mittagszeit. Wir hielten on und den. Es blieb bei Alarm keiner mehr im Bett, wie fragten eine Frau, die im Garten beschäftigt war. es im ersten Kriegsjahr schon einmal geschehen «Ja, wißt Ihr das nicht, Paris ist gefallen!» Bei konnte. Der Krieg stellte seine Forderungen. diesen Worten richtete sie sich ouf, stützte sich ouf ihre Hacke und blickte uns freudestrahlend an. Die sportlich-spielerischen Aktivitäten blieben all­ mählich auf der Strecke. Wir wurden zu Ernte­ Wir vergoßen für den Rest der Wegstrecke alles, arbeiten herangezogen, an Sonntagen zu Feuer- was mit der Schule zu tun hotte. Unsere Gedon-

41 ken kreisten um dieses militärische Großereignis. Wi r fühlten uns mehr als nur halbstark und durf­ Dieses Mol hotte kein Wunder on der Morne die ten an der Heimatfront schon einmal Erwachsene Fronzosen retten kännen. Für uns ols Fünfzehn­ ersetzen. Dennoch wurde das Reichsjugend­ jährige stond fest, doß wir für diesen Krieg leider schutzgesetz nach wie vor voll auf uns angewen­ zu spät geboren woren. Wir bedauerten uns noch det, was schon bei der Tabakzuteilung zum Aus­ gegenseitig als Angehörige der Geburtsjahr­ druck kam. Die weibliche Jugend hatte im allge­ gänge, über denen die Ungnade der späten Ge­ meinen keine Schwierigkeit, nach der Parole zu burt zu liegen schien. In Presse und Rundfunk leben «Ein deutsches Mädel raucht nicht". Wenn bezeichnete man von nun an Hitler als den größ­ wir uns im Vereinslokal bei Schmeff Fritz, das war ten Feldherrn aller Zeiten, und viele glaubten es. in der heutigen Gastwirtschaft Zur Eiche an der Helmut Wolff konnte nicht ahnen, daß auch er zu Hannoverschen Straße, nach 21 .00 Uhr ohne den Klassenkameraden gehörte, die eines Tages Begleitung von Erziehungsberechtigten aufhielten, nicht zurückkehren sallten. kam es schon einmal vor, daß wir das Lokal Es war wie zu allen Zeiten eine Jugend voller fluchtartig durch die Fenster verlassen mußten, Widersprüche. Wer glaubt, wir wären nur noch in weil sich der Dorfpolizist Heinrich Riechers dem HJ-Uniform herumgelaufen und hätten abends im Tatort näherte. Schlafanzug noch strammgestanden, der irrtsich. Man konnte sein Fahrrad einige Tage unange­ Als Franz Skotzki und ich zu einem Spiel der schlossen im Orte stehenlassen, ohne daß es Auswahlmannschaft des Bannes 274 (das war die gestohlen wurde. Man spürte den Knüppel des HJ-Gliederung auf der Ebene des Kreises Neu­ Gesetzes nicht nur, sondern respektierte ihn auch. stadt a. Rbge.) eingeladen waren, machten wir Gesetze wurden nicht nur erlassen, sie wurden uns mit dem Fahrrad an einem Pfingstsonntag auf streng überwacht. Wer gesetzliche Bestimmungen den Weg zum Treffpunkt am Bahnhof in Wuns­ nicht einhielt, eckte ganz empfindlich an. torf, von wo es mit der Bahn weitergehen sollte nach Sulingen. Wir wurden nicht gerade freund­ Als Willi Rinke einmal seiner Lehrstelle einige lich empfangen, weil wir weder in HJ-Uniform Tage fernblieb, wurde er durch den Wachtmeister erschienen waren noch unsere HJ-Ausweise bei Heinrich Riechers seinem Lehrherrn persönlich uns hatten. Wir mußten einiges über uns ergehen wieder zugeführt. Das geschah auf eine sehr lassen. Der Bannsportwart wollte jedoch auf direkte und wenig bürokratische Weise. Er mußte unseren Einsatz nicht verzichten und stellte uns nämlich neben dem Fahrrad des Polizisten von kurzerhand Ersatzausweise aus. Ich sehe ihn noch Garbsen bis zu seiner Tankstelle in Godshorn vor mir, wie er beim Schreiben den Briefkasten herlaufen. Da das Ganze sich in der Öffentlich­ am Bahnhof als Unterlage benutzte. keit in einem überschaubaren Rahmen abspielte,

42 wurde ein Exempel statuiert, das seine abschrek­ Hier hielten wir uns stundenlang auf, ohne etwas kende Wirkung nicht verfehlte. verzehren zu müssen. Geld hatten wir nicht, und die Flucht in den Alkohol war nicht möglich, weil Für Zimperlichkeit und Wehleidigkeit war kein er immer knapper wurde, je länger der Krieg Spielraum vorhonden. Wir standen unter einem dauerte. starken Gruppenzwang, der bis zur Schicksalsge­ meinschaft hochstilisiert wurde. Die Volksgemein­ Oma Baumgarten stellte uns aus besonderen schaft war das Maß aller Dinge und strapazierte Anlässen auch einmal einen Teller mit belegten die Bürger über Gebühr. Broten auf den Tisch, z.B. nach der Musterung. Im Ich erinnere mich noch, wie sich Heinz Möhlen­ allgemeinen wurde man mit 16 Jahren gemustert brink bei einem A-Jugendspiel in Neustadt a. und mit 17 Jahren eingezogen. Der letzte Gang Rbge. das Schlüsselbein brach. Er wurde von vor der Einberufung, der aber möglichst lange unserem Begleiter zu Fuß ins Krankenhaus ge­ hinausgeschoben wurde, war der zum Frisär, wo bracht und dort bandagiert. Nach dem Spiel dann die Haare auf Streichholzlänge gekürzt tauchte er wieder bei der Mannschaft auf und wurden. Nach dem ersten Fronteinsatz trugen die wurde auf seinem Fahrrad mit Hilfe einer organi­ Urlauber genauso stolz wie ihre Tapferkeitsaus­ sierten Wäscheleine nach Hause transportiert. zeichnung auch wieder einen Salonschnitt. Der Ruf nach der Institution war nicht gefragt. Die Wir hockten betont lässig um das Grammophon Institution waren wir selbst und durch unsere und bewegten Hände und Füße im Takt, einige Zugehörigkeit zu ihr in erster Linie selbst gefor­ imitierten dabei das Geräusch des Jazzbesens. dert. Wir liebten es zu «hotten» und ein Stenz zu sein, Auch wir hier hatten irgendwann die Nase voll und jeder wußte, was damit gemeint war. Wir von Aufgaben und Pflichten und suchten nach bewunderten die Taten der Ritterkreuzträger, einem Ventil. Wir eroberten uns Freiräume, in die aber wir fanden doch Zeit, für Rosita Serrano, die ideologische Beeinflussung nicht hinein­ Zara Leander oder Marika Räkk zu schwärmen. reichte. Druck erzeugte Gegendruck, so daß wir findig genug waren, persönliche Nischen zu ent­ Die Anzahl der Platten war sehr begrenzt und decken. nicht vermehrbar. Einige hatten durch die dauernde Nutzung erhebliche Macken, so daß Wir trafen uns bei Schmett Fritz hinten im (Iub­ der Arm des Plattenspielers bisweilen über eine zimmer. Dort stand ein altes Grammophon, das bestimmte Delle hinweggehoben werden mußte. wir selbst bedienen durften. Oma Baumgarten Wir kannten die Stellen genau, und irgendeiner sorgte dafür, daß wir uns immer wohl fühlten. stand dann immer bereit, den Arm des Grammo-

43 phons darüber hinwegzuheben, so z.B. immer die Leinwand ritt. «Reitet für Deutschland», so donn, wenn Rudi Schurike mit seiner einschmei­ oder ähnlich hieß einer seiner Filme. chelnden Stimme die bonale Frage stellte «Hörst Du mein heimliches Rufen?» oder Peter Ingelhoff Wer damals ins Kino ging, der wurde in der Wo­ mit seiner plappernden Stimme sang «In meiner chenschau der Propaganda ausgesetzt, manch­ Badewanne bin ich Kapitön». mal auch ein bißchen im Kulturfilm. Aber die Spielfilme waren in höchstem Maße unpolitisch. Je härter das Kriegsgeschehen auf uns lastete, Es gab zwar einen Film «Der Hitleriunge Quex», desto mehr flüchteten wir uns in die Unterhaltung. den ich nie gesehen habe, aber die ganze Nation Trotz der Fliegeralarme und der teilweise chao­ hatte sich mit dem Film «Quax der Bruchpilot» mit tischen Verkehrsverhältnisse gelangten wir doch Heinz Rühmann amüsiert. nach Hannover, um Konzerte von Will Glahe oder Bernhard Ette zu besuchen. Das Verblüffende am Unterhaltungsfilm war, daß die Gegenwart des Regimes total ausgeblendet Das Regime wußte natürlich um die Notwendig­ wurde. Kein Parteiabzeichen, kein Hakenkreuz keit der Ablenkung und Zerstreuung gerade in weit und breit, sondern eine bürgerliche Welt im dieser Zeit und führte eine geschickte Regie, um Frack, nie ein deutscher Gruß, sondern ein form­ dieses Ziel zu erreichen. vollendeter Handkuß. Wenn schon Menschen in Uniform auftauchten, dann wurden sie weit her­ Mindestens einmal im Monat kam die Gaufilm­ geholt, meistens aus der k und k Doppelmonar­ steIle mit ihren Angeboten in jedes Dorf, und so chie. Auch die Filme aus dem Kriege «Mutter­ wor der Windhornsche Saal dann immer bis auf liebe», «Frauen sind doch bessere Diplomaten» den letzten Platz gefüllt, wenn das Programm, das oder «Der weiße Tra um» gaukelten den Men­ aus der Wochenschau, einem Kulturfilm und schen noch eine heile Welt vor, als Teile dieser einem Spielfilm von anderthalb Stunden bestand, Welt schon in Trümmern lagen. Das Publikum abgespult wurde. Vom «Choral von Leuthen» erlebte, was es immer sucht und gesucht hat, die über «Krach um Jolanthe» bis zum Tendenzfilm Erfüllung seiner privaten Wunschtröume, alles «lud Süß» reichte das Angebot. Eigentlich hatte geschickt inszeniert für ein Doppelleben. sich damals kein Schauspieler von Rang und Namen den Wünschen des Propagandaministers Den absoluten Höhepunkt in der Palette der Un­ Goebbels verweigert, und so konnte man seine terhaltung bildete sicherlich das Wunschkonzert, Filmlieblinge dank der reibungslosen Organisa­ das jeden Samstagnachmittag ausgestrahlt tion durch die Gaufilmstelle in Garbsen bewun­ wurde. In dieser Zeit versammelte sich buchstäb­ dern, wenn z.B. Willi Birgel für Deutschland über lich die ganze Nation am Rundfundgerät. Für

44 einige Stunden wurden die Sorgen und Ängste ten geradezu vor Neugier, bis sie endlich erfah­ toto I verdrängt, wenn Heinz Goedecke mit seiner ren hatten, welche Musikstücke sich ganz be­ symphatischen Stimme die Wünsche der Soldaten stimmte Leute auserkoren hatten. Dabei habe ich vortrug und die Künstler mit Rang und Namen noch in Erinnerung, daß sich der Lehrer Wilhelm ansagen konnte, die sich für diese Veranstaltung Dahle mit seiner Frau die Ouvertüre zu Dichter ohne Ausnahme zur Verfügung gestellt hatten. und Bauer wünschte, weil der Wunsch sicherlich Hierzu wurde in einer für damalige Verhältnisse ein wenig aus dem Rahmen fiel. perfekten Weise die Verbindung zwischen Front und Heimat hergestellt. So richtig in Schwung komen wir Jugendlichen aber erst, als das Musikkorps nach der Pause in Es war niemand, der sich nicht angesprochen kleiner Besetzung zur Hitparade der gängigen fühlen mußte, denn alle woren wir Betroffene und Schlager aufspielte, als der Schlagzeuger mit fühlten uns über den Äther mit denen verbunden, dem Jazzbesen und die Trompeter mit den Schall­ deren schmerzliche Trennung wir ertragen muß­ dämpfern dominierten. Der nationalpolitische ten und die wir außerdem in großer Lebensgefahr Zweck der Veranstaltung geriet dabei völlig in wähnten. In einer wohldosierten Fülle und einer den Hintergrund. Das fiel uns nicht schwer, denn raffinierten Hülle lief das Programm ab, in dem wohin man sich im Alltag auch wandte, überall die Heimat der Front die Hand reichte, wie man stieß man auf die Belange der Volksgemein­ immer wieder recht theatralisch behauptete. Das schaft. Geschehen wirkte wie eine Droge auf die Zuhö­ rer, und wenn W. Strienz zum Abschluß sang Doch schnell hatte uns die Realität wieder einge­ «Und wieder geht ein schöner Tag zu Ende, val/er holt. Wir schlüpften behende in die Rolle, die von

Glück und Sonnenschein» - dann glaubten es die uns gefordert wurde: Morgens als Schüler auf Menschen, wenigstens für eine Zeit, trotz der dem Wege zur Schule und abends auf Luftschutz­ unsäglichen Qualen, die bei dem Totentanz mit wache im Spritzenhaus. Wir woren reine Ver­ dem Füllhorn ausgeschüttet wurden. wandlungskünstler auf dem Wege zu unserer Glückseligkeit, wie wir sie verstanden. Wir steil­ Einen bescheidenen Abglanz dieser Großveran­ ten aber auch kaum Bedingungen, um glücklich staltung, ober für die dörflichen Verhältnisse zu sein. Anpassen war nicht im geringsten mit trotzdem sehr eindrucksvoll, erlebten die Garbse­ einem negativen Beigeschmack belastet, sondern ner, als das Musikkorps des Fliegerhorstes Wuns­ lebensnotwendig. torf zu einem Wunschkonzert aufspielte. Der Windhornsche Saal war an diesem Abend bis auf In einem bestimmten Turnus hatten wir uns den letzten Platz gefüllt. Und die Besucher platz- abends zur Feuerwache im Gerätehaus einzufin-

45 den. Das unscheinbare Gebäude stand seinerzeit Keller. Es ging alles sehr schnell. Im Luftlagebe­ an der Calenberger Straße, etwa der Einmündung richt hieß es: «Die feindlichen Flugzeuge befin­ der heutigen Straße «Im Winkel" gegenüber. Dort den sich im Anflug auf Hannover. Fenster und waren die Geräte der Feuerwehr einschließlich Türen schließen.» An dem heftigen Flakfeuer der Handdruckspritze untergebracht. Ein Teil war merkten wir, daß die Maschinen über uns waren. als Wachraum mit einigen Holzpritschen zum Dach dazwischen war deutlich das Signalhorn Schlafen abgebaut. Hier zag jeden Abend eine der Feuerwehr zu vernehmen. Fast gleichzeitig Feuerwache auf, die aus einigen Jugendlichen erschien Siegfried Hilke, der als Mitglied der und einem älteren Wachführer bestand.Wir er­ Feuerwache mit dem Fahrrad unterwegs war, um schienen dort ganz zivil. Im Notfall stülpten wir mich persönlich zu alarmieren. Ich hatte mich als uns einen der Feuerwehrhelme aus Pappmachee Jugendfeuerwehrmann unverzüglich im Geröte­ auf den Kopf, die an der Wand hingen. Das war haus einzufinden. alles, was zu unserem persönlichen Schutz zur Verfügung stand. Wir Jugendlichen blieben Meine Mutter ließ mich nur ungern aus dem Kei­ grundsötzlich wach. Wenn wir nicht gerade Skat ler. Draußen empfing mich ein wütendes Flak­ spielten, nutzten wir die Zeit zu mitternächtlichen feuer. Ich rannte den Kampweg entlang. Neben Streifzügen durch die Obstgärten in der Nach­ dem uns vertrauten Ton, der durch Flaksplitter barschaft. Je nach Luftlage kannten wir dann in verursacht wurde, war ein eigenartiges Zischen der Nacht nach Hause gehen. und Pfeifen zu hören. Das konnten nur Bomben sein. Deutlich vernahm ich das Aufheulen von Flugzeugmotoren, dazwischen erregte Stimmen. XV. Brandgeruch lag in der Luft. Instinktiv warf ich mich in ein Kornfeld. Der südliche Teil des Kamp­ Dach der Luftkrieg hinterließ auch in Garbsen weges war nach nicht bebaut. Ich weiß nicht seine Spuren, so z.B. in der Nacht vom 19. auf mehr, wie lange ich dort gelegen habe, bis es den 20. Juli 1941 . mich weitertrieb. Blaß nicht vor den anderen blamieren, die vielleicht schon vor mir das Gerö­ Es war gerade ein Wochenende, und die Einwoh­ tehaus erreicht hatten. ner von Garbsen wallten sich von dem anstren­ genden Arbeitseinsatz in der Wache erholen. Die Als ich dort ankam, war die Spritze schon drau­ 48-Stundenwache gehörte längst wieder der Ver­ ßen. Wir zagen sie zum Wohnhaus der Familie gangenheit an. Gegen 22.00 Uhr wurde durch Wulf. Dort brannte der Dachstuhl lichterloh. Men­ den uns vertrauten Ton der Sirene Fliegeralarm schen hasteten hin und her und schleppten Ge­ gegeben. Wir zagen uns an und gingen in den genstände aus der Wohnung im Erdgeschoß. In

46 einem Raum, der schan valler Rauch war, hingen Der 20. Juli 1941 war ein Sonntag. Ich kann mich zahlreiche Tischlerwerkzeuge an den Wänden. noch genau erinnern, wie Radfahrer mit Bade­ Doch schon bald konnten wir das Gebäude we­ utensilien auf den Gepäckträgern vor der Brand­ gen der starken Rauchentwicklung und der her­ stelle hielten und uns beim Aufräumen zuschau­ abstürzenden Deckenteile nicht mehr betreten. ten. Nachdem sie ihre Neugier gestillt hatten, fuhren sie weiter Richtung Blauer See. Es ver­ Das Haus war mit unserer Handdruckpumpe sprach ein schäner Badetag zu werden. nicht zu retten. Während der Nacht wurden wir durch eine Einsatzgruppen der Seelzer Feuerwehr So schnell können Menschen - wahrscheinlich verstärkt, die schon über eine Motorspritze ver­ besonders im Kriege - schreckliche Ereignisse fügte. verdrängen, wenn sie nicht selbst unmittelbar betraffen sind. Auch bei Scharnikow gegenüber und bei Wind­ horn neben Bäcker Himmler brannte es. Dort lag Im Wehrmachtbericht vom 20. Juli hieß es dazu eine Kuh verendet im Stall. Ich weiß nicht mehr, ganz nüchtern, fast unbeteiligt: «Britische Kampf­ wie lange wir in jener Nacht im Einsatz waren. flugzeuge warfen in der letzten Nacht an wenigen Lange kännen wir nicht im Bett gelegen haben; Orten Nordwestdeutschlands, vor allem auf die denn am anderen Morgen gingen die Aufräu­ Stadt Hannover, Spreng- und Brandbomben. mungsarbeiten weiter. We hrwirtschaftlicher oder militärischer Schaden entstand nirgends. Nacht;äger schossen eines der angreifenden Flugzeuge ab». Gorbsen war zu unbedeutend und wurde nicht erwähnt.

Doch der Grod der Betroffenheit wurde für jeden von Tog zu Tag größer. Wir siegten laut Wehr­ macht zwar noch immer, aber die Siege wurden besonders durch den Rußlandfeldzug mit großen Verlusten erkauft. Es war nicht zu übersehen, daß die Reihen der mit dem Eisernen Kreuz versehe­ nen Todesannoncen in der Tageszeitung immer länger wurden. Unter denen, die für Führer, Volk und Vaterland - so hieß es immer stereotyp in der Anzeige - gefallen waren, erschienen immer Abb. 9: Am Sonnlagmorgen noch dem Angriff auf Garbsen wieder Namen, die uns persönlich bekannt wa-

47 Man geht außerdem fehl in der Vermutung, daß die Eltern etwa als linientreue Parteigänger bei den Jugendlichen Einfluß ausgeübt hätten. Das Gegenteil war oft der Fall. Mir sind gerade in diesem Zusammenhang Elternhäuser bekannt, von denen ich mit Sicherheit weiß, daß sie gegen­ über dem Regime eine kritische Distanz eingehal­ ten haben. Diese Jugendlichen wollten sich in einer Eliteein­ heit bewähren, die in den ersten Jahren des Krie­ ges an ihre Bewerber noch besondere Anforde­ rungen stellte. Über allem lag ein bißchen ge­ schichtliche Erinnerung an die

48 Einheit an die Ostfrant verlegt warden. Bereits am meraden verfaßt wurde, da er selbst nicht schrei­ 10.09.1941 wurde er in der Kesselschlacht ast­ ben konnte. Danach wurden beide Oberschenkel wärts von Kiew schwer verwundet. Am 21 .09. durch Granatsplitter getroffen. Besonders am schrieb er seinem Bruder aus einem Feldlazarett rechten Oberschenkel hatte er eine tiefe Wunde. einige persänliche Zeilen, die nur mit Mühe zu Wörtlich heißt es im Brief: "Es wurden die Vene entziffern sind. "Mich hat es ganz schön erwischt. und die Hauptschlagader getroffen. Durch ärztli­ Und ich weiß nicht, ob ich ie wieder richtig gehen chen Eingriff wurden die Adern wieder zusam­ kann. Noch bin ich unter den Lebenden!1I mengeflickt. Eine vollkommene Durchblutung des Was muß in diesen Tagen in ihm vorgegangen Fußes blieb aus. Soeben war wieder der Arzt da sein. Werner Rehling war kein Graben zu breit und sagte, daß es nicht anders möglich ist, als den schon abgestorbenen Teil abzunehmenll. Es und kein Baum zu hoch. In der A-Jugend gab er keinen Ball verloren und ließ sich nach einem wird dann weiter mitgeteilt, daß sich Werner Spieler der Meistermannschaft von Hannover 96 Rehling mit der Amputation abgefunden habe. aus dem Jahre 1938 gern "Pähler» rufen. "Sie brauchen keine Bange um ihn zu haben, er ist ia so stark!1I Man machte sich an diesem Tage Er muß dann nach Magdeburg in ein Heimatlaza­ bereits Zukunftsgedanken und sprach über eine rett verlegt worden sein. Es existiert ein ausführli­ notwendige Umschulung im Beruf. Mit der glei­ cher Brief vom 30.09., der von einem Stubenka- chen Post wurde eine Bescheinigung des Laza­ rells vom 01 .10.1941 für eine Fahrpreisermäßi­ gung beigefügt.

Als sich sein Bruder in den nöchsten Tagen auf die Bahn begab, um Werner Rehling im Lazarett zu besuchen, kam er bereits zu spöt. Die notwen­ dige Operation halle er nicht überstanden. Er wurde nach Garbsen überführt und auf der Diele bei Familie Schneehage aufgebahrt. Unter großer Anteilnahme der Einwohnerschaft wurde er an einem sonnigen Oktobertag auf dem Friedhof in Garbsen beigesetzt. Heinz Möhlenbrink und ich sollten den Kranz im Namen seiner Freunde nie­ Abb. 11: Die A-Jugend ous Gorbsen (links) und Wunstorf auf dem derlegen. Es war für uns ein schwerer Gang. Sportplatz in der Gorbsener Schweiz Schließlich war erst knapp ein halbes Jahr ver-

49 gongen, seit er das letzte Mal mit uns am Blauen das alles nicht zu messen. Wir glaubten an die See ader zu einem Punktspiel unterwegs war. Wir Verheißungen der Margenfeiern. Wie konnte eine standen da am offenen Grobe und hatten Mühe, Jugend so verzaubert werden!? uns aufrecht zu halten. Eine Abordnung einer militärischen Flakeinheit aus Garbsen schoß Vielleicht spürten wir in diesen Tagen zum ersten einen Ehrensalut. «Beisetzung mit militärischen Mal, daß das nicht die ganze Wahrheit war. Die Eh ren" sagte man dazu. Wir waren jedenfalls Tür zum Heldentod hatte sich für uns einen Spalt froh, als wir uns nach der Niederlegung des breit geöffnet. Aber zum Nachdenken war wenig Kranzes in die hinteren Reihen zurückziehen Zeit, das alles ging unter im Strudel der Ereig­ konnten. nisse. So war das also mit dem Heldentod. Zwar hatten Heinz Möhlenbrink war von dieser Zeit an von wir genug darüber erfahren, waren eingestimmt einer bestimmten Angst vor der Zukunft erfaßt, worden auf dieses Ereignis. Doch wer hatte sich die sich bis zu einer gewissen Todesahnung aus­ schon dabei etwas gedacht, wenn Rudolf Kinau in weitete und ihn nie wieder losließ. den Morgenfeiern der Reichssender der deut­ schen Jugend zurief: Zwei Jahre spöter erfuhren wir, daß er bei einer «Gehst Du nach vorn, Kamerad, Absetzbewegung im Schneetreiben in Rußland ich gehe mit, den Anschluß an seine Einheit verpaßt hatte und läufst Du zum Sturm, Kamerad, als vermißt gemeldet wurde. Für einige Jahre ich halte Schrift! blieb den Eltern nach ein Keim der Hoffnung auf Schlägt's Dich in Scherben, die Rückkehr ihres einzigen Sprößlings, bis sie ich stehe für zwei, darüber hinwegstarben. Von ihm hat es nie wie­ und geht's zum Sterben, der ein Lebenszeichen gegeben. ich bin dabei!" 1939 hatte er mir noch als Fünfzehnjähriger ins Wie oft hatten wir gesungen: «Unsere Fahne Poesiealbum einen Spruch Hitlers geschrieben: flaftert uns voran, unsere Fahne ist die neue Zeit". «Deutschland ist da, wo starke Herzen sind". Und zum Schluß hieß es dann in dem Lied der Dabei gehärte er zu denen, die es lieber zivil und deutschen Jugend: «Unsere Fahne fü hrt uns in die bequem liebten. Militärischer Drill war ihm immer Ewigkeit, unsere Fahne is t mehr als der To di». zuwider gewesen. Er war ouch der einzige Ju­ Es sang sich so leicht und hörte sich nicht einmal gendliche aus meinem Freundes- und Bekannten­ schlecht an. Mit dem Maßstab der Vernunft ist kreis, der sich nicht freiwillig meldete.

50 Es gehört viel Einfühlungsvermögen der nachge­ der Kieler Förde. Die Kriegsschiffe in ihrer borenen Generation dazu, wenn man diese Wi­ schmutzig-grauen Tarnfarbe, die mir übrigens bis dersprüche auflösen will. zu diesem Zeitpunkt nur auf Bildern oder in der Wochenschau begegnet waren, verstärkten die­ sen Eindruck. Die Atmosphäre eines Marinestütz­ XVI. punktes zu Beginn des vierten Kriegsjahres kam mir sehr fremdartig vor und wirkte wenig anzie­ Das Jahr 1941 neigte sich seinem Ende zu. Ich hend auf mich. Das alles war nicht gerade dazu mußte damit rechnen, daß mein Jahrgang im angetan, mich für meine Zukunftsaufgabe zu Laufe des Jahres 1942 eingezogen wurde. Wenn begeistern. ich mich freiwillig meldete, konnte ich Einfluß auf die Waffengattung nehmen. Berufswünsche der Man traute wohl den Zensuren der Schule nicht so mönnlichen Jugend endeten allemal am Kaser­ ganz, denn wir wurden kräftig durch die Mühle nentor, die der weiblichen im Reichsarbeitsdienst­ gedreht. Am Anfang stand eine Körperleistungs­ lager oder bei einer anderen Dienstverpflichtung. prüfung an verschiedenen Geräten. Verlangt Schüler der höheren Schulen konnten mit der wurde auf jeden Fall ein Abgang über das Anerkennung der Reife ein halbes Jahr vorher Hochreck. Ich sehe noch, wie sich einige der rechnen, wenn sie sich als aktiver Offiziersan­ Bewerber mit dem Mut der Verzweiflung einfach wärter bewarben. über die Reckstange wälzten und nicht gerade sanft in den Sägespänen unter dem Gerät auf­ Zu allen Zeiten wurden Schüler von der Ungeduld schlugen. beherrscht, das zu beenden, was sie gerade tun. So versuchte auch ich, meine Pennälerexistenz Mich würde heute schon interessieren, was ich dadurch etwas abzukürzen, daß ich mich als damals zu dem Thema "Nennen Sie mir den aktiver Offiziersanwärter zur Kriegsmarine mel­ Unterschied zwischen Spiel und Sportl! geschrie­ dete. So außergewöhnlich war dieser Entschluß ben habe. Dafür gab es 20 Minuten Zeit. Einige nicht, denn der Offizier stand ganz sicher damals andere Bereiche der Prüfung habe ich inzwischen in der Skala der Beliebtheit der Berufe an erster vergessen. Ich kann mich aber noch ganz genau Stelle. erinnern, wie wir var einem Gremium von Offi­ zieren, deren hohe Dienstgradabzeichen meine Bereits im Januar 1942 hatte ich mich zu einer Hilflosigkeit noch vergrößerten, Kurzvarträge mehrtägigen Eignungsprüfung in Kiel-Wyck ein­ halten mußten. Mein Thema lautete: "Nennen Sie zufinden. Mir war schon etwas seltsam zumute. mir die soziologischen Einflüsse des Krieges für Ein grauer wolkenverhangener Himmel lag über unser Vo lh. Viel ist mir dabei sicherlich nicht

51 eingefallen. Den Krieg habe ich als große nega­ den D-Zug Richtung Stralsund um 3.30 Uhr pünkt­ tive Auslese für unser Volk dargestellt, da die lich zu erreichen. Besten und Tapfersten fallen. Den Krieg sogar als Unglück zu bezeichnen - sa weit habe ich mich Vor Aufregung konnte ich nicht schlafen und die sicherlich nicht vorgewagt. Zeit gar nicht abwarten, bis es endlich so weit war. Immer wieder blickte ich aus dem Fenster In unangenehmer Erinnerung ist mir auch noch über die Dächer der Altstadt von Hannover , die das Einzelgespräch bei einem Psychologen. Er in ienen Tagen noch keine auffä lligen Schäden blätterte in meinen Bewerbungsunterlagen. Dazu durch Bomben aufwies. gehärten u.a. die letzten Schulzeugnisse, ein Le­ benslauf, der arische Nachweis meiner Abstam­ Noch war unser Weltbild stimmig. Die deutschen mung bis zu den Großeltern. Er überraschte mich Truppen standen vom Nordkap bis Afrika, vom mit der Frage, ob ich schon einmal eine graße Tat Atlantik bis an die Wolga. Deutsche U-Boote vollbracht hätte. In meiner iugendlichen Unbe­ drangen bis in den Golf von Mexiko vor. Im Un­ kümmertheit verwies ich auf bestimmte Schullei­ terricht hatten wir uns mit der militärischen Lag. stungen und sportliche Erfolge, die sich sicherlich eingehend befaßt. Im Ersten Weltkrieg trugen diE sehen lassen konnten. Er unterbrach mich barsch deutschen Soldaten auf ihrem Koppelschloß diE und provozierte mich noch mehr. Die von mir Losung Gott mit uns. Es hatte ihnen gar nicht: genannten Leistungen seien selbstverständlich genutzt, weil der liebe Gott immer mit den stärk· und kännten von iedem erbracht werden. Von sten Bataillonen ist, wie Friedrich der Große einem angehenden Mari neoffizier erwarte man behauptet hatte. Es gab keine Zweifel. Dieses aber etwas Besonderes. Das verschlug mir dann Mal konnte der liebe Gatt nur mit uns sein. fast die Sprache. Zum Schluß fiel mir dazu ein, Es herrschte zu diesem Zeitpunkt alles andere als daß ich bisher keine Gelegenheit gehabt hätte, eine Endzeitstimmung in Deutschland. Persönlich eine große Tat zu vollbringen. kam in mir weder ein Gefühl der Freude noch der Jedenfalls war ich froh, als ich wieder zu Hause Begeisterung auf, sondern die Grundstimmung war und machte mir eigentlich keine große Hoff­ war eher gedämpft skeptisch. Meine Gedanken nung. Nach einigen Wochen bekam ich zu meiner kreisten mehr um das, was ich zurückließ. Uberraschung einen positiven Bescheid und gleichzeitig einen Stellungsbefehl für den 01. Juni Nachdem wir nach einem längeren Fußmarsch 1942. vom Bahnhof in Stralsund die Brücke zum Dän­ holm überquert hatten, kam das Kasernenge­ Am 31 . Mai fuhr ich abends mit dem letzten Bus lände in Sicht. Spätestens in diesem Augenblick nach Hannover zu einer Tante. um von rlnrt Oll< blickte niemand mehr zurück, sondern ieder

52 und Möglichkeiten wurden im wesentlichen be­ stimmt durch mein Erinnerungsvermögen. Daher wird es nicht ausbleiben, daß sich andere Zeit­ zeugen ein anderes Bild machen.

Was ich in erster Linie beschrieben habe, sind meine Erfahrungen vor der eigenen Haustür. Wir sind im Umgang mit unserer Vergangenheit auf Glaubwürdigkeit angewiesen.

Die Bilder hoben nicht viel mit Terror und Recht­ losigkeit zu tun. Dos höngt sicherlich damit zu­ sammen, daß große Kriminalitöt und Skrupello­ Abb. 12: Ein Blick in den Gemeindesaal der ev. luth. Kirchenge­ sigkeit auf höchster Regierungsebene im kommu­ meinde an der Calenberger Straße wöhrend des Zweiten Welt­ nalen Bereich durch dos Verholten seiner Wür­ krieges. Frauen aus Gorbsen handarbeiten für ihre Frontsoldaten. dentröger entschörft wurde. So konnte dem Bür­ germeister der damaligen Gemeinde Garbsen wollte da vorn etwas erhaschen von dem, was ihn Willi Ledder anläßlich seiner Entnazifizierung für die Zukunft erwartete. noch 1945 durch ehemalige Mitglieder der kom­ Wenig feierlich, eher banal, jeder auf sich ge­ munistischen Partei in Garbsen ein menschlich steilt, endete unsere Schulzeit offiziell am Kaser­ faires Auftreten bescheinigt werden. Es wurde nentor, wie hier und andernorts so oft in der Pra­ vom Entnazifizierungs-Hauptausschuß am 16.03. xis erprobt. Von der romantischen Atmosphäre, 1949 festgestellt, daß der Betroffene den Natio­ die Laie Andersen jeden Abend vom Soldaten­ nalsozialismus unterstützt hot (Kategorie IV) und sender Belgrad mit ihrem Lied der Lilli Morleen - "während seiner Tätigkeit als Ortsgruppen leiter

"Vor der Kaserne, vor dem großen Tor ... » - und Bürgermeister in Garbsen sich keiner verbreitet hotte, war nichts zu spüren. Die Wirk­ schlechten Handlungen schuldig gemocht hot». lichkeit der Rekrutenkompanie hotte uns bald fest Nicht überall konnten die Bürgermeister nur als im Griff. Mitlöufer eingestuft werden.

XVII. Durch Recherchen in diesen Togen habe ich in Erfahrung gebracht, daß sich die Gebrüder Laza­ Ich habe mich bemüht, ein Bild von der Ge­ rus im elterlichen House in der Nöhe der Hölty­ schichte meiner Schulzeit zu entwerfen. Grenzen schule aufgeholten hoben, bis sie im Frühjahr

53 1942 deportiert wurden. Ich weiß nicht, ob es denn in jenen Togen ein Menschenleben wert?! vorher noch Kontokte zwischen ihnen und Schü­ Der Krieg hielt eine überaus reichliche Ernte unter lern gegeben hot. Die Eltern werden sicherlich den Menschen, die uns persönlich sehr nahe darauf bedacht gewesen sein, sie von der Öffent­ standen. Die Angst um dos eigene Überleben lichkeit abzuschirmen. forderte ihren Tribut.

Es drängt sich mir die Frage auf, worum ehemo­ Wenn außerdem eine Idee zur Ideologie entartet, dann verschwinden die Konturen zu Unrecht und lige Mitschüler nicht versucht hoben, etwas über Terror leicht. Die Menschen fühlen sich als Han­ sie in Erfahrung zu bringen. Worum waren sie aus delnde einer unfehlbaren Heilslehre verpflichtet, unserem Bewußtsein ausgeläscht, obgleich sich der sie grenzenlos vertrauen. Der Zweck heiligt ihr Schicksal hinter der Hausfassade vollzog, die dos Mittel. Es geschieht olles «im Namen des wir täglich durch die Fenster unseres Klassenrau­ Volkes». Die Vernichtung des Gegners wird dann mes einsehen konnten. sogar als notwendige Handlung empfunden. Trotz der räumlichen Nähe woren wir mit unseren Vor dieser Gefahr sind wir auch heute nicht si­ Gedanken weit von ihnen entfernt. Zwischen uns cher. Trotz der bitteren Erkenntnis, die mon aus logen Welten. der Geschichte des Dritten Reiches und anderer totalitärer Herrschaftsformen gewinnen kann, ste­ Zwei Gründe, die sich in ihrer Wirkung gegensei­ hen noch wie vor "Menschen geistig an der tig noch verstärkten, mächte ich zum Verständnis, Rampe von Auschwitzl> (Wolfgong Marienfeld, weniger zur Rechtfertigung für unsere Einstellung Der Historikerstreit. Hannover 1987). anführen: Die Erinnerung ist die Voraussetzung zur Versöh­ Durch die Kriegsereignisse wurden wir völlig nung. "In der Vergangenheit ist reichlich Stoffzur zugedeckt. Als Jugendliche waren wir hoffnungs­ Freude und We hmut, zur Zufriedenheit mit sich los überfordert und hotten genug mit unserer und zur Reue,1> sagte W. von Humboldt. Dem eigenen «Zwangsjacke» zu trogen. Was war habe ich nichts hinzuzufügen.

54 Anhang gekammen2 - Zeugnisse des persönlichen Ge­ döchtnisses wie Strehlkes «Erzöhlte Geschichte» sind erst in den letzten Jahren zunehmend in das Nationalsozialistische Schulerziehung in Garbsen Interesse der deutschen Geschichtswissenschaft (Rose Scholl) gerückt; mittlerweile sind «Oral-History-For­ schung» und die «Biographische Forschung» an­ Zum Text Karl-Heinz Strehlkes: Karl-Heinz erkannte historische Methoden3. Strehlke schildert im vorliegenden Text streiflicht­ ortig einige Begebenheiten aus seiner Kindheit Archivalische Quellen zur nationalsozialistischen und seinem Schulalltag. Schulerziehung in Garbsen: Quellen zur Ge­ schichte im traditionellen Sinne sind schriftliche Ostern 1931 wurde der damals Sechsjährige Zeugnisse, wie sie in Archiven aufbewahrt und eingeschult und besuchte bis 1934 die Volks­ erschlossen werden. Das Stadtarchiv Garbsen ist schule in Seelze. Er wechselte zum fünften Schul­ erst seit einigen Monaten im Aufbau. Dort befin­ jahr in die «Gehobene Abteilung» im gleichen den sich einige Schriftstücke aus der Garbsener Haus. Ab 1937, seinem Umzug aus der Seelzer Volksschule während der Zeit des Nationalsozia­ Riedel-de-Haen-Arbeitersiedlung in das neuer­ lismus, die zur Ergänzung der Erinnerungen Karl­ baute elterliche Eigenheim am Kampweg im Heinz Strehlkes herangezogen wurden. Sie wur­ Nachbarort Garbsen, pendelte er zunächst weiter den ihrerseits durch Zeitzeugenbefragungen er­ nach Seelze. Nach seiner Konfi rmation besuchte gönzt. er die Höltyschule in Wunstorf, damals «Ober­ schule für Jungen in Aufbauform». Von der Schul­ Es handelt sich um die Lehrberichte der Schul­ bank kam er 1942 direkt in die Kaserne. jahre 193611 937, 1940/1941 , 1943/1 944 und ein Klassenbuch der «Löndlich ..n Berufsschule» aus 4 Hier enden Karl-Heinz Strehlkes autobiographi­ dem Schuljahr 1938/1939 sche Aufzeichnungen. Es fällt auf, daß er nie Schüler an einer Garbsener Schule war. Doch 1 Zur weiteren Biographie Karl-Heinz Strehlkes ... gl. den Beitrag von Jürgen Homoeher, Zur Person, in: Dörfliches Leben im Kai­ sein Name ist mit Garbsen verbunden, weil er serreich. Gorbsen 1992 (= Schriften reihe zur Stadtgeschichte, familiär, beruflich und politisch in Garbsen tätig Heft I) war und ist und heute noch hier lebtl . 2 Die verschriftlichte Fassung wurde vom Autor strukturiert, korri­ giert, teilweise ergänzt und mit Abbildungen versehen. Seine Quellen zur Vergangenheit sind größten­ 3 Vgl. z.B. Herwort Vorlönder (Hg.), Oral History. Mündlich teils Erinnerungen und nicht immer beweiskräftige erfragte Geschichte. Göttingen 1990 (= KI. Vandenhoeck-Reihe, 1552) und Werner Fuchs, Biographische Forschung. Eine Einfüh­ Fakten. Sie sind ouf Tonkassetten gesprochen und rung in Praxis und Methoden. Opladen 1984 in diesem Heft fast unverändert zum Abdruck • Stadtarchiv Garbsen, Bestand �Schule Garbsen», Ifd. Nr. 3-6.

55 Lehrberichte sind vorgedruckte Hefte, die Platz Nadelarbeit nie ausgefüllt, manchmal - beson­ für Eintrogungen des Lehrers über den Zeitroum, ders gegen Ende des Schuljahrs - sind die Seiten Unterricht in den einzelnen Fächern und ollge­ fast leer. meine Bemerkungen entholten. Pro Woche steht eine Doppelseite zur Verfügung. - Im ersten Bericht (1936/1937) morkieren Feste den nationalsozialistischen Jahreslauf. «Führers Bei den ersten beiden Berichten der Gorbsener Geburtstag» (20. April). der Erste Mai, Muttertag, Reihe ist der erste Eintrog jeder Doppelseite für ein Jugendfest in der Woche nach dem 15. Juni den «Wochenspruch» reserviert. Neben dem übli­ ((Sport bei den Germanen»). die 150-jährige chen Fächerkanon existieren die Fächer «Natio­ Wiederkehr des Todes Friedrichs des Großen nalpolitische Stoffe», «Naturlehre» mit den Zusät­ (1 7. August). die Olympiade in Berlin (August). zen «Luftfahrt- Luftschutz» sowie «Leibesübun­ der «Neunte November» (1923: Hitlerputsch in gen» mit «Wehrsport». München) werden in der Schule gefeiert, dage­ 1943/1944 sieht der Bericht etwas anders aus; gen schlägt sich die vorweihnachtliche Zeit ver­ «Wochenspruch» und «Nationalpolitische Stoffe» hältnismäßig wenig in Gedichten, Liedern und im sind zusammengerückt und stehen an erster Zeichenunterricht nieder. Im Musikunterricht wer­ Stelle. «Leibeserziehung» rückt vom 13. auf den den ,

56 wär, es muß uns doch gelingen (20.05.), Der Anfang Juli 1940 wird Lehrer Dahle eingezogen; Führer hot uns gerufen. Nun werden wir kommen der Unterricht muß verkürzt werden. Die sonn­ und unser Opfer bringen (08.06.), Vä lker befreit abendlichen Wettkämpfe der Hitleriugend wer­ mon nicht durch Nichtstun, sondern durch Opfer den ob und zu in den «Bemerkungen» erwähnt, (16.08.), Lieber dos Leben ols die Treue opfern weiterhin z.B. die Arbeit der Schulkinder in den (19.10.), Wer mit seinem Volk nicht Not und To d Maulbeerpflanzungen (zur Seiden zucht), Filmvor­ teilen will, der ist nicht wert, daß er mit ihm lebe führungen und der Unterrichtsausfall am 25. Juni (28.10.), Ein Mann ist nur der, der als Mann sich wegen des deutsch-franzäsischen und franzä­ auch wehrt und verteidigt (18.1 1.). sisch-italienischen Waffenstillstands.

Der Unterricht im Foch «National politische - Im dritten Bericht aus den Jahren 1943/1 944 Stoffe» orientiert sich großenteils am Kriegsge­ steigert sich der Opferappell in den Wochensprü­ schehen, ober ouch die Inhalte der onderen Fä­ chen, und - den Wehrmachtsmißerfalgen entspre­ cher werden darauf abgestimmt. Die deutsche chend - werden Durchholteparolen ausgegeben. Besetzung Dänemarks und Norwegens am 09. Wir sprechen nicht vom Frieden, wir kämpfen April 1940 führtgleich zu einer Behandlung der dafür, heißt es am 06.09.1943, Der Erfolg wird beiden Länder im Fach «Erdkunde», der West­ nur dem zuteil, der standhaft bleibt und nie die feldzug mit dem Angriff auf Holland und Belgien Nerven verliert am 25.10. Grammatisches Subiekt im kommenden Monat läßt diese im Stoffplan der Sprüche sind öfter Personalpronomen in der erscheinen, während Frankreich in den ersten ersten Person (ich/wir), die eine Identifizierung drei Juniwochen parallel zur Schlacht um Frank­ der Schüler erleichtern, wie am 08.1 1.: Ich habe reich behandelt wird. England wird im Oktober gesehen, daß mon mit Mut und Willenskraft olles bedacht; im Musikunterricht wird «Bomben auf überwindet oder am 17.01 .1944: Mägen die Zei­ Engelland» gesungen - die Luftschlacht über dem ten hort werden, wir Deutschen werden noch Inselstaat beginnt Mitte Juli. härter bzw. om 24.01 .: Alles kann in diesem Kriege mäglich sein, nur nicht, daß wir iemals Die Spalte «Bemerkungen» macht zunehmend kapitulieren. deutlich, daß der Krieg auch on der Zivilbevälke­ rung in Garbsen nicht spurlos vorübergeht. Zwar Sicherlich gab es auch unter den Schülern einige, ist nach nicht von Angriffen die Rede, doch bis zu die on den Wochensprüchen vom 20.03. und fünfmal pra Woche ist Fliegeralarm. Wegen der 15.05.1944 zweifelten: Alles läßt sich durch unterbrochenen Nachtruhe beginnt der Unterricht Standhaftigkeit und feste Entschlossenheit erzwin­ am nächsten Tag zwei Stunden später. gen und Je schwerere Aufgaben einem Vo lke

57 gestellt sind, auf eine desto höhere Stufe steigt Im Stadtarchiv befindet sich noch ein weiteres dies Vo lk. Schriftstück von Lehrer FeIlersmann, das zwar auch einen Lehrbericht enthält, sich aber von den Fliegeralarm ist, wie man den «Bemerkungen» vorgedruckten Berichten der Volksschule unter­ entnehmen kann, nicht mehr nur nachts, sondern scheidet. Es handelt sich um das Berichtbuch der auch tagsüber während der Unterrichtszeiten, z.B. Löndlichen Berufsschulen Gorbsen, Schuljahr am 30.03.1944 von 8.10 Uhr bis 11.45 Uhr und 1938/1 939. Es ist ein selbst angelegtes Heft, wei­ manchmal mehrmals täglich. Das Fach «Zeichnen ches über die Unterrichtseintragungen hinaus und Werken» wird von Jungvolk-Aktivitäten aus­ namentliche Schülerlisten, Notenspiegel, Ver­ gefüllt. säumnislisten und Abrechnungen (Einnahme von Es wurde schon angedeutet, daß Hauptlehrer Schulgeld, Ausgaben für Tinte und Kreide, Leh­ FeIlersmann diese Berichte zur Revision bei der rergehalt, Fachzeitschriften, Reinigung, Feuerung Schulaufsichtsbehärde führen mußte - ob sie also usw.) enthält. ein Spiegel der tatsächlichen Unterrichtsverhält­ Der Landwirtschaft wurde im Nationalsozialismus nisse waren oder an ein gefordertes «Soll.> ange­ eine hohe volkswirtschaftliche und ideologische paßt wurden, läßt sich allein aus der Quelle nicht Bedeutung zugemessen. Bereits 1934-1936 wur­ belegen. den Richtlinien für den Ausbau der traditionell Den Lehrbericht 1940/1 941 konnte ich einer ehe­ verbreiteten Löndlichen Fortbildungsschulen ent­ maligen Schülerin der FeIlersmannsehen Klasse wickelt5. zum Vergleich vorlegen. Natürlich konnte sie sich Nach dem Reichsschulpflichtgesetz vom 06. Juli nach 50 Jahren keine einzelnen Stundeninhalte 1938 war die Landwirtschaftliche Berufsschule mehr vergegenwärtigen, aber sie wußte bei­ Pflichtschule für sämtliche in der Landwirtschaft spielsweise noch von der Maulbeerpflanzaktion tätigen Jungen6 In Garbsen existierte sie schon und konnte sich genau an einen gezeigten Film eher, denn das Schuljahr 1938 begann nach den über den «Stapellauf der Prinz Eugen» erinnern. Osterferien. Sie erzählte auch Dinge, die nicht im Lehrbericht 5 Vgl. Herold Scholtz, Erziehung und Unterricht unterm Haken­ standen. Feilersmann hatte einen großen Privat­ kreuz. GöHingen 1985 (= KI. Vondenhoeck.Reihe, 1512). - Die garten und Bienenstände an seinem Wohnhaus traditionelle Berufsausbildung im Agrarbereich behandelt Rudolt gegenüber der Schule. Unkrautzupfen als Strafar­ Dick, Die niedersöchsischen Bauern und ihre berufsbildenden beit für «Nachsitzen>, aber auch Anschauungsun­ Schulen seit Anfang des 19. Jahrhunderts. Hildesheim 1963 6 Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbil­ terricht zum Fach «Naturkunde» wurden dort dung (Hg.), Erziehung und Unterricht in den landwirtschaftlichen praktiziert. Berufs- und Fachschulen. Longensalzo 1940

58 Der Statistik von Hauptlehrer Feilersmann können liehe Arbeit für den Betrieb sowie für den Fort­ wir entnehmen, daß der Unterricht in Garbsen bestand und den Aufstieg des ganzen Volkes 157 Stunden umfaßte; von April bis Juni fand der hat, diese Überzeugung soll ihn mit Arbeits­ Unterricht einmal wöchentlich statt, ruhte den freude, Arbeitsstolz und Arbeitsverantwortung Sommer über und wurde in den Wintermonaten erfüllen ... )) (S. 16). zweimal wöchentlich erteilt. Von einer tiefergehenden naturwissenschaftlichen Für insgesamt elf Schüler im Alter von 14 bis 17 Unterweisung sall abgesehen werden, vielmehr Jahren lehrte Feilersmann die Fächer «Landwirt­ soll schoftlicher Unterricht», «Völkischer Unterricht», «Schriftwerk» und «Rechnen». «der Unterricht ... die Besprechung der Arbeiten, die der Schüler in seinem Beruf auszuführen hat, Schon im Lehrbericht des Schuljahres 1940/1941 umfassen. Dabei erhalten diese Arbeiten ihre sahen wir, daß FeIlersmann gerne einen bestimm­ naturgesetzliehe, arbeitswirtschaftliche und välki­ ten Stoff in mehreren Fächern thematisierte. Auch sehe Begründung ... )) (S. 18). im hier vorliegenden Bericht bestreitet er mit Zahlen des Reichsparteitags den Rechenunter­ Was unter dem zu verstehen ist, was heute «Blut­ richt, das Fach «Landwirtschaft» mit den «Kolo­ und-Boden-Ideologie» genannt wird, zeigt die nien als Lieferanten eiweißhaitiger Futtermittel» Lernzielformulierung des Nationalpolitischen Un­ und bringt in «Schriftwerk» einen Text über die terrichts: Bedeutung der Kolonien. (Er) «hat die Aufg abe, das in iedem deutschen Unterrichtszeit und Schulfächer orientieren sich Menschen als Erbgut langer Geschlechterfolgen an den Richtlinien und Empfehlungen des Reichs­ vorhandene Gefühl der Bindung an den Boden zu ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und stärken und zur Heimatliebe zu erweitern und zu Volksbildung. Die Ausbildung war auf zwei Jahre vertiefen . ... (Er soll) klare Erkenntnisse über den angelegt. In diesen Richtlinien7 werden wesentli­ Aufbau des Großdeutschen Reiches ... schoflen, che Unterrichtsinhalte und Lernziele benannt, die den Willen des Einzelnen zur Volksgemeinschaft hier in Auszügen zitiert werden sollen: hin ... wenden, berechtigten Stolz auf die eigene Leistung ... wecken und das Gefühl der Verpflich ­ «Landwirtschaftlicher Unterricht: Aufgabe ... ist tung für das Vo lksganze ... stärken und ... vertie­ es, die bei der Landarbeit gewonnenen Erfahrun­ fe n. (S. 23 f.) gen und Erkenntnisse zu ergänzen, zu vertiefen und zu ordnen. Der Schüler soll von der Bedeu­ 7 Die im folgenden genannten Seitenzahlen beziehen sich auf die tung überzeugt werden, die seine landwirtschaft- Ausgabe von 1940 (wie Anm. 6).

59 Die Methode soll «Erlebnisunterrichh> sein. Der Schule je besucht zu haben. Erst nach auszugs­ Lehrer soll fesselnd vorlesen und vortragen und weiser Lektüre des alten Klassenbuchs kamen besonders politische Tagesereignisse in den Un­ einige wenige Erinnerungen wieder. terricht einbeziehen. Zur Stoffauswahl stehen The­ Nur an einen einzigen Mitschüler konnte er sich men wie «Bauerntum und Heimat» und «Kampf erinnern; die neun weiteren Namen sagten ihm des Führers um das Großdeutsche Reich». gar nichts. Der Schulweg mit dem Fahrrad blieb Die Fächer «Schriftwerk» und «Rechnen» bekam- weiterhin im Gedächtnis haften. Daß er etwas . men eine eher nebengeordnete Bedeutung zuge­ über Landwirtschaft dort gelernt hatte, bezwei­ wiesen; sie sollen mäglichst gar nicht als eigen­ felte er, denn seines Erachtens hatte Lehrer Fel­ ständige Fächer behandelt werden, sondern in lersmann davon keine Ahnung. den Unterricht eingeflochten werden, wie Feilers­ Bei diesem Zeitzeugen haben die prägenden mann es z.B. mit den «Zahlen zum Reichspartei­ Kriegs- und Nachkriegserlebnisse die verhältnis­ tag» praktiziert. In den Empfehlungen des Reichs­ mäßig kurze und unbedeutende Zeit (nur etwa ministeriums werden neben Berechnungen des 160 Unterrichtsstunden) fast vollständig über­ Futterbedarfs für den Winter und zu Leistungen in deckt. Hier von «Verdrängung» im psychologi­ der Kleintierhaltung auch «Kosten für Erbkranke schen Sinne zu sprechen, wäre angesichts der und Fürsorgezöglinge» (S. 32) vorgeschlagen. Unwichtigkeit dieser Ausbildung für den weiteren Lebensweg des Zeitzeugen abwegig. Anhand der Schülerliste konnte auch hier ein Zeitzeuge ermittelt werden, der am Feilersmann­ Ausblick: Das Thema der nationalsozialistischen sehen Unterricht dieses Jahrgangs teilgenommen Schulerziehung ist in diesen Ausführungen ange­ hat. Er wohnte damals in Havelse und bewirt­ rissen, aber längst nicht erschöpfend behandelt schaftete den mütterlichen Bauernhof; der Vater worden. Weitere Zeitzeugenbefragungen und die war schon einige Jahre vorher gestorben. Er Analyse weiterer Aktenbestände könnten bei­ genoß schon nicht mehr das uns heute fast selbst­ spielsweise folgen. Ebenso kännte versucht wer­ verständliche Privileg einer Jugend, die allein für den, die Situation in anderen Schulen des heuti­ die Ausbildung reserviert war, sondern trug als gen Garbsener Stadtgebietes zu untersuchen. 16-jähriger bereits schwere Verantwortung. An den Besuch der Ländlichen Berufsschule schlos­ Ziel soll nicht sein, betreffende Lehrer nachträglich sen sich unmittelbar der Kriegseinsatz und eine wegen ihres «systemkonformen» Unterrichts zu ver­ urteilen - dazu erfahren wir ohnehin zu wenig über vierjährige Kriegsgefangenschaft an. sie - sondern die gesellschaftlichen Zusammen­ Bei meiner ersten telefonischen Kontaktaufnahme hänge und deren Auswirkungen für die Zukunft - konnte er sich zunächst gar nicht erinnern, die unsere Gegenwart - zu erkennen und zu begreifen.

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