Meine Schulzeit Im Dritten Reich

Meine Schulzeit Im Dritten Reich

Karl-Heinz Strehlke Meine Schulzeit im Dritten Reich Mit einem Anhang von Rose Scholl: Nationalsozialistische Schulerziehung in Garbsen c,.Schriftenreihe zur Stadtgeschichte, Heft 2 Karl-Heinz Strehlke Meine Schulzeit im Dritten Reich Mit einem Anhang von Rose Scholl: Nationalsozialistische Schulerziehung in Garbsen Garbsen 1992 C.Schriftenreihe zur Stadtgeschichte, Heft 2 Redaktion: Rose Scholl, Stadtarchiv Garbsen Die Verantwortung für Haupttext und Fotoauswahl liegt beim Autor. Besonderer Dank an die Riedel-de Haen AG, Seelze, für die Abdruckgenehmigung von Abb. 1 c,.Stadt Kultur- und Sportamt - Stadtarchiv - G arb sen 3008 Garbsen 4 ISSN 0940-0974 Gesamtherstellung: Ernst Knoth, Meile Gedruckt auf chlorfreiem Papier. • Meine Schulzeit Im Dritten Meine Erinnerungen sind nicht frei von Eigensinn. Es muß damit gerechnet werden, daß nach einem Reich zeitlichen Abstand von mehr als fünfzig Jahren die Ereignisse dem Betrachter verschönt und ver­ I. klärters cheinen. Dennoch benötigen wir die Erin­ nerungen von Zeitzeugen, um uns ein Bild ma­ Ostern 1931 wurde ich in Seelze eingeschult. chen zu können. Nach Enzensberger ist die Ge­ Nach der Grundschulzeit besuchte ich am glei­ schichte der Völker geschrieben, die der Leute chen Ort im sei ben Gebäude die sogenannte noch nicht. «Gehobene Abteilung» und im Anschluß daran Dieienigen mögen ihre Scheu ablegen, wenn sie die Höltyschule in Wunstarf bis zu meiner Einbe­ etwas zu berichten haben. Wer seine Vergangen­ rufung am 01 . Juni 1942. heit verleugnen will, der fühlt sich ihr entweder Bis 1937 wohnte ich in Seelze, danach in Garb­ nicht gewachsen oder von ihr verfolgt. sen. Je mehr ich mich in diesen Wachen erinnere, 11. desto näher rückt die Zeit mit den Ereignissen im Dritten Reich, obgleich sie sich doch mit iedem Dos Foto von meinem ersten Schultag mit der Tag weiter entfernt. Dabei muß ich feststellen, Zuckertüte gibt es nicht. Wie es eben Anfang der daß ich schon etliche Details aus iener Zeit ver­ dreißiger Jahre den Fotoapparat in Privatbesitz gessen habe. Oder habe ich als Betroffener den im allgemeinen nicht gab. Daher besitzen Fotos, bequemen Weg gewählt, einfach zu verdrängen, die meine Erinnerung stützen können, einen Sel­ damit lästige Erinnerungen gar nicht aufkommen tenheitswert. können? Es gibt aber keinen Zweifel darüber, daß uns Geschichte ist Vergegenwärtigung der Vergan­ August Behrens als Klassenlehrer vier Jahre lang genheit, das Gegenteil von Vergänglichkeit. Ich während der Grundschulzeit fest im Griff hatte. kann das ferne Land der Vergangenheit nicht "Wenn Du nicht aufpaßt, dann setze ich Dich auf mehr betreten. Ein Bild kann ich mir von ihr ent­ meine Hand», mit diesen Worten näherte er sich werfen. Andere machen sich ein anderes Bild. demonstrativ einem Fenster im Klassenraum, Zwischen den Bildern wird es Übereinstimmungen "öHne das Fenster und drehe die Hand um». In geben, aber auch Unterschiede. Daher müssen unserer Phantasie malten wir uns qualvoll aus, wir uns hüten, unsere persönlichen Erfahrungen wie ein Sturz aus dem ersten Stock ausgehen vor der Haustür voreilig zu verallgemeinern. könnte. 3 Ich sehe noch deutlich, wie sich Gerhard Nehring An einem Montag betrat August Behrens mit und Georg Stroh bach mit schmerzverzerrtem Ge­ freudiger Miene den Klassenraum. Es muß 1932 sicht ihren Plätzen wieder näherten, wenn sie eine nach einer Wahl gewesen sein. Entgegen seiner Tracht Prügel bezogen hotten. Da sie mit der sonstigen Gewohnheit, uns in der ersten Stunde Rechtschreibung, obgleich sie schon zweimal die mit Kopfrechnen einzuheizen, kam er auf die Klasse wiederholt hatten, auf Kriegsfuß standen, Wahl vom Sonntag zu sprechen. Die NSDAP ereignete sich diese Prozedur in jeder Woche mußte wohl bei einer Reichstagswahl Stimmen immer wieder aufs neue. Aus diesem Lernprozeß hinzugewonnen haben. "Was ist euch gestern gab es kein Entrinnen. Ich kann mich nicht erin­ aufgefallen?)) So ähnlich leitete er zum Thema nern, daß August Behrens wegen Krankheit ein­ über. Verschiedene Schüler berichteten. Auch ich mal seinen Dienst versäumen mußte. Als seine meldete mich zu Wort: "Herr Behrens, bei uns Frau verstorben war, hat uns ein Mädchen aus war ein Plakat an die Rinne geklebt. Darauf der 8. Klasse aus Robinson Crusoe vorgelesen. Es konnte man lesen: (Große Klappe, wenig Geist, blieb wie immer mucksmäuschenstill in der das Ganze Adolf Hitler heißt,)). Er verzog das Klasse. Gesicht ein wenig und schwieg. Die großen Pausen kamen mir wie eine Erläsung Bei uns - das war in einer Arbeitersiedlung nahe vor. Im Sommer standen wir Schlange vor der der Firma Riedel de Haen. Dort standen 24 Häu­ Trinkanlage auf dem Schulhof. Wenn man einen ser mit je vier Wohnungen on einem KohIaschen­ Griff noch unten drückte, stieg eine dünne Fon­ weg. Die Wohnsiedlung, im Volksmund auch täne auf, die mehr oder weniger geschickt mit Kolonie genannt, war eine sozialdemokratische dem Mund aufgenommen wurde. Hochburg. Von den 96 Familien zeigten bei Wah­ len die weitaus meisten Fahnen mit den Farben Meine Mutter hatte mich aus Sorge um mein kör­ schwarz-rot-gold oder mit den drei Pfeilen auf perliches Wohlergehen nach Rücksprache mit Dr. rotem Grund. Nur wenige waren mit Hammer Bernis dazu verdammt, an der Schulspeisung und Sichel zu sehen. Von zwei Familien war be­ teilzunehmen. Dort unten im KeIlergeschoß rach kannt, daß sie sich der Nazibewegung ange­ es unerträglich nach Firnisöl, Schweiß und dem schlossen hatten. Suppengericht, das täglich wechselte. Frau Hoff­ mann konnte kochen, was sie wollte. Bis auf die 1932 wurde die Bevölkerung fünfmol an die Schokoladen- und Puddingsuppe habe ich nur mit Wahlurne gerufen, so daß eigentlich dauernd Widerwillen gegessen. Erst Jahre später habe ich Wa hlkampfstimmung herrschte. Verdöchtigungen meinen Widerstand aeqen Erbsensuppe aufgege­ und Beleidigungen des politischen Gegners wur­ ben. den kaum noch zur Kenntnis genommen. Das 4 laut kläffend auf die Männer zu, die inzwischen abgestiegen waren. Pflastersteine und Flaschen flogen hin und her. Die Tätlichkeiten endeten erst, als sich die Angreifer über die breite Freitreppe wieder ins lokal zurückzogen. Da mon sich on solche Vorkommnisse längst gewöhnt hoHe, stellte sich in den Gärten alsbald wieder Sonntagsstimmung ein, als wäre nichts gewesen. Abb. 1: Die Kolonie WI,Irde um 1900 für Werksongehörige der Firmo Riedel de Hoen erbout, spOter in Oe Hoen-Stroße umbe­ Mein Vater hoHe oben auf dem Küchenschrank nonnl und in den 70er und 80er Jahren in Etappen abgerissen. einen Gummiknüppel bereit gelegt, der aus einem Bündel starker Drähte bestand, die mit gegenseitige Überstreichen von politischen Para· einem Gummischiauch überzogen waren. Der len war on der Tagesordnung_ So konnten wir obere Teil war zu einem Griff gebogen. Die SA fast an jedem Morgen on der Fabrikplanke der hatte nur einmal versucht, durch die Kolonie zu Firma Riedel de Haen eine neue Parole bewun· marschieren und holte sich eine handfeste Ab· dern, während eine andere unkenntlich gemocht fuhr. Noch war diese Bastion uneinnehmbar. war. Der Wahlkampf ortete ober auch in Gewalt· tätigkeiten aus, die keineswegs nur mit Fäusten, 111. vielmehr mit Schlagringen, Stahlruten und festste· henden Messern ausgetragen wurden. Damals wohnte mon noch ganz streng noch sei· An einem SonntagnachmiHag wurden wir aus nem sozialen Status. Die werkseigenen Wohn· unserer Gartenidylle durch auffällige Geräusche quartiere für die Mitarbeiter der chemischen aufgeschreckt. Wir konnten miterleben, wie auf Fabrik waren noch diesem Strickmuster errichtet. der Straße vor der laubenkolonie eine handfeste In der Kolonie wohnten die Arbeiter und Fachar· Schlägerei im Gange war. Eine Gruppe unifor· beiter, in den sogenannten Beamtenhöusern, mierter Reichsbannerleute auf Fahrrädern wurde ebenfalls in einem Siedlungscharakter erbaut, die aus dem nahegelegenen Kasino, das Speisewirt· Angestellten und Werkmeister, während die lei· schaft für Werksangehörige und auch Stammla· tenden Angestellten in Einzelhäusern, die sich in kai für Nazianhänger war, beschimpft und be· der gehobenen Bausubstanz von den anderen warfen. Temmings große gefleckte Dogge stürzte Quartieren deutlich abhoben, zu Hause waren. 5 Es gab Zeiten, da spielten wir aus der Kolonie rinnen paßten genau auf und zählten mit, um die gegen die Jungen aus den «Beamtenhäusern» Siegerin zu ermitteln. Fußball. Um den Sieg wurde verbissen gekämpft. Eine Niederlage ging uns an die Ehre, weil da An diese Spiele muß ich oft zurückdenken; denn sicherlich auch die sozialen Spannungen mit hin­ wieviel Zeit und Mühe muß die Sportlehrergene­ einspielten. Der Verlierer hat immer gleich ein ration von heute aufwenden, damit die Schülerin­ Revanchespiel gefordert. Wer sich dem nicht nen lernen, ganz einfach nur mit zwei Händen stellte, wurde als Feigling tituliert. Es gab aber einen Ball zu fangen. auch Zeiten, da wurden die Auseinandersetzun­ gen äußerst handgreiflich geführt. Der Kriegs­ Vier Jahre mußten meine Eltern mit mir in einem schauplatz war das Gebiet der Alten Leine zwi­ Zimmer bei meiner Großmutter in der Kolonie schen dem Fabrikgelände von Riedel und dem ausharren, bis sie endlich dort eine eigene Woh­ Mittellandkanal. Insgesamt überwog aber dach nung beziehen konnten. Die Räume unter dem die friedliche Epoche mit sportlichen Aktivitäten. Dach waren klein. In den Schlafräumen für mich und meine Eltern gab es nur jeweils ein kleines Weit geruhsamer ging es zu, wenn wir auf dem Dachfenster. Wenn man sich nicht auf einen Stuhl Marktplatz stundenlang den Pindop schlugen stellte, konnte man nur den Himmel

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