Nervöse Zeiten

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Nervöse Zeiten Editorial Retrotopia Dieses wird ein ungemütliches Jahr. Nicht nur im Westen suchen tief verunsi- cherte Gesellschaften nach Sinn und neuen Wegen, erschüttert von der Frag- mentierung der Nachkriegsordnung. Dabei weisen vermeintlich neue Wege nicht immer nach vorne. Vielerorts sprießt, was Zygmunt Bauman „Retroto- pien“ genannt hat: Visionen, die sich im Bangen vor einer bestenfalls ambi- valenten Zukunft aus einer untoten Vergangenheit speisen. Tribalismus und eine wachsende Bereitschaft zur Gewalt haben beunruhigend Konjunktur. Dass diese IP in der Titelstrecke einen tieferen Blick auf Krisen und Kon- flikte wirft, hat noch einen anderen Grund. Zum zweiten Mal erscheint die erste Ausgabe des neuen Jahres in Kooperation mit der Münchner Sicherheits- konferenz. In nervösen Zeiten wie diesen gehe es nur gemeinsam gut, das ha- ben all unsere Interviewpartner beschworen. Für das Ziehen an einem Strang war die MSC – sie wird 55 in diesem Jahr – oft kein schlechter Ort. Hier ver- kündete US-Vize Joe Biden 2009 einen „Neustart“ in den Beziehungen zu Mos- kau. 2011 gab es diesen dann in echt: Die USA und Russland tauschten die Ratifikationsurkunden des „New START“-Abkommens aus. Ein Meilenstein nuklearer Abrüstung. Heute zeigt der Kampf um den INF-Vertrag, dass auch Meilensteine verrückbar sind. Dass 2019 mehr Kooperation handlungsleitendes Interesse in Washington, Peking und Moskau sein wird, muss man wohl ausschließen. Ben Rhodes zeigt sich im Interview illusionslos, Obamas ehemaliger Sicherheitsberater sieht eine Rückkehr der Großmachtpolitik wie vor dem Ersten Weltkrieg. Wir haben lange geredet, es ist ein bemerkenswert selbstkritisches Gespräch geworden. Mit drei neuen Kolumnen nimmt die IP prägende Entwicklungen unserer Zeit nun regelmäßig in den Blick. „Zur Ordnung“ analysiert unter verschie- denen Blickwinkeln den profunden und vielgestaltigen Wandel der internatio- nalen Beziehungen. „Werkstatt Europa“ wird sich mit den Herausforderungen für die Institutionen befassen und Raum für Debatten um Kerneuropa, Ver- tiefung oder Erweiterung bieten. „Digitale Welt“ schließlich ist der feste Platz für den Zeitenwandel, den Cyber und Tech, Künstliche Intelligenz und Digi- talisierung auch für die internationale Politik bedeuten. Für Nostalgie, Sentiment oder Retrotopien ist hier nach wie vor kein Platz. Aber für Mut, für neue Ideen, einen frischen Blick – und für begründete Zuversicht. MARTIN BIALECKI Chefredakteur IP • Januar / Februar 2019 1 Inhalt 5 IP-Forsa-Frage: Der bedrohlichste Staat SCHWERPUNKT Bild nur in Nervöse Zeiten 8 Wolfgang Ischinger Printausgabe Der MSC-Chef über Wünsche verfügbar und Sorgen Krisenherde 11 Russland | Kadri Liik Nützliche Uneinigkeit 15 Cybersicherheit | Hakan Tanriverdi 11 Annektieren Dame, König, As, Hacker Russlands Verbrechen wie die 20 Naher Osten | Florence Gaub Einnahme der Krim liegen in Von Konflikterben und der Vergangenheit, doch ihre Folgen wirken nach Kampfsüchtigen 23 Iran | Adnan Tabatabei Diplomatie und Abschreckung 26 Kriminalität | Ian Anthony Krisenprofiteure RUSSIA-POLITICS/REUTERS/YuriKochetkov/Pool/ 30 Nordkorea | Sung-han Kim ; Seite 3: Strategie gegen Salamitaktik 34 Südchinesisches Meer | Bill Hayton Europäer, bitte einmischen! iStockphoto Bild nur in 37 Klimawandel | Rebecca Bertram , unten © Printausgabe Das Wetter als Waffe 41 Lateinamerika | Wolf Grabendorff verfügbar Niemand ist eine Insel 44 Ben Rhodes REUTERS/Pavel Rebrov REUTERS/Pavel „Trump ist Europa feindlich gesonnen“ 15 Anvisieren Interview mit Obamas früherem Berater iStockphoto/RaStudio Cyberangriffe gelten heute als Fortführung internationaler Konfliktaustragung mit ande- ren Mitteln Fotos Titel: © Titel: Fotos Inhalt:Seite 2 oben: © Fotos File Photo 2 IP • Januar / Februar 2019 Bild nur in Printausgabe verfügbar 118 Arrondieren Dass Russland nicht zum Imperium geworden ist, sondern als solches geboren wurde, unterscheidet es von europäischen Ländern. Das macht es unweigerlich zu einer Macht, die alle Mittel einsetzt, um ihr Territorium zu vergrößern und Satelliten zu schaffen 52 Fu Ying „Kooperation ist unumgänglich“ Drei Fragen ... drei Antworten Digitale Welt 54 Thomas S. Eder 100 Ayad Al-Ani Partner und Konkurrent Algorithmische Schlachten China etabliert sich in der Sicherheitspolitik Wie sich die Verteidigungspolitik in der digitalen Ära ändern muss 60 Igor Iwanow „Es wird immer komplizierter“ Zur Ordnung Drei Fragen ... drei Antworten 106 Ronja Scheler 62 Marc Becker Globalisten aller Art, Kein Krieg der Sterne! vereinigt Euch! Die Weltraumnutzung ändert sich rasant Ohne nichtstaatliche Akteure springt die „Allianz der Multilateralisten“ zu kurz Das Bangen der Banker 112 Christoph Beier 70 Thomas Mayer Hohe Erwartungen Nach der Krise ist vor der Krise Deutschland soll sich stärker international Auch zehn Jahre nach Lehman bleibt die einbringen, heute mehr denn je Weltwirtschaft ausgesprochen labil Essay Fragil oder stabil? 118 A. Abalow, W. Inosemzew & E. Kusnezowa 76 Europa | Mark Schieritz Das letzte Imperium Gesünder als gedacht Russland ist dazu verdammt, eine 79 USA | Nikolaus Piper revisionistische Macht zu sein Boom auf Pump 128 Brief aus … Rio de Janeiro | 82 China | Bernd Ziesemer Thomas Fischermann Ritt auf dem Tiger Rächer der Enttäuschten Gegen den Strich 130 Internationale Presse | Fabian Reinbold 86 Steven Pifer USA: Ein geteiltes Land Rüstungskontrolle Sechs Thesen auf dem Prüfstand 134 Buchkritik | Th. Speckmann, M. Martin Willkommen in Fantasialand Werkstatt Europa 92 Julianne Smith 144 Schlusspunkt | Joachim Staron Eine Frage der Staatskunst Einsame Spitze Deutschland sollte erneut über einen Nationalen Sicherheitsrat nachdenken 142 Impressum IP • Januar / Februar 2019 3 Ereignis in Zahlen Seit Mai 2018 ist das russische Festland durch eine 19 Kilometer lange Brücke über die Meerenge von Kertsch zwischen Asowschen und Schwarzem Meer mit der Krim verbunden. Russland hatte die Halbinsel am 18. März 2014 annektiert. Seither stießen immer wieder ukrainische und russi- sche Grenztruppen aufeinander, die sich gegenseitig vorwarfen, rechtliche Bestimmungen verletzt zu haben. Für ukrainische Schiffe verzögerte sich die Durchfahrt; die Häfen Mariupol und Berd- jansk konnten weniger Güter exportieren, was die ukrainische Wirtschaft schwächt. Eskalation in der Meerenge Am 25. November hinderte die russische Marine gewaltsam ukrainische Militärschiffe daran, die Meerenge von Kertsch zu durchfahren. In internationalen Gewässern ramm- te ein russisches Militärschiff ein deutlich kleineres Boot. Die russischen Einheiten feu- erten Schüsse ab und beschlagnahmten schließlich alle drei Schiffe: einen Schlepper und zwei gepanzerte Boote. Die insgesamt 24-köpfi ge Besatzung wurde inhaftiert. Ein russisches Transportschiff blockierte danach die Straße von Kertsch und damit den gesamten Schiffsverkehr zwischen den beiden Meeren. Das ukrainische Parlament reagierte, indem es in den an Russland grenzenden Landesteilen und Küstengebieten für zu- nächst 30 Tage das Kriegsrecht verhängte. Russlands Präsident Wladmir Putin beschuldigte den ukrainischen Staatschef Petro Poroschenko, den Vorfall mit Blick auf die Präsident- schaftswahlen in der Ukraine instrumentalisieren zu wollen, die am 31. März 2019 stattfi nden sollen. Putin warf Kiew vor, den Zwi- schenfall „provoziert“ zu haben, da Poroschenkos Zustim- mungswerte bei nur 11 Prozent liegen. „Die ukrainische Füh- rung ist Teil des Krieges, und solange sie an der Macht bleibt, werden all diese Tragödien und der Krieg fortdauern“, sagte Putin am Rande der G20-Konferenz in Buenos Aires. Bei einer Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats am 26. November hatte Moskau für seine Interpretation der Ereignisse allerdings keine Mehrheit fi nden können. Sanktio- niert wurde das russische Vorgehen aber auch nicht. Russland lässt seitdem ukraini- sche Schiffe mindestens 3 Tage, meist bis zu einer Woche auf die Durchfahrt warten. „Putin mag denken, dass ein neuerliches militärisches Vorgehen das Gebiet erweitert, das von Moskau abhängig ist. Und wenn der Westen wirklich weiter unschlüssig bleibt, kann er Kiew wohl am Ende zwingen, klein beizugeben.“ SIR ANDREW WOOD, CHATHAM HOUSE, EHEM. BRITISCHER BOTSCHAFTER IN MOSKAU Roland Brückner Illustration: © 4 IP • Januar / Februar 2019 IP-Forsa-Frage Welches Land ist am gefährlichsten? Russland USA 56 % 55 % Nord- Saudi- korea Türkei Arabien 27 % 24 % 23 % China 16 % Bei der Frage, von welchem Land die größte Bedrohung für die internationale Sicher- heit ausgeht, sind die Bundesbürger gespalten: 56 Prozent der Befragten votieren für Russland, 55 Prozent für die USA (Mehrfachnennungen möglich). Vor allem die 30- bis 44-Jährigen sehen die internationale Sicherheit am stärksten durch die USA bedroht (63 Prozent), gefolgt von den 45- bis 59-Jährigen (58 Prozent). Dagegen bewerten die über 60-Jährigen Russland als das gefährlichste Land (60 Prozent). Der gleichen Meinung sind auch die 18- bis 29-Jährigen: 44 Prozent stimmen zu. Anhänger der CDU /CSU SPD Grünen Linken FDP AfD Russland 59 % 59% 59 % 53 % 66 % 38 % USA 45 % 63 % 59 % 82 % 49 % 57 % Nordkorea 31 % 28 % 24 % 26 % 32 % 14 % Türkei 21 % 20 % 23 % 28 % 28 % 25 % Saudi-Arabien 18 % 33 % 32 % 29 % 20 % 34 % China 20 % 14 % 15 % 12 % 12 % 15 % Datenbasis: 1.008 Befragte in Deutschland; statistische Fehlertoleranz: + / –3 Prozentpunkte; Prozentsumme größer als 100, da Mehrfachnennungen möglich; Erhebungszeitraum: 5. / 6. Dezember 2018; Quelle: Forsa Mit Blick auf die parteipolitischen Präferenzen fällt auf, dass Anhänger der Unions- parteien Russland als größte Bedrohung
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