Editorial

Europas Schicksalswahl

Es gibt durchaus rationale Gründe für die Abwendung vieler, und vor allem junger Franzosen von den etablierten Parteien: Allzu lange wurden Regie- rungen allein und im immerwährenden Wechselspiel von der Parti Socialis- te oder den Konservativen (jetzt: Les Républicains) gestellt. In den Appara- ten sitzt die immer gleiche Enarchen-Elite. Soziale Durchlässigkeit sieht an- ders aus. Und die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen ist skandalös hoch. Wie schon in den amerikanischen Präsidentschaftswahlen und in der Brexit-Ab- stimmung in Großbritannien ist aber die Macht der Gefühle auch in Frank- reich nicht zu unterschätzen. Ob die Daten es hergeben oder nicht: Viele füh- len sich ausgeschlossen, unter Druck, äußeren Einflüssen wie Globalisierung, Technologie, gesellschaftlichem Wandel ausgesetzt, die sie nicht, oder nur in kleinen Dosen, beeinflussen zu können glauben. Die Franzosen, so beobachtet Natalie Nougayrède in dieser Ausgabe, haben es gründlich satt. Davon profi- tieren Marine­ Le Pen und ihr Front National. Wie andere populistische Poli- tiker und Parteien haben auch Le Pen und Front National ein simples Rezept im Angebot: Macht kaputt, was eure vertraute Lebenswelt kaputt macht. Weg mit allem Fremden. Schluss mit den (angeblich neoliberalen) Reformen und hin zu mehr Sozialstaat. (Ohne zu wissen, wie dieser zu bezahlen wäre.) Zeigt dem überbordenden Nachbar (also Deutschland) endlich die Stirn. Und wo- möglich auch: Raus aus der EU. Frankreichs Wahlen sind Schicksalswahlen für Europa. Weil Frankreich Kerneuropa ist. Weil ohne Kooperation zwischen Berlin und Paris nichts – oder jedenfalls nicht viel geht. Weil es, vielleicht nicht dieses Mal, aber auf absehbare Zeit, nicht ausgeschlossen ist, dass Madame Le Pen in den Elysée-­ Palast einziehen könnte. Und weil das das Ende der Europäischen Union wäre. Vermutlich werden sich die etablierten Parteien in einer Stichwahl wieder dazu entschließen, ihre Kräfte zu bündeln, damit Frankreich nicht vom Front National regiert wird. Vielleicht wird Emmanuel Macron, der als einziger der Kandidaten echte Zuversicht predigt und ausstrahlt, dem FN die Stirn bieten können. Dennoch: Das Gefühl vieler Wähler, „es satt zu haben“, wird nicht einfach verschwinden. Man wird ihnen in den nächsten Jahren echte Refor- men und echte Erfolge bieten müssen. Deutschland soll- te dabei helfen, wo es nur kann.

DR. SYLKE TEMPEL Chefredakteurin

IP • März / April 2017 1 Inhalt

Bild nur in Printausgabe 4 IP-Forsa-Frage: Partner Frankreich SCHWERPUNKT verfügbar Europas Schicksalswahl 8 Natalie Nougayrède Ein Land hat es satt Frankreichs Demokratie steht auf dem 8 Aufstiegsorientiert Spiel – und das Überleben der EU Dem Senkrechtstarter Emmanuel Macron trauen viele 14 Martin Michelot und Martin Quencez zu, Frankreich zu versöhnen Le Pen und ihre Helfer Wie die französische Politik den Front National zur neuen Volkspartei machte

23 Interview mit Bruno Tertrais „Wann, wenn nicht jetzt?“ Die Trump-Regierung eröffnet die Ringo Chiu Chance, dass sich Europa neu aufstellt

30 Georg Blume Bild nur in Am Ende gewinnt die Republik Allem Aufruhr zum Trotz: Die französi- Printausgabe schen Institutionen sind stark Gonzalo Fuentes; Montage: Thorsten Kirchhoff Montage: Gonzalo Fuentes; / 33 Claire Demesmay und Daniela Schwarzer verfügbar Ein unverzichtbares Paar Die EU braucht Ausgewogenheit zwischen Frankreich und Deutschland : © Macron :

Titel Unter Beobachtung 60 Ausstiegsorientiert 44 Liana Fix und Jana Puglierin Die Dynamik in London treibt Übung in Erwartungs- die britische Regierung beim management Brexit zu einer harten Linie REUTERS /Robert REUTERS/ Melville ; Seite 3: Pratta; unten © REUTERS/ Tobi Eine nüchterne Bilanz des deutschen OSZE-Vorsitzes im Jahr 2016

48 Nikolaus von Twickel Zwischen den Fronten Was die OSZE-Beobachter in der Fotos Inhalt: Seite 2 oben: © Inhalt: Fotos : © REUTERS / Vincent Pen Le Titel Fotos Kessler; Ukraine leisten können, und was nicht

2 IP • März / April 2017 Bild nur in Printausgabe verfügbar

118 Symbolfixiert Wer sich die Mühe macht, mit Donald Trumps Wählern zu sprechen, kommt an einem Faktor für dessen Erfolg nicht vorbei: dem amerikanischen Patriotismus – genauer: der US-Version des Verfassungspatriotismus

Gegen den Strich 54 Sascha Lohmann Visegrád-Staaten Sanktionen 98 Milan Nicˇ Fünf Thesen auf dem Prüfstand Prediger in der Wüste Die „Ent-Orbánisierung“ der Visegrád- Brexit Gruppe hat begonnen 60 Nicolai von Ondarza Klare Verhältnisse Weltordnung 104 Ulrich Speck Die EU tut gut daran, sich auf einen „harten Brexit“ einzustellen Die Stunde des B-Teams Nach der Wahl Donald Trumps stehen 66 Sophia Besch andere in der Verantwortung Britische Trümpfe 112 Andreas Rinke London wird die Sicherheitspolitik in den Von Absteigern und Aufsteigern Brexit-Verhandlungen nutzen wollen Die USA, GB und Russland erleben eine Türkei neue Blüte des Nationalismus 71 Michael Thumann Essay Abschied von Europa 118 Rachel Tausendfreund Erdogans Politik zum Trotz: Ein Abbruch Die Fahne am Haus der Beitrittsgespräche wäre falsch meiner Mutter 76 Susanne Güsten Wer sind die Trump-Wähler? Alarmstimmung am Bosporus Auf Spurensuche im „Rostgürtel“ Terror, politischer Streit, Wirtschaftskrise: 126 Brief aus … Bukarest | Marko Martin Wohin steuert die Türkei? Metropole der Travestie

Flüchtlinge 128 Internationale Presse | Sumi Somaskanda 82 Gerald Knaus Schmalbart in der Zwei Schritte Nachrichtenküche Wie sich Europas Flüchtlingskrise dauerhaft lösen ließe 132 Buchkritik | Sebastian Sons, Thomas Speckmann Sicherheitspolitik Iran von innen 89 Claudia Major und Christian Mölling Was genau heißt „neue 144 Schlusspunkt Verantwortung“? What the Hell is START? Zehn Empfehlungen für eine aktive Verteidigungspolitik 142 Impressum

IP • März / April 2017 3 IP-Forsa-Frage

Partner Frankreich IP|03 / 04|17

Dass Deutschland und Frankreich an einem Strang ziehen, ist für die Entwicklung der EU …

nicht so wichtig

sehr wichtig 49 % wichtig 39 % 4 % 4 % unwichtig

CDU/CSU 58% 37 % 2 % 1% SPD 57 % 35 % 3 % 4% Linke 51 % 36 % 2 % 7 % Grüne 50% 49 % 1 % 0 % FDP 55% 43 % 0 % 0 % AfD 38 % 33% 9 % 16 %

Die Zusammenarbeit zwischen Paris und Berlin bei zentralen europäischen Fragen funktioniert …

gut 61 % weniger gut 22 % 7 % 3 %

sehr gut schlecht

Eine überwältigende Mehrheit der Bundesbürger von insgesamt 88 Prozent hält eine enge Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich für die zu- künftige Entwicklung der EU für „wichtig“ (39 Prozent) oder „sehr wichtig“ (49 Prozent). Bemerkenswert ist, dass unter den 18- bis 29-Jährigen nur 29 Pro- zent das Verhältnis zwischen Berlin und Paris für „sehr wichtig“ halten; bei den Über-60-Jährigen sind es 60 Prozent. Beim Blick auf die politische Präfe- renz fällt auf, dass relativ viele Anhänger der AfD und der Linken mit 16 bzw. 7 Prozent das Verhältnis zu Frankreich „unwichtig“ finden. Von Problemen des „Tandems“ ist bei den Bundesbürgern wenig zu spüren: Zwei Drittel (68 Pro- zent) beurteilen die Zusammenarbeit als „gut“ oder „sehr gut“. Auch hier fallen die Wähler von AfD und Linken aus dem Rahmen: 36 bzw. 40 Prozent halten das Verhältnis für „weniger gut“ oder „schlecht“ (Gesamtwert: 25 Prozent).

Datenbasis: 1003 Befragte in Deutschland. Erhebungszeitraum: 7. und 8. Februar 2017. Statistische Fehlertoleranz: + / – 3 Prozentpunkte. Quelle: Forsa.

IP • März / April 2017 5 Bild nur in Printausgabe verfügbar

Marine Le Pen und ­Emmanuel Macron Bild nur in Printausgabe verfügbar

EuropasEnde Schicksalswahl einer Ordnung NieSubhead war so Aufschlagwichtig, wer Ic Mittetem voluptat dieses Jahres laborae in eos den net Élysée-Palast ariam, sed exeinzieht. elenisquides Vom Ausgang maion posder französischenaspe conserum Präsidentschaftswahlen quod ut hario. Comniminctemim Mai hängt nicht quis nur vent die ma Zukunft imil eat Frankreichs, mo id quid sondern earibus auch die derque EU cor ab. mo Liebäugelt blaut audipic Deutschlands te volorior Nachbar si voluptati wirklich reius, mit consed dem Systemwechsel? quatque estiur? Europas Schicksalswahl

Ein Land hat es satt Frankreichs Demokratie steht auf dem Spiel – und das Überleben der EU

Natalie Nougayrède | Das heutige Frankreich ist ein stark fragmentiertes Land. Keine gemeinsame Nationalidee treibt es an; es ist richtungslos und hat das Vertrauen in seine politische Klasse verloren. Im April und Mai geht es um mehr als die Frage, wer in den Élysée einzieht: Es geht um die Neude- finition kollektiver Identität und die Rolle einer Nation im 21. Jahrhundert.

„Frankreich langweilt sich“, beobachtete der bekannte Leitartikler Pierre ­Viansson-Ponté im März 1968 – zwei Monate, bevor die Studentenunruhen in Paris und anderswo begannen. Er beschrieb ein fast dumpfes, vom Staats- fernsehen abgestumpftes Land, dessen Jugend sich nicht länger für das Welt- geschehen interessiere und dessen Präsident, General Charles de Gaulle, seine Zeit damit verbringe, Denkmäler einzuweihen und Landwirtschaftsmessen zu besuchen. Die Nation sei „weder unglücklich noch wirklich wohlhabend“, sie „bade in Apathie und Stillstand“, so Viansson-Ponté. Aber was gebe es da- ran schon auszusetzen? „Für ein Volk ist Langeweile wohl die größtmögliche Annäherung an Glück“, argumentierte der Autor. Wer trauere schon Kriegen, Krisen und Streiks nach? Allerdings hätten die Franzosen, so Viansson-Ponté, „schon viel zu oft gezeigt, dass sie den Wechsel um seiner selbst willen lieben, koste es, was es wolle.“ Fast ein halbes Jahrhundert später fällt es nicht schwer, Anzeichen für eine neuerliche Eruption auszumachen. 1968 war es Frankreich vielleicht fad; 2017 hat das Land es gründlich satt. Es herrscht ein Gefühlsgemenge aus Wut, Frus- tration und Angst. Und all diese Gefühle werden bei den Präsidentschaftswah- len eine Rolle spielen. Die entscheidende Frage ist, ob diese Eruption in eine genuin demokratische Erneuerung münden wird oder ob die dunklen politi- schen Mächte den Sieg davontragen werden.

Gefahren, Ängste und Größe Die Gefahren lassen sich kaum überzeichnen. Zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkriegs könnte eine Parteiführerin faschistischen Typs die Chan- ce erhalten, Frankreich zu regieren. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Das heißt nicht, dass Marine Le Pen wahrscheinlich Frankreichs nächste Präsidentin wird. Aber die Möglichkeit, dass sie das höchste Amt im

8 IP • März / April 2017 Ein Land hat es satt

Staate erobert, kann nicht einfach abgetan werden. Ihr Sieg ist denkbar – und das nicht nur, weil Umfragen, denen zufolge sie in der zweiten Wahlrunde klar unterliegen würde, mit Vorsicht zu genießen sind. Der Finanzskandal („Penelopegate“) um den Kandidaten der Republikaner, François Fillon, der, wie sich herausstellte, seiner Frau in der Vergangenheit hohe Gehälter aus der Parlamentskasse zahlen ließ, hat für neuerliche Empö- rung gesorgt. Und zwar so sehr, dass bereits von einer „Regimekrise“ die Rede ist, in der sogar die Präsidentschaftswahlen von Zweifeln überschattet werden. Fillons Image des „ehrlichen Mannes“, das ihm half, die Vorwahlen seiner Partei zu gewinnen, ist praktisch zerstört. Insgesamt ist die „Ohne Größe Verachtung für die Eliten wohl nie größer gewesen. Alles, was nach kann Frankreich nicht Establishment aussieht, scheint Beiwort für Betrug und Inkompe- tenz zu sein. Einfache Bürger, die die Fillon-Saga verfolgten, frag- Frankreich sein“ ten sich: „Warum haben wir Mühe, über die Runden zu kommen, während Politiker immer weiter betrügen und dennoch ungestört immer wei- ter nach oben kommen?“ Das Vertrauen in Institutionen tendiert gegen null – mit Ausnahme der Armee, die weiterhin hohes Ansehen genießt. All das ist ein gefundenes Fressen für populistische Kräfte. Die Angst der Franzosen ist in drei Bereichen greifbar: Globalisierungs- angst, Angst vor dem Verlust „nationaler Identität“ und die Angst, auf der eu- ropäischen und auf der Weltbühne weiter an Einfluss zu verlieren. Für ein Land, das eine „universalistische“ Botschaft für sich in Anspruch nimmt und stets nach nationalem Prestige gestrebt hat, ist das alles andere als marginal. Charles de Gaulle hatte in seinen Memoiren den berühmten Vergleich Frank- reichs mit einer „Madonna“ und „Märchenprinzessin“ gezogen: „Auch sagt mir mein Verstand, dass Frankreich nicht Frankreich ist, wenn es nicht an erster Stelle steht, dass nur großartige Unternehmungen den Hang unseres Volkes zur Zersplitterung auszugleichen vermögen und dass es, wenn es nicht in Gefahr geraten soll, sich ein hohes Ziel setzen und erhobenen Hauptes seinen Weg ge- hen muss. Ohne Größe kann Frankreich nicht Frankreich sein.“ Der „Hang zur Zersplitterung“: Frankreich leidet an seinen tiefen innen­ politischen Gräben. Ganze Bevölkerungsgruppen sehen sich im Konflikt mitei- nander: Alte gegen Junge, Beschäftigte gegen Arbeitslose, ländliche Räume ge- gen Städte, Unqualifizierte gegen gut Ausgebildete, Einwanderer gegen Einhei- mische. Es stimmt, dass solche Gegensätze in vielen Ländern existieren, aber in Frankreich nehmen sie existenzielle Formen an, weil Gleichheit und Un- teilbarkeit von Bürgerrechten historisch mit dem Selbstverständnis der Fran- zösischen Republik grundlegend verbunden sind. Nach den jüngsten Terroranschlägen – den schwersten, die das Land seit dem Ende des Algerien-Kriegs erlebt hat – bestand die profunde Sorge, dass der soziale Zusammenhalt Frankreichs auseinanderbrechen könnte. Doch noch stärker als alles andere haben die Jahrzehnte der Massenarbeitslosigkeit ihre Spuren hinterlassen. Die Arbeitslosenquote liegt heute bei 10 Prozent, unter den 18- bis 24-Jährigen bei 26 Prozent. 64 Prozent der Franzosen glauben laut Umfragen, dass junge Leute heute weniger Chancen haben als ihre Eltern. Dies ist offenkundig ein fruchtbarer Boden für all jene, die leicht und gerne Sün-

IP • März / April 2017 9 Europas Schicksalswahl

denböcke ausmachen. Im Januar ergab eine Meinungsumfrage, dass 62 Pro- zent der Aussage „Der Islam ist eine Gefahr für die Republik“ zustimmen – wenngleich, interessanterweise, 55 Prozent glauben, „dass Einwanderung eine Quelle der kulturellen Bereicherung ist“.

Zwiespältige Haltungen Le Pen ist mehr als bereit, die aufgestauten Ängste für sich zu nutzen. Deshalb Bild nur in sind die für den 23. April und 7. Mai angesetzten Wahlen so existenziell; sie sind das unvorhersehbarste und zugleich potenziell alles erschütternde Ereig- Printausgabe verfügbar nis der jüngsten französischen Geschichte. Die Haltungen gegenüber Le Pen sind zutiefst zwiespältig. 55 Prozent der Franzosen empfinden sie als „beängs- tigend“. Unter jenen Politikern, denen die Menschen zutrauen, „die Probleme einfacher Leute am besten zu verstehen“, steht sie jedoch an der Spitze. Ein rechtsextremer Präsident ist in Frankreich kein Tabu mehr. Anfang Februar führte Le Pen die Umfragen mit beständigen 25 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang an. Und das, bevor sie mit einer Großkund- gebung in Lyon den Startschuss für ihre Wahlkampagne gab, deren Hauptver- sprechen es ist, ein System „nationaler Präferenz“ einzuführen. Ein rechtsextremer Le Pen ist 48 Jahre alt und zutiefst entschlossen, an die Macht zu Präsident ist kommen – im Gegensatz zu ihrem Vater Jean-Marie Le Pen, der mit seinem Außenseiterstatus ganz zufrieden war. Mit protektionisti- kein Tabu mehr schen Slogans und Versprechen, den Wohlfahrtsstaat vor „neolibe- raler“ Wirtschaftspolitik oder vor Ausländern zu schützen, will sie die für Populismus empfänglichen Wähler links wie rechts erreichen. Sie in- szeniert sich als Schutzschild gegen jene äußeren Kräfte, die angeblich Frank- reich bevormunden. Allen voran die Europäische Union. Natürlich verkauft Le Pen eine Illusion; aber das bedeutet nicht, dass die Leute sie ihr nicht abnähmen. Sollte es zu einem Zusammenbruch der Kampa- gne Fillons kommen, dürfte sie davon profitieren. Auch die Zerrissenheit und die Radikalisierung auf der Linken dürften ihr in die Hände spielen, nun, da ein an den britischen Labour-Chef Jeremy Corbyn erinnernder Politiker zum Kandidaten der Sozialisten bestimmt worden ist. Die Wahl Benoît Hamons kommt übrigens einem finalen Verdikt der faden Präsidentschaft François Hol- landes gleich. Hamons Wahlprogramm ist irgendwo zwischen „freigeistig“ und „utopisch“ angesiedelt, mit einem staatlich garantierten Grundeinkommen, der Legalisierung von Cannabis und der Besteuerung von Robotern.

Hoffnungsträger Macron Unter diesen Umständen richten viele französische Demokraten ihre Hoffnun- gen auf den 39 Jahre alten ehemaligen Banker Emmanuel Macron. In ihm se- hen sie immer stärker ein letztes Bollwerk gegen Le Pen. Der Zentrist zeigte sich am Ende der Präsidentschaft François Hollandes vom Zustand der franzö- sischen Politik und von den Schwierigkeiten, das Land zu reformieren, regel- recht angewidert. Hollandes früherer Wirtschaftsminister mit einer Neigung zum Theatralischen hat eine ziemlich unkonventionelle Kampagne auf den Weg gebracht und mit dem althergebrachten Rechts-Links-Schema gebrochen. Seiner

10 IP • März / April 2017 Ein Land hat es satt

Bild nur in Printausgabe verfügbar

Start-up-Bewegung „En Marche!“ („Vorwärts!“) haben sich seit deren Gründung vor zehn Monaten 170 000 Mitglieder angeschlossen. Es ist – neben seiner Ju- gendlichkeit – charakteristisch für ihn, dass er Wahlkampftechniken einsetzt, die durchaus an jene der Kampagne Barack Obamas von 2008 erinnern. Dazu gehören die Nutzung von Big Data, politisches „Kartographieren“ von Stadttei- len, das gezielte Aussenden von Aktivisten, die Wähler direkt zu Hause anspre- chen. Wie Obama sieht sich Macron in der Rolle des Überbringers von Hoff- nung – auf seinen Wahlkampfveranstaltungen spricht er immer wieder vom „Triumph der Hoffnung“. Macron möchte das französische Volk über die poli- tischen, ethnischen und religiösen Gräben hinweg „versöhnen“. Er spricht den urbanen, vernetzten, gut ausgebildeten, „globalisierten“ Teil der Wahlbevölke- rung an und entwirft ein Bild von Frankreich, das wohl genug vom „alten Sys- tem“ hat, sich jedoch nicht fürchtet. Marine Le Pen dagegen spricht jene an, die die Nase voll und Angst haben. Es sind derer nicht wenige.

Jenseits der „Blase“ Um die Stimmung zu messen, ist es wichtig, Paris hinter sich zu lassen. Frank- reich ist seit Langem ein stark zentralisierter Staat. Das reicht zurück in die Zeiten der Königshöfe, als Aristokraten ihre Zeit damit verbrachten, gegenei- nander Intrigen zu spinnen oder vom Monarchen Gefallen zu erbitten. Auch die Präsidenten der Fünften Republik haben gewissermaßen ein höfisches Sys- tem aufrechterhalten. Die Medien und das politische Establishment bewegen sich in einem engen Zirkel – und die „news cycles“ der TV-Nachrichtensender haben die negativen Effekte dieses Umstands noch einmal verstärkt. Diese Es- tablishment-„Blase“ wollen die Wähler nicht länger hinnehmen. Die Pariser Elite steht in dem Ruf, permanent mit sich selbst beschäftigt zu sein, statt sich

IP • März / April 2017 11 Europas Schicksalswahl

um das Leben der einfachen Leute zu kümmern: das perfekte Rezept, um den Zorn der breiten Öffentlichkeit zu schüren. Das südwestliche Département Tarn-et-Garonne liegt inmitten einer ma- lerischen, hügeligen Region mit Obstgärten, Weinbergen und eingesprengsel- ten kleinen Orten. Touristen kommen dorthin, um die Benediktinerabtei Saint-Pierre in Moissac zu besichtigen. Früher wurde die Gegend von den Lin- ken dominiert. Heute ist es Le-Pen-Land. Der Front National gewann bei den Regionalwahlen vom Dezember 2015 nicht weniger als 35 Prozent der Stim- men. Hohe Arbeitslosigkeit und immer schlechtere Leistungen der öffentlichen Hand sorgen für extreme Frustration. Fabriken und Kleinbetriebe gingen über die Jahre pleite oder zogen weg. Die Leute sorgen sich, dass sie längere Stre- cken fahren müssen, um die nächste Arztpraxis zu erreichen, dass die Schu- le wegen fehlender Mittel schließen muss und über zu niedrige Gehälter. Es herrscht das allgemeine Gefühl, „dass das Leben, das wir kennen, verschwin- det“ und „dass sich niemand um uns kümmert“. Die Menschen sind von den Regierungen, rechts wie links, enttäuscht. Marine Le Pen aber war nie an der Macht. Ihr gibt man einen Vertrauensbonus. Hinzu kommt ein neues, tiefsitzendes Gefühl der Unsicherheit. Die Ter- roranschläge von Paris und Nizza haben die ganze Nation traumatisiert. In Tarn-et-Garonne schleicht sich Fremdenhass in Gespräche über die Einwoh- ner mit nordafrikanischen Wurzeln, die zum größten Teil Kinder Fremdenhass und Enkel der Einwanderer sind, die in den fünfziger Jahren in schleicht sich in die die Gegend kamen, um bei der Ernte zu helfen. Eine kleine Grup- pe junger Muslime hat sich in Richtung Salafismus radikalisiert; sie Gespräche werden von den Sicherheitsdiensten scharf beobachtet. Obwohl die überwiegende Mehrheit der eingewanderten Bevölkerung recht gut integriert ist, ist die öffentliche Wahrnehmung umgeschlagen. Le Pens Partei hat daraus geschwind Profit geschlagen. Auf ihren Veranstaltungen schreit die Menge: „Das ist unser Land!“ oder „Wir sind hier zu Hause.“ Natürlich gibt es diese Probleme nicht nur in Frankreich. Anti-Establish- ment-Stimmungen und eine unzufriedene Mittelklasse gibt es auch in ande- ren westlichen Demokratien. Sie haben Donald Trump in den USA ebenso be- flügelt wie die Brexit-Befürworter in Großbritannien, und sie befördern den Aufstieg der extremen Rechten in anderen Teilen Europas. Und doch ist die- ses so starke Verletztheitsgefühl in Frankreich ganz spezifisch. Die Globalisie- rung hat den Staat geschwächt, der seit Jean-Baptiste Colbert, dem Finanzmi- nister des „Sonnenkönigs“ Ludwig XIV. im 17. Jahrhundert, in Frankreichs Nationalökonomie eine starke Rolle spielte. Identitätspolitik und Fragen der Einwanderung erzeugen angesichts der französischen Kolonialvergangenheit ganz besondere Resonanzen. Man darf schließlich nicht vergessen, dass die Ursprünge des Front National im algerischen Bürgerkrieg liegen. Das Trau- ma, das in Frankreich geborene islamistische Terroristen hinterlassen haben, hat tiefe ideologische und politische Kämpfe neu entfacht, die es nur in Frank- reich gibt, denn es geht um seine ganz eigene Ausprägung des Säkularismus – der „laïcité“. Man denke nur an den auch heftig in allen Medien ausgetrage- nen „Burkini-Streit“, den die Gerichte schlichten mussten.

12 IP • März / April 2017 Ein Land hat es satt

Manche internationalen Vergleiche schmerzen. Den Franzosen ist nur zu bewusst, dass die Wirtschaft ihres Landes schon vor ungefähr einem Jahrzehnt von Deutschland überholt worden ist. Dies verstärkt in Teilen der Wähler- schaft die Kritik an der EU – und es ist dieser Teil, den Le Pen an- spricht. Das europäische Projekt war als Multiplikator des französi- Den kollektiven schen Einflusses gedacht, doch heute wird es kaum noch als solcher Schritt in den gesehen (wenngleich eine Mehrheit in der EU bleiben will). Nach- dem Frankreich 1962 sein Weltreich verlor, ging de Gaulle entschie- Abgrund vermeiden den den Weg der Aussöhnung mit Deutschland; 1963 unterzeichne- te er mit Konrad Adenauer den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag im Élysée-Palast. Angenommen, Marine Le Pen würde nicht gewählt: Dann könnte eine Wiederbelebung der deutsch-französischen Partnerschaft einiges dazu beitragen, die Eigenwahrnehmung der Nation zu heilen.

Wahrnehmungen, nicht Realitäten Es ist jedoch eine Ironie: Manche Statistik zeigt bei genauerem Blick, dass Frankreichs Lage nicht ganz so misslich ist, wie die eigenen Bürger glauben. Die Armutsraten sind beispielsweise geringer als in Deutschland, Großbri- tannien, Italien und Spanien. Das hält 87 Prozent der Franzosen aber nicht davon ab zu glauben, ein Absturz in die Armut könne jedermann jederzeit treffen. Auch die Einkommensungleichheit ist geringer ausgeprägt als in den genannten Ländern – und doch sind die Franzosen vom Gegenteil überzeugt. Die goldene Regel der Politik lautet allerdings, dass Wahrnehmungen wich- tiger sind als Realitäten. Und manche Realitäten wirken sich aus: So hat das Pro-Kopf-Einkommen im vergangenen Jahrzehnt stagniert wie nie zu- vor nach 1945. Das heutige Frankreich ist ein zutiefst fragmentiertes Land, das keine ge- meinsame Nationalidee vorantreibt, das richtungslos ist und das das Vertrauen in die politische Klasse verloren hat. Weite Gräben liegen zwischen denen, die an Offenheit glauben, und denen, die am liebsten Mauern entlang der nationalen Grenzen hochziehen würden. Frankreichs Präsidentschaftswahlen sind nicht einfach nur ein Kampf um den Élysée – es geht um eine Neudefinition kollekti- ver Identität und die Rolle einer Nation in der Welt des 21. Jahrhunderts. Unge- heuer viel steht auf dem Spiel: Im Zeitalter von Brexit, Trump und Populismus sind die Wahlen ein Testfall für den Erhalt der französischen Demokratie und das Überleben der EU als Ganzes. Das heutige Frankreich operiert am Rande politischer Umwälzungen ganz anderer Qualität als jener des Jahres 1968. Dass ein turbulenter Schlüsselmoment be- vorsteht, daran gibt es kaum Zweifel. Natalie Nougayrède Die Franzosen haben genug – und, um war Chefredakteurin noch einmal Viansson-Ponté anzufüh- von Le Monde. Heute ist sie Kolumnistin des ren, es besteht die Gefahr, dass sie den Guardian und ­derzeit Wechsel um des Wechsels Willen wol- Richard von Weizsäcker len, ungeachtet der Kosten. Viele Wäh- Fellow der Robert Bosch ler aber werden den kollektiven Schritt ­Academy in Berlin. in den Abgrund vermeiden wollen.

IP • März / April 2017 13 Europas Schicksalswahl

Madame Le Pen und ihre Helfer Wie die französische Politik den Front National zur neuen Volkspartei machte

Martin Michelot und Martin Quencez | Verfassungskrise, unkontrollierte Ver- schuldung, das Ende der jetzigen EU: Ein Blick auf das Szenario, das Frank- reich und Europa bei einem Wahlsieg des Front National erwarten würde, wirft die Frage auf, wie es so weit kommen konnte. Das hat mit einer ge- schickten Strategie des FN zu tun – und dem Versagen der anderen Parteien.

Mit Marine Le Pen hat der Front National (FN) nicht nur ein neues Gesicht bekommen, sondern auch ein neues politisches Projekt. Die nationalistisch-­ populistischen Kernelemente, die den FN unter der Führung ihres Vaters Jean-­ Marie Le Pen ausmachten, behielt sie zwar bei. Gleichzeitig aber versuchte sie, ein neues Gleichgewicht­ zwischen den Themen Identitätspolitik und Schutz des Wohlfahrtsstaats zu schaffen, um so Wähler aus der Arbeiterklasse und der unteren Mittelschicht zu gewinnen. Abgesehen von kleineren Verände- rungen hat sich das Wahlprogramm des Front National seit Marine Le Pens erstem Wahlkampf 2012 als bemerkenswert beständig erwiesen. 2012 schaff- te sie es zwar nicht in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen, und auch 2015 gewann der FN bei den Regionalwahlen in keiner Region eine Mehrheit – doch insgesamt hatte die Partei noch nie zuvor einen so hohen Stimmenanteil. Somit konnte Marine Le Pen sich brüsten, im Hinblick auf die Wählerstim- men den Front National zur „größten Partei Frankreichs“ gemacht zu haben. Das politische Projekt des Front National basiert auf einer einzigen grund- legenden Idee: den Liberalismus voll und ganz abzulehnen, sowohl wirtschaft- lich als auch kulturell. Kulturell illiberal war die Partei schon immer; doch ihre neue wirtschaftspolitische Position weicht stark von ihrer antikommunis- tischen Tradition und der Unterstützung wirtschaftsliberaler Reformen zu- gunsten kleiner Betriebe ab. Während ihr Vater in den achtziger Jahren noch „der französische Reagan“ sein wollte, hat sich Marine Le Pen dem Protek- tionismus und der marxistischen Rhetorik verschrieben. Hierdurch konnte der Front National auch seiner Opposition gegenüber der Europäischen Uni- on Nachdruck verleihen. Die Partei beschuldigt die EU nicht nur, Frankreichs nationale Souveränität zu schwächen und ausländische Interessen zu begüns- tigen – sie beklagt sich jetzt auch, dass Brüssel dem Land eine ultraliberale Wirtschaftspolitik aufzwinge.

14 IP • März / April 2017 Madame Le Pen und ihre Helfer

Das Wahlprogramm des Front National für 2017 ist das direkte Ergebnis dieser illiberalen Ausrichtung: eine Mischung aus wirtschaftspolitischem Nationalismus (die so genannte „préférence nationale“), Forderungen zum Schutz des französischen Sozialstaats und entschlossenen Aussagen in Bezug auf Identitätsfragen und Sicherheitsbelange. Um Marine Le Pen herum wur- de ein 35-köpfiger strategischer Rat gebildet, in dem die verschiedenen politi- schen Ausrichtungen innerhalb der Partei vertreten sind. So wurde ein Pro- gramm entwickelt, das letztlich dem des Wahlkampfs von 2012 stark ähnelt.

Frankreich zuerst Die Vielzahl an Perspektiven, die in den Entwurf des Programms eingeflossen sind, ist bemerkenswert. Manche Vorschläge sollen enttäuschte Linkswähler ansprechen. Das gilt etwa für die Forderung, die 35-Stunden-Woche beizube- halten, oder für die, das Renten­alter auf 60 Jahre zu senken. Andere Maßnah- men entsprechen eher dem angestammten rechtsradikalen Programm, etwa die Begrenzung der jährlichen legalen Einwanderung von derzeit rund 200 000 auf 10 000 Personen. Nichtsdestotrotz schafft es die Partei, insgesamt ein re- lativ geschlossenes Bild abzugeben, denn die Liste ihrer Vorschläge lässt sich mit einem einzigen Motto zusammenfassen: Frankreich Der Front National zuerst. Besonders sichtbar wird dieses Ziel bei den Programmpunk- lehnt jede Form von ten zu einer Verfassungsreform. So soll es den Einwanderermilieus untersagt werden, ihre eigene Kultur und Religion zu pflegen, – in Liberalismus ab der Fachsprache: Kommunitarismus zu betreiben. Außerdem soll Frankreichs kulturelles Erbe weiter gefördert und das Wirtschafts- und Ar- beitsrecht des Landes umgestaltet werden: Französische Staatsbürger sollen bei Sozialleistungen bevorzugt werden, bei öffentlichen Ausschreibungen soll es nur französischen Unternehmen erlaubt sein, Angebote einzureichen, und auf alle Importe würde eine Steuer von 3 Prozent erhoben. Sollten diese Maßnahmen umgesetzt werden, würde es zwischen Frankreich und der Europäischen Union zu einem offenen Konflikt kommen – nicht zuletzt, weil manche der Reformen aus einer rechtlichen EU-Perspektive schlicht und einfach illegal wären. Aus Sicht des Front National wiederum ist die Europäi- sche Union der Haupthandlanger des Liberalismus, der Frankreich eine globali- sierungsfreundliche Politik auferlegt und so aktiv seinen einzigartigen Charak- ter schmälert. Von den anderen großen Parteien grenzt sich der FN auch inso- fern ab, als er offen gegen die EU Stellung bezieht. Die Partei bezeichnet das als notwendig, damit Frankreich endlich politische Souveränität und wirtschaftli- chen Wohlstand wiedererlangen könne. Marine Le Pen hat versprochen, im Fal- le ihres Wahlsiegs die europäischen Verträge ganz neu zu verhandeln und inner- halb ihres ersten Amtsjahres ein Referendum über einen EU-Austritt Frank- reichs – einen „Frexit“ – abzuhalten. Die Parteispitze blickt somit besonders aufmerksam auf Großbritannien: Die britischen Verhandlungen könnten den Franzosen zeigen, dass ein Austritt durchaus möglich ist – denn die französi- sche Bevölkerung zeigt sich bei diesem Thema nach wie vor skeptisch. Trotz der scheinbaren Beständigkeit seines politischen Programms sollte man die Einheit innerhalb des Front National nicht überschätzen. Indem die

IP • März / April 2017 15 Europas Schicksalswahl

Bild nur in Printausgabe verfügbar

Partei ihre Wählerschaft ausbaut, sieht sie sich auch neuen strategischen Di- lemmata gegenüber. Die Wähler des Front National haben sehr unterschiedli- che wirtschaftliche Interessen, die jedoch insbesondere bei finanz- und sozi- alpolitischen Fragen in konkrete Vorschläge umgemünzt werden müssen. Die Le Pen-Familie selbst verkörpert diese Spaltungen: So steht der aufsteigende Stern der Partei Marion-Maréchal Le Pen dem Wirtschaftsliberalismus ihres Großvaters Jean-Marie näher als dem Protektionismus ihrer Tante Marine. Auch die Frage nach dem Austritt aus dem Euro – eine der Kernideen des Wahlprogramms – wird mittlerweile parteiintern infrage gestellt; denn bei der mittelständischen rechtsnationalen Wählerschaft, auf deren Unterstützung der FN für einen nationalen Wahlsieg angewiesen ist, könnte sich die Idee als un- beliebt erweisen. Im Wahlprogramm 2017 spricht man sich zwar weiterhin für eine Rückkehr zur Landeswährung aus, legt sich jedoch nicht auf einen kon- kreten Zeitrahmen fest; vage Alternativen sollen konservative Wähler beruhi- gen. Eher symbolische Punkte wie Todesstrafe und Familienplanung, ehemals Kernelemente von Jean-Marie Le Pens Programm, wurden vorerst zurückge- stellt. Doch für die alte Parteigarde ist es inakzeptabel, dass die derzeitige Par- teiführung diese Fragen nur am Rande thematisiert. Damit diese Spannungen nicht zu offenen Brüchen innerhalb der Partei führen, müsste Marine Le Pen dem Parteiprogramm zu einem großen Wahlerfolg verhelfen – zumindest bei den Parlamentswahlen im Juni 2017. Was würde es für Frankreich und Europa bedeuten, wenn der Front Na- tional die Präsidentschaftswahlen gewinnen sollte? Die Umsetzung des Par- teiprogramms hätte drei recht unmittelbare Folgen: eine Verfassungskrise in Frankreich, das Ende der EU, wie wir sie heute kennen, und einen unkontrol- lierten Anstieg von Frankreichs öffentlicher Verschuldung, was wiederum zu

16 IP • März / April 2017 Madame Le Pen und ihre Helfer

weiterer wirtschaftlicher Instabilität in Europa führen könnte. Erstens sieht das Programm des FN tiefe Eingriffe in das politische System vor und legt ei- nen Schwerpunkt auf direkte Demokratie. Volksentscheide würden systema- tisch eingesetzt, um das Parlament und jegliche Gewaltenteilung zu umgehen. So etwas hat es in der Fünften Republik bislang noch nie gegeben. Zweitens würde das explizite Ziel des Front National, die EU aufzulösen und die Souveränität über sämtliche politische und wirtschaftliche Entschei- dungen wieder vollständig zu nationalisieren, allen künftigen Initiativen auf EU-Ebene ein Ende setzen. Vor dem Hintergrund der Brexit-Verhandlungen und weiterer zahlreicher externer Stressfaktoren könnte sich die EU als zu schwach erweisen, um dieser zusätzlichen Prüfung standzuhalten. Drittens könnte es zu schwerwiegenden Spannungen zwischen Paris und seinen europäischen Nachbarn kommen, insbesondere mit Deutschland. Al- ler Wahrscheinlichkeit nach würde die Implementierung des illiberalen Wirt- schaftsprogramms des Front National den europäischen Partnern große Prob- leme bereiten. Ein solcher Schritt könnte Frankreichs Haushaltsdefizit gravie- rend verschlimmern; bereits jetzt übersteigt es die in den EU-Konvergenzkrite- rien festgelegten 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Darüber hinaus könnte das Wirtschaftsprogramm der Partei desaströse Auswirkungen auf die gesamt­ europäische Wirtschaft haben und in einen weiteren Krisenzyklus münden.

Ein neues Image für die Partei Das zentrale Element für den Aufstieg des Front National zu einer Partei von nationaler Bedeutung war eine Normalisierung seines bisherigen Images. Da- durch gelang es der Partei, ihre Wählerschaft auszuweiten; und irgendwann will sie die „unsichtbare Barriere“ überwinden, die sie (noch) von Ämtern auf nationaler Ebene trennt. Als Marine Le Pen 2011 den Parteivorsitz von ihrem Vater nach 40 Jahren unter dessen Führung übernahm, galt der FN noch als extrem migrationsfeindlich und antisemitisch; Mari- Die „Entteufelung“ ne Le Pen änderte dies, indem sie das Hauptaugenmerk der Partei sollte zu nationalen auf Wirtschaftsfragen mit einer klaren Anti-EU-Ausrichtung ver- schob. Teil dieses Prozesses, der in Frankreich „dédiabolisation“ Erfolgen führen (Entteufelung) genannt wird, ist auch, dass neue Gesichter in der Partei deren Modernisierung symbolisieren und damit die zahlreichen und gut belegten Exzesse des alten Le Pen vergessen machen sollen. Der wertvollste Re- krut ist hier sicherlich Florian Philippot. Wie viele andere Politiker durchlief er die Nationale Hochschule für Verwaltung (ENA), eine der Grandes Écoles. Als junger Mann sympathisierte er mit der Linken; heute ist er der stellver- tretende Vorsitzende des Front National und neben Marine Le Pen der einzi- ge, der sich in den Medien gut zu verkaufen weiß. Die „dédiabolisation“ sollte den FN zu Erfolgen auch auf nationaler Ebe- ne führen. Doch Jean-Marie Le Pen kritisiert den Prozess öffentlich: weil, wie die Regionalwahlen 2015 gezeigt hätten, mit dieser Methode die Ziele nicht er- reicht würden; aber auch, weil sie das Erbe der Partei verwässere, gerade bei Themen, die nicht mehr als zentral für die traditionelle FN-Wählerschaft gel- ten. In der Partei ist es so zu einem offenen Bruch gekommen: Auf der einen

IP • März / April 2017 17 Europas Schicksalswahl

Seite die „Philippot-Linie“, die den Großteil des FN-Programms für die dies- jährigen Wahlen ausmacht, auf der anderen Seite das Lager von Marines Nich- te, Marion-Maréchal Le Pen, die sich der Identitätsagenda angenommen hat. Eine Umfrage vom Januar zeigt, dass sich 52 Prozent der FN-Anhänger Mari- on-Maréchal „näher“ fühlen, und nur 29 Prozent Philippot; 19 Prozent füh- len sich beiden gleich nah. Wichtig ist, dass 66 Prozent der unter 25-Jährigen – die vermeintliche Zukunft der Partei – sagen, dass sie die junge Le Pen bevor- zugen. Um langfristig relevant zu bleiben, muss der Front National zwischen diesen verschiedenen politischen Ausrichtungen vermitteln und mit den Alt- lasten Jean-Marie Le Pens umgehen. Die Spannungen zwischen unterschiedlichen Strömungen, die ja innerhalb jeder Partei auftreten, sind im Prinzip grundlegenderer Natur: Wie kann sich der Front National gegen „das System“ stellen und gleichzeitig versuchen, selbst Teil dieses kritisierten Systems zu werden, etwa indem Leute wie Florian Phi­ lippot, die für das System stehen, im FN Karriere machen? Wenngleich ihr „Entteufelungsprozess“ der Partei eine neue Wählerschaft erschlossen hat, konnte er bislang nicht die Spannungen zwischen einer vermeintlichen „ideo- logischen Reinheit“ und dem Verlangen nach nationaler Relevanz auflösen.

Konsolidierung und Zugewinne Ziel der Normalisierungsbemühungen war es, eine breitere Wählerschaft an- zusprechen. Angesichts zahlreicher Wahlerfolge zwischen 2012 und 2015 – oder zumindest hinsichtlich des relativen Fortschritts des Front National in dieser Zeit, während der vier Wahlen stattfanden (auf Kommunal-, Regional-, Département- und EU-Ebene) – scheint die Partei dieses Ziel erreicht zu haben. Ein Schlüsselfaktor hierbei ist, dass der FN in hohem Maße von der Enthal- tung der Wählerschaft profitiert hat und gleichzeitig bei wichtigen Altersgrup- pen Stimmen hinzugewinnen konnte. Bei den EU- und bei den Regionalwah- len war die Zahl der Nichtwähler historisch am höchsten: 57 bezie- Auffällig viele junge hungsweise 42 Prozent, insbesondere in der Altersgruppe der 18- Menschen wählen bis 24-Jährigen, bei denen wiederum der Front National die größten Stimmenzugewinne verzeichnete. Bei den Regionalwahlen im De- den Front National zember 2015 erlangte der FN seinen bislang größten Stimmenanteil: 6,8 Millionen Menschen gaben der Partei im zweiten Wahldurch- gang ihre Stimme – noch mehr als in der ersten Runde der Präsidentschafts- wahlen 2012, als die Erfolgswelle startete. Die 18- bis 24-Jährigen stellen womöglich den symbolträchtigsten Anteil der Wählerschaft – und in dieser Altersgruppe erzielte der FN bei den Regio- nalwahlen 35 Prozent der Stimmen (wenngleich 64 Prozent dieser Altersgrup- pe gar nicht wählten), fast 15 Prozent mehr als die Volksparteien. Im Vergleich zur Präsidentschaftswahl 2012, bei der Le Pens Stimmenanteil unter jungen Menschen bei geschätzten 20 Prozent lag, wird der Wandel hier am deutlichs- ten. Dieser Anstieg geht einher mit einer Konsolidierung des Front National unter Männern aus der Arbeiterklasse, obgleich zwischen 2012 und 2015 in etwa gleich viele Frauen wie Männer eine größere Bereitschaft entwickelten, den Front National zu wählen. Über 43 Prozent der Arbeiter und 36 Prozent

18 IP • März / April 2017 Madame Le Pen und ihre Helfer

Bild nur in Printausgabe verfügbar

der Angestellten haben erklärt, den FN wählen zu wollen. Der dramatischste Anstieg ist hier bei Unternehmern, Landwirten und Selbstständigen zu beob- achten: 2015 wollten 35 Prozent von ihnen den FN wählen. Der Zuwachs bei diesen sozioökonomischen Gruppen geht weitestgehend mit der Konsolidierung der Partei in ihren Hochburgen im Südosten, dem Nor- den und dem Nordosten des Landes einher – allesamt Regionen, die nach wie vor unter der Deindustrialisierung leiden; hier hat der Front National seit je- her einen festen Stand. Nachdem die Partei es nur sehr knapp verpasste, hier Regionalräte zu stellen, will sie nun insbesondere mit Abgeordnetenmandaten bei den Parlamentswahlen im Juni 2017 ihren Einfluss in diesen Regionen ver- größern. Gleichzeitig wird sich der FN damit auseinandersetzen müssen, ob er nicht vielleicht bereits die „unsichtbare Barriere“ erreicht hat: Eine Umfrage vom Februar 2016 zeigt, dass 63 Prozent der Bevölkerung „den Ideen des FN widersprechen“ und 62 Prozent „nicht die Absicht haben, den FN zu wählen“. Diese Zahlen verdeutlichen, wie schwierig es für den Front National trotz sei- ner unbestreitbaren Erfolge ist, auf nationaler Ebene eine Mehrheit zu errei- chen und seine Wählerschaft entscheidend zu erweitern. In anderen Worten: Die „dédiabolisation“ mag an ihre Grenzen gestoßen sein.

Das Versagen der Volksparteien Gründe für den Aufstieg des FN sind nicht nur dessen Parteiprogramm und die „Entteufelung“, sondern auch die Versäumnisse und kurzsichtigen Strate- gien vergangener Regierungen. So ist der Front National zu einer glaubwürdi- gen Alternative zu den Volksparteien aufgestiegen. Marine Le Pen konnte an Einfluss gewinnen, weil ihre Kritik am so genannten System die Realität der französischen Politik widerzuspiegeln schien. Der FN konnte seinen größten

IP • März / April 2017 19 Europas Schicksalswahl

Erfolg damit verbuchen, die wachsenden öffentlichen Ressentiments gegen- über den Politikern der Volksparteien auszunutzen und sich so als die einzige wirkliche Chance auf Veränderung in Frankreich darzustellen. Drei entscheidende Faktoren waren notwendig, damit der Front National seine derzeitige Rolle in der französischen Politik einnehmen konnte: Erstens wurde die Anti-System-Rhetorik der Partei durch einen Mangel an klaren po- litischen Alternativen gestärkt; zweitens enttäuschten nicht eingelöste Wahl- kampfversprechen der Volksparteien jene Wähler noch mehr, die sich ohne- hin schon von den Volksparteien verraten fühlten; und drittens haben Nicolas Sarkozy und François Hollande, jeder auf seine Weise, das Amt des Präsiden- ten der Fünften Republik nicht so ausgeübt, wie man es hätte erwarten kön- nen – und somit den FN regierungsfähig werden lassen.

Wählen ohne echte Wahl Mit der Fünften Republik sollte chronische politische Instabilität dadurch beendet werden, dass sich die jeweilige Regierung auf eine starke parlamen- tarische Mehrheit verlassen kann. Zusätzlich zum französischen Wahlge- setz, das einer Aufsplitterung in kleine politische Bewegungen vorbeugt, hat Frankreichs Verfassungsordnung das Zwei-Parteien-System im Land begüns- tigt. Infolgedessen ist das Land seit 1981 durchgängig von den gleichen bei- den Parteien regiert worden, die jede Präsidentschafts- und Parlamentswahl der vergangenen 35 Jahre unter sich ausgemacht haben. Dass die konservati- ve Mitte-Rechts-Partei – heute Les Républicains (LR) – die Macht an die Par- ti Socialiste (PS) übergab, erschien insofern immer weniger politisch relevant, als die beiden Parteien ohnehin dieselbe Politik umzusetzen schienen. Vor die- sem Hintergrund ist ein wachsender Bevölkerungsanteil der Ansicht, dass ihm tatsächlich keine politische Alternative zur Verfügung stehe. Der Eindruck, dass „Wahlen ohne echte Auswahl“ stattfinden, war für den Aufstieg des FN von entscheidender Bedeutung, weil er so seine Anti-Estab- lishment-Rhetorik unterfüttern konnte. Marine Le Pen hat, wie zuvor ihr Va- ter, sämtliche Gegner erfolgreich als ein einziges politisches Kon­ Seit 1981 regieren glomerat dargestellt: das so genannte „System“, verantwortlich für entweder Konserva- Frankreichs wirtschaftlichen Stillstand und sozialen Spannungen. Laut FN-Parteispitze stehen die anderen großen Parteien alle für tive oder Sozialisten dieselbe proeuropäische Agenda und somit für dieselbe Wirtschafts- und Sozialpolitik. Demgegenüber kann der Front National vorge- ben, die einzige politische Alternative zu diesem System zu sein und nach Jahr- zehnten des Stillstands wirkliche Veränderungen zu bringen. Die etablierten Parteien haben noch weiter zur Anti-System-Rhetorik des FN beigetragen: Die Strategie des „cordon sanitaire“, bei der die Konservativen und die Sozialisten kooperieren, um einen FN-Wahlsieg auf lokaler oder natio- naler Ebene zu verhindern, gilt dem Front National als Bestätigung, dass „das System“ den demokratischen Prozess und einen Sieg nicht etablierter Kräfte zu behindern weiß. Zudem haben die etablierten Volksparteien für Ärger und Enttäuschung bei ihrer Wählerschaft gesorgt, weil sie Wahlkampfversprechen machten, die nach einem Wahlsieg nicht eingelöst wurden.

20 IP • März / April 2017 Madame Le Pen und ihre Helfer

Um auch Wähler mit radikalen Ansichten anzusprechen, haben sich Ver- treter der Volksparteien dem Ton des Front National angenähert. Die Kon- servativen wollen damit Wähler erreichen, denen die Themen Zuwanderung, Tradition und Sicherheit besonders wichtig sind; sozialdemokratische Kandi- daten können nur gewinnen, wenn sie die Unterstützung jener Wähler haben, die sich gegen eine weitere Liberalisierung der französischen Wirtschaft aus- sprechen. Die beiden letzten Staatspräsidenten sind ausgezeichnete Beispiele für dieses Vorgehen: Während Nicolas Sarkozy 2007 den Schwerpunkt seines Wahlkampfs auf Fragen der Identität und Verbrechensbekämpfung legte, ge- wann François Hollande 2012, nachdem er sich zum „Feind der liberalen Fi- nanzwelt“ stilisiert hatte. Doch alle politische Energie verpufft, wenn der gewählte Kandidat in sei- ner Amtszeit ein eher versöhnliches und liberales Programm umsetzt. So ha- ben etwa Mitte-rechts-Regierungen keineswegs, wie angekündigt, Entschei- dungen ihrer linken Vorgängerregierungen zu kulturellen Fragen überprüft oder geändert. Von der Legalisierung der Abtreibung über die Ab- schaffung der Todesstrafe im 20. Jahrhundert bis zur Gleichberech- Gebrochene Wahl- tigung homosexueller Paare im 21. Jahrhundert haben Konservati- versprechen stärken ve, wenn sie an der Macht waren, nicht wirklich versucht, jene Ge- setze zu ändern, gegen die sie während ihrer Oppositionszeit vehe- heute den FN ment protestiert hatten. Auf ganz ähnliche Weise hat ihre Kritik an der Liberalisierung der französischen Wirtschaft mehrere aufeinanderfol- gende Mitte-links-Regierungen nicht dazu bewogen, unter konservativen Re- gierungen eingeführte Wirtschaftsreformen zu revidieren. Um zu verstehen, wie der Front National heute Wähler ansprechen kann, die eigentlich immer eine der beiden etablierten Volksparteien unterstützt haben, sind deren gebro- chene Versprechen von entscheidender Bedeutung.

Zwei gescheiterte Präsidenten Die Amtszeiten von Nicolas Sarkozy sowie François Hollande führen vor Au- gen, wie die etablierte Politik und ihre Vertreter an Legitimität verloren haben und warum der Front National als glaubwürdige Alternative zum herkömmli- chen Zwei-Parteien-System gelten kann. Keiner von beiden schaffte es, aus un- terschiedlichen Gründen, die richtige Balance im Amt zu finden. Nicolas Sarkozys Präsidentschaft (2007 bis 2012) war dadurch gekennzeich- net, dass er viel zu viele Verpflichtungen selbst übernahm; er schien nicht in der Lage, zu delegieren. Außerdem wurde das Amt des Premierministers zu dem eines einfachen „Mitarbeiters“ degradiert. Die Art und Weise, wie Sar- kozy Macht ausübte – was bald als „hyperprésidence“ bekannt wurde –, poli- tisierte die präsidentielle Funktion. Indem Sarkozy stets an vorderster Front stand, trug er schlussendlich die alleinige Verantwortung für das Versagen von Regierungsstrategien. Diese Situation schuf nicht nur eine Wahrnehmung ge- nereller Instabilität, sondern schwächte auch nachhaltig das Präsidentenamt und mit ihm das gesamte politische System Frankreichs. 2012 kam dann François Hollande mit der klaren Absicht an die Macht, das Präsidentenamt umzugestalten – auch um die Auswirkungen der Sarkozy-Prä-

IP • März / April 2017 21 Europas Schicksalswahl

sidentschaft wieder auszugleichen. Um die Integrität und Bescheidenheit eines Staatsoberhaupts zu unterstreichen, das sich selbst in Opposition zu seinem Vorgänger definierte, wurde der Ausdruck „normaler Präsident“ Noch sieht es so aus, geprägt. Doch tatsächlich normalisierte Hollande eine Funktion, als ob Marine Le Pen die doch per se außergewöhnlich ist. Dementsprechend schaffte es dieser „normale Präsident“ nicht, die von seiner Position erwartete im Mai nicht gewinnt Führung zu übernehmen. Seine Regierung litt danach unter ihrem wahrgenommenen Mangel an Autorität. Dass das Präsidentenamt auf diese Weise im Laufe der vergangenen zehn Jahre an Wert eingebüßt hat, lässt die beiden großen Parteien inkompetent erscheinen. Vor diesem Hinter- grund ist es sehr viel schwieriger geworden, den Front National wegen eines Mangels an Erfahrung und Regierungsunfähigkeit anzugreifen. Marine Le Pen, die ganz auf Autorität und Stärke ausgerichtet ist, hat von der öffentlichen Frustration gegenüber dem Scheitern der politischen Führung profitiert. Seit sie Parteivorsitzende ist, hat der Front National einen bedeutsa- men Imagewandel vollzogen; sie hat ihm zu einem beispiellosen Stimmenan- teil verholfen. Trotzdem hat die Partei noch immer Schwierigkeiten, aus die- sen Veränderungen heraus einen klaren Wahlsieg auf nationaler Ebene zu er- zielen. Ein solcher Wahlsieg würde Marine Le Pens Kurs bestätigen, weniger auf die identitätsbasierten Argumente ihres Vaters zu setzen als auf eine Kam- pagne gegen jede Form von Liberalismus. Falls Marine Le Pen die bevorstehende Präsidentschaftswahl nicht gewinnt – was nach wie vor das wahrscheinlichste Szenario ist –, müsste sie im zwei- ten Durchgang über 40 Prozent so- wie mindestens 50 Sitze (von 577) für Martin Michelot ist ihre Partei bei den Parlamentswahlen stellvertretender Direk- im Juni erreichen, um ihre Machtba- tor des EUROPEUM ­Institute for European sis innerhalb des Front National zu Policy. festigen. So würde auch feststehen, dass Le Pens Kampagne für den Prä- sidentschaftswahlkampf dem FN wei- ter als inhaltliche Richtlinie für die kommenden fünf Jahre und darüber hinaus dienen würde. Martin Quencez ist Sollte der neue Präsident es in die- Fellow beim German ser Zeit nicht schaffen, das Vertrau- Marshall Fund of the United States. en der Bevölkerung in das politische System wiederherzustellen, würde dies Marine Le Pens Chancen ver- bessern, im Jahr 2022 an die Macht zu kommen.

22 IP • März / April 2017 „Wann, wenn nicht jetzt?“

„Wann, wenn nicht jetzt?“ Die Trump-Regierung eröffnet die Chance, dass sich Europa neu aufstellt

Frankreichs außenpolitische Prioritäten sind mit denen Deutschlands weit- gehend deckungsgleich, erklärt der Sicherheitsexperte Bruno Tertrais. Und nach einigen Enttäuschungen hat Paris auch in vielen militärischen Fragen in Berlin einen engagierten Partner. Die europäische Debatte über nukle- are Abschreckung lässt allerdings zu wünschen übrig.

IP: Wie würden Sie Frankreichs außenpolitische Prioritäten beschreiben? Bruno Tertrais: Sie sind ziemlich klar und innenpolitisch weitgehend unum- stritten. Paris will das europäische Projekt erhalten und ausbauen. Frankreich und Europa insgesamt sollen vor Terrorismus, Proliferation und möglichen Ag- gressionen anderer Mächte geschützt und die europäische Nachbarschaft sta- bilisiert werden. Eine multilaterale Weltordnung, die auf den Prinzipien der Vereinten Nationen gründet, soll bewahrt werden. Die Verteidigung der Men- schenrechte und die Entwicklungszusammenarbeit gehören genauso dazu wie der Kampf gegen den Klimawandel.

IP: In welchen Bereichen würde sich Paris eine engere Zusammenarbeit wünschen? Tertrais: Allem Gerede über die Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich zum Trotz waren Paris und Berlin doch bei den meisten großen Fragen einer Meinung, ob es um das iranische Atomprogramm ging oder die russische Aggression in der Ukraine. Letztere ist besonders wichtig, bedenkt man die unterschiedlichen Wege, die unsere beiden Länder während der ers- ten Jahre des Jugoslawien-Krieges Anfang der neunziger Jahre gingen. Heute dagegen ist es vor allem das so genannte „Normandie-Format“ – Frankreich, Deutschland, Russland und die Ukraine –, in dem über die Ukraine-Krise beraten wird. Aber natürlich gibt es auch Unterschiede. Die größte Herausforderung be- steht darin, sich über die künftige Richtung des europäischen Projekts zu ei- nigen. Eine Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland ist eine not- wendige, aber nicht hinreichende Bedingung dafür, dass es in Europa voran- geht. Wir sind nicht einer Meinung, was die Bewältigung der Flüchtlingskri- se angeht, die grundlegende Fragen zur europäischen Identität und Sicherheit aufwirft. Und es gibt weiterhin den Unterschied zwischen dem „interventio-

IP • März / April 2017 23 Europas Schicksalswahl

nistischen“ Frankreich und dem „zögerlichen“ Deutschland, auch wenn dieser in den vergangenen 20 Jahren geringer geworden ist. Aber noch immer sind grundlegende Unterschiede in sicherheitspolitischen Fragen sind deutlich zu erkennen. Dazu gehören vor allem die nukleare Abschreckung, auf die Frank- reich setzt, und der deutsche Wunsch nach einer Abschaffung von Atomwaf- fen, die klar einer pazifistischen Kultur entspringen. Hier erhofft sich Paris eindeutig mehr von Berlin.

IP: Nehmen wir den Mali-Einsatz: Erhält Frankreich bei dieser Mission ausrei- chend deutsche Unterstützung? Tertrais: Wenige Tage nach Beginn der französischen Intervention in Mali An- fang 2013 war ich bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Zu meiner Über- raschung waren einige meiner deutschen Gesprächspartner davon überzeugt, dass es Frankreich vor allem um die Sicherung von Bodenschätzen gehe. Das war wirklich nicht der Fall. Aber diese deutsche Wahrnehmung offenbarte mir so einiges. Ich behaupte nicht, dass imperiale und neokolonialistische Einstel- lungen in Frankreich gänzlich verschwunden wären, aber vieles davon ist auf- gearbeitet. Was Afrika betrifft, verstehen Deutsche und Franzosen einander wohl nicht immer. Weil die Franzosen davon ausgingen, dass wir in Mali Eu- ropas Drecksarbeit erledigten – die terroristische Bedrohung in der Sahelzone verringern –, erwarteten wir, dass unsere Partner uns zumindest unterstüt- zen würden, und waren enttäuscht, als diese Unterstützung nur sehr zögerlich kam. Doch das ist jetzt Vergangenheit. Mittlerweile ist Deutschland sehr prä- sent in Mali und der Bundestagsbeschluss vom Januar, die Anzahl von deut- schen Soldaten für die UN-Mission MINUSMA auf 1000 zu erhöhen, zeugt da- von, dass Berlin die Sache sehr ernst nimmt. Die entscheidende Frage für Frankreich und Europa ist nun, wie man lang- fristig vorgehen soll. Frankreich führt eine großangelegte Operation namens Barkhane durch, um die Terrorbedrohung in der ganzen Sahelzone einzudäm- men und zu verringern. Doch werden unser Wille und die verfügbaren Mittel auch ausreichen, um notfalls ein ganzes Jahrzehnt dort engagiert zu bleiben? Ich muss schon zugeben, dass wir Franzosen manchmal etwas unentschlossen sind, was wir von unseren europäischen Partnern eigentlich wollen. Es wird zwar immer behauptet, dass wir mehr Zusammenarbeit wollen, aber zugleich wissen viele in Paris, dass multilaterale Militäroperationen sehr komplex sind – und dass unilaterales Vorgehen die Dinge manchmal vereinfacht …

IP: Offensichtlich haben wir es seit Januar mit einer isolationistischen, schwer ein- schätzbaren US-Regierung zu tun. Was bedeutet das für Frankreich und Europa? Tertrais: Sie haben recht mit diesen beiden Adjektiven; sie stehen für einen je- weils anderen Problemkreis. Ein bisschen Unberechenbarkeit kann ja der Ab- schreckung dienlich sein, aber wir Europäer, als überzeugte Verbündete der USA, müssen wissen, wohin Washington steuert. Unser erstes Problem ist die Unklarheit. US-Präsident Donald Trump und seine Minister sagen zum glei- chen Thema teils völlig unterschiedliche Dinge. Das könnte noch einige Zeit anhalten. Aber wir sollten nicht nur reagieren, sondern von uns aus der neu-

24 IP • März / April 2017 „Wann, wenn nicht jetzt?“

en Administration unsere Prioritäten darlegen. Wenn Washington wirklich isolationistischer werden sollte, müssen wir uns darüber klar werden, was das bedeutet. Ich glaube nicht, dass die NATO wirklich auf dem Spiel steht. Die ei- gentliche Frage lautet, welches politische, militärische und finanzielle Engage- ment wird Washington im Rahmen der Allianz in den nächsten vier Jahren ein- gehen? Und wie wird das in Russland gesehen? Denn Moskau beobachtet diese Vorgänge sehr genau. Unser Problem ist aber, dass wir Europäer unter- schiedliche Haltungen an den Tag legen, anstatt ver- eint und entschlossen zu agieren. Manche Regierun- gen sympathisieren offenbar mit Herrn Trump, gerade was seine Haltung gegenüber Migranten und dem Islam angeht. Aber etwas Positives hat Trumps Vereidigung doch, nämlich dass wir Europäer nun gezwungen sind, mehr Verantwortung zu übernehmen. Wenn wir unsere Verteidigungskapazitäten jetzt nicht stärken, dann wer- den wir es wohl nie tun. Da fühlen wir Franzosen uns ein bisschen im Recht – denn seit den sechziger Jahren wiederholen wir, dass Europa nicht bis in alle Ewigkeit auf den Schutz durch die USA bauen könne. Was den Nahen Osten angeht, so stehen uns wohl turbulente Zeiten bevor. Wir müssen Präsident Trump daran erinnern, dass sich seine Politik in der Region DR. BRUNO TERTRAIS ist stellvertreten- – wie auch immer sie aussehen mag – unmittelbar auf der Direktor der Fondation pour la recher- unseren Kontinent auswirkt, vor allem im Bereich Ter- che strategique in Paris. rorismus und Migration. Und im Hinblick auf das Nuk- learabkommen mit dem Iran müssen wir klarstellen, dass wir keine Neuver- handlung akzeptieren werden; Teheran würde sich dem ohnehin verweigern. Schließlich müssen wir in der Klimapolitik lernen, zumindest vorläufig ohne Washington zu handeln. Aber wir sollten nicht vergessen, dass es sich hier- bei um ein Langzeitthema handelt, und eine amerikanische Präsidentschaft dauert nur vier Jahre – wobei man zum heutigen Zeitpunkt eine Wiederwahl Trumps nicht ausschließen kann!

IP: Ist es an der Zeit, die europäische Säule der NATO zu verstärken? Tertrais: Ich war von dem Begriff „europäische Säule“ noch nie sehr angetan. Erstens, weil das Bündnis außer den USA auch die beiden wichtigen nichteuro- päischen Mitglieder Kanada und Türkei umfasst. Und zweitens, wenn es schon eine europäische Säule für unsere Sicherheit geben muss, dann ist das heute die EU oder sollte es zumindest sein. Ich befürchte, dass unser Problem bald ein türkisches sein wird. Präsident Recep Tayyib Erdogan ist ein relativ un- berechenbarer Charakter. Wenn er mit Herrn Trump nicht klarkommen soll- te, könnte er entscheiden, US-Stützpunkte auf türkischem Boden zu schließen oder amerikanisches Militärpersonal auszuweisen. So ähnlich wie Frankreichs Präsident Charles de Gaulle 1967 – nur ohne die Garantie, dass Ankara im Fall der Fälle auf unserer Seite bliebe. Was würde das für die NATO bedeuten? Und

IP • März / April 2017 25 Europas Schicksalswahl

Bild nur in Printausgabe verfügbar

ehrlich gesagt, können wir heute immer noch davon ausgehen, dass die Inte- ressen und Werte der derzeitigen türkischen Regierung die gleichen sind, die Franzosen und Deutsche verfolgen beziehungsweise für die sie stehen? Zu- gleich verbleibt die NATO als einziger Rahmen, in dem die USA, Großbritan- nien und die meisten EU-Länder in Verteidigungsfragen zusammenarbeiten.

IP: Welche Rolle wird London nach dem Brexit spielen? Tertrais: Seit 1991 und bis zum heutigen Tage ist Großbritannien Frankreichs wichtigster Partner in allem, was Sicherheit und Verteidigung angeht, vom Kri- senmanagement bis hin zu Auslandseinsätzen. Das gilt für den Balkan, Nordaf- rika und den Nahen Osten. Auch industriepolitisch ist das Land für uns ein ebenso wichtiger Partner wie Deutschland. Zudem kooperieren wir bilateral als Atommächte. Insofern sind die Beziehungen zu Großbritannien für uns Franzosen sehr wichtig. Die gute Nachricht ist, dass fast die gesamte sicher- heits- und verteidigungspolitische Zusammenarbeit bilateral, d.h. außerhalb des EU-Rahmens geregelt ist. Theoretisch gibt es also keinen Grund, warum diese Zusammenarbeit unter dem Brexit leiden sollte. Über drei Punkte sollten wir uns aber dennoch Sorgen machen. Erstens be- absichtigt London, näher an die USA heranzurücken, was sich sicher nachteilig auf seine europäischen Verbündeten auswirken wird. Zweitens wird der Brexit dazu führen, dass Großbritannien weniger für Verteidigung ausgeben kann. Und drittens will die EU verhindern, dass es weiterhin enge Beziehungen in den Be- reichen Sicherheit und Verteidigung gibt – aus Angst, dass ein Brexit ohne sol- che Folgen andere Länder ermutigen könnte, dem britischen Beispiel zu folgen.

IP: Ist ein ständiger britischer Sitz im UN-Sicherheitsrat auch nach dem Brexit

26 IP • März / April 2017 „Wann, wenn nicht jetzt?“

noch gerechtfertigt? Tertrais: Ein solcher Sitz muss nicht „gerechtfertigt“ werden. Es gibt ihn, Punkt. Was man auch immer über die derzeitige Zusammensetzung des Si- cherheitsrats denken mag, sie wird sich nicht über Nacht ändern. Ich persön- lich bedaure das – und die französische Regierung ebenfalls –, aber so ist es nun einmal. Die erforderlichen Stimmen, um Status und Zusammensetzung der ständigen Mitglieder zu verändern, sind schlicht nicht vorhanden, weder im Rat noch in der UN-Generalversammlung. Ich bin da eher pessimistisch. Wir stehen allerdings vor zwei Problemen. Je mehr Zeit vergeht, desto stärker verliert der Sicherheitsrat an Legitimität. Und es sieht so aus, als seien wir zu- rück in den schlechten alten Zeiten, als ein oder zwei Mitglieder ständig die Verabschiedung wichtiger Resolutionen blockierten. Aber zurück zu Großbritannien: Seine ständige Mitgliedschaft im UN-­ Sicherheitsrat ist sicher nicht an seine Position in der EU gebunden, immer- hin trat es der erst rund 30 Jahre später bei. Entscheidend wird sein, ob das Land nach dem Brexit eine globalere Position einnimmt oder ob sein Einfluss durch ökonomische und institutionelle Schwierigkeiten gemindert wird.

IP: Was ist mit Europas nuklearer Verteidigung: Brauchen wir eine Modernisie- rung der Abschreckungssysteme? Oder eine „europäische Bombe“? Wie ließen sich Sicherheitsgarantien für nichtnukleare europäische Länder gestalten? Tertrais: Modernisierung ist die falsche Bezeichnung. Ich glaube nicht, dass wir neue Kernwaffen in Europa brauchen, und das gilt auch für Frankreich, Großbritannien oder für die Präsenz der USA hier in Europa. Warum müssen eine mögliche russische Stationierung von einsatzfähigen nuklearen Kurzstre- ckenwaffen in der europäischen Nachbarschaft oder neue nukleare Mittelstre- ckenraketen automatisch zu einer Entwicklung oder Stationierung ähnlicher Systeme der NATO führen? Wir sollten uns davor hüten, in die Denkweise des Kalten Krieges zurückzufallen. Wenn man jedoch davon ausgeht, dass beste- hende Abschreckungsmöglichkeiten erhalten bleiben müssen, wird man bald wieder in die existierenden Systeme neu investieren müssen. Das betrifft be- sonders neue U-Boote für Frankreich und Großbritannien ebenso wie neue luftgestützte Kapazitäten, um zukünftige gegnerische Verteidigungssysteme zur Not durchschlagen zu können. Um eine glaubhaft einsatzfähige nukleare Schlagkraft im kommenden Jahrzehnt und darüber hinaus zu erhalten, müs- sen die Atommächte innerhalb der NATO ihre B61-Bomber durch die neueste B61-12-Version ersetzen, sobald sie zur Verfügung steht. Die alte Frage nach der „europäischen Bombe“ muss man dekonstruieren. Solange sich ein angloamerikanischer Schutzschirm über der Allianz wölbt, er- gänzt durch eine unabhängigere französische nukleare Abschreckungsstreit- macht, sehe ich wenig Bedarf für ein davon losgelöstes europäisches Programm. Wenn allerdings die europäischen Länder, zu Recht oder zu Unrecht, zu der Auffassung gelangen, dass Entwicklungen in der US-Politik diesen Schutz- schirm weniger glaubhaft machen, müssten wir handeln. So sollten die Fran- zosen klarstellen, dass ihre vitalen Interessen hinsichtlich nuklearer Abschre- ckung untrennbar mit denen der ganzen EU verknüpft sind. Und sollte das Nuk-

IP • März / April 2017 27 Europas Schicksalswahl

learsystem der NATO geschwächt werden oder sich auflösen, dann müsste sich Paris mit seinen europäischen Partnern ins Benehmen setzen und ein neues Arrangement finden. Dabei ginge es dann nicht darum, die USA zu „ersetzen“, sondern eher darum, einen größeren Anteil an der nuklearen Abschreckung zu übernehmen und nichtnukleare Verbündete rückzuversichern. In jedem Fall verwundert mich, wie defizitär die Debatte über nukleare Ab- schreckung in Europa ist. Wir Franzosen waren ja auch nicht immer geschickt. Aber wir sind offen für eine grundsätzliche Debatte über die Zukunft der nuk- learen Abschreckung in Europa. Aber am besten sollte eine solche ­Initiative aus Berlin, Warschau und anderen Hauptstädten kommen. Ist es nicht unver- ständlich, dass nukleare Abschreckung so gut wie nie Thema zwischen deut- schen und französischen Regierungen und Experten ist – von ganz wenigen Gelegenheiten abgesehen, meist unmittelbar vor NATO-Gipfeln?

IP: Wie steht es mit der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU – muss nicht der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) weiter gestärkt werden? Wäre Frankreich bereit, in diesem Bereich weitere Souveränität abzutreten? Tertrais: Wir haben bereits eine gemeinsame EU-Außen- und Sicherheits­ politik – und damit ja auch schon wichtige Erfolge erzielt. Europa hat bei so entscheidenden Themen wie Iran und Ukraine mit einer Stimme gesprochen. Den EAD stärken? Warum nicht, aber ich glaube nicht, dass das unser dring- lichstes Problem ist. Zunächst müssen wir das Existierende bewahren und davon stärker Gebrauch machen. In der Verteidigungspolitik eröffnen uns der Brexit und Trump neue Möglichkeiten. Wann, wenn nicht jetzt? Durch den Ausstieg Londons könnte man zum Beispiel endlich ein Hauptquartier für EU-Militäroperationen schaffen. Wir sollten auf unsere eigene Art und Weise auf die Forderung aus den USA reagieren. Ja, Europa muss mehr für Sicherheit ausgeben und einen größeren Anteil an der Verteidigungslast tra- gen; aber wir sollten das zu unseren eigenen Bedingungen tun. Primär geht es dabei nicht um die Finanzierung von Ausrüstung oder die Größe von Ar- meen. Entscheidend ist der politische Wille, militärische Kräfte gemeinsam mit unseren Verbündeten zu nutzen, wann immer es möglich ist – und ohne sie, wann immer wir dazu gezwungen sind. Ist Frankreich bereit, mehr Sou- veränität abzugeben? Derzeit wohl nicht – und das liegt nicht nur am „Druck“ des Front National. Weitere Souveränitätsübertragungen sind heute in ganz Europa unpopulär, nicht nur in Frankreich. Verbesserte Kooperation ist den- noch möglich, auch bei Verteidigungs- und Militärthemen, jedenfalls unter daran interessierten Ländern.

IP: Lassen Sie uns noch über Russland reden: Es gibt starke Kräfte, die eine ­Lockerung der Sanktionen fordern. Was würde dann aus der Ukraine? Tertrais: Seit 2014 spricht Europa bei dieser Frage mit einer Stimme. Schon das ist ein Erfolg. Denn es bräuchte nur ein Land, um den Konsens zu brechen und die Fortsetzung der Sanktionen zu verhindern. In einigen Ländern gibt es da- hingehend tatsächlich starken wirtschaftlichen und politischen Druck. Aber wer sollte die Initiative ergreifen? Ohne Fortschritte bei der Umsetzung des

28 IP • März / April 2017 „Wann, wenn nicht jetzt?“

Minsker Abkommens ist schwer vorstellbar, dass Paris, Berlin oder Warschau dies tun würden. Es hängt davon ab, wie Moskau seine Karten spielt, wie sehr es eine Lockerung der EU-Sanktionen braucht … Außer natürlich, Washing- ton höbe die eigenen Sanktionen auf – das hätte sicher einen starken Einfluss auf den europäischen Entscheidungsprozess. Aber das sehe ich derzeit nicht.

IP: Ein Wort zum Iran-Abkommen: Trump besteht darauf, es neu zu verhandeln oder zu beenden. Wie sehen Sie das? Tertrais: Ich war weder ein großer Befürworter noch Gegner des Abkommens, als es geschlossen wurde. Und wir hätten bestimmt ein besseres Abkommen haben können. Aber jetzt unterstütze ich seine Umsetzung. Das ist ein weite- res Beispiel, bei dem die Signale aus Washington nicht klar sind. Aber ich wäre doch sehr überrascht, wenn die Trump-Regierung es wirklich aufkündigen oder „ihre Unterschrift zurückziehen“ würde. Es wäre ein Sprung ins Unge- wisse, zu dem wohl selbst Trump nicht bereit ist. Auch Israel ist zufriedener mit einem bestehenden Abkommen als mit einem gescheiterten. Eine Neuver- handlung ist unmöglich; die beteiligten Parteien würden neuen Gesprächen nicht zustimmen. Wahrscheinlich werden die USA zunächst das Abkommen ordnungsgemäß umsetzen, ohne auch nur die kleinste Übertretung durch den Iran zu tolerieren. Sobald Teheran dann einen Vorwand liefert, wird Washing- ton vermutlich neue Sanktionen verhängen. Die Empörung über die Raketen- tests Ende Januar deutet dies an. All dies geschieht in einem Kontext, in dem die „historische Wette“, die die Obama-Regierung eingegangen ist, nicht auf- geht. Das Nuklearabkommen hat das Verhalten des Iran in der Region nicht ge- ändert, und die wirtschaftliche Verflechtung des Landes mit dem Westen bleibt durch das Zögern von Banken und Investoren extrem beschränkt. Außerdem ist die Zukunft des Abkommens auch an die iranische Innenpolitik und Debat- ten innerhalb der dortigen Führung geknüpft.

IP: Können Sie sich an eine französische Präsidentschaftswahl erinnern, bei der außenpolitisch so viel auf dem Spiel stand? Tertrais: Jetzt steht sicherlich mehr auf dem Spiel als 2007 und 2012. Grob ge- sagt gibt es Kräfte bei der extremen Linken und den Rechten, die eine „ande- re“ Außenpolitik wollen – die das Verhältnis zu Washington und Moskau „neu austarieren“ und sich Teheran und Damaskus annähern, von Riad und Doha aber distanzieren wollen. Für diese Denkschule stehen Jean-Luc Mélenchon, François Fillon und Marine Le Pen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie am Ende siegen wird, weil sie sehr ideologisch ist und sich nicht auf star- ke Argumente oder eine realistische Einschätzung unserer Interessen stützt. Die gute Nachricht: Das Phänomen Trump sorgt für einen breiteren Kon- sens in Frankreich, dass Europa sich neu aufstellen sollte, dass es, wenn nötig, auch unabhängiger werden sollte. Und durch den Brexit wird die Debatte über das jeweilige Gewicht der Achsen „Paris–Berlin“ und „Paris–London“ weit­ gehend obsolet. Ich fand diese Debatte schon immer etwas künstlich.

Die Fragen stellten Henning Hoff und Sylke Tempel.

IP • März / April 2017 29 Europas Schicksalswahl

Am Ende gewinnt die Republik Allem Aufruhr zum Trotz: Die französischen Institutionen sind stark

Georg Blume | Greift Marine Le Pen nach der Macht? Mitnichten, auch wenn das in Deutschland oft so erscheint. Am Ende werden die Kindeskinder der Französischen Revolution ihren Staat und ihre Ideale zu verteidigen wissen. Die Deutschen sollten stärker auf den republikanischen Impuls der Nachbarn bauen – und bereit sein fürs nächste europäische Abenteuer.

Vor den Präsidentschaftswahlen in Frankreich hat es den Anschein, als hät- ten die deutschen Eliten ihr Vertrauen in die französische Kultur verloren. Als glaubten sie, nach Brexit und Trump gäbe es auch in der dritten großen west- lichen Traditionsdemokratie kein Halten mehr. Als stünde ein Wahlsieg Ma- rine Le Pens unmittelbar bevor. Um so weit mit ihrem Frankreich-Pessimismus zu kommen, haben sie nicht selten Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ gelesen – das wunderbar sensib- le Buch eines schwulen 68ers, der, zum seriösen Soziologen gereift, beschreibt, wie seine eigene Arbeiterfamilie in Nordfrankreich früher kommunistisch war und heute rechtsextremistisch, also Le Pens Front National wählt. Eribon, der sein Buch 2009 verfasste, ist für viele deutsche Leser eine Entdeckung: „In Deutschland das intellektuelle Buch der Saison“, schrieb die taz. Frankreich zugeneigte deutsche Leser Eribons erschrecken, wenn Le Pen ausgerechnet dort einbricht, wo sie Europas Arbeiterklasse noch am wehr- haftesten glaubten: im stets streikbereiten Frankreich. Manche mögen auch noch die Fortsetzungsgeschichte des Eribon-Werkes kennen. 2014 widmete der Jungschriftsteller Édouard Louis sein Romandebüt „Das Ende von Eddy“ ­Eribon. Darin dokumentiert er die rassistische, diskriminierende Alltagsspra- che im nordfranzösischen Arbeitermilieu. Eine Sprache, die wir in Deutsch- land nicht kennen und den Franzosen kaum zugetraut hätten. Also die nächs- te schreckliche Entdeckung! Sind unsere Nachbarn links des Rheins am Ende doch demokratisch unzuverlässiger als wir immer dachten? Mehrere Generationen junger Deutscher schauten nach dem Krieg zu Frankreich auf, nicht zuletzt zur französischen Linken. Sie hatte den „Mai 68“ angezettelt und eine weltweite Protestbewegung in Gang gesetzt. Und sie hat- te Resistance-Erfahrung. Gerade die deutschen 68er hatten gehörigen Respekt vor französischen Kommunisten und Sozialisten – erst recht, wenn sie ihre

30 IP • März / April 2017 Am Ende gewinnt die Republik

eigene Widerstandsgeschichte gegen die Nazis im Zweiten Weltkrieg erzäh- len konnten. Und das konnten nicht wenige. Heute aber klingt das ganz an- ders. Die französische Linke ist unter deutschen Intellektuellen verpönt. Sie hat die Globalisierung verschlafen, die nötigen Reformen verschleppt, sich mit der 35-Stunden-Woche auf die faule Haut gelegt. Der Zweite Weltkrieg ist kei- ne Referenz mehr wert, oder wenn doch, dann mit einem Seitenhieb auf die französischen Kollaborateure. Kein Wunder also, dass Le Pen im Kommen ist. Und doch muss die Berliner Republik keine Angst haben. Le Pen ist nicht im Kommen. Jedenfalls hat sie in diesem Jahr keine Chance, die Macht zu er- obern. Das liegt daran, dass sich Frankreich und die Franzosen viel weniger verändert haben als wir. Im Guten wie im Schlechten. Was Die Franzosen haben Eribon als persönliches Drama beschreibt, ist politisch bei genauem sich viel weniger Hinsehen gar nicht so spektakulär. Schon seit dem frühen 19. Jahr- hundert existiert im industriell geprägten Nordfrankreich eine gro- verändert als wir ße Widerstandsbereitschaft. Sie hat viele Ursachen: eine starke Ar- beiterkultur, ein traditionell starkes Gerechtigkeitsempfinden. Immer wieder wurden hier wilde Revolten angezettelt – die Republik erschüttert haben sie nie. Auch der Mai 1968 war im Wesentlichen ein nordfranzösisches Ereignis. Ar- beiter und Intellektuelle verbündeten sich gegen die Republik Charles de Gaul- les. Auch heute sieht es manchmal wieder so aus: Der Pariser Großintellektu- elle Alain Finkielkraut leistet bei schlechter Laune den Ideen des FN Vorschub wie einst Jean-Paul Sartre den Ideen der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF). „Wer die Geschichte Frankreichs globalisiert, der löst ihre Besonderhei- ten, ihre Identität, das ihr eigene Genie in einem großen Bad des Mischmasch, der Diversität und der Mobilität auf“, schreibt Finkielkraut, Mitglied der Fran- zösischen Akademie, in seiner Rezension einer jüngst erschienenen französi- schen Weltgeschichte des linken Sozialhistorikers Patrick Boucheron. Damit bedient er exakt den neuen Wahlkampfdiskurs von Le Pen, die die politische Landschaft in „Globalisierer“ und „Patrioten“ aufteilen will – ein bisschen wie früher die Kommunisten ihre Welt in Kapitalisten und Arbeiter zerlegten. Ähnlich wie Finkielkraut segelt Frankreichs erfolgreichster politischer Au- tor der vergangenen Jahre, der Figaro-Kolumnist Éric Zemmour, im Wind- schatten Le Pens. Mit dem Bestseller „Der französische Selbstmord“ verfasste Zemmour einen Generalangriff auf den vermeintlich dekadenten, demokra- tischen Mainstream des Landes – und landet dieser Tage bei Donald Trump, dessen Kampf gegen die amerikanische Justiz er als „Kampf der so genannten Menschenrechte gegen den Willen der Nation“ definiert. Und sich wie selbst- verständlich auf die Seite Trumps schlägt, wie es auch Le Pen derzeit bei je- dem ihrer Auftritte tut.

Ein altes Spiel Doch das ist ein altes französisches Spiel. Am Ende gewinnt immer die Repub- lik. In den sechziger und siebziger Jahren stellte die KPF die europäische Eini- gung und Frankreichs Verankerung im Westen infrage. Sie gewann noch 1978 mit ihrem Programm 5,8 Millionen Stimmen. Der Front National, der heute aus der EU austreten will, brachte es bei seinem bislang größten Wahlerfolg

IP • März / April 2017 31 Europas Schicksalswahl

im Dezember 2015 auf 6,8 Millionen Stimmen. Dabei erzielte er seine größten Erfolge in fast exakt den gleichen Regionen, in denen 1978 die KPF erfolgreich war. Aber ist deshalb ganz Frankreich auf der schiefen Bahn? Im Gegenteil. Das Land ist viel stabiler, demokratischer und republikani- scher, als es die aktuelle politische Konjunkturlage vermuten lässt. Das ergibt sich schon aus der Wechselwirkung zwischen Widerständischen Letztlich geht es um und Regierenden. Frankreichs Politiker haben sich in den vergan- Freiheit, Gleichheit genen Jahrzehnten eben nicht getraut, die Sozialleistungen des Staa- tes einschneidend zu kürzen. Sie mussten mit ganz anderem Wi- und Brüderlichkeit derstand als in Deutschland rechnen. Das hat durchaus sein Gu- tes: Heute verdient die untere Hälfte der französischen Bevölke- rung noch den gleichen 25-Prozent-Anteil am Volkseinkommen, den sie auch Anfang der Achtziger schon verdiente. In der gleichen Zeit ist dieser Anteil in den USA von über 20 Prozent auf heute 10 Prozent gefallen. Frankreich besitzt aber weit mehr als nur materielle Dämme gegen die po- pulistische Versuchung. Sein republikanisches Schulsystem, erschaffen vor 150 Jahren, hat radikaler Propaganda von rechts und links immer getrotzt. Das ist auch heute noch so: Le Pens ausländer- und europafeindliche Ansichten ha- ben im französischen Klassenzimmer keinen Platz, auch keinen versteckten. Wer sich ihnen als Jugendlicher anschließt, muss innerlich mit dem Schulsys- tem brechen. Das machen viele, der FN hat viele Jungwähler, aber sie bleiben eine bildungslose Minderheit. Letztlich geht es den Franzosen um ihre republikanische Ordnung samt ihrer Prinzipien Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Ihre historischen Fort- schritte von der Einführung des Wahlrechts über die Abschaffung der Todes- strafe bis zur Einführung des Euro haben die Franzosen an der Wahlurne, wenn es um die Macht und nicht irgendein Referendum ging, bisher nie infrage gestellt. Le Pen fordert einen Systemwechsel, wenn auch immer weniger radi- kal. Doch welcher Franzose ahnt nicht, dass sie ein Wolf ist, der Kreide frisst? Wir Deutschen sollten also den Franzosen vertrauen. Wir sollten ihrer Ge- schichte vertrauen, ihren Grundwerten seit der Französischen Revolution, de- nen sie in der Vergangenheit oft treuer waren als wir. Was nicht heißt, dass sich nichts ändern muss: Die republikanische Schule muss weltoffener gestal- tet, viele veraltete Gesetze überarbeitet werden, nicht zuletzt das undurch- sichtige Arbeitsrecht. Doch das Land ist auf dem Weg in die richtige Richtung. Ohne das Vertrauen ins demokratische Frankreich aber wird es auch den Deutschen nicht möglich sein, weiter konstruktiv an Europa zu arbeiten. Man stelle sich Frankreich mit einem neu- en Präsidenten Emmanuel Macron Georg Blume vor, dem europabegeistertsten, den ist Frankreich-­ das Land je hatte – und die Deut- Korrespondent der ZEIT. schen abgewandt in ihrem Verdruss über ein Land, das sie den Populis- ten ausgeliefert glaubten. Le Pen hätte die Wahl, die sie nie gewinnen konn- te, dann doch noch gewonnen.

32 IP • März / April 2017 Ein unverzichtbares Paar

Ein unverzichtbares Paar Die EU braucht Ausgewogenheit zwischen Frankreich und Deutschland

Claire Demesmay und Daniela Schwarzer | Das Verhältnis zwischen Frank- reich und Deutschland basiert auf einem Geflecht eingespielter Abläufe und enger Kontakte. Doch auch das kann einen Stillstand im Herzen der EU nicht verhindern. Nach den Wahlen gilt es, die Gemeinsamkeiten mit dem Partner wieder zu entdecken.

Auch in diesem Jahr gehört ein Wahlkampfauftritt in Deutschland zum Pflichtprogramm der aussichtsreichsten französischen Präsidentschaftskan- didaten. Der ehemalige sozialistische Wirtschaftsminister und Gründer der parteiübergreifenden Bewegung „En Marche“, Emmanuel Macron, skizzier- te in einem Vortrag an der Humboldt-Universität in Berlin, wie er Frankreich wieder zum proaktiven Mitgestalter der Europäischen Union machen möch- te. Der Konservative François Fillon demonstrierte mit seinem Treffen mit Bundeskanzlerin seine Vernetzung im internationalen, christ- demokratischen Milieu und forderte in einer Rede am 23. Januar in Berlin, Europa auf das „Wesentliche“ zu beschränken. Die Parteichefin des rechtspo- pulistischen Front National, die Frankreich aus der EU herauslösen möchte, suchte den Schulterschluss mit der Alternative für Deutschland: Beim Tref- fen der Nationalisten in Koblenz griff Marine Le Pen die Europapolitik der Bundesregierung scharf an. Französische Politiker nutzen die Beziehung zum größeren Nachbarland und wichtigsten Partner in der EU als Referenzpunkt, um der heimischen und internationalen Öffentlichkeit bis ins Detail orchestrierte Botschaften über ihre Vision Frankreichs in Europa zu vermitteln. Die Auffassungen der Kandidaten unterscheiden sich dabei wesentlich. Die Frage, wer die Präsi- dentschaftswahl im Mai 2017 gewinnt, wird also entscheidend dafür sein, ob Frankreich und Deutschland wieder zu maßgeblichen Impulsgebern und Ge- staltern in der EU werden. Die beiden größten Mitgliedstaaten unterhalten das engste bilaterale Ver- hältnis innerhalb der Union. Das vielbeschworene „Tandem“ war allerdings in den vergangenen Jahren nur noch bedingt in der Lage, die Gemeinschaft vo- ranzubringen. Dabei ist nach wie vor richtig, dass europäische Lösungen nur dann gefunden werden, wenn Berlin und Paris an einem Strang ziehen. So ge-

IP • März / April 2017 33 Europas Schicksalswahl

hen etwa die wichtigsten Entscheidungen beim Umgang mit der Euro zonen- Krise auf deutsch-französische Kompromisse zurück.

Schwindende Mobilisierungskraft Die Bilanz der vergangenen Jahre zeigt allerdings auch: Berlin und Paris fällt es schwerer, Kompromisse zu erzielen, auch schwindet ihre Kraft, Partner zu mobilisieren. Trotz des immens gewachsenen Drucks im Inneren und Äuße- ren der EU blieben viele dringende Probleme unbearbeitet, so die Frage der Konvergenz und Krisenresistenz der Euro-Zone oder über Jahre die Stärkung der europäischen Verteidigung. Ein anderes Beispiel für wenig produktive deutsch-französische Zusammen- arbeit – trotz guten Willens auf beiden Seiten – ist der bilaterale Umgang mit der Flüchtlingskrise im Jahr 2016. Über Monate hinweg haben sich Angela Mer- kel und François Hollande in regelmäßigen Abständen getroffen und nach ge- meinsamen Lösungen gesucht. Stark divergierende Ansichten etwa Wenige Ergebnisse über nationale Obergrenzen und europäische Verteilungsmechanis- trotz enger men haben sich zwar nicht in gegenseitigen Vorwürfen in der Öf- fentlichkeit niedergeschlagen. Doch die deutsch-französischen Vor- Zusammenarbeit schläge zum Schutz der EU-Außengrenzen und zur Reform des Dub- lin-Verfahrens sind keine ambitionierte Antwort auf die zentrale und andauernde Herausforderung, mit einem weiter wachsenden Migrations- druck Richtung Europa umzugehen. Zudem gelang es Berlin und Paris nicht, ihre europäischen Partner von ihren Vorschlägen zu überzeugen. Anders als in vergangenen Jahrzehnten garantierte auch ein hart errunge- ner deutsch-französischer Kompromiss nicht mehr, dass sich andere EU-Staa- ten dem Vorschlag hätten anschließen können. Zu unterschiedlich sind oftmals die Interessen, zu kontrovers die europapolitischen Debatten im Inneren einer Vielzahl von Mitgliedstaaten, wo vor allem Rechtspopulisten den bisherigen Kurs in Richtung einer tieferen EU bremsen. Zudem ist in vielen Politikfel- dern die Integration bereits so weit fortgeschritten, dass jeder nächste Schritt in sensible Bereiche nationaler Souveränität vordringt. Eine Einigung wird so- mit politisch und zuweilen auch verfassungsrechtlich schwierig. Dennoch gilt: Berlin und Paris sind in den vergangenen Jahren hinter den Erwartungen und zum Teil auch hinter ihren eigenen Ankündigungen zurück- geblieben. Auch die Tatsache, dass das Verhältnis beider Staaten von einem überaus engen Gefl echt von bilateralen Routinen und Alltagskontakten zwi- schen den beiden Regierungsapparaten und Parlamenten getragen ist, konn- te nicht verhindern, dass Deutschland und Frankreich in Kernbereichen eu- ropäischer Integration auf der Stelle traten. Die engen operativen Beziehun- gen können in Krisenzeiten stützen und den bilateralen Austausch in mög- lichst direkter Form aufrechterhalten. Dennoch sind sie kein Ersatz für eine wesentliche Aufgabe, derer sich die beiden Chefs annehmen müssen: mit ei- ner klaren Vision für Europa die eigene Führungsverantwortung in einer fra- gil gewordenen Gemeinschaft wahrzunehmen. Im Gegenteil: Werden für die deutsch-französische und die gemeinsame europapolitische Agenda keine Zie- le und Kompromiss linien auf höchster Ebene abgesteckt, läuft die Alltags-

34 IP • März / April 2017 Ein unverzichtbares Paar

Wachsende Asymmetrie

Bevölkerung BIP

im Jahr 2016 in Mrd. Euro, 2015

82.160.000 66.661.621

3032,8 2181,0

Geburtenrate Wachstumsprognose

Kinder pro Frau, 2014 für das Jahr 2017 2,01

+1,5% 1,47 +1,4%

Arbeitslosigkeit Staatsverschuldung

im Dezember 2016 im Jahr 2015 in % des BIP

4,1%

9,9% 71,2 % 96,2 %

Jugendarbeitslosigkeit Verteidigungsausgaben

im Dezember 2016 im Jahr 2016 in Mrd. Euro (Schätzung) 26,2%

37,1 39,8

Quellen: Eurostat, NATO, Ministerien Wirtschaft und Finanzen Wirtschaft und Ministerien NATO, Eurostat, Quellen: 6,5% (=1,19 % vom BIP) (=1,78 % vom BIP)

IP • März / April 2017 35 Europas Schicksalswahl

mechanik der deutsch-­französischen Maschinerie irgendwann leer. So haben in den vergangenen Jahren einige der Mechanismen für Regierungs- und Par- lamentskonsultationen an Bedeutung verloren, die zum 40-jährigen Jubiläum des Élysée-Vertrags 2003 mit viel Engagement auf den Weg gebracht wurden. Im Laufe dieses Jahres fällt für die politische Führung in Paris und Berlin die wichtigste Entschuldigung weg, mit der man mangelnden Willen zum Zu- packen in EU-Fragen erklärte: die Wahlen, die beiden Ländern bevorstehen. Im Herbst werden in beiden Hauptstädten neue Verantwortliche die Aufgabe übernehmen, die bilateralen Beziehungen mit neuem Elan und neuen Inhal- ten zu füllen. Dazu gehört zunächst eine Klärung des eigenen Verhältnisses zum Nachbarn und wichtigsten Partner.

Aus dem deutsch-französischen Gleichgewicht Ein gewisses, wenn auch schwankendes Gleichgewicht zwischen Deutschland und Frankreich war lange Grundvoraussetzung für eine gute Zusammenarbeit. Deutschland war traditionell der wirtschaftlich stärkere Partner, Frankreich zog seinen Einfluss aus seiner außenpolitischen und militärischen Stärke. Doch dies hat sich verändert. Mit dem Ende des Kalten Krieges haben die französi- schen Machtsymbole – etwa der Besitz der Nuklearwaffe, der ständige Sitz im UN-Sicherheitsrat und eine gewisse Selbstständigkeit auf der internationalen Bühne, insbesondere vis-à-vis den USA – an Bedeutung verloren. Gleichzeitig ist Deutschland in der Weltpolitik selbstbewusster geworden, hat eine unbe- streitbare Führungsrolle in der EU eingenommen und seine exportorientierte Wirtschaft konnte von der weltweiten Öffnung der Märkte profitieren. Diese wachsende Asymmetrie ist ein Problem, da sie zu Spannungen und immer wieder zu Blockaden führt. In Frankreich herrscht das Gefühl, dem Nachbarn unterlegen zu sein und die Zukunft nicht mehr in den ei- Missverständnisse genen Händen zu halten – was für Frustration sorgt. In Deutschland prägen die gegensei- wird das Gefühl Frankreichs und anderer europäischer Staaten, von Deutschland dominiert zu werden, dagegen kaum wahrgenommen. tige Wahrnehmung Hier herrscht die Sichtweise, von Frankreich abhängig und damit dessen Fehlern und Schwächen ausgesetzt zu sein. Die gegenseitige Wahrnehmung ist heute von Missverständnissen und Widersprüchen hinsicht- lich der eigenen Rolle und Bedeutung und der des Partners geprägt. Eine gute Voraussetzung für eine Verbesserung der Beziehung ist allerdings, dass in der französischen Öffentlichkeit die Zeiten der „Deutschland-Besessen- heit“ derzeit vorbei sind. Im Gegensatz zum Wahlkampf 2012 gibt es jetzt keine hitzige Kontroverse über das deutsche Modell, und Vergleiche mit dem Nachbarn werden viel seltener angestrengt. Doch selbst wenn die Kandidaten Deutschland im Präsidentschaftswahlkampf selten explizit erwähnen, schwebt sein Schat- ten über vielen Diskussionen, zum Beispiel wenn es um Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Reformen geht – und natürlich um Europa. Dass Deutschland eine herausgehobene Führungsrolle spielt und den Schlüssel für einen Kurs- wechsel in der EU in der Hand hält, wird in Frankreich als gegeben angesehen. Für ein Land mit ausgeprägtem Nationalstolz, einer traditionell starken in- ternationalen Rolle und – trotz tiefer Verflechtung innerhalb der EU – einem

36 IP • März / April 2017 Ein unverzichtbares Paar

noch immer starken Souveränitätsimpuls, ist nicht verwunderlich, dass diese Situation bei vielen Politikern und Bürgern zu Irritationen führt. Insbesondere an beiden Enden des politischen Spektrums werden harsche Töne angeschla- gen: Marine Le Pen spricht von der „Versklavung“ der europäischen Völker durch Deutschland, der linksradikale Jean-Luc Mélenchon will eine „Kraft- probe“ mit der Bundesregierung. Aber auch in den etablierten Parteien ist viel Unzufriedenheit mit dem deutsch-französischen Verhältnis zu hören. Der so- zialistische Präsidentschaftskandidat Benoît Hamon plädiert für ein „Bündnis der europäischen Linken“, um sich der Politik der Bundesregierung zu wider- setzen; Fillon will Frankreich zum „soliden Gegengewicht“ zu Deutschland aufbauen. Allein Macron scheint die deutsch-französische Beziehung nicht durch die Perspektive eines Machtverhältnisses zu betrachten. Die Spannungen zwischen beiden Ländern sind nicht neu, ebenso wenig das daraus in Frankreich entstehende Misstrauen gegenüber dem deutschen Nachbarn. Die Kritik an einem „hegemonialen Deutschland“ mündet gerade in Umbruchsituationen, in Reaktion auf Verschiebungen im Kräf- teverhältnis zwischen beiden Ländern, in alte Stereotype. Dies war Das Gespenst der in den siebziger Jahren nach der Ölkrise, während der darauffolgen- „Germanophobie“ ist den Wirtschaftskrise oder auch Anfang der neunziger Jahre ähn- lich, als der Kalte Krieg zu Ende ging und mit der deutschen Wie- wieder zurück dervereinigung die Europakarte neu definiert wurde. Damals ent- flammte in der französischen Presse eine Diskussion über einen deutschen Hegemon, der Frankreich potenziell bedrohte – sei es, weil er wirtschaftlich besser dastand oder im neuen Europa mehr Einfluss hatte bzw. haben könn- te. Dieses Gespenst der „Germanophobie“ ist seit einigen Jahren zurück. Oft verbindet sich die Kritik mit der Angst vor einem „deutschen Europa“, was dazu führt, dass deutsch-französische Kompromisse nicht unbedingt als sol- che verstanden werden. In Frankreich wird dabei unterschätzt, wie sehr Deutschland ein wirt- schaftlich wie politisch starkes Frankreich fehlt. Deutschland hadert in vie- lerlei Hinsicht mit seiner Stärke und Führungsrolle. Immer wieder gab es in den vergangenen Jahren Situationen, in denen Berlin sich nach einem Paris gesehnt hat, das willens und in der Lage wäre, zusammen mit Deutschland die Last der Verantwortung zu tragen. Mehr noch: Die Schwäche Frankreichs wird mittlerweile als Risiko für Deutschland betrachtet, in politischer, aber vor allem auch in wirtschafts- und finanzpolitischer Hinsicht. Hinzu kommt die Sorge, von Paris in Eurozonen-Belangen über den Tisch gezogen zu wer- den. Das Misstrauen, dass Paris die für die Euro-Zone vereinbarten Regeln un- tergräbt, ist insbesondere in den Krisenjahren deutlich gewachsen. Nicht zu- letzt: Die Sorge vor einer Allianz der Euro-Südländer gegenüber Deutschland und den stabilitätsorientierten nördlichen Mitgliedstaaten der Währungsuni- on ist größer geworden. Auch in Berlin besteht also Verunsicherung, was Frankreichs Interessen und Absichten in der EU angeht. Und ebenso wie in Paris die Meinung vor- herrscht, dass etwa die Probleme in der Euro-Zone nur dann gelöst werden können, wenn Deutschland seine nationale Wirtschaftspolitik maßgeblich an-

IP • März / April 2017 37 Europas Schicksalswahl

Bild nur in Printausgabe verfügbar

passt, besteht die gleiche Erwartung auf der anderen Seite: Frankreich müsse erst „seine Hausaufgaben“ machen, bevor weitere gemeinsame Schritte unter- nommen werden können. So richtig dies in der Sache für beide Seiten sein mag, die gegenseitigen Wahrnehmungsmuster verstellen auch den Blick für tatsäch- liche Fortschritte und Annäherungen auf beiden Seiten.

Drei neue Rahmenbedingungen Die Geschichte der deutsch-französischen Beziehung ist eine Geschichte von Zusammenarbeit und Annäherung, dabei aber auch immer eine vom Umgang mit gegenseitigem Misstrauen. Allerdings haben sich in den vergangenen Jah- ren die Rahmenbedingungen für die deutsch-französische Zusammenarbeit so verändert, dass alte Rezepte zur Wiederbelebung der Beziehung – etwa durch einen bedeutungsschwer inszenierten Gipfel oder eine bilaterale Initiative – nicht mehr so einfach wirken. Erstens hat die Asymmetrie zwischen beiden Ländern eine neue Qualität erreicht. Beschleunigt durch die Auswirkungen der Krisen im Euro-Raum, von denen sich Deutschland sehr viel schneller erholte, hat sich die wirtschaftliche Divergenz vertieft. Frankreich kämpft mit einer Arbeitslosenquote von über 10 Prozent, einem nur langsam aufholenden Wachstum und einer nach wie vor hohen öffentlichen Schuldenlast. Deutschland verzeichnet Vollbeschäftigung, Rekordüberschüsse und schreibt seit mehreren Jahren mit seinem Staatshaus- halt schwarze Zahlen. Frankreich ist heute nicht mehr der wichtigste Han- delspartner Deutschlands und wurde auf diesem Platz von den USA abgelöst. Aber nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch ist die deutsch-franzö- sische Kluft in den vergangenen Jahren größer geworden. Während in Deutsch-

38 IP • März / April 2017 Ein unverzichtbares Paar

land bislang relativ stabile politische Verhältnisse herrschen, ist die Autorität des amtierenden französischen Präsidenten seit Jahren angekratzt – was vor allem an der Spaltung der regierenden Parti Socialiste in den Bereichen Wirt- schafts- und Europapolitik liegt. Dazu kommt die Stärke des rechtspopulisti- schen Front National, der seit Jahren den politischen Diskurs prägt und eine ohnehin zersplitterte Parteienlandschaft immer weiter destabilisiert. Infolge dieser Entwicklungen ist Frankreichs Einfluss innerhalb Europas schwächer geworden: Dass die europäischen Partner seit einiger Zeit den Weg nach Ber- lin suchen und viel weniger den nach Paris (oder Brüssel), bleibt in Frankreich nicht unbemerkt. Mit dem Aufkommen der rechtspopulistischen AfD, die be- reits in mehr als der Hälfte aller Landtage sitzt, verschärften sich allerdings auch in Deutschland politische Polarisierung, Parteiensplitterung und euro- papolitische Kontroversen. Der wahrscheinliche Einzug der AfD in den Bun- destag im September 2017 würde nicht nur die Bildung von stabilen Koalitio- nen erschweren, sondern könnte auch etablierte Parteien davon abhalten, eine engagierte Europapolitik zu betreiben bzw. zu unterstützen. Eine zweite veränderte Rahmenbedingung ist die neue Machtverteilung in der EU. Brüssel und die EU-Institutionen haben nach Jahren der Krise an Re- nommee und Einfluss eingebüßt. Je größer der Machtzuwachs, den die EU-Staaten erleben, desto stärker fällt Deutschlands Gewicht Von der EU wird als auf. Neben den Krisen, die Europa seit Jahren in Atem halten und Problem gesprochen, die nationale Regierungen dazu zwingen, sich eng abzustimmen und schnell zu reagieren, gab es relevante Entwicklungen in der in- nicht als Lösung stitutionellen Architektur der Union. Mit dem Vertrag von Lissa- bon verstärkte sich 2007 die Rolle des Europäischen Rates – und mithin auch die der Mitgliedstaaten – zu Lasten der EU-Kommission. Dadurch erhöhte sich der Einfluss großer Länder, die in der Lage sind, Partner zu finden und Koali- tionen zu bilden. In diesem Kontext konnte Deutschland seinen Einfluss fes- tigen und vervielfachen; Frankreich wurde durch seine internen Schwierig- keiten und mangelnde Glaubwürdigkeit geschwächt. Drittens ist die Europaskepsis in Frankreich während des vergangenen Jahrzehnts deutlich gewachsen. Heute äußern sich nur noch 31 Prozent der vom Pew Research Center im Juni 2016 befragten Französinnen und Franzo- sen positiv zur EU (gegenüber 50 Prozent in Deutschland). Im Jahr 2004 waren es 69 Prozent, mehr als doppelt so viel. Diese Einstellung schlägt sich im poli- tischen Diskurs nieder – und verstärkt damit wiederum die kritische öffent- liche Meinung. Dass die meisten Kandidaten im Präsidentschaftswahlkampf von der EU als Problem und weniger als Lösung sprechen, zeigt, wie weit diese Skepsis und die Rückbesinnung auf das Nationale inzwischen gehen. Über Jahrzehnte zog die europäische Integration in Frankreich ihre Legiti- mität aus dem Versprechen, sie würde die Bürgerinnen und Bürger schützen – insbesondere vor den Gefahren der Globalisierung, die stärker als in Deutsch- land als Bedrohung gesehen wird. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit und ein Anwachsen der Anzahl von Menschen, die in prekären Lebensverhältnissen leben, haben den Glauben an diese Schutzfunktion der EU kontinuierlich schwinden lassen. Das europäische Regelwerk zur Haushaltsdisziplin und

IP • März / April 2017 39 Europas Schicksalswahl

Wirtschaftspolitik wird von vielen als von Deutschland verordnetes Korsett angesehen. Auf diese Weise werde Frankreich eine Politik aufgedrängt, die viele für mitschuldig an der wirtschaftlichen und sozialen Situation halten. Auch die EU-Osterweiterung im Jahr 2004 und das Anwachsen der EU auf damals 25 Mitglieder wurde von Anfang an mit Skepsis betrachtet und sorgte für ein Gefühl des Kontrollverlusts und der Entfremdung. Spätestens als im Mai 2005 eine Mehrheit der französischen Wähler den EU-Verfassungsvertrag ablehnte, wurde klar, dass ein Stimmungswandel stattgefunden und die poli- tische Elite die Meinungsführerschaft über das Europathema in Frankreich verloren hatte. Zuletzt trug die Verpflichtung zur Haushaltsdisziplin zur Ab- kehr vom europäischen Projekt bei. An diesen Beispielen zeigt sich, wie stark deutsche und französische Präfe- renzen und Wahrnehmung in Kernfragen auseinanderliegen und dass es über die vergangenen Jahre nicht gelang, bei diesen Themen einen breiten, auch von den Gesellschaften getragenen Konsens zu entwickeln. Für Deutschland war etwa die EU-Osterweiterung eine historische Notwendigkeit und strategische Priorität; die Chancen, die sich daraus im wirtschaftlichen Bereich In Kernfragen gelang ergaben, wurden ergriffen. Der Anpassungsdruck, der von euro- es nicht, einen päischen Regeln auf nationale Volkswirtschaften in der Euro-Zo- ne ausgeht, ist gewollt und wird nicht als Gefährdung, sondern als ­Konsens herzustellen Voraussetzung gesehen, um langfristig nachhaltig wirtschaften zu können. Finanzielle Solidarität über den bestehenden EU-Budge- trahmen hinaus erachtet man in Deutschland tendenziell nicht als notwendig. Die in Frankreich verbreitete Ansicht, dass zu einer gemeinsamen Währung auch mehr Risikoteilung etwa im Bereich der Staatsfinanzen und des Banken- sektors gehört, wird in Deutschland abgelehnt.

Begrenzt wirksam: alte Reflexe Angst und Misstrauen gegenüber Deutschland erwiderte die Politik in der Ver- gangenheit mit neuen Initiativen für die europäische Integration. In den sieb- ziger Jahren brachten Helmut Schmidt und Valery Giscard d’Estaing das Euro- päische Währungssystem auf den Weg. 20 Jahre später reagierten Helmut Kohl und Francois Mitterrand auf französische Verunsicherungen mit der Einberu- fung einer Regierungskonferenz, die 1992 im Vertrag von Maastricht münde- te. Angesichts der Entfremdung vom EU-Projekt, die in Frankreich eingesetzt hat, ist ein solcher Reflex keine Selbstverständlichkeit mehr. Auch in Deutschland ist angesichts der neuen parteipolitischen Konstella- tionen – und der bereits bestehenden Integrationstiefe in der EU – kein brei- tes Angebot an Vorschlägen für große integrationspolitische Sprünge vorhan- den. Wohl gehört es zum obersten Ziel der derzeitigen Europapolitik, die EU und den Binnenmarkt gerade angesichts der Herausforderungen des Brexit zu- sammenzuhalten und etwa gegenüber den USA zu stärken. Aber es herrscht auch großer Realismus, was die Möglichkeiten von Vertragsreformen angeht. Dagegen muss nach den Wahlen in Deutschland und Frankreich ein altes Ziel zur neuen Priorität werden: den Nachbarn wieder besser verstehen lernen. Neue deutsch-französische Initiativen können nur dann erfolgreich sein, wenn

40 IP • März / April 2017 Ein unverzichtbares Paar

sie auf einem tiefen gegenseitigen Verständnis der wirtschaftlichen, ­sozialen und gesellschaftlichen Situationen beider Länder basieren. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist ein Beispiel dafür. Während deutsche Unterneh- men einen Fachkräftemangel beklagen, ist die Bekämpfung der Mas- Sind die Deutschen senarbeitslosigkeit Frankreichs oberste Priorität. Die Perspektivlo- naiv, die Franzosen sigkeit eines beachtlichen Teiles der Jugend ist nicht nur ein soziales Problem, sondern gefährdet auch den gesellschaftlichen Zusammen- unverantwortlich? halt und hat in der Politik gravierende Konsequenzen. Davon zeugt der Aufstieg des Front National, der sich als Sprecher der „kleinen Leute“ dar- stellt und insbesondere bei Jungwählern erfolgreich ist. Deshalb hält die fran- zösische Regierung einen drastischen Sparkurs für gefährlich. Auch in der Flüchtlingsfrage haben unterschiedliche Erfahrungen und Pri- oritäten die Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern belastet. Deutschland war von der Krise direkt betroffen und betrachtete sie unter humanitären As- pekten. Frankreich hingegen stand noch unter dem Schock der islamistischen Terroranschläge. In der Innen- wie auch in der Außenpolitik ist die Bekämp- fung des Terrorismus vorrangig – und führte unter anderem zur Verstärkung französischer Auslandseinsätze. Gerade in solch angespannten Situationen be- zweifelt man in Berlin beziehungsweise Paris, dass der Partner die Probleme richtig einschätzt und adäquate Lösungen anstrebt. Nicht selten ist der Vor- wurf zu hören, die Deutschen seien naiv und die Franzosen unverantwortlich. Für die EU könnte 2017 ein Schick- salsjahr sein. Es ist unbestritten, dass Dr. Claire Frankreich und Deutschland nur ge- Demesmay­ meinsam, in enger Abstimmung mit leitet das Frank­ den EU-Partnern, entscheidende In- reich-Programm im Forschungsinstitut tegrations- und Reformschritte an- der Deutschen Gesell­ gehen können. Ebenso klar ist aller- schaft für Auswärtige dings auch, dass es aufgrund wach- Politik (DGAP). sender Interessendivergenzen und einer stärkeren politischen Polarisie- rung schwieriger denn je ist, die EU Dr. Daniela handlungs- und überzeugungsfähiger Schwarzer­ zu machen. Es ist möglich, dass ein leitet das Forschungs­ deutsch-französischer Vorstoß an der institut der DGAP. EU scheitert. Wahrscheinlicher ist ­indes, dass die EU ohne den dringend notwendigen deutsch-französischen Vorstoß scheitern würde.

IP • März / April 2017 41 Bild nur in Printausgabe verfügbar

Mitglieder der OSZE-Beobachtermission inspizieren ein von Granatbeschuss beschädigtes Haus in Donezk, November 2015 Bild nur in Printausgabe verfügbar

EndeUnter einer Beobachtung Ordnung SubheadDie Aufschlag Ukraine-Mission Ic tem voluptat der OSZE laborae ist für eosdie Umsetzungnet ariam, sed des ex Minsker elenisquides Abkommens maion posvon entscheidenderaspe conserum Bedeutung. quod ut hario. Doch Comniminctem unter deutschem quis Vorsitz vent ma hat imil es eat 2016 mo so id gut quid wie earibus keine queFortschritte cor mo blaut gegeben. audipic Was te volorior kann die si Organisationvoluptati reius, in consedder Ostukraine quatque leisten? estiur? Unter Beobachtung

Übung in Erwartungsmanagement Bild nur in Eine nüchterne Bilanz des deutschen OSZE-Vorsitzes im Jahr 2016 Printausgabe verfügbar

Liana Fix und Jana Puglierin | Die Bundesregierung hatte eine ambitionierte Agenda für den OSZE-Vorsitz. Doch vor allem wurden die Hoffnungen auf Fortschritte bei der Lösung des Konflikts in der Ostukraine enttäuscht. So hat der deutsche OSZE-Vorsitz in erster Linie die Grenzen russischer Kooperationsbereitschaft demonstriert.

Seit Ausbruch des Konflikts in und hoffte die Bundesregierung, mithil- um die Ukraine ist die OSZE wieder fe des OSZE-Vorsitzes den „Dialog relevant. Wurde die Organisation für zu erneuern, Vertrauen wiederauf- Sicherheit und Zusammenarbeit in zubauen und Sicherheit wiederher- Europa auch oft als „Papiertiger“ ge- zustellen“. schmäht – sie ist die einzige sicher- Mit ihrem klaren Bekenntnis zur heitspolitische Organisation, in der OSZE wollte die Bundesrepublik zei- alle Staaten zwischen Vancouver und gen, dass sie in Zeiten einer erodie- Wladiwostok Mitglieder sind. Im Uk- renden europäischen Sicherheitsord- raine-Konflikt soll sie, wie schon im nung weiter auf den Erhalt der in der Kalten Krieg, als Dialog­forum dienen, Schlussakte von Helsinki (1975) und um Russland und den Westen an ei- der Charta von Paris (1990) veran- nen Tisch zu bringen und Möglichkei- kerten Grundprinzipien der OSZE ten der Verständigung und des Aus- setzt. So identifizierte der deutsche gleichs zu eruieren. Vorsitz fünf Handlungsbereiche, die Die Bundesregierung hatte bereits im Mittelpunkt stehen sollten: Als seit 2014 gemeinsam mit dem Schwei- prioritär betrachtete die Bundesregie- zer Vorsitz viel dazu beigetragen, dass rung weiterhin das Krisen- und Kon- die OSZE sich als Plattform für Ge- fliktmanagement in und um die Uk- spräche zwischen Russland und der raine und mit Blick auf die anderen Ukraine etablieren und als einzi- so genannten „eingefrorenen“ Kon- ger internationaler Akteur mit einer flikte im post­sowjetischen Raum. Zu Sonderbeobachtermission eine Prä- diesem Zweck setzte sich der deut- senz vor Ort aufbauen konnte. Das sche Vorsitz zweitens zum Ziel, die sollte nun fortgeführt werden: Inmit- In­strumente und Kapazitäten zur ten der schwersten Krise der europä- Konfliktlösung der OSZE zu stärken ischen Sicherheitsordnung seit 1990 und weiter auszubauen.

44 IP • März / April 2017 Übung in Erwartungsmanagement

Bild nur in Printausgabe verfügbar

Drittens sollte die OSZE noch Staaten und Russland ernster genom- mehr als bislang als Dialogforum men werden würde. weiterent­wickelt werden. Viertens Dass nun ein „Großer“ den Vor- ging es ­Außenminister Frank-Walter sitz innehatte, weckte aber auch Be- Steinmeier im Rahmen der „Connec- fürchtungen: Würde die Bundesrepu- tivity“-Initiative um eine engere Zu- blik, auf deren Agenda die OSZE bis sammenarbeit im Bereich von Wirt- zum Ausbruch des Ukraine-Konflikts schaft und Umwelt, bei der Akteu- keinen besonders wichtigen Platz ein- re aus der Wirtschaft stärker einbe- genommen hatte, mit ihrem ohnehin zogen werden sollten. Im Bereich der großen Portfolio an außenpolitischen „human dimension“ wollte Deutsch- Aktivitäten die Energie und notwen- land fünftens den Themen Toleranz, dige Aufmerksamkeit für die kom- Nichtdiskriminierung, Freiheit der plizierten Strukturen und Prozesse Medien und der Meinung sowie Min- der OSZE aufbringen? Diese Sorgen derheitenrechte besondere Aufmerk- konnte der deutsche Vorsitz entkräf- samkeit schenken. ten, denn er hat umfangreiche Res- Die Übernahme des OSZE-Vorsit- sourcen investiert. zes durch Deutschland weckte nicht Die Erfolgsbilanz fällt dennoch nur aufgrund dieser ambitionier- ernüchternd aus – und das liegt ten Ziele hohe Erwartungen: Dieses nicht an mangelnden Bemühungen Mal übernahm ja kein kleines Mit- Deutschlands. Von Anfang an schien gliedsland das Kommando, sondern es angesichts der verfahrenen Lage ein politisches Schwergewicht. Da- unrealistisch, einen Durchbruch im mit verband man die Hoffnung, dass Konflikt in der Ost­ukraine und in die OSZE insgesamt an Bedeutung den Beziehungen zu Russland zu er- gewinnen und von den Vereinigten zielen. Dazu liegen die Konfliktpar-

IP • März / April 2017 45 Unter Beobachtung

teien zu weit auseinander und zu ge- Wirklichkeit alles andere als einge- ring ist der Anreiz für Russland, sich froren sind – gelangen kleine Erfolge: aus dem Donbass zurückzuziehen. Die 5+2-Gespräche zur Beilegung des Zudem gibt es keinen hinreichenden Transnistrien-Konflikts sind wieder Konsens für eine inklusive gesamt- aufgenommen worden, ein direkter europäische Sicherheitsordnung. In Präventionsmechanismus zwischen Moskau wird die OSZE Georgien und Abchasien wurde wie- Für Moskau ist die als Teil der gegenwärtigen der eingerichtet, und der im April OSZE vielmehr Teil Krise der europäischen 2016 wieder aufgeflammte Konflikt Sicherheitsordnung gese- zwischen Armenien und Aserbaid- der aktuellen Krise hen, nicht aber als Lösung schan um die Region Berg-Karabach für diese Krise. Russland konnte mit internationaler Unterstüt- will seine Position im europäischen zung eingedämmt werden. Der gro- Sicherheitsgefüge neu verhandeln. ße Durchbruch blieb jedoch wie er- Der Westen hingegen will die geopo- wartet aus, da Russland die Konflik- litischen Ansprüche Moskaus weder te nicht zuletzt als Instrument seiner akzeptieren noch legitimieren und Nachbarschaftspolitik nutzt, bei der hält weiter an den geltenden Grund- „stabile Instabilität“ der bevorzugte prinzipien der OSZE fest. Modus Vivendi ist. Bei den „einge- frorenen“ Konflikten geht es deshalb Russlands Blockadepolitik auch in Zukunft um Konfliktmanage- Von Beginn an war der deutsche ment statt Konfliktlösung.­ ­OSZE-Vorsitz deshalb eine Übung in Ein weiterer Schwerpunkt des Erwartungsmanagement. Dennoch deutschen OSZE-Vorsitzes wurde un- ist es überraschend, dass von russi- ter dem Stichwort „Konnektivität“ zu- scher Seite die Gelegenheit nicht ge- sammengefasst: Dabei sollten vor al- nutzt wurde, um Deutschland zumin- lem Möglichkeiten der wirtschaftli- dest symbolisch entgegenzukommen chen und infrastrukturellen Vernet- – zum Beispiel durch eine Teilnah- zung im OSZE-Raum ausgelotet und me des russischen Außenministers ein Versuch unternommen werden, Sergej Lawrow an einem informel- mit der Eurasischen Wirtschaftsuni- len OSZE-Außenministertreffen im on und ihren Mitgliedstaaten ins Ge- September 2016 in Potsdam, das Ber- spräch zu kommen. Auch hier war die lin initiiert hatte. Steinmeier konnte Reaktion jedoch lauwarm: Hochrangi- seine Enttäuschung über die Blocka- ge russische Gesprächspartner blieben depolitik Russlands gelegentlich nur einer Wirtschaftskonferenz in Berlin schwer verbergen. Da das OSZE-Mo- fern, und auch bei Gesprächen bei der dell auf Einstimmigkeit beruht, konn- Eurasischen Wirtschaftskommission te der deutsche Vorsitz – so sehr sich in Moskau stieß man nur auf ein be- die Bundesregierung auch bemühte grenzt herzliches Willkommen. – über den kleinsten gemeinsamen Den Schlusspunkt der deutschen Nenner nur selten hinauskommen. Bemühungen bildete die Abrüstungs- Im Bereich des Krisen- und Kon- initiative von Außenminister Stein- fliktmanagements – insbesondere bei meier. Er schlug vor, in einem „struk- den so genannten „eingefrorenen“ turierten Dialog“ innerhalb der Konflikten im OSZE-Raum, die in OSZE über eine Wiederbelebung der

46 IP • März / April 2017 Übung in Erwartungsmanagement

seit Langem teils dysfunktionalen, dem Brexit, spätestens jedoch seit der teils veralteten Abrüstungsverträ- Wahl von Donald Trump sieht sich ge zu sprechen. Dafür wurde Stein- Russland geopolitisch im Aufwind meier aus den eigenen NATO-Reihen und mit seinem Modell jedoch heftig kritisiert. Insbesonde- auf der richtigen Seite der Müssen Grundprinzi- re die Esten, Letten und Litauer wa- Geschichte. Der deutsche pien der OSZE preis- ren wenig glücklich über Steinmeiers Ansatz von Politikgestal- Idee und befürchteten, dies würde die tung – multilateral, inklu- gegeben werden? Abschreckungsfähigkeit der NATO siv, dialogorientiert –, so schwächen. vernünftig er klingt, scheint in die- Obwohl Russland die Initiative sen neuen Zeiten ins Hintertreffen offiziell positiv aufnahm, scheint sie geraten zu sein. im Rückblick fast zu spät gekommen Vielleicht trifft der österreichische zu sein: Die amerikanische Reakti- OSZE-Vorsitz 2017 eher den Nerv der on war von Anfang an skeptisch, und Zeit. Außenminister Sebastian Kurz das Ergebnis der US-Wahlen hat die hat jedenfalls angekündigt, stärker Erfolgschancen eines solchen Dialogs auf Russland zugehen und die Sank- weiter gemindert. Der neue US-Präsi- tionen lockern zu wollen. Wie dies dent Donald Trump scheint Größeres beim Ausbleiben russischer Zuge- vorzuhaben und hat bereits laut über ständnisse ohne die Preisgabe we- eine Art „deal“ nachgedacht, bei dem sentlicher Grundprinzipien der OSZE aufgrund des Ukraine-Konflikts ver- zu leisten ist, bleibt bislang allerdings hängte Sanktionen gegenüber Russ- noch sein Geheimnis. land zur Verhandlungsmasse werden könnten für nukleare Abrüstungs­ Liana Fix initiativen. Ob darin auch eine Chan- ist Programmleiterin im ce für die europäische Rüstungskon­ Bereich Internationale Politik mit Fokus Russ- trolle liegt, bleibt offen. land/Osteuropa bei der Körber-Stiftung in Grenzen des Dialogs Berlin. Was ist nun die Bilanz des deutschen Vorsitzes? In der Rückschau wird niemand behaupten können, dass von deutscher Seite nicht alles ver- Dr. Jana Puglierin sucht worden wäre, um „Brücken leitet das Alfred von zu bauen“. Ungewollt hat der deut- Oppenheim-Zentrum für Europäische sche ­OSZE-Vorsitz aber vor allem ei- ­Zukunftsfragen im nes demonstriert: die Grenzen rus- Forschungsinstitut­ sischer Kooperationsbereitschaft. der DGAP. Die russischen Interessen und Prio- ritäten liegen zurzeit woanders: Seit

IP • März / April 2017 47 Unter Beobachtung

Zwischen den Fronten Was die OSZE-Beobachter in der Ukraine leisten können, und was nicht

Nikolaus von Twickel | Die OSZE unterhält in der Ukraine die größte Beob- achtermission ihrer Geschichte. Für die Umsetzung des Minsker Abkom- mens ist ihre Arbeit so unverzichtbar wie angreifbar. Beide Seiten bezich- tigen die Mission der Parteilichkeit. Zivilisten wünschen sich ein robus- teres Vorgehen. Echtes Peacekeeping aber würde ihr Mandat sprengen.

Seit drei Jahren hat die Organisation sind eine unschätzbare Quelle objekti- für Sicherheit und Zusammenarbeit ver Informationen zu einem Konflikt, in Europa (OSZE) nun schon ihre zi- in dem lokale Medien beider Seiten in vilen Beobachter in der Ukraine stati- hohem Maße zu Parteilichkeit neigen oniert. Nach bescheidenen Anfängen und internationale Medien nur spora- im März 2014, als zehn Teams mit je disch berichten. zehn Mitgliedern quer über die Uk- Im Konfliktgebiet ist die internati- raine verteilt wurden, ist die Speci- onal zusammengesetzte OSZE unver- al Monitoring Mission (SMM) mitt- zichtbar geworden, besonders nach- lerweile auf über 700 internationale dem aus­ländische Hilfsorganisati- Beobachter angewachsen. 600 von ih- onen wie Ärzte ohne Grenzen und nen sind in den umkämpften Regio- ­People in Need aus den separatisti- nen Donezk und Luhansk aktiv. Mit schen „Volksrepubliken“ ausgewiesen einem Gesamtpersonal von gut 1100 wurden. Von größtem Wert ist auch, Personen (Stand: Januar 2017) ist dass die zwei Teams der Mission in es die größte Feldmission in der Ge- der Ost­ukraine ihren Hauptsitz in den schichte der OSZE – und wohl eine separatistischen „Hauptstädten“ Do- der kontroversesten. nezk und Luhansk haben. Ihre Beob- Über eine dritte, einjährige Verlän- achter überqueren die „Kontaktlinie“ gerung des Mandats der größten nicht- zwischen den verfeindeten Gruppen militärischen Sicherheitsorganisation ­Dutzende Male am Tag. Europas wollen die 57 Mitgliedstaaten Auch verpflichtet das Mandat die Ende März entscheiden. Dabei kann Angehörigen der Mission, nicht nur die Mission durchaus Erfolge vorzei- die Sicherheitslage zu beobachten, gen. Ihre Tagesberichte, die auf Eng- sondern auch die Achtung (oder Ver- lisch veröffentlicht und ins Russische letzung) von Menschenrechten und und Ukrainische übersetzt werden, Grundfreiheiten. Die OSZE ist zwar

48 IP • März / April 2017 Zwischen den Fronten

keine humanitäre Organisation, aber die Arbeit der Mission zur Umset- über Waffenstillstandsverletzungen zung des Minsker Abkommens nega- hinaus hält sie große Mengen an In- tiv; nur gut ein Drittel (35,6 Prozent) formationen über das Alltagsleben heißt sie gut. der Zivilbevölkerung fest. Werden Vergleichbare Umfragen in Russ- diese Informationen – wie Berich- land oder den Gebieten der Separatis- te über nicht explodierte Munition – ten gibt es nicht. Der Grundtenor in an die richtigen Stellen weitergeleitet, den russischen Staatsmedien aber ist können sie zum Schutz der Zivilbe- ein Indiz, dass die russische öffent- völkerung beitragen. liche Meinung der Missi- Die OSZE spielt eine Schlüsselrol- on gegenüber kaum wohl- Die Mission ist einem le bei der Umsetzung des Minsker Ab- wollender sein dürfte. harten Informations- kommens, das ja von der Schweizer Laut einer Umfrage des Diplomatin Heidi Tagliavini als Son- unabhängigen Moskauer krieg ausgesetzt derbeauftragte des amtierenden Vor- Meinungsforschungsins- sitzenden der Organisation mitunter- tituts Lewada vom April 2014 glau- zeichnet wurde. Neben Tagliavinis ben 58 Prozent der Befragten, die Nachfolger Martin Sajdik sitzen füh- ­OSZE-Mission sei zugunsten der uk- rende Mitglieder der Beobachtermis- rainischen Regierung voreingenom- sion bei den Verhandlungen der Trila- men, während nur 19 Prozent die teralen Kontaktgruppe in Minsk mit Mission für objektiv halten. am Tisch (so leitet Missionschef Er- Diese Skepsis oder Ablehnung der tugrul Apakan die Arbeitsgruppe Si- Mission deckt sich in weiten Teilen cherheit). Sie organisieren dann die mit der Kritik, die Politik und Mili- Überprüfung der Einhaltung. tär beider Seiten gegen sie formulie- Verpflichtungen wie der Abzug ren. Schließlich steht der Konflikt im schwerer Waffen oder das 2016 un- Donbass im Zentrum der Bruchstel- terzeichnete Entflechtungsabkommen le zwischen Russland und dem Wes- („Disengagement Agreement“) stehen ten; und die Gefahr für die Missi- und fallen mit der dauerhaften Veri- on besteht nicht nur in den direkten fizierung durch OSZE-Beobachter. Es Kampfhandlungen, sie ist einem har- reicht nicht festzustellen, dass eine ten Informationskrieg ausgesetzt, der konkrete Verpflichtung erfüllt wur- diesen Konflikt kennzeichnet. de. Vielmehr muss die Regelbefolgung ­beziehungsweise -nichtbefolgung täg- Streitpunkt Kameras lich nachvollzogen werden, für die ge- Immer wieder wird der OSZE in der samte Dauer des Abkommens. Ukraine ein Mangel an Objektivi- Solchen Erfolgen zum Trotz wird tät vorgehalten. So behauptete der man nicht behaupten können, dass Führer der „Volksrepublik Donezk“, die Mission bei den Ukrainern auf ­Alexander Sachartschenko, im Januar ungeteilte Zustimmung stößt – ob- 2017 während eines Besuchs der von gleich die ukrainische Regierung die- Russland annektierten Krim, dass se ja angefordert hatte. Einer Umfrage die Überwachungskameras der Missi- des Kiewer Gorshenin-Instituts vom on lediglich Separatisten filmten und Februar 2016 zufolge bewertet fast die die Aufnahmen direkt an die ukrai- Hälfte der Befragten (46,9 Prozent) nischen Streitkräfte weiterleiten wür-

IP • März / April 2017 49 Unter Beobachtung

den. „Ihre Soldaten sitzen hinter die- nagetätigkeit einiger ihrer Beobachter sen Kameras und verfolgen so unsere entgegenzutreten. Bewegungen“, zitierte ihn die staatli- Vorwürfe, dass russische Missi- che russische Nachrichtenagentur onsangehörige die OSZE zum Aus- RIA Nowosti. spionieren der ukrainischen Trup- Das Gleiche aber wirft auch die pen nutzen, haben die Mission von ukrainische Seite der Mission vor, Anfang an begleitet; das Misstrauen Bild nur in als sie vor einem Jahr zum ersten vieler Ukrainer, die den russischen Mal Überwachungskameras ein- Nachbarn als Feind betrachten, sitzt Printausgabe verfügbar setzte – nahe Schyrokyne, einem tief. Seit Ende 2014 behaupten ukrai- Dorf an der Küste des nische Politiker immer wieder, dass Helfen die Beobach- Asowschen Meeres. Da- bis zu 80 Prozent der OSZE-Beobach- ter den Ukrainern mals sendete das nati- ter Russen seien, viele mit nachrich- onale Fernsehen Inter- tendienstlichem Hintergrund. Auf oder den Putinisten? views mit ukrainischen solche Desinformation reagierte die Soldaten, die vermuteten, Mission mit der Veröffentlichung von dass die Kamera­bilder an die Sepa- zweiwöchentlichen Statusberichten ratisten weitergeleitet würden. Auch über ihre internationale Zusammen- der bekannte ukrainische Journalist setzung. Im Januar 2017 waren dem- Andriy Tsaplienko verbreitete dies: nach 38 der 708 Missionsangehörigen Allein die OSZE-Kameras­ erlaubten russische Staatsbürger (was 5,3 Pro- es den „Putinisten“, ukrainische Re- zent entspricht). serven zu beobachten. Dessen ungeachtet wiederholte Die OSZE versicherte, dass die Ka- US-General a. D. Wesley Clark sol- meraübertragung verschlüsselt sei, che falschen Behauptungen nach der sodass nur Missionsangehörige de- Rückkehr von einer Informationsrei- ren Bilder sehen könnten; dass die se in die Ostukraine im März 2015 Positionierung der Kameras die Be- bei einer Veranstaltung des Atlan- obachtung beider Seiten erlaube; und tic Council in Washington: „Mehr dass sich beide Seiten, einschließlich als die Hälfte“ der Beobachter sei- der ukrainischen Streitkräfte, auf en russische Militärangehörige.1 Uk- ihre Installierung verständigt hät- rainische Aktivisten nutzen Clarks ten. Wladislaw Selesnjow, ein Spre- unglückliche Bemerkungen bis heu- cher des ukrainischen Generalstabs, te, um das Ansehen der Mission zu wies sogar darauf hin, dass der Be- diskreditieren. Aufschlussreich ist schuss seit Installierung der Kame- auch, dass dieses Zitat von Clark als ras rückgängig war. Ob diese Wider- „Aufmacher“ eines nationalistischen legung wirklich Misstrauen und Vor- Twitter-Accounts dient, der sich auf urteile abbauen konnte, ist schwer zu die Aufdeckung angeblicher Vorein- sagen. In ihrer Kommunikation wird genommenheit von OSZE-Missions- sich die Mission jedenfalls weiter da- mitgliedern spezialisiert hat. mit abmühen müssen, hartnäckigen Vertreter der OSZE weisen dar- Gerüchten über eine angebliche Spio- auf hin, dass die Richtlinien ihrer

1 Ashish Kumar Sen: Russia Plans Spring Offensive in Ukraine, Warns Ex-NATO Chief ­Wesley Clark, Atlantic Council Blogpost, 30.3.2015.

50 IP • März / April 2017 Zwischen den Fronten

Bild nur in Printausgabe verfügbar

Missionen, die alle Beobachter un- Center for Control and Co-Ordinati- terschreiben müssen, es ihnen streng on, eines russisch-ukrainischen Mi- untersagen, vertrauliche Informati- litärgremiums zur Überwachung des onen weiterzugeben; sie sind außer- Waffenstillstands, war, ging nicht so dem gehalten, „alle Handlungen zu weit, den Ausschluss Russlands aus unterlassen, die ihre Fähigkeit, un- der OSZE-Mission zu fordern. Al- parteilich zu handeln, in Zweifel zie- lerdings wurden solche Forderungen hen könnten“. Nachdem das ukraini- schon öfter erhoben, wenngleich sie sche Fernsehen im Oktober 2015 Bil- nicht durchsetzbar sind: Gemäß des der eines eindeutig betrunkenen rus- Konsensprinzips der OSZE müsste sischen OSZE-Beobachters aus dem dem auch Moskau zustimmen. Gebiet Luhansk zeigte, der behaupte- Selbstverständlich sind die Ukrai- te, Angehöriger des russischen Mili- ner mit ihrer Kritik nicht allein. Spio- tärgeheimdiensts GRU zu sein, wur- nagevorwürfe finden sich auch regel- de der Mann augenblicklich aus der mäßig in Militärverlautbarungen der Mission ausgeschlossen. Separatisten. Im Mai 2016 unterstell- Es gab keinerlei Beweise für sei- te die „Volksrepublik Donezk“ sogar, ne Behauptungen. Dennoch sitzen die dass Beobachter Munition transpor- Vorbehalte auf der ukrainischen Sei- tierten – eine Behauptung, die nie in te tief. Im Januar erklärte der ukrai- irgendeiner Weise belegt wurde. nische General Borys Kremenetsky Die politischen Beschränkun- in einem vielzitierten Interview, dass gen des OSZE-Mandats frustrieren alle russischen OSZE-Beobachter Ge- die Zivilisten vor Ort, die oft erwar- heimdienstoffiziere seien. Kremenets- ten, dass eine internationale Mis- ky, der bis Dezember 2016 höchster sion auch etwas unternimmt, um ukrainischer Repräsentant im Joint die Kämpfe zu stoppen. Aber die

IP • März / April 2017 51 Unter Beobachtung

­OSZE-Beobachter können nicht als nem Checkpoint nähert, beschossen Peacekeeper handeln. Sie haben kei- würde. Die OSZE-Mission hatte bis- ne exekutiven Befugnisse. Ihnen ist her das Glück, dass kein einziger Be- nicht einmal erlaubt, Soldaten, die obachter tödlich verwundet wurde. sich in der Konfliktregion bewegen, Sollte sich das ändern, wäre das En- anzuhalten, um festzustellen, welche gagement der beteiligten Länder auf Staatsangehörigkeit sie besitzen. Da- eine harte Probe gestellt. rum berichtet die Mission auch nicht Unter diesen Umständen bleibt regelmäßig über die Präsenz russi- der Mission kein großer Spielraum: scher Soldaten in den „Volksrepubli- Sie muss zwischen den Forderungen ken“ der Rebellen. Allerdings haben beider Seiten nach Überwachung und sich Kämpfer gegenüber OSZE-Beob- der Sicherheit der Missionsangehöri- achtern schon häufiger als russische gen abwägen. Eine Pufferzone zwi- Staatsbürger zu erkennen gegeben, schen den Lagern zu bilden oder als was dann selbstverständlich Eingang Schutzschild zu fungieren, wäre nicht in die Tagesberichte fand. nur zu gefährlich, es würde auch klar das Mandat der Mission sprengen. Nachts unterwegs? In den vergangenen 18 Monaten Dass die Beobachter unbewaffnete hat die OSZE viel getan, um ihre Be- Zivilisten sind, bedeutet auch, dass obachtungskapazitäten zu erweitern. sie bei dem derzeitigen Gewaltniveau Sie hat 14 vorgeschobene Patrouillen- nur bei Tageslicht Patrouillen durch- stützpunkte („Forward Patrol Bases“) führen können. Wie alle eingerichtet – dauerhaft bemannte OSZE-Beobachter Konfliktparteien wissen, Stützpunkte, aus denen heraus die können keine finden aber die meisten Beobachter entlang der Kontaktlinie großen Angriffe nachts operieren können, was die Anfahrts- Peacekeeper sein statt. Die Beobachter hiel- zeiten reduziert. Diese Stützpunkte ten „Bürozeiten“ ein und liegen in der Regel nah an bekann- würden keinen Beitrag leisten, „den ten Krisenherden, etwa Switlodarsk einzigen Krieg in Europa zu been- und Debalzewe, und werden nur nach den“, hieß es vergangenen Juli in der dem Erhalt von Sicherheitsgarantien New York Times.2 Das hat dazu ge- der jeweiligen Seite eröffnet. Es gibt führt, dass nun dringlicher auch auch Nachtposten in Hotels und ins- nächtliche Patrouillen der OSZE ge- tallierte 24-Stunden-Überwachungs- fordert werden. kameras an hart umkämpften Orten Es ist allerdings zweifelhaft, dass wie dem Flughafen von Donezk und das Aussenden von Beobachtern in Schyrokyne. der Nacht irgendetwas ändern wür- Und die OSZE hat begonnen, klei- de. Wahrscheinlicher ist, dass ange- nere Drohnen zur Beobachtung von sichts strikter Ausgangssperren und Gegenden einzusetzen, die zu betre- der angespannten Lage entlang der ten zu gefährlich wären. Zuvor hat- Kontaktlinie jedes Fahrzeug oder jede te die Mission Langstreckendrohnen Person, die sich in der Dunkelheit ei- im Einsatz, aber deren Flüge wurden

2 Andrew Kramer: Keeping Bankers’ Hours, European Observers Miss Most of Ukraine War, New York Times, 28.7.2016.

52 IP • März / April 2017 Zwischen den Fronten

im Sommer 2016 eingestellt, nachdem Dass die Beobachtermission eine es zu einer Serie von Abstürzen kam, unbewaffnete ist und die OSZE eine die auf direkten Beschuss zurückzu- zivile Organisation, macht sie für bei- führen waren. de Konfliktparteien akzeptabel und Der neue amtierende OSZE-Vor- passt zum Geist des Minsker Abkom- sitzende, Österreichs Außenminister mens, das ja eine friedliche Rück- Sebastian Kurz, hat erklärt, die Mis- kehr der abtrünnigen Gebiete unter sion weiter stärken zu wollen. Nach die Kontrolle Kiews vorsieht. Ihre Be- Gesprächen mit seinem russischen waffnung, die Kiew seit Amtskollegen Sergej Lawrow am einem Jahr fordert, würde Ziel bleibt die fried- 18. Januar 2017 schlug Kurz vor, die (darauf wies das Auswär- liche Rückkehr der Beobachtungen auch auf die Nacht- tige Amt bereits im April stunden auszuweiten und die Beob- 2016 hin) eine ganze Rei- abtrünnigen Gebiete achter besser auszurüsten. Lawrow he neuer schwieriger Prob- erklärte, die Zahl der Beobachter leme schaffen. Die Kosten dürften zu- sollte erhöht werden; auch sollten sie dem um ein Vielfaches höher liegen als rund um die Uhr Präsenz zeigen. das derzeitige SMM-Jahresbudget von Das muss aber nicht bedeuten, knapp 100 Millionen Euro. Denn für dass künftig auch in der Nacht pat- ein „robustes“ Peacekeeping in der rouilliert wird. Wie bisher können Ostukraine müsste die internationale riskante Nachtoperationen mit Hilfe Gemeinschaft eine wenigstens 50 000 technischer Ausrüstung wie Kame- Mann starke Truppe aufstellen. ras und Drohnen ausgeführt werden, Für die Zukunft der OSZE-Be- während die Beobachter Vollzeitprä- obachtermission dürfte vor allem senz vor allem an Waffenlagern und die Haltung Russlands entscheidend an den vorgeschobenen Patrouillen- sein. Moskau hat bei der Vergröße- stützpunkten demonstrieren können. rung der Mission in der Vergangen- heit eine entscheidende Rolle gespielt. Spiegelbild der Ukraine-Politik Gleichzeitig lässt die russische Füh- Die Beschränkungen der OSZE-Beob- rung es zu, dass die Separatisten die achtermission sind Ausdruck dessen, OSZE-Beobachter deutlich häufi- was der Westen für die Wiederher- ger in ihrer Arbeit behindern als die stellung der ukrainischen Souveräni- Regierungstruppen. Gäbe es einen tät im Donbass zu tun bereit ist. Kiew entsprechenden politischen Willen, hatte zunächst eine UN- oder gar könnte die Effektivität der Beobach- ­NATO-geführte internationale Frie- termission relativ leicht wesentlich denstruppe gefordert und tritt mittler- gesteigert werden. weile für eine bewaffnete Polizeimis- sion ein. Unter den führenden westli- Nikolaus von Twickel chen OSZE-Mitgliedstaaten herrscht ist Journalist in Berlin. Einigkeit, dass der Konflikt nur mit Von 10/2015 bis 3/2016 war er Medienverbin- und nicht gegen Russland gelöst wer- dungsoffizier für die den soll. Somit kommt der OSZE als OSZE-Beobachtungs- einziger regionaler Sicherheitsorgani- mission in Do­nezk. sation mit russischer Mitgliedschaft Dies ist seine persön- liche Meinung. automatisch eine Schlüsselrolle zu.

IP • März / April 2017 53 Gegen den Strich

Sanktionen

Sascha Lohmann | Wenn es darum geht, Druck auf andere Staaten auszu- üben, gelten Sanktionen als probates Mittel unterhalb der Schwelle mili- tärischer Gewalt. Mit Recht? Handelt es sich bei diesen Strafmaßnahmen nicht um reine Symbolpolitik? Und treffen sie am Ende nicht die Regie- renden, sondern nur die Bevölkerung? Fünf Thesen auf dem Prüfstand.

Sanktionen sind ein innovatives Instrument und Ausdruck moderner Außenpolitik

Weder noch. Der Einsatz von Sanktionen gehört seit mehr als 2000 Jahren zum Standardrepertoire internationaler Politik. Diplomatische Beziehungen, militärische Zusammenarbeit, Handels- und Finanztransaktionen, Transport- und Kommunikationsströme: Die Liste der Austauschverhältnisse, die sich mit Hilfe von Sanktionen teilweise oder ganz unterbrechen lassen, ist lang. Zudem wurden und werden Sanktionen seit der Antike als flankierende Maßnahmen für weitergehende Aktionen verhängt – etwa als Ergänzung zu militärgestütz- ten Belagerungen oder Seeblockaden. Die verheerenden Erfahrungen zweier Weltkriege haben in den westli- chen Gesellschaften ab Mitte des 20. Jahrhunderts zu einer weitgehenden Ächtung militärischer Gewaltanwendung als Mittel der Außenpolitik ge- führt. Völkerrechtlich fand das Eingang in der Charta der Vereinten Natio- nen; gesellschaftlich spiegelte es sich dadurch wider, dass die Bevölkerung immer weniger bereit war, eigene Kriegsopfer zu akzeptieren. All das führte dazu, dass der Einsatz militärischer Gewalt fortan nur noch als Ultima Ratio infrage kam. Ein Wandel, der auch den Einsatz von Sanktio- nen beeinflusste. Je weniger Krieg eine Option der Politik war, desto stärker griff man auf Sanktionen zurück – nun nicht mehr als ergänzende Maßnahme, son- dern als Ersatz. Während die (Atom-)Waffen der Supermächte im Kalten Krieg schwiegen, verschärfte der langjährige Einsatz von Sanktionen durch die USA und ihre Verbündeten die Schwierigkeiten der Länder des Ostblocks – und brach- te sie dem wirtschaftlichen Zusammenbruch Ende der achtziger Jahre näher.

54 IP • März / April 2017 Sanktionen

Bild nur in Printausgabe verfügbar

Sanktionen treffen Unbeteiligte Diese Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen. Dass umfassende Sank- tionen gravierende humanitäre Folgen haben und immenses Leid für die Zi- vilbevölkerung bringen können, zeigte sich in den neunziger Jahren am Bei- spiel Irak. Seither ist ein so umfassender Einsatz von Sanktionen, wie er da- mals praktiziert wurde, weithin geächtet. Man greift zu diesem Mittel im Großen und Ganzen nur noch selektiv. So richten sich Finanz- und Reise- beschränkungen gegen einzelne Personen, Organisationen und Einrichtun- gen, die des Terrorismus, der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, der Verletzung von Menschenrechten oder neuerdings auch der Durchfüh- rung von Cyberangriffen beschuldigt werden. Neben diesen außen- und sicherheitspolitischen Bedrohungen werden Sanktionen auch auf Tatbestände der transnational organisierten Krimina- lität angewandt, etwa, um Korruption, Geldwäsche oder Steuerhinterziehung zu bekämpfen. Ganz neu ist ein selektiver Einsatz in Form so genannter in- telligenter Sanktionen („smart sanctions“) keineswegs. Bereits im Zweiten Weltkrieg führten die Vereinigten Staaten und Großbritannien schwarze Lis- ten für deutsche, italienische und japanische Unternehmen, mit denen ame- rikanische und britische Firmen unter Strafandrohung keine Geschäftsbe- ziehungen unterhalten durften. Doch auch die intelligentesten Sanktionen bieten keine Gewähr dafür, dass Unbeteiligte verschont bleiben. Das hat damit zu tun, dass die Auswir- kungen von Sanktionen sich über ausgesprochen verschlungene und schwer

IP • März / April 2017 55 Gegen den Strich

berechenbare Pfade entfalten. Die Folgen können politischer, wirtschaftli- cher und sozialpsychologischer­ Natur sein. Präzise voraussagen lassen sie sich nicht. Statt der gewünschten Wirkungen treten dann meist unvorherge- sehene und ungewollte Kollateralschäden auf.

Mit Finanzsanktionen lassen sich unerwünschte Nebenwirkungen vermeiden

Leider auch nur bedingt. Dieses wegen seiner angeblich chirurgischen Prä- zision oft gerühmte Sanktionsinstrument hat ebenfalls seine Tücken. Das hat vor allem mit der dominanten Stellung westlicher Währungen, insbesonde- re des US-Dollars, im internationalen Finanzsystem zu tun. Denn dadurch mangelt es an sicheren und komfortablen Alternativwährungen für die Ab- wicklung von Zahlungen, dem Tätigen von Investitionen und der Aufbewah- rung von Guthaben. Finanzsanktionen lassen sich also kaum unterlaufen, und damit entfalten sie eine weit durchschlagendere Wirkung als klassische Handelssanktionen wie Import- und Export­beschränkungen von Gütern und Dienstleistungen. Zudem erfordert ihre Umsetzung nur eine schlanke staatliche Bürokratie. Die personalintensive Überwachung von weltweit tätigen Unternehmen wird nämlich von den Firmen selbst geleistet – vornehmlich aufgrund der Angst vor empfindlichen Strafen, die bei aufgedeckten Verstößen drohen. Dazu zählen neben hohen Geldbußen und langjährigem Freiheitsentzug auch die existenz- bedrohenden Folgen einer „Listung“ wegen der Umgehung von Sanktionen. Je ausufernder und komplexer die Sanktionsbestimmungen nun aber aus- fallen, desto wahrscheinlicher wird es für Unternehmen, mit den Falschen in Kontakt zu kommen und einen Sanktionsverstoß zu riskieren, der sie teu- er zu stehen kommt. Angesichts dieser Ungewissheit kann es dann trotz an sich günstiger Geschäftsaussichten wirtschaftlich sinnvoll erscheinen, sich aus Märkten zurückzuziehen, in denen gelistete Personen, Organisationen und Einrichtungen tätig sind. Ein solches Verhalten, das man nach wirtschaftswissenschaftlichen Kate- gorien als „risikobasiert“ bezeichnen würde, ist zunächst einmal völlig nach- vollziehbar. Doch die Hoffnungen auf politische Feinsteuerung, die bisher mit dem Einsatz selektiver Sanktionen einherging, erhalten dadurch einen empfindlichen Dämpfer. So weigerten sich etwa internationale Banken Ende 2012, die Lieferung medizinischer Güter an den Iran zu finanzieren, worauf es zu Engpässen bei lebensrettenden Medikamenten kam. Zur gleichen Zeit nahm aufgrund von Einschränkungen des Imports petrochemischer Erzeugnisse die Qualität der Treibstoffe für Kraftfahrtzeuge im Land dramatisch ab – mit der Folge, dass die Luftverschmutzung im Großraum Teheran lebensbedrohliche Ausmaße annahm. Zudem trafen die Sanktionen auch Mitarbeiter humanitärer Orga- nisationen vor Ort und iranische Studierende im Ausland: Aus Angst vor

56 IP • März / April 2017 Sanktionen

möglichen Verletzungen des unübersichtlichen Sanktionsgeflechts sperrten Banken ihre Konten in vorauseilendem Gehorsam. Statt also ein gewünschtes Verhalten wirksam zu befördern, kann der Einsatz von Finanzsanktionen das Geschäftsklima selbst unter lediglich in- direkt betroffenen Marktteilnehmern nachhaltig eintrüben. Damit werden die weltoffenen und am wirtschaftlichen Austausch interessierten Teile der Bevölkerung weiter geschwächt. Die politischen Eliten dagegen profitieren von der neuen Lage, weil sie sich mithilfe des unvermeidlich entstehenden Schwarzmarkts bereichern können. Entstehen wie im Fall Iran Engpässe bei medizinischen Produkten, kann die Wirkung eines selektiven Einsatzes den fatalen Folgen von umfassenden Sanktionen ziemlich nahe kommen. Im Übrigen zeigt das Beispiel Russland, dass der Trend zu immer kleintei- ligeren und selektiveren Sanktionen nicht zwangsläufig ist. In Reaktion auf die Ukraine-Politik des Kremls verhängten die Vereinigten Staaten und die Europäische Union so genannte sektorale Sanktionen. Diese unterbinden den Transfer von Hochtechnologie zur Erschließung neuer Erdölquellen sowie den Zugang zu westlichem Kapital. Ob die Aussicht auf eine langfristige Schwä- chung der russischen Volkswirtschaft den Kreml zu einem Kurswechsel in sei- ner gegenwärtigen Ukraine-Politik bewegen wird, scheint allerdings ungewiss.

Sanktionen befördern Verhaltensänderungen Jedenfalls nicht die gewünschten. Wenn Sanktionsbefürworter erklären, welche Art von Strafmaßnahmen eine echte Verhaltens­änderung bewirken können, dann stützen sich ihre Empfehlungen auf die weitverbreitete, aber unbegründete Annahme, dass dafür der mit Sanktionen erzeugte wirtschaft- liche Schaden nur hoch genug ausfallen müsse. Daran ist soviel richtig, dass die Verwundbarkeit des „Empfängers“ umso größer ist, je stärker die Wirtschaftskraft zwischen „Sender“ und „Empfän- ger“ auseinanderklafft. Doch damit ist keineswegs garantiert, dass ein Einsatz von Sanktionen zur Verhaltensänderung führt. Im Gegenteil, die Erfahrungen mit Sanktionen aus ganz unterschiedlichen Bereichen – von der Kindererzie- hung über den Umgang mit Straftätern bis hin zur Politik – nähren beträcht- liche Zweifel daran, dass sich durch Zwang eine gewünschte Verhaltensände- rung herbeiführen lässt. Kriminologische Studien zeigen, dass positive Anreize weitaus wirksamer sein können. In sozialpsychologischen Gruppenexperimen- ten wurde nachgewiesen, dass Sanktionen die Kooperationsbereitschaft ihrer Empfänger eher herabsetzen und dadurch gewünschtes Verhalten behindern. Entscheidend dafür, ob der Empfänger einlenkt oder nicht, ist gar nicht so sehr die Intensität von Sanktionen. Es sind weit mehr die Beweggründe, die dem sanktionierten Verhalten zugrunde liegen, und die subjektive Wahrneh- mung, wie groß der dadurch erzeugte Schaden ist. Das Kosten-Nutzen-Kalkül fällt je nach sozialer Beziehung zwischen Sender und Empfänger höchst un- terschiedlich aus – denn es macht einen Unterschied, ob es ein Verbündeter, ein Rivale oder Gegner ist, der eine Verhaltensänderung fordert.

IP • März / April 2017 57 Gegen den Strich

Unter Verbündeten, die grundsätzlich die gleichen strategischen Ziele ha- ben, dürfte ein geschickter Einsatz von Sanktionen der weiteren Zusammen- arbeit im Zweifel nicht schaden – im Idealfall sogar nutzen. Unter rivalisie- renden Handelspartnern wiederum wird es darum gehen, durch Sanktio- nen den Marktzugang für eigene Unternehmen zu gewährleisten oder durch Schutzzölle unliebsame Konkurrenz abzuwehren. Ganz anders verhält es sich beim Einsatz von Sanktionen in der Ausein- andersetzung mit Gegnern. Grundsätzlich gilt hier: Je bescheidener das Ziel formuliert wird, desto wirksamer können Sanktionen sein. Das gilt etwa, wenn die Kosten für sanktionswürdiges Verhalten erhöht werden oder wenn ein Gegner im internationalen Wirtschaftsverkehr durch öffentlichkeitswirk- same „Listungen“ an den Pranger gestellt wird. In den meisten Fällen dienen Sanktionen jedoch einem weitaus anspruchs- volleren Ziel: Man will das Verhalten eines Gegners in eine gewünschte Rich- tung steuern. Das kann gelingen, wenn es nur darum geht, die für ein uner- wünschtes Verhalten notwendigen wirtschaftlichen Ressourcen zu entzie- hen. Dafür eignen sich strikte Exportkontrollen und -verbote sowie Finanz- sanktionen, die den Handlungsspielraum ihrer Empfänger einschränken. Soll der Einsatz von Sanktionen jedoch von einem unerwünschten Ver- halten abschrecken oder mögliche Nachahmer warnen, dann wird es schon deutlich schwieriger. Einreiseverbote oder Kontosperren bewirken wenig bei Menschen, die nicht ins westliche Ausland reisen oder ihr Vermögen bei aus- ländischen Finanzinstituten deponiert haben. So gut wie unmöglich schließlich ist es, mit Sanktionen eine regelrechte Verhaltensänderung zu bewirken. Meist geht es dabei um Zugeständnisse, die für den Empfänger mit hohen politischen Kosten verbunden sind – mit Kos- ten, die selbst durch gravierendste wirtschaftliche Nachteile nicht aufgewo- gen werden können. Dazu zählen etwa Forderungen, die den Nationalstolz verletzen, die Frage der staatlichen Souveränität betreffen oder die Existenz eines Regimes bedrohen. Statt eines gewünschten Verhaltens kann der Einsatz von Sanktionen die Entstehung einer Wagenburgmentalität fördern. Das würde den politisch Ver- antwortlichen in die Hände spielen, sind doch Sanktionen für sie ein willkom- mener Sündenbock, um vom eigenen Missmanagement abzulenken. Anstatt Massenproteste auszulösen, die letztlich zum Regimewechsel führen können, stärken Sanktionen nach dieser Lesart eher die Solidarität der Bevölkerung mit den jeweiligen Eliten. Und so spricht vieles dafür, dass auch deutlich verschärf- te Sanktionen den Kreml nicht dazu bewegen können, die völkerrechtswidrige Annexion der Krim rückgängig zu machen. Gleiches gilt für die Forderung ge- genüber der iranischen Führung, ihr Atomprogramm dauerhaft einzustellen. Weitaus wirksamer lassen sich Sanktionen taktisch einsetzen, wenn durch ihre zeitlich begrenzte oder dauerhafte Aufhebung positive Anreize gesetzt werden. Ein aktuelles Beispiel dafür bietet das Atomabkommen mit dem Iran. Hierbei wurde im Gegenzug für eine streng überwachte Begrenzung der Urananreicherung und Plutoniumproduktion ein Großteil der internati- onalen Sanktionen aufgehoben.

58 IP • März / April 2017 Sanktionen

Letztendlich ist es kaum möglich, nachzuweisen, ob und wann Sanktionen eine Verhaltensänderung bewirken. In der internationalen Politik herrschen keine Laborbedingungen, unter denen sich kurz-, mittel- und langfristig auf- tretende direkte und indirekte Wirkungen von Sanktionen auf verschiede- nen Ebenen nachweisen lassen. Dafür müssten neben den zeitgleich statt- findenden Eingriffen des Senders wie der Androhung militärischer Gewalt und verdeckter Sabotage- oder Kommandooperationen auch die makroöko- nomischen Entwicklungen isoliert werden – ein aussichtsloses Unterfangen.

Sanktionen sind schädliche Symbolpolitik Nicht so schnell. Als außenpolitische Allzweckwaffe erschöpfen sich die möglichen Zielsetzungen von Sanktionen nicht darin, den Empfänger von unerwünschtem Verhalten abzuschrecken oder gewünschtes Verhalten zu befördern. In der Tat bleiben die gewünschten Verhaltensänderungen häu- fig aus. Das heißt aber nicht, dass Sanktionen unwirksam, sinnlos oder gar schädlich sind. Eine solche Sicht vernachlässigt all jene Zwecke von Sanktio- nen, die nicht auf eine Verhaltensänderung ihrer Empfänger zielen, sondern darauf, das Selbstbild der Sender aufrechtzuerhalten. So lässt sich mit der Ankündigung, Sanktionen zu verhängen, öffentlich- keitswirksam der Eindruck von Geschlossenheit und Einigkeit vermitteln. Das zeigt sich regelmäßig in den Ankündigungen neuer Sanktionsbeschlüsse durch die Europäische Union oder die Vereinten Nationen, die in mehr oder weniger stark verwässerter Form zuweilen nur den kleinsten gemeinsamen Nenner widerstreitender Interessen markieren. Darüber hinaus scheint der Einsatz von Sanktionen dann geboten, wenn es darum geht, weitaus unattraktivere Alternativen zu vermeiden. Wenn es um schwerwiegende Normbrüche oder menschliches Leid geht, könnte eine ausbleibende Reaktion schnell als Einverständnis mit den Tätern und als Verrat an den Opfern interpretiert werden. Durch die Verhängung von Sanktionen lässt sich der immense Handlungsdruck abbauen, der auf au- ßenpolitischen Entscheidungsträgern in Krisensituationen lastet. Ist ein Militär­einsatz ausgeschlossen, können mithilfe von Sanktionen wirksam Handlungsfähigkeit demonstriert und eine unfreiwillige Komplizenschaft vermieden werden. Durch die Erzeu- gung hoher wirtschaftlicher Kosten Sascha Lohmann lässt sich ein regelwidriges Verhalten ist Stipendiat in der wenn nicht verändern, so doch fort- Forschungsgruppe Amerika der Stiftung laufend bestrafen. Die in Kauf ge- Wissenschaft und nommenen eigenen Kosten signali- ­Politik (SWP) in Berlin. sieren zudem eine deutliche Distan- zierung und dienen als Preisschild für die eigenen Werte.

IP • März / April 2017 59 Brexit

Klare Verhältnisse Die EU tut gut daran, sich auf einen „harten Brexit“ einzustellen

Nicolai von Ondarza | Die Dynamik in London treibt Theresa May zu einer harten Linie, mit Austritt aus dem EU-Binnenmarkt. Doch hinter den Ku- lissen will das Land weitreichenden Zugang zum gemeinsamen Markt er- halten. Zeit für die EU, ihre Interessen zu definieren: eine klare Trennung, und ein partnerschaftliches Verhältnis zum Drittstaat Großbritannien.

Sieben Monate hat sich die britische ell über bilaterale Abkommen prak- Regierung nach dem historischen tizieren. Diese Teilintegration erfor- Votum zum Austritt aus der EU vom dert allerdings die Umsetzung von 23. Juni 2016 Zeit gelassen, um ihre EU-Gesetzgebung, Einzahlungen in Strategie für den Brexit vorzulegen. den EU-Haushalt und die Akzeptanz Das Ergebnis ist wesentlich härter, der ­Freizügigkeit. als viele auf dem Kontinent erwar- Doch auch für einen „harten Bre- tet hatten. Eine vollständige Tren- xit“ mit Austritt aus dem Binnen- nung, auch von EU-Binnenmarkt und markt gibt es verschiedene Spielarten. Zollunion, kündigte Premierministe- Diese reichen von einer vollständigen rin Theresa May am 17. Januar 2017 Trennung und Wiedereinführung in Lancaster House den versammel- von Zöllen im Rahmen der WTO ten europäischen Botschaftern an. über Zollfreiheit mit einem regulären Eine solche vollständige Tren- Freihandelsabkommen bis zu vertief- nung von der Europäischen Union ten Freihandelsabkommen (Kanada) ist nicht die notwendige Schlussfol- oder Assoziierungsabkommen (Uk- gerung aus dem Brexit-Votum. Zu- raine). Auch und gerade nach Mays nächst lässt ein Austritt aus der EU Lancaster-House-Rede stellt sich da- eigentlich viele Möglichkeiten zur her für die EU-27 die Frage, wie sie zukünftigen Gestaltung der Bezie- die Beziehungen mit Großbritannien hungen zwischen dem Vereinigten in einem harten Brexit-Szenario aus- Königreich und der EU offen. Mög- gestalten wollen. lich wäre auch ein „weicher Brexit“ mit weitgehendem Verbleib im Bin- Die politische Dynamik nenmarkt, wie es etwa Norwegen Von Großbritannien ist in den Ver- über den Europäischen Wirtschafts- handlungen eine Doppelstrategie zu raum (EWR) oder die Schweiz parti- erwarten. Auf der einen ­Seite stützt

60 IP • März / April 2017 Klare Verhältnisse

die politische Dynamik in London mentariern und Parteichef Jeremy auch mittelfristig den harten Bre- Corbyn gelähmt. Zudem haben die xit-Kurs der Regierung May. Das Re- Wähler in knapp zwei Dritteln der ferendum entfaltet eine demokrati- von Labour gehaltenen Wahlkreise sche Bindewirkung, die nach öffent- für den Brexit gestimmt, so dass die licher Wahrnehmung über regulä- Partei in dieser Frage besonders ge- re Wahlen hinausgeht. Aus Sicht der spalten ist. Dass Corbyn beim „Arti- Regierung war der Volksentscheid vor kel 50“-Votum des Unterhauses ver- allem ein Votum gegen die Freizügig- suchte, einen Fraktionszwang durch- keit und Einschränkungen der Souve- setzen und geschlossen für den Be- ränität, die dementsprechend als Ver- ginn von Austrittsverhandlungen handlungsziele weit über wirtschaft- stimmen zu lassen, hat Labour end- lichen Interessen rangieren. gültig ins Chaos gestürzt. Es gibt keine Variante eines wei- Die einzige starke Opposition ge- chen Brexits, die mit diesen Zielen gen die Politik der Premierministe- und dem Selbstverständnis Großbri- rin kommt von den scharfen EU-Geg- tanniens als zumindest regionaler nern in ihrer eigenen Partei, die ei- Macht vereinbar sind. In seltener Ei- nen möglichst vollständigen Bruch nigkeit haben die EU-27 direkt nach mit der EU fordern. Dies dem Brexit-Votum deutlich gemacht, wurde besonders in parla- Mays Opposition dass eine partielle Teilnahme am Bin- mentarischen Manövern sind EU-Gegner in nenmarkt ohne Freizügigkeit oder um die Aktivierung des die Akzeptanz von EU-Regeln nicht Artikel 50 deutlich: Alle den eigenen Reihen möglich sei. Selbst klare Befürworter Forderungen zur stärke- der EU-Mitgliedschaft innerhalb der ren parlamentarischen Kontrolle der Konservativen Partei lehnen aber ei- Brexit-Verhandlungen wurden mit nen solchen Status als Empfänger von der knappen Mehrheit der Konserva- EU-Regeln ohne Mitspracherechte ab. tiven Partei abgelehnt. May hat da- Die Zurückweisung jeglicher Juris- mit innenpolitisch freie Hand für ih- diktion des Europäischen Gerichts- ren harten Verhandlungskurs gegen- hofs und der Übernahme von EU-Ge- über der EU. setzgebung ist dabei ein mindestens Schließlich, und das ist in sei- genauso großes Hindernis für einen ner Wirkung auf die öffentliche Mei- weichen Brexit wie das angestrebte nung nicht zu unterschätzen, waren Ende der Freizügigkeit. die wirtschaftlichen Auswirkungen Außerdem gibt es gegen einen har- des Brexit-Votums im Gegensatz zu ten Brexit keine starke Opposi­tion, den teils apokalyptischen Vorhersa- die den Handlungsspielraum der Re- gen auch des britischen Finanzminis- gierung einschränken könnte. Die La- teriums sehr mild.1 So hat etwa die bour-Partei ist zerstritten und vom Bank of England ihre Wachstumser- Machtkampf zwischen ihren Parla- wartungen für 2017 sukzessive nach

1 Beispielsweise hatte das britische Finanzministerium für das erste Jahr nach dem Brexit-Vo- tum eine Rezession mit einem Rückgang des BIP um 6 Prozent und bis zu 800 000 neuen Ar- beitslosen prognostiziert. Im Gesamtjahr 2016 betrug das britische Wachstum aber trotz Bre- xit-Votum 2,2 Prozent und die Arbeitslosenzahlen blieben auf Rekordtiefstand. Weitgehend erfüllt hat sich bisher nur die Prognose einer Abwertung des Pfundes um knapp 15 Prozent.

IP • März / April 2017 61 Brexit

oben korrigiert, aktuell wird ein hö- Großbritannien fast doppelt so viel heres Wachstum als in Deutschland wie nach China. erwartet. Zwar ist Großbritanni- Die britische Regierung will da- en noch nicht aus der EU ausgetre- her ihre harte Brexit-Strategie in ten und nimmt weiterhin vollstän- zweierlei Hinsicht wirtschaftlich ab- dig am Binnenmarkt teil; in der öf- federn. Sie strebt möglichst noch in- fentlichen Wahrnehmung aber sind nerhalb der Zweijahresfrist zur Ver- die Kosten des Brexit-Votums bisher handlung der Austrittsmodalitäten marginal. Dies stärkt die Argumen- ein tiefes Freihandelsabkommen mit tation der EU-Gegner, nach der Groß- der Europäischen Union an. Dieses britannien als fünftgrößte Wirtschaft Abkommen soll nach Wunsch Lon- der Welt auch einen harten Brexit gut dons die Regelungen des Binnen- verkraften könne. markts – auch in Bezug auf gegensei- Diese Faktoren werden auch mit- tige Anerkennung, Dienstleistungs- telfristig dafür sorgen, dass die briti- freiheit und Zugang zum EU-Finanz- sche Regierung kaum von einer Ver- markt – so weit wie möglich analog handlungslinie in Richtung hartem widerspiegeln. Brexit abweichen wird. Eine solche „Binnenmarkt-Mit- Die Exporte nach Vier rote Linien hat May gliedschaft durch die Hintertür“ Irland sind doppelt so für jede Einigung über die würde jedoch genau zu dem führen, zukünftigen Beziehungen was die EU-27 bisher ablehnen: Groß- hoch wie nach China zur EU gezogen: keine britannien genösse dann weiterhin Fortsetzung der Freizü- ungehinderten Zugang zum größten gigkeit, keine Umsetzung von EU-Ge- Markt der Welt, ohne sich dessen Re- setzgebung, keine Verbindlichkeit geln und Pflichten zu unterwerfen. von Urteilen des Europäischen Ge- Genährt wird diese Strategie von der richtshofs und die Souveränität, eige- Überzeugung, dass die EU mit der ne Freihandelsabkommen mit Dritt- weiterhin krisenhaften Situation in staaten abzuschließen. Jegliche Teil­ Teilen der Euro-Zone und aufgrund integration in den EU-Binnenmarkt, der Bedeutung der City of London aber auch in die EU-Zollunion, ist da- mehr unter einem harten Bruch lei- mit vom Tisch. den würde als umgekehrt. Zudem will London den Ver- Binnenmarkt durch die Hintertür? lust an Zugang zu den bisherigen Auf der anderen Seite ist das Inter- Freihandels­abkommen der EU, der esse Großbritanniens an einem mög- mit dem Austritt aus der Zolluni- lichst ungehinderten Zugang zum on einhergeht, durch eigene Abkom- EU-Binnenmarkt – dem Projekt der men mit einer möglichst großen An- bisherigen britischen Europapolitik – zahl an Drittstaaten „ersetzen“. Rü- trotz dieser Faktoren weiterhin un- ckendeckung bekommt Großbritanni- gemindert groß. Das Vereinigte Kö- en hierbei vom neuen US-Präsidenten nigreich exportiert 47 Prozent sei- Donald Trump, der als erklärter Bre- ner Waren in die EU-27, die zusam- xit-Befürworter den schnellen Ab- men weit wichtiger für die britische schluss eines amerikanisch-briti- Wirtschaft sind als die USA. Allein schen Freihandelsabkommens aus- ins EU-Mitglied Irland exportiert drücklich befürwortet, zumal es sei-

62 IP • März / April 2017 Klare Verhältnisse

Bild nur in Printausgabe verfügbar

ne Strategie eines Umschwenkens auf Großbritannien. Auf die Kosten der bilaterale statt multilaterale Handel- harten Brexit-Strategie hat die Pre- sabkommen ergänzt. Mit einem sol- mierministerin May die Bevölkerung chen transatlantischen Abkommen bisher in keiner Weise vorbereitet. als Beispiel will die britische Regie- rung möglichst zum Tag des Austritts Scheitern nicht ausgeschlossen weitere Freihandelsabkommen vor al- Für die EU-27 wurzelt eine solche lem mit langjährigen Partnern wie Strategie eher im Wunschdenken – Australien, Neuseeland und Kanada, zumal sie widersprüchliche Ziele ent- perspektivisch aber auch mit Indien hält, die zu erreichen illusorisch ist. und China aushandeln. Den Zugang zu seinem wichtigsten Diese „Global Britain“-­Strategie Handelspartner einzuschränken, ist soll den EU-Austritt mit neuen Mög- ein denkbar schlechter Auftakt für lichkeiten anstatt hohen Kosten ver- eine Freihandelsinitiative. Auch die knüpfen. Kurzfristig hat sie damit zu- wirtschaftliche Abhängigkeit ist sehr mindest bei der britischen Bevölke- asymmetrisch: Großbritannien ex- rung Erfolg: Laut einer YouGov-Um- portiert 47 Prozent in die EU, die EU frage unterstützen 57 Prozent der aber nur etwa 10 Prozent nach Groß- Briten Mays Kurs, den kompletten britannien. Austritt aus EU-Binnenmarkt und Zudem ist weder realistisch, Zollunion eingeschlossen. Ebenso dass die EU und Großbritannien ist eine Mehrheit der Briten davon im Zeitrahmen von zwei Jahren pa- überzeugt, dass die EU unter einem rallel zu den Austrittsmodalitäten Abbruch der Verhandlungen und der ein vertieftes Freihandelsabkom- Wiedereinführung von Zöllen wirt- men aushandeln – das entsprechen- schaftlich mehr leiden würde als de Abkommen mit Kanada (CETA)

IP • März / April 2017 63 Brexit

ist auch nach über zehn Jahren noch willt sei, ihr einen „fairen Deal“ zu- nicht vollständig ratifiziert. Noch zubilligen. dürfte die EU ein dem Binnenmarkt vergleichbares Freihandelsabkom- Großbritannien als Drittstaat men ohne die mit dem Binnenmarkt Welche Optionen hat in dieser Kon­ verknüpften Pflichten akzeptieren. stellation die EU? Erstens hat die bri- Insbesondere eine Umsetzung von tische Strategie in Richtung harter EU-Regulierung in Bereichen mit Brexit für die übrigen 27 EU-Länder vollständigem Marktzugang und auch Vorteile: Die Trennlinie zwi- ein Streitschlichtungsverfahren mit schen Mitgliedstaaten und Nicht-Mit- Rückbindung an den Europäischen gliedstaaten bleibt bestehen. Vor Be- Gerichtshof sollten Grundvorausset- ginn der Verhandlungen ist nunmehr zungen für jedes tiefere Freihandels- klar: Großbritannien wird mit dem abkommen sein. Brexit zum Drittstaat, Teilintegrati- Gleichermaßen benötigen auch on à la Norwegen oder Schweiz ist die USA im Durchschnitt über vier praktisch ausgeschlossen. Das muss Jahre für die Aushandlung und Rati- im Umkehrschluss auch bedeuten, fizierung von Freihandelsabkommen. dass zentrale Aspekte des Binnen- Einzige Ausnahmen sind markts wie gegenseitige Anerken- London dürfte der EU Abkommen, bei denen nung, Dienstleistungsfreiheit oder die Schuld für die Washington dem Partner „Passporting“ für Finanzunterneh- die Bedingungen diktie- men nicht Teil eines Freihandels­ Kosten zuschieben ren konnte. Großbritan- abkommens werden können. Handel- nien, unter hohem Zeit- sabkommen wie mit anderen Dritt- druck und wesentlich stärker auf den staaten, von der Zollfreiheit bis zur Abschluss eines amerikanisch-briti- vertieften Zusammenarbeit, sind schen Abkommens angewiesen als aber möglich, solange Großbritan­ die USA, dürfte dafür einen hohen nien die darin üblichen Mechanis- Preis zahlen. men wie Streitschlichtungsverfah- Die Verhandlungen zwischen der ren akzeptiert. EU und Großbritannien beginnen Zweitens sollten die EU-27 ihre also mit einer schweren Hypothek. kommunikativen Defizite beheben. Alle Formen eines weichen Brexits Durch die Strategie „No negotiati- scheinen ausgeschlossen, während on before notification“ – keine Ver- sogar die härteste Form des Brexits handlungen vor Beginn der „Ak- mit Wiedereinführung von Zöllen in tivierung“ des Austrittsprozesses den Bereich des Möglichen gerückt ist nach Artikel 50 – haben sie die öf- – sei es durch ein Scheitern der Ge- fentliche Kommunikation zum Bre- spräche oder die Ablehnung der Bri- xit bis dato fast ausschließlich den ten jedweder gemeinsamer Mechanis- Briten überlassen. Auch hat die briti- men, um privilegierten Zugang zum sche Regierung angesichts der europa- EU-Binnenmarkt zu erhalten. Dabei weit präsenten britischen Medien und besteht zusätzlich die Gefahr, dass der traditionellen Kommunikations- die britische Regierung jegliche Kos- schwäche der EU-Kommission – bald ten der harten Brexit-Strategie darauf Verhandlungsführerin der EU-27 – schieben wird, dass die EU nicht ge- große Vorteile, die öffentliche Mei-

64 IP • März / April 2017 Klare Verhältnisse

nung zu beeinflussen. Die Verhand- Seiten von den harten Verhandlungen lungen werden auch die Diskussion über die wirtschaftlichen Fragen ge- in den EU-Staaten beeinflussen. Des- trennt werden. halb sollten die EU-27 die Brexit-Ver- Nicht zuletzt liegt es fünftens in handlungen mit einer eigenen Kom- der Verantwortung der EU, die be- munikationsstrategie begleiten. sonderen Interessen einzelner Mit- Drittens ist strategische Geduld glieder in den Brexit-Verhandlun- ein wichtiges Element. Sobald Groß- gen gemeinsam zu schützen. Dies britannien seine Absicht erklärt hat, betrifft beispielsweise den Umgang die EU zu verlassen (voraussichtlich mit EU-Bürgern in Großbritannien am 9. März 2017), beginnt die Zwei- oder den Status von Gi- Jahres-Frist. Diese kann nur ein- braltar. Von besonderer Die irisch-britische stimmig verlängert werden. Steht Bedeutung ist aber vor al- Grenze wird zu einer an ihrem Ende keine Einigung, fällt lem die Grenze zwischen Großbritannien auf den Status eines der Republik Irland und EU-Außengrenze WTO-Staates zurück. Es ist daher vor Nordirland, die mit dem allem London, das auf eine Verständi- Brexit zur EU-Außengrenze wird. gung auf ein weitreichendes Freihan- Die bisherige Offenheit dieser Gren- delsabkommen oder zumindest auf ze ist für Irland nicht nur in wirt- eine Übergangslösung angewiesen ist. schaftlicher Hinsicht, sondern auch Je näher das Ende der Frist rückt, des- für den (nord)irischen Friedenspro- to mehr kann die EU Großbritannien zess von entscheidender Bedeutung. vor die Wahl stellen, für die Aufrecht- Zudem haben knapp 20 Prozent erhaltung des Marktzugangs europäi- der Einwohner Nordirlands die iri- sche Regeln zu akzeptieren. sche und damit die EU-Staatsbürger- Viertens ist auch die EU weiterhin schaft. Obgleich sich May für die Of- an einer engen Zusammenarbeit mit fenheit der irisch-britischen Grenze dem britischen Partner in anderen ausgesprochen hat: Sobald Großbri- Feldern jenseits des Binnenmarkts tannien Zollunion und Binnenmarkt interessiert, insbesondere in der äu- verlässt, werden Kon­trollen an der ßeren und inneren Sicherheit. Auch neuen EU-Außengrenze notwen- hier hat der „Faktor Trump“ das eu- dig. Hier sollte die EU auf eine Lö- ropäische Interessengefüge verändert. sung drängen, die die weitere Offen- Je mehr die neue US-Administration heit der Grenze ermöglicht – auch, auf Distanz zur EU (und zur NATO) um den Mehrwert der EU-Mitglied- geht, je mehr sie in zentralen außen- schaft für die Vertretung einzelner und sicherheitspolitischen Fragen mit Mitgliedstaaten zu demonstrieren. bisherigen gemeinsamen Positionen bricht, desto wichtiger wird es, Groß- Dr. Nicolai von britannien im europäischen Main- Ondarza ist stellver- stream zu halten. Dies betrifft u.a. die tretender Forschungs- Sanktionen gegen Russland und die gruppenleiter der Forschungsgruppe­ Ukraine-Politik, den Nahost-Konflikt, EU/Europa der Stiftung Syrien und den Iran. Die Kooperati- Wissenschaft und on in der Außen- und Sicherheitspo- ­Politik (SWP) in Berlin. litik sollte daher im Interesse beider

IP • März / April 2017 65 Brexit

Britische Trümpfe London wird die Sicherheitspolitik in den Brexit-Verhandlungen nutzen wollen

Sophia Besch | Premierministerin Theresa May hat signalisiert, bei den Austrittsverhandlungen mit der EU auch Großbritanniens militär- und si- cherheitspolitisches Gewicht in die Waagschale werfen zu wollen. Ein ris- kantes Spiel für die EU, aber auch für die Briten. Sinnvoll und zum Wohle aller wäre eine privilegierte Partnerschaft.

Noch haben die Austrittsverhandlun- kräfte spielen bei der kollektiven Ver- gen Großbritanniens mit der EU nicht teidigung Europas eine wichtige Rol- offiziell begonnen, doch ist schon le, auch wenn sie in den vergangenen klar: Kein Politikfeld dürfte vom Bre- Jahren unter dem Spardiktat der Re- xit unberührt bleiben, auch nicht die gierungen von David Cameron finan- sicherheits- und verteidigungspoliti- zielle Einschnitte hinnehmen muss- sche Zusammenarbeit. Für Premier- ten. Darüber hinaus sind die Professi- ministerin Theresa May ist der briti- onalität und Ausbildungsfähigkeiten sche Beitrag zur europäischen Sicher- des britischen Militärs von erhebli- heit offenbar sogar einer ihrer wich- chem Nutzen für die europäische Au- tigsten „Trümpfe“, um einen „guten ßen- und Sicherheitspolitik, ebenso Deal“ mit der EU für das Vereinig- das diplomatische Netzwerk der Bri- te Königreich zu erzielen – und vie- ten. Schließlich ist das Vereinigte Kö- le europäische Regierungen unter- nigreich ein unverzichtbarer Partner schätzen die Möglichkeiten, die sich bei der europäischen Terrorismusbe- London in diesem Feld jenseits (we- kämpfung. nig glaubwürdiger) Erpressungssze- Dass Großbritannien diese Fähig- narien bieten. keiten als direktes Druckmittel in den Die Liste der britischen Vorteile Brexit-Verhandlungen einsetzt, ist al- ist lang: Neben Frankreich ist Groß- lerdings eher unwahrscheinlich – britannien eine der beiden europä- und wäre auch wenig ratsam. In Lon- ischen Atommächte und hat einen don hört man zwar vereinzelt Bre- ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. xit-Befürworter danach fragen, war- Es zählt zu den vier EU-Ländern, um britische Soldaten ihr Leben aufs die die NATO-Richtlinie einhalten, Spiel setzen sollten für missgünsti- 2 Prozent des BIP für Verteidigung ge EU-Mitgliedstaaten, die Großbri- auszugeben. Und die britischen Streit- tannien mit einem unvorteilhaften

66 IP • März / April 2017 Britische Trümpfe

Deal „bestrafen“ wollen. Doch ein senen Vereinbarung“ kommen wer- Erpressungsszenario, in dem die bri- de, denn „die Zusammenarbeit zwi- tische Regierung zum Beispiel offen schen Großbritannien und der EU ist damit drohte, ihre NATO-Kontingen- nicht nur erforderlich, wenn es um te aus Osteuropa abzuziehen, falls Po- den Handel geht, sondern auch für len und die baltischen Staaten sich ei- unsere Sicherheit“. Sie wies besonders nem zoll- und barrierefreien Handels­ osteuropäische Regierun- abkommen zwischen Großbritannien gen darauf hin, dass „in London weiß um und den EU-27 für die Nach-Brexit- einer Zeit wachsender Be- den Wert der militäri- Zeit widersetzen sollten, ist nicht zu sorgnis um europäische Si- erwarten. cherheit“ britische Solda- schen Fähigkeiten Zum einen würde solch ein Ver- ten in Polen und Rumäni- ständnis von kollektiver Sicherheit en ihre Pflicht erfüllten. Und sie „er- und Verteidigung – dem von Donald innerte“ alle EU-Staaten daran, dass Trump nicht unähnlich – den politi- britische Nachrichtendienste – „ein- schen guten Willen der EU-27 strapa- zigartig in Europa“ – unzählige ter- zieren, auf den London bei den Bre- roristische Anschläge vereitelt hätten. xit-Verhandlungen angewiesen ist. May hat recht: Die EU ist auch Zum anderen wäre eine solche Dro- nach einem Brexit auf die militäri- hung unsinnig: Auch nach dem Aus- schen und sicherheitspolitischen Fä- tritt aus der EU hat Großbritannien higkeiten Großbritanniens angewie- ein Interesse daran, eigene Ressour- sen – und die Wahl Donald Trumps cen in die Sicherheit und Verteidigung zum US-Präsidenten hat die briti- Europas zu investieren. sche Verhandlungsposition in dieser Denn eine gut funktionieren- Hinsicht noch einmal gestärkt. Denn de europäische Sicherheitsarchitek- Trumps „America First“-Nationa- tur liegt im britischen Interesse – lismus und seine Skepsis gegenüber in der Re­ferendumsdebatte wurde multilateralen Organisationen stellen besonders die NATO von den Bre- die amerikanischen Sicherheitsgaran- xit-Befürwortern immer wieder als tien infrage, auf die sich Europa jahr- Fundament britischer Sicherheit be- zehntelang verlassen hat. zeichnet. Zudem wird London seinen Besonders osteuropäische Staaten Verbündeten – nicht zuletzt den Ver- fürchten eine Annäherung zwischen einigten Staaten – die ungebrochene Trump und Wladimir Putins Russ- sicherheitspolitische Bedeutung ei- land. Der polnische Außenminis- nes „Global Britain“ (Theresa May) ter, Witold Waszczykowski, deutete demonstrieren wollen, was mit ei- schon 2016, während Camerons Be- nem Rückzug aus der europäischen mühungen, einen neuen EU-„Deal“ Sicherheitsverantwortung nicht zu für Großbritannien auszuhandeln, vereinbaren wäre. Kompromissbereitschaft auf der Ba- Dennoch: Die britische Regierung sis einer verstärkten britischen Trup- weiß sehr wohl um den Wert ihrer penpräsenz in Ost­europa an. militärischen Fähigkeiten. In ihrer Auch May investiert zurzeit viel „Brexit-Rede“ in Lancaster House be- Energie in enge Kontakte mit War- tonte May im Januar, sie sei optimis- schau. Im Rahmen eines polnisch-­ tisch, dass man zu einer „angemes- britischen Gipfeltreffens im Dezem-

IP • März / April 2017 67 Brexit

Bild nur in Printausgabe verfügbar

ber 2016 kündigten die Premiermi- nachrichten- und geheimdienstlicher nisterinnen beider Länder eine en- Zusammenarbeit wird das Vereinigte gere Zusammenarbeit an. Zudem hat Königreich in einer Trump-Welt zu ei- sich Polens Beata Szydlo ausgespro- nem noch attraktiveren Partner: Die chen positiv zu den Bestrebungen Vorstöße des neuen Präsidenten – ob Londons geäußert, ein Freihandelsab- es um Folter von Terrorverdächtigen kommen mit der EU abzuschließen. oder ihrer Verschleppung zu extrater- Im Anschluss an die bilateralen Ge- ritorialen „black sites“ geht – sind für spräche versprach May, im April eine die meisten EU-Mitglieder inakzepta- Einheit mit 150 britischen Soldaten bel. Sollte die Trump-Regierung die- in Polen nahe der Grenze zu Kalinin- se Ideen tatsächlich umsetzen, sähe grad zu stationieren. sich Europa wohl gezwungen, die Aber auch EU-Mitgliedstaaten, die enge Zusammenarbeit mit Amerika weniger unmittelbar auf britischen zu lockern – Großbritannien böte sich Schutz angewiesen sind als Polen, ha- dann erst recht als noch engerer Part- ben angesichts geschwächter transat- ner mit globaler Reichweite an. lantischer Beziehungen ein gesteiger- tes Interesse an der sicherheitspoliti- Hoffen auf die „Anglosphere“ schen Zusammenarbeit mit Großbri- Die britische Brexit-Strategie – so tannien. Besonders im Hinblick auf sie denn existiert, was in London das europäische Sanktionsregime ge- oft bezweifelt wird – fußt auf neuen gen Russland ist die EU auf die Un- Handelsabkommen mit Staaten jen- terstützung Großbritanniens ange- seits Europas – insbesondere mit der wiesen – erst recht, sollten die USA „Anglosphere“ wie Kanada, Australi- ihre eigenen Sanktionen gegen den en und Neuseeland –, sobald der Aus- Kreml lockern. Und auch in Sachen tritt aus der EU vollzogen ist. Eine

68 IP • März / April 2017 Britische Trümpfe

schnelle Vereinbarung mit den USA Spielraum hat die britische Premier- wäre für Brexit-Befürworter eine po- ministerin, Donald Trump zu kri- litische Bestätigung der Entscheidung tisieren. Und je mehr die Briten für den EU-Austritt. In diesem Kon- Trumps Sicht der Welt, seinen Pro- text hat die britische Premierminis- tektionismus und seinen Nationa- terin bereits ihre Bereitschaft signa- lismus tolerieren, desto größer wird lisiert, über Trumps diverse Entglei- der Graben zwischen Großbritannien sungen hinwegzusehen, die traditio- und der EU. Anders gesagt: Die An- nell engen Beziehungen zwischen den näherung an Trump ist der Beginn ei- beiden Staaten fortzuführen und den ner riskanten Gratwanderung. Präsidenten noch für dieses Jahr zum Staatsbesuch einzuladen. Und May London kann blockieren dürfte versuchen, die britisch-ameri- Trumps Wahl hat die Bestrebungen kanische „special relationship“ auch innerhalb der EU befördert, die Ge- zu ihren Gunsten in Brexit-Verhand- meinsame Sicherheits- und Verteidi- lungen auszuspielen. gungspolitik (GSVP) zu Sie hat bereits angekündigt, die stärken. Im Anschluss an Die Pläne zur Auswei- sich schnell weitende Kluft zwischen die Veröffentlichung der tung der GSVP sind EU und Trump-Regierung überbrü- „EU Global Strategy“ im cken und zwischen beiden Seiten ver- Sommer 2016 haben der ein Schwachpunkt mitteln zu wollen. Bei ihrem Blitzbe- Europäische Auswärti- such im Weißen Haus gelang es ihr, ge Dienst, die EU-Kommission und Trump ein Bekenntnis zur NATO zahlreiche Mitgliedstaaten dazu Plä- abzuringen. Danach nutzte sie den ne vorgelegt, zum Beispiel solche zur EU-Gipfel von Malta Anfang Febru- Schaffung eines ständigen militäri- ar, um die (vergleichsweise harmlo- schen EU-Hauptquartiers. se) Forderung Trumps nach höheren Diese Pläne zur stärkeren militär- europäischen Verteidigungsausgaben und sicherheitspolitischen Zusam- zu überbringen. menarbeit könnten zum Schwach- Viele europäische Staats- und Re- punkt für die EU in den Brexit-Ver- gierungschefs werden sich schwer da- handlungen werden. Denn solange mit tun, London in der Vermittlerrol- das Vereinigte Königreich noch Mit- le gegenüber den Vereinigten Staa- glied der EU ist, behält London auch ten zu akzeptieren. Wenn May und ein Vetorecht. So kritisierte Bundes- ihre Regierung sich geschickt ver- verteidigungsministerin Ursula von halten und ihr offenkundiges Anse- der Leyen im Zusammenhang EU-in- hen bei Trump nutzen, um europäi- terner GSVP-Verhandlungen­ vergan- sche Sicherheitsinteressen zu vertre- genen Herbst in einem Interview be- ten – idealerweise nach Abstimmung reits: „Der größte Widerstand kommt mit den übrigen EU-Staaten –, dürfte von den Briten, und wir bitten um Großbritannien mit größerem Wohl- Fairness: Wer die EU verlässt, sollte wollen in den Brexit-Verhandlungen nicht in den letzten Tagen noch die rechnen. Karawane blockieren“ (ZEIT, 17. No- Doch je enger Downing Street’s vember 2016). „Sonderbeziehung“ zu Trumps Wei- Britische Diplomaten und Beamte ßem Haus ausfällt, desto ­weniger haben in den vergangenen Monaten

IP • März / April 2017 69 Brexit

zwar signalisiert, dass sich Großbri- re Haltung bei der sicherheitspoliti- tannien nicht querstellen werde, so- schen Kooperation mit Großbritan- lange sich die EU-27 mit Rufen nach nien einnehmen. Der Verhandlungs- einer „EU-Armee“ zurückhielten und kurs der EU ist zurzeit von einem die enge Kooperation mit Grundgedanken geleitet: Großbri- Rufe nach einer der NATO betonten. Doch tannien darf es außerhalb der EU „EU-Armee“ würde eine neutrale britische Po- nicht besser ergehen als innerhalb. sition ist nicht garantiert. Damit sollen andere „Wackelkandi- London ersticken Eine „Duplizierung“ der daten“ von Austrittsbestrebungen ­NATO-Strukturen klar abgeschreckt werden. abzulehnen, ist Tradition in Groß- Mit dieser Begründung sehen viele britannien – und könnte von Trumps Mitgliedstaaten jedes Kooperations- häufig geäußerter Verachtung der EU format, das Großbritannien Privile- bestärkt werden. gien zusichert, kritisch. Die generelle Europa ist also auf britisches Erwartung ist, dass es der britischen Wohlwollen bei der GSVP-Initiati- Wirtschaft außerhalb des Binnen- ve angewiesen – doch auch London markts schlechter gehen wird – was würde von einem guten Arbeitsver- wiederum dazu führen würde, dass hältnis profitieren und hat ein Inte- London seine vergleichsweise hohen resse daran, konkrete Kooperations- Verteidigungsausgaben nicht auf- formate und Assoziierungsmodelle rechterhalten kann. zu entwickeln, mit denen Großbri- Europa kann es sich nicht leisten, tannien auch nach dem Brexit weiter auf die britischen Kapazitäten zu ver- an EU-Militäroperationen teilneh- zichten. Seine Sicherheit, ohnehin ge- men kann, zum Beispiel zur Über- fährdet durch terroristische Bedro- wachung und Stärkung der EU-Au- hungen, eine instabile Nachbarschaft ßengrenzen. im Süden und eine aggressive russi- sche Regierung, steht ohne den ame- Eine privilegierte Partnerschaft rikanischen Sicherheitsschirm auf Anstatt mit dem Veto zu drohen, soll- dem Spiel. Eine strikt von den ge- te London lieber die eigene Position meinsamen Interessen geleitete, enge der Stärke nutzen, um im Verteidi- Zusammenarbeit zwischen Großbri- gungs- und Sicherheitsbereich eine tannien und den 27-EU-Staaten im privilegierte Partnerschaft mit der Bereich Sicherheit und Verteidigung EU auszuhandeln, die Großbritanni- wäre zum Wohle beider Seiten. en auch nach dem EU-Austritt zumin- dest begrenzte Mitbestimmungsrech- Sophia Besch te garantiert. Premierministerin May ist Research Fellow sollte deshalb ganz klar signalisieren, des Centre for Euro­ pean Reform (CER) dass britische Expertise und Kapazi- in London. täten der EU auch nach dem Brexit zur Verfügung stehen. Aber nicht nur die Briten, auch die EU-27 sollten eine pragmatische-

70 IP • März / April 2017 Abschied von Europa

Abschied von Europa Erdogans Politik zum Trotz: Ein Abbruch der Beitrittsgespräche wäre falsch

Michael Thumann | Staatspräsident Erdogan fährt die institutionellen Bezie- hungen zur EU und NATO zurück und findet mit Putins Russland einen neuen Kooperationspartner. Doch Theaterdonner und Symbolpolitik sei- tens der Europäer sind nicht hilfreich; nur konkrete Verhandlungen und gemeinsame Interessen ebnen den Weg in die Zukunft.

Vielleicht lässt sich das Drama im Ver- Bereichen die Türkei unter Präsident hältnis der Türkei zu ihren europäi- Recep Tayyip Erdogan eigentlich noch schen Verbündeten an dieser Meldung ruhigen Gewissens „Verbündeter“ zu am besten erklären: 40 türkische Offi- nennen ist – bei den Werten, beim ziere haben in Deutschland um Asyl EU-Beitrittsverfahren, im Krieg ge- gebeten. Das heißt: 40 NATO-Sol- gen den Terror, bei den Flüchtlingen? daten fliehen von einem Mitglieds- In der deutschen Berichterstattung staat der Allianz in ein anderes, weil über die Türkei dominieren seit Jahr- sie sich im eigenen Land nicht mehr zehnten Nachrichten, die das Land als geschützt fühlen. Ihre Flucht zeigt, Unrechtsstaat mit Kurdenkrieg und was die beiden NATO-Verbündeten Putschkrisen dastehen ließen. Das trennt: Rache oder Rechtsstaat. Die lag auch daran, dass Berichte über die Türkei fordert von Deutschland die erfreulichere Normalität eher lang- sofortige Auslieferung, damit von der weilig waren. Aber diese Normalität Regierung bestellte Richter den Solda- war Wirklichkeit. Die Türkei war bis ten kurzen Prozess machen. In Berlin 2016 eine parlamentarische Demokra- lässt die Bundesregierung, wie es in ei- tie, sie hielt seit 1950 freie Wahlen mit ner Demokratie üblich ist, die Gerich- konkurrierenden Parteien ab, die sich te vor sich hin mahlen, die Asylanträ- schön demokratisch an der Regierung ge werden geprüft. Das kann dauern. abwechselten. Sie hatte relativ freie Als Bundeskanzlerin Angela Mer- Medien, in denen beredte Bürger of- kel Anfang Februar die Türkei be- fen streiten konnten. An den Univer- suchte, war diese Asylkrise nur eine sitäten herrschte freier Diskurs. von vielen Streitigkeiten, die zwi- Diese Normalität war immer wie- schen Deutschland und der Türkei der unterbrochen von Staatsstrei- stehen. Schaut man sich die lange Lis- chen der Armee, von übergriffigen te an, fragt man sich schon, in welchen Premierministern, die ihre Grenzen

IP • März / April 2017 71 Türkei

nicht kannten, von radikalsäkularen schen Regierungen ungarischen Typs Offizieren, die sogar einen Premier- umgeht, denen die Werte der Gemein- minister hinrichteten. Aber das Land schaft egal sind, ist noch ungeklärt. blieb, was es seit 1950 war: eine feh- Doch eine autoritäre Türkei unter lerhafte, sich ständig neu erfindende Präsident Erdogan wird sicherlich parlamentarische Demokratie. nicht EU-Mitglied werden. Erdogan Das ist seit 2016 vorbei. Auf einen selbst will es nicht, eine Mehrheit der Bild nur in Putschversuch von Generälen im Juli Türken zeigt kein Interesse, und eine 2016 folgte die bereits seit Längerem Mehrheit der Europäer ist dagegen. Printausgabe verfügbar geplante Machtausweitung des Prä- Langfristig kann sich alles jedoch sidenten. Zunächst regierte er in ei- ändern, weshalb die von Türkei-Geg- nem institutionalisierten Ausnah- nern in der CSU und im Europäischen mezustand. Er ließ Kritiker inhaftie- Parlament vorgetragene Forderung ren. Intellektuelle traten nach einem Abbruch der Beitrittsge- Ein autoritärer Staat fortan weniger in Talk- spräche grundfalsch ist. Es reicht voll- unter Erdogan wird shows auf, sondern eher kommen, wenn die Gespräche ruhen im Gefängnishof. Im Janu- und neue Kapitel so lange nicht eröff- nicht Mitglied der EU ar 2016 schaffte das Parla- net werden, wie die Voraussetzungen ment die parlamentarische nicht erfüllt sind. Weder Abbruch Demokratie praktisch ab und verab- noch Beschleunigung, sondern Inne- schiedete mit den Stimmen der Regie- halten ist der beste Weg, damit die rungspartei AKP und der nationalis- Türkei nicht vom Gesprächspartner tischen MHP ein autoritäres Präsidi- zum Feind der EU wird. alsystem mit demokratischer Restde- koration. Das Parlament als Zentrum Zerrüttete Ehe der Macht wird es danach nicht mehr Denn immerhin ist die Türkei noch geben. Die Abgeordneten werden ein NATO-Land, mit dem die Ameri- künftig die Rolle der Beifallsspender kaner und die Europäer im Krieg ge- präsidialen Handelns spielen. Im Ap- gen die IS-Dschihadisten zusammen- ril soll das Volk die neue Verfassung arbeiten müssen. Die Betonung liegt absegnen. auf „müssen“, weil auch diese Koope- Kommt es zu diesem Systemwech- ration an klare Grenzen stößt. Sie zei- sel, ist ein Beitritt zur EU in abseh- gen, wo die Türkei eigentlich schon barer Zeit ausgeschlossen. Die Tür- nicht mehr der Partner des Westens kei verabschiedet sich von den Werten ist. Die westlichen Verbündeten ha- Europas, von der Grundlage der Ko- ben ihre Truppen auf der Flugha- penhagener Kriterien. Sie bricht aber fenbasis Incirlik nahe der syrischen auch mit den prowestlichen Werten, Grenze stationiert. Doch der Ein- die sich die türkische Republik selbst satz der NATO-Mitglieder in Syrien gegeben hatte. Aus dem laizistischen ist die Geschichte eines langen Strei- Staat, den Mustafa Kemal Atatürk tes. Die Türkei hat die IS-Dschihadis- 1923 gegründet hatte und der sich ab ten lange Zeit gewähren lassen und 1950 zu einer Demokratie entwickel- Unterstützung über ihr Territorium te, wird ein autoritär-religiöses Sys- geduldet. Ankara sieht in den kurdi- tem mit plebiszitären Elementen. Wie schen YPG-Truppen den schlimmsten die EU intern mit autoritär-populisti- Feind, während die Amerikaner zu-

72 IP • März / April 2017 Abschied von Europa

Bild nur in Printausgabe verfügbar

mindest bis Ende 2016 in den Kurden dem Putschversuch 2016 hat Erdo­gan Bodentruppen gegen die IS-Milizen einen großen Teil des Offizierskorps sahen. Die Türken verlangen von den säubern lassen, das für die Bindung NATO-Verbündeten volle Einsicht in an die NATO steht. Dem Bündnis die Erkenntnisse der Aufklärungsflü- fehlen deshalb heute Ansprechpart- ge. Aber die Alliierten weigern sich, ner im türkischen Militär. Zwischen weil sie fürchten, die Türken könn- der NATO und Ankara steht eine ten das Material gegen die Kurden Mauer des Misstrauens. verwenden. Das ist kein Bündnis ge- Erdogan setzt seit der Aussöhnung gen Terroristen, sondern eine zerrüt- mit seinem Amtskollegen Wladimir tete Ehe. Putin im Sommer 2016 auf ein Bünd- Die Türkei sucht sich ihre Partner nis mit Russland. Die Türkei ist darin längst jenseits der NATO. Sie führt der Juniorpartner und ein Bittsteller, Krieg gegen die kurdische YPG in wenn man sich Erdogans Einknicken Syrien, sie versucht gemeinsam mit vor Putin vor Augen führt. Wenn der Russland und dem Iran, einen Waf- neue US-Präsident Donald Trump fenstillstand in Syrien zu erreichen. ein Beispiel für die von ihm bevor- Ankara verhandelt über den Kauf zugten bilateralen „Transaktions-Be- von Waffensystemen aus Russland, ziehungen“ sucht, dann sollte er sich die mit NATO-Waffen nicht mehr Putin und Erdogan ansehen. Ihr Ver- zusammenpassen. Erdogan lieb­äugelt hältnis hat sich von der ausgegliche- mit dem Beitritt zur Schanghai-Orga- nen Beziehung 2014 über die Krieg- nisation. Er glaubt, dass sich EU und in-Sicht-Krise 2015 in die Beziehung NATO mittelfristig von selbst auflö- eines Starken mit einem Schwachen sen und es sich nicht mehr lohnt, in verwandelt. Keine solidarische Alli- diese Bündnisse zu investieren. Nach anz wie die NATO, sondern ein klas-

IP • März / April 2017 73 Türkei

sisches Nullsummenspiel, wie Putin Ankara auf sich allein gestellt, orga- es liebt. Erdogan akzeptiert die russi- nisatorisch und finanziell. sche Strategie in Syrien und im Mitt- Mit dem Flüchtlingsabkommen leren Osten, er hat seine Außenpoli- haben sich die Dinge geändert. Der tik in der Region geschreddert – und Migrationsdruck auf die Türkei hat bekommt dafür freie Hand gegen die nachgelassen, die Zahl der Durchwan- syrischen Kurden. Erdogan und Pu- derer in den Großstädten sinkt, die tin arbeiten in Syrien auch militä- Flughäfen sind keine Flüchtlingsdreh- risch zusammen. Dieser türkische scheibe mehr. Und in der türkischen Präsident ist kein verlässlicher Part- Wirtschaftskrise sind die Milliarden- ner mehr für die NATO. beträge aus der EU für die Flücht­ linge hochwillkommen. Zumal Brüs- Gemeinsame Interessen verfolgen sel nicht bis ins Detail kontrollieren Während sich die institutionellen kann, wie Erdogan das Geld ausgibt. Bande der Türkei mit Europa und den Der Präsident hat mit dem Abkom- USA aufzulösen drohen, gibt es seit men außerdem ein scheinbares Druck- März 2016 jedoch das Flüchtlingsab- mittel gegenüber der EU. Er kann vor kommen mit der EU. An dieser Über- heimischem Publikum Stärke­ markie- einkunft arbeiten sich ren und regelmäßig mit der Aufkündi- Das Flüchtlingsab- seither viele Menschen- gung drohen. Das kommt in der Tür- kommen weist einen rechtsgruppen, türkische kei gut an, auch wenn die Drohung in und europäische Opposi- der EU kaum jemanden erschüttert. Weg in die Zukunft tionspolitiker ab. Sie kri- Die EU und Merkel sind längst nicht tisieren das Abkommen mehr so erpressbar wie noch 2015. als zynisch und gegen die Flüchtlinge Der Weg über Südosteuropa ist erheb- gerichtet; sie werfen Bundeskanzlerin lich erschwert. Die Zahl der ertrun- Angela Merkel vor, dass sie sich mit kenen Flüchtlinge in der Ägäis ist von dem Abkommen von Präsident Erdo­ Tausenden auf beinahe Null zurück- gan abhängig gemacht habe. gegangen. Das Dublin-Abkommen hat Das ist ein Irrtum. Die Ironie der wieder seine Gültigkeit, Berlin schickt Übereinkunft ist, dass viele darüber Flüchtlinge nach Griechenland zu- schimpfen und noch mehr ihr Schei- rück. Würde Erdogan die Schleuser an tern voraussagen. Aber das Flücht- der Ägäis wieder machen lassen, ent- lingsabkommen hält und straft alle stünde aller Voraussicht nach erst ein- Spötter Lügen. Das liegt daran, dass mal ein neues, von Flüchtlingen über- es die Interessen beider Seiten bestens fülltes Idomeni an der griechisch-ma- bedient. Erdogan macht eine eiskalte kedonischen Grenze, aber keine euro- Rechnung auf: Vor dem Abkommen paweite Flüchtlingskrise. Da Erdogan war die Türkei ein Schleuserparadies, aber trotz allen Unkens die Abma- eine zugige Bahnhofshalle für Migran- chung respektiert, zeichnet sich für ten aus aller Welt, syrische Kurden Deutsche, Niederländer und Franzo- und Araber auf dem Weg nach Euro- sen bisher keine Krise im wichtigen pa. Die Risiken waren hoch, weil die Wahljahr 2017 ab. Türkei nicht mehr kontrollieren konn- Das Flüchtlingsabkommen weist te, wer überhaupt ins Land kam und einen Weg, wie die EU in Zukunft wer blieb. Mit diesen Menschen war mit der Türkei umgehen kann. Wenn

74 IP • März / April 2017 Abschied von Europa

es im Interesse beider Seiten ist, las- reicht? Nichts. Alle Appelle, alle Kri- sen sich mit Ankara Vereinbarun- tik, alle Empörung aus der EU ha- gen schließen. Wer genau hinsieht, ben die Position der türkischen Re- findet reichlich gemeinsame Interes- gierung nur noch ver- sen. Die Türkei möchte Visaerleichte- härtet. Die neue Logik Die EU sollte still rungen, Europa will die Flüchtlings- in Ankara ist: Wenn die verhandeln und Unter- regelung. Die Wirtschaft beider Län- EU ­öffentlich die Freilas- der wünscht die Fortsetzung und den sung eines inhaftierten stützung anbieten Ausbau der Handelsbeziehungen. Die Journalisten oder Oppo- Türkei möchte, dass europäische Un- sitionellen fordert, dann sitzt der ein- ternehmen weiter investieren. An der fach noch länger. Die EU kennt diesen Erhaltung des Atomabkommens mit ­Mechanismus aus Ländern wie Iran dem Iran haben Europa und die Tür- und Saudi-Arabien. kei Interesse. Ein Terrorproblem gibt Wichtiger als öffentliche Deklara- es in Europa und noch viel mehr in tionen sind die stillen Abmachungen der Türkei. „Let’s make a deal.“ mit der Regierung. Die EU sollte lieber Wenn die EU künftig mit Erdo­ konkret über die Freilassung von In- gan so kühl verhandelt wie Putin oder haftierten verhandeln und im Gegen- Trump, wird sich das Verhältnis schon zug etwas anbieten. Sie sollte geflüch- deshalb entspannen, weil die Emotio- teten und freigelassenen Türken Sti- nen verschwinden. Wer voneinander pendien und Unterstützung anbieten. nicht mehr erwartet als den nackten Sie sollte durch Lockerung der Visa- Deal, ärgert sich weniger. Dazu ge- regeln, Jugendaustausch und ständige hört der Verzicht auf Theaterdonner­ Begegnungen die Abschottung durch- und Symbolpolitik. Ein krachender kreuzen. Und sie sollte der Hälfte der Abbruch der EU-Beitrittsverhand- Türken, die nicht Erdogan wählen, si- lungen würde am derzeitigen Stand gnalisieren: „Wir brechen die Brücken der Beziehungen nichts ändern, aber der Türkei nach Westen nicht ab, we- reichlich schlechte Laune verbreiten. der die EU-Beitritts­verhandlungen Ein Rauswurf der Türkei aus der noch die NATO-Beziehung.“ NATO würde Erdogans Zusammen- Das Erdogan-System ist so stark arbeit mit Putin nicht stoppen, aber auf seine Person zugeschnitten, dass die Frage über den Zusammenhalt der es ihn nicht überleben wird. Also ist NATO aufwerfen. Die NATO hat der Europa mit Erdogan nur für eine be- Putsch-Türkei 1960, 1971, 1980 und grenzte Zeit im Geschäft. Die Türkei 1998 nicht die Tür gewiesen, sie hat und die Türken aber bleiben Teil der mit dem Putsch-Griechenland von NATO und Beitrittskandidat der EU. 1967 bis 1974 gelebt, und sie muss heute wegen Erdogan nicht die Ner- Michael Thumann ven verlieren. ist außenpolitischer Doch würde die EU bei Abma- Korrespondent in der Hauptstadtredaktion chungen mit Erdogan nicht die ver- der ZEIT, für die er folgten Oppositionellen verraten? bis 2013 aus Istanbul Drehen wir die Frage doch mal um. berichtet hat. Was hat die EU in den vergangenen Monaten für die Inhaftierten er-

IP • März / April 2017 75 Türkei

Alarmstimmung am Bosporus Terror, politischer Streit, Wirtschaftskrise: Wohin steuert die Türkei?

Susanne Güsten | Im April sollen die Türken über den Entwurf einer Ver- fassungsänderung abstimmen, mit der Erdogan eine fromm-konservative Präsidialherrschaft errichten will. Doch unter den Bedingungen des Aus- nahmezustands ist kein fairer Wahlkampf möglich; überhaupt ziehen sich viele Menschen ins Privatleben zurück oder wollen das Land verlassen.

Mittagszeit im Istanbuler Geschäfts- Cafébesucher bald wieder ihrem All- und Einkaufsviertel Nisantasi. Mit tag zu. An der Oberfläche sieht es heulenden Sirenen bahnen sich zwei gar nicht so schlecht aus in Istanbul. Feuerwehrzüge einen Weg durch den Bars und Restaurants sind gut be- Verkehr auf der Vali-Konagi-Straße. sucht, die Einkaufsstraßen und Ge- In den Cafés, Büros und Läden an ih- schäfte belebt. Der Verkehr ist dicht rer Strecke zücken hunderte Ange- wie eh und je, und die Zahl der neu stellte und Kunden ihre Smartphones, gekauften Autos ist im Januar sogar um die Nachrichtenlage abzufragen. um 8 Prozent gestiegen gegenüber „Was da wohl wieder passiert ist“, dem Vorjahr. Auch der Wohnungs- sagt eine Frau im Pelz besorgt zu ihrer bau geht weiter voran, ebenso wie Tochter. Die Nerven liegen blank in der Bau eines neuen Megaflughafens der türkischen Millionenmetropole, und andere Großprojekte – seit eini- die alleine im vergangenen Jahr von gen Wochen können Autofahrer im sechs schweren Terrorangriffen er- neuen „Eurasien“-Tunnel unter dem schüttert worden ist. Und es ist nicht Bosporus durchfahren, statt auf einer nur der Terror, der die Türken verun- der inzwischen drei interkontinenta- sichert. „Man weiß nicht, was noch len Brücken im Stau zu stehen. alles geschehen wird“, sagt ein Aka- Auf diese Dinge verweist die Re- demiker, der sich mit dem Gedanken gierung in Ankara, wenn sie die Lage trägt, sein Land zu verlassen. „Es ist, im Land beschreibt. Von einer un- als hätten wir keinen Boden mehr un- vergleichlichen „Erfolgsgeschichte“ ter den Füßen.“ spricht zum Beispiel Präsident Recep Der Grund für den Alarm in Ni- Tayyip Erdogan gerne und häufig. santasi stellt sich als unpolitischer Der Präsident zählt in vielen seiner Unfall heraus, und so wenden sich Reden die Erfolge der vergangenen die Kaufleute, ihre Kunden und die Jahre auf. Das frühere Armenhaus

76 IP • März / April 2017 Alarmstimmung am Bosporus

am Rande Europas ist heute Mitglied Erdogans Umgebung wird gemunkelt, der G-20. Seit dem Jahr 2003 haben während sich die Normalbürger mit sich die Wirtschaftskraft des Landes der steigenden Inflation herumschla- und das Pro-Kopf-Einkommen der gen. Musste man vor einem Jahr noch Türken mehr als verdoppelt. Zum ers- drei Lira hinlegen, um einen Euro zu ten Mal in der Geschichte des Landes bekommen, sind es inzwischen vier ist eine Mittelschicht entstanden, die Lira – eine geradezu schwindelerre- mit denen in Europa vergleichbar ist: gende Entwertung der heimischen Sie besitzt Autos, Kühlschränke und Währung. Etliche Großunternehmen, eigene Wohnungen und macht ger- deren Eigentümer politisch missliebig ne Urlaub, auch im Ausland. Im Jahr waren, wurden vom Staat beschlag- 2003 reisten 3,4 Millionen Türken nahmt und werden nun in den Ruin ins Ausland, zehn Jahre später wa- gewirtschaftet. ren es 7,5 Millionen. Der Tourismus ist bereits um Erdogan treibt den Bau von Auto- mehr als ein Viertel eingebrochen und bahnen voran und lässt Schnellzug- rutscht noch weiter ab. Viele kleinere verbindungen quer durchs Land pla- Betriebe und Geschäfte müssen auf- nen. Die Zahl der Flughäfen stieg von geben – allein im Großen Basar haben 26 im Jahr 2003 auf heute fast 60. Die schon mehr als 600 Läden halbstaatliche Fluggesellschaft Tur- und Werkstätten geschlos- In vier Jahren verlor kish Airlines, deren türkische Ini­ sen. Der regierungskri- die Währung über die tialen THY früher von genervten tische Wirtschaftsexper- Reisenden aus Verärgerung über den te Mustafa Sönmez veröf- Hälfte ihres Wertes miesen Service als „They Hate You“ fentlichte auf Twitter eine übersetzt wurden, hat sich zu einer Statistik des Währungsverfalls: In der angesehensten Airlines der Welt den vier Jahren seit Januar 2013 ver- gemausert. Istanbul ist zu einer Dreh- lor die Lira demnach gegenüber der scheibe des internationalen Luftver- internationalen Leitwährung etwa kehrs geworden, die es mit Frankfurt 55 Prozent ihres Wertes. Das sei also oder Dubai aufnehmen kann. die „starke Türkei“, von der in Anka- ra immer die Rede sei, ätzte Sönmez. Es gärt unter der Oberfläche Besonders für ein rohstoffarmes Land In jüngster Zeit habe sich das Wachs- wie die Türkei, das Öl und Gas auf tum zwar etwas verlangsamt, räumt dem Weltmarkt zu Dollarpreisen kau- der für die Wirtschaftspolitik zustän- fen muss, ist die Entwicklung brand- dige Vizepremier Mehmet Simsek ein. gefährlich. Schon bald werde die Türkei mit ihrer Zumindest zum Teil liegt der jungen Bevölkerung und ihrem Un- Grund für die Krise in Faktoren, die ternehmergeist aber wieder zu einem von Ankara kaum zu beeinflussen „Magneten“ für Investoren werden. sind. Der Krieg im benachbarten Sy- Doch unter der Oberfläche gärt es. rien hat fast drei Millionen Flüchtlin- „Ich frage mich, wo dieses Geld her- ge in die Türkei getrieben, für deren kommt“, sagt ein Istanbuler Dienst- Versorgung Milliardensummen aus- leister angesichts der Megaprojekte in gegeben werden. In der südtürkischen der Infrastruktur, die Milliardensum- Grenzprovinz Kilis leben inzwischen men verschlingen. Von Korruption in mehr Syrer als Türken. Überall im

IP • März / April 2017 77 Türkei

Land drängen die Syrer auf den in- Erdogan gab der Bewegung des is- formellen Arbeitsmarkt und drücken lamischen Predigers Fethullah Gü- die Löhne. len, eines ehemaligen Verbündeten, Noch schlimmer ist die wachsen- die Schuld an dem Umsturzversuch. de Gefahr durch den Terrorismus. Mehr als hunderttausend Menschen Der Islamische Staat (IS) hat die Tür- haben seitdem wegen des Vorwurfs kei zum Feind und legitimen An- der Mitgliedschaft in der Gülen-Be- Bild nur in schlagsziel erklärt. In der Neujahrs- wegung ihre Arbeit im Staatsappa- nacht tötete ein IS-Anhänger im fei- rat verloren, 43 000 wurden inhaf- Printausgabe verfügbar nen Istanbuler Nachtclub Reina fast tiert. Mit Hilfe des nach dem Putsch- 40 Menschen. Kurz zuvor hatte ein versuch erlassenen und seitdem zwei- Al-Kaida-Anhänger in Ankara den mal verlängerten Ausnahmezustands russischen Botschafter er- erhöht die Regierung den Druck auf Der IS hat die Türkei schossen. Im vergangenen Andersdenkende. Hunderte Zeitun- zum Feind und Jahr griffen IS-Attentä- gen, Radiosender und Fernsehsta- ter den Istanbuler Ata- tionen wurden verboten, mehr als Anschlagsziel erklärt türk-Flughafen an und er- 100 Journalisten sitzen im Gefängnis. schossen 45 Menschen; im Gut einen Monat nach dem Januar hatte sich ein IS-Mann inmit- Putschversuch schickte Erdogan die ten einer deutschen Reisegruppe im türkische Armee über die Grenze historischen Stadtzentrum von Istan- nach ­Syrien, um dort gegen den IS bul in die Luft gesprengt und 13 Men- und das Autonomiestreben der syri- schen mit in den Tod gerissen. Fast 60 schen ­Kurden vorzugehen. Die Mili- Menschen starben bei einem IS-An- täroperation mit dem Namen „Schild griff auf eine kurdische Hochzeit in des Euphrats“ stieß nach anfängli- Gaziantep im August. chen Erfolgen auf erbitterten Wider- Die IS-Attacken wären allein stand. Ein Ende der Intervention, schon schrecklich genug, doch im ver- die Ankara noch tiefer in den Syri- gangenen Jahr kam es für die Türkei en-Konflikt verwickelt, ist nicht ab- noch schlimmer. Die verbotene Arbei- zusehen. Mit dem Vorgehen gegen die terpartei Kurdistans (PKK) ließ ihren syrischen Kurden gießt Erdogan zu- Kampf gegen den türkischen Staat dem Öl ins Feuer des Kurdenkonflikts ebenfalls eskalieren. Kurdische Ext- in der Türkei selbst. remisten töteten fast 70 Menschen bei zwei Autobombenanschlägen in der Auf dem Weg in die Diktatur Hauptstadt im Februar und im März. Inmitten dieser von Gewalt, poli- Auch in Istanbul schlug eine zur PKK tischer Hexenjagd und riskanten gehörende Gruppe gleich mehrmals außenpolitischen Abenteuern be- zu – bei den Anschlägen auf einen stimmten Atmosphäre hat Erdo­gan Polizeibus und auf ein Fußballstadi- jetzt einen Wahlkampf eröffnet, der on starben insgesamt 60 Menschen. die Polarisierung im Land noch wei- Den blutigen Höhepunkt ei- ter verschärfen könnte. Auf seinen nes Jahres voller Gewalt bildete der Wunsch hin setzte die von ihm ge- Putschversuch gegen Staatspräsident gründete Regierungspartei AKP im Erdogan am 15. Juli, bei dem rund Parlament den Entwurf für eine Ver- 300 Menschen ums Leben kamen. fassungsänderung durch, die aus der

78 IP • März / April 2017 Alarmstimmung am Bosporus

Bild nur in Printausgabe verfügbar

parlamentarischen Demokratie eine AKP-Plan beim Referendum ange- Präsidialrepublik machen soll. Im Ap- nommen werden, könnte Erdogan bis ril sollen die Türken in einer Volks- zum Jahr 2029 regieren. Bei einer An- abstimmung darüber befinden. Die nahme von Erdogans Vorhaben „wird Änderungen sehen die Konzentra­ das Thema der EU-Mitgliedschaft der tion von vielen Machtbefugnissen in Türkei vollkommen von der Tages- Erdogans Hand vor. Der Posten des ordnung verschwinden“, sagte Op- Ministerpräsidenten wird demnach positionsführer Kemal Kilicdaroglu ganz abgeschafft, die Rechte des Par- kürzlich. „Wenn du jetzt nicht Nein laments werden beschnitten, der Prä- sagst, wirst du in Zukunft auch nicht sident wird zur alles entscheidenden mehr gefragt“, lautet ein Slogan der Figur im politischen System. Gegner des Präsidialsystems. Erdogan und seine Anhänger ar- Dem 62-jährigen Erdogan geht es gumentieren, die im Jahr 2014 ein- beim Referendum um seine persön- geführte Direktwahl des Staatsober- liche Macht und vielleicht auch dar- haupts mache den Umbau notwendig, um, sich vor möglichen Korruptions- um die Konkurrenz zwischen der aus vorwürfen in Sicherheit zu bringen, dem Parlament hervorgehenden Re- wie einige Kritiker meinen. Aber das gierung und dem Präsidenten zu be- sind nicht die einzigen Gründe. Er- enden. Zudem werde sich die Reform dogans langfristiges Ziel ist es, die für das Land auszahlen, weil die Ent- Vorherrschaft der fromm-konservati- scheidungswege gestrafft würden. ven Türken, die in der Wählerschaft Kritiker sehen die Türkei dagegen die strukturelle Mehrheit bilden, auf auf dem Weg in die Diktatur. Sie wer- Dauer zu zementieren. Wenn sich Er- fen Erdogan den Griff nach der abso- dogans Plan durchsetzt, ist es aus heu- luten Alleinherrschaft vor – sollte der tiger Sicht schwer vorstellbar, dass die

IP • März / April 2017 79 Türkei

Türkei jemals einen linken oder sä- miker, der in den vergangenen Mo- kularen Präsidenten erhält. naten zwei befreundete Professoren Entsprechend verbissen ist die Ge- hat hinter Gittern verschwinden se- genwehr. Kilicdaroglus säkulare Par- hen – mit untergeschobenen Vorwür- tei CHP und die legale Kurdenpar- fen und Scheinbeweisen, ist er sicher. tei HDP wollen die Türken zu einem Er spreche jedenfalls nur noch mit ein Nein zu Erdogans Plan bewegen, ha- oder zwei Freunden offen über die ben aber mit erheblichen Schwierig- Lage im Land und halte sich ansons- keiten zu kämpfen. So sitzt ten mit Meinungsäußerungen sehr Mit dem Ausnahme- die Führungsriege der zurück. zustand ist kein faires HDP wegen des Vorwurfs Auch Oppositionschef Kilicda- der Unterstützung für die roglu klagt, unter den Bedingungen Referendum möglich PKK hinter Gittern. Als des Ausnahmezustands sei kein fai- sich Bundeskanzlerin An- rer Wahlkampf vor dem Referendum gela Merkel bei ihrem kürzlichen Be- möglich. Erdogan und die AKP igno- such in Ankara mit einer HDP-Ab- rieren diese Einwände, doch schon ordnung treffen wollte, mussten die jetzt zeichnet sich ab, dass die Volks- Kurdenpolitiker improvisieren: Ein abstimmung keine Entspannung der Politiker aus der HDP-Delegation für politischen Lage bringen wird. Siegt das Gespräch mit Merkel war kurz das Erdogan-Lager, befürchten viele vor der Ankunft der Kanzlerin ins Regierungsgegner noch mehr Druck Gefängnis gesteckt worden. Für ihn gegen unliebsame Politiker, Akade- sprang ein anderer kurdischer Abge- miker und Journalisten. Lehnen die ordneter ein, der gerade aus der Haft Türken den Plan ab, wären Erdogan entlassen worden war. Dies sei Aus- und die AKP politisch erheblich ge- druck der Lage in einem Land unter schwächt und könnten versucht sein, Kriegsrecht, erklärte die HDP. vorzeitige Neuwahlen auszuschrei- ben – was weitere monatelange Tur- Rückzug ins Private bulenzen mit sich bringen würde. Es ist auch dem Ausnahmezustand An einem Abend im Istanbuler geschuldet, dass vieles in der Türkei Vergnügungsviertel Beyoglu schei- auf den ersten Blick relativ normal nen diese Entwicklungen Welten ent- aussieht: Die Menschen sprechen lie- fernt zu sein. Die Kneipen sind voll, ber nicht über ihre Probleme, Sorgen aus den Bars dringt laute Musik, die und Auffassungen hinsichtlich der Menschen drängen sich Schulter an Regierung. „Man kann ja nicht mehr Schulter durch die engen Gassen. Än- öffentlich protestieren, ist doch alles dern kann man an der Lage eh nichts, verboten“, sagt ein Istanbuler Klein- sagen sich viele angesichts der vielen unternehmer, der seinen Namen nicht Krisen und Gefahren im Land. genannt wissen will – ein neuerdings Doch nicht alle denken so. In- verbreitetes Phänomen in der Türkei. ternationale Investoren, auf deren Inzwischen hadere man nur im Priva- Geld die Türkei dringend angewie- ten mit der Existenz- und Zukunfts- sen ist, bekommen inzwischen kalte angst, erklärt der Mann. Füße. Die Ratingagentur Fitch stuf- „Jeder kann jederzeit festgenom- te türkische Staatsanleihen Ende men werden“, sagt auch ein Akade- ­Januar als „Junk“ ein; die Kollegen

80 IP • März / April 2017 Alarmstimmung am Bosporus

von Standard & Poor’s änderten ihre nisse in Lira umzuwandeln, um der Türkei-Empfehlung von „stabil“ auf Landeswährung zu helfen. Seitdem „­negativ“. Die politische Situation ist die Lira allerdings noch weiter ab- und die Sicherheitslage hätten un- gerutscht. Die Inflation steigt unter- günstige Folgen für die Wirtschaft dessen weiter und lag Anfang Febru- und die Unabhängigkeit staatlicher ar bei 9,2 Prozent, weit höher als von Institutionen, erklärte Fitch, die letz- Experten erwartet. te der großen Ratingagenturen, bei Viele Türken stimmen schon jetzt der die Türkei bisher noch als eini- mit den Füßen ab. Die Zahl türki- germaßen sicher galt. scher Asylbewerber in Deutsch- land steigt. Akademiker und Jour- Abstimmung mit den Füßen nalisten versuchen, sich Nach außen tut die Regierung diese in Deutschland, anderen Der Brain-Drain Urteile der internationalen Finanz­ westeuropäischen Staaten könnte dem Land experten als nebensächlich ab. Man oder in den USA in Sicher- solle die Einstufung eines Landes heit zu bringen. „Solange langfristig schaden durch die Ratingagenturen nicht all- Erdogan an der Macht ist, zu ernst nehmen, sagte Regierungs- kann ich nicht zurück“, sagte kürz- sprecher Numan Kurtulmus, der das lich ein türkischer Exil-Journalist tat, was immer mehr Politiker seines in Washington, dem bei einer Heim- Lagers in Ankara tun: Er verbreitete kehr nach Anatolien die Festnahme Verschwörungstheorien. Die Urteile drohen würde. Schon ist von einem der Ratingagenturen beruhten nicht Brain-Drain die Rede, der dem Land auf soliden Analysen, sondern seien langfristig schaden könnte. Teil einer internationalen „Schmutz- Erdogan gibt sich dennoch unbe- kampagne“ gegen die Türkei. „Die eindruckt. Die Türkei erlebe zwar machen das absichtlich“, sagte auch die „Geburtswehen einer neuen Ära“, Erdogan vor einigen Monaten über sagte der Präsident kürzlich. Doch das die Agenturen. Land werde die Probleme überwin- Dennoch ist nicht zu übersehen, den. „Wir gehen einer strahlenden dass Erdogan angesichts der wirt- Zukunft entgegen“, betonte Erdogan. schaftlichen Entwicklung besorgt Die kommenden Monate werden zei- ist. Die sagenhaften Wachstumsra- gen, ob die Türken ihm folgen wollen. ten der vergangenen Jahre mit dem damit verbundenen Wohlstandszu- Susanne Güsten wachs bei vielen Türken bilden sei- berichtet als Journalistin ne größte politische Stütze – Wirt- aus Istanbul. schaftsprobleme kurz vor dem Refe- rendum könnten ihm den Sieg kos- ten. Deshalb setzt der Präsident auf Patriotismus: Im Dezember rief er die Türken auf, ihre Dollar-Erspar-

IP • März / April 2017 81 Flüchtlinge

Zwei Schritte Wie sich Europas Flüchtlingskrise dauerhaft lösen ließe

Gerald Knaus | Das EU-Türkei-Abkommen vom März 2016 hat eine Grund- lage geschaffen, um die Flüchtlingskrise in den Griff zu bekommen. Um diese wirklich zu lösen, muss die Vereinbarung aber dringend vollständig umgesetzt werden – und ihre Lehren auf die afrikanischen Migranten an- gewandt werden, die über den gefährlichen Seeweg in Italien ankommen.

Wenn die Flucht- und Migrationskri- auf den Prinzipien der UN-Flücht- se eines gezeigt hat, dann dies: Die lingskonvention. Es würde die EU EU muss dringend den Spagat zwi- zudem verpflichten, mit einer der ge- schen einer glaubhaften Asyl- und nerösesten Hilfen, die sie je in irgend- einer effektiven Grenzschutzpolitik einem Land der Welt für Flüchtlinge schaffen – und damit sowohl sicher- geleistet hat, die Türkei dabei zu un- stellen, dass sie das bestehende inter- terstützen, die Lebensumstände von nationale Flüchtlingsrecht respek- geflüchteten Menschen zu verbessern; tiert als auch die Kontrolle über ihre denn die Türkei beherbergt derzeit die Außengrenzen behält. Sie muss Asyl- meisten syrischen Bürgerkriegsflücht- bewerber respektvoll behandeln, zu- linge. Das türkische Asylsystem zu gleich Anreize für irreguläre Migra- verbessern, wird damit zum strate- tion reduzieren und das Geschäfts- gischen Interesse der EU: Nur wenn modell der Schleuser untergraben. die Türkei über ein funktionierendes Dabei muss zugunsten der Rettung System verfügt, kann es als sicherer menschlichen Lebens entsprechend Drittstaat gewertet werden. Als wei- der UN-Flüchtlingskonvention (und teren, entscheidenden Punkt sieht das besonders deren Artikel 33) eine pau- Abkommen die geordnete Verteilung schale Abweisung von Flüchtlingen („Resettlement“) der Flüchtlinge vor, verhindert werden. sobald der irreguläre Strom über das Das EU-Türkei-Abkommen über Ägäische Meer abgeebbt ist. Die Tat- Flüchtlinge in der Ägäis, das am sache, dass dieser zweite Punkt noch 18. März 2016 geschlossen wurde, ent- nicht umgesetzt wurde, macht ihn hält all diese Elemente; aber um als in der Gesamtlogik des Abkommens Vorbild zu dienen, muss es vollständig nicht weniger wichtig. umgesetzt werden. Das Abkommen Obwohl die vollständige Umset- basiert auf dem EU-Asylrecht und zung noch aussteht, hat das Abkom-

82 IP • März / April 2017 Zwei Schritte

men bereits große Auswirkungen auf Es ist allerdings offenkundig, dass den Flüchtlingsstrom im östlichen die EU keinen Plan oder keine nach- Mittelmeerraum gezeigt. Die Zahl ir- vollziehbare Strategie für das zentrale regulärer Neuankömmlinge über die Mittelmeer hat. Das birgt Ägäis ging von 115 000 in den ers- ein enormes Risiko. Der Aus humanitärer ten zwei Monaten 2016 zurück auf jetzige Zustand ist schon Sicht ist der Status 3300 im Juni und Juli. In den ersten aus humanitären Grün- drei Monaten 2016 ertranken noch den nicht zu akzeptieren: quo inakzeptabel 366 Menschen in diesem Teil des Mit- 2016 ertranken dort über telmeers, zwischen Mai und Juli sank 4400 Menschen. Er hat aber auch po- die Zahl auf sieben. litischen Sprengstoff, weil er rech- Dies konnte erreicht werden, ten Kräften in ganz Europa Muniti- ohne dass Flüchtlinge auf ande- on liefert, von Geert Wilders in den re, noch gefährlichere Wege auswi- Niederlanden über Marine Le Pen chen (diejenigen, die vergangenes in Frankreich bis hin zur Alternati- Jahr in Süditalien ankamen, stam- ve für Deutschland (AfD). Diese be- men meist aus afrikanischen Län- haupten, dass der einzige Weg, die dern). Zudem hat es keine massen- Zuwanderung nach Europa zu kont- hafte Rückführung von Flüchtlin- rollieren, darin bestünde, das Schen- gen aus Griechenland gegeben, was gen-System offener Grenzen abzu- manche NGOs zuvor befürchtet hat- schaffen und Grenzkontrollen inner- ten. Tatsächlich wurden in den drei halb der EU wieder einzuführen. Monaten vor dem Abkommen mehr Dass eine kohärente Strategie Menschen aus Griechenland in die fehlt, hat auch viele dazu gebracht, in Türkei zurückgeschickt (967) als in Australien ein Vorbild zu sehen und den zehn Monaten nach Inkrafttre- damit für ein Modell zu plädieren, bei ten (777). dem jedem, der die EU über das Meer

Staatsangehörigkeit von Neuankömmlingen in Griechenland und Italien

Griechenland Italien Syrien 47 % Nigeria 21 % Afghanistan 24 % Eritrea 12 % Irak 15 % Gambia 7 % Pakistan 5 % Elfenbeinküste 7 % Iran 3 % Sudan 7 % andere 5 % Guinea 6% Somalia 5 % Senegal 5 % Mali 5 % Bangladesch 4 % andere 22 % insgesamt 172.607 insgesamt 175.244 1. Januar bis 11. Dezember 2016, Quelle: UNHCR

IP • März / April 2017 83 Flüchtlinge

erreichte, von vornherein Asyl ver- Das lässt auf Dauer ein Scheitern weigert und nach Nordafrika zurück- befürchten. Die griechischen Verant- geschickt würde. Damit aber würde wortlichen stehen unter Druck und sich die EU von der UN-Flüchtlings- können den Inselbewohnern kaum konvention verabschieden und das widersprechen, die Lesbos und Chios Flüchtlingshilfswerk UNHCR und bereits als Europas Nauru bezeich- das globale Asylsystem in eine exis- nen (die Pazifik-Insel, auf die Aust- Bild nur in tenzielle Krise stürzen. ralien neuankommende Bootsflücht- Eine humane, aber eben auch ef- linge schickt). Am Ende könnten sie Printausgabe verfügbar fektive Grenz- und Asylpolitik ist gezwungen sein, größere Gruppen dennoch möglich – ohne das australi- von Flüchtlingen aufs griechische sche Modell nachzuahmen. Als erster Festland zu verlegen. Dies wiederum Schritt muss das EU-Türkei-Abkom- könnte erneut viele Menschen über men vollständig umgesetzt werden. die Ägäis locken. Sobald wieder mehr Im zweiten Schritt müss- Menschen das Festland erreichten, Es gibt Rufe nach ten die richtigen Lehren würde die dort bereits prekäre huma- einer Mauer im Nor- für das zentrale Mittel- nitäre Situation sich noch weiter ver- meer gezogen werden. Bei- schlechtern. Populisten würden noch den Griechenlands des erfordert, dass die EU dringlicher eine befestigte Mauer im neue Strukturen schafft, Norden Griechenlands fordern. mit EU-Asylmissionen, die den Na- Bereits jetzt ist das Hauptge- men wirklich verdienen, und Instru- sprächsthema unter Migranten, die menten, um Flüchtlinge zu verteilen. auf dem griechischen Festland fest- Beides hängt davon ab, dass Griechen- stecken, wie viel es wohl koste, über land und Italien die anderen EU-Mit- die Balkan-Route geschmuggelt zu glieder davon überzeugen können, werden, sei es über Mazedonien oder dass das Flüchtlings- und Migrations- Bulgarien. Es ist schwer vorstellbar, problem eine Herausforderung für die dass Griechenland sich sonderlich gesamte EU ist, das europäische Lö- anstrengen würde, Menschen an der sungen erfordert. Weiterreise zu hindern, wenn es sich von der EU im Stich gelassen fühlte. Das Begonnene zu Ende führen Das schwache mazedonische Asyl- Fast ein Jahr nach der Unterzeich- system würde dann innerhalb weni- nung steht das EU-Abkommen mit ger Wochen zusammenbrechen, wäh- der Türkei weiterhin zur Debat- rend immer mehr Menschen über die te – trotz bisheriger Erfolge. Das Grenze kämen. Konflikte zwischen liegt an der begrenzten Umsetzung. Migranten, Schleuserbanden, Grenz- Durchschnittlich werden weniger polizisten, Soldaten und Bürgerweh- als 100 Menschen im Monat wieder ren würden eine bereits unruhige Re- in die Türkei geschickt. Viele, die auf gion weiter destabilisieren. den ägäischen Inseln angekommen So eine Entwicklung wäre ein sind, bleiben dort nun für einen län- schwerer Schlag für europäische Po- geren Zeitraum. Die Zahl der Neuan- litiker und Politikerinnen wie Ange- kömmlinge hat sich bei gut über 100 la Merkel, die sich für eine humane pro Tag in den vergangenen Monaten und effektive Grenzschutzpolitik un- eingependelt. ter Achtung der UN-Flüchtlingskon-

84 IP • März / April 2017 Zwei Schritte

Bild nur in Printausgabe verfügbar

vention einsetzen. Auch die bereits Anträge in einem vertretbaren Zeit- zum Zerreißen gespannten europä- raum erhalten. Dazu gehören auch isch-türkischen Beziehungen wür- vorhandene Absicherungen gegen den weiter beschädigt. Deshalb brau- Zurückweisung oder zwangsweise chen wir jetzt eine erfolgversprechen- Rückkehr. Die Aufnahme und ande- de Umsetzungsstrategie. re Regelungen müssen in der Türkei Die EU sollte einen Sonderbe- vorbereitet sein, ehe jemand aus Grie- auftragten für die Umsetzung des chenland dorthin zurückgebracht EU-Türkei-Abkommens ernennen – werden kann. Menschen, die inter- einen ehemaligen Premier- oder Au- nationalen Schutz benötigen, müs- ßenminister mit der Erfahrung und sen Asyl genießen können, ohne Dis- Autorität, die drängendsten Probleme kriminierung und im Einklang mit vor Ort anzugehen. Um das Abkom- akzeptierten internationalen Stan- men zu sichern, sollten die EU-Kom- dards, wie einem effektiven Zugang mission und Ankara alle Zweifel da- zu Arbeit, Gesundheitsfürsorge, Bil- ran beseitigen, dass die Türkei ein si- dung für Kinder und – falls notwen- cherer Drittstaat für all diejenigen ist, dig – soziale Unterstützung.“ die aus Griechenland zurückgeschickt Die Türkei muss einen konkreten werden sollen. Vorschlag machen, wie es auf trans- Wie der UNHCR am 18. März parente Weise die Bedingungen erfül- 2016 feststellte, hängt alles an einer len will, um nach EU-Recht ein siche- ernsthaften Umsetzung: „Die Men- rer Drittstaat für Flüchtlinge zu sein, schen, die in die Türkei zurückge- seien sie Pakistaner, Afghanen oder bracht werden und internationalen Syrer. Sie müsste garantieren, dass Schutz benötigen, müssen eine faire – wenn nötig mit Unterstützung der und angemessene Überprüfung ihrer EU und des UNHCR – hinreichend

IP • März / April 2017 85 Flüchtlinge

Be­arbeiter von Asylanträgen, Über- Das Prinzip einer solchen EU-Mis- setzer und Rechtsbeistände zur Ver- sion wäre offensichtlich: In Krisen- fügung stehen, um einen effizienten zeiten bedarf es Sachbearbeiter, Über- Asylprozess zu gewährleisten. Dar- setzer und Aufnahmebeamten in aus- über hinaus müsste es auch weitere reichender Zahl, damit Qualitätsstan- Informationen über das Schicksal je- dards und die schnelle Bearbeitung ner Menschen geben, die abgeschoben von Asylanträgen dort, wo die meis- werden. Angesichts der geringen Zahl ten gestellt werden, auch gewährleis- an Personen, um die es bislang geht, tet werden können. Es wäre unge- ist das durchaus machbar. recht, Griechenland oder irgendein Zugleich muss die EU eine euro- anderes Land dafür anzuprangern, päische Asylmission auf die griechi- dass es nicht in der Lage sei, schnell schen Inseln schicken, mit mindes- genug mit den Asylanträgen Zehntau- tens 200 Sachbearbeitern, sender Menschen umzugehen. Und es Die EU muss eine um verbindliche Entschei- wäre unvernünftig, wenn Griechen- Asylmission in die dungen über Asylanträge land nicht eine solche Mission anfor- zu fällen (wofür eine Ein- dern würde. Letzten Endes ist es eine Ägäis entsenden ladung der griechischen Frage des politischen Willens der EU Regierung und Änderun- und der Türkei, den paar Tausenden gen griechischen Rechts vonnöten Asylsuchenden auf den Ägäischen wären sowie Zusicherungen, dass Inseln nach internationalen Normen jede von der Mission gefällte Ent- und EU-Vorgaben und zum beidersei- scheidung im Zweifel von einem grie- tigen Vorteil gerecht zu werden. chischen Richter ausgesetzt werden könnte). Diejenigen, die dann Schutz Nauru ist keine Lösung zugesprochen bekämen, sollten an- Bisher erwies es sich als schwierig, schließend unmittelbar über die gan- eine hinreichende Zahl von EU-Asyl- ze EU verteilt werden; und wer kei- sachbearbeitern nach Griechenland nen Schutz zugesprochen bekommt, zu schicken. Außerdem gibt es immer würde in die Türkei zurückgeschickt. noch keine angemessene Unterbrin-

Anerkennungsquote der Neuankömmlinge in Italien

Nationalität* Anerkennungsquote Eritrea 12% 90% Somalia 5% 63% Sudan 7% 56% Gambia 7% 34% Elfenbeinküste 7% 32% Mali 5% 29% Senegal 5% 28% Guinea 7% 27% Nigeria 21% 25%

*bis 14. Dezember 2016, Quelle: UNHCR, Eurostat

86 IP • März / April 2017 Zwei Schritte

gung für die relativ kleine Anzahl Herkunftsland. Beide Aufgaben soll- an Menschen, die seit April 2016 auf ten in der Verantwortung der EU lie- den Ägäischen Inseln angekommen gen. Die Priorisierung solcher Aus- sind. Dies weckt ernste Zweifel an weisungen sollte in den Verhand- Vorschlägen, dass sich illegale Migra- lungen mit afrikanischen tion nach Italien durch die Einrich- Ländern eine zentrale Rol- Rückführung ist eine tung von Empfangszentren irgendwo le spielen. Diejenigen, de- Priorität für den in Nordafrika abbremsen ließe. nen Asyl gewährt wird, Nach Vorschlägen mancher EU-­ sollten zugleich EU-weit EU-Dialog mit Afrika Politiker würden alle, die Italien er- verteilt werden, um Ita- reichen, zunächst dorthin zurückge- lien und Griechenland zu entlasten bracht, wo ihre Asylanträge bearbei- und einen Ersatz für das nicht länger tet würden. Das erinnert an das Vor- tragfähige Dublin-System zu schaffen gehen Aus­traliens, das ankommende (denn dass niederländische oder deut- Flüchtlinge und Migranten in Lagern sche Beamte darüber befinden könn- auf Nauru oder der Manus-Insel in ten, welche Flüchtlinge in Griechen- Papua-Neuguinea bringt. Dort muss- land oder Italien verbleiben, wäre für ten Asylsuchende oft jahrelang war- diese Länder kaum akzeptabel). ten, bis über ihre Anträge entschieden Welche Auswirkungen hätten die- wurde. Die Unterbringung dort ist be- se Maßnahmen auf die Anzahl der wusst spartanisch gehalten, um wei- Neuankömmlinge? Es ist sehr wahr- tere Migranten abzuschrecken. Und scheinlich, dass ihre Zahl deutlich sin- wenn Asyl gewährt wird, bleibt un- ken würde. Nigerianer stellten 2016 klar, wohin die Asylempfänger gehen die größte Gruppe, und die Mehrheit sollen (über das Angebot der USA, eine von ihnen würde wohl kaum riskie- größere Anzahl solcher Menschen auf- ren, die Reise durch die lebensgefähr- zunehmen, stritt sich jüngst US-Prä- liche Sahara, das instabile Libyen und sident Donald Trump mit Australi- über das Mittelmeer anzutreten sowie ens Premierminister Malcom Turn- mehrere Tausend Euro an Schleuser bull). Auch beherbergte Nauru nie- zu zahlen, wenn die Wahrscheinlich- mals mehr als 1000 Menschen – die keit, nach Nigeria zurückgeschickt zu Vorstellung, die EU könne Zehntau- werden, bei 75 Prozent läge – das ist sende Asylsuchende in nordafrikani- die derzeitige Ablehnungsrate von ni- schen Camps für längere Zeit unter gerianischen Asylanträgen in der EU. ähnlichen Bedingungen unterbringen, Die Zusicherung Nigerias, Sene- ist sicherlich kein ­Erfolgsrezept. gals und anderer Länder, ihre Staats- angehörigen ab einem bestimmten Lehren adaptieren Datum wieder zurückzunehmen, Wie also könnte die EU die Zahl von sollte wichtigste Priorität in den Ge- Neuankömmlingen – und Todesfäl- sprächen zwischen der EU und diesen len bei der Überquerung des Mittel- Ländern sein – ähnlich der Verpflich- meers – reduzieren? Der Schlüssel tung, die die Türkei eingegangen ist, liegt in der schnelleren Bearbeitung ab dem 20. März 2016 alle in Grie- von Asylanträgen und in der schnel- chenland neu Ankommenden unver- len Rückführung jener, deren Anträ- züglich zurückzunehmen. Dies wür- ge abgelehnt werden, in ihr jeweiliges de erfordern, dass eine EU-­Mission

IP • März / April 2017 87 Flüchtlinge

in Italien alle Anträge binnen we- siedlungen von Flüchtlingen nie über niger Wochen bearbeiten kann. Auf 100 000 pro Jahr; und die USA trugen diese Weise wäre die Zahl irregulä- dabei den Löwenanteil. Europa hat bis rer Einwanderer zu bewältigen – den heute nicht die erforderlichen bürokra- Schleusern wäre das Geschäft ver- tischen Strukturen für eine großange- dorben, die Zahl der To- legte Verteilung aufgebaut. Deshalb ist Kein Gegensatz: eine ten auf See würde deutlich es sehr wichtig, die EU zu drängen, humane Asylpolitik zurückgehen. Ziel könnte die Vereinbarungen zur Flüchtlings- sein, die Zahl aller irregu- aufnahme aus dem EU-Türkei-Ab- und sichere Grenzen lären Migranten über das kommen (Punkt 4) vollumfänglich Mittelmeer 2017 auf un- umzusetzen; Menschenrechts-NGOs ter 100 000 zu drücken (in einer EU und Verteidiger von Flüchtlingsrech- mit 500 Millionen Einwohnern). Die- ten sollten diesen Vereinbarungen be- ses Ziel ist realistisch: Die Zahl ent- sondere Priorität beimessen. spricht der durchschnittlichen Höhe Angesichts weltweit steigender irregulärer Migration in die EU zwi- Ressentiments gegen Flüchtlinge wird schen 2009 und 2013. eine starke Koalition von Staaten ge- braucht, um die UN-Flüchtlingskon- Die EU als Vorbild vention zu schützen. So eine Koali­tion Europas Politiker könnten ihren muss sich auf Regierungen stützen Wählern so beweisen, dass es mög- können, die in der Lage sind, Wah- lich ist, Außengrenzen zu kontrol- len zu gewinnen mit der Zusage, dass lieren, ohne die UN-Flüchtlingskon- eine humane Asylpolitik und ­effektive vention zu untergraben oder Neuan- Grenzkontrollen kombiniert werden kömmlinge unmenschlich zu behan- und sich gegenseitig stärken können. deln, um nachfolgende Migranten Wenn dies gelingt, könnten die Leh- abzuschrecken. Zugleich sollte eu- ren aus dem EU-Abkommen mit der ropäische Politik auch die weltwei- Türkei – des derzeit einzigen Planes, te Debatte über eine geordnete Ver- der die Zahl der Neuankömmlinge re- teilung von Flüchtlingen vorantrei- duziert hat, ohne das EU-Flüchtlings- ben. Das ist nur möglich, wenn die recht zu ändern – als Blaupause für EU als Vorbild agiert – indem sie ihre den Schutz von Flüchtlingsrechten in Kapazitäten für Verteilung und Un- einer Zeit der Angst dienen. terbringung ausbaut und die Aktivi- täten des UNHCR unterstützt. Die Gerald Knaus ist EU-Staaten sollten „Koalitionen der Vorsitzender der Euro-­ Willigen“ bilden, die sich bereit er- päischen Stabilitäts- initiative (ESI). Sein klären, jährlich eine bestimmte Zahl Thinktank konzipierte von besonders schutzbedürftigen das Flüchtlingsabkom- Asylempfängern aufzunehmen. men 2016 zwischen In den vergangenen Jahrzehn- der EU und der Türkei. ten lag die Zahl der weltweiten Um-

88 IP • März / April 2017 Was genau heißt „neue Verantwortung“?

Was genau heißt „neue Verantwortung“? Zehn Empfehlungen für eine aktive Verteidigungspolitik

Claudia Major und Christian Mölling | Vorbei die Zeiten, als der Einsatz militäri- scher Mittel als archaisch galt. Das bedeutet: Deutschland wird sehr genau- er ausbuchstabieren müssen, wie es in der Verteidigungspolitik nicht nur reaktiv, sondern aktiv handeln kann, welcher Rahmenbedingungen es be- darf und welche Mittel die Bundesrepublik in Zukunft bereitstellen muss.

Lange vernachlässigt, erlebte die Ver- steht zwischen Rhetorik und Praxis. teidigungspolitik in den vergange- In der Verteidigungspolitik ist ent- nen Jahren eine Renaissance. Dass scheidend, ob die Rhetorik tatsächlich Europäer – und mit ihnen Deutsch- mit den entsprechenden Fähigkeiten land – ihr wieder verstärkt Beach- und dem Willen, sie zu nutzen, un- tung schenken, ist vor allem der Uk- termauert ist. Darauf werden Europa raine-Krise seit 2014 und dem Kampf und die USA, aber auch Russland ge- gegen den IS geschuldet. In den Jah- nau schauen. Das zweite Spannungs- ren zuvor schien sie geradezu anti- verhältnis besteht zwischen den in- quiert, angesichts der zivilen, norma- ternationalen sicherheitspolitischen tiven und postheroischen Ansätze in Realitäten und der Reaktion Deutsch- der europäischen Politik. Wachsender lands. Bedeutung und gestiegenen Erwar- tungen an die Verteidigungspolitik Woran gemessen wird zum Trotz bleibt sie ein Problemkind. In Deutschland überlappt die Wie- Die Debatte, wie eine handlungsfähi- derkehr der Verteidigungspolitik mit ge und wirksame Verteidigungspoli- einer seit spätestens 2014 laufen- tik aussieht, verläuft zäh, sie ist in den Debatte über eine neue Verant- Teilen noch tabubehaftet, und die Zu- wortung in der Außen- und Sicher- stimmung in der Bevölkerung bleibt heitspolitik. Diese „neue Verantwor- zurückhaltend. tung“ wird aus der wachsenden Be- Für die kommende Regierung deutung Deutschlands abgeleitet: Als bedeutet das vor allem, zwei Span- zentrale europäische und tief in glo- nungsverhältnisse zu bearbeiten, in balen Netzwerken verankerte Macht denen sich die verteidigungspoliti- sollte es bereit sein, mehr für die Si- schen Aufgaben für die nächste Legis- cherheit zu tun, die andere seit Jahr- laturperiode verorten: Das erste be- zehnten bereitstellen und sich stärker

IP • März / April 2017 89 Sicherheitspolitik

für die Stabilität der internationalen getroffen hat. Zudem bemüht sich die Ordnung einsetzen, von der es profi- Bundesregierung, die militärischen tiert und von der Deutschlands Wohl- Grundlagen bei der Bundeswehr wie- stand abhängt. Dieser neue Anspruch der zu sanieren: Bei der Ausstattung manifestierte sich in den Reden von der Streitkräfte und der bi- und mul- Präsident Joachim Gauck, Außenmi- tilateralen Verteidigungskooperation nister Frank-Walter Stein- ist Besserung in Sicht. In anderen Fäl- Nur für den Einsatz meier und Verteidigungs- len, wie in Nordafrika, Syrien und im ziviler Mittel herrscht ministerin Ursula von der Kampf gegen den IS wurde Deutsch- Leyen auf der Münchner land erst aktiv, als diese Krisen zu ei- ein breiter Konsens Sicherheitskonferenz An- nem innenpolitischen Thema wurden: fang 2014. Aber auch die durch die Flüchtlingsströme seit Som- Veränderungen im internationalen mer 2015 oder weil wesentliche Part- Umfeld und nationale Herausforde- ner sie zu einem Kernthema machten, rungen haben die deutsche Politik wie nach den Terroranschlägen in Pa- seitdem geprägt. ris vom November 2015. Noch also ist Ob und wie sich diese „neue Ver- Verantwortungsübernahme krisenge- antwortung“ auf die deutsche Vertei- trieben und oft reaktiv. digungspolitik auswirkt, ist von zen- Tatsächlich fällt es Berlin schwer, traler Bedeutung. Wohl herrscht ein systematisch eine Politik der „neuen breiter Konsens für den Einsatz zivi- Verantwortung“ zu entwickeln. Das ler Mittel der Sicherheitspolitik. Aber liegt nicht zuletzt an der Scheu, sich gesellschaftlich und politisch gibt es die Konsequenzen der Rückkehr mi- große Meinungsverschiedenheiten litärischer Macht als Instrument der über die Rolle, die Militär darin spie- Außen- und Sicherheitspolitik vor len sollte. Wenn Deutschlands Part- Augen zu führen. Wohl werden Kri- ner mehr Verantwortung von Berlin sen nicht durch das Militär gelöst. fordern, dann erwarten sie aber ge- Aber nicht mit dem Einsatz von Ge- nau das: mehr Engagement im Vertei- walt drohen zu können oder zu wol- digungsbereich. Wie groß die Verän- len, um damit Europa gegen Gewalt derungen wirklich sind, das bemisst und seine Auswirkungen zu schüt- sich am deutlichsten in diesem für zen, hat zu mehr Unsicherheit in Eu- Deutschland so schwierigen Feld. ropa geführt und Handlungsoptionen zunichte gemacht. Mehr reaktiv als aktiv Dass Europa, allen voran Deutsch- Aktiv wird Deutschland seit 2014, wo land als zivile Macht und durch die Druck entsteht, sei es durch Partner Erfahrung zweier Weltkriege ge- oder Ereignisse. Vor allem in der Uk- prägt, wenig Interesse an militäri- raine-Krise hat Berlin diplomatische scher Macht hat, beeindruckt An- und militärische Verantwortung und dere nicht so sehr, dass sie es Euro- Führung übernommen. In der NATO pa gleichtun und ebenfalls auf militä- ist Deutschland der wichtigste euro- rische Macht verzichten würden. Im päische Truppensteller bei den An- Gegenteil: Russland und China sehen passungs- und Abschreckungsmaß- Militär als Machtressource, um Ein- nahmen, die das Bündnis seit 2014 fluss in wesentlichen Politikfeldern zu zum Schutz der östlichen Alliierten erlangen.

90 IP • März / April 2017 Was genau heißt „neue Verantwortung“?

Bild nur in Printausgabe verfügbar

Die Besonderheit der militäri- zustufen – etwa Klimawandel oder schen Machtressource resultiert aus soziale Ungerechtigkeit. Das trifft der schlichten Tatsache, dass es dabei zweifelsohne zu. Doch nun kommt um die ultimative Frage von Leben eine überwunden geglaubte militä- und Tod geht. Dies zwingt unweiger- rische Bedrohung hinzu. Weil es um lich dazu, die Sicherung des Überle- Leben oder Tod geht, zwingt sie die bens an erste Stelle zu setzen. Gera- Westeuropäer dazu, sich an erster de uns Deutschen mag das archaisch Stelle mit dieser Gefahr auseinander- vorkommen. Deutschland ist nicht zusetzen. Das erschwert die Bearbei- unmittelbar bedroht – aber Andere tung anderer Risiken und Probleme in unmittelbarer Nähe sind es. Die auf politischer, diplomatischer und Tatsache, dass andere Akteure im- humanitärer Ebene. mer häufiger Militär zur Durchset- Die militärische Schwäche West- zung von Interessen politischen Kom- europas hat Andere geradezu ein- promissen vorziehen, zwingt dazu, geladen, ihre Interessen militärisch Militär als Machtfaktor anzuerken- durchzusetzen. Weder Russland noch nen. Es bedroht unsere Lebenswei- der IS mussten ernsthaft damit rech- se, die auf der Stärke des Rechts und nen, dass die EU- und NATO-Staa- institutionellen Regeln beruht. Je öf- ten ihre Regeln und Werte mit Waf- ter militärische Macht es erfolgreich fengewalt verteidigen, solange der Re- ermöglicht, strategische Ziele zu er- gelbruch außerhalb des NATO- oder reichen, umso attraktiver wird die- EU-Gebiets stattfindet. se Ressource. Kaum jemand hätte erwartet, Westeuropa war in weiten Teilen dass sich der Westen in der Ukraine dazu übergegangen, viele andere Be- oder in Syrien mit einer Interventi- drohungsquellen als gefährlicher ein- on engagiert, deren Nutzen umstrit-

IP • März / April 2017 91 Sicherheitspolitik

ten bleibt. Dennoch hätte das blo- menden Legislaturperiode die folgen- ße Vorhandensein von militärischer den zehn Punkte bearbeitet werden: Macht des Westens die politisch-stra- tegische Kalkulation anderer Akteu- 1. Verantwortung ausbuchstabie- re verändert. ren statt selektieren Noch verarbeiten die Europäer, Deutschland trägt sicherheitspoliti- wie sehr sich die sicherheitspolitische sche Verantwortung für sich selbst Konstellation in Europa verändert und für die Gemeinschaft, in der es hat. Aber die verteidigungspolitische agiert, also NATO, EU und UN. Ver- Debatte entwickelt sich schnell wei- antwortung besteht in dem Maße, ter und Deutschland treibt sie zuwei- in dem Deutschland die Möglichkeit len aktiv voran: in der NATO über besitzt, durch eigenes Handeln oder die Gipfelbeschlüsse in Wales 2014, Nichthandeln die eigene Lage oder die den grundlegenden die seiner Partner zu verbessern Innere und äußere Wandel der Allianz bedeu- (oder nicht zu verschlechtern), sowie Bedrohungen sind teten; über die neue Glo- seine sicherheitspolitischen Ziele und balstrategie der Europäi- Interessen zu erreichen. Deutschland nicht klar zu trennen schen Union, die zum er- ist also nicht nur dort verantwortlich, heblichen Teil auf Sicher- wo es handelt, sondern auch dort, wo heit und Verteidigung Bezug nimmt. es nicht handelt. Für die Umsetzung haben Deutsch- Deutschland muss sich in der land und Frankreich weitreichende nächsten Legislaturperiode der Auf- Vorschläge vorgelegt, etwa in dem ge- gabe stellen, eigene sicherheitspoli- meinsamen Brief der Außenminister tische Konzeptionen zu entwickeln. Frank-Walter Steinmeier und Jean- Das gilt in geografischer Hinsicht, Marc Ayrault vom Sommer 2016. etwa für den Nordosten Europas, wo Auch damit steht Deutschland in der Deutschland Sicherheit im Wesentli- Pflicht, sich im Verteidigungsbereich chen über die NATO und EU gestal- weiter zu engagieren. tet. Das gilt aber auch für funktiona- Das sich schnell und gewaltvoll le Themen wie Energie und kritische verändernde Sicherheitsumfeld lässt Infrastrukturen. Die in der Realität Deutschland ebenfalls keine Atem- bereits weitgehend aufgehobene Tren- pause: Die Einsätze in Mali, Syrien nung zwischen äußerer und innerer und Irak verweisen auf eine weitere Sicherheit müsste auch in der Regie- Auflösung der Trennung von inneren rungsarbeit nachvollzogen werden. und äußeren Bedrohungen. Deutsch- Eine besondere Aufgabe sollte dar- land muss zugleich neue Antworten in liegen, aktiv die europäischen Vor- finden, in welchem politisch-rechtli- stellungen und Beiträge für die trans­ chen Rahmen und mit welchem Ziel atlantischen Beziehungen zu definie- es Militär einsetzen will. ren, anstatt lediglich auf die Vorstel- Die Herausforderung liegt nun lungen der neuen US-Administration darin, die Reaktionen auf den Hand- zu reagieren. lungsdruck stärker aus einer „Verant- Die neue amerikanische Regie- wortungsperspektive“ zu gestalten, rung dürfte ihr sicherheitspolitisches statt nur auf eine weitere Krise zu Engagement im Nahen und Mittleren reagieren. Dafür sollten in der kom- Osten neu definieren, der immer fra-

92 IP • März / April 2017 Was genau heißt „neue Verantwortung“?

giler und instabiler zu werden droht. Doch die sicherheitspolitischen Mit- Wenn sich die USA dazu entschlie- tel sind in Deutschland systematisch ßen, in dieser Region wieder eine getrennt nach Instrumenten innerer stärkere Rolle zu spielen, könnte dies und äußerer Sicherheit. Dies erhöht die Risiken reduzieren, die von dort den Druck auf die Politik, wesentli- für Europa ausgehen. Gleich, ob der che Grundpfeiler der politischen Ord- neue Präsident an der NATO festhält nung zu überdenken. oder von ihr abrückt: Der seit Lan- Dem ist nicht einfach mit der For- gem existierende Druck auf Europa, derung nach dem Einsatz der Streit- spürbar mehr für die eigene Sicher- kräfte im Inneren zu begegnen – oder heit zu leisten, wird wachsen. Ver- deren prinzipieller Ableh- schärfen sich die Spannungen im pa- nung. Nur konsequent Die USA könnten ein zifischen Raum, könnten die USA wäre eine Debatte, die die „Burden Sharing in Beiträge Europas zur Sicherheit im Risiken und Bedrohun- Pazifik als ein „Burden Sharing in gen nicht mehr nach innen Reverse“ fordern Reverse“ einfordern. und außen unterscheidet, sondern vor allem nach dem Risiko 2. Gesamtstaatliche Herausforde- für die Gesellschaft und das politische rungen in der Sicherheitspolitik System. Staaten wie Großbritannien angehen machen dies vor. Erst danach, und Die zentrale sicherheitspolitische Fra- somit an zweiter Stelle, stellt sich die ge ist: Wie will Deutschland mit ge- Frage, welches Mittel das effektivste samtstaatlichen Herausforderungen und das angemessenste ist. in der Sicherheitspolitik umgehen? Auch die notwendige Ausbuch- Zwar diagnostiziert und priorisiert stabierung des derzeit vielbenutzen das Weißbuch 2016 die Risiken und Resilienz-Begriffs wird zu intensi- Herausforderungen an der Schnitt- ven politischen Debatten führen, stelle von innerer und äußerer Si- weil damit auch die historisch ge- cherheit: Terrorismus, Cyberraum, wachsene, scharfe und politisch-ge- kritische Infrastrukturen, aber auch sellschaftlich weithin akzeptierte Migration. Doch aufgrund des man- Trennung zwischen Akteuren und gelnden Konsenses unter Parteien Institutionen innerer und äußerer und Ministerien hinsichtlich der kon- Sicherheit infrage gestellt wird. Hier zeptionellen Antworten und instituti- stellt sich auch die Frage wie eine onellen Zuständigkeiten konnte auch notwendige Zusammenarbeit der das Weißbuch keine konkreten Vor- Exekutive mit privaten Akteuren schläge entwickeln. (Wirtschaft) und Zivilgesellschaft Hier vollzieht sich ganz praktisch gestaltet werden sollte. der Paradigmenwechsel in der Si- Der Weg hin zu einer resilienten cherheitspolitik, von dem Experten Gesellschaft erfordert, den vernetz- seit den neunziger Jahren sprechen. ten Ansatz auch und vor allem in der Sicherheit und Verteidigung gehen nationalen Dimension umzusetzen. eine neue Verbindung ein. Die Berei- Und es erfordert ein Staatsverständ- che und Räume innerer und äußerer nis, das über die Exekutive hinaus- Risiken verschmelzen. Das gilt insbe- geht und die Ertüchtigung der eigenen sondere für Terrorismusbekämpfung: Bevölkerung zum Ziel hat.

IP • März / April 2017 93 Sicherheitspolitik

3. (Nukleare) Abschreckung und ren. Dabei gilt es, einen Rückfall in Dialog: effektiv drohen für den die Pfadabhängigkeiten alter Debat- Frieden ten zu vermeiden und unvoreinge- Abschreckung bedeutet, den Gegen- nommen Stärken und Schwächen zu über von einem Angriff abzuhalten, analysieren und zu diskutieren. indem man droht, selbst Gewalt zur Weitaus schwieriger ist das The- Abwehr von Bedrohungen einzuset- ma nukleare Abschreckung. Deutsch- zen. Deutschland kann der Debat- lands Position ist hier ambivalent: Es te über die Rolle von Abschreckung ist Teilhaber an Nuklearwaffen, for- nicht entgehen. Russlands Aggressio- dert aber gleichzeitig traditionell die nen und allgemein die Rückkehr mi- Abschaffung aller Atomwaffen. Die- litärischer Mittel als Instrument in- se Ambivalenz blieb lange ohne di- ternationaler Politik haben diesem rekte sicherheitspolitische Bedeu- Konzept aus dem Kalten Krieg eine tung. Doch die laufende Debatte um Wiederkehr beschert. Berlin sollte die Rolle von Nuklearwaffen auf Sei- sich frühzeitig eine selbstbewusste ten Russlands und der NATO erlaubt Position erarbeiten und die Debatte es nicht mehr, sich einer Debatte über gestalten, anstatt unvorbereitet mit das Für und Wider nuklearer Ab- den Forderungen Anderer konfron- schreckung zu verschließen. Dafür tiert zu werden. sind die mit diesen Waffen verbunde- Natürlich stellt sich die Frage, nen Risiken schlicht zu hoch. Im Sin- ob und wie Abschreckung in einer ne des deutschen Doppelansatzes von Welt funktionieren kann, in der Si- Abschreckung und Dialog sollte Ber- cherheit von mehr als nur militäri- lin eine angemessene Abschreckung schen Mitteln abhängt. Moderne Ab- mit einer realistischen Rüstungskon- schreckung muss die nukleare und trolle flankieren. konventionelle Dimension anpassen und eine zivile Komponente entwi- 4. Europäische Verteidigung ckeln, um feindliche staatliche und statt GSVP und NATO nichtstaatliche Akteure davon abzu- Deutschland tendiert dazu, die Lö- halten, Europa mit militärischen und sung seiner Sicherheitsprobleme im- nichtmilitärischen Mitteln zu desta- mer noch reflexartig mit Instituti- bilisieren. Es gilt, sowohl die territo- onen zu verbinden, vor allem der riale Integrität als auch das Funktio- NATO und der Gemeinsamen Si- nieren der Gesellschaft in ihren so- cherheits- und Verteidigungspolitik zialen, politischen und der EU (GSVP). Tatsächlich sind bei- Der Debatte über technischen Grundlagen de als Vehikel zur Herstellung von Si- Abschreckung kann zu schützen. Militärische cherheit nur begrenzt wirksam. Die Abschreckung sollte nicht NATO bleibt eine militärische Ver- Berlin nicht entgehen ersetzt, sondern erweitert teidigungsgemeinschaft. ­Wesentliche werden: Für bestimmte Instrumente, um nichtmilitärischen Aktivitäten ist die Androhung einer Mitteln zu begegnen, liegen in der EU militärischen Vergeltung nicht glaub- oder bei den Mitgliedstaaten. Auch würdig. Benötigt wird ein breiteres die GSVP leistet nur einen sehr be- Rahmenwerk, das hilft, andere Ab- schränkten Beitrag zur Sicherheit, schreckungsoptionen zu identifizie- der den heutigen Bedürfnissen nicht

94 IP • März / April 2017 Was genau heißt „neue Verantwortung“?

Bild nur in Printausgabe verfügbar

mehr gerecht wird. Schlüsselinstru- europäischen Verteidigungskoopera- mente finden sich bei der EU-Kommis- tion mit dem Rahmennationenkon- sion und erneut bei den Staaten. Die zept in der NATO und mit der Wie- Bedeutung für die Institutionen liegt derbelebung der Idee einer Ständi- darin, Kräfte zu bündeln und, wenn gen Strukturierten Zusammenarbeit möglich, den dafür notwendigen Kon- in der EU große Verpflichtungen ein- sens herzustellen. Deshalb ist die Fra- gegangen. Politisch muss Berlin selbst ge „NATO oder EU“ irreführend. bereit sein, die Folgen engerer Koope- Die richtigen Fragen lauten: Wie ration zu tragen und gleich­zeitig die können die Europäer sich effektiv Interessen aller Partner zu berück- verteidigen? Was wird für den Schutz sichtigen. von Bürgern, Gesellschaften und Fähigkeiten der Bundeswehr kön- Staaten benötigt? Und wer kann die nen nur noch im europäischen Rah- entsprechenden Beiträge leisten? Die men sinnvoll definiert werden. So be- Idee der Autonomie ist dabei fehl am stimmen die jetzigen und zukünfti- Platz. Niemand will ernsthaft unab- gen militärischen Fähigkeiten der hängig von den USA sein, denn dann Partner die Umsetzung des Rahmen- wären die USA autonom von Europa. nationenkonzepts. Die Planung der Europa sollte Wert darauf legen, eng eigenen Fähigkeiten und die Koope- mit den USA verbunden zu bleiben rationsangebote an Partner sollte die und gleichmäßige, gegenseitige Ab- Bundeswehr deshalb auf eine „Euro- hängigkeiten anstreben. päische Fähigkeitslage 2030“ abstüt- zen: eine umfassende, kontinuierli- 5. Streitkräfte systematisch che und weitblickende Analyse der europäisch reformieren Verteidigungskomplexe seiner Part- Deutschland ist bei der Förderung der ner in Europa.

IP • März / April 2017 95 Sicherheitspolitik

6. Mehr investieren und mehr Praxis tut es dies schon – von Afgha- riskieren nistan bis Mali stehen deutsche Sol- Militärisch bedeuten die deutschen daten mit in der ersten Reihe. Mit der Verpflichtungen gegenüber unseren Vermittlung aber hapert es. Reflexar- NATO-Partnern einen langfristigen tig neigt die Politik dazu, die Risiken Mehrbedarf an Personal, Ausrüstung solcher Missionen kleiner zu reden. und Übungstätigkeit. Die derzeitigen Budgeterhöhungen werden nicht aus- 7. Partnerschaft mit Paris mit reichen, um das Fähigkeitsprofil der Leben erfüllen Bundeswehr und damit das Rückgrat Es gibt nach dem Brexit-Votum keinen der beginnenden europäischen Ko- wichtigeren Partner als Frankreich operation über das nächste Jahrzehnt in der EU. Gerade im Bereich Sicher- stabil zu halten oder sogar zu stei- heit und Verteidigung ist Deutschland gern. Dazu wären etwa drei bis fünf eine Verpflichtung eingegangen, etwa Milliarden mehr pro Jahr im Verteidi- durch die gemeinsamen Projekte der gungshaushalt erforderlich. deutschen und französischen Außen- Dabei geht es weniger darum, das minister. Die im Sommer 2016 veröf- 2-Prozent-Ziel der NATO zu errei- fentlichten Vorhaben haben die Dis- chen, als darum, die Lücken zu fül- kussion in Europa angefacht und len, die in der Vergangen- Hoffnung auf wirkliche Fortschritte Die Effizienz muss heit gerissen worden sind. bei der Weiterentwicklung der euro- wachsen mit gemein- Diese Erhöhung ist aber päischen Sicherheitskooperation ge- nur dann sinnvoll, wenn weckt. In Berlin stottert nun der Mo- samen Investitionen zusätzliche Bedingungen tor. Für Paris ist die deutsche Reak- erfüllt werden. Nur mit- tion ein Test, wie ernst Berlin seine telfristig gesicherte Erhöhungen auf- „neue Verantwortung“ und die ge- grund konkreter Projekte bringen meinsamen Erklärungen nimmt. Soll- mehr Verteidigungsleistung. ten die Wahlergebnisse in Frankreich Gleichzeitig muss sich die Effizi- und Deutschland es zulassen, so ha- enz steigern. Hier gilt: gemeinsam in- ben beide Länder Ende 2017 eine his- vestieren statt allein. 60 bis 80 Pro- torische Chance, die EU über ein gro- zent der Lebenszeitkosten für Waf- ßes gemeinsames Projekt wiederzu- fensysteme entstehen während der beleben und vielleicht sogar auf eine Nutzung. Diese kann man aber nur neue Stufe zu heben. senken, wenn man durch den Erwerb von Gütern und Dienstleistungen ge- 8. Rüstung ist Verantwortung meinsam mit den Partnern in EU und Wer Streitkräfte haben will, der NATO nicht nur größere Produkti- braucht Zugang zu einer Rüstungs- onsmengen schafft, sondern auch die industrie, um sie konstant mit Ma- Möglichkeit zur gemeinsamen War- terial zu versorgen. Was passiert, tung und Nutzung der Systeme. wenn man die Rolle der Industrie in Deutschland kann sich aber von der Einsatzfähigkeit der Streitkräf- Verantwortung nicht freikaufen. te ausblendet, hat Deutschland an- Als glaubwürdiger und ebenbürtiger hand der dramatisch abgesunkenen Partner muss es das Risiko von Ein- Zahlen bei einsatzbereitem Gerät ge- sätzen mit den Partnern teilen. In der zeigt. Ein Konsens, was ein verant-

96 IP • März / April 2017 Was genau heißt „neue Verantwortung“?

wortungsvoller sicherheitspolitischer keit besser zu vermitteln, wie tiefgrei- Umgang mit Rüstung ist und welche fend sich die NATO gerade verändert, Rolle die deutsche und die europäi- wie substanziell der deutsche Beitrag sche Industrie dabei spielen, besteht dafür ist und warum beides notwen- in Deutschland höchstens theore- dig ist. Startpunkt sicherheitspoliti- tisch. Stattdessen bleibt Rüstung Ge- sche Diskussionen könnte das Weiß- genstand tagespolitischer Skandali- buch 2016 sein. sierung und erheblicher Berührungs- ängste von nahezu allen Seiten. Dies 10. Bundestag: über den schränkt nicht nur die Möglichkeiten nationalen Tellerrand schauen ein, Rüstungsexporte und -koopera- Die „neue Verantwortung“ sollte das tion als sicherheitspolitische Gestal- Parlament einbinden: Parlamentarier tungsmittel zu nutzen. Es schadet so- tragen Debatten in die Öffentlichkeit, gar: Deutschlands Partner sehen da- und spielen eine immer größere Rolle rin auch die mangelnde Bereitschaft, in der Verteidigungskooperation. Sie verlässliche Zusagen und Beiträge für entscheiden nicht nur über Einsätze, ihre Sicherheit zu leisten. sondern können auch gemeinsame Eine Konkretisierung mittels einer Beschaffungen und Betrieb von Ma- Rüstungsstrategie und die Schaffung terial ermöglichen und so die Koope- klarer Zuständigkeiten innerhalb der ration mit Partnern erleichtern oder Regierung für die sicherheitspoliti- erschweren. Der Bundestag könn- sche Gesamtbewertung sind mögliche te seine Kontakte zu Parlamenten in Schritte, um diese Lücke zu schließen. Partnerstaaten intensivieren und eru- ieren, wie Kooperationsbedingungen 9. Die Bevölkerung mitnehmen verbessert werden können. Die sicherheitspolitischen Ambitio- nen der Regierung haben nur gerin- Dr. Claudia Major gen Rückhalt in der Bevölkerung. arbeitet in der For- Doch gerade in Deutschland, wo Si- schungsgruppe Si- cherheitspolitik der cherheitspolitik nicht auf einem etab- Stiftung Wissenschaft lierten Konsens aufbaut, sondern für und Politik (SWP). jede Frage oder Krise neu definiert werden muss, ist die Unterstützung durch die Bevölkerung wichtig. Wenn Deutschland glaubhaft sei- ne Verlässlichkeit beweisen möch- Dr. Christian Mölling te, wird es seine Entscheidungen für ist stellvertretender oder gegen Einsätze sicherheitspoli- ­Direktor des For- schungsinstituts der tisch begründen müssen – vor allem Deutschen Gesell- zuhause. Regierung und Bundestag schaft für Auswärtige werden aktiv die „neue Verantwor- Politik (DGAP). tung“ erklären und dafür werben müssen. Dazu gehört, der Öffentlich-

IP • März / April 2017 97 Visegrád-Staaten

Prediger in der Wüste Die „Ent-Orbánisierung“ der Visegrád-Gruppe hat begonnen

Milan Niˇc | Ungarns Ministerpräsident Victor Orbán hat 2017 zum „Jahr der Revolte“ gegen die „alteuropäische, liberale Elite“ erklärt. Doch bei die- sem Vorhaben dürfte ihm die Visegrád-Gruppe die Gefolgschaft versagen. Tschechien und die Slowakei haben erkannt, dass eine loser organisierte EU nicht in ihrem Interesse ist, und auch Polen geht auf Distanz.

Viktor Orbáns Tonlage war zuletzt in Frankreich Anfang Mai noch die fast die eines Predigers. Dabei be- Abwahl von Bundeskanzlerin Ange- schwert sich Ungarns Ministerpräsi- la Merkel im Herbst unmöglich. Und dent längst nicht mehr über Deutsch- auch die sonst politisch eher gemä- lands „moralischen Imperialismus“, ßigte Tschechische Republik könn- wie er es auf dem Höhepunkt der te nach den Wahlen Mitte Oktober Flüchtlingskrise 2015 getan hatte. von ihrem eigenen Silvio Berlusconi Vielmehr feiert er bereits jetzt 2017 in Person des bisherigen Finanzmi- als „das Jahr der Revolte“ innerhalb nisters Andrej Babis geführt werden. der Europäischen Union: Für ihn be- Der größte Medienmagnat des Landes deuten die bevorstehenden Wahlen gilt als aussichtsreichster Kandidat in den Niederlanden, Frankreich und für das Amt des Premier­ministers. der Bundesrepublik die große Chan- ce, die alten politischen Eliten loszu- Orbáns Ungereimtheiten werden. Schaut man genauer hin, erkennt Das Ende der liberalen Ordnung man die Ungereimtheiten in Orbáns in Europa stehe bevor – und die Vorstellungen. Auf den ersten Blick Machtübernahme einer neuen Elite, scheinen alle vier Visegrád-Regierun- die mehr mit seinen Vorstellungen im gen zwar integrationsskeptische Ver- Einklang steht. Diese neue Elite mit fechter einer EU mit schwachen Ins- den Visegrád-Staaten Ungarn, Polen, titutionen und starken Mitgliedstaa- Tschechien und der Slowakei als Kern ten zu sein. Tatsächlich aber zeich- stünde den Bedürfnissen, Stimmun- nen sich unter der Oberfläche Risse gen und Ängsten der Wähler näher. innerhalb der Gruppe ab, besonders Nun ist weder ein Wahlsieg des zwischen den lautstarken Verfech- rechtsextremen Front National un- tern „nationaler Souveränität“, Un- ter der Führung von Marine Le Pen garn und Polen, und denjenigen, die

98 IP • März / April 2017 Prediger in der Wüste

eine moderatere und pragmatischere ner Fiskalunion. Somit haben weder Linie verfolgen, nämlich die Slowaki- der slowakische Ministerpräsident sche und die Tschechische Republik. Robert Fico, berühmt-berüchtigt für Es sind vor allem strukturelle Fak- seine populistischen Aussagen, noch toren, die die Visegrád-Gruppe in un- sein technokratischer Amtskollege in terschiedliche Richtungen treiben. Tschechien, Bohuslav Sobotka, ein In- Ungarn und Polen wandten sich in teresse an der von Ungarn und Polen den vergangenen Jahren unter ihren beworbenen „konservativen Konter- Einparteienregierungen, dominiert revolution“ in Europa. von einem „starken Mann“, von de- Diese Differenzen sind verhält- mokratischen Grundsätzen ab. So- nismäßig milde, verglichen mit frü- wohl Orbán als auch Jarosław Kac- heren Querelen und Perioden eines zynski, der allmächtige Vorsitzende „passiven Visegrád“, als die Gruppe der in Polen regierenden Partei für aufgrund interner Spannungen zer- Recht und Gerechtigkeit (PiS), sehen rissen und handlungsun- ihre Länder als Bastionen eines tra- fähig war oder sich ein Tschechen und Slo- ditionellen, christlichen Konservatis- Mitglied ganz ausklink- waken wollen keine mus und teilen ihre reaktionären und te. Die häufigsten Ausrei- ideologischen Anschauungen der EU ßer waren bislang Polen, „Konterrevolution“ mit den extrem rechten Wortführern aufgrund seiner größe- im Westen Europas. Dagegen regieren ren und bedeutenderen Rolle in der in Tschechien und der Slowakei Koa- europäischen Politik, und die Tsche- litionen aus je drei Parteien unter so- chische Republik, deren Regierung zialdemokratischer Führung, die wei- ihr Land bisweilen als ökonomisch testgehend europafreundlich sind. weiterentwickelter wahrnahm als Vor allem in der Tschechischen die anderen in der Region. Ein an- Republik wurden die Beziehungen deres Spannungsfeld waren die slo- zum direkten Nachbarn Deutsch- wakisch-ungarischen Beziehungen: land immer als sehr wichtig einge- So gab es 2009 diplomatischen Streit stuft. Petr Kratochvil, Direktor des über eine Änderung des slowakischen Instituts des Auswärtigen Amtes für Sprachenrechts, die von Budapest als Internationale Beziehungen, machte Angriff auf die im Land lebende unga- erst kürzlich deutlich, dass Prag im rische Minderheit verstanden wurde. Falle eines Wahlsiegs von Le Pen in 2010 folgte der Zwist über das ungari- den französischen Präsidentschafts- sche Gesetz zur doppelten Staatsbür- wahlen ein wesentlicheres Interesse gerschaft, das einer bevorzugten Ein- daran habe, die engen Beziehungen bürgerung im benachbarten Ausland zu Berlin aufrechtzuerhalten, als sich lebender Ungarn den Weg ebnete. auf die Seite von Orbán und Kaczyns- ki zu schlagen. Die Slowakei ist als Eine neue Qualität einziger Visegrád-Staat Mitglied der Dennoch haben die derzeitigen Un- Europäischen Währungsunion, da- stimmigkeiten eine neue Qualität. durch ohnehin stärker mit Deutsch- In Prag und in abgeschwächter Form land und dem europäischen Kern auch in Bratislava wächst die Sorge, verbunden und sogar bereit zu einer dass sich die Visegrád-Gruppe von ih- weiteren Vertiefung in Richtung ei- ren ursprünglichen Zielen abwendet.

IP • März / April 2017 99 Visegrád-Staaten

Die regionale Allianz war kurz ren und Formate, unter anderem die nach dem kommunistischen Zusam- jährlich rotierende Präsidentschaft menbruch unter der Führung von sowie regelmäßige Treffen von der Dissidenten entstanden, die plötzlich Ebene der Premierminister bis hin als Staatspräsidenten (Václav Havel, zu Expertentreffen auf Ministeriums­ Lech Wałesa) und Premierminister ebene. Außenstehende unterschätzen (József Antall) fungier- oft das Ausmaß persönlicher Vernet- Bild nur in Große Nutznießer ten. Ihr Treffen 1991 in zung, das zwischen den Regierungs- Europas liberaler der malerischen, kleinen mitarbeitern und Fachleuten der vier Printausgabe verfügbar Stadt Visegrád diente der Staaten besteht. Bis heute hängt je- Ordnung nach 1989 Distanzierung ihrer drei doch vieles von gemeinsamen Inter- Staaten (aus denen spä- essen, funktionellen Synergien und ter, nach dem Auseinanderbrechen auch der persönlichen Chemie auf der Tschechoslowakei, vier wurden) höchster politischer Ebene ab. von Russland und dem geopolitischen Erbe der sowjetischen Dominanz. Hinter verschlossenen Türen Jacques Rupnik, damals ein Be- Um Konflikte aus der Öffentlichkeit rater Havels, erinnert daran, dass fernzuhalten, haben sich die vier Län- die Visegrád-Gruppe „mit demo- der auf EU-Ebene auf ein diplomati- kratischen Idealen und Ambitionen sches Koordinierungskonzept festge- und unter demokratischen Führun- legt. Sie vertreten regionale Positio- gen gegründet wurde. Sie repräsen- nen nur dann gemeinsam, wenn alle tierte auch einen starken Gegensatz einverstanden sind – wie beispiels- zum Nationalismus … in der Region. weise bei Themen des Gemeinsamen ­Außerdem hatte die Formierung auch Marktes, Freizügigkeit oder Grund- eine europäische Dimension: Das satzhaltungen gegenüber London in Hauptziel war es, Europa zu einen, Sachen Brexit. ein neues Zentraleuropa zu schaf- Neuerdings distanzieren tschechi- fen und dieses gleichzeitig im wei- sche und slowakische Diplomaten al- teren Sinne in das europäische Pro- lerdings ihre Länder von der „reakti- jekt zu integrieren.“1 In den folgenden onären Achse Budapest–Warschau“ 25 Jahren ermöglichte diese informel- und Orbáns Umdeutung des Vise- le Gruppierung – als Konsequenz ih- grád-Gedankens. Ähnliche Stimmen res Zusammenschlusses, aber auch werden auch in außenpolitischen als Quelle neuer Ideen – eine histo- Debatten in Warschau laut. In einer risch noch nie dagewesene geopoliti- jüngst erschienenen Analyse ungari- sche Stabilität in Zentraleuropa. scher Ambitionen auf eine Führungs- Die Visegrád-Gruppe begann als rolle in der Region sprach sich das ad-hoc agierende, informelle Koaliti- Polnische Institut für Internationa- on vierer Länder zur Untermauerung le Beziehungen (PISM) für die Wie- gemeinsamer regionaler Positionen; derherstellung größerer Symmetrie um diese zu entwickeln, existieren in Warschaus Beziehungen zu Buda­ heute eine Reihe bewährter Verfah- pest aus.

1 Jacques Rupnik: What is alive and what is dead in the Viségrad project, Visegrád Insight 1/2016

100 IP • März / April 2017 Prediger in der Wüste

Bild nur in Printausgabe verfügbar

Bisher wurden die wachsen- Zentraleuropa führen. Denn was in den Spannungen hinter verschlosse- Ungarn als große Chance gilt, wäre nen Türen verhandelt. Noch hält ein für Polen, die Tschechische Republik identischer Ansatz in der Migrations- und die Slowakei in Wahrheit eine und Flüchtlingsfrage die vier zusam- große Bedrohung. Diese drei Staaten men. Die Visegrád-Premierminister waren mitunter die größten Nutznie- und andere hohe Regierungsmitglie- ßer der liberalen Ordnung Europas der treffen sich weiterhin regelmä- nach 1989, die jetzt von unterschied- ßig und koordinieren sich in Brüssel lichen Seiten unter Druck gerät. Ein vor jedem EU-Gipfel und den Treffen möglicher „Deal“ zwischen dem neu- der europäischen Gremien. Die Sor- en amerikanischen Präsidenten Do- ge, dass offene Auseinandersetzun- nald Trump und Russlands Wladimir gen von Deutschland und anderen Putin auf Kosten der Ukraine würden EU-Staaten zur weiteren Schwächung die meisten Polen als ein demütigen- der Region auf EU-Ebene ausgenutzt des „neues Jalta“ ansehen, ob sie An- werden könnten, treibt alle um. hänger der PiS-Regierung sind oder Allerdings drängt sich auch den nicht. Orbán dagegen würde einen Visegrád-Mitgliedern die Frage auf: solchen Deal begrüßen und wahr- Was passiert, wenn die Wahlen von scheinlich versuchen, weitere Zuge- 2017 wirklich zu einer EU führen, ständnisse für ungarische Minder- die unbeständiger und lockerer orga- heiten als Teil des Gesamtpakets her- nisiert ist? Das Fehlen einer gemein- auszuschlagen. samen Vision und das unterschied- Dass es grundsätzlich schwierig liche Verständnis der regionalen In- war und ist, regionale Kooperationen teressen würden zu einem ausein- in Zentraleuropa zu organisieren, hat anderstrebenden, fragmentierteren auch mit den unterschiedlichen his-

IP • März / April 2017 101 Visegrád-Staaten

Bild nur in Printausgabe verfügbar

torischen Erfahrungen und geopoliti- garns Rolle in der Donau-Region ge- schen Vorstellungen der vier Länder stärkt wird. zu tun. Für Polen geht es um die gro- Diese gegensätzlichen Tendenzen ße Fläche zwischen Deutschland und innerhalb der Visegrád-Gruppe wur- Russland, zu der wohl auch die Uk- den im tiefen Zerwürfnis zu Beginn raine und womöglich sogar Weißruss- der Ukraine-Krise 2014 offenbar: Die land gehören. Für Tschechien und Haltungen reichten von Polens kla- die Slowakei handelt es sich dagegen rem Pro-Ukraine-Kurs bis hin zu Un- um das frühere Kaiserreich Öster- garns Bemühen um eine privilegierte reich-Ungarn, wobei sich die Tsche- Partnerschaft mit Russland, während chen mehr gen Westen in Richtung sich Tschechien und die Slowakei ir- Deutschland orientieren und die Slo- gendwo in der Mitte wiederfanden – waken nach Südost entlang der Do- wobei Prag eher zur polnischen Po- nau. Für Ungarn lag der Schwerpunkt sition neigte und Bratislava eher den ebenfalls auf dem Donau-Raum und Ungarn folgte. Sowohl die slowaki- auf den Karpaten, wo eine ungarische sche als auch die ungarische Regie- Minderheit lebt. rung stimmten den EU-Sanktionen Während man in Polen über Russ- gegen Russland nur widerwillig zu; lands Revisionismus besorgt und und ihre Regierungschefs sind erneut gleichzeitig über die Rückkehr einer an vorderster Front zu finden, wenn deutschen Hegemonie in Europa be- es darum geht, im Sommer 2017 eine unruhigt ist, versuchen die Ungarn, weitere Verlängerung zu verhindern strategische Partnerschaften mit bei- – obwohl sich beide, Fico und Orbán, den Mächten aufrechtzuerhalten und dazu bekannt haben, nicht diejeni- diese so auszubalancieren, dass Un- gen sein zu wollen, die eine einheitli-

102 IP • März / April 2017 Prediger in der Wüste

che Position blockieren. Wie auch im- sein, bringt sie dazu, gemeinsam mit mer: Polnische Diplomaten dürften es Deutschland an der Aufrechterhal- nicht allzu gerne sehen, dass manche tung der liberalen Ordnung in Euro- ihrer Visegrád-Partner Russland ein- pa zu arbeiten. laden, eine noch größere Rolle in der Daher werden die politischen regionalen Energie- und Geopolitik Schlüsselfiguren in Prag und Bratis- zu spielen. lava Merkel für die Bun- destagswahl im Herbst Prag und Bratislava Schulterschluss mit Putin die Daumen drücken, un- werden Merkel die So wie beim Besuch Putins in Buda- abhängig davon, wie sehr pest Anfang Februar, den Orbán zum ihnen die Haltung der Daumen drücken Anlass nahm, „die antirussische Poli- Kanzlerin in der Flücht- tik in der westlichen Hälfte des Kon- lingsfrage zuwider ist. Und im Ge- tinents“ zu kritisieren. Die weltwei- gensatz zu den Regierungen in War- ten Umbrüche böten doch „hervor- schau und Budapest wollen sie sich ragende Voraussetzungen für noch auch nicht an der Positionierung ih- engere Beziehungen zwischen Un- rer Region als Gegengewicht zu deut- garn und Russland“. Konkret ging scher Dominanz innerhalb der EU es unter anderem um den Bau zwei- beteiligen. er weiterer Meiler in Ungarns einzi- Zukünftig werden die Vise- ger Atomanlage bei Paks durch den grád-Länder vermutlich noch stär- russischen Staatskonzern Rostatom, ker divergierende Wege beschreiten, der zu 80 Prozent von Russland finan- wenn es um die Ausrichtung der EU ziert wird. geht. Eine Konsequenz daraus könn- Es war das dritte Treffen binnen te sein, dass bilaterale Beziehungen – zwei Jahren – Orbán kommt regelmä- zu Deutschland, zu anderen EU-Part- ßiger mit dem russischen Präsidenten nern, zu Putin und auch zu Trump – als mit jedem anderen Staatsober- stärker in den Vordergrund rücken. haupt zusammen, bereits seit 2009 Auch die jeweilige Innenpolitik (in jährlich. Zugleich hat Orbán stets Ungarn stehen 2018 Wahlen an) und Wert auf den Erhalt starker bilatera- die Persönlichkeiten der Handelnden ler Beziehungen zu Deutschland ge- werden die Agenda der „Vierergrup- legt. Als sich sein Verhältnis zu Kanz- pe“ bestimmen. Eines ist allerdings lerin Angela Merkel verschlechterte, sicher: Orbán wird dabei eine klei­ knüpfte er Verbindungen zu Bayerns nere Rolle spielen, als er selbst glau- Ministerpräsident Horst Seehofer. ben möchte. Mittlerweile erkennen die Regie- rungen in Tschechien und der Slo- Milan Nicˇ ist Leiter wakei immer klarer, dass das popu- des Europa-Programms listische Konzept eines „Europa der beim GLOBSEC Policy Institute in Bratislava. Vaterländer“ ihren eigenen Interes- sen zuwiderläuft. Die Aussicht, als kleine Staaten in dem momentanen geopolitischen Chaos in Mittel- und Osteuropa auf sich allein gestellt zu

IP • März / April 2017 103 Weltordnung

Die Stunde des B-Teams Nach der Wahl Donald Trumps stehen andere in der Verantwortung

Ulrich Speck | Die USA wollen ihre Rolle als Garant der internationalen liberalen Ordnung nicht mehr spielen. Das zeigt sich mit der Wahl Do- nald Trumps ganz deutlich. Doch eine von Russland und China bevorzugte ­multipolare Struktur ist keine echte Alternative. Deshalb sollten nun ande- re Staaten mehr Verantwortung übernehmen, darunter auch Deutschland.

Mit der Präsidentschaft von Donald Ordnung. Die Antwort Amerikas Trump könnte das bestehende in­ auf die Katastrophe des Zweiten Welt­ ternationale System, das die USA in kriegs bestand darin, ein kraftvolles den vergangenen Jahrzehnten aufge­ internationales System zu schaffen, baut haben, seinem Ende entgegenge­ in das die Staaten, insbesondere die hen. Russland und China haben sich Alliierten in Europa und Asien, ein­ als Gegenkräfte positioniert, mit ei­ gebettet werden sollten. Politische ner aggressiven Außenpolitik in ihrer und wirtschaftliche Kooperation soll­ Nachbarschaft. Doch solange Ameri­ ten an die Stelle von Machtkonkur­ ka seine Mission darin sah, die libe­ renz treten. rale internationale Ordnung macht­ „Liberal“ ist diese Ordnung in politisch zu stützen, blieb das System doppelter Hinsicht. Sie beruhte auf zumindest in seinen Grundfesten in­ der Überzeugung, die liberale Demo­ takt. Sollten die USA unter Trump kratie sei die einzig legitime und auf diese Rolle nicht mehr wahrnehmen Dauer auch die einzig stabile Staats­ wollen, wäre diese Ordnung existen­ form, weil sie auf der freien Selbst­ ziell bedroht. Die Schlüsselfrage lau­ bestimmung des Individuums beruht tet: Sind die reichen liberalen Demo­ und diese in ein produktives, konst­ kratien, die in der amerikanisch ge­ ruktives Verhältnis zur Gesellschaft führten Ordnung prosperiert haben, zu bringen beansprucht. Zudem de­ bereit, selbst stärker in die Rolle von finiert die liberale Ordnung Staaten machtpolitischen Garanten dieser nach dem gleichen Prinzip wie Indi­ Ordnung einzutreten – auch ohne viduen im Staat: als freie, selbstbe­ amerikanische Führung? stimmte und gleichberechtigte Teil­ Amerikanische Führung war über haber der politischen Ordnung, die Jahrzehnte entscheidend für den Auf­ auf die Bewahrung der Freiheit und bau einer liberalen internationalen Förderung des Gemeinwohls abzielt.

104 IP • März / April 2017 Die Stunde des B-Teams

Obwohl dieses System auf interna­ kratien, die ihre Energie ganz auf die tionale Institutionen – von den Ver­ Verbesserung ihrer Lebensumstände einten Nationen bis zur Welthandels­ im Rahmen von Marktwirtschaft, De­ organisation – aufgebaut ist, beruht mokratie und internationaler Koope­ es doch im Kern auf dem politischen ration konzentrierten. Willen Amerikas, seine immense Die liberale internationale Ord­ Macht zum Erhalt und Ausbau dieses nung war eine Antwort auf das, was Systems einzusetzen. Dass die stärks­ als Versagen der dreißiger Jahre gese­ te Macht im internationalen System hen wurde. Ein amerikanischer Prä­ nicht einfach auf Unterwerfung an­ sident, Woodrow Wilson, hatte Euro­ derer aus war, sondern den Anspruch pa neu entworfen als Konfiguration hatte, eine liberale Ordnung zu schaf­ von liberal-demokratischen Nationen, fen, war eine historische Anomalie. überwölbt vom friedens­ Traditionellerweise bauen Vormäch­ erhaltenden Völkerbund. Die USA wollten te kein zumindest dem Anspruch Der US-Kongress jedoch die Welt sicher für nach egalitäres System auf, sondern hatte sich geweigert, die­ eine hierarchische Ordnung mit sich ses neue System mit ame­ Demokratie­ machen selbst an der Spitze. Die USA hinge­ rikanischer Macht abzu­ gen, durch einen von Deutschland stützen; Amerika trat dem Völker­ ausgehenden Krieg in die Position bund nicht bei. Frankreich und Groß­ der Vormacht des Westens katapul­ britannien waren allein zu schwach, tiert, schufen eine kooperative, sich die Versailler Ordnung gegen das revi­ selbst tragende Ordnung. sionistische Deutschland aufrechtzu­ Der Grund: Die Vereinigten Staa­ erhalten. Das Ergebnis war der Zwei­ ten von Amerika waren geboren als re­ te Weltkrieg. volutionäre, emanzipatorische Macht, Um eine stabile Ordnung zu schaf­ die ihre innere Antriebskraft aus dem fen, die die Fehler der Post-1919-Ära Widerstand gegen das britische Impe­ vermied, bedurfte es zweierlei: eines rium gezogen hatte. Dieser Impuls über internationale Institutionen ab­ transformierte sich in ein dauerhaf­ gesicherten Systems und eines macht­ tes Selbstverständnis einer liberalen vollen Wächters, der das System steu­ Mission: die Welt sicher für Demo­ erte und für die Einhaltung der Re­ kratie zu machen, wie Woodrow Wil­ geln sorgte. Diese Rolle übernahmen son es 1917 ausdrückte. Es war diese die Vereinigten Staaten. Dass sich Haltung, die Amerika dazu bewegte, Amerika nicht nach einigen Jahren die Verlierer des Zweiten Weltkriegs wieder aus der Verantwortung für Deutschland und Japan nicht einfach das System zog, lag nicht nur an den zu unterwerfen, sondern in den Auf­ Lehren, die es aus dem Zweiten Welt­ bau neuer Staatlichkeit zu investieren. krieg gezogen hatte, sondern auch an Durch die Einbettung in eine libera­ der Furcht, die Sowjetunion könnte le Ordnung sollten die Herausforderer in der Macht- und Systemkonkurrenz und Zerstörer des internationalen Sys­ des Kalten Krieges triumphieren. tems dauerhaft transformiert werden: Eine Auseinandersetzung, die Ame­ von aggressiven, auf Eroberung und rika und seine Alliierten gewannen: Vernichtung hin orientierten autoritä­ Mit dem Fall der Mauer hatte das libe­ ren Machtstaaten zu liberalen Demo­ rale System des Westens, dessen Zen­

IP • März / April 2017 105 Weltordnung

trum in Amerika lag, nicht nur gegen ten können. Anders als die Ordnun­ den Faschismus, sondern auch gegen gen von Totalitarismus und Autokra­ den anderen Totalitarismus, den sow­ tie, bei denen es um eine vertikale jetischen so genannten Sozialismus, Ausrichtung von Herrschaft und Un­ triumphiert. terwerfung, von Befehl und Gehor­ Die USA haben in den vergange­ sam geht, ist die liberale Ordnung in nen Jahrzehnten internationale In­ ihrem Wesenskern horizontal orien­ Bild nur in stitutionen und Regeln oft gestützt. tiert, über Assoziation und Koopera­ Aber zugleich haben sie auch immer tion unter weitgehend Gleichen. Printausgabe verfügbar Ausnahmen für sich in Anspruch ge­ Die von Amerika geführte libe­ nommen und damit den fundamenta­ rale internationale Ordnung hat sich len Grundsatz der Gleich­ weltweit durchgesetzt, nicht etwa weil Die liberale Ordnung heit der Nationen verletzt. sie von den USA aufgezwungen wur­ brachte Frieden, Frei- Sie begründeten dies mit de, sondern weil sie drei fundamen­ ihrer Rolle als Architekt tale Leistungen erbracht hat: Sie hat heit und Wohlstand und Wächter der Ord­ Frieden im Zeitalter der Nuklearwaf­ nung. Diese offenkundige, fen bewahrt, politische Freiheit unter­ in den Augen vieler Kritiker empören­ stützt sowie materiellen Wohlstand de Ungleichheit hat das internationa­ für Teilhaber an der Globalisierung le System immer wieder geschwächt. ermöglicht. An dieser Trias sind die Doch zugleich haben Amerikas Alli­ totalitären Gegenentwürfe geschei­ ierte und Partner diese Ungleichheit tert. Das sowjetische Imperium ist zumindest stillschweigend akzeptiert 1989/91 nicht zusammengebrochen, als Preis für Amerikas Rolle als Ord­ weil amerikanische Truppen einmar­ nungsmacht. schiert sind, sondern weil es nicht in Trotz aller Kritik und Unzufrie­ der Lage war, gleichermaßen öffentli­ denheit, und trotz abnehmender re­ che Güter bereitzustellen. lativer Macht sind die USA bis heute im Zentrum des internationalen Sys­ China und Russland wehren sich tems geblieben. Das liegt nicht nur Nach 1989 sah es so aus, als würde an der machtpolitischen Stärke Ame­ sich die liberale Ordnung weltweit rikas. Es liegt vor allem daran, dass durchsetzen. Für den Bereich der die USA öffentliche Güter zur Verfü­ Wirtschaft gilt das tatsächlich: Selbst gung stellen, für die es eine Nachfrage China und Russland haben sich in gibt: Sie haben mit liberaler Demokra­ großen Teilen in die westliche Markt­ tie und Marktwirtschaft ein funktio­ ordnung integriert. In beiden Ländern nierendes, attraktives Modell für po­ sind die Eliten von der wirtschaftli­ litische Ordnung innerhalb des Staa­ chen Interaktion mit den liberalen De­ tes bereitgestellt; und sie haben eine mokratien des Westens abhängig. diesem Modell korrespondierende in­ Im Bereich der politischen Herr­ ternationale Ordnung aufgebaut und schaft dagegen haben sich diese Eli­ abgesichert. Die besondere Attrakti­ ten erfolgreich gegen die Übernahme vität dieser Ordnung besteht darin, liberaler Ordnungsmodelle gewehrt, dass sie Räume eröffnet, in denen sich sie herrschen ohne demokratische Le­ Menschen und Gruppen nach eigenen gitimation. Das bringt Moskau und Vorstellungen und Interessen entfal­ Peking in eine prekäre Lage; sie müs­

106 IP • März / April 2017 Die Stunde des B-Teams

Bild nur in Printausgabe verfügbar

sen andere Formen der Legitima­tion Territorium, sondern auch über ihre finden, weil sie sich der global aner­ Nachbarschaft. Beide wollen das Kon­ kannten Norm widersetzen. Eine zept der privilegierten Einflusszone Methode besteht darin, mit Kontrol­ zum Kernprinzip einer neuen multi­ le, Zwang und Propaganda zu versu­ polaren internationalen Ordnung ma­ chen, die ihre Herrschaft destabilisie­ chen, in der einige wenige Supermäch­ renden Ideen der liberalen Demokra­ te die regionalen Räume kontrollieren tie fernzuhalten. Die zweite Methode und alle anderen sich ihrer Oberherr­ besteht darin, Wohlstand zu generie­ schaft zu fügen haben. Dabei überset­ ren. Die chinesische Elite tut das, in­ zen sie das Herrschaftsprinzip, das im dem sie auf wirtschaftliches Wachs­ Inneren gilt – Autokratie –, in eine tum durch Integration in die globa­ außenpolitische Ordnung. Mit impe­ len Wertschöpfungsketten setzt. Die rialer Machtprojektion gewinnen sie russische Elite musste sich dieser An­ zugleich Legitimität im Inneren, weil strengung nicht unterziehen; sie hat sie ihre Länder als Benachteiligte ei­ von den lange Zeit erheblich steigen­ ner amerikanisch dominierten Ord­ den Einnahmen aus natürlichen Res­ nung präsentieren können und sich sourcen profitiert, die vom Machtzen­ selbst als Speerspitze des Widerstands trum monopolisiert und zentral um­ gegen diese Ungleichheit. verteilt wurden, ähnlich wie in den Obwohl die herrschenden Eli­ Ölstaaten des Mittleren Ostens. ten in Russland und China ein Boll­ Der dritte Weg der Machtsiche­ werk gegen die liberale Ordnung auf­ rung besteht in einer aggressiven gebaut haben, blieben sie in ihren Be­ Außenpolitik. Die russische wie die mühungen bisher isoliert. Es gelang chinesische Führung beanspruchen ihnen nicht, einen kohärenten, auf Oberhoheit nicht nur über das eigene anderen Prinzipien beruhenden Ge­

IP • März / April 2017 107 Weltordnung

genentwurf zu entwickeln. Und ihre ler Hinsicht haben sich die USA wie in den vergangenen Jahren wachsen­ eine „De-facto-Weltregierung“ (Mi­ de außenpolitische Aggressivität hat chael Mandelbaum) verhalten. nicht zur Unterwerfung anderer Staa­ Die innenpolitische Begründung ten geführt, sondern zu deren erhöh­ aber, eine solch weitreichende globa­ ter Gegenwehr. le Rolle zu spielen, ist immer schwä­ In der Nachbarschaft Russlands cher geworden. Es gibt keine Bedro­ wie Chinas haben kleinere, um ihre hung Amerikas mehr wie es einst die Souveränität besorgte Staaten sich Sowjetunion war. Weder China noch darum bemüht, Sicherheitsgarantien der radikale Islam taugen als Motiv, von Amerika zu erhalten, Ressourcen wie im Kalten Krieg be­ Der innenpolitische was die USA zu ihrem „pi­ reitzustellen. Deshalb wächst der in­ Druck steigt, Verant- vot to Asia“ veranlassten. nenpolitische Druck auf amerikani­ Chinas Abkehr von der sche Regierungen, sich aus dieser äu­ wortung abzugeben Strategie des „friedlichen ßerst kostspieligen Rolle zurückzuzie­ Aufstiegs“ hat die Nach­ hen. Die Kriege in Afghanistan und barn motiviert, sich selbst militärisch vor allem im Irak haben diesen Druck robuster aufzustellen. Und mit dem noch erhöht. Krieg gegen die Ukraine hat Russland Dennoch haben die USA immer nicht mehr, sondern weniger Einfluss wieder gezögert, ihre Rolle als Ga­ im Lande bekommen – und zugleich rant der liberalen internationalen der NATO neues Leben eingehaucht. Ordnung aufzugeben. Zum einen zie­ hen sie selbst erhebliche Vorteile dar­ Müde Ordnungsmacht aus, weil sie als gestaltende, zentrale Die liberale internationale Ordnung Macht eine Sonderrolle in dieser Ord­ hat bis heute überlebt, weil sie von den nung spielen. Zum anderen ist unklar, meisten wichtigen Staaten unterstützt ob diese Ordnung ohne Amerika als wird und weil Amerika auch nach Garant nicht einfach implodiert, mit Ende des Kalten Krieges bereit war, desaströsen Folgen für strategisch seine Rolle als Garant dieser Ord­ wichtige Regionen und für die Glo­ nung zu spielen. Dazu gehören insbe­ balisierung insgesamt. Das hätte Fol­ sondere Sicherheitsgarantien für Al­ gen, denen sich die USA trotz ihrer liierte, damit verbunden die Verant­ Größe und ihrer wachsenden Autono­ wortung für regionale Sicherheit und mie (insbesondere im Energiebereich) die Bereitschaft, Gefährdungen die­ nicht entziehen könnten. ser Sicherheit entgegenzutreten. Des Solche Erwägungen haben Präsi­ Weiteren: die Bereitschaft zum Mul­ dent Barack Obama, der mit dem Pro­ tilateralismus, also die eigene Macht gramm eines Rückzugs aus geopoliti­ weitgehend im Kontext internatio­ schen Verwicklungen und Konflikten naler Institutionen und Koalitionen angetreten ist, immer wieder zögern auszuüben; der Einsatz für das Regel­ lassen: hin- und hergerissen zwischen werk und die Institutionen der wirt­ denen in seinem Team, die eine ex­ schaftlichen Globalisierung sowie die pansive Rolle der USA befürwor­ Sicherung der Infrastruktur der Glo­ teten, und jenen, die auf einen Bruch balisierung und eine Führungsrolle mit den Rezepten der traditionellen bei globaler Gefahrenabwehr. In vie­ US-Außenpolitik drängten. Am liebs­

108 IP • März / April 2017 Die Stunde des B-Teams

ten hätte Obama Amerika aus den len Ordnung: „Amerikanismus, nicht Fragen der Geopolitik ganz herausge­ Globalismus ist unser Credo.“ zogen und sich auf die „weichere“ glo­ Was daraus für Trumps Handeln bale Agenda konzentriert mit Klima­ als Präsident folgt, ist noch unklar: wandel und Vereinbarungen zur Rüs­ Wird er seinen Worten wirklich ent­ tungskontrolle. sprechende Taten folgen lassen? Mit Konfrontiert mit den möglichen seiner Wahl haben die Amerikaner Folgen eines amerikanischen Abzugs ein klares Zeichen gesetzt. Hillary aus den drei strategisch wichtigsten Clinton hat es nicht genützt, dass sie Regionen, hat Obama sich jedoch im­ sich für ein international präsentes mer wieder für ein beschränktes mi­ Amerika eingesetzt hat, litärisches Engagement entschieden: das weiterhin die beste­ Trump will statt glo- für den „pivot to Asia“, um Chinas hende Weltordnung absi­ balem Engagement Nachbarn zu beruhigen; für Maßnah­ chert. Und Trump hat es men der Rückversicherung und Ab­ nicht geschadet, dass er die USA abschotten schreckung an der NATO-Ostflanke; eine protektionistische, für die Eindämmung des IS im Nahen nationalistische Agenda präsentiert Osten und den Kampf gegen islamisti­ hat. Die Wahl Trumps hat erneut schen Terrorismus weltweit, oft mit­ deutlich gemacht, dass Amerika sich hilfe von Drohnen. Weil Obama dies in seiner Rolle des Garanten des inter­ aber in einer halbherzigen, ambiva­ nationalen Systems immer unwohler lenten Weise getan hat, wurden sei­ fühlt, dass es sie als Bürde empfindet. ne Ziele nur teilweise erreicht. Doch immerhin hat er damit die amerikani­ Wo sind neue Garanten? sche Position alles in allem gehalten, Die Frage nach einer postamerikani­ sie nicht aufgegeben. schen Welt wird damit immer dring­ Das könnte jetzt anders werden. licher: Was passiert, wenn Amerika Mit Trump ist ein Präsident an die sich aus der Rolle des Garanten des Macht gekommen, der keinerlei Ver­ internationalen Systems herauszieht, ständnis für Amerikas Rolle als Ga­ die es seit Ende des Zweiten Welt­ rant der liberalen internationalen kriegs innehatte? Bricht das System Ordnung gezeigt hat. Statt globa­ dann zusammen? Oder gibt es andere lem Engagement scheint er Abschot­ Akteure, die Amerikas stabilisieren­ tung zu bevorzugen. Amerika muss de Rolle zumindest partiell überneh­ geschützt werden vor äußeren Fein­ men könnten? den: Einwanderern aus Mexiko, wirt­ Klar ist, dass Russland und Chi­ schaftlicher Konkurrenz aus China, na für diese Rolle nicht infrage kom­ Terroristen aus Syrien. Sicherheit men: Die herrschenden Eliten beider wird definiert durch das Errichten Länder sind gegenüber wesentlichen von Grenzen und Mauern und durch Aspekten der liberalen internationa­ die Verfügung über ein starkes Mili­ len Ordnung feindselig eingestellt. tär. Alliierte und Partner sind eine Sie profitieren ökonomisch von ei­ teure Last und internationale Institu­ ner amerikanisch geführten Weltord­ tionen überflüssig. Trumps Instinkte nung. Aber dieselbe Ordnung droht stehen in eklatantem Widerspruch zu auch die Machtstellung der autokrati­ Amerikas Rolle als Garant der libera­ schen Eliten zu unterminieren. Mos­

IP • März / April 2017 109 Weltordnung

kau und Peking stellen sich eine in­ Lateinamerika: Brasilien und Mexi­ ternationale Ordnung vor, die auf Do­ ko (gemeinsam 2832), eines gehört zu minanz und Unterwerfung aufgebaut Nordamerika: Kanada (1532). ist – eine multipolare Ordnung, mit Vor allem auf die beiden wirt­ wenigen Großmächten an der Spitze, schaftsstärksten Staaten dieser Grup­ die die Welt in Herrschaftszonen auf­ pe von liberalen Demokratien, Japan teilen. und Deutschland (gemeinsam 8224 Wenn Amerika ganz oder teilwei­ Milliarden Dollar), würde es ankom­ se die Rolle eines Garanten der libera­ men. Sie sind besonders stark einge­ len internationalen Ordnung aufgibt, bettet in die amerikanisch geführte dann muss sich das B-Team stärker internationale liberale Ordnung und engagieren: jene liberalen Demokra­ haben als exportorientierte Nationen tien, die ein existenzielles von ihr profitiert wie kaum ein an­ Zwölf Demokratien Interesse am Erhalt dieser derer. Beide waren die großen Verlie­ ­könnten mehr Verant- Ordnung haben, weil sie rer des Zweiten Weltkriegs, und beide in den vergangenen Jahr­ wurden von den USA neu aufgebaut wortung übernehmen zehnten massiv von ihr als „postmoderne“, pazifistisch orien­ profitiert haben – und die tierte Länder, die ihre machtstaatliche aufgrund ihrer wirtschaftlichen Leis­ Identität aufgegeben haben und sich tungskraft eine Rolle in der Oberliga seit Jahrzehnten vor allem auf ihre spielen können. Das sind nicht weni­ Wirtschaft konzentrieren. ge. Unter den ökonomisch stärksten 15 Ländern finden sich neben den Eine Agenda für das B-Team USA zwölf weitere liberale Demokra­ Um sich gemeinsam in Garanten der tien; das sind, nach Wirtschaftskraft liberalen internationalen Ordnung zu geordnet: Japan, Deutschland, Groß­ transformieren, müssten diese zwölf britannien, Frankreich, Indien, Itali­ Länder mindestens fünf Dinge tun: en, Brasilien, Kanada, Korea, Austra­ 1. Sie müssten eine weitaus akti­ lien, Spanien und Mexiko. vere Außenpolitik betreiben, sich we­ Alle zwölf Länder sind Alliier­ niger als Rezipienten von Ordnung, te und Partner der USA, die in Be­ sondern selbst als Ordnungsmäch­ zug auf Sicherheit und Wohlstand in te verstehen. Dazu gehört auch eine den vergangenen Jahrzehnten ganz militärische Dimension. Diese zwölf erheblich von der amerikanisch ga­ Länder müssten in der Lage sein, ihre rantierten Ordnung profitiert haben. eigene Sicherheit weitgehend selbst Gemeinsam haben sie ein BIP von zu garantieren und kleineren Län­ 25 739 Milliarden Dollar, mehr als dern Schutz zu gewähren. Dazu bie­ die USA (18 561) und mehr als Chi­ ten sich insbesondere bestehende Al­ na (11 391) und Russland (1267) zu­ lianzen an. sammen (12 658). Fünf von den zwölf 2. Sie müssten erkennen, dass in Ländern sind europäisch: Deutsch­ ihrem Interesse keine multipolare land, Großbritannien, Frankreich, Ordnung liegt, wie sie Russland und Italien und Spanien (gemeinsam China vorantreiben, sondern viel­ 11 735), vier liegen im pazifischen mehr der Erhalt der liberalen interna­ Raum: Japan, Indien, Korea und Aus­ tionalen Ordnung. Die Zwölf müssten tralien (gemeinsam 9640), zwei in bereit sein, auf Konfrontationskurs

110 IP • März / April 2017 Die Stunde des B-Teams

mit Russland und China zu gehen, politisch von der liberalen internati­ wenn diese die Grundlagen der libe­ onalen Ordnung bedroht). Festigung ralen internationalen Ordnung bedro­ und Weiterverbreitung von demokra­ hen. Zugleich müssten die Zwölf sich tischer Ordnung liegen demgemäß im stärker als Garanten für das institu­ Interesse der Zwölf: Eine liberale in­ tionelle Gefüge und die materielle In­ ternationale Ordnung kann es nur ge­ frastruktur der Globalisierung verste­ ben, wenn sie von mächtigen libera­ hen und in diesem Sinne agieren. len Demokratien garantiert wird. 3. Diese zwölf Staaten müssten Die liberale internationale Ord­ sich untereinander stärker vernet­ nung wird ganz ohne Amerika auf zen, statt sich primär in Richtung Wa­ Dauer nicht bestehen können. Doch shington zu orientieren; sie müssten die Vereinigten Staa­ in der Lage sein, auch ohne Washing­ ten könnten sich in den In einer multipolaren ton gemeinsame Ziele zu definieren nächsten Jahren weiter Ordnung würden die und durchzusetzen. Sie müssten un­ aus der Rolle eines Garan­ tereinander echte strategische Part­ ten dieser Ordnung zu­ Zwölf nur verlieren nerschaften schließen: orientiert auf rückziehen – und Trump gemeinsame regionale und weltpoliti­ könnte diesen Prozess beschleunigen. sche Strategien. Denkbar wäre auch Die genannten zwölf Länder, deren ein festes Format mit einem jährli­ Stabilität, Wohlstand, Freiheit und chen Gipfel, an dem die USA eben­ Sicherheit in den vergangenen Jahr­ falls teilnehmen. zehnten von dieser Ordnung gesi­ 4. Die Zwölf müssten eine aktive chert wurden, stehen damit vor der Führungsrolle in ihrer Region anstre­ Alternative, sich als B-Team entwe­ ben und kleinere, aber gleichgesinnte der selbst massiv zu engagieren oder liberale Demokratien für das Projekt aber dem Verfall dieser Ordnung ta­ einer Stabilisierung der liberalen in­ tenlos zuzusehen. In einer multipo­ ternationalen Ordnung an Bord ho­ laren Ordnung, wie sie Russland und len, um noch mehr kritische Masse zu China anstreben und wie sie auch die gewinnen. Regionale Organisationen USA unter Trump akzeptabel finden wie die EU oder ASEAN könnten da­ könnten, hätten die Zwölf schlech­ bei als Vehikel dienen. te Karten: Sie würden sicherheits­ 5. Die zwölf Länder müssten als politisch zum Spielball der großen Paradigma akzeptieren, dass ihre ei­ Mächte, und das Geflecht der Globa­ gene Sicherheit, Freiheit und Prospe­ lisierung, von dem sie ökonomisch rität auf längere Sicht davon abhän­ abhängen, würde zerfallen. gen, dass andere Staaten demokra­ tisch regiert werden. Die liberale in­ ternationale Ordnung gründet auf Dr. Ulrich Speck der Dominanz der liberal-demokra­ ist Senior Research tischen Ordnung; beide bedingen ei­ Fellow beim Elcano Royal Institute in nander. Autokratische Eliten sind Brüssel.­ aus Interesse des Machterhalts dieser Ordnung teilweise feindlich gesinnt (sie profitieren ökonomisch von der Globalisierung, werden zugleich aber

IP • März / April 2017 111 Weltordnung

Von Absteigern und Aufsteigern Die USA, Großbritannien und Russland erleben eine neue Blüte des Nationalismus

Andreas Rinke | Ausgerechnet die Siegermächte von 1945 spüren derzeit ei- nen realen oder „nur“ gefühlten Bedeutungsverlust. Deshalb wächst die Sehnsucht nach alter Größe – und der Wunsch, eine wichtige Position in einer sich gravierend verändernden Welt wenigstens noch eine Weile be- wahren zu können. Ein Erklärungsversuch für den neuen Nationalismus.

In jedem Sieg steckt eine Gefahr, in je- der Selbstwahrnehmung geworden. der Niederlage eine Chance. Ein Sieg Auch die möglichst enge Einbettung verhindert zuweilen eine kritische Deutschlands in die EU und die Welt- Überprüfung der eigenen Position. gemeinschaft gehört fest zur bundes- Eine Niederlage kann dagegen zu ei- deutschen DNA. ner schonungslosen Analyse des eige- Die nun über mehrere Generati- nen Handelns und Denkens führen. onen verinnerlichte Lektion lautet: Das hat sich zumindest für eine Nati- Das Streben nach nationaler Groß- on gezeigt, die für den Zweiten Welt- machtstärke schadet mehr als es krieg verantwortlich war und 1945 nutzt. Vor dem Ende des Kalten Krie- eine komplette Niederlage erlitten ges manifestierte sich diese Grund- hatte: Deutschland. lektion in den zwei wesentlichen au- ßenpolitischen Strategien der Bun- Aufsteiger Deutschland desrepublik: eine klare Westbindung Vor allem die Bundesrepublik hat und eine nach Ausgleich suchende mit der Aufarbeitung der NS-Ver- „Ostpolitik“. Nach der Wende ging gangenheit und der Aussöhnung mit dieser „außenpolitische Grundtenor“ den Nachbarstaaten auch eine men- in den Modus einer deutlichen Glo- tale und innenpolitische Revolution balisierungsbefürwortung über. Nur erlebt. Liberale Demokratie, soziale in der früheren DDR war und ist die Marktwirtschaft und das damit ver- historische und psychologische Er- bundene Ideal einer nicht allzu weit fahrung eine andere, was sich auch auseinanderklaffenden Wohlstands- an den dort wesentlich größeren Er- lücke sind für den ganz überwiegen- folgen der rechtspopulistischen AfD den Teil der Bevölkerung elementa- zeigt: Die Gesamtbilanz von Gewinn res Charakteristikum der Bundesre- und Verlust fällt in vielen Biografien publik und wesentlicher Bestandteil ganz anders aus als im Westen.

112 IP • März / April 2017 Von Absteigern und Aufsteigern

Insgesamt aber überwog für die dominierende Atommacht. Aber das klare Mehrheit der Deutschen nach Bruttoinlandsprodukt des Landes ist 1945 die Grunderfahrung eines bis nur wenig höher als das eines kleine- heute andauernden Aufstiegs, der ren Landes wie Spanien. auch noch mit einem positiven Anse- Dass Wladimir Putin 2005 den hen des Landes insgesamt verbunden Zerfall der Sowjetunion als größ- war und ist. Diese Summe positiver te geo­politische Katastrophe des Grundgefühle dürfte ein Hauptgrund 20. Jahrhunderts bezeichnete, lös- sein, warum rechtsnationalistische te Erstaunen und auch Entsetzen in Strömungen bis heute ein Randphä- Deutschland aus, wo man ganz auf nomen geblieben sind. Es gab für die die eigene Schuld am Holocaust als große Mehrheit nie einen Anlass, an „Zivilisationsbruch“ fixiert ist. Die- der Richtigkeit eines multilateralen ses Unverständnis führ- Ansatzes zu zweifeln. te zu der nur bedingt rich- Putins Rhetorik ist Viel zu wenig ist in den vergan- tigen Interpretation, dass auch ein Rezept genen Jahren beachtet worden, dass die von Putin forcierte die Weltentwicklung aus der Perspek- Rückkehr zu einer teils gegen Komplexe tive der Siegerstaaten von 1945 aber drakonischen Ordnungs- ganz anders aussieht – obwohl gerade politik eine Reaktion auf die chaoti- diese Nationen eine Selbstwahrneh- schen Übergangsjahre unter Boris Jel- mung pflegen, die von einer universa- zin gewesen wäre. Man übersah da- len Botschaft für die Welt, einem be- bei, dass Putins Rhetorik auch ein sonderen Auftrag oder zumindest ei- Heilmittel gegen die vom Bedeutungs- nem Führungsanspruch ausgeht. verlust ausgelösten Komplexe war. Gar nicht beachtet wurde, dass sich Russischer Phantomschmerz ein nationaler Abstieg auch auf die Am deutlichsten ist dies im Fall der Psyche nachfolgender Generationen Sowjetunion. Noch immer wird zu auswirkt – gerade, wenn in den natio- wenig honoriert, welchen Kraftakts nalen Geschichtsbüchern der Rekurs es bedurfte, das Auseinanderbrechen auf alte Größe mit nationalen Über- einer atomaren Supermacht wie der höhungen kombiniert wird. Sowjetunion weitgehend friedlich Zu den außenpolitischen Feh- und ohne eine globale Katastrophe zu lern des ehemaligen US-Präsidenten gestalten. Um so mehr, als den Sow- Barack Obama gehörte es deshalb, jetbürgern über Jahrzehnte eine Ideo- Russland 2014 als „Regionalmacht“ logie des weltumspannenden Herr- zu verspotten. Damit traf er genau schaftsanspruchs eingebläut worden den wunden Punkt bei einem russi- war. Weil dies zu wenig anerkannt schen Präsidenten, der ohnehin jahre- wurde, hat man auch viel zu lange lang beklagt hatte, dass er im Westen unterschätzt, wie groß das mit dem nicht als gleichwertiger Gesprächs- Zusammenbrechen verbundene psy- partner respektiert werde. Als nati- chologische Problem eines Abstiegsge- onales russisches Ziel will Putin ge- fühls gerade für die Russen als ehe- nau deshalb eine Stabilisierung und maliger zentraler Nation der Sowjet­ Stärkung Russlands, die zumindest union war und ist. Denn Russland einen Teil des früheren Einflusses zu- ist zwar zusammen mit den USA die rückgewinnen sollen. Dies erklärt die

IP • März / April 2017 113 Weltordnung

Kriege um Einfluss in den früheren aus in nostalgischer Verklärung alter Sowjetrepubliken Georgien und der Zeiten – gepflegten nationalen Hand- Ukraine sowie die Annexion der uk- lungsspielraum nur noch weiter. Und rainischen Halbinsel Krim mit dem das gilt auf der Insel nicht als Ge- Sitz der russischen Schwarzmeerflot- winn, sondern als Verlust. te und die Intervention in Syrien zum Viele Briten empfinden ihr Land Schutz des einzigen russischen Mit- als stärker, weil das Wirtschafts- Bild nur in telmeer-Stützpunkts. wachstum im Schnitt stets größer als auf dem Kontinent ist und die Bevöl- Printausgabe verfügbar Britischer Inselreflex kerung wächst. Mit einer nicht mehr Großbritannien ist als liberale De- rückläufigen Demografie in Deutsch- mokratie in seiner politischen Ord- land aber ist die Aussicht dahin, ein- nung ganz sicher nicht vergleichbar mal größtes EU-Land werden zu kön- mit Russland. Dennoch teilen beide nen. Auch als Hauptansprechpartner Länder die Erfahrung, den eigenen der USA in Europa hat Deutschland Abstieg verarbeiten zu müssen. Nach Großbritannien abgelöst. Und beim dem Zweiten Weltkrieg zerfiel das internationalen Krisenmanagement einst weltumspannende Empire mit spielte das Königreich in Mali, Sy- wachsender Geschwindig- rien oder der Ukraine ebenfalls kei- Multilaterales Vorge- keit. Aber fast im Reflex ne ­prägende Rolle mehr, seit Militär­ hen wie in der EU darauf hat sich eine mas- interventionen aus der Mode gekom- sive Betonung der eigenen men sind und damit die noch vor- wird negativ beurteilt Stärke und Unabhängig- handene britische Militärstärke an keit gehalten, die auf dem Bedeutung verloren hat. Kontinent als strammster Nationalis- Im vergangenen Jahr zeigte eine mus gelten würde. 1973 wurde Groß- Mehrheit der Briten, dass sie multi- britannien letztlich nur Mitglied der laterale Erfahrungen wie in der EU EG, weil die britische Regierung Sor- negativ sieht. Das Paradox: Von al- ge hatte, vom Kontinent abgehängt zu len fünf UN-Vetomächten müssen werden. sich die Briten nach einem Brexit am In den Anfangsjahren sah man deutlichsten vom Rest der Welt fragen sich dabei vor allem als Konkurrent lassen, was ihre Präsenz im höchsten Frankreichs in der Frage, wer den Gremium der Vereinten Nationen Kurs der Europäischen Gemeinschaft überhaupt noch rechtfertigt – wenn bestimmen würde. Seit der Wieder- Länder wie Indien, Brasilien oder Ni- vereinigung Deutschlands und dem geria nicht vertreten sind. nahenden Ende der von London for- cierten ständigen EU-Erweiterungs- Ängstliche Supermacht USA runden haben sich die Gewichte in Natürlich: Die Vereinigten Staaten der Union aber massiv verschoben: sind immer noch die klare Super- Großbritannien spielte als gestalten- macht Nummer eins in der Welt, nicht des Land in der EU nur noch eine un- nur dank ihres gigantischen Militär­ tergeordnete Rolle, weil es schon vor etats. Anders als das demografisch dem Brexit-Votum an einer weiteren schrumpfende Russland wuchs die Integration gar nicht interessiert war. US-Bevölkerung bisher kontinuier- Denn diese beschränkt den – durch- lich. Die amerikanische Wirtschaft

114 IP • März / April 2017 Bild nur in Printausgabe verfügbar

ist noch immer die größte nationale ohne große neue Einwanderungswel- Ökonomie der Welt; sie ist innovativ len ein Ende der Dominanz der „wei- und dynamisch und wächst schneller ßen Amerikaner“ in greifbare Nähe als die der EU-Staaten. Aber selbst der rückt. Zwar profitiert das Land mas- Einfluss der USA schwindet in einer siv von seiner Schmelztiegelfunktion, globalisierten Welt immer weiter. So weil es unablässig neue, hoch quali- liegt der Anteil der amerikanischen fizierte Arbeitskräfte aus aller Welt Bevölkerung nur bei etwas mehr als anzieht. Aber Abschottungstenden- 4 Prozent der Weltbevölkerung. zen wachsen auch deshalb so enorm, Militärisch gesehen haben die In- weil sich das Gefühl einstellt, dass terventionen im Irak und in Afgha- sich alte Lebensmodelle nicht mehr nistan gezeigt, dass auch die Super- lange halten lassen. macht USA Konflikte nicht wirklich Viele Amerikaner hatten in den lösen kann – schon gar nicht im Al- vergangenen Jahren das Gefühl, dass leingang. Der Syrien-Konflikt hat den es in ihrem Leben eher bergab geht: Amerikanern die eigene Ohnmacht Das liegt nicht nur an einer im Ver- vor Augen geführt. Und die nach gleich zu Deutschland viel schlechte- Ende des Kalten Krieges bestehende ren Abfederung wirtschaftlicher Ent- technologische Überlegenheit etwa wicklungen, die immer auch den Ver- im Weltraum oder in der IT-Technolo- lust von Arbeitsplätzen nach sich zie- gie existiert nicht mehr, denn chine- hen. Erstmals seit 20 Jahren ging in sische IT-Konzerne sind längst nicht den USA einer Studie des Nationa- nur bei der Hardware ebenbürtige len Zentrums für Gesundheitsstatis- Konkurrenten geworden. tik zufolge trotz medizinischer Fort- Hinzu kommt der demografische schritte sogar die Lebenserwartung Trend in den USA, nach dem selbst leicht zurück – während sie beispiels-

IP • März / April 2017 115 Weltordnung

weise in den EU-Staaten weiter stieg. Deutschland und Frankreich mit der Dafür sind zwar weder ­China, isla- deutschen Einheit und nach wirt- mischer Terrorismus noch die Globa- schaftlichen Reformen in der Bun- lisierung verantwortlich. Doch wer desrepublik verschoben. von wachsenden Verlustängsten ge- Die Bilanz von Abstieg und Auf- plagt ist, vermutet hier Zusammen- stieg fällt also gemischt aus: Einer- hänge und mag dann jenen hinterher- seits werden die EU und die Zusam- laufen, die dafür sorgen wollen, dass menarbeit mit dem Nachbarn als Mit- „andere Nationen nicht mehr auf den tel angesehen, um über die eigene be- USA herumtrampeln“. grenzte Macht hinaus noch Einfluss in der Welt ausüben zu können. An- Sonderfall Frankreich dererseits empfindet man durchaus Auch in Frankreich als vierter Sie- den Verlust der eigenen, in der EU germacht von 1945 gibt es wiederkeh- einst dominanten Rolle zugunsten rende nationalistische Tendenzen, die Deutschlands. Das führt zu den Ap- bisher allerdings nie zu einem Abrü- pellen des Front National, sich die na- cken der Regierung von einem klar tionale Souveränität „zurückholen“ proeuropäischen Weg geführt haben. zu müssen – oder beim konservativen Dies lässt sich nicht nur Präsidentschaftskandidaten François Das eigene Wohl ist damit begründen, dass Fillon zu der Forderung, Frankreich immer mit dem von das geschundene Land müsse wieder eine gleichwertige Stim- 1945 eben nur ein „hal- me zu Deutschland in der EU bekom- Partnern verbunden ber Sieger“ oder besser ei- men. Nach dem Brexit kann Frank- ner von US-Gnaden war reich seinen eigenen ständigen Sitz im – was, wie das Thema Kollaboration UN-Sicherheitsrat übrigens mit dem während der Besatzung, die Neigung Argument besser begründen, dass zur Überglorifizierung der eigenen zumindest ein EU-Staat im höchsten Vergangenheit bremst. Mindestens Gremium als Stimme der Europäer ebenso wichtig ist die Feststellung: vertreten sein müsse. Die Franzosen haben sich anders als Russland, die USA oder Großbritan- Seltsame Bettgenossen nien zusammen mit den Deutschen Das Auseinanderdriften von Abstei- entschieden, mit der EU eine neue, gern und Aufsteigern erklärt die selt- übernationale Einheit aufzubauen, sam anmutende Lagerbildung zum die antinationalistisch auf innen- Amtsantritt des amerikanischen Prä- politische Debatten wirkt. Das eige- sidenten Donald Trump: In so unter- ne Wohl ist automatisch mit dem der schiedlichen Ländern wie Russland, Partner verbunden. den USA und Großbritannien träu- Wie in anderen westlichen Ein- men viele von den Zeiten alter Füh- wanderungsgesellschaften besteht rung und Macht. Sie verarbeiten Ver- ­allerdings auch in Frankreich die lustängste und halten mehr Nationa- Furcht, dass die eigene, vertraute lismus für die richtige Lösung. Lebensweise gefährdet sein könn- Deutschland und China finden te. Und der Nationalismus wurde ge- sich hingegen trotz ihrer völlig unter- nau zu dem Zeitpunkt stärker, als sich schiedlichen politischen Systeme in auch die Kräfteverhältnisse zwischen dem Lager wieder, das den Umbau zu

116 IP • März / April 2017 Von Absteigern und Aufsteigern

einer multipolaren Welt vorantreiben nun eigentlich real war oder nur als will – durchaus zum eigenen Nutzen. solcher empfunden wurde. Dazu würde auch gehören, dass die Die Erfolgsgeschichte EU wie- „Post-1945-Aufsteiger“ in den über- derum wird von vielen Menschen kommenen institutionellen Struktu- gar nicht als solche wahrgenommen, ren internationaler Organisationen auch weil das Wachstum in den meis- eine stärkere Rolle einnehmen, selbst ten Mitgliedsländern eher schwach wenn dies den Einfluss des „old club“ ist. Die Ängste in den al- weiter schmälern würde. Deutsch- ten Mächten sind deshalb Aufsteiger argumen- land denkt dabei an einen Sitz im UN-­ eine dringliche Mahnung: tieren multilateral, Sicherheitsrat, China stellt sich eine Nach dem Austritt der Bri- angemessene Rolle in den internatio- ten wird die Union nur zu- Absteiger national nalen Finanzinstitutionen vor. Denn sammenhalten, wenn da- die Volksrepublik ist mittlerweile so für gesorgt wird, dass sich zumindest stark, dass sie mit der Asiatischen In- die verbleibenden 27 Mitglieder als Ge- frastrukturinvestmentbank AIIB eine winner einer gemeinsamen Entwick- Konkurrenz­organisation zu den von lung sehen. Es muss eine überwiegen- den USA geschaffenen Strukturen de zuversichtliche Einschätzung in al- aufbauen kann. Die britische Premier- len Bevölkerungen herrschen, dass ministerin Theresa May jedoch sprach man mit der EU besser fährt als ohne. bei ihrem USA-Besuch im Januar er- Schon in der Schuldenkrise hat neut unerschütterlich davon, dass die sich aber gezeigt, dass dies nicht ein- USA und Großbritannien in der Welt mal in der Euro-Zone der Fall war. In wieder „Führung“ zeigen sollten. Zeiten eines erstarkenden Nationalis- Anlass zur Überheblichkeit gibt es mus in Ost und West könnte die EU an dennoch keine – vor allem nicht beim solchen Differenzen und dem Schwin- „Aufsteiger“ Deutschland. Denn die den der Zuversicht in das eigene Er- weltweit zu beobachtende Wieder- folgsmodell zerbrechen. Gerade Bun- kehr eines selbstzentrierten nationa- deskanzlerin Angela Merkel hat beim len Denkens stellt auch die Basis des transatlantischen Freihandelsabkom- deutschen Nachkriegsaufstiegs infra- men TTIP die Erfahrung machen ge, nämlich die Einbettung in eine müssen, dass sich multilaterale Ini- überstaatliche Union mit einem Bin- tiativen selbst dann kaum durchset- nenmarkt für 500 Millionen Men- zen lassen, wenn sie den Einfluss des schen, der mit dem Brexit ohnehin gesamten Westens in einer Welt gesi- erheblich schrumpfen wird. Es ist chert hätten, die sich Richtung Asien keinesfalls sicher, ob die noch immer und Afrika entwickelt. nicht sehr stabile EU den Angriff der neuen Nationalismen überleben wird. Dr. Andreas Rinke Denn sowohl Trump als auch Putin ist politischer Chef­ haben ein Interesse an einem Zerfall korrespondent der Nachrichtenagentur der EU, weil dies ihre eigenen Staa- Reuters in Berlin. ten gegenüber jedem (dann kleineren) EU-Mitglied wieder an Bedeutung ge- winnen lassen würde. Dabei spielt es gar keine Rolle, ob der eigene Abstieg

IP • März / April 2017 117 Essay

Die Fahne am Haus meiner Mutter Wer sind die Trump-Wähler? Auf Spurensuche im amerikanischen „Rostgürtel“

Rachel Tausendfreund | Elitenhass, Rassismus, Sexismus, Sensationalismus: Über die Ursachen für Donald Trumps Wahlerfolg ließen sich Dutzende von Essays schreiben. Doch wer mit dessen Wählern spricht, kommt an ei- nem Faktor nicht vorbei, der bislang kaum beachtet wurde: dem amerikani- schen Patriotismus – genauer: der US-Version des Verfassungspatriotismus.

Ich bin in einem US-Bundesstaat aufgewachsen, der Trump-Land geworden ist; in einem kleinen, nur von Feldern umgebenen Dorf, einer Gegend, deren ein- prägsamste Gebäude Scheunen und Windmühlen sind und in der die meisten Autounfälle nicht durch überhöhte Geschwindigkeit, sondern durch Weißwe- delhirsche verursacht werden. Der Ort, in dem die Familie meiner Mutter seit Generationen lebt, gehört zu Amerikas nun weltbekanntem „Rust Belt“, des- sen weiße Arbeiterschicht in den Vorwahlen für Bernie Sanders und Donald Trump, und im vergangenen November für Trump gestimmt hat. Wie wohl die gesamte liberale „Elite“ (zu der ich heute allem Anschein nach gehöre) habe ich die Wochen nach der Wahl damit verbracht zu verste- hen, was eigentlich passiert ist. Anders als viele Trump-Gegner meiner Gene- ration hatte ich jedoch den Vorteil, sehr viele Trump-Wähler zu kennen und einige, weil es sich um Freunde und Familie handelt, zu lieben. Sie konnte ich nach ihren Gründen fragen. Und in diesen Gesprächen wurde mir klar, was ich bisher noch nicht bedacht hatte. Natürlich: Viele waren einfach gegen Hillary Clinton oder gegen „das Sys- tem“, nach dem Motto: „Die da oben können mich mal“ und „warum nicht Trump?“ Doch hinter dem bewussten, gezielten Protest versteckt sich noch etwas anderes als das „letzte Aufbäumen der wütenden weißen Männer“ (so der Journalist und Clinton-Aktivist David Brock) oder das Gefühl, in einer sich wirtschaftlich, technologisch und kulturell rasant verändernden Welt den Anschluss zu verlieren. In der andauernden Debatte um den Ausgang der Prä- sidentschaftswahlen wurde ein wesentlicher Punkt bislang eklatant vernach- lässigt: wie wichtig das Thema amerikanischer Patriotismus ist und wie sehr das Gefühl vieler eine Rolle spielte, Nationalstolz sei angreifbar, rückständig oder negativ. Man könnte Dutzende Essays schreiben über die verschiedenen Faktoren, die zur Wahl Donald Trumps beigetragen haben: Fake News, Sensa-

118 IP • März / April 2017 Die Fahne am Haus meiner Mutter

tionalismus, Anti-Elitarismus, Sexismus. Dass auch Rassismus und Vorurtei- le eine Rolle spielten, hat der Journalist Ta-Nehisi Coates im Atlantic Magazi- ne überzeugend beschrieben.1 Hinzu kam der Faktor Stammwähler: Mehrere Tausende, vielleicht Hunderttausende Republikaner haben für einen Mann gestimmt, den sie zwar für einen Schwindler halten, der aber Kandidat der „richtigen“, nämlich ihrer Partei war. Und wer könnte es diesen Wählern ver- übeln, hatte doch fast die gesamte republikanische Parteispitze ebenfalls Do- nald J. Trump unterstützt? Einzig Marco Rubio nannte Trump schon in den frühen Phasen des Wahlkampfs einen Hochstapler und blieb konsequent bei seiner Meinung. Seine Unterstützer forderte er allerdings nicht dazu auf, ge- gen Trump zu stimmen. Von allen Faktoren jedoch, die Trump ins Weiße Haus gebracht haben, ver- dient der amerikanische Patriotismus – genauer: die US-Version des Verfas- sungspatriotismus – genauere Aufmerksamkeit, nicht zuletzt, weil schon in den ersten Wochen der Amtszeit Trumps eine heftige Debatte über das Wesen des amerikanischen Nationalstolzes ausgebrochen ist. Diese Auseinanderset- zung wird die USA in den kommenden Monaten und Jahren prägen. Und sie wird vielleicht Einiges zutage bringen, was auch für Länder wie Deutschland, die weniger pessimistisch in die Zukunft blicken, von Bedeutung sein könnte. Natürlich enthält Donald Trumps Leitspruch „Make America Great Again“ das Versprechen einer Rückkehr zu einem längst vergangenen Ideal und na- türlich impliziert er die Verteidigung „unseres Amerikas“ gegen „die ande- ren“. Viel zu selten wird jedoch erkannt, dass Trump an den ame- rikanischen Nationalstolz appelliert und authentisch wirkt, wenn Clintons Patriotismus er Amerika „the greatest country in the world“ nennt und „Ame- wirkt einfach nicht rica First“ als oberste Maxime ausgibt. Auch Hillary Clinton und Barack Obama betonen immer wieder die Großartigkeit der USA. glaubwürdig Nur wirken sie nicht glaubwürdig. Das liegt in der Natur der Sa- che, denn engstirniger Chauvinismus und blinder Patriotismus à la Trump passen nicht zu den weltgewandten linken Eliten, die Clinton und Obama re- präsentieren. Den Progressiven geht es ja darum, Amerikas Fehler und Män- gel zu korrigieren anstatt sie unter den Teppich zu kehren. Das erfordert ei- nen nuancierteren Patriotismus. Politiker wie Hillary Clinton kennen die Zahlen, Daten, Fakten. Sie wis- sen, dass die Kluft zwischen Reich und Arm in anderen Ländern geringer und die soziale Mobilität höher ist. Dass es anderswo weniger Armut und weniger Gewalt gibt. Im Jahr 2012 wurde die Eröffnungsszene der Serie Newsroom in Windeseile verbreitet, in der die von Jeff Daniels gespielte Hauptfigur gebeten wird zu begründen, warum Amerika das beste Land der Welt sei. „Es gibt kei- nen einzigen Beweis, der diese Aussage stützen würde“, setzt der Protagonist an, „wir sind 7. bei der Alphabetisierung, 24. in Mathematik, 49. bei der Le- benserwartung …“ Die Szene traf einen Nerv, weil viele sie als Demontage ei- nes lächerlichen und zuweilen auch beklemmenden Nationalstolzes verstan-

1 „My President was Black“, https://www.theatlantic.com/magazine/archive/2017/01/my-pre- sident-was-black/508793/

IP • März / April 2017 119 Essay

den. Außerhalb der USA, vor allem in Deutschland, empfindet man den gera- dezu exhibitionistisch zur Schau gestellten Nationalstolz der Amerikaner oh- nehin als unreif oder gar bedrohlich. Dass hier ein Miss- oder Unverständnis vorliegt, hatte ich schon seit Längerem geahnt. Wie wertvoll der amerikani- sche Patriotismus aber sein kann, das habe ich erst im November verstanden. Ein emotionaler Patriotismus ohne Gleichmacherei Bild nur in Dolf Sternberger und später Jürgen Habermas argumentierten für ein alterna- tives „staatsbürgerschaftliches Konzept“ , das auf einem Verfassungspatriotis- Printausgabe verfügbar mus beruht. Anstelle von Ethnizität und Nationalität sollte eine Identifikation mit der Verfassung einen Staatsbürger mit einem gesunden, wohlwollenden, positiven Patriotismus hervorbringen. Für Sternberger war das eine Antwort auf den Nationalsozialismus und die Teilung Deutschlands. Für Habermas bot der Verfassungspatriotismus die Chance auf eine „transnationale Erweiterung der staatsbürgerlichen Solidarität“ – ein Demos für die Europäische Union. Nun fand und findet die theoretische Debatte in Europa weitgehend abge- koppelt von den Diskussionen und empirischen Entwicklungen auf der ande- ren Seite des Atlantik statt (was meines Erachtens auf große Teile der europä- ischen Wissenschaft zutraf, die sich gern auf die eigene Besonderheit konzen- trierte, anstatt Lehren aus der Geschichte anderer Weltregionen zu Amerikanisch sein, ziehen). Und so ist es vielleicht zu erklären, wie Habermas über- heißt Thanksgiving sehen konnte, dass er gar kein neues Konzept erdacht hatte. Der amerikanische Patriotismus war ja schon ein – wenn auch nicht und 4. Juli zu feiern perfektes – Beispiel für einen solchen republikanischen, auf de- mokratischen Werten basierenden Patriotismus. Zudem empfand Habermas wie viele seiner Landsleute Pathos, vor allem nationales Pathos, als befremdlich oder verstörend. Seine Idee des Verfassungspatriotismus ist ­deshalb rational, nicht emotional. Oder, wie seine Kritiker sagen: „zu formell, zu kühl, (…) zu blutleer“, so Peter Molt in seinem Aufsatz „Abschied vom ­Verfassungspatriotismus?“ Tatsächlich verschleiert das reiche Pathos des amerikanischen Patriotismus aber nur dessen Ähnlichkeit mit dem gelebten Verfassungspatriotismus nach Habermas. Wenn irgendwo eine Art „demokratischer Patriotismus“ – im Ge- gensatz zum „völkischen Patriotismus“ – existiert, dann in den Vereinigten Staaten von Amerika mit ihrer langen Tradition einer „staatsbürgerlichen Re- ligion“, so der Philosoph Richard Rorty. Herbert Croly, einer der Vordenker der progressiven Bewegung, schrieb 1909: „Der Glaube der Amerikaner an ihr ei- genes Land ist religiös; wenn nicht in seiner Intensität, dann zweifellos in sei- ner fast absoluten und universellen Autorität.“ In der Tat identifizieren sich Amerikaner mit ihrer Verfassung und streiten über sie wie andere über ihre „Leitkultur“. Der immerwährende Streit über die richtige Interpretation des Zweiten Verfassungszusatzes (das Recht der Bürger, Waffen zu tragen) ist ei- nes der bedeutendsten Themen unserer politischen Kultur. Amerikanisch sein bedeutet, Thanksgiving (einen nichtreligiösen Feiertag) mit einem Barbecue zu feiern und am 4. Juli das Feuerwerk zu bewundern – am Nationalfeiertag, an dem „das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben

120 IP • März / April 2017 Die Fahne am Haus meiner Mutter

Bild nur in Printausgabe verfügbar

nach Glück“, wie es in der Unabhängigkeitserklärung heißt, als Grundprinzip der amerikanischen Verfassung gefeiert wird. Amerikaner singen mit der Hand auf dem Herzen ihre Nationalhymne, in der es hauptsächlich um eine Flagge geht, und Schulkinder geloben Treue – und zwar nicht einem Volk, dessen Ge- schichte oder dessen Sprache, sondern dem Ideal einer demokratischen Repub- lik, welches die „flag of the United States of America“ symbolisiert. Es kann einen echten, emotionalen Patriotismus geben, der losgelöst ist von Ethnie und Sprache. Aber wenn diese offenere und abstraktere Form des Pat- riotismus Millionen von Nichtgleichen zusammenbringen soll, dann muss sie Raum für Stolz und Optimismus lassen. Sie muss gemeinschaftliche Ideale an- bieten. Der weiße Klempner aus der Kleinstadt muss daran glauben können, dass er, der Arzt, der vielleicht kürzlich erst eingewandert ist, der New York Times-Kolumnist und der schwarze Prominente gleichermaßen zum amerika- nischen Projekt gehören. Es gilt das Prinzip: Wir müssen nicht gleich ausse- hen, gleich sprechen, das Gleiche essen oder die gleiche Musik hören. Aber wir geloben der gleichen Fahne unsere Treue.

Eine progressive Form des Patriotismus Bruchstellen in diesem gemeinsamen Treueschwur sind überall dort aufgetre- ten, wo die Vereinigten Staaten gefehlt oder versagt haben – und nicht, wie es eine sehr simplifizierte Erklärung glauben machen will, weil die Weißen aus den ländlichen Gebieten ihr gemeinsames Projekt nicht mit anderen teilen woll- ten. Die linken Eliten haben es versäumt, eine alternative, wirklich progressi- ve patriotische Vision anzubieten, die für moderate Konservative und die wei- ße Landbevölkerung attraktiv wäre. Mangels Alternative wurden diese Kreise anfällig für die rückwärtsgewandte „America First“-Variante.

IP • März / April 2017 121 Essay

Gleichzeitig haben die einflussreichen konservativen Medien geschickt und erfolgreich die Idee verbreitet, dass die heutigen progressiven Bewegungen „un- patriotisch“ seien. Die Linke hat auf patriotische Symbole verzichtet, sie so- gar lächerlich gemacht. So hat sie wenig Raum gelassen für einen demokrati- schen Patriotismus. Und nicht nur das: Sie hat zum Erstarken des konservati- ven, chauvinistischen Patriotismus à la Trump beigetragen. Im Kampf um die Deutungshoheit über den amerikanischen Patriotismus geht es weder um die Nationalisten der extremen Rechten noch um linkslibera- le Idealisten. Es geht um die „besorgten Bürger“, die Unpolitischen Man hielt die Mitte für oder nur etwas rechts von der Mitte stehenden Konservativen. Zu dieser Gruppe gehören die meisten Wähler in den Staaten Pennsyl- ausreichend ange- vania, Michigan, Wisconsin und dem restlichen „Rust Belt“, die den passt. Welch Irrtum Ausschlag zugunsten Trumps gegeben haben. Die politischen Eli- ten mögen ungeduldig mit der „besorgten Mitte“ geworden sein und sie nach der Wahl Obamas und den erfolgreichen Kampagnen für Minderheitenrechte für ausreichend angepasst an progressive Ideale gehalten haben. Doch das war ein Irrtum. Die Mitte war und blieb besorgt. Allerdings – und das ist die gute Nachricht – ist sie auch zu gewinnen.

„Euer Amerika ist nicht unser Amerika“ Seit 1942 schwören amerikanische Schulkinder Treue „auf die Fahne der Ver- einigten Staaten von Amerika und die Republik, für die sie steht, eine Nation (unter Gott), 2 unteilbar, mit Freiheit und Gerechtigkeit für jeden“. Seit dem Jahr 2000 war die Pflicht zum morgendlichen Treueschwur Gegenstand eini- ger Gerichtsverfahren,3 was mir bislang gar nicht bewusst war und was mich vermutlich auch nicht sonderlich interessiert hätte. Die Trump-Wähler unter meinen Freunden und in meiner Familie interessierte das hingegen schon. Sie diskutieren leidenschaftlich über diese Urteile, und konservative Medien be- richteten stundenlang darüber. Genauso wie über die „Black Lives Matter“-Be- wegung oder den Protest des Profi-Footballspielers Colin Kaepernick, der sich während der Nationalhymne – anstatt mit der Hand auf der Brust stramm zu stehen – mit einem Bein auf die Seitenlinie kniete, um damit auf die Unter- drückung von Minderheiten aufmerksam zu machen. Kaepernick traf damit einen wunden Punkt der „besorgten Mitte“, vor al- lem jener, deren Weltsicht durch konservative Medien geprägt wird. In diesen Kreisen werden derlei Proteste als Attacke auf den Patriotismus, als Angriff auf ganz Amerika wahrgenommen. Freilich sind dabei auch tiefsitzende ras- sistische Vorurteile im Spiel, aber dennoch wäre es zu einfach, die konserva- tive Gegenreaktion auf die linken Proteste einfach als „rassistisch“ abzutun. Eigentlich will die „besorgte Mitte“ (Weiße, aber auch einige Schwarze und Latinos) schon daran glauben, dass es fortschrittlich zugehen soll in der amerikanischen Gesellschaft und dass man sich, immer mehr vereint, auf ein

2 „Unter Gott“ wurde erst 1954 auf Antrag von Präsident Eisenhower durch den Kongress hinzugefügt. 3 http://edition.cnn.com/2013/09/04/us/pledge-of-allegiance-fast-facts

122 IP • März / April 2017 Die Fahne am Haus meiner Mutter

gemeinsames Ziel verständigen könne. Aber in den Protesten der Linken hö- ren die Konservativen etwas anderes, nämlich: „Euer Amerika ist nicht unser Amerika, euer Nationalstolz ist falsch.“ Umtriebige konservative Medienstars tragen ihren Teil dazu bei, diese In- terpretationen noch zu verstärken. So veröffentlichte die Moderatorin Tomi Lahren einen vernichtenden Kommentar über Kaepernicks Protest, der auf Fa- cebook über 66 Millionen Mal angeklickt wurde: „Dieses Land, das du so ver- achtest, erlaubt dir die freie Meinungsäußerung. Es schützt dein Recht, eine weinerliche, aufmerksamkeitsgeile Heulsuse zu sein. Es schützt auch mein Recht, dich dafür in der Luft zu zerfetzen. Hör zu: Die Nationalhymne und un- sere Fahne symbolisieren weder das schwarze Amerika oder das weiße Ame- rika, noch das braune oder meinetwegen das lila Amerika. Patrioten aller Ras- sen haben für dieses Land gekämpft und sind dafür gestorben. Im Gedenken daran ehren wir unsere Fahne und singen die Hymne. Und Colin, wenn dieses Land dich so sehr anekelt, dann geh’ doch. Ich garantiere dir, dass Hunderttau- sende Menschen auf der Welt liebend gern deinen Platz einnehmen würden. Denn diejenigen, die nicht unter dieser Fahne leben, klopfen an die Tür, um hineinzukommen, nicht um zu gehen, vergiss das nicht.“ In Lahrens Kritik geht es nicht darum, ob sie recht hat, sondern dass sie, die ein explizit konservatives Publikum anspricht, sich auf „Patrioten aller Ras- sen“ bezieht. Für Lahren lehnt Kaepernick mit seinem Protest das amerikani- sche Projekt selbst ab – und in Konsequenz auch sie und ihre Anhänger. Wo- bei ich hier wiederum die unterliegenden Schichten des Rassismus ausblenden muss, um beim Thema Nationalstolz zu bleiben. Interessant ist, dass Lahrens rechte Kritik an Kaepernicks linkem Protest dem Grundtenor der Rede des damaligen Senators Barack Obama vor dem Par- teitag der Demokraten im Jahr 2004 ähnelt. Einer Rede, die ihn landesweit bekannt gemacht hat: „Es gibt kein liberales Amerika und kein konservatives Amerika; es gibt nur die Vereinigten Staaten von Amerika“, sagte Obama damals. Und weiter: „Es gibt kein schwarzes Amerika, kein Obamas Botschaft weißes Amerika, kein Latino-Amerika und kein asiatisches Ameri- des Optimismus ka; es gibt nur die Vereinigten Staaten von Amerika.“ Dieser star- ke, einende Patriotismus funktionierte. Er brachte einen schwarzen wurde zermürbt Mann mit einem ausländisch klingenden Namen ins Weiße Haus. Und nicht nur das: Seine Botschaft war kraftvoll genug, um der progressiven Politik in den USA neues Leben einzuhauchen. Die Republikaner erkannten diese Bedrohung sofort. Konzertierte Sabotage durch die republikanische Op- position, mächtige konservative Medien und die harte Realität von Rezession, Gewalt, Ungleichheit und globaler Unordnung haben dazu beigetragen, Oba- mas Botschaft des Optimismus zu zermürben. Es gab und gibt aber auch prominente Stimmen links der Mitte, die mit dem Konzept eines optimistischen Patriotismus nichts anzufangen wissen. Ta-­ Nahesi Coates bemerkte, Obama habe geradezu „insistiert“, dass die Amerika- ner „stärker vereint seien, als man sie glauben machen wolle“. Für ihn selbst scheint das Konzept „Einigkeit“ nicht erstrebenswert zu sein. Und noch we- niger, dass man darauf „insistieren“ solle. In seiner Rede 2004 hatte Obama

IP • März / April 2017 123 Essay

auch über die gemeinsame Hoffnung gesprochen, die verschiedene Teile der amerikanischen Gesellschaft miteinander verbinden könnte: „Es ist die Hoff- nung der Sklaven, die Freiheitslieder an ihren Lagerfeuern singen; die Hoff- nung der Einwanderer, die sich zu fernen Ufern aufmachen; die Hoffnung ei- nes jungen Marines, der tapfer im Mekong-Delta patrouilliert; die Hoffnung des Sohnes eines Stahlarbeiters, der allen Widrigkeiten trotzt; die Hoffnung eines mageren Kindes mit einem komischen Namen, dass Amerika auch für ihn einen Platz bereithält.“ Für Coates war das eine Rede, „die nichts mit der Lebenswirklichkeit der Leute zu tun hat, die sie ansprechen sollte“. Coates ist nicht der Einzige, der das so sieht. Aber er ist sicher der Eloquenteste. Es gibt zwei Probleme mit der Kritik der Linken am amerikanischen Na- tionalstolz, vor denen der Philosoph Richard Rorty bereits 1998 in seinem Buch „Achieving our Country“4 warnte. Gebildete Progressive assoziieren den „amerikanischen Patriotismus mit der Unterstützung von Gräuel- Es geht nicht um taten: der Sklaverei, dem Massenmord an den Ureinwohnern …“ richtige Darstellung, Das ist es, was auch Coates meint, wenn er Obama vorhält, seine Rede „laufe der Historie zuwider“. Obama erzählt eine Geschich- es geht um Hoffnung te, deren Optimismus die schmerzlichen Wahrheiten auszublenden scheint. Daraus schließen jene, die die Untiefen der amerikanischen Geschichte nicht kleinreden wollen, „dass Nationalstolz nur für Chauvinisten geeignet ist: Für die Sorte von Amerikanern, die sich freuen, [...] dass Ameri- ka immer noch tödliche Macht ausüben kann, wo immer und wann immer es ihm beliebt“, so Richard Rorty. Jene unter uns aber, die diese Untaten aufarbeiten und sich offen mit deren Auswirkungen auf den heutigen Tag auseinandersetzen wollen, haben eine komplexe Aufgabe zu erfüllen: Wir müssen den Gegensatz zwischen einer unvollkommenen Vergangenheit und der Verheißung einer besseren Zukunft überbrücken, Ablehnung wieder zu Hoffnung werden lassen und der Vision größere Kraft einräumen als der historischen Akkuratesse. Um noch einmal Rorty zu zitieren: „Geschichten darüber, was eine Nation war und versuchen sollte zu sein, sind keine exakte Abbildung der Wirklichkeit, sondern vielmehr Versuche, eine moralische Identität zu schaffen. In den Auseinandersetzun- gen zwischen Linken und Rechten, welcher Teil der Geschichte uns Amerika- ner mit Stolz erfüllen sollte, kann es nicht darum gehen, welches die richtige oder falsche Darstellung ist. Besser wäre es, sie als Auseinandersetzung darü- ber zu beschreiben, welche Hoffnungen wir uns erlauben wollen und welche wir aufgeben müssen.“

Eine notwendige Bedingung zur Selbstverbesserung Wie viele andere mit einem ähnlichen Lebensweg habe ich lange nicht begrif- fen, wie bedeutend Nationalstolz ist. Vielleicht brauchte ich ihn nicht, weil sich die Welt in eine von mir und meinesgleichen präferierte Richtung und zu meinen Gunsten entwickelte. Für andere aber sind die Komplexität, die Un-

4 Siehe Stephen Metcalf: Richard Rorty’s Philosophical argument for national Pride, 10.1.2017, newyorker.com/culture.

124 IP • März / April 2017 Die Fahne am Haus meiner Mutter

sicherheit und der Wandel der heutigen Zeit jedoch beängstigend. Die verbin- dende Kraft eines idealistischen, optimistischen Patriotismus wäre eine not- wendige Beruhigung. In seiner Abschiedsrede bekräftigte Obama noch einmal die Vision, die ihn zwei Präsidentschaftswahlen gewinnen ließ: „Es ist das Beharren darauf, dass diese Rechte zwar selbstverständlich, aber kein Automatismus sind, dass wir, das Volk, durch das Instrument der Demokratie eine vollkommene- re Union schaffen können. [...] Welch radikale Idee. Unsere Grün- Ein gemeinsames der haben uns ein großartiges Geschenk gemacht: Die Freiheit, mit Symbol kann Altes Schweiß, schwerer Arbeit und Vorstellungskraft unseren persönli- chen Traum zu verfolgen, und das Gebot, dies gemeinsam zu tun, mit Neuem vereinen um einer größeren Sache, dem Gemeinwohl zu dienen. [...] Das mei- nen wir also, wenn wir sagen, dass die Vereinigten Staaten außergewöhnlich sind – nicht, dass unsere Nation von Beginn an ohne Fehler war, sondern, dass wir die Fähigkeit bewiesen haben, uns zu ändern und nachfolgenden Genera- tionen ein besseres Leben zu ermöglichen.“ Der amerikanische Nationalstolz ist nicht mit Nationalismus gleichzuset- zen. Er kann vielmehr, so Rorty, „eine notwendige Bedingung zur Selbstver- besserung“ sein. Jene, die darauf „hoffen, ihre Nation nach vorne zu bringen, müssen ihr Land an das erinnern, worauf es stolz sein kann und wofür es sich schämen muss“. Patriotismus bedeutet nicht zwangsläufig eine Anpassung an- derer Ethnien an eine „Hauptethnie“; er muss auch nicht zwangsläufig kon- servativ sein. Aber ein nach vorn gerichteter Patriotismus kann in manchen Fällen eine entscheidende Rolle spielen. In einem Land, das sich über einen gesamten Kontinent erstreckt und in dem Menschen leben, die keine homoge- ne Geschichte und Kultur teilen, kann eine gemeinsame Flagge – als Symbol unseres gemeinsamen Projekts „Amerika“ – das Alte mit dem Neuen verei- nen, das Ländliche mit dem Urbanen, die „Red States“ mit den „Blue States“. Was sonst könnte derartiges leisten? Aus dem gleichen Grund hat Habermas einen Verfassungspatriotismus für Europa vorgeschlagen, wenngleich er ihm zu rational und blutleer geriet. Ein widerstandsfähiger Nationalstolz auf de- mokratische Symbole kann progressiven Idealen dienen. Ob die Flagge mit den „Stars and Stripes“ in Zukunft für ein weltoffenes und wandelbares oder für ein konservatives und chauvinistisches Amerika steht, wird davon abhän- gen, wer die bessere Geschichte erzählen wird. Wenn wir keine Geschichte mehr erzählen können, die zu einem optimistischen, demokratischen Patri- otismus beiträgt, dann wird, wie im November, das Narrativ eines spal- Rachel Tausend- tenden, rückwärtsgerichteten Patri- freund ist Editorial otismus gewinnen. ­Director des German Heute habe ich endlich verstan- Marshall Fund of the United States. Sie den, warum eine amerikanische Fah- ­arbeitet in dessen ne am Vordach des Hauses meiner ­Berliner Büro. Mutter hängt. Und warum das nicht nur akzeptabel, sondern wichtig ist.

IP • März / April 2017 125 Bild nur in Printausgabe verfügbar

Brief aus … Bukarest Metropole der Travestie In Ceausescus Palast spielt man heute Demokratie

Marko Martin | Mercedes-Limousinen Anfang des Jahres wurde Sorin rasen über den Boulevard der Einheit, Grindeanu zum Ministerpräsiden- der früher „Boulevard des Sieges des ten gewählt; er ist Mitglied der „sozi- Sozialismus“ hieß. „Früher“ bedeu- aldemokratischen“ PSD, die sich vor tet: zu Ceausescus Zeit. Seit den bluti- allem aus der ehemaligen Ceauses- gen Ereignissen vom Dezember 1989 cu-Nomenklatura rekrutiert. Dachte gilt sie als überwunden – und ist doch man in westlichen Hauptstädten zu- noch präsent. Die von stiernackigen nächst, der 43-jährige Grindeanu sei Chauffeuren gesteuerten Wagen fah- „unbelastet und kompetent“, stellte ren nämlich zu jenem Gebäude, das sich bald heraus, welche Priorität der früher der „Palast der Republik“ war „Kompetente“ tatsächlich hat: die De- und heute „Palatul Parlamentului“ montage der Antikorruptionsgesetze, (Palast des Parlaments) genannt wird. die im vorigen Jahrzehnt verabschie- Wenn sie vor einem der pseudo-­ det worden waren, um Rumäniens antik verzierten Eingänge halten, Weg in die EU zu ebnen und Brüsse- sieht man nicht nur Fahrer, die an ler Skepsis zu besänftigen. einstige Securitate-Mitarbeiter er- Überraschend daran ist wohl nur innern, sondern auch dem Rücksitz das westeuropäische Verdutztsein. entsteigende Männer in Mohairmän- Was hatte man erwartet, wo doch teln, die nach einem Blick auf ihre Ro- selbst der reformorientierte, deutsch- lex-Uhr im zwölfstöckigen Steinklotz stämmige Präsident Klaus Johannis verschwinden. Dieser wurde in den mit Korruptionsaffären in den sich achtziger Jahren vom Ceausescu-Re- „national-liberal-christlich“ nennen- gime in Windeseile hochgezogen und den Parteien zu kämpfen hat? Derlei gilt heute als drittgrößtes Gebäude der Naivität ist fast schon arrogant: Als Welt – nach dem Pentagon und dem würden Begriffe westlicher Politik Pekinger Flughafen. Mitunter halten auch in anderen Gegenden automa- die Herren Parlamentarier inne, um tisch gelten. Als wäre bereits die ru- ihre Kolleginnen mit Handkuss zu mänische Sprache, die dem Latein nä- begrüßen: Frauen mit aschblondem her ist als modernes Italienisch, eine

Haar und voluminösen Lippen. abendländische Humanitätsgarantie. © Henning Kettel

126 IP • März / April 2017 Metropole der Travestie

Als würde Bukarests Selbstbeschrei- irdischen Etagen gibt es nur Funzeln, bung als „Paris des Balkans“ auf car- die nackte Betonwände zeigen und tesianische Aufklärung hinweisen. gespenstische Schreibtische, voll mit Schon im 18. Jahrhundert berich- feucht und fleckig gewordenen Partei- teten Reisende, wie auf den weni- broschüren. Hier erzählen die Guides gen befestigten Straßen protzige Bo- von ihrer Kinder- und Jugendzeit, als jaren-Kutschen über Eichenbohlen in im Winter weder Schulen noch Kran- Richtung pompöser Stadtpaläste ras- kenhäuser oder Wohnun- ten, die inmitten schiefer Holzhäu- gen beheizt und regelmä- Fast ein Hilferuf: „Wir ser standen, welche beinahe im Mo- ßig mit Strom versorgt haben eigentlich nur rast versackten. Ceausescus Wahn, wurden, weil alle Energie- der ein Fünftel der Stadt plattmachte, ressourcen in den Bau des die EU als Schutz“ gleicht deshalb eher der Bojaren-Des- Palasts flossen; wo rund potie als Le Corbusiers Funktionali- um die Uhr korrumpierte Architek- tät. Denn funktional ist an dem Pa- ten ebenso malochten wie Tausende last wenig: Mit 1000 Räumen und Zwangsarbeiter aus dem ganzen Land. 30 wandhoch verspiegelten Prunksä- Die Kälte, Dunkelheit und vor allem len verfügt er zwar über kilometerlan- die Angst jener Jahre, die Kinder und ge Teppichgänge, aber nicht über aus- Eltern verband, werden spürbar. reichend Toiletten; und die über 400 Und heute? Als Antwort beinahe Büros sind nur kleine Büdchen. ein Hilferuf: „Heute haben wir zu- Mit einer Mischung aus Technik- mindest das Verfassungsgericht gegen begeisterung und Nationalismus füh- die Korruption und Willkür der Poli- ren Palast-Guides ausländische Besu- tiker. Und wir haben die EU. Falsch: cher durch jene Teile des Gebäudes, Wir haben eigentlich nur die EU als die öffentlich zugänglich sind. Auf Schutz.“ Worauf viele der auswärti- Englisch und Französisch wird da gen Besucher erstaunt dreinschauen: ein vermeintliches Wunderwerk ge- So haben sie die vielgeschmähte EU lobt, in dem 16 Meter lange Gardinen noch gar nicht wahrgenommen … je 250 Kilo wiegen und alles Gold, Wieder draußen auf den Straßen, aller Marmor und jede Holzfurnie- lächelt das Konterfei des Schönheits­ rung der 700 Türen rumänischen Ur- chirurgen Dr. Stan von Litfaßsäu- sprungs sei – außer denen aus Maha- len. Kaum eine Parlamentarierin, die goni, die der zairische Herrscher Mo- ihre Lippen nicht von ihm vergrö- buto dem Genossen Ceausescu ge- ßern ­lassen würde – desgleichen de- schenkt hatte. Was ist hier eigentlich ren männliche Kollegen. Travestie-­ bizarrer: die schiere Existenz dieses affines Bukarest im Jahr 2017. mit Säulen, Kapitellen und Bögen völlig überladenen Palasts im kahlra- Marko Martin sierten Zentrum der Hauptstadt oder lebt, sofern nicht auf die Art und Weise, wie das spätstali- Reisen, als Schrift­ steller in Berlin. nistische Monstrum als Parlaments- Jüngst erschien sein sitz und Sehenswürdigkeit eines EU-­ Erzählband „Um­ Landes präsentiert wird? steigen in Babylon“. Doch plötzlich ändert sich der Ton. In der obersten von acht unter-

IP • März / April 2017 127 Bild nur in Printausgabe verfügbar

Internationale Presse Schmalbart in der Nachrichtenküche Käme das US-Portal Breitbart nach Deutschland, beträte es kein Neuland

Sumi Somaskanda | Direkt nach dem in Paris, wohl aber in London), das ei- überraschenden Wahlsieg von Donald genständig maßgeschneiderte Inhalte Trump machte das Breitbart News auf Deutsch produzieren würde. Und Network eine in den USA selbst wenig die Internetadresse breitbartnews.de beachtete Ankündigung: Das „Nach- ist in der Hand von deutschen Geg- richten“-Portal der so genannten „al- nern des Portals beziehungsweise sol- ternativen Rechten“ („alt-right“), mit- chen, die sich satirisch gegen rechts- gegründet und bis vor Kurzem geleitet radikale Stimmungsmache wehren von Trumps Chefstrategen Stephen – und dabei noch die Medien an der Bannon, kündigte an, in Kürze auch Nase herumführen („Ein Fake ist ein mit einem deutsch- und französisch- Fake ist ein Fake“, taz, 6.2.2017). sprachigen Angebot an den Start ge- Doch allein die Ankündigung hen zu wollen. schlug in Deutschland große Wel- Das Ziel: Die Macht der neuen len, Leitmedien und Kommentatoren Medienmarke, die vor Trumps Wahl- waren alarmiert. Die Tagesthemen kampagne weithin unbekannt war warnten vor der Plattform weißer und der nun durchschlagende pro- Rassisten, Frankfurter Allgemeine pagandistische Wirkung zugemessen und Süddeutsche Zeitung schilderten wurde, weiter zu vergrößern. Das Un- anhand einer Breitbart-Falschmel- ternehmen nahm die publizistischen dung über die Dortmunder Neu- Möglichkeiten in den Blick, die Ne- jahrsnacht, was auf Deutschland gativstimmungen in Europa – gegen zukomme. Breitbart hatte berich- Flüchtlinge und Einwanderer, gegen tet, ein gewalttätiger Mob muslimi- „die Eliten“ – zu bieten scheinen. Und scher Migranten hätte Deutschlands auch das Timing überraschte nicht: In älteste Kirche angezündet und dabei Frankreich wie in Deutschland ste- „Allahu Akbar“ skandiert („Revea- hen 2017 Richtungswahlen an. led: 1,000-Man Mob Attack Police, Allerdings ist bis heute unklar, Set Germany’s Oldest Church Alight wie sich Breitbart im Ausland redak- on New Year’s Eve“, breitbart.com, tionell aufstellen möchte. Bis heute 3.1.2017). Tatsächlich war an Silves- gibt es kein Büro in Berlin (auch nicht ter ein Bauzaun an der Kirche durch

128 IP • März / April 2017 Schmalbart in der Nachrichtenküche

Feuerwerk in Brand geraten; das Feu- mer per öffentlich-rechtlichem Rund- er konnte schnell gelöscht werden. funk und Tageszeitung. Doch eine Eine Verbindung zu Vorkommnissen, vom Bayerischen Rundfunk im Mai bei denen Polizisten aus einer Menge 2016 in Auftrag gegebene Medien- heraus mit Knallern und Raketen be- analyse zeigt, dass sich eine Mehr- worfen wurden, bestand nicht, auch heit der 18- bis 35-Jähri- nicht zu einer per Twitter-Video fest- gen mittlerweile auf Face- Nur ein Drittel hält gehaltenen Gruppe von Syrern, die book und andere soziale Nachrichtenmedien die Fahne der Freien Syrischen Ar- Medien als Nachrichten- mee schwenkten. (Die Breitbart-Mel- quelle verlässt. Auch eine für unabhängig dung ist bis heute im Netz. Die einzig altersübergreifende Grup- eingeräumte Korrektur: Tatsächlich pe der „Zweifler“ (sie ga- sei der Trierer Dom Deutschlands äl- ben bei der Umfrage an, mit der Si- teste Kirche – ein Fehler von knapp tuation in Deutschland unzufrieden zehn Jahrhunderten.) zu sein) bezieht ihre Informationen Inzwischen existiert mit „Schmal- hauptsächlich aus sozialen Medien bart“, gegründet von dem Online-Pub- und dem Privatfernsehen. lizisten Christoph Kappes, ein Watch- Und nur ein Drittel (34 Prozent) blog, das Breitbart beobachten und der Befragten hält die deutschen sich gegen dessen Einfluss wenden Nachrichtenangebote für wirklich will. Mitte Januar veranstaltete Kap- unabhängig. Stattdessen glauben pes einen Workshop mit Journalis- deutliche Mehrheiten, dass Bundesre- ten und Aktivisten, um Strategien zu gierung, Wirtschaftsverbände, Partei- erarbeiten – vielleicht alles ein biss- en und die Werbewirtschaft die Nach- chen sehr viel „Ehre“ für ein Portal, richtenauswahl beeinflussten. Die Po- dem vorgeworfen wird, die Fahne von larisierung in Medien und Politik hat Rassisten und antisemitischen Ideo- also offenbar begonnen, den öffentli- logen hochzuhalten, in einem Land, chen Diskurs zu vergiften – mit be- das sich eines vielfältigen Angebots drohlichen Konsequenzen. an Nachrichtenmedien erfreut. „Wir sehen mehr Irrationalität, Doch der sprunghafte Zulauf, den Emotionalisierung und Personali- die islam- und fremdenfeindliche Bür- sierung in den Medien, besonders gerbewegung Pegida 2015 und die ei- stark bei politischen Themen“, sagt gentlich als Anti-Euro-Partei gegrün- Lutz Frühbrodt, Professor für Kom- dete Alternative für Deutschland munikationswissenschaften an der (AfD) erfahren haben, hat offenbar Universität für angewandte Wis- für Nervosität gesorgt. Pegida wie senschaft in Würzburg-Schwein- AfD wenden sich gegen angebliche furt. „Das führt dazu, dass wir Din- „politische Korrektheit“ des etablier- ge emotional wahrnehmen und un- ten Medienspektrums; ihr Umfeld seren Verstand ausschalten. Aber es brachte auch den NS-Kampfbegriff gehört dazu, in einer Demokratie an- „Lügenpresse“ wieder auf. dere Argumente zu hören und Fakten Zugleich sind Facebook und Twit- als Fakten anzuerkennen.“ ter zu wichtigen Nachrichtenquel- Auch ist es nicht so, dass Breit- len geworden. Zwar informiert sich bart in Deutschland Neuland be­träte. eine Bevölkerungsmehrheit noch im- Eine Vielzahl von kleinen und mit-

IP • März / April 2017 129 Internationale Presse

telgroßen, überwiegend rechtsgerich- tischen Positionen und die Behaup- teten „Anti-Establishment“-Medien tung, Europas Mehrheitsbevölke- hat sich in den vergangenen Jahren rung knicke vor dem Islamismus ein entwickelt und ein neues Publikum (eines seiner Bücher trägt den Titel gefunden. „Hurra, wir kapitulieren“), zemen- Ein Beispiel dafür ist „Tichys Ein- tierten seinen Ruf im konservativen blick“: 2014 als „liberal-konservatives Medien­spektrum. Auch die „Achse“ Meinungsmedium“ vom ehemaligen geht mit politisch Andersdenkenden Chefredakteur der Wirtschaftswoche, nicht gerade respektvoll um. Schlag- Roland Tichy, gegründet, erreicht das zeilen lauten schon mal „Voll von ges- Portal nach Eigenangaben monatlich tern: Die TOP 10 der grünen Spinne- drei Millionen Klicks von 250 000 reien“ (6.2.2017). Nutzern. Seit Oktober 2016 erscheint Tichys Einblick „auf Wunsch der Le- Stramm rechts ser“ auch als gedrucktes Monatsma- Jenseits dieser Angebote wird der Ton gazin. Auflage: 70 000. schnell stramm rechts bis rechtsext- Tichy, der u.a. Vorsitzender rem. Die Wochenzeitung Junge Frei- der Ludwig-Erhard-Stiftung ist, heit ist ebenfalls nicht neu: Sie wur- wehrt sich im Gespräch gegen den de 1986 von ihrem heutigen Chefre- „­Anti-Establishment“-Stempel. „Es dakteur Dieter Stein gegründet. In gibt kaum jemanden, der etablierter den vergangenen zehn Jahren konn- wäre als ich. In Deutsch- te sie ihre Auflage auf 35 000 Exem- „Wer die AfD land bedeutet rechts im- plare verdoppeln. Die Zeitung sieht verstehen will, muss mer gleich Nazi, und das sich selbst als „Leuchtturmmedium ist nicht, wofür wir ste- für alle konservativen Deutschen“, Junge Freiheit lesen“ hen“, sagt er. „Wir stehen die von der Dominanz linkslibera- nur deshalb rechts der ler Medienangebote frustriert seien. Kanzlerin, weil sie ihre ganze Partei Allerdings bezieht die Junge Freiheit von der rechten Mitte nach links ge- zumeist extrem rechte Standpunkte; führt hat.“ Für Aufregung sorgte An- das Blatt gilt als Flaggschiff der Neu- fang 2017 der Blogbeitrag eines Gast- en Rechten und der AfD. „Wer die autors, der „linksgrüne Gutmen- AfD verstehen will, muss die Junge schen“ für psychisch krank erklärte Freiheit lesen“, erklärte der stellver- – wofür Tichy sich entschuldigte. tretende AfD-Vorsitzende Alexander Ein anderes Beispiel ist „Die Ach- Gauland bereits 2015. se des Guten“, ein beliebter konser- Konkurrenz erfährt die Junge vativer Blog, der dem deutschen Me- Freiheit von Medien, die noch wei- dienangebot oft sehr kritisch gegen- ter rechts einzuordnen sind. Das Ma- übersteht. Einer seiner Gründer, gazin Compact wurde 2008 vom ehe- Henryk M. Broder, arbeitete früher mals linken Journalisten und Akti- für den Spiegel und ist heute u.a. Ko- visten Jürgen Elsässer gegründet. Er lumnist der Welt. Sein kompromiss- sieht Compact, das mit einer Aufla- loses Eintreten für Israel brachte ihm ge von 85 000 Exemplaren erscheint, den Vorwurf ein, für eine deutsche als einen Gegenentwurf zu den libe- Form des US-Neokonservatismus ralen, angeblich voreingenommenen zu stehen. Vor allem seine islamkri- „Mainstream-Medien“. Kritiker hal-

130 IP • März / April 2017 Schmalbart in der Nachrichtenküche

ten Compact für nicht viel mehr als ten sind, davon gehen die meisten ein extremistisches Revolverblatt, das Beobachter aus – bei den Wahlen in mit Verschwörungstheorien und ras- Frankreich zeichnet sich dies bereits sistischen Glaubenssätzen hausieren ab. Im russischen Staatsfernsehen geht. Compact veröffentlicht regel- schürte Kommentator Dmitri Kis- mäßig Putin-freundliche und migra- seljow bereits Gerüchte über die an- tionskritische Beiträge und versteht geblich „nichttraditionelle Orientie- sich wie die Junge Freiheit als Sprach- rung“ von Präsidentschaftskandidat rohr der AfD. Auf dem Video-Portal Emmanuel Macron („Russian media von Compact finden sich Interviews leap on French presidential candida- mit prominenten AfD-Vertretern. te with rumors and innuendo“, The Kopp Online, publiziert vom Washington Post, 6.2.2017). Kopp-Verlag, ist eine weitere Deutsch- Noch mehr Sorgen macht Exper- lands Medienlandschaft kritisch ten aber der so genannte „Echokam- ­gegenüberstehende Onlineplattform, mer-Effekt“ – soziale Medien wie Fa- die monatlich 3,6 Millionen Klicks er- cebook und Twitter verstärken den reicht. Sie verbreitet ein Weltbild vol- Effekt eingefärbter, ma- ler fantastischer Verschwörungstheo- nipulierter oder falscher Das Weltbild man- rien, verbindet rechtes Gedankengut „Nachrichten“, indem sie cher Publikation hat mit Esoterik und trägt laut Frühbrodt ihre Nutzer aufgrund de- sektenartige Züge. „Deutschlands Zu- ren Leseverhaltens und sektenhafte Züge kunft: Überall Panzer und Soldaten Präferenzen nur noch mit zum Schutz vor Migrantenbanden?“, solchen „Informationen“ beliefern, lauten dort die Schlagzeilen (7.1.2017). die der jeweiligen politischen Ansicht Die „Nachrichten“ und „Hintergrün- entsprechen. de“ finden sich Seit an Seit mit Wer- Die Kampagne „Kein Geld für bung für Cannabis-Öl-Wunderheil- Rechts“ hat werbefinanzierte Platt- mittel gegen Krebs und Anbautipps formen getroffen. Diese rief im De- für Wintergemüse. zember 2016 namhafte Unterneh- Auch manche auslandsfinanzier- men dazu auf, auf Online-Werbung ten Angebote haben Konjunktur. bei rechtsextremen Medien à la Breit- Laut Correctiv, dem gemeinnützigen bart zu verzichten. Auf „Tichys Ein- Recherchezentrum, hat auch Russ- blick“ hieß es dazu, es gehe darum, lands internationaler Sender RT eine „unbequeme Meinungen“ auszuschal- beachtliche Zahl von Zuschauern und ten. Dabei war dieses Portal eigent- Online-Nutzern in Deutschland, vie- lich gar nicht Ziel der Kampagne. le davon Russlanddeutsche. RT atta- ckiert in erster Linie Merkel und prä- sentiert angebliche Beweise, wie die Sumi Somaskanda „Mainstream-Medien“ ihre Zuschau- berichtet als freie Re- er und Leser hinters Licht führten porterin über Deutsch- land und Europa für und die Wahrheit vertuschten. Correc- Foreign Policy und tiv zufolge hat der deutsche RT-You­ ist Redakteurin des tube-Kanal 80 000 Abonnenten. Berlin Policy Journal. Dass für die Bundestagswahlen Manipulationsversuche zu erwar-

IP • März / April 2017 131 Buchkritik

Iran von innen Drei Versuche, ein widersprüchliches Land zu verstehen

Sebastian Sons | Terrorunterstützer und Kriegstreiber oder Stabilitäts­­anker und Wirtschaftspartner? Auch ein Jahr nach Inkrafttreten des Atom­ abkommens scheiden sich die Geister am Iran. Doch je bedeutsamer die Rolle der Islamischen Republik in der Welt und der Region wird, desto nö­ tiger sind differenzierte und sachliche Analysen.

Laut US-Präsident Donald Trump ist tischen und historischen Entwicklun- es eine „Katastrophe“: Das Atomab- gen des Landes. kommen mit dem Iran, das Mitte Ja- Der Bedeutung des Energiesek- nuar 2016 in Kraft trat, entzweit bis tors für die politische Ökonomie des heute die Gemüter. Die einen sehen Iran widmet sich David Jalilvand. Da- den Deal als Freibrief für den Iran, bei konzentriert sich Jalilvand, der im seine Machtansprüche mit Gewalt Nah- und Mittelost-Referat der Fried- durchzusetzen, in Syrien, im Jemen, rich-Ebert-Stiftung arbeitet, auf die im Libanon. Andere verweisen auf Zeit nach der Iranischen Revolution die wirtschaftlichen Chancen, beto- 1979. Besonderes Augenmerk legt er nen den gesellschaftlichen und poli- auf die strategische Bedeutung, die tischen Wandel unter Präsident Has- das Land aufgrund seiner Erdölre- san Rohani und halten das Land für serven bis heute hat. Seiner Analyse einen möglichen konstruktiven Part- zufolge hat sich die Ausrichtung des ner in der Region. Energiesektors fundamental verän- dert: Habe der Iran vor der Revolu­ Erdöl als Machtfaktor tion noch 90 Prozent seiner Erdöl- Mit der politischen, der wirtschaftli- und Erdgasproduktion exportiert, chen und der gesellschaftlichen Situ- so sei dieser Wert bis 2013 auf unter ation im Iran beschäftigen sich drei 25 Prozent gesunken, da der Inlands- neue Bücher. David Jalilvand beleuch- konsum dramatisch angestiegen sei. tet kenntnis- und faktenreich den Öl- Das habe auch mit dem Wirtschafts- und Gassektor im Iran, Adnan Taba- und Bevölkerungswachstum sowie tabai wirft einen persönlichen und den gravierenden Umwälzungen des oftmals intimen Blick auf die irani- politischen Systems nach 1979 zu tun. sche Gesellschaft, und Henner Fürtig In den vergangenen Jahrzehnten analysiert knapp und konzise die poli- sei der Energiesektor immer stärker

132 IP • März / April 2017 Iran von innen

in die politische Ökonomie des Lan- Gleichzeitig habe sich der Iran des integriert worden – mit tiefgrei- vom Ausland unabhängiger gemacht. fenden Auswirkungen auf die Politik Das wiederum habe aber auch negati- und Wirtschaft des Landes. Vor allem ve Folgen gehabt: Neue wirtschaftli- der verheerende Krieg mit dem Irak che Player seien entstanden, die so ge- zwischen 1980 und 1988 habe zu ei- nannten „Chosoulati-Unternehmen“. nem Einbruch der Öl- und Gaspro- Diese halbstaatlichen Firmen seien duktion und -exporte geführt. Man eng mit der politischen Elite verban- sei gezwungen gewesen, die Energie- delt, entzögen sich aber der staatlichen ressourcen vor allem der eigenen Be- Kontrolle. Das Verhältnis von Staat völkerung zugutekommen zu lassen. und Unternehmen werde dadurch Die wirtschaftliche Krise habe umgekehrt: Der Staat werde zum In- sich nach dem Tod des Revolutions- strument in den Händen der Chosou- führers Ayatollah Khomeini zuge- lati-Unternehmen. Das schwäche den David Jalilvand: spitzt; mit der Folge, dass der Iran Staat und fördere die Korruption: „Es Transformation des Rentierstaats mehr und mehr in die Isolation geriet. wurde zur gängigen Praxis, dass Mit- Iran. Zur Rolle des Es sei zu einer politischen Kehrtwen- glieder der Staatsklasse ihre Positi- Energiesektors de gekommen: Anstelle der konfron- onen zur Selbstbereicherung nutz- in der politischen tativen, antiwestlichen Politik Kho- ten.“ So sicherten die Erdöleinnah- Ökonomie. Berlin: Springer- meinis sei ein „Kurswechsel zu ei- men nicht automatisch die Macht des Verlag 2017, 291 S., ner pragmatischeren Politik“ getre- Staates, sondern ermöglichten es ge- 39,99 € ten, der allerdings durch Präsident rade den Chosoulati-Unternehmen, Machmud Achmadinedschad wieder ihren Einfluss auf Kosten der staatli- gebremst worden sei. chen Gewalt auszubauen. Achmadinedschad habe die Ener- giesubventionen für die eigene Be- Beitrag zur Entmystifizierung völkerung reduziert und damit den Adnan Tabatabai, Geschäftsführer des „dramatischen Überkonsum“ einge- Bonner Think Tanks CARPO, nimmt schränkt. Jedoch ohne Erfolg, da die den Leser mit auf eine sehr persönli- Kompensationszahlungen ins Uner- che, aber nicht weniger analytisch messliche gestiegen seien. So sei der fundierte Reise in den Iran. Dabei Iran wieder in die wirtschaftliche thematisiert der als Sohn iranischer Krise und die internationale Isolation Eltern in Deutschland aufgewachse- geschlittert – obwohl Achmadined- ne Autor immer wieder seine eigene schad höhere Einnahmen aus dem Herkunft, die ihm tiefe Einblicke in Ölexport zur Verfügung standen als die iranische Gesellschaft ermöglicht: seinen beiden Vorgängern zusammen. „Nichts davon ist mir fremd“, schreibt Jalilvands Fazit fällt dennoch nicht er, „die Umstellung vom deutschen vollkommen negativ aus: Je mehr man in das iranische Umfeld verläuft für den Energiesektor in die Wirtschaft mich fließend.“ Häufig lässt Tabata- integriert habe, desto stärker sei die bai seine iranischen Gesprächspart- inländische Wertschöpfung gestie- ner direkt zu Wort kommen, die viele gen. Das habe zu mehr Industriali- gesellschaftliche Spektren abdecken: sierung geführt, neue Infrastruktur- vom hochrangigen Funktionär über maßnahmen geschaffen und mehr die Studentin und den Geistlichen bis Bildungsinvestitionen ermöglicht. hin zum LKW-Fahrer.

IP • März / April 2017 133 Buchkritik

Er scheut sich dabei nicht, auch Die Aufhebung der Sanktionen könne mit Menschen im Gespräch zu blei- einen Aufschwung auslösen und den ben, deren Meinung er nicht teilt. „schlafenden Riesen“ Iran wecken. Gerade absurd anmutende Aussagen Größtes Manko bleibe indes die „feh- „zwingen einen aufgrund des gedank- lende wirtschaftliche Effizienz“, die lichen Schocks, den sie erzeugen, zum ausländische Investoren abschrecke. Nachdenken“. Es sind diese persönli- Eine weitere oft gehörte These, chen Eindrücke von Land und Leu- der Tabatabai widerspricht, ist die, ten, die Tabatabais Buch ausmachen. wonach der Iran nicht nur ein ag- Daneben gelingt es ihm aber auch, die gressiver, sondern auch ein irrationa- Heterogenität des politischen Systems, ler außenpolitischer Akteur sei. Die- der Gesellschaft, der Wirtschafts­ se Auffassung habe viel damit zu tun, eliten und der Geistlichkeit aufzuzei- dass westliche Beobachter schlicht- gen. Der Iran ist keineswegs ein Land weg die internen Entscheidungspro- der einheitlichen Meinungen, der kon- zesse nicht kennen würden. Diese trollierten Diskurse und der Engstir- wirkten auf Außenstehende oftmals nigkeit. Unterschiedliche Interessen- konfus, das sei aber Teil eines Plans: gruppen ringen um Einfluss und um „So konnte man bei den Nuklearver- Deutungshoheit. „Man entdeckt jede handlungen eine Art ‚good cop, bad Menge Grautöne, wo ein einfaches cop‘-Strategie beobachten.“ Schwarz-Weiß vermutet wurde.“ Ein eigenes Kapitel widmet Taba- Um zur „Entmystifizierung“ des tabai der iranischen Zivilgesellschaft. Iran beizutragen, prägt Tabatabai den Ihre Vertreter verfolgten das Ziel, die Adnan Tabatabai: Begriff der „Systemelite“. Diese gehö- Lebensverhältnisse im Land zu ver- Morgen in Iran: re nicht zur Regierung, sondern beste- bessern, ohne dass sie beabsichtig- Die Islamische Republik im Auf- he aus den „etwa 30 bis 40 einfluss­ ten, das politische System zu ändern. bruch. reichsten Akteuren in Politik, Geist- Es sei daher ein Trugschluss zu glau- Hamburg: Edition lichkeit und Militär“. Sie konkurriere ben, eine vielfältige Zivilgesellschaft Körber-Stiftung oftmals mit der Staatsführung. führe automatisch zu mehr Demo- 2016. 304 Seiten, 17,0 0 € Den derzeitigen Präsidenten des kratisierung. Solchen Organisatio- Landes, Hassan Rohani, sieht Tabata- nen gehe es eher darum, auf zu ho- bai anders als viele Betrachter nicht als hen Wasserverbrauch, auf Luftver- Reformer. Rohani gehe es schlicht da- schmutzung oder die Notwendigkeit rum, das Regime über wirtschaftliche der Mülltrennung hinzuweisen. Auch Erfolge zu stabilisieren. Gelinge ihm die Frauen im Land seien weder Ver- das, sei ihm die Wiederwahl bei den treter einer entschleierten Emanzipa- diesjährigen Präsidentschaftswahlen tionsbewegung noch Symbol der Un- sicher, prognostiziert der Autor. Arg- terdrückung: „Selbstwahrnehmung, wöhnisch betrachtet er die Rolle der Fremdzuschreibung, Erwartungen Revolutionsgarden, die mittlerweile und Ambitionen variieren gravierend an der Seite Baschar al-Assads in Sy- zwischen sozial, ethnisch, konfessio- rien kämpfen – ein verlustreiches Un- nell und geografisch unterschiedlich terfangen, das dennoch von den meis- verorteten Frauen. (…) Eindeutig ist ten Iranern befürwortet werde. nur, dass nichts eindeutig ist.“ Die wirtschaftliche Entwicklung Tabatabais Blick auf den Iran bewertet Tabatabai vorsichtig positiv. bleibt stets von einer positiven Grund-

134 IP • März / April 2017 Iran von innen

haltung durchzogen – trotz der gra- künstlers Iran auf eine „Wagenburg- vierenden Menschenrechtsverletzun- mentalität“ zurück, die in Zeiten der gen, dem häufig kritikwürdigen Um- externen Bedrohung dazu geführt gang mit Minderheiten, der Inhaftie- habe, sich hinter dem Regime zu ver- rung von Oppositionellen oder der einen. Das zeige sich vor allem beim exorbitant hohen Zahl von Todesur- Verhältnis zum „Großen Satan“ USA, teilen. „Denn das Land weist in allen denn: „Ohne Übertreibung lässt sich Bereichen das notwendige Potenzial feststellen, dass der Antagonismus auf, Missstände aus eigener Kraft zu zu den USA zum konstitutiven Ele- überwinden.“ ment der Islamischen Republik Iran Dank seines hohen Bildungsni- geworden ist.“ Die Historie dieser Be- veaus, seiner motivierten Jugend und ziehung sei „eine Geschichte verpass- der günstigen geostrategischen Lage ter Chancen und sogar mutwillig aus- sei der Iran prädestiniert für den geschlagener Gelegenheiten.“ notwendigen Wandel. Dennoch: „Es Daneben widmet sich der Autor Henner Fürtig: braucht seine Zeit, alle mitzuneh- dem spannungsreichen Verhältnis zu Großmacht Iran. Der Gottesstaat men, zu überzeugen und womöglich Israel, kritisiert die Holocaust-Leug- wird Global erst darüber aufzuklären, dass man- nung Achmadinedschads und glaubt Player. che Dinge einfach nötig sind.“ Taba- eher an ein „Tauwetter“ mit den USA Köln: Quadriga tabai gelingt es, einen frischen, un- als an eine Annäherung an Israel. Be- Verlag Jahr 2016. 288 Seiten, 24,00 € verbrauchten Blick auf „seinen“ Iran sonders interessant lesen sich die kur- zu werfen. Dabei besteht seine größ- zen Kapitel zu weiteren Partnern des te Leistung darin, die Heterogenität Iran, wie Russland, Syrien, Venezue- und Vielgesichtigkeit der iranischen la, Armenien oder Afghanistan, da Gesellschaft darzustellen und so dem Fürtig hier komplizierte Beziehungs- Leser ein fremdes und unverstande- geflechte erörtert, mit denen sich we- nes Land nahe zu bringen. nige beschäftigen. Sein Stil ist aussa- gekräftig und präzise, und er behan- Noch lange nicht am Ende delt alle relevanten Themen mit der Zeigen Jalilvand die ökonomische Di- notwendigen Sorgfalt. mension und Tabatabai die Innenper- Für Fürtig ist die Islamische Re- spektive des Iran auf, so ist Henner publik auch nach dem Ableben des Fürtigs Buch eine klassische Län- Obersten Religionsführers nicht am deranalyse. Fürtig, der als Professor Ende: „Mit einer erstarkten und an der Universität Hamburg lehrt selbstbewussten Islamischen Repub- und Direktor des GIGA-Instituts für lik Iran wird die Welt noch eine Wei- Nahost-Studien ist, versucht, folgen- le zu ­leben haben.“ de Fragen zu beantworten: Wie ver- ändert sich der Iran nach dem Atom- Sebastian Sons abkommen? Wie entwickelt sich das ist Associate Fellow im Verhältnis zum Westen? Welche Rol- Programm Naher Os- ten und Nordafrika bei le nimmt das Land in der Region ein? der Deutschen Gesell- Vor allem Fürtigs Ausführungen schaft für Auswärtige zur regionalen Bedeutung der Isla- Politik (DGAP). mischen Republik sind lesenswert. Er führt den Erfolg des Überlebens-

IP • März / April 2017 135 Buchkritik

Warum sie kommen Neue Bücher zu den Hintergründen von Flucht und Vertreibung

Thomas Speckmann | Fluchtursachen, Fluchtrouten, Integration: Die Migra- tionsdebatte hat den Buchmarkt erreicht und eine kaum noch überschauba- re Anzahl an Neuerscheinungen hervorgebracht. Wer den Überblick behal- ten möchte, muss sich konzentrieren. Zum Beispiel auf die Frage: Was treibt Menschen an, ihre Heimat aufzugeben und woanders Schutz zu suchen?

Seit Jahren dasselbe Bild: Das Früh- nationalen Konzernen, Despoten, jahr kommt – und mit ihm die Flücht- Schmugglern und Warlords. Der Aus- linge. Sobald das Wetter wieder bes- landsreporter der Financial Times, ser wird, beginnt die Saison der Men- der zuletzt aus Johannesburg und schenschlepper. Das Geschäft mit ei- Lagos berichtete, zeigt auf, wie groß ner Fahrt über das Mittelmeer bleibt die Armut gerade in Ländern ist, die attraktiv – nicht nur für die Organi- gemessen an ihren natürlichen Res- satoren, sondern auch für die Pas- sourcen zu den reichsten der Welt ge- sagiere. Trotz aller Gefahren, trotz hören müssten. Tausender Ertrunkener in den ver- Burgis zitiert Berechnungen der gangenen Jahren. Denn der Weg von Weltbank, wonach der Anteil der den Küsten Nordafrikas nach Euro- Menschen in extremer Armut in Ni- Tom Burgis: Der pa steht immer noch mehr oder we- geria bei 68 Prozent und in Angola Fluch des Reich- niger offen – im Gegensatz zur Bal- bei 43 Prozent liegt, obwohl diese bei- tums. Warlords, Konzerne, kan-Route und der Ägäis, wo das Ab- den Länder die größten Öl- und Gas- Schmuggler und kommen der Europäischen Union mit produzenten Afrikas sind. In Sam- die Plünderung der Türkei die Fluchtmöglichkeiten bia und dem Kongo, deren gemein- Afrikas. Frankfurt deutlich eingeschränkt hat. same Grenze mitten durch den af- am Main: Westend Verlag 2016, 351 S., rikanischen Kupfergürtel geht, liegt 24,00 € Die Plünderung Afrikas der Prozentsatz extremer Armut so- Doch langfristig wird die Mehrzahl gar bei 75 und 88 Prozent. Zum Ver- der Menschen, die nach Europa wol- gleich: 33 Prozent der Inder, 12 Pro- len, nicht aus dem Nahen und Mitt- zent der Chinesen, 0,7 Prozent der leren Osten kommen, sondern aus Mexikaner und 0,1 Prozent der Po- Afrika. Warum das so ist, schildert len gelten als extrem arm. Tom Burgis in seinem Buch über die Ist es die Stärke von Burgis, die Folgen der Verflechtungen von multi­ Ursachen von Armutsmigration

136 IP • März / April 2017 Warum sie kommen

überaus anschaulich zu beschrei- Möglichkeiten zur Auswanderung ben, so hat Asfa-Wossen Asserate ein sehr viel größer als die tatsächliche flammendes Plädoyer für eine Neu- Migrationsrate. Anhand von Umfra- ausrichtung der europäischen Afri- gen des Washingtoner Markt- und kapolitik verfasst („Die neue Völker- Meinungsforschungsinstituts Gallup wanderung“, Propyläen 2016). Der zeigt Milanovic, dass rund 700 Mil- langjährige Berater deutscher Unter- lionen Menschen – ein Zehntel der nehmen mahnt, Europa müsse Afri- Weltbevölkerung – gerne in ein an- ka als Partner behandeln und dort deres Land auswandern würden. Als gezielt die Staaten unterstützen, die treibende Kräfte macht er Armut und demokratische Strukturen aufbauen Perspektivlosigkeit aus. Doch nach und in ihre Jugend investieren. Nur der Analyse des früheren leitenden so könne es gelingen, den Afrikanern Ökonomen der Weltbank ist nicht eine menschenwürdige Zukunft auf mehr allein das Geburtsland der ent- ihrem Kontinent zu ermöglichen. scheidende Faktor für die Höhe des Branko Milanovic: Dass dies im ureigenen Interesse Einkommens, denn der Abstand zwi- Die ungleiche Welt. Migration, der Europäer ist, zeigt Asserate, in- schen armen und reichen Staaten sei das Eine Prozent dem er ein bedrohliches Szenario ent- geringer geworden. Prägender werde und die Zukunft wirft: auf der einen Seite eine afrika- das Gefälle innerhalb von Nationen der Mittelschicht. nische Bevölkerung, die sich in den – und das sei dramatisch gestiegen. Berlin: Suhrkamp Verlag 2016, 312 S., kommenden Jahrzehnten verdoppeln Eine Folge daraus: Der Hunger, 25,00 € wird, auf der anderen Seite eine dra- laut UN „das größte lösbare Prob- matische Zunahme von gescheiter- lem der Welt“, dürfte auf absehba- ten Staaten, von Korruption, Miss- re Zeit eben nicht gelöst werden. Da- wirtschaft und Unterdrückung. Eine durch stirbt immer noch alle zehn mögliche Folge: nicht mehr „nur“ Sekunden irgendwo auf der Welt ein Tausende von Flüchtlingen pro Jahr, Kind unter fünf Jahren an Unterer- die sich auf den Weg nach Europa ma- nährung – drei Millionen Kinder pro chen, sondern Millionen. Eine Kata- Jahr. Eine „Schande“, wie Martín Ca- strophe auch für Afrika, denn schon parrós klarstellt. Sein Verdienst ist jetzt kehren gerade diejenigen ihrer es, diese Schande kartographiert zu Heimat den Rücken, die für die Ent- haben. Dazu reiste der in Buenos Ai- wicklung vor Ort dringend gebraucht res geborene Schriftsteller und Jour- würden. nalist fünf Jahre lang um die Welt. Caparrós suchte nicht nur Orte 700 Millionen Auswanderer? auf, wo der Hunger offen sichtbar ist Martín Caparrós: Und doch ist das afrikanische Drama wie in Niger oder in den Armutsvier- Der Hunger. Berlin: Suhrkamp nur ein Teil der globalen Herausfor- teln in Indien, wo mehr Menschen Verlag 2016, 844 S., derung durch Migration. Branko Mi- hungern als in jedem anderen Land. 29,95 € lanovic, Professor für Wirtschafts- Er berichtet ebenso aus den USA, wo wissenschaften an der City Univer- jeder Sechste Probleme hat, sich aus- sity of New York, weist darauf hin, reichend zu ernähren, während je- dass nicht nur die Zahl der Migran- der Dritte unter Fettleibigkeit leidet. ten seit dem Jahr 2000 etwa doppelt Auch in Argentinien stieß Caparrós so schnell wächst wie die Weltbevöl- auf einen scharfen Kontrast: Viele kerung. Auch sei die Nachfrage nach Menschen können sich kein Fleisch

IP • März / April 2017 137 Buchkritik

mehr leisten, obwohl dort Nahrungs- leben will. Einwanderungsbeschrän- mittel für 300 Millionen Menschen kungen seien nur in Ausnahmesitua- produziert werden. tionen zulässig. Ist für Caparrós der Hunger keine Um eine Welt zu schaffen, in der Naturkatastrophe, die schicksalhaft dieses Prinzip allgemein anerkannt über die Menschen hereinbricht, son- wäre, muss nach Cassees Einschät- dern der extremste Ausdruck sozialer zung das globale Wohlstandsgefäl- Ungleichheit in einer Welt, in der das le reduziert werden. Denn Freizü- reichste Prozent mehr besitzt als alle gigkeit dürfte realistischerweise nur anderen zusammen, so nimmt auch zwischen Staaten erreichbar sein, Rupert Neudeck in seinem kurz vor die in ihren wirtschaftlichen, wohl- seinem Tod erschienenen Vermächt- fahrtsstaatlichen und politischen Sys- Rupert Neudeck: nis kein Blatt vor den Mund: Die Lage temen ausreichend kompatibel sind, In uns allen steckt der heutigen Flüchtlinge sei so drama- um gegenseitige Niederlassungsfrei- ein Flüchtling. Ein Vermächtnis. tisch, dass es kaum möglich sei, sich heit im Interesse ihrer eigenen Bür- München: C. H. in sie hineinzuversetzen. ger zuzulassen. Eine schrittweise Li- Beck Verlag 2016, Neudeck blickt dabei nicht nur beralisierung der Einwanderungspo- 169 S., 14,95 € auf die Menschen, die Krieg und Dik- litik könnte ein Teil der Lösung sein. tatur dazu zwingen, ihr Land zu ver- Wie Migration zu steuern ist, lassen. Er geht davon aus, dass die ohne dabei Menschenrechte zu ver- Europäer es in Zukunft verstärkt letzen, wird mehr und mehr zu einer mit Klima- und Umweltflüchtlingen Schlüsselfrage des 21. Jahrhunderts. zu tun haben werden, die in ihrer an- Britta Leisering beleuchtet das Rin- gestammten Heimat nicht mehr leben gen um Schutzstandards für Flücht- können – sei es, weil das Meer diese linge an den europäischen Außen- schlicht verschluckt hat oder weil sie grenzen. Die wissenschaftliche Mit- auf dem Boden nichts mehr anbauen arbeiterin am Deutschen Institut für können. Doch eine Unterscheidung Menschenrechte in Berlin beschreibt zwischen Wirtschaftsflüchtling und die derzeit gängige Praxis: Um irregu- Nicht-Wirtschaftsflüchtling möchte läre Einreisen zu verhindern, werden Neudeck nicht machen. Die Flücht- Einwanderungskontrollen in Europa lingskrise ist in seinen Augen auch oft außerhalb des eigenen Staatsge- Britta Leisering: kein Problem Deutschlands oder Eu- biets durchgeführt. Menschenrechte ropas, sondern ein „Weltproblem“. Dabei sei umstritten, welche an den europäi- Schutzstandards dort einzuhalten schen Außen- Geschlossene vs. offene Grenzen grenzen. Das seien. Denn die Menschenrechte als Ringen um Wie ist damit umzugehen? Die Migra- Normen in internationalen Verträgen Schutzstandards tionsdebatte wird bislang zwischen gelten im Hoheitsbereich der Staaten. für Flüchtlinge. Frankfurt/Main: zwei Extrempositionen geführt – ge- Das werde traditionell als Geltung im Campus 2016, schlossene versus offene Grenzen. Für eigenen Territorium interpretiert. 236 S., 39,95 € letztere tritt der Philosoph Andreas Umso stärker stellt sich die Frage Cassee ein, derzeit Fellow an der Frei- nach den Rechten von Flüchtlingen en Universität Berlin („Globale Bewe- und Migranten, die an den europäi- gungsfreiheit“, Suhrkamp 2016). Cas- schen Außengrenzen, ob auf Hoher see zufolge soll jeder Mensch frei ent- See oder in Transitzonen, abgefangen scheiden dürfen, in welchem Land er und kontrolliert werden.

138 IP • März / April 2017 Warum sie kommen

Um Antworten auf diese Frage und islamische Welt für die Hörfunk- ringen internationale Gerichte und programme der ARD, den ORF, das menschenrechtliche Kontrollgremi- SRF sowie Print- und Onlinemedi- en. Dabei wird derzeit immer häufi- en. Heute arbeitet die Politikwissen- ger das Prinzip der extraterritorialen schaftlerin als Journalistin und Nah- Geltung der Menschenrechte überall ost-Expertin in Berlin, wo sie zusam- dort angewendet, wo politische Ho- men mit ihrem syrischen Ehemann heitsgewalt ausgeübt wird – auch auf lebt. Sie weiß also, wovon sie spricht, Hoher See. In Leiserings Darstel- wenn sie von verzerrten Sichtweisen lung zeigt sich, wie diese neue Les- und Missverständnissen schreibt. art durch Rechtswissenschaftler und Unaufgeregt nennt sie die Dinge beim Nichtregierungsorganisationen wei- Namen: Durch die vielen Flüchtlin- Kristin Helberg: tergetragen wird, wodurch noch be- ge verändert sich Deutschland. Zwar Verzerrte Sicht- weisen – Syrer bei stehende räumliche Geltungsgrenzen ist die Hilfsbereitschaft groß, doch uns. Von Ängsten, der Menschenrechte allmählich auf- gleichzeitig wachsen die Sorgen in ei- Missverständnis- gehoben werden. nem Land, in dem mittlerweile ein sen und einem Werden die Rechte der einen ge- Fünftel der Menschen ausländische veränderten Land. Freiburg/Breisgau: stärkt, sehen andere ihre Rechte ge- Wurzeln haben. Ein Einwanderungs- Herder Verlag 2016, schwächt. Die in der Flüchtlingskri- land, das lange keines sein wollte, ist 269 S., 24,99 € se daraus entstandenen Debatten be- den Kinderschuhen entwachsen und zeichnet Zygmunt Bauman als „mo- steckt nun mitten in der Pubertät – ralische Panik“, von der populistische mit entsprechenden Sinnfragen und Politiker profitierten. Der von ihm Identitätskrisen. empfundenen Hysterie und zuneh- Hier setzt auch Lamya Kaddor menden Xenophobie setzt der zuletzt an. Die Duisburger Islamwissen- in Leeds lehrende Soziologe demonst- schaftlerin und Religionspädago- rativ Gelassenheit und Empathie ent- gin, als Tochter syrischer Einwan- gegen („Die Angst vor den anderen. derer in Ahlen/Westfalen geboren, Ein Essay über Migration und Panik- engagiert sich stark in den Debatten mache“, Suhrkamp Verlag 2016). Der zum Islam in Deutschland, zu Salafis- Leitgedanke seines Essays, Kant zitie- mus und IS-Terror. Ihr Buch zur Fra- rend: In einer Welt, die kugelförmig ge, warum deutsche Jugendliche in und damit endlich sei und in der Geld, den Dschihad ziehen, wurde von der Lamya Kaddor: Bilder und Waren frei zirkulierten, Friedrich-Ebert-Stiftung 2016 als „po- Die Zerreißprobe. Wie die Angst könnten sich die Menschen „nicht ins litisches Buch des Jahres“ ausgezeich- vor dem Fremden Unendliche zerstreuen“. Wir müssten net. Nun dreht sie die viel diskutierte unsere Demokra- also lernen, mit den anderen zusam- Frage, wie sich Flüchtlinge und Ein- tie bedroht. menzuleben. wanderer integrieren können, einmal Berlin: Rowohlt Berlin Verlag 2016, um: Wie muss sich die Mehrheitsge- 238 S., 16,99 € Einwanderungsland wider Willen sellschaft ändern? Entscheidend ist Dass das leichter gesagt als umzu- für Kaddor, dass liberale Grundsät- setzen ist, wird bei Kristin Helberg ze von allen geteilt werden. So könne deutlich. Sie kennt die Flüchtlings- ein „neues deutsches Wir“ entstehen. problematik aus der Außen- wie In- Außerdem solle weniger über Religi- nenperspektive: Bis 2008 berichtete on diskutiert werden und mehr über sie von Syrien aus über die arabische Identität und Integration.

IP • März / April 2017 139 Buchkritik

Ganz pragmatisch geht hier Micha- gliedsländer. Zum anderen stellt er el Richter vor. Der Grimme-Preis-ge- zutreffend fest, dass die EU von der krönte Autor und Regisseur zahlrei- tatsächlichen Institutionalisierung ei- cher Dokumentationen zur deutschen nes europäischen Flüchtlingsschutzes und europäischen Flüchtlingspolitik noch weit entfernt ist. stellt die Fragen, deren Beantwor- Wie sich all das auf die Flüchtlin- tung über Erfolg oder Misserfolg von ge selbst auswirkt, kann man bei der Zuwanderung entscheidet: Wie viele Lektüre eines von Marc Engelhardt der über eine Million Menschen, die herausgegebenen Bandes erahnen 2015 als Flüchtlinge nach Deutsch- („Die Flüchtlingsrevolution“, Pan- land gekommen sind, werden blei- theon 2016). Zusammen mit seinen ben? Ist die deutsche Gesellschaft be- Kollegen vom Korrespondentennetz- reit, für sie nachhaltige Strukturen werk „Weltreporter“ widmet sich En- aufzubauen, um ihnen Chancen und gelhardt den Einzelschicksalen, die Perspektiven zu eröffnen? Aus den hinter dem Schlagwort „Flüchtlings- Michael Richter: negativen wie positiven Erfahrun- krise“ stehen. Neue Heimat gen mit Integra­tion leitet Richter drei 60 Millionen Flüchtlinge waren Deutschland. Zuwanderung wesentliche Kriterien ab, die aus der es, die das UN-Flüchtlingshilfswerk als Erfolgs- Zuwanderung eine Erfolgsgeschichte 2015 registriert hatte. Inzwischen ­­geschichte. machen können: Wie ist die Wohnsi- sollen es sogar 65 Millionen sein – Hamburg: Edition tuation der Flüchtlinge und Zuwan- Zahlen, die Engelhardt und seine Körber-Stiftung 2016, 230 Seiten, derer? In welchem Maße nehmen sie Reporterkollegen zu Begriffen wie 16,00 € am Bildungssystem teil? Wie steht es „Flüchtlingsrevolution“ oder „neue mit ihrem Zugang zum Arbeitsmarkt? Völkerwanderung“ greifen lassen. In ihren Porträts aus Syrien, dem Irak, Chance für Europa Kenia, Somalia, aus El Salvador, den Ludger Pries ergänzt diese Fragen um Philippinen oder China spiegeln sich die europäische Dimension („Migra- menschliches Leid, Angst und Verun- tion und Ankommen“, Campus 2016). sicherung, aber auch Hoffnung, Hilfs- Der Bochumer Soziologie-Professor, bereitschaft, Ideen und Pläne für eine von 2011 bis 2015 stellvertretender Zukunft ohne Krieg und Gewalt, Un- Vorsitzender des Sachverständigen- gleichheit und Verfolgung. Auch hier rats deutscher Stiftungen für Inte- allerorten dasselbe Bild: Das Früh- gration und Migration, sieht in der jahr kommt. Das Wetter wird besser. Flüchtlingskrise nicht nur eine Zer- Die Flucht wird gewagt. Die Saison reißprobe für Europa, sondern auch der Menschenschlepper beginnt. die Chance, ein europäisches Projekt zu schärfen: die (Weiter-)Entwick- lung eines gemeinsamen Flüchtlings- Dr. Thomas Speck- regimes, dessen Anfänge in die neun- mann ist Leiter des ziger Jahre zurückreichen. Referats Reden und Zum einen erkennt Pries auf Texte, Stab Strategie und Kommunikation, EU-Ebene substanzielle Verbesserun- Bundesministerium der gen des Flüchtlingsschutzes und eine Finanzen. Der Beitrag Harmonisierung „nach oben“ im Ver- gibt seine persönliche Meinung wieder. gleich zu den Bestimmungen der Mit-

140 IP • März / April 2017 INTERNATIONALE POLITIK ist die Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

Die DGAP versteht sich als nationales Netzwerk für deutsche Außenpoli- tik an den Schnittstellen zwischen Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Wissen- schaft und Medien. Sie begleitet als unabhängiger, überparteilicher, gemein- nütziger und privater Verein mit mehr als 2600 Mitgliedern aktiv die politische Meinungsbildung zu allen relevanten außenpolitischen Themen. Ihre international besetzten Vortragsveranstaltungen, Konferenzen und Studien- gruppen sind ein wichtiges Berliner Debattenforum. Im Forschungsinstitut der DGAP arbeitet ein Team von Wissenschaftlern an praxisbezogenen Analysen; mit ihrer außenpolitischen Spezialbibliothek, ihren Internetseiten www.dgap.org, www.internationalepolitik.de und www.berlinpolicyjournal. com bietet die DGAP umfassende und aktuelle Informationen zu allen Fragen der ­Außenpolitik. Die Zeitschrift INTERNATIONALE POLITIK, 1945 von Wilhelm Cornides unter dem Namen „Europa-Archiv“ gegründet, erscheint alle zwei Monate. Die IP verfolgt das Ziel, außenpolitische Debatten auf hohem internationalen ­Niveau zu führen, aktuelle Entwicklungen durch sorgfältige Analysen einzu- ordnen und so zur Kursbestimmung der deutschen Außenpolitik beizutragen. Die in der Zeitschrift geäußerten Meinungen sind die der Autoren.

Vorstand der DGAP Dr. Arend Oetker, Präsident; Dr. Harald Kindermann, Generalsekretär; Dr. Tessen von Heydebreck­ , Schatzmeister; Jutta Freifrau von Falkenhausen, Syndika; Dr. Michael J. Inacker, Hagen Graf ­Lambsdorff, Dr. Daniela Schwarzer, Otto Wolff-Direktorin des Forschungsinstituts, Dr. Sylke Tempel, Chefredakteurin INTERNATIONALE POLITIK; Dr. Elke Dittrich, Leiterin­ der Bibliothek­ und Doku- mentationsstelle und Verwaltung; Robert Hirsch, Sprecher der Jungen DGAP

Präsidium Niels Annen, Dr. Stefanie Babst, Prof. Dr. h.c. Roland Berger, , Sevim Dagdelen, Dr. Thomas Enders, Jürgen Fitschen, Dr. Stephan Goetz, Eric Gujer, Jürgen Hardt, Prof. Dr. h.c. Wolfgang Ischinger, Dr. Christian Jacobs, Bertram Kawlath, Eckart von Klaeden, Prof. Dr. Joachim Krause, Prof. Dr. Kurt Joachim Lauk, Prof. Dr. Klaus Mangold, Hildegard Müller, Christopher Freiherr von Oppenheim, Prof. Dr. Thomas Risse, Herbert J. Scheidt, Dr. , Stephan Steinlein, Karsten D. Voigt, Georg Graf von Waldersee, Dr. Heinrich Weiss, Prof. Dr. Michael Zürn

142 IP • März / April 2017 Impressum

Herausgeber Redaktionsanschrift Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik: Rauchstraße 17 / 18 | 10787 Berlin Dr. Harald Kindermann Tel.: +49 (0)30 25 42 31-46 Prof. Dr. Joachim Krause Fax: +49 (0)30 25 42 31-67 Dr. Arend Oetker [email protected] Dr. Daniela Schwarzer Marketing und Anzeigen Chefredakteurin DGAP Consulting GmbH Dr. Sylke Tempel (V.i.S.d.P.) Rauchstraße 17/18 | 10787 Berlin Stefan Dauwe Redaktion [email protected] Dr. Henning Hoff, Uta Kuhlmann-Awad, Tel.: +49 (0)30 26 30 20 65 Dr. Joachim Staron Druckerei Redaktionelle Mitarbeit: Media-Print Informationstechnologie GmbH Marie Reichenbach, Edgar Sürth Eggertstraße 30 | 33100 Paderborn Projektmanagerin: Charlotte Merkl Pressevertrieb Layout DPV Deutscher Pressevertrieb GmbH Thorsten Kirchhoff Nordendstraße 2 | 64546 Mörfelden-Walldorf Erscheinungsweise Beirat sechs Mal jährlich (davon drei Mal mit Prof. Timothy Garton Ash, Oxford University IP-Länderporträt als Beilage) Dr. Guido Goldman, Harvard University Dr. Richard Herzinger, Welt-Gruppe Bezugspreise Dr. Michael J. Inacker, WMP-EuroCom AG Einzelpreis Zeitschrift IP 14,90 € Dr. Josef Joffe, DIE ZEIT, Stanford University Einzelpreis IP-Länderporträt 9,90 € Prof. Dr. Dr. h.c. Karl Kaiser, Harvard University Jahresabonnement Inland 118,00 € Stefan Kornelius, Süddeutsche Zeitung Jahresabonnement Ausland 128,00 € Prof. Dr. Paul Nolte, Freie Universität Berlin Luftpost 155,00 € Prof. Dr. Günther Nonnenmacher, Studentenabonnement 73,00 € Frankfurter Allgemeine Zeitung Studentenabonnement Ausland 83,00 € Prof. Dr. Volker Perthes, (Nachweis erforderlich) Stiftung Wissenschaft und Politik Probeabonnement (2 Ausg.) 19,50 €

Prof. Dr. Helmut Reisen, Berlin Alle Abonnentenpreise inkl. Versandkosten und MwSt. Weitere Dr. Gary Smith, American Academy Preise auf Anfrage. Kündigungen bis vier Wochen vor Ablauf des Markus Spillmann, Neue Zürcher Zeitung Bezugszeitraums. Für Mitglieder der Deutschen­ Gesellschaft für Auswärtige Politik gelten besondere Bezugspreise. Prof. Angela Stent, Georgetown University Daniel Vernet, Le Monde www.internationalepolitik.de Dr. Bernhard von Mutius, Potsdam ISSN 1430-175X

Service

Liebe Leserinnen, liebe Leser, Sind Sie Mitglied der DGAP e.V.? in allen Fragen und Angelegenheiten rund um Die Mitgliederbetreuung der DGAP, die für die Ihr Abonnement der Zeitschrift IP erreichen Verwaltung Ihres Mitgliederabos zuständig ist, Sie uns unter: erreichen Sie unter:

IP Abonnentenservice DGAP e.V. interabo GmbH Mitgliederbetreuung / Evelyn Rehm Postfach 103245 Rauchstraße 17/18 20022 Hamburg 10787 Berlin Tel.: +49 (0)30 61 10 55 49 05 Tel.: +49 (0)30 25 42 31 40 Fax: +49 (0)30 61 10 55 49 06 Fax: +49 (0)30 25 42 31 16 [email protected] [email protected]

IP • März / April 2017 143 Schlusspunkt

What the Hell is START? Das erste Telefonat zwischen Trump und Putin war, na ja, bemerkenswert …

Keine Tonaufnahme des Telefonats zwischen Donald „the bigliest“ Trump und Wladimir „the even more bigliest“ Putin? Kein Problem! Wozu gibt es die Recherchen der Loser-Presse wie Reuters, The Hill, New York Times und Wa­ shington Post, die gerade (dank Trump) die größten Auflagesteigerungen ihrer Geschichte verzeichnen? Und wozu gibt es den Twitter-Account „@Rogue­ POTUSStaff“ (vermutlich korrekte Selbstbeschreibung: „the unofficial re- sistance team inside the White House“)? So lässt sich dieses erste Gespräch zwischen „dem Champion des art of the deal mit dem Champion des art of the steal“ (The Economist) also doch dokumentieren. Trump: … Wladimir, endlich, wann sehen wir uns? Putin: Mr. President, Donald, bald. Vielleicht in Slowenien? Trump: Melania stammt aus Slowenien. Melania ist heiß. Nicht so heiß wie Ivanka. Aber sie ist heiß. Putin: Ja, Donald. (Unterdrücktes Kichern in der Leitung). Ich würde gerne mit dir über Kontrollen sprechen … Trump: Kontrollen? Meine Anhänger sind immer außer Kontrolle. Die lieben mich. Hast du gesehen, wie viele Leute bei meiner Vereidigung waren? Millio- nen. Milliarden. Keine Kompromisse mit den linken Losern. Putin: Kompromiss ist für europäische Weichlinge. Wir haben Kompromat. Noch mal zur Kontrolle. Wir sind ein bisschen beunruhigt über deine Aussa- gen zu Atomwaffen. Trump: Yeah. Wenn wir die Bombe haben, warum nutzen wir sie nicht? Und warum sollen andere sie nicht haben? Putin: Äh, darüber wollte ich mit dir reden, über Rüstungskontrolle, also we- niger Atomwaffen Vielleicht sprechen wir noch Mal über NEW START? Trump: ????? (Flüsternd:) Damn it. Was hat er da gesagt? Start? Spricht er von Wettrennen? STEPHEN!!!!!! Bannon: (Flüsternd zum Präsidenten:) Das Abkommen zur nuklearen Rüs- tungskontrolle. 2011 von (#$@&%*!) Obama ausgehandelt. Obama! Verstehst du, Donald? (Diabolisch kichernd zu sich selbst:) Keine Rüstungskon­trolle, sonst keine Apokalypse. Trump: Schlechter Deal. Ganz schlechter Deal. Schlechtester Deal der Ge- schichte. Totale Loser, die den ausgehandelt haben. Traurig. Ich werde einen besseren Deal aushandeln. Einen großartigen Deal. Millionen waren bei mei- ner Vereidigung. Milliarden. Ich hätte auch die Mehrzahl der Stimmen ge- wonnen, wenn nicht Millionen von Illegalen für die betrügerische Hillary ge- stimmt hätten. Wladimir? Putin: Tuuut, tuuut, tuuut …

144 IP • März / April 2017