Editorial

In Erinnerung

Der 5. Oktober 2017 war lange ein ganz normaler Tag: E-Mails, Telefonate, Heftplanung, Arbeit an Beiträgen, kurze Besprechungen. Der Drucktermin für die letzte Ausgabe des Jahres lag schon in Sichtweite. Und mittendrin eine Chefredakteurin, die Schwung und Humor in die Abläufe brachte, eine Idee hier loswurde, eine Anregung dort. Gegen Mittag kam ein Text, der ihr so ge- fiel, dass sie sich kurz in den Gang zwischen die offenen Türen stellte und zwei, drei Sätze daraus vorlas („Mehr Marktplatz, weniger Papier“ von Sarah Brockmeier und Heiko Nitzschke). Dann ging es los zu einem Termin, ihre Einschätzung war gefragt. Das The- ma war die Zukunft des transatlantischen Verhältnisses, das ihr besonders am Herzen lag. Sie freute sich auch schon, kommendes Jahr als erste Stipendiatin einige Zeit im Thomas-Mann-Haus in Los Angeles zu verbringen. Später am Nachmittag erreichten uns dann erste Nachrichten über einen tödlichen Un- fall. Die Redaktion blieb zusammen, versuchte, mehr Informationen zu erhal- ten in der Hoffnung, es würde sich alles als ein Irrtum herausstellen. In der Nacht kam dann die bis heute kaum fassbare Nachricht: Sylke Tempel ist tot. Als sie Ende 2008 die Internationale Politik übernahm, fand sich die Zeit- schrift noch in einer Neufindungsphase. Unter Sylke Tempel wurde aus derIP eine Zeitschrift mit Verve und Weitblick, eine Pflichtlektüre für außenpolitisch Interessierte. 2011 kam das Länderporträt – jetzt „IP Wirtschaft“ – hinzu, das drei Mal im Jahr erscheint. Und 2015 erhielt das Blatt mit dem Policy Journal ein digitales, englischsprachiges Schwesterblatt, das Deutschlands ge- wachsene außenpolitische Rolle für ein internationales Publikum verständli- cher macht und kritisch begleitet. Zugleich wirkte Sylke Tempel weit über die Zeitschriften hinaus – als klug argumentierende, schlagfertige und charmante Vordenkerin und Vermittlerin von Außenpolitik. Auch ihre zahlreichen ehrenamtlichen Engagements – etwa für „Women in International Security“ (WIIS) Deutschland, deren Vorsitzen- de sie war – machten aus ihr ein Vorbild, gerade für junge Frauen. Für uns verstand es sich von selbst, ihr die November/Dezember-Ausgabe zu widmen – mit aktuellen Beiträgen von ihr und von Weggefährtinnen und Weggefährten, die ihre Leidenschaft für die großen Themen unserer Zeit tei- len: die Zukunft des Westens, die Konflikte an Europas Peripherie im Nahen Osten und Nordafrika, den Umgang mit autokratischen Regimen und antide- mokratischen Strömungen. „How would Lubitsch do it?“, lautete der Merksatz, der jahrzehntelang im Hollywood-Büro von Regisseur Billy Wilder hing. Die Redaktion der IP wird sich noch lange fragen: „Wie hätte Sylke es gemacht?“ Die Redaktion

IP • November / Dezember 2017 1 Inhalt

Bild nur in 4 Thomas Schmid Printausgabe Eine fröhliche Kämpferin Werben für das westliche Modell: verfügbar Zum Tod von Sylke Tempel 7 Constanze Stelzenmüller Ein Tod in der „Sisterhood“ Vom Glück, dazugehört zu haben: Ein Single Malt auf eine wunderbare Freundin 12 Bedächtig Der verantwortliche Umgang mit Differenzen zwischen SCHWERPUNKT Deutschland und den USA ist heute wichtiger denn je Vordenken und vermitteln

12 Sylke Tempel et al. Trotz alledem: Amerika Ein transatlantisches Manifest in Zeiten von Donald Trump Bild nur in 16 IP-Forsa-Frage: Verlässlicher Partner USA? 20 Jörg Lau Printausgabe Doppelte Verletzlichkeit Der neue „Kampf der Systeme“ findet verfügbar ­mitten in der globalisierten Welt statt 23 Fania Oz-Salzberger Freundin Israels und Palästinas Stefano Rellandini ; Seite 3: dpa © / Stefano , unten Im Nahost-Konflikt mangelt es an ehrlichen Maklern und kritischen Unterstützern 96 Bedürftig Die Migration über die zentrale 26 Sylke Tempel Mittelmeerroute hat Italiens Viel hilft wenig Regierung unter massiven Zwei Politikstile konkurrieren: Probleme Druck gesetzt ­zerschlagen oder aufdröseln

30 Sarah Brockmeier und Heiko Nitzschke Mehr Marktplatz, weniger Papier Think Tanks sollten stärker den Dialog mit der breiteren Öffentlichkeit suchen World Economic Forum/Faruk Pinjo Economic Forum/Faruk © World Titel: Fotos Schrader Seite 2 oben: © REUTERS/Matthias Inhalt: Fotos

2 IP • November / Dezember 2017 Bild nur in Printausgabe verfügbar

112 Städte als Retter Die Nationalstaaten werden unsere Probleme nicht lösen. Sie sind in Grenzen gefangen – Klimawandel, Terror oder Pandemien sind es nicht. Es ist Zeit, dass sich unsere Städte global vernetzen

Verdeckte Offensive 38 Thorsten Benner Autokraten auf dem Vormarsch 96 Ulrich Ladurner Wie Demokratien auf illiberale Einfluss- Torwächter Europas nahme reagieren sollten Mit Libyens Hilfe arbeitet Italien an einer Lösung der Flüchtlingskrise 48 Richard Herzinger Die verwundbare Demokratie 101 Piotr Buras Ein verdeckter Krieg ist im Gange, doch Polen im Teufelskreis die Gefahr wird unterschätzt Die Europa-Skepsis der PiS-Regierung kommt das Land teuer zu stehen 56 Andy Greenberg Übungsfeld im Cyber-Krieg 106 Theresia Töglhofer In der Ukraine testen und verfeinern Sehnsucht nach dem Rechtsstaat russische Hacker ihre Fähigkeiten Die Menschen im Westbalkan wollen von der EU nicht nur Wohlstand Gegen den Strich Essay 66 Bernhard Bartsch Zukunftskontinent Asien 112 Benjamin Barber Acht Thesen auf dem Prüfstand Wenn Bürgermeister die Welt regieren China Unsere Städte müssen sich global ver- netzen, um die Demokratie zu retten 74 Nele Noesselt Ganz auf Linie 126 Brief aus … Belgrad | Marko Martin Xi Jinping sieht die Volksrepublik global Ost-westliche Ambivalenz auf der Überholspur 128 Internationale Presse | Bettina Vestring Konfliktlösung Frankreich: Die Methode Macron 81 Christoph Heusgen und Antonia Reimelt Wann Sanktionen wirken 132 Buch des Jahres Um dem Völkerrecht Respekt zu ver- Pflichtlektüren 2017 schaffen, braucht es langen Atem 136 Buchkritik | Jana Puglierin Europa Europas Achterbahnfahrt 88 Georg Blume 144 Schlusspunkt Der Frankreich-Blues Uns fehlen die Worte Deutschland riskiert eine Freundschaft, aus der jetzt eine Ehe werden müsste 142 Impressum

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Eine fröhliche Kämpferin Werben für das westliche Modell: Zum Tod von Sylke Tempel

Dass ausgerechnet ein Sturm sie das Leben kostete – darin liegt eine beson- ders tragische Pointe. Denn Sylke Tempel war eine Persönlichkeit, von der man glauben musste, dass sie allen Stürmen standhalten würde, dass nichts sie umwerfen kann. Am 5. Oktober wurde sie – als der Sturm Xavier über Norddeutschland fegte – in Berlin von einem umfallenden Baum erschlagen, nur 54 Jahre alt. So überzeugend wie wenige andere hat sie für das Modell der westlichen Demokratien geworben. Gerade auch angesichts der Erfolge von Populisten und Autokraten blieb sie bei der festen Überzeugung, dass Rechts- staat und offene Gesellschaft am Ende stärker und attraktiver sind. Man müs- se freilich etwas dafür tun. Geboren 1963 in , studierte sie Politische Wissenschaften und Ju- daistik in München. Früh verband sich das mit einem Interesse an und Sym- pathie für , sie sprach gut Hebräisch. Ein von dem Historiker initiiertes Forschungsprojekt, an dem sie teilnahm, prägte fortan ihre wissenschaftlichen und politischen Interessen. Es ging um das „Dreieck“ Israel, Deutschland, USA. Zwei Jahre forschte Sylke Tempel in den USA, sie

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promovierte 1993 mit einer Arbeit über die Beziehungen der amerikanisch-­ jüdischen Organisationen zur Bundesrepublik Deutschland. Ab und an schrieb sie in New York für den Aufbau, eine Zeitschrift jüdischer Emigranten aus Deutschland, die im Laufe der Jahrzehnte immer mehr Leser verloren hat. Sylke Tempel erzählte gerne von der tieftraurigen Skurrilität, die das Aufbau-­ Milieu auszeichnete. Im Jahr ihrer Promotion ging Sylke Tempel als Nahost-Korrespondentin zur Woche, schrieb später als freie Autorin für zahlreiche Zeitungen und Zeit- schriften. 2008 wurde sie Chefredakteurin der Zeitschrift Internationale Poli- tik (IP), die von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik herausge- geben wird. Ein größeres Publikum lernte sie durch ihre scharfzüngigen Auf- tritte in vielen TV-Runden kennen, etwa bei „Anne Will“ oder im „Presse­ club“ des WDR.

Demokratie macht Spaß, der westliche Geist ist sexy Wer, immer schon, argwöhnisch auf die USA und eher mit Verständnis auf Russland und Putin blickte oder wer Israel im Verdacht hat, es verhindere einseitig den Frieden im Nahen Osten, der hat gewöhnlich in den politischen Sendungen des deutschen Fernsehens schnell einen guten Stand. Sylke Tempel war eine der wenigen, die sich mit einem dezidierten Gegenprogramm durch- zusetzen verstand und sich einen Namen machte. Das lag auch daran, dass sie nie defensiv argumentierte. Demokratie – diese schwache starke Ordnung – ist nicht selbstverständlich, sondern immer von Gefährdungen umlagert. Vie- le, die sie verteidigen, kommen daher grämlich, verzagt und fast apokalyptisch daher. Nicht so Sylke Tempel. Sie war von robuster, ansteckender Fröhlichkeit. Sie verkörperte: Demokratie macht Spaß, der westliche Geist ist sexy. Erdogan, Assad, Putin und dann noch, gewissermaßen im eigenen Spielfeld, Trump: Vieles ist aus den Fugen geraten. Sylke Tempel lag es fern, diese Verdüs- terung des weltpolitischen Horizonts zu bestreiten. Sie warb nur dafür, sich da- von nicht ins Bockshorn jagen zu lassen. Und den Despoten mit Angriffslust und guter Laune zu begegnen. Anfang dieses Jahres schrieb sie in der IP einen Auf- satz mit dem Titel „Der Glanz der Ignoranz“, der sich mit der „Methode Trump“ und damit befasste, wie man ihre weitere Ausbreitung verhindern könne. Man solle sich doch, schrieb sie, endlich von der Vorstellung lösen, es könne eine vollkommene Gesellschaftsordnung geben. Die unvergleichliche Stärke der Demokratie liege darin, dass sie von der Einsicht ausgeht, dass der Mensch weder gänzlich gut noch gänzlich schlecht, sondern ein fehlerhaftes Wesen sei: „Er irrt, und zwar beständig. Für dieses fehlbare Wesen ist ein System angebracht, das Kontrolle vorsieht und Korrektur erlaubt.“ Nicht perfekt zu sein, sei die Stärke der Demokratie – aber auch ihre Schwäche, die dann zu Tage tritt, wenn die un- endlichen Mühen der Konsensbildung gescheut werden. Sylke Tempel verstand es, das alte ABC der Demokratie so zu buchstabieren, dass es ganz frisch wirkte. Und sie verteidigte lauthals, was für die Populisten ein Synonym für al- les Schlechte und Böse ist: das „System“. Es werde, schrieb sie mitfühlend, „weitgehend getragen von Bürokraten, die gerade in den oberen Rängen we- nig abgehoben sind, sondern eher niedergedrückt werden von den Tonnen an

IP • November / Dezember 2017 5 Aktenmaterial, das sie zu bewältigen haben, und die häufig über ein hohes Maß an Professionalität verfügen“. Beharrlich warb Sylke Tempel für das, was Dolf Sternberger, der Erfinder des Begriffs „Verfassungspatriotismus“, einmal „Staatsfreundschaft“ genannt hatte. Und dass in den westlichen Gesellschaften die Welt des Luxus und der Moden großgeschrieben wird, hielt sie nicht für un- gehörig und dekadent, sondern für einen der großen Vorteile unserer Lebensart.

Das vielleicht Beste, was den Deutschen nach 1945 widerfahren ist Als am Morgen des 9. November 2016 klar wurde, dass Donald Trump die ame- rikanische Präsidentenwahl gewonnen hatte, fiel auch Sylke Tempel aus dem transatlantischen Nest, in dem sie sich gut aufgehoben hatte. Doch im Unter- schied zu manchen Schicksalsgenossen, die nun ihr Weltbild vor dem Einsturz sahen und gleich das Ende der Nachkriegsordnung ankündigten, kam sie rasch wieder auf die Beine. Sie setzte – nicht ohne skeptische Zwischentöne – auf die checks and balances, auf die Selbstheilungskräfte der USA. „Szenen einer Ehe“: So titelte sie einen Artikel über das neue deutsch-ame- rikanische Verhältnis. Irgendwie sei man eine Familie gewesen. Es sei nicht im- mer einfach gewesen – hier die europäische Schwäche, dort die amerikanische Hau-drauf-Methode; und jetzt ein Präsident, dem wir Europäer offensichtlich gleichgültig sind. Was also tun? Heulen, betteln, dem Partner eine Szene ma- chen? Sylke Tempel: „Nicht mit mir. Mit mir nicht. Wir werden schon sehen. Zu schwach? Kein Wumms? Mitgliedschaft im Fitnessstudio schon gebucht. Wäre doch gelacht, wenn wir nicht auch etwas geschafft bekämen in der Welt. Und wenn der Partner wieder normal wird, umso besser.“ Der letzte Satz ist wichtig. Sylke Tempel gehörte nicht zu jenen, die dem transatlantischen Verhältnis nur aus taktischen Gründen und mit zusammen- gebissenen Zähnen zustimmten. Sie hielt es für eine gute Sache, für das viel- leicht Beste, was den Deutschen nach 1945 widerfahren ist. Und so stimmte sie auch nicht in den Chor jener ein, die endlich die Stunde gekommen sehen, das schwierige transatlantische Band zu kappen und in alteuropäischen Grö- ßenwahn zu verfallen. Die Deutschen, heißt es, haben kein außenpolitisches Talent. Und auch kein nennenswertes außenpolitisches Interesse. Das komme daher, dass sie zu nichts anderem fähig seien, als in der Welt entweder sehr martialisch oder betont kleinlaut aufzutreten. Die Kunst der Diplomatie interessiere sie nicht besonders, und der Außenminister sei nur deswegen regelmäßig so populär, weil er medienwirksam ständig in aller Welt herumkomme. Und nicht, weil er die wunderbare Aufgabe hat, die Interessen seines Landes wirkungsvoll zu vertreten und sie mit den Interessen anderer Staaten kunstvoll zu verknüpfen. Sylke Tempel hatte einen Sinn für diese Kunst. Sie war entschieden nicht der Meinung, die außenpolitischen Reflexionen müssten die Domäne pensio- nierter Diplomaten und streberhafter Thinktanker sein. Sie versuchte, die Au- ßenpolitik aus der Langweilerecke herauszuholen und ein breiteres Publikum davon zu überzeugen, dass das Kräftespiel der Nationen und der Staatenbünd- nisse sicher mindestens so viel Aufmerksamkeit verdient wie die Renten und die Frage nach der Zukunft der CSU.

6 IP • November / Dezember 2017 Sylke Tempel ging jegliche Trauerkloßigkeit ab. Sie hat Streit nicht gesucht, ist aber auch keinem Streit ausgewichen und hat ihn auf ihre mitunter burschi- kose Art ausgefochten. Es half ihr sehr, dass sie wahrlich nicht auf den Mund gefallen war. Sie ließ sich, um eine zweite eher altdeutsche Wendung zu benut- zen, die Butter nicht vom Brot nehmen. Es half ihr, dass sie sehr schnell und verständlich formulieren konnte. Zügig, manchmal zu zügig, entwarf sie steile Thesen. Wenn die Regeln des Anstands verletzt wurden oder Hetze betrieben wurde, konnte sie schneidend scharf werden und einen harten Trennungsstrich ziehen. Ohne dabei ihr einnehmendes Wesen zu verlieren. Herzlich und not- falls auch harzig. Manchen ihrer männlichen Kontrahenten irritierte das be- trächtlich. Sie war eine fröhliche, unverzagte Kämpferin. Ihr Fehlen schmerzt. Thomas Schmid ist Publizist und war Chefredakteur und Herausgeber der Welt-Gruppe.

Ein Tod in der „Sisterhood“ Vom Glück, dazugehört zu haben: Ein Single Malt auf eine wunderbare Freundin

Unsere Freunde, heißt es, sind unsere Wahlverwandtschaften. Mit ihrem grau- sam frühen Tod in Berlin am 5. Oktober hat Sylke Tempel uns allen gezeigt, wie groß, weit gestreut und liebevoll ihr Wahl-Clan ist. Ich zähle mich glück- lich, dazugehört zu haben. Sylke Tempel war die Chefredakteurin der Internationalen Politik, dem Ma- gazin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, und seiner englisch- sprachigen Schwester, dem Berlin Policy Journal. Ihr Charme, ihre Wärme und Klugheit (neben einer beträchtlichen Bildung, die sie aber nie hervorkehrte) machten sie zu einer gesuchten Beraterin, Moderatorin und Rednerin in Berlin und weit darüber hinaus. Die oberflächlichsten politischen Talkshows wurden interessant, wenn Sylke mit in der Runde war – in einem roten oder orange- farbenen Oberteil, in dem sie (wie sie genau wusste) nur noch heller strahlte. Sylke war auch eine meiner liebsten und engsten Freundinnen, eine Waf- fenschwester in all den Kämpfen, die uns wichtig waren: für Deutschlands Bin- dung an Israel, Europa und den Westen; für die Förderung von Frauen in der Außen- und Sicherheitspolitik; und gegen schlechtes Essen, schlechten Wein, schlechte Texte und ausschließlich mit Männern besetzte Diskussionspanel. Obgleich durch einen Ozean voneinander getrennt, waren wir dennoch fast jede Woche per Mail, SMS oder Tweet miteinander in Kontakt. Ich zweifel- te nicht im geringsten daran, dass wir gemeinsam runzlig (aber stets elegant!) werden würden und bis in unsere Achtziger lachend auf den Seitenbänken der Münchner Sicherheitskonferenz sitzen könnten (Hey: Was die Männer 50 Jah- re lang machen konnten, konnten wir auch.) Vorbei.

IP • November / Dezember 2017 7 Zu Sylkes vielen überragenden Eigenschaften gehörten ihr lebhafter Hu- mor und ihr unbestechlicher Geschmack als Autorin und Redakteurin. Ich sehe sie vor mir, wie sie ironisch eine Augenbraue hochzieht (begleitet von die- sem wunderbaren Grinsen, das einen ganzen Raum erleuchten konnte), wäh- rend sie diesen Absatz liest: „Sylke Tempel war am späten Nachmittag auf der Rückfahrt von einem Workshop des Auswärtigen Amtes zu den transatlanti- schen Beziehungen in der Villa Borsig am Tegeler See, als ein gewaltiger Or- kan mit Winden von mehr als 180 Stundenkilometern über Berlin wütete. Er riss zahllose Bäume aus dem Erdreich und schleuderte sie mit der Gewalt ei- nes Presslufthammers wieder zu Boden. Einer dieser Bäume wurde auf ihren Wagen geschmettert und tötete sie sofort. Eine der beiden anderen Insassinnen wurde schwer verletzt. Dr. Tempel hatte gerade die letzten Redigaturen an ei- nem von mehreren Autoren verfassten Manifest zu den transatlantischen Be- ziehungen in der Ära Trump angebracht.“ „Constanze, Liebe“, hätte sie gesagt, und besagte Augenbraue noch etwas höher gezogen: „Ein bisschen weniger ‚Es war eine dunkle und stürmische Nacht‘ würde es vielleicht auch tun? Und meinst Du nicht auch, dass diese transatlantischen Anspielungen etwas … nun ja: gewichtig daherkommen?“ Autsch. Ja, klar. Aber ich habe das nicht geschrieben, und ich möchte be- haupten, dass mir das auch nicht unterlaufen wäre. Das Leben war’s. Und die Geschichten, die es sich ausdenkt, sind manchmal wirklich beschissen. Die beiden anderen Insassinnen des Autos sind auch langjährige Freundinnen.

Begabung für das Glück Viele, viele Texte, die in Sylkes fast zehnjähriger Amtszeit als Chefredakteurin der Internationalen Politik durch ihre energischen und sorgfältigen Hände gin- gen, wurden auf magische Weise verwandelt und verbessert. Das Magazin, das vor ihrer Zeit unter Kennern den verdienten Spitznamen „Valium der Republik“ trug, wurde unter ihrer Ägide ein aktuelles, gut geschriebenes und anregendes Blatt. Sylke, die Geschichte, Politikwissenschaften und Judaistik studiert hatte und ein Jahrzehnt als Journalistin in Israel gelebt hatte, erfand dazu das Berlin Policy Journal, um deutsche Außenpolitikdebatten für unsere oft zu Recht irri- tierten Freunde und Verbündeten in klarem Englisch zugänglich zu machen. Nicht selten führte der Übersetzungsprozess auch zu einer Klärung der in den Texten enthaltenen Gedanken. Es gelang ihr, ihre Autoren dazu zu bringen, mit Begeisterung über Themen zu schreiben, die ihnen bis dahin fremd gewe- sen waren – in meinem Fall, über Filme und Fernsehserien zum Kalten Krieg. Wie alle wirklich guten Redakteure war Sylke selbst eine erstklassige Au- torin, mit einem bemerkenswert breiten Themenspektrum: von Strategie und Zukunftsszenarien bis hin zu Biografien. Im letzten Kapitel („Abschiede“) ih- res Buches über Freya von Moltke, die Ehefrau und spätere Witwe von Hel- muth James Graf von Moltke, einem der Verschwörer gegen Hitler, erklärt sie, was Freya nach dem furchtbaren Verlust ihres geliebten Mannes und so vie- len engen Freunden die Kraft gab, bis zum reifen Alter von fast 99 Jahren in Vermont zu leben und ihr restliches Leben der Versöhnung zwischen Deutsch- land und seinen früheren Feinden zu widmen: „Sie hatte eine Begabung für

8 IP • November / Dezember 2017 das Glück“ – eine Gabe, die in ihrer tiefen Menschlichkeit wurzelte und dem Bedürfnis, für etwas zu leben, das größer war als sie selbst. Diejenigen von uns, die das Glück hatten, Sylke zur Freundin zu haben, würden viel von ihr in diesem Porträt von Freya wiedererkennen. Sie hatte einen unbeirrbar festen moralischen und politischen Kompass, wurzelnd in einem diskreten und liberalen Katholizismus. Aber sie empfand selbst jenen gegenüber Empathie, mit denen sie leidenschaftlich stritt (oder die sie missbil- ligte). Sachverstand, Vernunft und Anstand in allen Dingen waren ihre Mar- kenzeichen; aber wir haben sie mindestens ebenso ins Herz geschlossen für den Elan, mit dem sie sich für die guten Dinge im Leben begeistern konnte. „Templine“ (wie ihre Freunde sie nannten) hatte eine lobenswerte Schwäche für bittere Schokolade und Single Malt. Ein großer Vorzug meines Umzugs nach Washington war aus ihrer Sicht, dass ich nun „Sherman’s cigaretellos“ für sie aus Amerika schmuggeln konnte. Auf jeder Münchner Sicherheitskonferenz schick- ten wir uns eine konspiratorische SMS, meistens am Samstagnachmittag: „Sind wir schon genervt genug?“ – und schossen aus dem Saal, und sogleich schräg ge- genüber zu Lodenfrey. Abends versammelte sie die „Security Sisterhood“ zu ei- nem informellen und oft ausgelassenen Abendessen bei ihrem Lieblingsitaliener. Sylke war eine großzügige Mentorin für viele jüngere Frauen, nicht zuletzt in ihrer Rolle als Vorstandsvorsitzende der deutschen Sektion von WIIS.de ab 2013 (ein Amt, das sie von mir übernahm). Wir hatten beide in jüngeren Jahren jede Menge Herablassung und Herabsetzungen erfahren, nur weil wir in der stark männerdominierten deutschen Außen- und Sicherheitspolitik unseren Weg gehen wollten. Wir wollten dafür sorgen, dass der nächsten Generation solche bedrückenden, die Luft zum Atmen nehmenden Erfahrungen erspart blieben. Am meisten haben wir an Sylke ihre intensive Fähigkeit zur Liebe bewun- dert. Zu ihren Eltern, von denen sie mit herzlicher Zuneigung sprach, und die wir auf der Feier ihres 50. Geburtstags kennenlernen durften. Zu ihren Nich- ten und Neffen und ihren Patenkindern, die sie mit erziehen half – mit gutem Rat, Skiurlauben und albernen Filmen (die „Minions“ standen besonders hoch im Kurs). Und vor allem anderen zu ihrer Partnerin Judith, die sie hinterlässt. Ich wünschte, ich hätte die Macht, ein besseres Ende für diese Geschichte zu schreiben: eine Superheldin vielleicht, die vom Himmel fällt und den Baum im Sturz bremst. Tröstlich bei aller Trauer aber ist die Einsicht, dass Sylke auch un- sere Geschichten mit geschrieben hat. Sie hinterlässt ein Netzwerk von Freun- den, die verbunden sind durch die Erinnerung an sie, und durch ihr Vorbild. Wir werden es so machen müssen wie Freya: dableiben und Gutes tun. Es gibt weiß Gott Arbeit genug, wie die Wahlen am 24. September gezeigt haben. Zwei Tage später habe ich sie angetweetet: „Wir müssen halt nächstes Mal selber kandidieren.“ Sylkes Antwort: „Liebe, darauf kannst Du wetten.“ Zehn Minuten später: „@ConStelz, wir gründen die Partei der Gutgelaunten.“ Das werden wir jetzt ohne Dich machen müssen, Sylke. Unterdessen hebe ich ein Glas Single Malt auf Dich, wo immer Du bist. Constanze Stelzenmüller ist Robert Bosch Senior Fellow an der Brookings Institution in Washing- ton, DC und ehemalige Vorstandsvorsitzende von Women In International Security Deutschland. Ihr Nachruf stand zuerst auf www.wiis.de.

IP • November / Dezember 2017 9 Auftritte Ende September in Mailand öffentlichen letzten ihrer einem bei Tempel Sylke Printausgabe verfügbar Bild nur in

© World Economic Forum/Faruk Pinjo Bild nur in Printausgabe verfügbar © World Economic Forum/Faruk Pinjo Forum/Faruk Economic World ©

VordenkenEnde einerund vermitteln Ordnung SubheadKlug, klar, Aufschlag leidenschaftlich: Ic tem voluptat Außenpolitische laborae eosProbleme net ariam, zu durchdringen, sed ex elenisquides Debatten maion weiter pos zu denkenaspe und conserum zu vermitteln, quod utnicht hario. nur Comniminctem unter Experten, quis sondern vent maauch imil in eat der mo Öffentlichkeit id quid earibus – all das war ihrque eine cor Herzensangelegenheit. mo blaut audipic te volorior Ein Titelthema si voluptati in reius, Erinnerung consed an quatque Sylke Tempel. estiur? Vordenken und vermitteln

Trotz alledem: Amerika Ein transatlantisches Manifest in Zeiten von Donald Trump

Sylke Tempel et al. | Deutschland braucht etwas, was es in dieser Form bis- lang nicht geben musste: eine Strategie für den Umgang mit dem amerikani- schen Verbündeten. Denn die transatlantischen Beziehungen sind für Eu- ropa ohne Alternative, und sie lassen sich mit einer aktiven Politik trotz und ohne Donald Trump – und zur Not auch gegen ihn – bewahren.

Eine der großen Herausforderungen der neuen Bundesregierung wird es sein, die transatlantischen Beziehungen durch die Präsidentschaft Donald Trumps zu steuern. Wie gut der Bundesregierung das gelingt, wird einer der Prüfsteine ihres Erfolgs sein. Wir, eine Gruppe von außenpolitischen Expertinnen und Experten aus der Zivilgesellschaft, möchten dazu jetzt, mit Blick auf die Koa- litionsverhandlungen, einige Denkanstöße liefern. Die Zukunft der liberalen Weltordnung mit ihrem multilateralen Politik- verständnis, ihren globalen Normen und Werten, offenen Gesellschaften und Märkten ist gefährdet. Freiheit und Wohlstand der Bundesrepublik hängen aber genau von dieser Ordnung ab. Sie wird aus verschiedenen Richtungen bedroht: Neue Mächte streben nach Einfluss und Gestaltungsraum; die Wirkmacht illi- beraler Regierungen und autoritärer Regime wächst; innerhalb der westlichen Demokratien gewinnen antimoderne Strömungen Zulauf und Einfluss; Russ- land stellt die europäische Friedensordnung infrage; neue Technologien bre- chen die alten wirtschaftlichen Strukturen auf und verändern auch die inter- nationalen Beziehungen. Schließlich sehen sich die Vereinigten Staaten, Miterfinder und bislang ein entschiedener Verfechter der liberalen Ordnung, gegenwärtig nicht mehr als deren Garant. Als erster US-Präsident seit dem Zweiten Weltkrieg stellt Trump Idee und Institutionen der liberalen internationalen Ordnung grund- sätzlich infrage. Stattdessen favorisiert er eine machtbasierte nationale Inte- ressenpolitik, in der kleine und mittlere Mächte ihre Rolle als nachgeordnete Akteure finden sollen. Jeder Bindung der USA an multilaterale Institutionen und Normen steht er skeptisch gegenüber. Deutschland hingegen – mit sei- nen Präferenzen für Vertragsbindungen und Stabilität – will die multilatera- le Ordnung fortentwickeln. Für die Bundesrepublik gehören internationale Zusammenarbeit und die Stärkung supranationaler Institutionen zu den Eck-

12 IP • November / Dezember 2017 Trotz alledem: Amerika

pfeilern ihrer Politik. Daraus ergibt sich ein bisher ungekannter Gegensatz zu unserem wichtigsten Verbündeten. Weil der Erfolg und die Sicherheit der Bundesrepublik und Europas auf die- sem System beruhen, weil Präsident Trump die USA auf einen anderen Kurs führt, fällt Deutschland und der Europäischen Union eine besondere Verant- wortung zu, dieses System zu erhalten und zu stärken. Man kann nicht ignorieren, dass Präsident Trump 60 Millionen Wählerin- nen und Wähler hinter sich versammeln konnte. Auch haben nationale Al- leingänge, protektionistische Anwandlungen und der Ruf „Ame- rica First“ Tradition. Dennoch ist Trump ein Präsident sui ge- Unter Außenpolitikern neris, der sich in keine der etablierten Traditionslinien ameri- sind Trumps Hal­tungen kanischer Politik einordnet. Seine Verachtung internationaler Allianzen und Institutionen trifft auf breites Unverständnis au- randständig ßerhalb und sogar innerhalb des Regierungsapparats. Unter den außenpolitischen Eliten der Vereinigten Staaten sind Trumps Haltungen rand- ständig. Ob sich die Unterminierung der internationalen Ordnung in den USA durchsetzen wird, ist ungewiss, ja sogar unwahrscheinlich. Manche politische Analysten und Akteure wollen aus dieser Ungewiss- heit weitreichende Konsequenzen ziehen. Sie befürworten eine strategische Um­orientierung der Bundesrepublik. Einige streben eine außen- und sicher- heitspolitische Abkoppelung Europas von den Vereinigten Staaten an. Andere setzen auf ein deutsch-französisches Kleineuropa. Manchmal verkleiden die europäischen Bekenntnisse nur den deutschen Nationalismus, mit dem man auf amerikanischen Nationalismus reagieren will. Dann sind Empfehlungen nicht weit, Deutschland solle auf Ad-hoc-Koalitionen setzen oder Äquidis- tanz zwischen Russland und Amerika halten. Freunde findet auch der Vor- schlag, Deutschland solle gleich einen Schritt weiter gehen und sich an Russ- land oder China anlehnen. All diese Vorstellungen sind kostspielig oder ge- fährlich oder beides.

Amerika bleibt unverzichtbar Wer sich von den Vereinigten Staaten abkoppeln möchte, bringt Unsicherheit über Deutschland und letztlich über ganz Europa. Weltweit kann kein anderer Staat die Vorteile aufwiegen, die Deutschland durch die Allianz mit den Ver- einigten Staaten entstehen. Diese Bindung ist aus Abhängigkeit entstanden, entspricht aber längst dem ureigenen Interesse Deutschlands. Nach wie vor übernimmt keine andere Macht so weitreichende Sicher- heitsgarantien und stellt so umfassende politische Ressourcen bereit wie die USA. Als liberaler Hegemon haben die USA den europäischen Integrations- prozess ermöglicht. Der Großteil des politischen Establishments in den Ver- einigten Staaten sieht das Land auch weiterhin als wohlwollenden Verbünde- ten für den europäischen Einigungsprozess – durchaus im eigenen Interesse der USA, die Verbündete benötigen, mit denen sie Werte und Interessen tei- len. Zu den Gegenbewegungen, die Trump in den USA selbst ausgelöst hat, gehört ein neu erwachtes Interesse am gemeinsamen demokratischen Erbe und seiner Verteidigung.

IP • November / Dezember 2017 13 Vordenken und vermitteln

Deutschland braucht die USA, um als starker europäischer Akteur han- deln zu können. Wer die Bindung zu Amerika kappen will, verzichtet auf die Rückversicherung, die andere europäische Länder benötigen, um ein starkes Deutschland in der Mitte des Kontinents zu akzeptieren. Je mehr Führung Deutschland in Europa übernehmen soll und muss, desto enger muss die Ab- stimmung mit den Vereinigten Staaten sein. Eine Abkoppelung von den USA würde eine der wichtigsten politisch-kul- turellen Errungenschaften der vergangenen 70 Jahre infrage stellen: Deutsch- lands Westbindung. Letztlich bedeutet die Westbindung Deutschlands unsere Selbstbindung an die Werte von Freiheit und Demokratie und zur Ohne die USA wäre Zusammenarbeit mit allen, die dafür eintreten. Freiheit ist die Be- Deutschlands West- dingung der Möglichkeit, dass alle Menschen selbstbestimmt und in Würde leben können. Mit dem Grundgesetz hat sich die Bundesre- bindung gefährdet publik in diese Tradition gestellt. Die Verankerung im Westen hat in der Nachkriegszeit die Widerstandskraft gegen die kommunisti- schen Regimes gestärkt und damit die Wiedervereinigung Deutschlands und die Einigung Europas möglich gemacht. Jede Abkehr von dieser transatlanti- schen Bindung beschwört die Gefahr eines deutschen Sonderwegs, stärkt lin- ke und rechte Nationalisten und gefährdet die europäische Friedensordnung. Der Westen ist auch heute ohne die USA weder ideell noch als politisches Subjekt existent. Dabei ist und bleibt der Ankerpunkt des liberalen Universa- lismus und der offenen Ordnung der Welt. Auch wenn die Präsidentschaft Do- nald Trumps erhebliche Risiken für die liberale Ordnung birgt, so werden die- se Risiken nicht kleiner, wenn Deutschland seine strategische Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von sich aus aufs Spiel setzt. Eine strategische Abkoppelung von den USA gefährdet die liberale internationale Ordnung am Ende mehr als die kritische Zusammenarbeit mit einem Amerika, dessen Füh- rungsspitze gegenwärtig an dieser Ordnung rüttelt. Autokratien wie China und Russland mögen wichtige Ad-hoc-Partner für einzelne Projekte sein; der stra- tegische Partner eines demokratischen und europäischen Deutschlands müs- sen die Vereinigten Staaten bleiben. Das Verhältnis zu den USA ist eine Wertepartnerschaft, die sich aus der gemeinsamen demokratischen Ordnung ergibt. Selbst wenn der aktuelle Prä- sident von wesentlichen Teilen dieser Ordnung zu Hause nichts mehr wis- sen will, so bleiben die USA eine Demokratie. Präsident Trump ist ebenso wenig mit Amerika gleichzusetzen wie die illiberale Gegenbewegung, für die er steht, ausschließlich ein amerikanisches Phänomen ist. Sie erhebt ihr Haupt auch in Europa. Deshalb handelt es sich nicht um einen Gegensatz zwischen Europa und den USA, sondern um einen Konflikt innerhalb des Westens, der auf beiden Seiten des Atlantiks ausgetragen wird. Darüber hi- naus ist die wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Verflechtung mit den USA weit enger als mit allen anderen Weltregionen. Das Wechsel- spiel mit den Vereinigten Staaten bleibt ein zentrales Element für die Inno- vationsfähigkeit Europas. Trotzdem nicht bloß „Weiter so“: Wie also umgehen mit den Vereinigten Staaten in Zeiten Donald Trumps? Auch wenn die Abwendung von den USA

14 IP • November / Dezember 2017 Trotz alledem: Amerika

für Deutschland keine verantwortbare Option ist, kann es angesichts der ge- genwärtigen Präsidentschaft kein „Weiter so“ geben. Genauso wenig hilft es zu schweigen, wegzusehen und wegzuschauen – so lange, bis alles vorbei ist und im Weißen Haus ein Nachfolger einzieht. Vier oder gar acht Jahre sind zu lang für eine Politik des Aussitzens, zumal es ein Zurück zur vermeintlich gu- ten alten Zeit nicht geben wird. Dafür ist die Dynamik der Veränderung in- nerhalb und außerhalb der Vereinigten Staaten zu groß.

Grundgedanken einer Amerika-Strategie Deutschland braucht also etwas, das es in dieser Form bisher nicht geben muss- te: eine Amerika-Strategie. Eine verantwortliche Amerika-Politik muss lang- fristig angelegt sein und eine Brücke bauen in eine Zeit jenseits der Präsi- dentschaft Trump, jenseits einer exzeptionellen Periode amerika- nischer Skepsis gegenüber jedweder multilateraler Selbstbindung. Beim Handel nur Zwar darf Deutschland nicht der Illusion anhängen, dass es nach das Managen von Trump eine Rückkehr zum Status quo ante geben wird. Auch inner- halb der USA dürften einige Trendlinien politischer Überzeugun- Konflikten anstreben gen die Periode Trump überdauern – zum Beispiel die Forderung nach einer ausgewogeneren Lastenteilung zwischen Europa und den USA in- nerhalb der NATO. Was nicht überdauern dürfte, ist der Dissens über grund- legende Fragen der Weltordnung. Sobald hier wieder weitgehend Einigkeit be- steht, können verbleibende Meinungsverschiedenheiten viel besser konstruk- tiv gelöst oder überbrückt werden. Diese langfristige Perspektive muss der Orientierungspunkt für Deutsch- lands kurzfristiges Handeln während der Periode Trump sein. Kurzfristig gilt es, stärker als bisher zu unterscheiden zwischen dem Lösbaren, dem Unlösba- ren und dem Zwischenfeld eines pragmatischen Umgangs mit Konflikten. Es versteht sich deshalb von selbst, dass die Bundesregierung Gemeinsamkeiten mit den USA dort stärken sollte, wo sie auch mit der aktuellen Regierung vor- handen sind. Seine Interessen erfolgreich zu vertreten, kann im Konkreten auch bedeuten, in einen begrenzten Konflikt einzutreten oder – umgekehrt – eine unhaltbar gewordene Position zu korrigieren. Und es wird darüber hinaus hei- ßen, unsere Ansprechpartner nicht nur auf der höchsten Ebene zu suchen,­ son- dern auch andere Akteure im Regierungsapparat, in den Parlamenten, in den Bundesstaaten, in der Zivilgesellschaft und in der Wirtschaft anzusprechen. Dem verantwortlichen Umgang mit Meinungsverschiedenheiten wird eine wesentlich größere Bedeutung zukommen als bisher. Im eigenen langfristigen Interesse sollte Deutschland versuchen, Differenzen mit der Regierung Trump einzuhegen oder so zu handhaben, dass sie nicht durch eigenes Verhalten es- kalieren und damit außer Kontrolle geraten. Deutschland darf sich keinen Illusionen hingeben: Große gemeinsame Pro- jekte mit der Regierung Trump wird es zumindest dort nicht geben können, wo sie den populistischen Kernbereich von Trumps Agenda berühren. Wer hier zu viel versucht, wird am Ende nur Streit säen. Kurzum: Deutschlands Ameri- ka-Strategie muss Verschiedenes gleichzeitig erlauben – Kerninteressen aktiv zu vertreten, Konflikte zu moderieren, unrealistische Ambitionen zu vermei-

IP • November / Dezember 2017 15 Vordenken und vermitteln

Forsa-Frage: Eine verlässliche Partnerschaft? IP|11 / 12|17

Werden die USA auch unter Donald Trump ein verlässlicher Partner für Deutschland und Europa bleiben?

Nur eine Minderheit der Bundesbürger – 18 Prozent – glaubt, dass die Vereinigten Staaten unter Präsident Donald Trump ein verlässlicher Partner für Deutschland und Europa bleiben Ja werden. Fast vier Fünftel (79 Prozent) sind vom Gegenteil 18% überzeugt. Die Haltungen im Osten und Westen Deutsch- lands unterscheiden sich nur geringfügig: In den neuen Bundesländern erwarten 21 Prozent der Befragten vom US-Präsidenten Verlässlichkeit, in den alten Bundeslän- dern sind es dagegen nur 18 Prozent. Mit Blick auf die Alterskohorten fällt dagegen auf, dass die 30- bis 44-Jäh- Nein rigen mit 25 Prozent überproportional stark an die amerika- 79 % nische Verlässlichkeit glauben. Die 45- bis 60-Jährigen sind dagegen mit nur 11 Prozent der Befragten besonders skeptisch über den zukünftigen Kurs der USA. Mit Blick auf die Parteienpräferenzen sind es die Anhänger der SPD, bei denen das Vertrauen auf Washington unter Trump besonders gering ausgeprägt ist. Nur 7 Prozent bauen darauf, dass sich Deutschland und Europa weiterhin auf die Vereinigten Staaten verlassen werden können, während 86 Prozent das nicht tun. Näher am Durchschnitt sind die Werte von Wählern der Grünen (17 Prozent rechnen mit amerikanischer Verlässlichkeit) und der Linken (18 Prozent). Über- durchschnittlich stark ist das Vertrauen in Washington unter Trump bei den Wählern der CDU/CSU (20 Prozent), der Alternative für Deutschland (25 Prozent) und der FDP (27 Prozent). Unter den Anhängern der Freien Demokraten ist umgekehrt die Erwartung, dass sich die USA von Deutschland und Europa abwenden werden, mit 73 Prozent vergleichsweise gering, gefolgt von AfD-Wählern mit 75 Prozent.

Datenbasis: 1002 Befragte in Deutschland. Erhebungszeitraum: 14. bis 16. Oktober 2017. an 100% fehlende Angaben „weiß nicht“. Statistische Fehlertoleranz: + / – 3 Prozentpunkte. Quelle: Forsa

den und so eine Brücke in eine bessere Zukunft der transatlantischen Bezie- hungen zu bauen. Diese Art der Differenzierung kann unterschiedliche Fol- gen für die verschiedenen Politikfelder haben. Handelspolitik: Nüchtern betrachtet stehen die Zeichen nicht günstig für größere Projekte in einigen Bereichen, in denen sie besonders notwendig wä- ren, etwa der Handelspolitik. Trotz aller Kontroversen sind die strategischen und wirtschaftlichen Gründe für ein transatlantisches Freihandelsabkommen (TTIP) seit November 2016 nicht schlechter geworden. In Berlin und Brüssel

16 IP • November / Dezember 2017 Trotz alledem: Amerika

hoffen nun manche, man könne TTIP in leicht veränderter Form wieder aufer- stehen lassen. Das ist illusionär, vielleicht sogar gefährlich. Denn ein US-Präsi- dent, der alle Handelsabkommen als unfair gegenüber Amerika geißelt, würde in internationalen Verhandlungen kaum Kompromisse eingehen können. Ein Scheitern wäre am Ende schädlicher als ein langer Winterschlaf des Projekts. Es deutet sich schon jetzt an, dass die USA und die Europäische Union auf Handelsauseinandersetzungen zusteuern. Auf Strafzölle soll und muss die EU reagieren. Aber Brüssel sollte ausschließlich legal, proportional und symme­ trisch handeln. Alles andere könnte eine Eskalation auslösen, die allen Betei- ligten über den Kopf wächst. Internationale Flüchtlingspolitik: Wenig erfolgversprechend wären auch größere gemeinsame Initiativen in der internationalen Flüchtlingspolitik. Das internationale Schutzsystem braucht zwar dringend eine Reform, um es an moderne Bedingungen anzupassen. Dabei käme es darauf an, die Rechte von Flüchtlingen zu wahren, zugleich illegale Migration ein- Bündnisverteidigung zuhegen und die Schlepperkriminalität zu bekämpfen, die das uni- ist die preiswerteste verselle Flüchtlingsregime aushöhlt. Ebenso wären neue Anstren- gungen für bessere Resettlement-Programme der Vereinten Nati- Form des Schutzes onen erforderlich. Allerdings ist schwer vorstellbar, dass sich die Regierung Trump auf derlei Initiativen einlassen wird. Deshalb muss Europa hier selbst aktiv werden – so gut es geht. So fallen also Handels- wie Flücht- lingspolitik in die Kategorie der schwierigen, gegenwärtig kaum lösbaren Fäl- le transatlantischer Politik, in denen bestenfalls kleine Fortschritte denkbar sind, nicht aber große Initiativen.

Chancen für Fortschritte mit Donald Trump Anders verhält es sich in der Sicherheitspolitik. Ohne die USA gibt es bis auf Weiteres keine Sicherheit für und in Deutschland. Das gilt für die Territori- al- und Bündnisverteidigung im Rahmen der NATO; das gilt für die nukleare Abschreckung; es gilt für die Bekämpfung der Cyberkriminalität und der Geld- wäsche und schließlich für den Schutz vor Terrorismus und damit für die Zu- sammenarbeit der Geheimdienste. Weder einzelne europäische Staaten noch Deutschland alleine, auch nicht die EU, können die notwendigen Ressourcen bereitstellen, um Sicherheit auf dem Kontinent zu garantieren. Die bestehende Zusammenarbeit wäre eher noch zu verstärken. An der NATO festzuhalten, ist zugleich eine Möglichkeit, die USA in multilaterale Sicherheitspolitik einzu- binden und Alleingänge zu erschweren. Das gilt auch für die Frage der „nuk- learen Teilhabe“, also der Beteiligung des nicht atomar bewaffneten Deutsch- lands an der nuklearen Abschreckung der Vereinigten Staaten. Hier steht in der kommenden Legislaturperiode die Entscheidung darüber an, ob Deutsch- land eingebunden bleiben kann – und will. Bündnisverteidigung ist die preiswerteste Form der Verteidigung. Deutsch- land sollte deshalb den Ruf nach fairer Lastenverteilung innerhalb des Bünd- nisses ernst nehmen. Wider ihre eigenen Kerninteressen hat die Bundesrepu- blik hier nicht genug getan. Deutschland muss noch einen weiten Weg gehen, bis es die Verpflichtungen umsetzt, die es gegenüber der NATO eingegangen

IP • November / Dezember 2017 17 Vordenken und vermitteln

ist. Und das bedeutet: Deutschland hat zugesagt, seine Verteidigungsausga- ben 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts anzunähern. Deutschland sollte Wort halten. Es stellt die Dinge auf den Kopf, wenn diese Verpflichtung in der deutschen Debatte als Bedrohung des europäischen Gleichgewichts bezeich- net wird. Es sind gerade unsere europäischen Nachbarn und Verbündeten, die sich verstärkte Beiträge der Bundesrepublik im Rahmen der NATO und der europäischen Verteidigungspolitik wünschen. Noch besser wäre es, die Bundesrepublik würde ein weiteres Prozent des BIP aufwenden und damit auch mehr für Entwicklungszusammenarbeit, inter- nationale Polizeieinsätze, UN-Missionen, Konfliktpräventionen und Diploma- tie ausgeben. In diesem vernetzten Ansatz würden auch die nichtmilitärischen Methoden der Sicherheitspolitik aufgewertet. So kann die europä- Beim 2-Prozent-Ziel ische Verteidigungsfähigkeit innerhalb der transatlantischen Alli- muss die Bundes­re- anz substanziell gestärkt werden. Die Bundesrepublik tut etwas, was in ihrem eigenen Kerninteresse liegt. Zudem stabilisiert sie das publik Wort halten transatlantische Verhältnis. Sie geht auf die Trump-Administration zu und baut gleichzeitig belastbare Fundamente für die Zeit nach Trump. Die Erfolgschancen dieser Strategie sind gut: Aller NATO-kritischen Rhetorik zum Trotz hat die Regierung Trump die von ihren Vorgängern gege- benen Zusagen in der NATO konsequent eingehalten. Die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit der Regierung Trump soll- te für uns zentral sein und auch die Sicherheitsgarantien für die mittelosteu- ropäischen NATO-Mitglieder und die Unterstützung einer unabhängigen Uk- raine ebenso einschließen wie die Stabilisierung der europäischen Gegenküs- te in Nordafrika. Angesichts der Auseinandersetzung um die nordkoreanische Atomrüstung und das weitere Vorgehen gegenüber dem Iran sollte eine Spal- tung zwischen USA und Europa unbedingt vermieden werden. Wir sollten al- les tun, um die USA in ein gemeinsames Vorgehen einzubinden. Energiesicherheitspolitik: Noch in einem zweiten Politikfeld sollte die Bundesregierung im eigenen Interesse ihre Positionen überprüfen, um Fort- schritte möglich zu machen: der Energiesicherheitspolitik. Die Vereinigten Staaten haben Nord Stream 2, die geplante Ostsee-Pipeline nach Russland, als geostrategisches Projekt identifiziert. Sie haben Recht. Wichtiger noch: Dieses Pipeline-Projekt liegt nicht im gesamteuropäischen Interesse. Nord ­Stream 2 ­widerspricht einer Politik größerer Energieunabhängigkeit und un- terminiert die angestrebte europäische Energie-Union. In dieser Frage soll- ten wir eine gemeinsame Position mit unseren europäischen Nachbarn und den USA suchen. Klima-, Energie- und Digitalpolitik: Wer das Lösbare mit Entschlossenheit angeht und das Unlösbare einstweilen beiseite lässt, muss sich am Ende jenen Politikfeldern zuwenden, in denen es einstweilen darum gehen muss, Konflik- te verantwortungsvoll zu verwalten. Es wird zwecklos sein, die US-Adminis- tration von der Bedeutung des Pariser Klimaabkommens überzeugen zu wol- len. Zugleich führt es in die Irre, Präsident Trump in der internationalen Kli- ma- und Energiepolitik isolieren zu wollen. Notwendige Kritik darf nicht in Rechthaberei umschlagen.

18 IP • November / Dezember 2017 Trotz alledem: Amerika

Stattdessen sollte Deutschland mit Amerika konkrete Fortschritte im Kli- maschutz suchen. Der Einsicht folgend, dass Präsident Trump nicht (ganz) Amerika ist, kann Berlin auf andere Partner zugehen, die an klimapolitischer Kooperation interessiert sind. Eine ganze Reihe von Bundesstaaten (nicht nur Kalifornien) und große Städte sind längst auf dem Weg, Die Abschottung digi- ihre CO2-Emissionen zügig zu senken. Mit lokalen Partnern ist po- taler Märkte wäre für litische, wissenschaftliche und technische Kooperation auch un- abhängig von Washington möglich. An Klima-Alliierten, die etwas beide Seiten fatal bewegen können, herrscht in den Vereinigten Staaten kein Mangel, nicht in der Wirtschaft und schon gar nicht in der Zivilgesellschaft. Hier gilt es, in die Offensive zu gehen, Geld zu investieren und Netzwerke zu bauen, die eine Trump-Regierung überdauern. Auch auf dem Gebiet der Digitalpolitik zeichnet sich eine Konfrontation ab – über regulatorische Fragen wie über Marktanteile. Auch hier gilt es, mög- lichst frühzeitig Konfliktfelder zu erkennen und unnötige Eskalation zu ver- meiden. Jede gegenseitige Abschottung der digitalen Märkte Europas und Ame- rikas hätte auf beiden Seiten gravierende negative Konsequenzen für Wachs- tum und Arbeitsmärkte. Europäische Verbraucher- und Datenschutzstandards werden sich global vor allem mit, aber kaum gegen die Vereinigten Staaten durchsetzen lassen.

Mehr europäische Selbstverantwortung im Bündnis Wo immer möglich, Fortschritte auch mit der Regierung Trump erzielen, Kon- flikte moderieren und nicht eskalieren lassen, das Spektrum transatlantischer Kooperationspartner über die gegenwärtige Regierung hinaus erweitern – das ist der Kern einer Amerika-Strategie, die erlaubt, das transatlantische Verhält- nis mit und notfalls gegen diesen amerikanischen Präsidenten zu bewahren und über ihn hinaus zu denken. Die USA haben immer wieder ihre beein- druckende Fähigkeit zur Selbstkorrektur bewiesen. Sie bleiben Ankermacht für jene Staaten, die für Freiheit und Demokratie einstehen und eine offene Ordnung der Welt wünschen. Für diese Ziele wird Europa – und damit auch Deutschland – verstärkt eintreten müssen. Mehr europäische Selbstverant- wortung und Eigeninitiative sind unerlässlich. Aber es wäre ein historischer Irrtum, „mehr Europa“ gegen die transatlantische Allianz auszuspielen. Die Außenpolitik der neuen Bundesregierung wird daran zu messen sein, wie klar sie diesen Kurs verfolgt.

Die Unterzeichner: Deidre Berger, American Jewish Comittee; J.D. Bindenagel, Universität Bonn; Ralf Fücks, Zentrum Liberale Moderne; Stefan Heumann, Stiftung Neue Verantwortung; Patrick Keller, Konrad-Adenauer-Stiftung; Thomas Kleine-Brockhoff, German Marshall Fund of the United States; Anna Kuchenbecker, Aspen Institute Deutschland; Sergey Lagodinsky, Heinrich-Böll-Stiftung; Rüdiger Lentz, Aspen Institute Deutschland; Daniela Schwarzer, DGAP; Jan Techau, American Academy; Sylke Tempel, D G A P. Der Text gibt ausschließlich die persönliche Meinung der Autoren wieder.

IP • November / Dezember 2017 19 Vordenken und vermitteln

Doppelte Verletzlichkeit Der neue „Kampf der Systeme“ findet mitten in der globalisierten Welt statt

Jörg Lau | Mit einem US-Präsidenten, der gegen die Pressefreiheit antwit- tert, fällt es schwer, sie gegenüber autokratischen Staaten zu verteidigen. Dem autoritären Versprechen, das heute eben auch im Westen verfängt, kommt man nur bei, wenn man ihm funktionierende freiheitliche Ange- bote entgegensetzt. Ein Thema, das Sylke Tempel wichtig war.

Vor einigen Jahren entzündete sich am immer aggressiveren Auftreten Russ- lands eine Debatte um das richtige Verhältnis von „Werten und Interessen“ in der deutschen Außenpolitik. Gibt es zwischen Werten und Interessen einen grundlegenden Gegensatz? (Nur wenige Teilnehmer votierten dafür.) Oder geht es eigentlich um die richtige Balance? Anders gefragt: Wieviel darf eine wertegeleitete Außenpolitik denn kosten? Und wo gerät sie zur selbstgefälli- gen Geste, bei der es mehr um die eigene Erhabenheit geht als um die Durch- setzung der behaupteten Werte? Das Problem schien nach einigen Streitrun- den eher taktischer Natur: Wann wäre es nicht nur moralisch, sondern auch klug und opportun, laut und deutlich im Sinne unserer Kernüberzeugungen aufzutreten – und wann sollte man das eher hinter geschlossenen Türen tun?

Rückkehr der autoritären Versuchung Interessant ist, von heute aus betrachtet, was damals nicht infrage stand: Dass es so etwas wie eine „westliche Wertegemeinschaft“ gebe, die ihrem Wesen nach bestimmte Werte und Prinzipien nach außen vertrete. Nun ist aber eben dies fraglich geworden. Die Debatte über den Umgang mit Diktatoren und Au- toritären betrifft nicht mehr nur das Verhältnis des Westens zum Rest der Welt, sondern das der westlichen Akteure untereinander und ihr eigenes zu jenen Überzeugungen, die sie nach außen vertreten. Es gibt die autoritäre Versuchung nämlich auch wieder im Westen und un- ter seinen engsten Bündnispartnern. Sie erfasst längst nicht mehr nur die Pe- ripherie – etwa verunsicherte Neumitglieder, denen man gewisse Transforma- tionsschmerzen zugestehen mag wie Polen, Ungarn und Tschechien, oder den NATO-Partner Türkei. Wenn etwa der amerikanische Präsident twittert, wie erst im Oktober geschehen, es sei „ekelhaft“, dass Journalisten einfach schrei- ben könnten, was sie wollen, und man müsse darüber nachdenken, wann man

20 IP • November / Dezember 2017 Doppelte Verletzlichkeit

ihnen die „Lizenz“ entziehe, dann fällt es immer schwerer, von westlicher Sei- te gegenüber unfreien Regimen auf dem universalen Prinzip der Pressefreiheit zu beharren. Die enormen versteckten Kosten dieser westlichen Selbstdemontage werden langsam sichtbar. Wer sich dieser Tage mit chinesischen Vertretern über jour- nalistische Arbeitsbedingungen unterhält, kann ein deutlich größeres Selbstbe- wusstsein beim Durchsetzen der chinesischen Regeln feststellen: Was kommt ihr uns mit diesen angeblichen allgemeinen Grundsätzen, an die ihr doch of- fenbar selbst nicht mehr glaubt! Neben der Pressefreiheit hat US-Präsident Do- nald Trump auch wiederholt die Unabhängigkeit der Justiz und die Kontroll- funktion des Parlaments angegriffen. Die Vereinigten Staaten, diese Bastion der liberalen Demokratie, zeigen sich selber als gefährdet. Als deren Garant fallen sie einstweilen aus.

Kleinkrieg gegen die Gewaltenteilung Europäer haben dabei keinen Grund zur Überheblichkeit: Die polnische und die ungarische Regierung führen seit Jahren einen Kleinkrieg gegen die Ge- waltenteilung, gegen die kritische Presse und gegen die unabhängige Zivilge- sellschaft, deren Institutionen sie in den Ruch von Vaterlandslosigkeit, Verrat und ausländischer Einflussnahme rücken. In Österreich droht die Regierungs- beteiligung der rechtsextremen FPÖ. Das EU-Gründungsmitglied Frankreich ist nur durch den Sieg Emmanuel Macrons in der Stichwahl einer Präsident- schaft Marine Le Pens entgangen. 50 Prozent der Erstwähler votierten für eine der beiden extremen Parteien, also den Front National oder die linksradikale Bewegung Jean-Luc Mélenchons. Und in Deutschland hat sich die rechtspopu- listische AfD nun auch im Bundestag etabliert, mit einem viel zu wenig beach- teten außenpolitischen Programm, das auf die Abwicklung der EU und eine enge Partnerschaft mit Russland setzt. Dies alles zeigt: Man muss heute eine doppelte Verletzlichkeit der libera- len Demokratie konstatieren – von innen her durch Erosion der zivilen Mit- te und den Aufstieg autoritärer Bewegungen; von außen durch die nicht nur relative Stärke der autoritär regierten Mächte. Weder im Westen noch gar auf der globalen Bühne ist die freiheitliche Demokratie heute noch „the only game in town“. Es sind ihre Gegner, die sich als die Alternative zum Bestehenden anbieten, sei es als Parteien oder Bewegungen, sei es als konkurrierende, auf- steigende Ordnungsmächte, wie es etwa China mit seiner Initiative der Neu- en Seidenstraße tut. Mit der inneren und äußeren Gefährdung der liberalen Demokratie wächst das Gefühl dafür, wie anspruchsvoll sie ist. Immer mehr Staaten sind heute „elektorale Demokratien“ – also Systeme, in denen die Herrschaft sich durch (einigermaßen freie) Wahlen legitimiert. Nach den Erhebungen der NGO Free- dom House erfüllen heute 60 Prozent aller Staaten dieses Kriterium. Die Mehr- heit unter ihnen gewährt gleichwohl keine rechtsstaatlichen Verfahren, kei- nen Minderheitenschutz und keine volle Pressefreiheit. Der Begriff der „illi- beralen Demokratie“, vor fast zwei Jahrzehnten von Fareed Zakaria geprägt, bezeichnet dieses Missverhältnis. Heute ist klar: Das ist nicht nur eine mögli-

IP • November / Dezember 2017 21 Vordenken und vermitteln

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Die Kosten der westli- che Übergangsform auf dem Weg zu vollständiger liberaler Demokratie, son- chen Selbstdemontage dern im Gegenteil immer öfter deren Verfallsform. werden langsam sichtbar. Ein Systemkonflikt fast wie der Kalte Krieg US-Präsident Trump Was tun? Der Kampf um die liberale Demokratie ist heute der entscheiden- in der Marine One auf dem Weg zum de Systemkonflikt, von der Bedeutung her nicht unähnlich der Konfrontation Golfplatz in ­Jersey im Kalten Krieg. Allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass dieser City, Oktober 2017 Kampf nicht zwischen klar definierten Blöcken ausgetragen wird – sondern dass er mitten durch die globalisierte Welt, durch die Staaten, die Gesellschaf- ten, die politischen Systeme und ihre Parteien geht. Es gibt keinen geheimen Plan der Geschichte, der zum Triumph des Auto- ritarismus führt. Aber es war eben auch falsch anzunehmen, dass der Welt- geist nach dem Ende des Kommunismus selbststeuernd in Richtung liberaler Demokratie fahren würde. Das Denken in den Kategorien des 20. Jahrhun- derts – „Freiheit“ gegen „Totalitarismus“ – hat den Blick für die neue Attrak- tion des Autoritären viel zu lange verstellt. So unterschiedlich die autoritären Angebote sind, in einem stimmen sie überein: im Versprechen einer anderen politischen Ordnung. Filterloses Regieren ohne Repräsentation, institutionel- le Hemmung und Kompromiss – eine neue Art direkter Demokratie, verstan- den als plebiszitär bestätigte Einheit von Regierung und Volk. Dieses Staatsvolk wird überall exklusiv definiert, entlang der Linien von Nation, Ethnie und/oder Religion. Das autoritäre Versprechen lautet: „Ich füh- le euren Schmerz. Ich beschütze euch. Bei mir kommt ihr wieder zuerst dran.“ Darum sollen, ja müssen die „abgehobenen Eliten“ mitsamt ihrer Institutionen (Parteien, Medien, Think Tanks, Verfassungsgerichte, „Washington“, „Brüs- sel“) zerschlagen und entmachtet werden.

22 IP • November / Dezember 2017 Freundin Israels und Palästinas

Es ist nicht damit getan, dies zu entlarven. Dem autoritären Versprechen müssen funktionierende freiheitliche Angebote entgegengesetzt werden. Es ist zwar ein Klischee, dass die Unterscheidung zwischen Innen- und Außenpolitik in einer immer stärker vernetzten Welt an Bedeutung verliert. Doch wahr ist: Die Glaubwürdigkeit der westlichen Außenpolitik wird daran bemessen wer- den, ob die Werte, für die sie eintritt, zuhause eigentlich noch Geltung haben. Jörg Lau ist außenpolitischer Koordinator im Politik-Ressort der ZEIT.

Freundin Israels und Palästinas Als Mittlerin im Nahost-Konflikt wird Sylke Tempel schmerzlich vermisst

Fania Oz-Salzberger | Die jüngsten geopolitischen Verwerfungen von Syrien bis Nordkorea haben den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern aus den Schlagzeilen gedrängt; gelöst ist er dadurch nicht. Was die Friedensak- tivisten in der Region jetzt brauchen, sind Unterstützer, die sich bemühen, beiden Seiten gerecht zu werden. Abschied von einer ehrlichen Maklerin.

„Ein Staat mit jüdischer Bevölkerung und demokratischer Verfassung ist un- vereinbar mit der Besetzung des Westjordanlands“, sagte Sylke Tempel in ei- nem ihrer letzten Interviews. Diese einfache Aussage ist die denkbar klarste und zutreffendste Zusammenfassung des Dilemmas, in dem sich Israel heute befindet. Anders als viele Kommentatoren, die sich entweder auf das Problem Israels oder auf die Tragödie Palästinas konzentrieren, war Sylke Tempel in der Lage, beide Seiten mit unbestechlicher Klarheit zu analysieren. Lassen Sie mich versuchen, diese Klarheit des Urteils nachzuzeichnen und zu würdigen, diesen unerbittlichen und mitfühlenden Realismus, der Sylke Tempel zur Vertreterin einer seltenen Gattung machte: die der wahren Freun- de, der kritischen Freunde von Israelis und Palästinensern gleichermaßen. Die jüngsten geopolitischen Verwerfungen – vom Arabischen Frühling über Syrien und die EU-Krisen bis hin zu Nordkorea – haben den israelisch-paläs- tinensischen Konflikt aus dem Fokus der Öffentlichkeit gedrängt. Noch nie, jedenfalls nicht seit 1967, ist dieser weltbewegende Konflikt so marginalisiert worden. Viele sehen ihn nicht mehr als Quell aller nahöstlichen Übel. Politi- ker, Diplomaten, Intellektuelle und Journalisten sind anderweitig beschäftigt. Man überlässt die Regierung von Benjamin Netanjahu sich selbst. Palästi- nenser-Führer Machmud Abbas und die Hamas – ob miteinander versöhnt oder nicht – stehen nicht mehr im Bühnenlicht des Weltdramas. Das könnte sich

IP • November / Dezember 2017 23 Vordenken und vermitteln

durchaus positiv auswirken; vielleicht ermöglicht diese wohlwollende Gleichgül- tigkeit eine praktische, allmähliche, lokale Annäherung. Andererseits können sich israelischer und palästinensischer Extremismus nun ungehindert entfalten. Die neue Welt-Unordnung bringt alles so durcheinander, dass wir uns in unserem Teil des Nahen Ostens nicht einmal mehr sicher sein können, ob die Stimme Deutschlands weiterhin auf Frieden dringt. Wird die Alternative für Deutschland (AfD) demnächst auch für Deutschland sprechen? Wird eine künf- tige politische AfD-Stiftung Büros in Tel Aviv und Ramallah eröffnen? Was wird die mächtig gewordene extreme Rechte Europas den konfusen und wider- sprüchlichen Botschaften der Regierung von US-Präsident Donald Trump an Israelis und Palästinenser hinzuzufügen haben? Ja, die ehrlichen Makler und kritischen Freunde werden in diesen Tagen rar. Die Freunde, die Israel und Palästina heute noch haben, sind wertvoller als je zuvor – besonders die, die noch immer von echtem Interesse und ehrlicher Sorge erfüllt sind und sich um Ehrlichkeit und Redlichkeit im Urteil bemühen. Wir haben Sylke Tempels Stimme verloren, aber wir müssen uns verpflichten, ihre unbequemen Wahrheiten weiterhin laut und deutlich ertönen zu lassen. Lassen Sie mich die gemeinsamen Überzeugungen und das Engagement schil- dern, zu denen sie und ich in den vergangenen Jahren durch Gespräche und Korrespondenz gefunden haben.

Die Siedler als Zerstörer des Zionismus Da ist, an erster und wichtigster Stelle, die Feststellung, dass man ein Freund Israels und Palästinas zugleich sein kann. Im Grunde ist das der einzig fai- re und realistische Weg. Mein Vater Amos Oz sagte einst, er sei weder für die Israelis noch für die Palästinenser, sondern für den Frieden. Wahre Freund- schaft verlangt einen scharfen und kritischen Blick, der nicht ohne Liebe ist, aber ohne Sentimentalität, der weder romantisiert noch dämonisiert. Ein un- kritischer Freund ist überhaupt kein Freund, und ein einseitiger Friedensstif- ter ist kein Friedensstifter. Echte Freunde, wie Sylke Tempel es war, müssen die intellektuelle und emo- tionale Fähigkeit haben, sich in die Gefühlslage beider Seiten hineinzuverset- zen. Antiisraelische Haltung entsteht oft aus einer grob vereinfachenden Iden- tifizierung des Volkes mit seiner Regierung. Genauso gilt für die Feinde der Palästinenser, dass sie die gesamte Nation mit dem Terror der Hamas oder den Machenschaften von Yasser Arafat identifizieren. Das ist genauso, als würde man das amerikanische Volk wegen Trump hassen – absurd. Wie viele liberale Zionisten aus Israel war auch Sylke Tempel der Überzeu- gung, dass die Siedlungen im Westjordanland keine Fortsetzung des Zionismus sind, sondern ihn untergraben und möglicherweise zerstören. Sie hat immer wieder darauf hingewiesen, dass der Zionismus ursprünglich laizistisch, de- mokratisch und pragmatisch ausgerichtet war und weder imperiale noch mes- sianische Ambitionen hatte. Gleiche Bürgerrechte waren von Anfang an Teil seiner DNA. Er akzeptierte die Zwei-Staaten-Lösung sogar schon vor 1948. Aus dieser Feststellung folgt eine vernichtende Kritik an der Politik der Li- kud-Partei und der noch weiter rechts stehenden Parteien: Traum und Wirk-

24 IP • November / Dezember 2017 Freundin Israels und Palästinas

lichkeit des Zionismus werden in einen Kontext des Fanatismus eingebettet und dadurch in große Gefahr gebracht. Um es mit einfachen Worten zu sagen: Wer diese Entwicklung nicht deutlich anprangert, egal ob mit hebräischem, amerikanischem oder deutschem Akzent, ist kein wahrer Freund Israels. Wenn es um die palästinensische Seite des Konflikts geht, so sind zwei Punkte wichtig. Wir müssen ebenso zwischen PLO und Hamas differenzieren wie auch dem Reflex widerstehen, uns naiv mit den Palästinensern als hilflo- sen und bedauernswerten Opfern zu identifizieren. Genau wie Sylke Tempel sehe auch ich das palästinensische Volk und seine Anführer als verantwort- lich Handelnde, nicht als passive Opfer von Schicksalsschlägen. Die Entschei- dung, Terror als Hauptinstrument einzusetzen, um dem eigentlich legitimen Ziel nationaler Selbstbestimmung näher zu kommen, wurde bereits in den 1960er Jahren getroffen – bewusst und mit tragischen Folgen. Heute mag sich Abbas als moderat präsentieren und vielleicht sogar versu- chen, die Politik der mörderischen Machthaber im Gaza-Streifen zu mäßigen, aber sein Engagement für Friedensverhandlungen war bestenfalls durchwach- sen. Natürlich stimmt es, dass Netanjahu und seine rechtsgerichtete Koalition alles tun, um die Zwei-Staaten-Lösung zu verzögern, abzuwenden und zu un- tergraben, indem sie Siedlungen bauen und die Palästinenser unmenschlich be- handeln. Aber können Sie sich vorstellen, wie wirkungsvoll und wie berühmt Abbas hätte sein können, wie ihn die ganze Welt unterstützt hätte, wenn er sich wirklich nachdrücklich für Frieden eingesetzt hätte? Im erwähnten Interview sagte Sylke Tempel, die auch bei schmerzlichen The- men nie ein Blatt vor den Mund nahm, in den Palästinenser-Gebieten werde je- mand, der auf Passanten in einem Café in Israel schießt, nicht als Terrorist ge- sehen, „sondern als Held und als Kämpfer im Widerstand gegen die Besatzung gefeiert. Diese Sichtweise gibt es, und die Palästinensische Autonomiebehörde scheut sich, dagegen vorzugehen.“ Ich darf hinzufügen, dass Abbas sich sogar scheut, dagegen vorzugehen, wenn Schulbücher und öffentliche Plätze die Selbst- mordattentäter zu Nationalhelden machen. Um es mit einfachen Worten zu sa- gen: Wer diesen Mörderkult nicht laut verurteilt, ist kein Freund Palästinas. Und so sind wir – Palästinenser und Israelis – durch den plötzlichen und schrecklichen Verlust Sylke Tempels um vieles ärmer geworden. Wir haben eine wirkliche Freundin verloren, die unerbittlich und verständnisvoll war, von ver- nichtender Schärfe und heilsamer Ehrlichkeit zugleich. So müssen diejenigen sein, die Friedensaktivisten wie mich und meine palästinensischen Freunde da- bei unterstützen, diesen Konflikt eines Tages zu lösen, weil wir ihn lösen müs- sen. Es kann nicht anders sein; eine Alternative mag man sich nicht ausmalen. Ich werde Sylke fürchterlich vermissen, und ich appelliere an jeden ihrer Leser und an jeden Leser dieser Worte, auf seine eigene Weise Sylkes Stimme weiterzutragen. Solange es Stimmen wie ihre gibt, gibt es Hoffnung. Wenn der Frieden endlich kommt, werden wir ihr einen kleinen Teil davon verdanken.

Prof. Fania Oz-Salzberger lehrt Geschichte an der Universität Haifa und Modern Israel Studies an der Monash-Universität, Melbourne.

IP • November / Dezember 2017 25 Vordenken und vermitteln

Viel hilft wenig Zwei Politikstile konkurrieren: Probleme zerschlagen oder aufdröseln

Sylke Tempel | Jahrhundertelang gab es ein Vorbild für das beherzte Lösen schwieriger Probleme: Alexanders des Großen machohaftes Durchschla- gen des Gordischen Knotens. Doch heute ist eine vermutlich eher weib- liche Fähigkeit gefordert: das geduldige Aufdröseln verzwackter Verkno- tungen. Denn einfache Lösungen gibt es in der komplizierten Welt nicht.

Den französischen Staatspräsidenten und die deutsche Kanzlerin trennen der- zeit mehr als nur Worte. Die beiden Regierungschefs stehen für zwei völlig un- terschiedliche Ansätze, Probleme zu analysieren und Lösungen zu finden. Nen- nen wir sie decisions versus dynamics. Beide Denkarten durchziehen sowohl die europäische wie die deutsche Politik. François Hollande spricht vom Krieg, entsendet innerhalb weniger Tage einen Flugzeugträger und verstärkt die Luftschläge der französischen Armee gegen den Islamischen Staat. verspricht, „jedwede Unterstüt- zung“ zu leisten. „Jedwede Unterstützung“ klingt auch nicht unentschlossen. Aber: Die Formulierung verweist auf die Überzeugung, dass es für den Kampf gegen dschihadistischen Terror, für eine Befriedung Syriens und damit nicht zuletzt für eine Eindämmung der Flüchtlingsströme mehr braucht als nur mi- litärische Mittel. Dem „Dezisionismus“ liegt die Annahme zugrunde, dass Entscheidungen Mittel, Maß und Ziel der Politik sind. Im Weltbild eines Dezisionisten wie Hol- lande erfordern Krisen rasche Entscheidungen, genau wie „falsche Entschei- dungen“ Krisen erst bewirken – so wie der Entschluss der Bundeskanzlerin, Dublin II für ein paar Tage auszusetzen, die Flüchtlingskrise erst ausgelöst hat. Angela Merkels Erklärung für die Flüchtlingskrise ist viel schlichter und gleich- zeitig sehr viel umfassender. „Die Frage, was wir wollen, zieht sich genauso durch die Debatte wie die Erkenntnis, dass wir nicht in einem abgeschlossenen Raum leben“, sagte sie jüngst in einem Interview mit der FAZ. „Wir leben in einer Welt, in der sich kein Land von den Krisen und Katastrophen in anderen Regionen abkoppeln kann, wie das vielleicht noch vor 50 Jahren der Fall war.“ Nicht die Entscheidung einer Politikerin hat demnach den Flüchtlingsstrom ausgelöst. Hinter ihm steckte vielmehr eine Dynamik, zu der mehrere Elemente gehören: die lebensbedrohliche, unerträgliche Situation zu Hause oder in den

26 IP • November / Dezember 2017 Viel hilft wenig

Flüchtlingslagern und durchaus auch die Hoffnung, in Europa oder speziell in Deutschland eben keine unfreundliche Aufnahme zu erfahren. Es bedarf aber noch zweier weiterer, im Zeitalter der Globalisierung und der digitalen Kom- munikationsrevolution nicht überraschender Faktoren, damit sich hunderttau- send Einzelentscheidungen zu einer Dynamik entwickeln können: einer Fluchtökonomie, eines Marktes, der sich schnell und flexibel Die Ursachen einer auf einen Bedarf einstellt und an dem sich nicht nur professionelle Dynamik bleibt Schlepper beteiligen, sondern potenziell jeder, der entlang bevor- zugter Fluchtrouten lebt und ein Boot oder einen Lastwagen besitzt; ­Dezisionisten fremd und einer in Silicon-Valley-artiger Geschwindigkeit entwickelten Fluchttechnologie, die per Apps und Websites überlebenswichtige Informatio- nen bereitstellt, über Fluchtrouten, Schlepper, Genehmigungsdauer von Asyl- anträgen in verschiedenen Ländern oder den Zustand von Aufnahmeheimen.

Dezisionismus versus Dynamismus Dynamiken entstehen durch lange vor sich hin köchelnde, durchaus erkennba- re Problemlagen wie die wirtschaftliche, politische und kulturelle Stagnation in der arabischen Welt oder die schon seit 20 Jahren unerträgliche, nie richtig bekämpfte Korruption der Kleptokraten in der Ukraine. Ihnen liegt nicht eine falsche Politik zugrunde, es sind vielmehr viele falsche Politiken. Wann eine Dynamik allerdings eine dramatische Entwicklung auslöst, ist schwieriger vorherzusehen. Es kann ein Moment der Selbstemanzipation sein, ein „Es reicht“, das arabischen Autokraten oder ukrainischen Oligarchen ent- gegengeschrien wird – und das sich innerhalb kürzester Zeit per Handy und Internet auf viele Tausende Menschen überträgt. Dynamiken sind Bewegun- gen von unten. Das betrifft nicht nur demokratische Aufstände. Auch der IS ist eine „Bewegung von unten“, die sich aus der Dynamik des irakischen Bürger- kriegs – nichts anderes waren die sektiererischen Auseinandersetzungen zwi- schen Schiiten und Sunniten dort – entwickelt hat und sich in Syrien fortsetzte. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusehen, dass es nach der Finanz- krise, nach den Aufständen in der arabischen Welt, nach der Ukraine-Kri- se, nach dem Bürgerkrieg in Syrien, nach dem Erstarken des IS und nach der Flüchtlingskrise vor allem Dynamiken sein werden, die uns beschäftigen und herausfordern. Die Ursachen einer Dynamik bleiben dem Dezisionisten fremd. Er hat keine Geduld, Problemlagen auseinanderzudröseln – oder geht zumindest davon aus, dass seine Wählerschaft diese Geduld nicht aufbringen will. Er denkt in Zeit- dimensionen von Legislaturperioden oder schwankenden Meinungsumfragen und fürchtet nichts mehr denn als „entscheidungsschwach“ dazustehen. Der Dezisionist stellt ein Ultimatum – wie Horst Seehofer, der im Oktober von An- gela Merkel ein „Ende der Flüchtlingswelle bis Allerheiligen“ forderte. Oder er hat, wie der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, keine Geduld, plötz- lich auftauchende Probleme mit langfristig angelegten Methoden zu bearbeiten. Er will Lösungen, jetzt. Er setzt weder auf Kooperation noch auf Konsens, denn das ist zu mühselig. Kein Wunder, dass Horst Seehofer in den dramatischsten Tagen der Flüchtlingskrise Orbán besuchte; Dezisionismus verbindet.

IP • November / Dezember 2017 27 Vordenken und vermitteln

Der Dezisionismus ist aber nicht nur ungeduldig, er ist im Kern auch auto- kratisch, denn er versetzt sich gar nicht erst in die Lage derer, die Politik von unten ändern wollen. Auf die Frage etwa, ob er verstehe, dass die Demonstran- ten im Gezi-Park eigentlich nichts weiter wollten, als bei der Gestaltung ihrer Stadt mitzureden, antwortete der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan völlig konsterniert, er habe den Istanbulern doch schon eine Brücke über den Bosporus und einen dritten Flughafen geschenkt, dafür müssten sie doch dank- bar sein. Es ist, kurzum, inakzeptabel, den Entscheidungsträger durch unquali- fiziertes Dazwischenquaken zu stören. Er weiß am besten, was für alle gut ist. Der ehemalige KGB-Agent Wladimir Putin kann sich nicht vorstellen, dass Proteste – in Moskau, Kiew oder sonst wo – ohne Steuerung, also ohne ein Mit- wirken feindlicher Entscheidungsträger möglich sind. Solchen in seinen Augen gesteuerten Dynamiken setzt er die entschiedene Tat entgegen, nämlich die „hel- denhafte“ Annexion der Krim, mit der er ja durchaus (und vermutlich eher vor- erst) den größten Teil seiner Bevölkerung hinter sich gebracht hat.

Starke Lösungen sind gefährliche Scheinlösungen In komplettem Gegensatz zum Dynamismus, der eine breit angelegte Ursa- chenforschung betreibt und viele Faktoren beisteuern muss, um ein einigerma- ßen haltbares Bild der Gesamtlage zu erhalten, versucht der ultimative, auto- ritäre Dezisionismus solche komplexen Gemengelagen brutal zu vereinfachen. Analysten beobachten schon seit einiger Zeit, dass Wladimir Putin Putin und Erdogan sich nur noch mit einem kleinen Kreis von Vertrauten umgibt. In geben vor zu wissen, die Entscheidungsprozesse des Kreml werden offensichtlich keine Informationen aus verschiedenen Quellen mehr eingespeist. Hier was gut ist herrscht das Gesetz des alleinigen Entscheidens und Handelns, weil eben entschieden und gehandelt werden muss, umso mehr wenn an- dere, wie die USA und Europa in Syrien, nicht entscheiden und handeln. Was die USA betrifft, so ist es bemerkenswert, dass an der Spitze eines politischen Systems, in dem Erfolg an der Entscheidungsfähigkeit seines Präsidenten ge- messen wird, mit Barack Obama ein Mann steht, der weder Entscheidungen treffen noch Dynamiken moderieren will. Natürlich geht es Putin um die Rettung eines anderen, vormals jedenfalls starken Mannes, nämlich Baschar al-Assad. Von diesem noch relativ klar for- mulierten strategischen Ziel einmal abgesehen, scheint Putin sich aber ohne tiefes und verlässliches Wissen über die verschiedensten gegeneinander kämp- fenden Gruppen in ein Abenteuer hineinbegeben zu haben. Wie man in Syri- en, dieser höllenhaften Superdynamik, in der Regionalmächte, Möchtegern-­ Supermächte, müde gewordene Supermächte und ehemalige Kolonialmächte engagiert sind, über die Entscheidung zum Kampf hinaus eine gemeinsame Li- nie für das Ziel der Befriedung Syriens finden will, das bleibt einem allerdings auch rätselhaft, wenn man nicht Putin heißt. Für das 21. Jahrhundert der politischen, wirtschaftlichen und digitalen Ver- netzung ist der Dezisionismus die denkbar ungeeignete Politik-Art. Mit dem Angebot starker Lösungen erweckt er Ansprüche und riskiert damit ungeheure Frustrationen. Wenn die Flüchtlingskrise nicht sofort gelöst wird, dann sehen

28 IP • November / Dezember 2017 Viel hilft wenig

der Dezisionist und seine Anhänger gleich die Demokratie, das europäische Projekt, das gesamte Abendland in Gefahr. Der Dezisionist braucht den einen großen Hebel, der umzulegen, die eine Weiche, die zu stellen ist. Der Dynamismus hingegen kann per definitionem gar nicht davon ausge- hen, dass es dieses „eine“ gibt. Wo der Dezisionist einen riesigen Strom sieht, dem es etwas entgegenzusetzen gilt, sieht der Dynamist eine ganze Flussland- schaft, die sich aus vielen kleineren und größeren Rinnsalen, Bächen und Strömen zusammensetzt. Der Dynamist weiß, dass er Dynamiken nie völ- lig Einhalt gebieten wird. Aber er hofft, dass er sie mithilfe vieler, möglichst aufeinander abgestimmter Maßnahmen in etwas geord- Es ganz ordentlich netere Bahnen steuern kann. Im Dynamismus kommt es nicht auf machen in einer schnelles, sondern auf umfassendes, kooperatives und in die Zu- kunft gerichtetes Handeln an. Im Fall der Flüchtlingskrise heißt ­komplizierten Welt das: In enger Zusammenarbeit zwischen Kanzleramt und den Mi- nisterien des Inneren, des Auswärtigen, der Entwicklungszusammenarbeit, der Verteidigung, mit den Ländern, Kommunen, europäischen Nachbarn und Brüssel auf nationaler, europäischer und globaler Ebene Lösungen zu finden, von der Errichtung von Flüchtlingsheimen über die Einforderung europäi- scher Solidarität bis hin zu Ideen zur Beendigung des Syrien-Konflikts. Und das ist nur eine grobe Skizze. In einem neuen Realismus, wie ihn Bernd Ulrich vor zwei Wochen in der ZEIT einforderte, ginge es in der Tat nicht um einen konstruierten Gegensatz von Werten und Interessen. Es ginge darum, Dynamiken zu erkennen, Ansprü- che herunterzuschrauben, auf das Machbare zu verweisen, und, ja, auch dar- um, mit unappetitlichen und unvermeidlichen Partnern zu arbeiten, um etwas „Ordnung in die Dynamik zu bringen“. Nicht haltbar waren allerdings jene Ord- nungen, die durch wütende dezisionistische Eingriffe im Nahen und Mittleren Osten geschaffen wurden oder die arabische Autokraten unter allen Umstän- den zu bewahren versuchten. Haltbar sind nur solche Ordnungen, die flexibel genug sind, innere Dynamiken zu verkraften; Gesellschaftsverträge, die Teilha- be garantieren und Es-reicht-Momente überflüssig oder beherrschbar machen. Nicht das für ihre Verhältnisse eher kernige „Wir schaffen das“ ist die aus- schlaggebende Aussage der Chef-Dynamistin Angela Merkel. Sondern ihr im- mer wieder angebrachter Verweis, dass sie „keine Scheinlösungen“ anbieten wolle. Der in typischer Merkel-Manier formulierte Anspruch lautet: „Ich möch- te, dass man in einigen Jahren sagt: Die haben das ganz ordentlich gemacht in einer komplizierten Welt.“ Das nennt man heute Realismus. Jahrhundertelang galt eine Tat als großes Vorbild für das beherzte Lösen schwieriger Probleme: Alexanders des Großen machohaftes Durchschlagen des Gordischen Knotens. Niemand schien je auf den Gedanken gekommen zu sein, dass damit ein vielleicht noch brauchbares Seil zerschnitten und der Streitwa- gen des phrygischen Königs Gordon irreparabel beschädigt worden ist. Im 21. Jahrhundert ist eine weniger heldenhafte, vermutlich eher weibli- che Fähigkeit gefordert. Das geduldige Aufdröseln verzwackter Verknotungen.

Dieser Text erschien in der ZEIT vom 28. Dezember 2015.

IP • November / Dezember 2017 29 Vordenken und vermitteln

Mehr Marktplatz, weniger Papier Think Tanks sollten stärker den Dialog mit der breiteren Öffentlichkeit suchen

Sarah Brockmeier und Heiko Nitzschke | Außenpolitik hat Konjunktur. Das ­öffentliche Interesse an mehr Informationen und Austausch wächst. Des- halb sollten Experten aus Denkfabriken nicht nur Politiker und Ministe- rien beraten, sondern auch mit Bürgerinnen und Bürgern diskutieren – in modernen Formaten und mit verständlicher Sprache.

Eigentlich läuft das Geschäft gerade recht gut für die außenpolitische Commu- nity in Deutschland. Brexit, Donald Trump und zuletzt Nordkorea – außen- politische Ereignisse bewegen die Gemüter der Deutschen. Und mit Flucht, Migration und der Zukunft der EU standen auch im normalerweise außenpo- litisch inhaltsleeren bundesdeutschen Wahlkampf Themen im Grenzbereich zwischen Innen- und Außenpolitik auf der Agenda. Kurz gesagt: Außenpoli- tik hat Konjunktur. Davon profitieren unter anderem die zahlreichen Think Tanks in Deutschland, deren Analyse und Beratungsleistungen gefragt wer- den. Auch im Ausland wächst die Nachfrage nach „Deutschland-Erklärern“. Und doch besteht kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen. Denn die Kluft ist groß zwischen den Erwartungen an Deutschland in der Welt und der gestiegenen Bereitschaft, sich weltpolitisch zu engagieren auf der einen Seite und dem Rückhalt dafür in der Bevölkerung auf der anderen. 2016 sprachen sich laut einer Umfrage 53 Prozent der Deutschen für eine zurückhaltende Außenpolitik aus.1 Das zeigt den Legitimationsdruck auf alle Außenpolitiker.2 Hinzu kommt: Im Zeitalter von Fake News und der gezielten Beeinflussung der öffentlichen Meinung von außen drohen Fakten – auch zu internationa- len Ereignissen – zur Interpretationsfrage zu werden. Das kann die außenpo- litischen Experten nicht kalt lassen, zumal es um ihre Glaubwürdigkeit geht. Verlässliche Erhebungen gibt es hierzulande nicht, aber das Vertrauen in Ex- perten im Allgemeinen und in außenpolitische Experten im Besonderen dürf- te nicht viel höher sein als das in Journalisten oder Politiker. Diesen bringen

1 https://www.koerber-stiftung.de/fileadmin/user_upload/koerber-stiftung/redaktion/hand- lungsfeld_internationale-verstaendigung/sonderthemen/umfrage_aussenpolitik/2016/Koer- ber-Stiftung_Umfrage-Aussenpolitik-2016_Zusammenfassung.pdf. 2 Cornelius Adebahr: Wie kann Außenpolitik demokratischer werden? Aus Politik und Zeit- geschichte, 28–29/2016, S. 47.

30 IP • November / Dezember 2017 Mehr Marktplatz, weniger Papier

laut einer Umfrage des GfK-Vereins nur 36 beziehungsweise 14 Prozent der Deutschen grundsätzliches Vertrauen entgegen.3 Wer Vertrauen gewinnen möchte, muss Menschen erreichen. Und diejeni- gen, die eine stärkere außenpolitische Rolle Deutschlands wollen, müssen dazu ihren Beitrag leisten. Das gilt in erster Linie für das Parlament und die Regie- rung, aber auch für Experten für Außen- und Sicherheitspolitik in Deutsch- land – in Denkfabriken, Forschungsinstituten oder der organisierten Zivilge- sellschaft.4 Das wird ein anderes Selbstverständnis von Think Tanks erfordern: ein Umdenken zu Strategie und Zielen, zu Kommunikation, Formaten und Ziel- gruppen. Diese Herausforderung sollten sie annehmen.

Nachfrage und Angebot zum Dialog wachsen Das öffentliche Interesse an mehr Informationen und Austausch zur Außen- politik wächst. In einer repräsentativen Umfrage der Körber-Stiftung 2014 zur Einstellung der Deutschen zur Außenpolitik gaben 68 Prozent der Befragten ein „starkes“ oder „sehr starkes“ Interesse daran an. 2016 war dieses Interes- se auf 74 Prozent gestiegen.5 Auch auf der Angebotsseite hat es in den vergangenen Jahren Fortschritte gegeben. Das Auswärtige Amt sucht beispielsweise seit dem Review-2014-Pro- zess viel stärker den Dialog mit einer breiteren Öffentlichkeit und hat einen Beauftragten für strategische Kommunikation sowie ein eigenes Re- ferat zur Pflege des „Netzwerks Außenpolitik in Deutschland“ ein- Mehr erklären: Auch gesetzt. Neue Formate wie der „Open Situation Room“ unter Betei- Denkfabriken müssen ligung von Bürgerinnen und Bürgern, Bürgerwerkstätten und Ge- spräche von Diplomaten und Diplomatinnen in Schulen sollen die umdenken komplexen Abwägungsentscheidungen in der Außenpolitik erleb- bar und verständlich machen. Zentrales Leitmotiv ist dabei „nicht belehren, sondern erklären“. Wird Kommunikation mit der Öffentlichkeit also zur nor- malen Aufgabe im Auswärtigen Amt? Sicherlich gibt es dort noch Luft nach oben. Öffnung fällt nicht jedem leicht und erfordert ein Umdenken in einem bürokratischen System, in dem lange Zeit die Maxime galt, dass ausschließlich die Pressestelle für den Kontakt mit der Öffentlichkeit zuständig ist. Mit Blick auf die wachsende Kluft zwischen Gesellschaft und Staat in den USA plädieren Anne-Marie Slaughter und Ben Scott für eine Neuaufstellung der dortigen Think Tanks als „civic enterprises“.6 Die von ihnen vorgeschlage- ne direktere Bürgerbeteiligung an der Formulierung von Politikoptionen­ wird bei außenpolitischen Entscheidungen immer an Grenzen stoßen: Städtische Be- bauung, Energiewende oder Parkraumnutzung bieten einen größeren Raum für

3 http://www.gfk-verein.org/sites/default/files/medien/359/dokumente/pm_gfk_verein_ trust_in_professions_2016_de.pdf. 4 Siehe auch Almut Möller: A more democratic foreign policy, Note from Berlin, 22.10.2015, European Council on Foreign Relations. 5 S. Umfrage der Körber-Stiftung, a.a.O. (Anm. 1). 6 Anne-Marie Slaughter und Ben Scott: Rethinking the Think Tank: Why Washington’s stuf- fiest institutions need to reconnect with America, Washington Monthly, November/Dezem- ber 2015, S. 23–27.

IP • November / Dezember 2017 31 Vordenken und vermitteln

die tatsächliche Mitsprache von Bürgern als die Verhandlungen zum Iran-De- al oder die Friedensbemühungen in Syrien. Dennoch: Bürgerdialog heißt nicht nur Teilhabe an außen- und ­sicherheitspolitischen Entscheidungen, sondern vor allem diese verständlich darzustellen und sich einer echten Debatte zu stellen – gerade über reale Ziel- konflikte und normativen Dissens. Von den 31 Prozent Befragten, die sich 2014 entweder „weniger“ oder „gar nicht“ für Außenpolitik interessierten, gab fast die Hälfte als Grund an: „Weil Fragen der Außenpolitik zu kompli- ziert sind“.7 Hier können Experten in Think Tanks und Forschungsinstitutionen einen großen Mehrwert erbringen und den Dialog zu den Fragen suchen, die uns alle angehen sollten. Sie sollten sich in ihrer Beratung nicht mehr nur auf die Politik und ausgewählte Ministerien konzentrieren, sondern deutlich stär- Ergebnisse kurz und ker an die breitere Öffentlichkeit richten. Das heißt weniger unter knapp der Öffentlich- sich und in Expertenkreisen zu bleiben, besser zu kommunizieren und neue Formate auszuprobieren. Es bedeutet zudem, den eigenen keit präsentieren Erfolg nicht nur daran zu messen, wie viele der eigenen Vorschlä- ge von Politikern umgesetzt werden, sondern auch am Einfluss auf den öffentlichen Diskurs und die Meinungen der deutschen Bürger. Denkfab- riken müssten Bürger genauso als Zielgruppe für ihre Beratung verstehen wie die Politik, so fassten es vor Kurzem Daniel Bessner und Stephen Wertheim in einem Artikel der Zeitschrift Foreign ­Affairs zusammen.8 Für viele Denkfabri- ken heißt das nicht weniger, als ihr eigenes Selbstverständnis zu überarbeiten.

Tweet statt Tweed: besser kommunizieren Was bedeutet dies in der Praxis? Erstens sollten Experten die Ergebnisse ihrer Arbeit besser kommunizieren. Zwar haben in den vergangenen Jahren deut- sche Think Tanks die sozialen Medien entdeckt. Doch werden immer noch zu viele interessante Erkenntnisse auf Seite 34 der letzten Studie vergraben, die ohnehin nur von einer überschaubaren Leserschaft konsumiert wird. Öf- ter die eigenen Ergebnisse in klarer Sprache auf einer halben Seite oder einem Blog zusammenfassen; sich zwingen, die eigene Forschung auch mal auf ein bis drei Tweets zu verkürzen, um Lust auf mehr zu machen; stärker mit Gra- fiken und interaktiven Formaten der Datenaufbereitung arbeiten – das wäre hilfreich für den außenpolitischen Diskurs in Deutschland. Das muss nicht mit einem Verlust an wissenschaftlicher Seriosität einherge- hen, wie manche hier einwerfen mögen. Roderich Kiesewetter, Andreas Nick und Michael Vietz beklagen zu Recht in dieser Zeitschrift, der „Wunsch einer breiteren Öffentlichkeit, auf immer komplexere Sachverhalte immer einfache- re Erklärungen zu finden, ist schwierig zu bedienen“.9 Das bietet Populisten und Stimmungsmachern mit scheinbar einfachen Schwarz-Weiß-Lösungen ei-

7 Umfrage der Körber-Stiftung 2014, a.a.O. (Anm. 1). 8 Daniel Bessner und Stephen Wertheim: Democratizing U.S. Foreign Policy. Bringing Experts and the Public Back Together, Foreign Affairs, 5.4.2017. 9 Roderich Kiesewetter, Andreas Nick und Michael Vietz: Erklären, was wir außenpolitisch wollen. Zur Rolle des Parlaments in der strategischen Kultur, IP Juli/August 2017, S. 30–33.

32 IP • November / Dezember 2017 Mehr Marktplatz, weniger Papier

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Nicht nur Politiker, nen fruchtbaren Boden. Nur weil ein Sachverhalt komplex ist, muss er nicht auch Wissenschaft- ler müssen mit der unverständlich sein. Das erfordert aber die Fähigkeit, vielschichtige Inhalte in Bevölkerung viel verständliche Sprache zu gießen. mehr über außen- Auch wo die eigenen Ergebnisse und Meinungen veröffentlicht werden, politische Themen kann einen Unterschied machen. Experten sollten nicht nur in traditionel- sprechen. Außen- minister Sigmar len Medien publizieren, sondern sich auch mal mit einem Pod­cast-Host oder Gabriel beim „Tag 16-jährigen Youtuber treffen, in Facebook-Live-Chats mit ganz anderen Mei- der offenen Tür“ nungen konfrontiert werden und sich stärker mit Diskursen in Zeitungen oder Online-Foren auseinandersetzen, denen man sonst lieber aus dem Weg geht. Zugegeben, das entspricht nun gar nicht dem Bild des tweedbefrackten Wissenschaftlers im stillen Kämmerlein. Und nicht jeder Experte ist ein ge- borener Kommunikator. Wenn aber ein großer Teil der öffentlichen Debatte in neuen Foren und neuen Medien stattfindet, dann müssen sich auch Think Tanks anpassen. Das gilt, zweitens, ebenso für die Formate und die Ortswahl von Veranstal- tungen. Zwar verfügen einzelne Think Tanks wie die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik bereits über Regionalforen, doch besteht zwischen der Hauptstadt und dem Rest des Landes immer noch ein großes Ungleichgewicht im Angebot. Das muss sich auch nicht grundsätzlich ändern. Dennoch zeigt die Nachfrage nach Veranstaltungen in kleineren und mittleren Städten im- mer wieder den hohen Bedarf, außenpolitische Themen auch außerhalb der Berliner „Bubble“ zu diskutieren. Das erleben deutsche Botschafterinnen und Botschafter, wenn sie sich im Rahmen von Townhall-Meetings zum Thema „Außenpolitik live – Diplomaten im Dialog“ in ganz Deutschland moderierten Diskussionen mit dem Publikum stellen. Die Diplomaten schätzen den manch- mal hitzigen Austausch stets als wichtigen „reality check“.

IP • November / Dezember 2017 33 Vordenken und vermitteln

Warum sind gefühlte 98 Prozent der außenpolitischen Veranstaltungen im- mer noch Podiumsdiskussionen, bei denen zwei bis sechs überwiegend männ- liche Experten ihre Meinungen austauschen und keine Zeit für Diskussionen bleibt? Das ist natürlich überspitzt, aber im Ernst: Warum nicht Außenpolitik darf öfter in Gruppendiskussionen Bürger und Experten ins Gespräch nicht nur in Berlin bringen, in Workshop- und Werkstatt-Formaten Empfehlungen durch die Teilnehmer entwickeln lassen und andere Formate wie ­diskutiert werden den „Open Situation Room“ ausprobieren? Ein Ergebnis des „De- mocracy Lab“ der Süddeutschen Zeitung, die kürzlich mit Bürgern in ganz Deutschland eine Bandbreite an Themen in verschiedensten Formaten diskutiert hat, war, dass die Zufriedenheit der Teilnehmer stieg, je mehr sie sich selber in die Diskussion einbringen konnten.10

Alternativen und Politikoptionen herausarbeiten Der Expertenblase in der Hauptstadt zu entkommen, kann zugleich den Rest der Arbeit des Think Tankers verbessern. Wer die Wähler eines Abgeordneten getroffen hat, kann womöglich dabei helfen, Politikempfehlungen so zu formu- lieren, dass sie überzeugen. Wer sich öfter mit extremen Positionen konfron- tiert sieht, lernt vielleicht, besser mit Verschwörungstheorien oder Lügen um- zugehen. Nebenbei können solche Unterhaltungen dazu beitragen, das Miss- trauen gegenüber Experten zu reduzieren und zu erklären, was ein Think Tank überhaupt macht. Hierzu können sich Denkfabriken, drittens, stärker darum bemühen, Poli- tikoptionen und Alternativen aufzubereiten und zu kommunizieren. Das käme nicht nur der Politik zugute, die zu oft in Pfadabhängigkeiten denkt. Um eine echte Diskussion zu fördern, ist das Aufzeigen von Alternativen wichtig, das Durchdeklinieren von Optionen und all ihren Konsequenzen. Zu oft werden in außenpolitischen Expertenkreisen bestimmte Alternativen von vornherein ausgeklammert. Und die angebliche Alternativlosigkeit spielt den Stimmungs- machern in die Hände. Was wären die Folgen eines Zerfalls der EU? Einer an- deren Russland-Politik? Eine nüchterne Debatte über die daraus resultieren- den Kosten für Deutschland könnte den einen oder anderen Stimmungswan- del befördern. Think Tanks brauchen in solchen Debatten nicht ausschließ- lich als Meinungsgeber auftreten, sondern stärker als bisher als Moderatoren und Facilitatoren, die auch Wahrnehmungen aus anderen Ländern in deutsche Debatten tragen können. All das bedeutet, viertens, ein stärkeres Engagement von Experten in Think Tanks und Forschung in der Bildungsarbeit – nicht in Konkurrenz zu bestehen- den Institutionen wie der Bundeszentrale für Politische Bildung (bpb) und ih- ren Pendants auf Landesebene, sondern in gezielter Ergänzung und Koopera­ tion. Die vom Bundestags-Unterausschuss für zivile Krisenprävention initiierte bpb-Ausstellung „Frieden machen“ ist ein gutes Beispiel. Des Weiteren sind die politischen Stiftungen und zahlreiche Nichtregierungsorganisationen im wei-

10 http://gfx.sueddeutsche.de/apps/e442481/www/. 11 : Neuvermessungen, Köln 2017, S. 83

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testen Sinne zu auswärtigen Themen in der Bildungsarbeit engagiert. Doch lebt dieses Engagement nicht zuletzt von der Bereitschaft der Praktiker und Exper- ten, sich am Dialog zu beteiligen. Die politische Bildung braucht für gute Arbeit Experten aus der Praxis, der Wissenschaft und von Think Tanks, die mitma- chen – zu Veranstaltungen gehen und mitdiskutieren, ihr inhaltlich zur Seite stehen und neue Anstöße geben. Mehr außenpolitische Experten, die in Schulen auftreten oder in Ortsvereinen und Kreisverbänden von Parteien für Diskussio- nen zur Verfügung stehen, könnten diese Bildungsarbeit stärken und erweitern.

Anreizstrukturen ändern Wenn sich Think Tanks von der reinen Expertenberatung für Ministerien und Bundestag hin zu mehr Debatten mit der breiteren Gesellschaft orientieren, hat das letztendlich nicht nur Konsequenzen für ihr Selbstverständnis, sondern auch für ihre Arbeitsweise und Finanzierung. Das fängt damit an, auch in ihrer Personalzusammensetzung stärker die gesellschaftli- Neue Maßstäbe für che Vielfalt in Deutschland abzubilden. Die Anreizstrukturen und staatliche und private Definitionen von Erfolg müssen sich ändern. Als Kriterien für Fi- nanzierung – ob von staatlicher Seite oder durch private Stiftungen Finanzierung setzen – sollten neben Veröffentlichungen und Expertenveranstaltungen auch die Teilnahme an Diskussionen im Ortsverein, die Moderation von Bürger- diskussionen oder ein Kreis von Twitter-Follower über die üblichen Verdächti- gen hinaus zählen. Das wird in der deutschen Forschungsförderung, aber auch seitens staatlicher Institutionen ein Umdenken erfordern. Vorreiter könnten die privaten und politischen Stiftungen werden, die sich die Förderung des ge- sellschaftlichen Dialogs auf die Fahnen geschrieben haben. Die primäre Rolle von Think Tanks und außenpolitischen Experten wird auch weiterhin das Bereitstellen von Expertise und Politikoptionen für Entschei- der in Parlament und Regierung bleiben. Dennoch wird der Dialog mit der brei- teren Öffentlichkeit auch für sie immer mehr zu einer Legitimations- oder zu- mindest Akzeptanzfrage werden. Deutschland könne sich nicht abschotten von den Problemen dieser Welt, argumentiert Außenminister Sigmar Gabriel, „aber wenn wir unsere neue Rolle in der Welt nicht definieren und unsere Bürgerinnen und Bürger nicht für diese neue Rolle gewinnen, ist unsere Zukunft gefährdet“.11 Wenn die außen- und sicherheitspolitische Community zu diesem Verständi- gungs- und Aushandlungsprozess einen Beitrag leisten will, dann muss sie den Dialog außerhalb der eigenen Kreise suchen. Das Motto für die Think Tanks in Deutschland muss sein: Raus aus den Experten-Echokammern und hin auf die Marktplätze der öffentlichen Meinungen!

Sarah Brockmeier ist Projektmanagerin beim Global Public ­Policy Institute (GPPi) in Berlin. Heiko Nitzschke ist Forschungsbeauftragter im Planungsstab des Auswärtigen Amtes. Er gibt hier seine persönliche Meinung wieder.

IP • November / Dezember 2017 35 © picture alliance

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Anhänger des russischen Präsidenten am Rande einer Militärparade in Belgrad, Oktober 2014 © picture alliance

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EndeVerdeckte einer Offensive Ordnung SubheadDie Aufschlagimmer weitere Ic tem Ausbreitung voluptat laborae der liberalen eos net Demokratie ariam, sed exgalt elenisquides lange als Naturgesetz. maion pos aspeDazu conserum ist es nicht quod gekommen; ut hario. Comniminctemvielmehr sind autokratische quis vent ma Regimes imil eat mo zum id Gegenangriff quid earibus übergegangenque cor mo blaut und audipicuntergraben te volorior aktiv densi voluptati Zusammenhalt reius, consed freiheitlicher quatque Staaten. estiur? Verdeckte Offensive

Autokraten auf dem Vormarsch Wie Demokratien auf illiberale Einflussnahme reagieren sollten

Thorsten Benner | Autoritäre Staaten versuchen verstärkt, auf liberale De- mokratien Einfluss zu nehmen. Dabei profitieren sie von willigen Helfern in Unternehmen, Finanzdienstleistern, PR- und Lobbyfirmen sowie der Zivilgesellschaft. Offene Gesellschaften sollten voneinander lernen, wie man Einflusskanäle beschränken kann, ohne die eigenen Werte zu verraten.

In den ersten 20 Jahren nach dem von China, der Türkei und anderen Ende des Kalten Krieges war interna­ Staaten in Asien, Afrika und dem tionale Einflussnahme eine Einbahn­ Mittleren Osten. Viele westliche De­ straße: Sie ging von liberalen Demo­ mokratien waren schon Ziel solcher kratien aus, die ihr Regierungsmo­ Aktivitäten. Dabei geht es nicht nur dell weltweit zu verbreiten suchten. um Einmischung in politische Fra­ Dank dieser Demokratieförderung, gen und um Propaganda­programme, so die Annahme, würden autoritäre sondern auch um Einflussnahme mit­ Systeme auf dem Müllhaufen der Ge­ hilfe von politischen Parteien, Nicht­ schichte landen. regierungsorganisationen und Unter­ Seit einigen Jahren erleben wir nehmen. eine Schubumkehr. Nicht nur ha­ Manche Methoden erinnern an ben sich autoritäre Systeme als wi­ die Zeit des Kalten Krieges – wie derstandsfähig erwiesen; sie versu­ „Kompromat“, die Veröffentlichung chen inzwischen in immer größerem von kompromittierendem und mög­ Maße, ihrerseits auf westliche De­ licherweise gefälschtem Material. mokratien Einfluss zu nehmen. Da­ Doch heute verfügen autoritäre Staa­ mit wollten sie das eigene Regime ten über weitaus mehr Instrumente, stärken, die Anziehungskraft libera­ da ihre Eliten und Institutionen eng ler Staaten schwächen und die Welt mit westlichen Volkswirtschaften in eine illiberalere Richtung drängen. verknüpft sind. Zur Verbreitung ih­ Russlands kühner Versuch, die rer Inhalte können sie an den etab­ Präsidentschaftswahlen 2016 in den lierten westlichen Medien vorbei di­ Vereinigten Staaten zu manipulie­ gitale Mechanismen nutzen. Die po­ ren, passt in dieses Muster. Autori­ litischen Schwächen demokratischer täre Einflussnahme geht aber nicht Systeme, ihre Offenheit für ausländi­ nur von Russland aus, sondern auch sche Ideen und Gelder und die Gier,

38 IP • November / Dezember 2017 Autokraten auf dem Vormarsch

mit der manche Vertreter der wirt­ Übergriffe in „ihre“ Interessensphä­ schaftlichen Elite von illiberalen ren zu verhindern. Kunden profitieren, ebnen autoritä­ Eine zweite Motivation autoritä­ ren Regimen dabei den Weg. rer Regime besteht darin, ihre Macht­ Schon immer haben Staaten ver­ position zu stärken. Westliche Ge­ sucht, sich gegenseitig zu beeinflus­ sellschaften sollen zu sicheren Häfen sen, auch Demokratien. Manche für die eigenen Interessen Länder mögen es sogar nur gerecht werden, wobei man auch Autokratien fühlen finden, dass den westlichen Demo­ auf Netzwerke in Politik sich westlicher Feind- kratien nun „mit gleicher Münze“ und Wirtschaft zurück­ heimgezahlt wird. Doch die Verfech­ greift. Das gilt insbeson­ seligkeit ausgesetzt ter offener Gesellschaften haben dere für Staaten, deren gute Gründe, sich Sorgen zu machen. Eliten sich durch illegale Einnahmen Denn autoritäre Einflussnahme kann aus dem Verkauf von Rohstoffen be­ liberale Staaten schwächen, autoritä­ reichern – wie in Angola, wo die Eli­ re Herrschaft in illiberalen Systemen ten von westlichem Kapital enorm verfestigen und Gesellschaften von profitieren. ihrem Weg in die Demokratisierung Autokraten bezahlen Banker, abbringen. Das lässt sich zum Bei­ Buchhalter und Bilanzprüfer, um spiel auf dem Balkan beobachten, wo Geldwäsche zu betreiben. Sie umwer­ Russland versucht, Montenegro und ben Politiker, die bereit sind, sich für andere Staaten zu destabilisieren. sie einzusetzen. Sie beauftragen west­ liche PR-Unternehmen, um ihr Image Die eigene Machtposition stärken aufzubessern, Anwälte aus dem Wes­ Was alle autoritären Bemühungen ten, um Verleumdungsklagen gegen um Einflussnahme verbindet, ist die Kritiker einzureichen, und westliche Wahrnehmung, dass das Schicksal Immobilienfirmen, um unrechtmäßig ihrer Regime maßgeblich davon ab­ erworbene Gelder in legale Werte um­ hängt, wie demokratische Staaten ih­ zuwandeln. Sollte die Lage für Auto­ nen begegnen. Autokratien fühlen kraten brenzlig werden, dann können sich westlicher Feindseligkeit aus­ ausländische Immobilien, Bankkon­ gesetzt. Die primäre Motivation für ten und Pässe den Zugang zum Wes­ Einflussnahme ist defensiv. Autokra­ ten erleichtern. tien streben nach mehr Einfluss in li­ Die Politikwissenschaftler Ale­x­ beralen Demokratien, um westliche ander Cooley und John Heathershaw Versuche der Delegitimierung zu un­ haben beschrieben, wie wichtig sol­ terlaufen und ihr eigenes Überleben che Dienste für Autokraten in Zent­ zu sichern. Autoritäre Regime arbei­ ralasien sind: Sie tragen dazu bei, ihre ten daran, Demokratieförderung, die Legitimität gegenüber dem Ausland Unterstützung von Dissidenten und zu erhöhen und die Herrschaft da­ Sanktionen zu verhindern. Sowohl heim zu sichern. Eine Untersuchung kleine als auch große autoritäre Län­ von amerikanischen und europäi­ der wollen sich einen Schutzschild er­ schen Medien hat gezeigt, dass aser­ richten, indem sie Einfluss im Westen baidschanische Eliten zwischen 2012 nehmen. Großmächte wie China und und 2014 rund 2,9 Milliarden Dollar Russland versuchen zudem, westliche für persönliche Zahlungen, Geldwä­

IP • November / Dezember 2017 39 Verdeckte Offensive

sche und den Kauf von Luxusgütern gehen gegen die Freiheit des Inter­ in Europa verwandt haben. nets zu decken. Westlichen Wissen­ Schließlich wollen manche auto­ schaftsverlagen wie der Cambridge ritären Staaten auch mehr Einfluss University Press versucht China, sei­ nehmen, um die globale Ordnung ins­ ne harten Zensurbestimmungen auf­ gesamt in eine illiberalere zuzwingen. Dagegen hat die Volksre­ Russland und China Richtung zu wenden. Zu publik bislang wenig Interesse an ei­ haben in der EU ihren Angriffszielen ge­ ner Destabilisierung anderer Staaten hören nationale Institu­ gezeigt. Vielmehr versucht Peking, ein gegensätzliche Ziele tionen westlicher Staa­ positives Image des Landes und seiner ten ebenso wie interna­ Einparteienherrschaft in der westli­ tionale Organisationen wie die UN, chen Öffentlichkeit zu fördern. Im die EU und die NATO. So versucht Gegensatz zu Russland verfolgt Chi­ Russland, westliche Gesellschaften na wirtschaftliche Interessen, für die und Regierungen zu spalten und das eine stabile, wenn auch nachgiebige Vertrauen in liberale Demokratien zu und uneinige EU nützlich ist. untergraben, indem es Institutionen und Amtsträger diskreditiert. Letzt­ Öffentliche Meinung beeinflussen lich sollen auf diese Weise die westli­ Autoritäre Einflussnahme spielt sich chen Regierungen so geschwächt wer­ vor allem in drei Bereichen ab: der öf­ den, dass sie Russland gegenüber kei­ fentlichen Meinung, den politischen ne Macht mehr ausüben können oder Parteien und der Wirtschaft. Zum wollen. ersten Bereich gehören auch die In­ Viele dieser Bemühungen sind stitutionen, die die öffentliche Mei­ eher pragmatischer als ideologischer nung prägen und verbreiten: Medi­ Natur: So ist der Kreml überzeugt, en, Nichtregierungsorganisationen, dass er die Europäische Union blo­ Think Tanks und Universitäten. ckieren muss, um den russischen Ein­ Einige autoritäre Regierungen fluss in Ost- und Mitteleuropa zu er­ haben westliche Medienunterneh­ halten. Insofern ist es für die russi­ men aufgekauft; ein Beispiel dafür ist sche Machtelite in erster Linie Mittel ­Angola, das auf diese Weise Einfluss zum Zweck, wenn sie die Botschaft auf Portugal nimmt. Zudem verbrei­ verbreitet, dass Russland die westli­ ten autoritäre Staaten ihre Weltan­ che Zivilisation gegen kulturelle De­ schauungen auch über eigene Fern­ kadenz verteidigt. Dabei sollte man sehsender im Westen, so wie Russ­ jedoch die ideologische Affinität vie­ land mit RT und China mit CGTN. ler rechtsnationalistischer Bewegun­ Zu solchen Fernsehprogrammen ge­ gen in Europa nicht unterschätzen. hören natürlich Nachrichten; aber Die Regierung in China konzen­ auch (insbesondere bei den russi­ triert sich auf hartes Durchgreifen schen TV-Sendern) Lügen und Ge­ gegen westliche Ideen im eigenen rüchte, die über soziale Medien noch Land und verbreitet auf aggressive weiter gestreut werden. Art und Weise autoritäre Normen Einflussnahme kann ebenso die in internationalen Institutionen. So Form von Medienpartnerschaften nutzt sie beispielsweise die Interna­ annehmen. Ein prominentes Beispiel tionale Fernmeldeunion, um ihr Vor­ ist die Kooperation zwischen priva­

40 IP • November / Dezember 2017 Autokraten auf dem Vormarsch

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Ein Teil des Versuchs, ten australischen Medien und chine­ tion. 2016 unterstützten sie auch den die öffentliche Mei- nung in anderen sischen Staatsmedien, die während ei­ Aufbau eines neuen Think Tanks in Staaten zu prägen: nes Besuchs des chinesischen Propa­ Berlin, des Dialogue of Civilizations Start des China Glo- gandachefs Liu Qibao 2016 in Sydney Research Institute. Die Golf-Staaten bal Television Net- beschlossen wurde. Sie führte dazu, haben erhebliche Summen an Think work (CGTN) mit den Politbüro-Mitglie- dass australische Zeitungen eine eng­ Tanks in Washington gezahlt. dern Liu Yandong, lischsprachige Beilage der kommu­ Auch durch Zuwendungen an Liu Yun­shan und nistischen China Daily veröffentlich­ Universitäten versuchen Staaten, sich Liu Qibao (v.li.) am ten. Solche Maßnahmen dienen der Ansehen zu verschaffen. Der bekann­ 31. Dezember 2016 vom chinesischen Staatspräsiden­ teste Fall betrifft wohl die Spenden ten Xi Jinping vorgegebenen Richtli­ des Regimes von Muammar al-Gad­ nie, Chinas internationalen Einfluss dafi an die London School of Econo­ durch „Propaganda in ausländischen mics vor knapp zehn Jahren. Zuwen­ Leitmedien“ zu stärken. dungen von Staaten oder staatsnahen China lässt Think Tanks umfang­ Gruppen aus China, Katar, Russland reiche Zuwendungen zukommen. Im und Saudi-Arabien gehören mittler­ Jahr 2014 spendeten wohlhabende, weile zum Alltag von Universitäten, der Kommunistischen Partei nahe­ gerade wenn es für sie (besonders in stehende Unternehmer außerdem 2,2 Großbritannien) immer schwieriger Millionen Dollar für die Gründung wird, ausreichend öffentliche Förde­ eines Think Tanks in Sydney, des rung zu erhalten. Manchmal wird Australia-China Relations Institute. mit solchen Geldern echte Lobbyar­ Kremlnahe Sponsoren haben Gelder beit für autoritäre Staaten finanziert, für Organisationen mit Sitz in Paris manchmal geht es darum, die Kritik bereitgestellt, zum Beispiel für das gegenüber autoritären Staaten zu­ ­Institute of Democracy and Coopera­ gunsten einer Haltung der normati­

IP • November / Dezember 2017 41 Verdeckte Offensive

ven Äquidistanz zurückzufahren. So China-Experte Christopher Johnson spricht die von einem Oligarchen fi­ der Financial Times, China richte sei­ nanzierte Oxford Blavatnik School of ne Bemühungen darauf, „bestimmte Government nur von „besserer Re­ Leute an der politischen Basis westli­ gierungsführung“ und nicht mehr cher Demokratien zu gewinnen und von liberaler Demokratie und offe­ ihnen dann zu helfen, einflussreiche ner Gesellschaft.­ Positionen zu erreichen“. Politische Parteien bilden den Journalisten in Frankreich haben zweiten Bereich, in dem autoritä­ darüber hinaus berichtet, dass die re Staaten Einfluss nehmen wollen. Partei des ehemaligen Staatspräsiden­ Manche autoritären Systeme unter­ ten Nicolas Sarkozy, die Union pour stützen sympathisieren­ un Mouvement Populaire, im Wahl­ Mit dem Hafen von de Organisationen und kampf 2007 illegale Unterstützung Piräus hat sich China Politiker direkt. So pflegt aus Libyen und Katar erhalten habe; Russland enge Beziehun­ eine Untersuchung ist im Gange. Zugang erkauft gen zu rechten Gruppie­ rungen in Europa, sofern Ganz normale Kunden sie nützlich erscheinen, auch wenn es Der dritte Bereich, den autoritäre sie nicht selbst gegründet hat. Rechts­ Staaten zur Einflussnahme nutzen, ist extreme Parteien wie der französi­ die Wirtschaft. Ihre Regierungen in­ sche Front National und der unga­ vestieren in wichtige Sektoren, nicht rische Jobbik haben Finanzhilfen nur um Gewinne zu erzielen, sondern aus Russland erhalten. Der Kreml auch, um politischen Druck ausüben hat auch die rechtsgerichtete Alter­ zu können. Ein Beispiel sind die chi­ native für Deutschland politisch ge­ nesischen Investitionen in die griechi­ stärkt und Kooperationsverträge mit sche Infrastruktur. In den vergange­ der österreichischen Freiheitlichen nen Jahren hat Peking dem überschul­ Partei und Italiens Lega Nord unter­ deten Land mit einer Großinvestition zeichnet. in den Hafen von Piräus, dem größ­ China beschränkt sich nicht auf ten Griechenlands, einen finanziellen ideologisch nahestehende ­Parteien. Rettungsanker geboten. Peking will auch die etablierten Par­ Diese Investition ordnete sich teien beeinflussen, damit sie für eine auch in den Rahmen des von China Politik eintreten, die den chinesi­ verkündeten Infrastrukturprojekts schen Interessen dient. In diesem der Neuen Seidenstraße ein. Tatsäch­ Jahr kam es in Australien zu einem lich verschaffte sie den Chinesen Zu­ Eklat, weil australisch-chinesische gang zu wichtigen Entscheidungsträ­ Geschäftsleute, die der Kommunis­ gern in Griechenland. Dies eröffnet tischen Partei nahestehen, die wich­ auch Möglichkeiten zur Beeinflus­ tigsten Parteien des Landes mit Zu­ sung der europäischen Außenpoli­ wendungen in Millionenhöhe bedacht tik, da die griechischen EU-Vertreter hatten. In Neuseeland wurde jüngst natürlicherweise die Interessen der ein Abgeordneter überprüft, der in Hauptinvestoren ihres Landes mit­ China geboren und dort an einer Ge­ berücksichtigen. Ein weiteres Beispiel heimdienstakademie ausgebildet wor­ ist Angolas Ankauf von Mehrheitsbe­ den war. Über diesen Fall sagte der teiligungen an portugiesischen Ban­

42 IP • November / Dezember 2017 Autokraten auf dem Vormarsch

ken während der Finanzkrise, was de Russen Firmen in London als Nie­ der Volksrepublik privilegierten Zu­ derlassungen genutzt und die Stadt gang zu hochrangigen Politikern in nicht nur zu einer Hochburg für die Portugal verschaffte. Ausbildung ihrer Kinder, Ressourcenreiche Staaten ver­ sondern auch zu einem Lobbyisten ebnen trauen darauf, dass Erdöl- und Berg­ Zentrum für Geldwäsche Wege in westliche bauunternehmen westliche Entschei­ gemacht. Viele der noch dungsträger in ihrem Sinne beein­ nicht offengelegten Bezie­ Volkswirtschaften flussen. Auch ohne direkte Beteili­ hungen zwischen Russ­ gungen kann schon die Abhängigkeit land und der Präsidentschaftskam­ eines Unternehmens oder Sektors von pagne Donald Trumps basieren auf autokratischen Kunden die nationa­ wirtschaftlichen Interessen der Pu­ le Politik prägen. So errichtete Russ­ tin-Kleptokratie. land in Ungarn zwei Atomkraftwer­ Westliche Dienstleister behandeln ke. Dies dürfte dazu beigetragen ha­ Autokraten wie jeden anderen Kun­ ben, dass Präsident Putin in Ungarn den. Ihre Beziehungen gründen we­ auf freundliches Verständnis zählen niger auf ideologischen Vorstellun­ konnte – und das in einem Land, in gen, sondern auf gemeinsamen In­ dem die meisten Menschen über lan­ teressen: Die Unternehmer wollen ge Zeit hinweg Russland misstrauten. Geschäfte machen; ihre Kunden er­ Die größten Gefahren autoritärer halten Dienstleistungen und es eröff­ Einflussnahme in westlichen Volks­ nen sich ihnen neue Zugänge. wirtschaften gehen jedoch von Ge­ schäftsleuten aus, die von den Auf­ Neue Machtstrukturen trägen solcher Regime abhängig sind. Es sind nicht die spektakulären Akti­ Banker, Immobilienhändler, Finanz­ onen wie die russische Einmischung dienstleister, Anwälte, Bilanzprüfer, in den amerikanischen Wahlkampf PR- und Lobbyfirmen stellen Au­ 2016, die die größte Wirkung zeigen. tokraten nur zu gerne ihre Dienste Am erfolgreichsten sind vielmehr zur Verfügung. Diese Entwicklung jene Machtstrukturen, die Autokra­ ist vielerorts zu beobachten – nicht tien langfristig durch politische und nur in London, wo sie gut dokumen­ wirtschaftliche Investitionen aufge­ tiert ist, sondern in jeder westlichen baut haben. Ein Beispiel dafür liefer­ Hauptstadt. Das gilt auch für Wa­ te die EU im vergangenen Jahr, als shington, wo Lobbyisten wie Paul sie es nicht schaffte, sich auf eine ge­ Manafort und die Podesta-Gruppe meinsame Erklärung zu verständi­ im Auftrag des ehemaligen ukraini­ gen, die die Rolle Chinas in den Kon­ schen Präsidenten und Putin-Verbün­ flikten im Südchinesischen Meer ver­ deten Viktor Janukowitsch gearbeitet urteilt hätte. Ungarn und Griechen­ haben. land, zwei Länder, in denen China Solche Lobbyisten vertreten die umfangreich investiert hat, lehnten Interessen von autoritären Regimen einen scharf formulierten Entwurf und ihrer Eliten, indem sie ihnen Zu­ anderer EU-Staaten ab. In ähnlicher gang zu einflussreichen Personen ver­ Weise blockierte im Juni dieses Jah­ schaffen und ihren Ruf verbessern. res die griechische Regierung eine Auf diese Weise haben wohlhaben­ Stellungnahme der EU, mit der Men­

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schenrechtsverletzungen in China trumentalisieren. So hat Moskau Tei­ verurteilt werden sollten. le der russlanddeutschen Bevölkerung Einflusskanäle können auch hel­ in Deutschland mit der Geschichte fen, das Prestige autoritärer Regime von Lisa, einer jungen Russlanddeut­ zu stärken. Davon haben Russland schen, mobilisiert, die vorgab, von und China profitiert, aber Flüchtlingen vergewaltigt worden zu Katar nahm Einfluss auch Katar. Die Regierung sein. Auch der türkische Präsident Er­ auf die französische in Doha nahm deutlichen dogan versucht immer wieder, die tür­ Einfluss auf Frankreichs kischsprachige Gemeinschaft in Euro­ Nahost-Politik Nahost-Politik: Sie setzte pa gegen ihre Regierungen aufzubrin­ günstigere Regeln für aus­ gen und für seine autoritären Zwecke ländische Direktinvestitionen durch, zu instrumentalisieren. weitete ihren Einfluss in den franzö­ All dies gibt natürlich Anlass zur sischen Vorstädten aus und konnte Sorge. Zugleich kann man aber auch mehrere prestigeträchtige Übernah­ feststellen, dass viele Versuche der men verkünden, zum Beispiel die des Einflussnahme erfolglos bleiben, und Fußballvereins Paris St. Germain. zwar häufig deswegen, weil sie nach Um westliche Gesellschaften in hinten losgehen. Katars Nähe zum da­ Richtung Illiberalität zu drängen, maligen französischen Staatspräsi­ versuchen ausländische Regime be­ denten Nicolas Sarkozy und die Vor­ vorzugt solche Entwicklungen in der teile, die dem Golf-Staat daraus er­ Innenpolitik zu verstärken, die das wuchsen, führten dazu, dass die fran­ Vertrauen in die liberale Demokratie zösischen Medien ihre investigative bereits untergraben. Wenn westliche Berichterstattung verstärkten. Katar Eliten mit dem Vorwurf konfrontiert wurde dadurch zum schwarzen Schaf werden, sie seien käuflich (wie der für die französische Öffentlichkeit. ehemalige Bundeskanzler Gerhard Das unverhohlene Machtstreben Schröder, der Ende September zum Angolas im krisengeschüttelten Por­ Aufsichtsratsvorsitzenden des russi­ tugal hatte ein juristisches Nach­ schen Ölkonzerns Rosneft gewählt spiel. Ab 2012 brachten portugiesi­ wurde), stärkt dies den Verdacht, dass sche Staatsanwälte zahlreiche Fälle das Führungspersonal in Demokrati­ ans Licht, in denen angolanische Oli­ en auch nicht tugendhafter sei als die garchen dank portugiesischer Kom­ Eliten kleptokratischer Systeme. plizen Geldwäsche betrieben hatten. Aktives Eingreifen, wie die rus­ Und trotz aller Bemühungen Moskaus sische Einmischung in die Präsident­ um enge Beziehungen zu deutschen schaftswahlen in den USA, kann eine Unternehmen und Politikern trat die bereits bestehende politische Polari­ Bundesregierung dafür ein, wegen sierung noch verschärfen. Die Propa­ der Krim-Annexion und des Krieges ganda von Sendern wie RT fällt näm­ in der Ostukraine Sanktionen gegen lich bei jenen Zuschauern auf be­ Russland zu verhängen. sonders fruchtbaren Boden, die den Auch die russischen Eingriffe in etablierten Medien ohnehin schon die US-Wahlen 2016 hatten unbeab­ misstrauen. In diesem Zusammen­ sichtigte Nebenwirkungen. Diese wa­ hang versuchen autoritäre Staaten ren zunächst positiv für Russland, da auch, ethnische Minderheiten zu ins­ Trumps Entscheidungen – etwa die

44 IP • November / Dezember 2017 Autokraten auf dem Vormarsch

Einmischung Russlands nicht konse­ sein, einige Kanäle der autoritären quent zu verfolgen – einen Keil zwi­ Einflussnahme zu schließen, zugleich schen den neuen Präsidenten und aber die Offenheit von Demokratien seine Geheimdienste trieben. Doch zu bewahren. mittlerweile überwiegen die Nach­ Denn für liberale Staaten ist es teile durch Gegenreaktionen in der wichtig, dass sie sich nicht aus Furcht Demokratischen Partei und von gro­ vor Einflüssen von außen selbst zu ge­ ßen Teilen des politischen Establish­ schlossenen Gesellschaften verwan­ ments. Inzwischen hat der amerika­ deln. Diesen Fehler haben in jüngs­ nische Kongress sogar neue Sanktio­ ter Zeit Ungarn und Israel gemacht, nen gegen Russland beschlossen. die Gesetze gegen NGOs verabschie­ deten, die vom Ausland fi­ Die besten Gegenmittel nanziert werden und häu­ Nötig sind Regeln, Es wird nicht gelingen, China, Russ­ fig kritisch sind. Es wäre kritische­ Debatten land und andere Staaten durch Ab­ aber auch ein Fehler, ge­ schreckung davon abzuhalten, in libe­ genüber autoritären Staa­ und Transparenz ralen Demokratien Einfluss nehmen ten zu sehr auf Gegen­ zu wollen. Die Androhung von mas­ seitigkeit zu bestehen. Das wäre der siven Vergeltungsmaßnahmen ist un­ Fall, wenn westliche Staaten es chi­ realistisch und unangemessen, wenn nesischen Medien nur dann erlau­ es um die zahlreichen technisch le­ ben würden, im Westen zu arbeiten, galen Versuche der Einflussnahme wenn Peking westlichen Journalisten geht. Kriminelle Handlungen sollten die gleiche Freiheit einräumt. Damit strafrechtlich verfolgt werden. Politi­ würden liberale Staaten ihre eigenen ker sollten sich darauf konzentrieren, Werte untergraben, indem sie ihre of­ nur bei schwersten Übergriffen Ge­ fenen Gesellschaften auf eine Ebene genschläge anzudrohen, zum Beispiel mit autokratischen Systemen stellen, wenn Abstimmungsprozesse durch ohne deren Kalkül wesentlich verän­ Hacker-Angriffe auf Wahlcomputer dern zu können. Denn werden sie zu manipuliert werden sollen. einer Entscheidung gezwungen, wäh­ Demokratien sollten die Kanäle len die meisten illiberalen Regierun­ und Mechanismen autoritärer Ein­ gen den restriktiveren Weg. flussnahme direkt angehen. Dazu Für den richtigen Umgang mit brauchen sie neue Regeln für mehr diesem Problem braucht es Transpa­ Transparenz, vor allem für ­Parteien, renz, klare Regeln und Kampagnenar­ Think Tanks, Universitäten, An­ beit, um ein entsprechendes Bewusst­ waltskanzleien, PR- und Lobbyfirmen sein zu schaffen. Diese Faktoren ma­ sowie Finanzdienstleister. NGOs soll­ chen von einer wesentlichen Stärke ten Kampagnen gegen die Steigbügel­ der ­Demokratie Gebrauch: der kri­ halter autoritärer Einflussnahme lan­ tischen öffentlichen Debatte. Wenn cieren. Bestimmte Schlüsselbereiche – die Mechanismen und Folgen autori­ von der Hochtechnologie bis zur Par­ tärer Einflüsterung aufgedeckt wer­ teienfinanzierung – sollten genauer den, lassen sich diese politisieren, was unter die Lupe genommen und gere­ die weitere Einflussnahme erschwert. gelt werden, um sie vor Einfluss von Um dafür die Voraussetzungen zu außen zu schützen. Das Ziel sollte schaffen, braucht es klare Regeln. Die

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USA und die Europäische Union soll­ gierungsstellen sollten imstande sein, ten von allen Unternehmen und Be­ Falschmeldungen umgehend durch ef­ ratern, die sich für Regierungsaufträ­ fektive Gegenkommunikation zu wi­ ge bewerben, verlangen, dass sie ihre derlegen. Dies setzt außerdem vor­ Geschäftsbeziehungen of­ aus, dass die Regierung neue Strate­ Demokratien müssen fenlegen, auch die zu auto­ gien entwickelt, um beispielsweise ihre kritische Infra- ritären Staaten. Das Glei­ russisch- oder türkischstämmige Min­ che sollte für Lobbyisten derheiten zu erreichen. Dies war bis­ struktur schützen und PR-Agenturen gelten. lang ein Manko, das es Russland im Auch gemeinnützige Orga­ „Fall Lisa“ überhaupt erst ermöglich­ nisationen, Sportvereine, Religions­ te, effektiv Lügen zu streuen. Quali­ gemeinschaften, Universitäten und tätsmedien sollten imstande sein, ge­ politische Parteien sollten über ihre leakte Informationen sorgfältig zu Finanzierung und damit verbundene prüfen, um klar kennzeichnen zu kön­ Konditionen Auskunft erteilen. nen, welche Teile verfälscht wurden. Der Fall des britischen PR-Unter­ nehmens Bell Pottinger zeigt, dass Einflusskanäle kappen eine kritische Öffentlichkeit durch­ Politiker sollten Gesetze verabschie­ aus eine durchschlagende Wirkung den und Maßnahmen ergreifen, die haben kann: Bell Pottinger musste die Anfälligkeit reduzieren und Ein­ Konkurs anmelden, nachdem aufge­ flusskanäle kappen. Vor allem gilt es, deckt wurde, dass das Unternehmen die kritische Infrastruktur der De­ eine rassistisch motivierte Kampa­ mokratien zu stärken: die politischen gne in Südafrika mitgetragen hatte. Parteien, die Gesetzgebung und die Da Transparenz und Öffentlichkeits­ Ministerien. Demokratien sollten arbeit allein aber nicht alles zutage Regeln einführen, die umfangreiche bringen können, sollten Journalisten, Cybersecurity-Maßnahmen vorse­ Analysten und Wissenschaftler ver­ hen, um diese Institutionen vor Ha­ stärkt zusammenarbeiten, um Licht cker-Angriffen zu schützen. Zum jet­ ins Dunkel autoritärer Einflussnah­ zigen Zeitpunkt sind die Schutzmaß­ me zu bringen. nahmen nicht ausreichend. Und ob­ Öffentliche Aufmerksamkeit ist gleich westliche Staaten vom Ausland zwar kein Allheilmittel, kann aber finanzierte NGOs nicht von vornher­ dazu beitragen, Gesellschaften wi­ ein stigmatisieren sollten, dürfen sie derstandsfähiger zu machen. Sowohl doch nicht zögern, jene Institutionen in Deutschland als auch in Frank­ zu schließen, die gegen demokrati­ reich bereiteten Politiker und Ge­ sche Spielregeln verstoßen. Dazu zäh­ heimdienstvertreter die Öffentlich­ len Organisationen, die Kritiker ih­ keit auf mögliche russische Einfluss­ rer Verbündeten drangsalieren, wie es nahme auf die Wahlen in diesem Jahr im Auftrag des türkischen Präsiden­ vor. Dies nahm russischen Versuchen ten Erdogan in Deutschland und Ös­ (wie etwa in Form von #Macronleaks) terreich geschehen ist. den Wind aus den Segeln. Mitgliedstaaten der Europäischen Zudem gilt es, sich besser gegen Union sollten es ihren politischen Falschinformationen in sozialen Netz­ Parteien verbieten, Spenden aus dem werken zu wappnen. Parteien und Re­ außereuropäischen Ausland anzu­

46 IP • November / Dezember 2017 Autokraten auf dem Vormarsch

nehmen. Und auch wenn offene Ge­ che Einflussnahme erfolgreich zu­ sellschaften natürlich ausländische rückdrängen kann, ohne die eigenen Direktinvestitionen willkommen hei­ Werte zu verraten. Gerade in Euro­ ßen sollten, braucht es doch besonde­ pa ist es höchste Zeit, Analysten und re Vorkehrungen gegen Übernahmen Entscheidungsträger aus verschiede­ in Schlüsselsektoren (Hightech, öf­ nen EU-Staaten auf länge­ fentliche Infrastruktur und Medien). re Sicht zusammenzubrin­ Den Autokraten keine Durch solche Maßnahmen können gen, um strukturiert Er­ Einfallstore in liberale liberale Staaten geistiges Eigentum fahrungen auszutauschen schützen, fremden Regierungen poli­ und neue Strategien zu Demokratien bieten tische Machtinstrumente vorenthal­ entwickeln. Vor 20 Jahren ten und die Unabhängigkeit der Me­ erklärte der deutsch-britische Sozio­ dien wahren. Es ist ein Schritt in die loge Ralf Dahrendorf: „Ein Jahrhun­ richtige Richtung, dass sich die EU dert des Autoritarismus ist keines­ für eine strengere Kontrolle von aus­ wegs die unwahrscheinlichste Prog­ ländischen Investitionen ausgespro­ nose für das 21. Jahrhundert.“ Es ist chen hat. heute eine wesentliche Aufgabe von Liberale Demokratien sollten den offenen Gesellschaften zu verhin­ Zufluss von schmutzigen Geldern dern, dass Dahrendorfs Prophezei­ aus Autokratien stoppen. Genauso ung eintritt. müssen sie verhindern, dass west­ Hausgemachte illiberale Kräfte in­ liche Helfer sich an Geldwäsche be­ nerhalb des Westens sind die größte teiligen. Unklare oder gefälschte Ei­ Gefahr für unsere Demokratien. Ih­ gentumsausweise, mit deren Hil­ nen müssen wir Einhalt gebieten. fe Autokraten ihren Besitz im Wes­ Deswegen gilt es zu verhindern, dass ten verschleiern, sind abzuschaffen. sie durch die Unterstützung autoritä­ Schließlich ist es auch notwendig, ju­ rer Staaten gestärkt werden. Nur dann ristische Maßnahmen einzuleiten, werden unsere offenen Gesellschaften um die Spur von Transaktionen – in der Lage sein, für unsere Werte ein­ wie bei dem bereits erwähnten ango­ zustehen und weltweit den Einfluss lanischen Beispiel in Portugal – zu­ von Autokraten zurückzudrängen. rückverfolgen zu können. Demokra­ tien dürfen kein sicherer Hafen für Geld und Anlagen sein, die der Bevöl­ Thorsten Benner kerung autoritärer Staaten gestohlen ist Direktor des Global wurden. Public Policy Institute­ in Berlin. Forschung­ Autoritäre Einflussnahme ist ein für diesen Artikel wur- Phänomen, das alle liberalen Demo­ de gefördert von der kratien betrifft. Deshalb ist es wich­ Stiftung Mercator.­ tig, dass offene Gesellschaften von­

Eine englischsprachige Fassung dieses Beitrags erschien in Foreign Affairs. einander lernen, wie man eine sol­

IP • November / Dezember 2017 47 Verdeckte Offensive

Die verwundbare Demokratie Ein verdeckter Krieg gegen sie ist im Gange, doch die Gefahr wird unterschätzt

Richard Herzinger | Auf spektakuläre Aktionen im Bundestagswahlkampf hat Russland verzichtet. Stattdessen setzt der Kreml auf propagandisti- sche Infiltration, um Bundeskanzlerin Merkel zu schwächen und die demo- kratischen Institutionen zu diskreditieren. Ein Rückblick auf die Zeit des RAF-Terrors vor 40 Jahren zeigt aufschlussreiche Parallelen.

Der große Schlag blieb aus. Nach der haben dürfte. Trotz alledem blieb es massiven russischen Einmischung an der Informationskriegsfront über- in den amerikanischen und franzö- raschend ruhig. sischen Präsidentschaftswahlkampf Heißt dies nun etwa, dass Fähig- erwartete die internationale Öffent- keit und Bereitschaft des Kreml, sich lichkeit nunmehr spektakuläre Cy- in die deutschen innenpolitischen ber-Operationen des Kreml zur Beein- Belange einzumischen, überschätzt flussung der deutschen Bundestags- wurden? Ist die Vorstellung, Putins wahl. Dies umso mehr, als man da- Einfluss reiche so weit, dass er de- von ausgehen musste, dass Wladimir mokratische Gesellschaften effektiv Putin Bundeskanzlerin Angela Mer- unterminieren und destabilisieren kel als hauptsächliches Hindernis bei könnte, gar Resultat einer „Dämoni- seinen Bestrebungen betrachtet, die sierung“ des Kreml-Chefs? Denn da- europäische Sanktionsfront gegen die vor warnen selbst dezidierte Kritiker russische Aggression in der Ukraine seines Regimes immer wieder. aufzuweichen. Daher müsste er an ih- Eine solche Schlussfolgerung wäre rem Sturz oder zumindest ihrer emp- so voreilig wie fahrlässig. Zwar hat findlichen Schwächung interessiert der Kreml aus Gründen, über die sein. Nicht zuletzt ließen Erkenntnis- sich nur spekulieren lässt, auf eine se der deutschen Nachrichtendienste groß angelegte Destabilisierungsak- massive Manipulationsversuche aus tion anlässlich der Bundestagswahl Moskau als wahrscheinlich erschei- verzichtet. Doch propagandistische nen, zumal der Bundestag bereits vor Infiltration von russischer Seite mit zwei Jahren Ziel eines Datendieb- dem Ziel der Unterminierung des de- stahls geworden war, der Moskau üp- mokratischen Diskurses und der Dis- piges Material für Enthüllungs- und kreditierung der demokratischen In­ Desinformationskampagnen geliefert stitutionen fand und findet täglich in

48 IP • November / Dezember 2017 Die verwundbare Demokratie

großem Umfang statt. Es geschieht in Um in diesem Sinne Desorientie- einer von der Öffentlichkeit wenig be- rung und Verunsicherung in die deut- achteten Weise, aber nichtsdestoweni- sche Wählerschaft zu tragen, ist gar ger mit beträchtlichem Erfolg. kein zentraler Masterplan des Kreml Die amerikanische Historikerin zur Herbeiführung eines Regierungs- Anne Applebaum und der britische wechsels nötig. Vielmehr liegt, wie Publizist Peter Pomerantsev haben Applebaum und Pomerantsev feststel- jüngst in einem Forschungsprojekt len, „der Schlüssel für eine verdeckte nachverfolgt, wie im Wechselspiel von politische Einflussnahme zumeist rechtsextremen Webseiten (...) im 21. Jahrhundert da- „Jeder, der twittert und Social-Media-Netzwerken mit rin, sich in eine Echo-Um- oder Tweets teilt, ist offiziellen wie verdeckten Kreml-Me- gebung einzubetten, dort dien, mittels des massiven Einsatzes ein Netzwerk von Propa- Mini-Propagandist“ von Social Bots und Internet-Trollen ganda-Akteuren zu unter- ein verfestigter Gegendiskurs zum stützen und von ihm Unterstützung demokratischen „­Mainstream“ gene- zu erhalten. Viele der Bots und Trolle, riert wird. Dieser entzieht sich weit- deren Aktivitäten wir analysiert ha- gehend dessen Aufmerksamkeit, be- ben, scheinen nicht direkt vom Kreml ginnt aber unmerklich, seinen politi- kontrolliert zu werden. Sie haben viel- schen Diskurs zu durchdringen und mehr eine sich gegenseitig verstärken- seine Paradigmen im Sinne der autori- de Beziehung, wie zwei Menschen, die tären, antiliberalen Weltsicht des Pu- einander auf Twitter folgen. Dies un- tinismus zu verschieben. terscheidet die heutige Propaganda von der im 20. Jahrhundert, als weni- Russlands Einfluss auf die AfD ge mächtige Akteure die Medienpro- Diese Einflussnahme konzentriert duktion kontrollierten und ihre Bot- sich auf die Unterstützung der Al- schaften an ein passives Publikum ternative für Deutschland, für die sandten. Heute ist jeder, der twit- im russischen Staatsfernsehen sogar tert oder Tweets teilt, bereits ein Mi- Wahlwerbung ausgestrahlt wurde. ni-Propagandist, und der Kreml fühlt Die Adressaten sind vor allem russ- sich in dieser vernetzten Umgebung landdeutsche und russischsprachige offenbar sehr heimisch.“1 Wähler in Deutschland, die von der In diesen verdeckten Räumen auf AfD massiv umworben werden. Mit- eher kleiner, aber stetiger Flamme zu tels der Verbreitung von erfundenen operieren, ist für den Propaganda­ oder verzerrten Nachrichten wie der, apparat des Kreml unter Umständen die AfD sei bei den Landtagswah- sogar vorteilhafter, als einen frontalen len in Nordrhein-Westfalen Opfer ei- Angriff auf die ins Ziel genommenen nes Wahlbetrugs geworden, wird die westlichen Demokratien zu unterneh- Rechtsaußenpartei als authentische men. Denn damit läuft er Gefahr, un- und deshalb vom „Establishment“ mittelbar als intervenierende feindli- und seiner „Lügenpresse“ verfolgte che Macht wahrgenommen zu werden Stimme „des Volkes“ inszeniert. und eine entsprechende Gegenreakti-

1 Anne Applebaum und Peter Pomerantsev: Darum unterstützt der Kreml die AfD, DIE WELT, 21.9.2017.

IP • November / Dezember 2017 49 Verdeckte Offensive

on zu provozieren. So hat die massive sein, die europäischen Regierungen Einmischung in den US-Wahlkampf zu umgarnen und gegen die USA aus- zwar vermutlich dazu beigetragen, zuspielen, statt durch eine spektaku- dass der Wunschkandidat des Kreml läre geheimdienstliche Intervention die Wahl gewann. Doch bis weit ins einen offenen Eklat zu riskieren. republikanisch-konserva- In welchem Umfang der Wahler- Der Kreml kommt tive Lager hinein hat die folg der AfD aktiver Subversionstätig- in Deutschland ohne- Enthüllung dieses An- keit vonseiten des Kreml zuzuschrei- griffs auf die Demokratie ben ist, lässt sich freilich nicht exakt hin gut voran in den USA zu einer ver- messen. In jedem Fall ist es ganz in schärften Wachsamkeit seinem Sinne, dass sich der politische und Abwehrstellung gegenüber Pu- Leitdiskurs hierzulande deutlich im tins Russland geführt. Dies erschwert Sinne der Vorgaben durch das rechts- es jetzt US-Präsident Donald Trump, nationalistische Lager verändert hat. sich Moskau gegenüber nachgiebig zu Nicht nur die Unionsparteien, vor al- zeigen, gerät er damit doch sogleich lem die CSU reagierten auf das Er- in Verdacht, seinem Wahlhelfer im gebnis der Bundestagswahl umge- Kreml dienstbar sein zu wollen. hend mit einer Annäherung an Posi- Innerhalb der deutschen politi- tionen der Nationalpopulisten. Selbst schen Klasse hatte der Kreml bereits führende Grüne sehen sich nun be- vor der Wahl erheblich an Einfluss ge- müßigt, Bekenntnisse zum Erhalt der wonnen. Nicht nur führende Sozial- „Heimat“ abzugeben. demokraten wie Außenminister Sig- mar Gabriel, auch CSU-Chef Horst Merkel zur Unperson machen Seehofer und der FDP-Vizechef Wolf- Auch wenn Angela Merkel trotz her- gang Kubicki sprechen sich mittler- ber Stimmenverluste noch einmal weile für ein rasches Zurückfahren eine Mehrheit zur Fortsetzung ihrer der Sanktionen gegen Russland aus. Kanzlerschaft erobert hat, erscheint Der FDP-Vorsitzende Christian Lind- sie doch angeschlagen – und wird bis ner trat im Wahlkampf mit der Idee in weite Teile der politischen Mitte hervor, den Konflikt um die völker- hinein als Problemfall stigmatisiert. rechtswidrig annektierte Krim „ein- Dazu haben die unablässig gegen sie zukapseln“, um Putin „gesichtswah- gerichteten Hassattacken erheblich rende“ Auswege aus der Konfronta- beigetragen, die von mit der russi- tion mit dem Westen zu ermöglichen. schen Propagandamaschine verwo- Kürzlich bekräftigte Lindner zudem benen Netzwerken kommen. Die Me- seine Forderung, Russland wieder in thode, sich zwecks Diskreditierung den Kreis der G7 aufzunehmen. der Legitimität demokratischer Insti- Auch ohne spektakuläre Destabi- tutionen eine repräsentative Hassfi- lisierungsoffensive kommt der Kreml gur herauszugreifen, die so lange dif- mit der Unterminierung der Abwehr- famiert wird, bis sie auch gemäßigten bereitschaft der deutschen Politik also Kreisen in der Gesellschaft suspekt zu gut voran. Nachdem der US-Kongress werden beginnt, ist aus der Praxis der verschärfte Sanktionen gegen Russ- rechtsextremen, eng mit der Kreml-­ land verhängt hat, könnte Putin zu- Propagandamaschinerie ­verbundenen dem eher wieder daran interessiert Alt-Right-Bewegung in den USA be-

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kannt, die als wesentlicher ideologi- sen auswärtige Informationskrie- Seit der Kreml radi- scher Turbo der Präsidentschaft Do- ger einen bereits existierenden Reso- kal-nationalistische Parteien systema- nald Trumps fungiert. Dort war es nanzboden vorfinden. tisch unterstützt, Hillary Clinton, hier ist es Merkel, Doch so unbestreitbar diese Fest- sind sie zu einem die stellvertretend für das verhasste stellung ist, so sehr kann sie dafür Machtfaktor ge- liberale „Establishment“ zur Unper- missbraucht werden, die Relevanz worden: Pro-­Putin- Demonstrant vor son gestempelt werden soll. der russischen Einmischung herun- dem Bundeskanz- Selbstredend kann die destruktive terzuspielen und zu verschleiern. leramt in Berlin, Beeinflussung der westlichen Öffent- Auch wenn eine Beeinflussung von Oktober 2016 lichkeit durch die Desinformations- außen dafür nicht ursächlich ist – und Destabilisierungsstrategen des es macht einen signifikanten Unter- Kreml nicht als hinreichende Erklä- schied, ob die internen Konflikte de- rung für die krisenhaften Erschei- mokratischer Gesellschaften im Rah- nungen gelten, die den liberalen De- men der von ihnen gesetzten Regeln mokratien zu schaffen machen. Der und Übereinkommen ausgetragen Vertrauensverlust in die traditionel- oder ob sie von einer dem demokra- len politischen Eliten, der schleichen- tischen System grundsätzlich feind- de Verfall der von links nach rechts selig gegenüberstehenden staatlichen angeordneten klassischen Parteien­ Macht in zerstörerischer Absicht ge- strukturen, die wachsende Anfällig- schürt werden. Rechtsaußen-Parteien keit der Wählerschaft für Populismus wie die österreichische FPÖ und der rechter und linker Ausprägung sind französische Front National erzielten Symptome innerer ökonomischer und in einzelnen europäischen Ländern sozialpsychologischer Umbrüche, die bereits in den 1990er Jahren aufse- die westlichen Gesellschaften durch- henerregende Erfolge. Doch erst seit laufen. Um erfolgreich zu sein, müs- der Kreml die rechtspopulistischen

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und radikal-nationalistischen Partei- umso mehr setzen sie sich dem Vor- en systematisch unterstützt, sind sie wurf aus, selbst verschwörungstheo- auf gesamteuropäischer Ebene zu ei- retischem Denken verfallen zu sein nem maßgeblichen politischen Macht- – und geraten auch tatsächlich in die faktor geworden. Gefahr, hinter jeder krisenhaften Mit Putins Russland haben die- Entwicklung im Westen als Urheber se nun nicht nur einen großzügigen die unsichtbar manipulierende Hand Gönner und Mentor gefunden, vor des Kreml zu wittern. allem hinsichtlich des Er- Russland wirkt als lernens von Praktiken kol- Reflexhafte Selbstbezichtigung ideologisches Vorbild lektiver Bewusstseinsma- In der Anfangsphase des Kalten Krie- nipulation. Es liefert ih- ges tendierten die westlichen Gesell- für Rechtsextreme nen auch den praktischen schaften dazu, eigene Missstände Beleg dafür, dass ein völ- und Fehler hinter dem Verweis auf kisch-national und autoritär struk- die allgegenwärtige Bedrohung durch turiertes, politisch-gesellschaftliches den kommunistischen Totalitarismus Gegenmodell erfolgreich dem bis vor verschwinden zu lassen. Man muss Kurzem noch als konkurrenzlos gel- sich in der Tat davor hüten, in dieses tenden liberal-pluralistischen „Glo- Schema zurückzufallen. Doch darf balismus“ des Westens trotzen kön- die Furcht davor nicht dazu führen, ne. In Putins Russland steht das Herr- die äußere Bedrohung zu verdrängen. schaftssystem in Kontinuität zu dem Dies aber geschah in der Phase der alten sowjetischen Machtapparat, Entspannungspolitik seit den 1970er auch wenn er dessen marxistisch-le- Jahren, in der sich die vorherrschende ninistisches Theoriegerüst abgeschüt- Stimmung umkehrte. Wer nun allzu telt hat. Für die radikale Rechte im dezidiert vor dem Andauern der kom- Westen erfüllt es heute eine ähnli- munistischen Bedrohung warnte, ge- che Funktion als ideologisches Vor- riet schnell in den Ruch, ein unbelehr- bild und (welt-)machtpolitisches Hin- barer „Kalter Krieger“ zu sein. Was al- terland wie einst die Sowjetunion lerdings nach 1989 über das Ausmaß für die kommunistische Weltbewe- der Durchdringung der bundesdeut- gung. Da indes die Überreste und schen Eliten mit östlichen Einfluss­ politischen Mutanten der Letzteren agenten bekannt wurde, übersteigt die antiliberalen und antiglobalisti- alles, was damals selbst eingefleisch- schen Affekte der extremen Rechten te Kommunismuskritiker für möglich in kaum noch unterscheidbarer Wei- hielten. Damals wäre es wohl als Pa- se teilen, orientieren zugleich auch sie ranoia abgetan worden. sich weiterhin am Kreml. Dabei macht es gerade eine essen- Doch die enge Verquickung von zielle Stärke und Tugend liberaler De- aufstrebenden nationalrevolutionä- mokratien aus, auf innere Fehlent- ren Bewegungen im Westen mit dem wicklungen mit selbstkritischer Re- Kreml stellt die Verteidiger der libe- flexion zu reagieren, statt die Schuld ralen Demokratie vor ein Dilemma. dunklen externen Mächten in die Je mehr sie die Aufmerksamkeit auf Schuhe zu schieben. Doch fördern die äußere Steuerung und Förderung diese Fähigkeit und Bereitschaft zur dieser Kräfte zu lenken versuchen, kritischen Selbstbefragung auch die

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Neigung, innere und äußere Bedro- aktuellen Debatte nach der Bundes- hungen mit reflexhafter Selbstbe- tagswahl der Fall ist. zichtigung zu beantworten, statt ih- nen entschieden entgegenzutreten. Überhöhung der RAF Das gilt für den westlichen Diskurs Dabei gab die Erinnerung an ein über den Islamismus, der häufig als schlimmes Kapitel der Geschichte eine „Reaktion“ auf die vermeintlich der Bundesrepublik kürzlich Gele- ungerechte Behandlung der muslimi- genheit, sich das Problem des Zusam- schen Welt durch den Westen gedeu- menspiels von innerer und tet wird, und es gilt ebenso für die äußerer Angriffe auf die Demokraten begeben Haltung gegenüber der neoimperi- demokratische Ordnung sich freiwillig in eine alen russischen Aggressionspolitik, neu bewusst zu machen. die immer wieder mit der angeblichen Vor gut 40 Jahren, im Ok- fatale Defensive jahrelangen Geringschätzung russi- tober 1977, eskalierte der scher Interessen durch den Westen Terror der „Rote Armee Fraktion“ oder gar einer „Einkreisung“ Russ- mit der Entführung und Ermordung lands durch die NATO erklärt wird. von Hanns Martin Schleyer sowie der Derselbe Mechanismus der Selbst- Entführung der Lufthansa-Passagier- bezichtigung zeigt sich jetzt auch in maschine „Landshut“ durch ein Ter- vielen Reaktionen auf die Erfolge der rorkommando der mit der RAF ver- AfD. Große Teile der politischen Eli- bündeten „Volksfront zur Befreiung te wie auch der Medien klagen sich Palästinas“ (PFLP). nun selbst an, den Kontakt zu gewis- Bis heute konzentriert sich das sen „abgehängten“ Sektoren der Ge- gängige Narrativ über die RAF hier- sellschaft verloren und damit ihrer zulande auf die sozialpsychologischen Hinwendung zu radikalen Kräften Motive und Dispositionen der Täter. Vorschub geleistet zu haben. Dabei Es erzählt die Geschichte des west- ist es zweifellos geboten, dass demo- deutschen Terrorismus als eine von kratische Parteien und Politiker auch in die Irre geleiteten, ursprünglich selbstkritisch nach den Ursachen für aber von Idealismus getriebenen Ein- die Erschütterung demokratischer zelnen, die zugleich den hohen mora- Stabilität forschen. Aber Demokraten lischen Anspruch wie die gefährlich begeben sich freiwillig in eine fatale überschießenden Destruktionsener- Defensive, wenn sie den Grund für gien der „Protestgeneration“ von 1968 die Aggression von Feinden der De- verkörperten. mokratie vor allem in tatsächlichen Seit den 1980er Jahren, nachdem oder vermeintlichen Defekten der der RAF-Terror seinen Zenit über- Demokratie selbst zu suchen begin- schritten hatte, setzte sich diese Inter- nen. Sobald dies geschieht, haben die pretation als weitgehend verbindlich Antidemokraten bereits einen wich- durch und mündete in eine Art mora- tigen Etappensieg erzielt. Dies trifft lische Äquidistanz: Der rücksichtslo- umso mehr zu, wenn die Infiltrations- sen Gewaltbereitschaft der Linkster- praktiken einer antidemokratischen roristen habe eine „Überreaktion“ des Macht wie Putins Russland aus der Staates entsprochen, die immer wei- Ursachenforschung praktisch völlig ter in die „Eskalation“ geführt habe. ausgeblendet werden, wie dies in der Einig war man sich darüber, dass die

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RAF auf der ganzen Linie gescheitert schen Marxismus-Leninismus ergab. war, weswegen man nun in der siche- Meinhof erscheint im Film als von ren historischen Rückschau ein mil- existenzieller Tragik umflorte, im deres Bild über ihre Beweg- und Ab- Grunde weltfremde Moralistin, Baa- gründe zeichnen und in den 1990er der und Ensslin als in ihrem wahn- Jahren sogar auf regierungsoffizieller haften Rigorismus auch irgendwie Ebene einen „Dialog“, wenn nicht gar hippe Desperados. Als Motiv für ihre die „Versöhnung“ mit den Tätern in Gewalttaten wird auf den amerika- Erwägung ziehen konnte. nischen Krieg in Vietnam verwiesen. Doch wenn die RAF in ihren Pro- Der allerdings war bereits vorbei, als grammschriften auch von einer be- die RAF zu ihren schlimmsten Ter- vorstehenden Revolution in Deutsch- rorkampagnen ansetzte. land fabulierte, war dies doch nicht ihre hauptsächliche Daseinsbegrün- Eine Art taktische Reserve dung. Ihr ging es vielmehr darum, in Gewiss, es gibt keine Indizien da- den „imperialistischen Metropolen“­ für, dass Meinhof oder andere zent- eine Art zweite Front zur Unterstüt- rale Führungsfiguren der RAF in ei- zung prokommunistischer, „antiim- nem direkten Agentenverhältnis zum perialistischer Befreiungs- Staatssicherheitsdienst der DDR oder Querverbindungen bewegungen“ in der „Drit- zum KGB gestanden oder sich auch der RAF zum kom- ten Welt“ zu eröffnen. nur ideologisch als direkte Erfül- Das machte die RAF – im lungsgehilfen der Politik Moskaus munistischen Lager Kontrast zu dem Bild von und Ostberlins verstanden hätten. den hoffnungslos isolier- Zwischen beiden Seiten herrschte so- ten Desperados, wie es in dem Dik- gar ein tiefes, ideologisch begründetes tum Heinrich Bölls von den „Sechs Misstrauen. Während die RAF-Gue- gegen sechzig Millionen“ zum Aus- rilleros auf verschärften Klassen- druck kam – zum Teil eines globalen kampf und damit auf die revolutionä- antiwestlichen Netzwerks, dessen Zu- re Polarisierung der westlichen Ge- sammenhalt nicht unwesentlich von sellschaften setzten, zielte das vom den Geheimdiensten des kommunis- Kreml angeführte kommunistische tischen Lagers garantiert wurde. Und Lager im Zuge der „Entspannungspo- im Sinne ihrer Absicht, Verunsiche- litik“ auf die graduelle Aufweichung rung in die westlichen Gesellschaf- und Korrumpierung der westlichen ten zu tragen, war die RAF auch nicht Eliten. Die RAF-Leute galten den So- gänzlich erfolglos. wjetkommunisten in diesem Sinne Doch diese Querverbindungen als Linksabweichler, sie selbst diesen kommen im populären Bild von der umgekehrt als „Revisionisten“. RAF kaum vor. In dem Film „Der Obwohl die ultraextremistischen Baader Meinhof Komplex“ von 2008 westdeutschen Terroristen den kom- etwa spielen sie so wenig eine Rolle munistischen Strategen somit eigent- wie die ideologische Kontinuität, die lich nicht ins strategische Konzept sich vor allem durch Ulrike Meinhof, passten, sprach nichts dagegen, sich vormals Parteigängerin der illegalen diese als eine Art taktische Reserve KPD mit intensiven Verbindungen im Kampf gegen den Westen warm- in die DDR, zum offiziellen sowjeti- zuhalten und sie durch Einbindung in

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die eigenen Strukturen zugleich un- risten direkte Auf­träge zu Anschlägen ter Kontrolle zu halten. Deshalb leis- aus Moskau oder anderen kommunis- teten die DDR-Staatsführung und die tischen Hauptstädten erhalten hätten, Stasi sowie andere östliche Geheim- doch als Element der Destabilisierung dienste ihnen logistische Unterstüt- Westeuropas waren sie den dortigen zung und boten ein verfolgungsfreies Führungen allemal willkommen. Hinterland. Auch im Waffengebrauch Den politisch Verantwortlichen konnten sich RAF-Terroristen unter und der kritischen Öffentlichkeit der Anleitung der Stasi üben. Bundesrepublik fehlte es Diese indirekte Lenkung war an Vorstellungskraft und Äußerste Wachsam- schon für das Entstehen und erst Willen, das Ausmaß die- keit gegenüber den recht für die Entwicklung der RAF ses Zusammenspiels von und anderer Terrorgruppen wie den sowjetischer Globalstra- Demokratiefeinden Revolutionären Zellen von konstitu- tegie und Terrorismus zu tiver Bedeutung. Ihre erste militäri- erkennen. Dass etwa RAF-Aussteiger sche Schulung erhielten die deutschen in der DDR versteckt wurden, hielt Terroristen in palästinensischen Aus- man für undenkbar, widersprach bildungslagern. Der Aufstieg von Ter- dies doch dem Geist der Entspan- rororganisationen wie Al Fatah und nungspolitik, deren Logik den bun- PFLP, deren Anführer Wadi Haddad desdeutschen Eliten in Fleisch und in Diensten des KGB stand, sowie ih- Blut übergegangen war. So begannen rer Dachorganisation PLO war aber sie zu glauben, dass es auch die kom- eine Folge der neuen strategischen munistischen Führer im Osten damit Schwerpunktsetzung der Sowjetuni- ernst meinten. on nach dem überwältigenden Sieg Selbstredend ist der Terror der Israels im Sechstagekrieg 1967. Als RAF nicht mit dem Wirken heutiger Konsequenz daraus rüsteten die Sow- rechtsnationalistischer Parteien in jets arabische Staaten für den Kampf Europa auf eine Stufe zu stellen. Ler- gegen Israel als der „Speerspitze des nen können wir aus den Erfahrun- US-Imperialismus im Nahen Osten“ gen von damals aber, die Bedeutung militärisch und politisch-ideologisch der Einmischung demokratiefeindli- massiv auf und förderten den palästi- cher Mächte für die Verschärfung in- nensischen Nationalismus, der zuvor nerdemokratischer Konflikte nicht zu in der arabischen Welt allenfalls eine unterschätzen – und ihnen gegenüber Nebenrolle gespielt hatte. äußerste Wachsamkeit zu entwickeln, Der Aufstieg des Terrorismus in ohne dadurch hausgemachte Proble- Europa in den späten 1970er Jah- me zu verdecken. ren hängt eng mit dieser sowjeti- schen strategischen Offensive zu- Dr. Richard ­Herzinger sammen. Vermittelt durch palästi- ist Korrespondent für nensische Terrororganisationen, ver- ­Politik und Gesellschaft der WELT und WELT AM netzten sich terroristische Gruppen SONNTAG. in Europa untereinander und damit mehr oder weniger intensiv mit den Globalstrategen im Kreml. Zwar ist nicht bekannt, dass westliche Terro-

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Übungsfeld im Cyber-Krieg In der Ukraine testen und verfeinern russische Hacker ihre Fähigkeiten

Andy Greenberg | Kurz vor Weihnachten 2016 gingen in Teilen Kiews die Lichter aus – Folge einer Cyber-Attacke auf das ukrainische Stromnetz. Erstmals gelang es kremlnahen Hackern, ein Stück kritische Infrastruktur lahmzulegen. Die gleiche Schadsoftware ist mittlerweile auch in amerika- nischen Netzen aufgetaucht. Ist man sich im Westen der Gefahr bewusst?

Auf einmal gingen die Lichter aus. unternehmen eine ganze Reihe geziel- Oleksi Yasinsky, 40 Jahre alt und ter Cyber-Angriffe analysiert, die of- Analyst einer Kiewer Cyber-Sicher- fenkundig auf ein- und dieselbe Ha- heitsfirma, hatte mit Frau und Sohn cker-Gruppe zurückgingen. Nun hat- den „Snowden“-Film von Oliver Sto- ten diese Phantome, deren digitalen ne über den Whistleblower der Natio- Fingerabdrücken er nachgespürt hat- nal Security Agency (NSA) geschaut. te, ihn selbst erreicht. Nun saßen sie im Dunklen. „Die Ha- Es war ein Angriff mit Ansage: cker wollen nicht, dass wir das Ende Jahrelang hatten Cyber-Kassandras des Filmes sehen“, scherzte Yasinskys prophezeit, dass Hacker-Angriffe in Frau. Er selbst lachte nicht. Yasins- naher Zukunft nicht mehr nur digi- ky schaute auf die Digitalanzeige sei- tales Chaos, sondern echte Schäden nes Reiseweckers: Genau 00:00 Uhr, in der realen Welt anrichten würden. Mitternacht. Das war kein normaler Der Stuxnet-Virus, der 2009 irani- Stromausfall. sche Nuklearzentrifugen so stark be- Nicht nur ihr Wohnblock, das gan- schleunigte, dass sie sich selbst zer- ze Viertel war stockdunkel. In der Fer- störten, galt als erstes Vorzeichen ne zeichneten sich gespenstisch die dieser neuen Ära. Michael Hayden, Silhouetten alter Sowjetbauten ab. Die ehemaliger Chef der NSA und des Nacht war eiskalt. Wenn der Strom- US-Auslandsgeheimdiensts CIA, ver- ausfall zu lange dauern sollte, würden glich dies damals mit den Atombom- in Tausenden Wohnungen die Tempe- benabwürfen auf Japan vom August raturen sinken und Wasserleitungen 1945: „Eine neue Waffe kommt zum einfrieren und platzen. Dann kam Ya- Einsatz. Und diese Entwicklung lässt sinsky der nächste paranoide Gedan- sich nicht mehr rückgängig machen.“ ke: In den vergangenen Monaten hatte In der Ukraine gab es einen sol- er für ukrainische Firmen und Staats- chen Cyber-Kriegsakt nun schon zum

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zweiten Mal. 2015, zwei Tage vor Der Konflikt um die Ukraine – im Weihnachten, war bei fast einer Vier- Grunde Moskaus Versuch, die Ukrai- telmillion Ukrainer der Strom ausge- ne als „kleines Bruderland“ in Ab- fallen; ein Jahr später war der Schaden hängigkeit von Russland zu halten, noch viel größer. Beide Male dauerte mindestens aber eine Hin- der Stromausfall nur wenige Stun- wendung Kiews zum Wes- Im Ukraine-Konflikt den, bis die ukrainischen Ingenieure ten zu verhindern – wur- wird auch an der digi- alle Schalter manuell wieder umgelegt de von Anfang an auch an hatten, die die unsichtbaren Saboteu- der digitalen Front ausge- talen Front gekämpft re aus der Ferne ausgeschaltet hatten. tragen. Schon vor den uk- Doch nach zwei erfolgreichen Tests rainischen Wahlen 2014 gelang es war die Funktionsfähigkeit des Kon- der prorussischen Hacker-Gruppe zepts bewiesen: In Russlands Schat- „CyberBerkut“, die Website der uk- ten war der jahrzehntealte Albtraum, rainischen Wahlkommission zu ha- dass Hacker die Infrastruktur einer cken und den rechtsextremen Kan- modernen Gesellschaft direkt angrei- didaten Dmytro Jarosch zum Gewin- fen, Wirklichkeit geworden. ner der Wahlen zu erklären. Die Web- Die Blackouts in der Weihnachts- site-Administratoren entdeckten den zeit sind kein Einzelfall. Sie sind Teil digitalen Einbruch erst kurz vor Ver- eines digitalen Blitzkriegs, mit dem öffentlichung der Wahlergebnisse. die Ukraine seit drei Jahren überzo- CyberBerkut steht in Verbindung mit gen wird. Systematisch attackiert eine der kremlnahen Hacker-Gruppe, die ganze Hacker-Armee verschiedene 2016 für die Attacke auf den Partei- Bereiche ukrainischer Infrastruktur: vorstand der US-Demokraten verant- Medien, den Finanz-, Transport- und wortlich war. Energiesektor, das Militär, die Politik. Nicht wenige internationale Cy- Regelmäßig werden­ Daten vernichtet, ber-Experten glauben, dass Russland Computer zerstört und ganze Firmen die Ukraine als Labor für die Perfek- lahmgelegt. tionierung neuer Methoden eines glo- 6500 Hacker-Angriffe gegen 36 balen Cyber-Kriegs nutzt. Die digita- verschiedene ukrainische Ziele habe len Bomben, die russische Hacker in es allein in den vergangenen beiden der ukrainischen Infrastruktur plat- Monaten gegeben, klagte der ukrai- zierten, um sie dann gezielt hochgehen nische Präsident, Petro Poroschenko, zu lassen, wurden auch schon mindes- im Dezember 2016. Analysten konn- tens einmal in der zivilen Infrastruk- ten zu diesem Zeitpunkt noch nicht tur der Vereinigten Staaten platziert. mit abschließender Sicherheit sa- gen, ob die Angriffe dem Kreml zu- Am Virenscan vorbeigeschlichen zuschreiben waren. Poroschenko da- Im Oktober 2015 erhielt Yasinsky von gegen hielt sich nicht zurück. Es gebe seinem damaligen Arbeitgeber, dem eine „direkte oder indirekte Beteili- größten ukrainischen Fernsehsen- gung russischer Geheimdienste, die der StarLightMedia, einen Notruf. einen Cyber-Krieg gegen unser Land Zwei Server waren ausgefallen. Der führen“. Das russische Außenminis- zuständige IT-Spezialist konnte sie terium wollte sich auch auf wiederhol- schnell wieder ans Laufen bringen, te Nachfrage dazu nicht äußern. doch dass zwei Server gleichzeitig

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ausfielen, war höchst ungewöhnlich. derart raffinierte digitale Waffe zu Bei der Auswertung der Datenkopi- analysieren. en bemerkte Yasinsky, dass der so ge- Als Kern des Virus identifizierte nannte „Master Boot Re- er „KillDisc“, einen zerstörerischen Die Handschrift der cord“ der betroffenen Ser- Parasiten, der seit etwa einem Jahr- Hacker ist deutlich, ver komplett überschrie- zehnt in bestimmten Hacker-Kreisen ben war, also der Teil der im Umlauf war. Er verfolgte die di- Bild nur in ihre Motive nicht Festplatte, der den Rech- gitalen Fingerabdrücke der Hacker ner das eigene Betriebs- und machte dabei eine Entdeckung, Printausgabe verfügbar system finden lässt. Und noch delika- die ihn und seine Kollegen zutiefst ter: Diese beiden Server waren „Com- schockierten: Der Virus saß schon manding Controllers“, sie hatten Zu- seit mehr als sechs Monaten im Sys- griff auf Hunderte anderer Rechner tem von StarLightMedia. Ein Troja- im Netzwerk. ner mit dem Namen „BlackEnergy“ Yasinsky druckte den Code aus hatte den Hackern den ersten Zu- und legte ihn auf seinem Küchen- griff ermöglicht. Nach und nach hör- tisch und dem Fußboden aus. Es war te Ya­sinsky von immer mehr Unter- die ausgefeilteste Schadsoftware, die nehmen und Behörden, die mit der- er bisher erlebt hatte. Auch war der selben Methode angegriffen worden Schaden noch größer als zunächst an- waren, darunter die größte Bahnge- genommen. Die beiden Server hatten sellschaft der Ukraine. Einige wollten auf 13 Laptops von StarLight-Mitar- nicht öffentlich zugeben, dass sie ge- beitern einen Virus eingeschleust. hackt worden waren. Diese Infektionen hatten dieselbe In fast allen Fällen hatte sich das Überschreibungstechnik benutzt und Programm über den Trojaner Black­ zwar gerade in dem Moment, als die Energy im System eingenistet. Wie Mitarbeiter die Nachrichten zu den eine digitale Sprengbombe entfalte- aktuellen Lokalwahlen vorbereite- te es dann mit KillDisc seine Zerstö- ten. Dennoch hatte man Glück. Die rungskraft. Die Handschrift der Ha- „Controllers“ hatten sich selbst früh- cker war mehr als deutlich, ihre Moti- zeitig abgeschaltet, sonst wären ins- ve hingegen nicht. Und eines ahnte Ya- gesamt 200 Firmencomputer in Mit- sinsky seinen ausführlichen Analysen leidenschaft gezogen worden. Star- zum Trotz nicht einmal ansatzweise: Lights Konkurrent TRK hatte we- Schon in diesem Dezember 2015 wa- niger Glück, erfuhr Yasinsky später. ren BlackEnergy und KillDisc­ in drei Dort wurden mit derselben Methode der größten ukrainischen Energieun- über 100 Rechner infiziert. ternehmen platziert und mussten nur Yasinsky gelang es, eine Kopie des noch aktiviert werden. Programms anzufertigen. Die Mal- ware war geschickt getarnt: Sie hat- Post von der Regierung te sich nicht nur an allen Virenscans Kurz vor Heiligabend 2015 – und am vorbeigeschlichen, sie hatte sich so- Tag vor seiner eigenen Hochzeit – gar als Antivirenprogramm ausge- sah Robert Lee zuhause in Cullman, ben können. Seit 20 Jahren arbeitete Ala­bama, die Schlagzeilen von einem ­Yasinsky im Bereich Informationssi- Hacker-Angriff auf Teile des Kiewer cherheit. Aber noch nie hatte er eine Stromnetzes. Kurz zuvor hatte Lee als

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Eine Cyber-Attacke Cyber-Security-Spezialist bei einem Infrastruktur beschäftigt. Jetzt war auf kritische Infra- struktur ist nicht der US-Geheimdienste gekündigt, um aus der Möglichkeit eine Tatsache länger nur Theorie: ein Start-up für Cyber-Sicherheit zu geworden. Noch am gleichen Abend Hochspannungs- gründen. Der Meldung aus der Uk- begann er, die KillDisk-Software zu leitungen in der raine schenkte er zunächst keine all- analysieren, die die ukrainischen Kol- Ukraine zu große Beachtung. Cyber-Exper- legen ihm zugeschickt hatten. We- ten wussten, dass hinter angebli- nige Tage später erhielt er auch die chen Stromnetz-„Hacks“ meist nur ­BlackEnergy-Malware zusammen mit ein paar Nagetiere standen, die Ka- den forensischen Daten der Angriffe. bel angeknabbert hatten. Am nächs- Das Vorgehen der Hacker war ten Morgen aber erhielt Lee kurz vor klar nachzuvollziehen. Sie hatten seiner Trauung eine Textnachricht den Virus mittels einer E-Mail mit von Mike Assante, Mitarbeiter des einer gefälschten Adresse der ukrai- SANS Instituts für Cyber-­Security- nischen Regierung als Absender ge- Training und einer der renommier- schickt. Versteckt in einem angefüg- testen Experten für Hacker-Angriffe ten Word-Dokument wurde der Vi- auf Stromnetze. Assante war fest da- rus­ auf die Rechner geladen. Von dort von überzeugt, dass es sich bei dem hatte er sich auf das gesamte System Stromausfall in Kiew um eine digita- ausgebreitet und dann die Kontroll- le Attacke handelte. software kompromittiert, die unein- Die Trauzeremonie war gerade­ geschränkten Zugriff auf die Steue- vorbei, da meldeten sich ukraini- rung eröffnete – inklusive der hoch- sche Cyber-Experten. Sie benötig- spezialisierten Kontrollsoftware für ten Lees Hilfe. Sein ganzes Berufsle- die Sicherungsschalter. ben hatte sich Lee mit der Möglich- Je länger Lee die Attacke auf die keit digitaler Attacken auf kritische Ukraine studierte, desto deutlicher

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wurden die Parallelen mit den Ha- und ein Stromnetz lahmgelegt“, sagt cker-Angriffen einer Gruppe namens er. „Somit ist diese Gruppe eine un- Sandworm. Bereits 2014 hatte die Si- mittelbare Bedrohung für die Verei- cherheitsfirma FireEye vor einer Ha- nigten Staaten.“ cker-Gruppe gewarnt, die BlackEner- gy in die Computersyste- Mit KillDisk in die Winteroffensive Eine unmittelbare me mehrerer polnischer An einem klaren, kalten Tag einige Bedrohung für die und ­ukrainischer Ener- Wochen später landete ein Team von gie- und Staatsunterneh- US-Sicherheitsexperten in Kiew. Un- Vereinigten Staaten men eingeschleust hatte. ter ihnen befanden sich Mitarbeiter Offensichtlich zielten die des FBI, des Heimatschutz- und des Hacker auf spezielle Verbundrechner, Energieministeriums sowie der North die für die ferngeregelte Steuerung American Electric Reliability Corpo- von Infrastruktur zuständig sind. ration, eine für die Koordinierung des Auch hier waren die Motive un- Stromnetzes in den USA zuständige klar. Aber es wurde immer deutli- Behörde. Zu ihnen gehörte auch Mike cher, dass es sich um russische Ha- Assante. Noch am Tag ihrer Ankunft cker handelte: Der Firma FireEye traf sich die US-Delegation mit An- war aufgefallen, dass diese Metho- gestellten der Firma Kyivenergo, dem den zuerst auf einer russischen Ha- städtischen Stromversorger und eines cker-Konferenz präsentiert worden der drei Opfer des Hacker-Angriffs. waren. Danach schafften es die Ex- Die detaillierten Schilderungen zo- perten von FireEye, auf die ungesi- gen sich über mehrere Stunden. cherten Command-and-Control-Ser- Der Virus hatte zwar kein „Script“ ver von Sandworm zuzugreifen. Dort – in Computercode geschriebene Be- fanden sie russischsprachige Instruk- fehle –, um die Sicherungen des Netz- tionen für BlackEnergy. werks selbstständig zu kontrollie- Noch erstaunlicher war allerdings, ren. Dennoch mussten die Ingenieu- dass Sandworm bereits Angriffe in re des Stromversorgers am Nachmit- den USA ausgeführt hatte. Dieselbe tag des 23. Dezember hilflos zusehen, Hacker-Gruppe, die für diesen An- wie eine Sicherung nach der anderen griff verantwortlich zeichnete, hatte heraussprang­ und ein Gebiet von der Teile der amerikanischen Energie-In- Größe Massachusetts ins Dunkel ge- frastruktur mit demselben Virus infi- taucht wurde – gesteuert von den ziert. Schon 2014 hatte die US-Regie- Rechnern ihres eigenen Netzwerks. rung berichtet, dass die Hacker-Grup- Die Hacker hatten eine perfekte Ko- pe einen BlackEnergy-Virus in den pie der Kontrollsoftware auf einem Netzwerken von Wasser- und Ener- PC in einer weiter entfernten Einrich- giekonzernen platziert hatte. tung angelegt. Mithilfe dieses Klons Lee war sich nun sicher: Die Grup- wurde der Befehl zum Abschalten des pe war für die Angriffe auf das ukrai- Stroms gegeben. nische Stromnetz ebenso verantwort- Nachdem die Sicherungen ausge- lich wie auf das amerikanische: „Ein schaltet und der Strom für Zehntau- Gegner, der bereits amerikanische sende Ukrainer abgeknipst worden Energieunternehmen attackiert hat- war, begann die zweite Phase des An- te, hatte eine rote Linie überschritten griffs. Die Hacker hatten die Firm­

60 IP • November / Dezember 2017 Übungsfeld im Cyber-Krieg

ware „Umwandler“ in den Umspann- Gruppe wie Sandworm. „Das Prob- werken überschrieben – winzig klei- lem ist nur, dass wir Guten Einzel- ne Boxen in den Server-Schränken kämpfer sind und die Bösen ganz der Werke, die Internetprotokolle und gar nicht.“ Yasinsky wurde Chef übersetzen, um eine Kommunikation der Forschungs- und Forensikabtei- mit älteren Geräten zu ermöglichen. lung bei der Kiewer Firma Informati- Mit dem Umschreiben der Codes für on Systems Security Partners (ISSP), diese Hardware – was wochenlan- zu dem Zeitpunkt noch ein kleiner ge Vorbereitungen erfordert haben Fisch in der Cyber-Security-Branche. musste – konnten die Hacker die Ge- Yasinsky machte sie zum Ersthelfer räte gewissermaßen einmauern und für die Opfer im Cyberkrieg gegen die den wirklichen Administratoren die Ukraine. Kontrolle über die Trennschalter ent- Kurz nachdem Yasinsky zu ISSP ziehen. Assante war zutiefst beein- gewechselt hatte, erfolgte ein weite- druckt von solcher Gründlichkeit. rer, noch umfassenderer Angriff. Zu Und wieder hinterließen die Ha- den Opfern gehörten der ukrainische cker ihre Visitenkarte: KillDisk, mit Rentenfonds, die Staatskasse, die Ha- dessen Hilfe sie einige Computer des fenbehörde, die Ministerien für Inf- Unternehmens zerstörten. Der übels- rastruktur, Verteidigung te Teil des Angriffs aber richtete sich und Finanzen, zum zwei- Die Botschaft lautet: gegen die Notstromversorgung der ten Mal auch das ukraini- „Wir können überall Kontrollstationen. Nicht nur die „nor- sche Bahnunternehmen. male“ Stromversorgung wurde ausge- Mitten in der Feriensai- zuschlagen“ schaltet, sondern auch der Strom für son legten sie über Tage die Stromversorger, die nun eben- hinweg das Online-Buchungssystem falls im Dunklen saßen. Mit äußers- lahm. Wie 2015 kulminierten die ter Präzision hatten die Hacker einen Angriffe in einer KillDisk-Detona­ Stromausfall im Stromausfall arran- tion auf der Festplatte des jeweiligen giert. „Die Botschaft lautete eindeu- Opfers. Im Fall des Finanzministeri- tig: Wir können überall zuschlagen“, ums wurden Terabytes an Daten ge- sagt Assante. „Die Angreifer müssen löscht, gerade als das Ministerium sei- sich vorgekommen sein wie allmäch- nen Haushalt für das kommende Jahr tige Götter.“ vorbereitete. Die neue Herbst-Winter- Im August 2016, acht Monate offensive der Hacker übertraf die des nach dem ersten Weihnachtsstrom- vorherigen Jahres um ein Vielfaches, ausfall, kündigte Yasinsky seinen großes Finale inklusive. Job bei StarLightMedia. Es genügte Am 17. Dezember 2016, just als ihm nicht mehr, ein einziges Unter- Yasinsky und Familie den „Snow- nehmen gegen Angriffe zu verteidi- den“-Film schauten, hatte ein junger gen, wenn doch die gesamte ukraini- Ingenieur namens Oleg Zaychenko sche Gesellschaft Ziel der Attacken gerade die ersten vier seiner zwölf- war. Wenn man den Hackern etwas stündigen Schicht in Ukrenergos entgegensetzen wollte, dann war ein Übertragungsstation nördlich von umfassenderer Ansatz notwendig. Kiew hinter sich. In einem über und Die Ukraine brauchte eine kohären- über mit beigen und roten Schalt- tere Antwort auf eine so skrupellose konsolen versehenen Kontrollraum

IP • November / Dezember 2017 61 Verdeckte Offensive

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protokollierte er gerade mit Bleistift Unter Normalbetrieb ist ein Um- und Papier einen weitgehend ereig- spannwerk – oft so groß wie ein Dut- nislosen Samstag. Dann schrillte der zend Fußballfelder – ein gigantischer Alarm. Zwei der Kontrolllichter auf brummender Dschungel aus elektri- der rechten Seite seines Pultes wech- schen Geräten. Aber als Zaychenko in selten von rot auf grün – die Strom- die eiskalte Nacht trat, herrschte gera- kreise waren unterbrochen. Zaychen- dezu unheimliche Stille. Von den drei ko griff zum Hörer seines altmodi- riesigen Transformatoren, die etwa schen Tischtelefons und rief seinen ein Fünftel der Stromversorgung der Vorgesetzten in Ukrenergos Haupt- Hauptstadt liefern, war kein Brum- quartier an, um ihm die routinemäßi- men zu vernehmen. Wochen- und ge Störung mitzuteilen. Unterdessen monatelang hatte Zaychenko routi- sprang ein weiteres Licht auf grün. nemäßig seine Notfall-Checkliste ab- Dann noch eines. gearbeitet. Jetzt wusste er: Die Hacker Während Zaychenko eilig die Si- hatten wieder zugeschlagen. Und die- tuation erklärte, sprangen die Lich- ses Mal mit noch sehr viel größerem ter weiter um: rot – grün, rot – grün. Ehrgeiz. Erst acht, dann zehn, dann zwölf. Er Die Saboteure hatten nicht auf die solle schnellstens nachsehen, ob die Knotenpunkte gezielt, die gewisser- Geräte physische Schäden aufwiesen, maßen die Strom-„Kapillaren“ ver- befahl sein Vorgesetzter. Als er sich sorgen, sondern auf eine überlebens- die Jacke überwarf, fiel gerade der 20. wichtige Arterie. Das Kiewer Um- und letzte Stromkreislauf aus. Lam- spannwerk lieferte mehr elektrische pen und Computerbildschirme er- Leistung als alle 50 Verteilerstationen loschen, der gesamte Kontrollraum zusammen, die 2015 angegriffen wor- wurde dunkel. den waren. Glücklicherweise ließ sich

62 IP • November / Dezember 2017 Übungsfeld im Cyber-Krieg

das System binnen einer Stunde wie- Hacker als gradliniger und viel effizi- der hochfahren, bevor Panik oder Un- enter als deren Vorgänger: „2015 be- ruhen ausbrechen konnten. nahmen sie sich wie eine brutale Stra- ßenbande. 2016 bewegten sie sich ele- Stuxnet hat einen Nachfolger gant wie Ninjas.“ Dabei sind die Ha- Das war aber auch das einzig Positive. cker vermutlich dieselben. Cyber-Sicherheitsunternehmen, die Auf der Grundlage von noch un- den Angriff analysierten, stellten fest, veröffentlichten Analysen konnte Ro- dass die Technik der Hacker gegen- bert Lees Firma Dragos über 2015 deutlich weiterentwickelt die Autoren von Crash­ Eine anpassungs- war. Zum Einsatz kam jetzt eine hoch- Override als Teil der Sand- fähige und wieder- gradig komplexe und anpassungsfä- worm-Gruppe identifizie- hige Schadsoftware namens „Crash­ ren. Und Sandworm hat verwendbare Waffe Override“. Dieses Programm wurde laut Lee seit den ersten als automatisierte Waffe für die Sa- ­Attacken von 2014 erhebliche und botage von Stromnetzen entworfen. äußerst beunruhigende Fortschritte Crash­Override war in der Lage, die gemacht. Die Hacker demonstrieren, „Sprache“ des Stromnetz-Kontroll- dass sie fähig sind, kritische Infra- systems zu sprechen und damit di- struktur anzugreifen und dabei ihre rekte Befehle an die vernetzten Gerä- Technik mit jeder Angriffswelle noch te zu schicken. Die Malware war so zu verfeinern. programmiert, dass sie das Netzwerk Niemand weiß, wie und wo Sand- eines Betroffenen durchleuchten, po- worm das nächste Mal angreifen tenzielle Ziele identifizieren und zu wird. Eine weitere Attacke könn- einer voreingestellten Zeit beginnen te sich statt gegen Verteilungsstatio- konnte, Stromkreisläufe gezielt zu nen oder Umspannwerke gegen ein unterbrechen, ohne dass eine Inter- Kraftwerk richten. Geräte könnten netverbindung zu den tatsächlichen nicht nur lahmgelegt, sondern zer- Hackern bestand. Es war seit Stux- stört werden. Schon 2007 hatte ein net die erste Schadsoftware, die dazu Forschungsteam um Mike Assante entworfen war, selbsttätig physische gezeigt, dass es möglich ist, physische Infrastruktur zu sabotieren. Infrastruktur mit Hacks kaputtzuma- CrashOverride ist Experten zu- chen: Im so genannten Aurora-Expe- folge eine wiederverwendbare und riment wurde allein durch digitale Be- hochgradig anpassungsfähige Waf- fehle ein 2,25-Megawatt-Dieselgene- fe, um auch andere Stromversorger rator – eine Maschine von der Größe lahmzulegen. Wegen der modularen eines Zimmers – so zerlegt, dass sie Struktur der Malware kann die Proto- unter weißem und schwarzem Qualm kollsprache der Kontrollsysteme von zusammenbrach. Ukrenergos einfach gegen eine ande- Ein Generator unterscheidet sich re ausgetauscht werden, die beispiels- nicht wesentlich von den Maschi- weise in anderen europäischen Län- nen, die in den USA Hunderte von dern oder den USA verwendet wird. Megawatt Strom an ihre Kunden lie- Marina Krotofil, Expertin für Sicher- fern. Mit der richtigen ­Schadsoftware heit von industriellen Kontrollsyste- ­könnte man möglicherweise die Strom­­­ men, beschreibt die Methoden der erzeugungsgeräte oder die schwer er-

IP • November / Dezember 2017 63 Verdeckte Offensive

setzbaren Transformatoren dauerhaft ­Hacker die amerikanische Versor- ausschalten, die als Rückgrat des ame- gungsinfrastruktur angreifen, um rikanischen Stromnetzes fungieren. Vergeltung zu üben. Neben Dragos hat sich auch das Die Hacker-Angriffe auf das uk- slowakische Institut ESET mit der rainische Stromnetz waren äußerst Analyse von CrashOverride befasst. raffiniert, lösten aber noch keine Demnach enthält die Schadsoftware Katastrophe aus. Am Ende ging das möglicherweise schon jetzt ein Ele- Licht wieder an. Außerdem hätten ment für einen solch zerstörerischen amerikanische Stromkonzerne ihre Angriff. CrashOverride, Lehren aus den Ukraine-Attacken ge- Dienen die vermuten die ESET-Ex- zogen, meint Marcus Sachs, Verant- Cyber-Angriffe der perten auch, ist auf ein be- wortlicher für den Bereich Sicherheit stimmtes Siemens-Schutz- der North American Electric Relia- Abschreckung? gerät in Kraftwerken aus- bility Corporation. Seit 2015 orga- gelegt; eine Vorrichtung, nisiert NERC Informationsveran- die als Notschalter bei gefährlicher staltungen für Stromkonzerne, um Überspannung fungiert. Falls es sie widerstandsfähiger gegen An- Crash­Override gelingt, diese Schutz- griffe zu machen. Dazu gehört auch, vorrichtung stark zu beschädigen, die Fernsteuerung kritischer Syste- könnte das Programm schon jetzt me häufiger abzuschalten. Dennoch Stromnetze dauerhaft beschädigen. halten Experten, die Sandworm seit Warum und wie genau aber würde nunmehr drei Jahren beobachten, ein Akteur wie Russland dem ameri- weitere Angriffe auf das US-Strom- kanischen Stromnetz Schaden zufü- netz nicht für völlig ausgeschlossen. gen wollen? Ein Angriff auf ameri- kanische Versorgungsunternehmen Vorbereiten auf die nächste Runde würde mit Sicherheit sofortige und Die Zentrale von Yasinskys Firma In- drastische Gegenmaßnahmen der formation Systems Security Partners USA nach sich ziehen. ist ein Flachbau inmitten eines Kie- Manche Experten für Cyber-Si- wer Industriegebiets. Yasinskys Büro cherheit vermuten, dass Russland ist dunkel, auf einem runden Tisch lie- darauf abzielt, die Cyber-Kapazitäten gen riesige Netzwerkkarten, die Kno- der USA in Schach zu halten. Es ginge tenpunkte und Verbindungen von ver- also um Abschreckung. Die Angrif- blüffender Komplexität zeigen. Jede fe auf die Ukraine wären eine klare Karte dokumentiert die Zeitleiste ei- Botschaft an die USA: Seht, was wir nes Sandworm-Angriffs. Seit fast zwei können, und wagt es nicht, uns oder Jahren widmet Yasinsky den Großteil einen Verbündeten wie den syrischen seiner Arbeit dieser Hacker-Grup- Machthaber Baschar al-Assad mit ei- pe. Es sei unmöglich, sagt er, die ex- nem Virus wie Stuxnet anzugreifen. akte Anzahl ukrainischer Einrich- Lee ist anderer Meinung: Sollte tungen zu kennen, die zum Ziel der sich Russland in die Ecke gedrängt Sandworm-Attacken geworden sind. fühlen, zum Beispiel, wenn die USA Jede Schätzung sei mit großer Wahr- gegen Moskaus militärische Inter- scheinlichkeit eine Unterschätzung, essen in der Ukraine oder Syrien und zu jedem bekannten Angriff kom- handelten, dann könnten russische me mit hoher Wahrscheinlichkeit ein

64 IP • November / Dezember 2017 Übungsfeld im Cyber-Krieg

Opfer, das die Cyber-Eindringlinge Kreml-Hackern im digitalen Kampf noch nicht entdeckt hat oder die Atta- besser ausbilden als in der rauen At- cke nicht zugeben will. mosphäre eines heißen Und die Eindringlinge machen im- Krieges an Russlands Peri- Die Hacker testen, mer weiter. Zwei Mitarbeiter Yasins- pherie? „Sie machen ernst. ob sie ohne Strafe kys sind während unseres Gesprächs Hier kann man Schlim- damit beschäftigt, Schadsoftware zu mes anrichten, ohne Ver- davonkommen analysieren, die das Unternehmen geltung oder Strafverfol- erst einen Tag zuvor über eine neue gung fürchten zu müssen. Schließlich Salve von Phishing-Mails erhalten ist die Ukraine nicht Frankreich oder hat. Die Angriffe, sagt Yasinsky, fol- Deutschland“, sagt Kenneth ­Geers gen nunmehr einem jahreszeitlichen vom NATO Cooperative Cyber De- Rhythmus. In den ersten Monaten fence Center of Excellence. des Jahres schaffen die Hacker die Der Kreml hat sich in die ukrai- Basis: Sie dringen unbemerkt in die nischen Wahlen eingemischt und sah Systeme ihrer Ziele ein und breiten sich mit keinerlei Konsequenzen kon- sich aus. Am Ende des Jahres detonie- frontiert; daraufhin hat er ähnliche ren sie ihre digitale Bombe. Die Saat Taktiken in den USA und Frankreich für eine erneute Dezemberattacke ist angewandt. Russische Hacker haben schon ausgebracht. ungestraft den Strom in der Ukraine Sich auf die nächste Runde vorzu- abgeschaltet – die logische Kette lässt bereiten, sagt Yasinsky, ist wie „für sich leicht zu Ende führen. „Die Ha- eine entscheidende Klausur zu ler- cker testen unsere Grenzen und ob nen“. Aber in dem größeren Mas- sie ungestraft davonkommen“, sagt terplan der Hacker, glaubt er, ist die Thomas Rid vom Londoner King’s Ukraine seit drei Jahren einfach nur College. „Sie schubsen, und schubst ein Übungsfeld für Cyber-Manöver. man nicht zurück, dann lädt man sie Selbst bei ihren zerstörerischsten At- geradezu ein, einen Schritt weiterzu- tacken hätten die Hacker noch deut- gehen.“ lich weiter gehen können. Sie hät- Was wäre der nächste Schritt? ten nicht nur die Dateien des Fi- Vielleicht noch ein Stromausfall. Oder nanzministeriums zerstören kön- eine gezielte Attacke auf die Wasser- nen, sondern auch deren Backups. versorgung. „Bemühen Sie Ihre Fan- Wahrscheinlich hätten sie Ukrener- tasie“, sagt Yasinsky trocken. „Der gos Umspannwerk längerfristig stö- Cyber-Raum ist nicht das Ziel. Er ist ren können. „Sie spielen immer noch ein Medium.“ mit uns“, sagt er. Jedes Mal sind die Hacker abgezogen, bevor sie den ma- Andy Greenberg ximalen Schaden anrichten konnten. ist Autor der US-Aus- Ganz, als wollten sie ihre tatsächli- gabe von WIRED. ­Dieser Beitrag beruht chen Möglichkeiten für eine zukünf- auf seiner Reportage tige Operation geheimhalten. „How an Entire Nation Zahlreiche Cyber-Exper­ten sind Became Russia’s Test zum gleichen Ergebnis gekommen. Labor for Cyber War“ (Juli 2017). Wo könnte man eine Armee aus

IP • November / Dezember 2017 65 Gegen den Strich

Zukunftskontinent Asien

Bernhard Bartsch | Die Zukunft gehört Asien, der Niedergang des Westens ist besiegelt, und Autokratien à la China passen besser zum Kapitalismus als westliche Demokratien: Im deutschen Asien-Diskurs hat sich ein fast maso- chistischer Fatalismus eingeschlichen. Als einziger Trost bleibt Asiens an- gebliche Unfähigkeit zur Innovation. Mit der Realität hat das wenig zu tun.

Asiens Aufstieg ist unaufhaltsam Leider nein. Denn eigentlich müssten wir uns wünschen, dass es so wäre. Schließlich würde es bedeuten, dass es den Bewohnern Asiens in Zukunft bes- ser geht als jetzt. Das ist jedoch keineswegs ausgemachte Sache. Die Länder Asiens stehen vor ernsten ökologischen, demografischen und politischen Prob- lemen. Es versteht sich nicht von selbst, dass sie diese Probleme lösen können. Das gilt besonders für China, den Champion der Region. Der ökologische Preis, den das Land bereits jetzt für sein Wachstum entrichtet, ist so hoch, dass er auf Dauer nicht bezahlbar ist. So ist etwa der Zustand der Wasserressour- cen im Land so bedrohlich, dass der frühere Premierminister Wen Jiabao ge- warnt hat, dies „gefährdet das Überleben der chinesischen Nation“. Ein Bei- spiel: In den vergangenen 20 Jahren wurden in China mehr als die Hälfte der Flüsse so stark verseucht, dass sie heute in offiziellen Statistiken nicht mehr als Frischwasserläufe geführt werden. Übernutzung durch Urbanisierung ist der wichtigste Grund dafür. Das geht an die Substanz. Wirtschaftswachstum um diesen Preis ist tatsächlich halsbrecherisch. Ähnliches gilt für den Boden. Ein Fünftel aller chinesischen Äcker – das ent- spricht der Fläche Großbritanniens – ist stark mit Chemikalien und Schwerme- tallen belastet, zum Teil so sehr, dass dort überhaupt kein Anbau erlaubt sein dürfte. Zu groß sind die Risiken für die Gesundheit. Wie es um die Luftquali- tät in China steht, ist hinreichend bekannt. In Sachen Feinstaub ist man an ei- nem der schmutzigeren Pekinger Tage in einer verrauchten Kneipe besser auf- gehoben als an der „frischen“ Luft. Das ist kein Spruch, sondern ein Messwert. Zwar gehört auch in Peking seit vielen Jahren die Rhetorik der Nachhaltig- keit zum politischen Repertoire, genauso wie Elektroautos und die Förderung

66 IP • November / Dezember 2017 Zukunftskontinent Asien

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erneuerbarer Energiequellen. Aber das Land bezieht nach wie vor zwei Drittel seines Energiebedarfs aus Kohle und etwa ein weiteres Fünftel aus Öl. Macht insgesamt rund 86 Prozent. Daran wird auch die E-Mobilität nichts ändern. Auch politisch ist die Welt für China kompliziert geworden. Chinas Nähe zu Nordkorea, die Auseinandersetzung mit Japan, die Aggression gegen Taiwan, Gebietsansprüche in ganz Südostasien, der Konfrontationskurs mit den USA im Südchinesischen Meer – jeder einzelne dieser Konflikte könnte in eine Ka- tastrophe münden. Dazu kommt die Frage nach der Stabilität im Land selbst. Bis jetzt wirkt die technokratische Herrschaft der KP alternativlos. Sie ist grad- linig legitimiert: durch ihren Erfolg. Wie stabil wird sie sein, wenn der Erfolg einmal ausbleibt, durch eine Rezession oder eine außenpolitische Niederlage? Schließlich steht China vor einem besonderen demografischen Problem. Die Ein-Kind-Politik führt voraussichtlich dazu, dass das Land alt wird, bevor es reich genug ist, um seine Alten zu versorgen. Hunderte Millionen Famili- en werden davon betroffen sein, mit Folgen für die gesamte Volkswirtschaft. Indien, das zweitgrößte Schwellenland, hat das entgegengesetzte Problem. Über die kommenden zwei Jahrzehnte werden dort jedes Jahr mehr als zehn Millionen Menschen auf den Arbeitsmarkt drängen, auf dem sich 2020 rund 900 Millionen Inder tummeln werden. Fünf Jahre später wird Indien voraus- sichtlich China als bevölkerungsreichstes Land der Welt ablösen. Bis 2050 wird die Anzahl seiner Bewohner auf rund 1,7 Milliarden steigen. Das könnte In- diens größte Stärke sein – oder seine größte Schwäche. Nur 2 Prozent aller indischen Arbeiter haben eine Ausbildung. Lediglich 16 Prozent der Inder verfügen über ein regelmäßiges Einkommen; fast 90 Pro- zent sind informell beschäftigt. Die IT-Industrie kommt für ein paar Millionen reguläre Jobs auf – das Land braucht aber einige hundert Millionen.

IP • November / Dezember 2017 67 Gegen den Strich

Kann Indien seine Bürger in eine schnell expandierende Wirtschaft inte- grieren? Wenn das gelingt, dann wird das Bevölkerungswachstum eine riesi- ge demografische Dividende abwerfen – und die ökologischen Probleme brin- gen, die China schon jetzt hat. Wenn nicht, dann hat das Land ein giganti- sches Problem. Bleibt noch der Joker unter den Schreckensszenarien: der Klimawandel. Weite Teile Südostasiens, Indiens und Südchinas liegen nur knapp über dem Meeresspiegel. Wie ernst die Folgen des Klimawandels für die verschiede- nen Länder sind, hängt aber nicht nur von der geografischen Lage ab, son- dern ganz entscheidend auch davon, wieviel Geld und organisatorische Ka- pazität sie haben, um sich dagegen zu wappnen. Die Philippinen, Indonesi- en und Bangladesch werden darum viel stärker betroffen sein als Florida, Dänemark oder die Niederlande. Der Klimawandel wird die Entwicklungs- länder besonders hart treffen und ihre Chancen, die „Erste Welt“ einzuho- len, weiter schmälern.

Die Macht verschiebt sich von West nach Ost Das klingt vielleicht deshalb plausibel, weil unklar ist, was es bedeutet. Macht hat viele Dimensionen. Seien es wirtschaftlicher Erfolg, Soft Power, mi- litärische Präsenz oder Einfluss in internationalen Gremien. Nicht alles davon ist messbar, und selbst dort, wo es sich sauber quantifizieren lässt, ist nicht im- mer klar, was die Messergebnisse eigentlich zeigen. Japans BIP übertrifft das britische um fast das Doppelte. Bedeutet das, dass Tokio doppelt so viel internationalen Einfluss hat wie London? Zeigen Pekings hohe Militärausgaben, dass China mächtiger wird – oder untergraben sie Pe- kings Einfluss, weil sie das Land isolieren und die Nachbarn in Bündnisse trei- ben, die sie sonst nicht eingehen würden? Ist Südkorea mächtig, weil Samsung eine erfolgreiche Firma ist? Wächst Indiens Einfluss, weil Tata mit ThyssenKrupp zusammengeht? Ist die Tatsa- che, dass alle iPhones in China gebaut werden, ein Machtfaktor, zeigt sie eine Schwäche an – schließlich spielt China in diesem Fall die Rolle einer amerika- nischen Fabrik – oder ist sie eine Mischung aus beidem? So einfach ist es also nicht mit der Verschiebung der Macht. Eines ist im- merhin gewiss: Die Länder Asiens nehmen nach Maßgabe ihrer Interessen und Fähigkeiten Einfluss auf ihr Geschick. Je mehr sie an einer globalisierten Welt teilnehmen, desto mehr bemerken wir sie. Das sollte uns nicht überraschen.

Asien nimmt unsere Arbeitsplätze weg Falsch. Zwar hatte es lange den Anschein, dass Outsourcing und Offshoring, also die Auslagerung von Einkauf und Produktion in billigere Länder Asiens, „uns“ im Westen zwangsläufig die Arbeitsplätze wegnehmen würden. Aber zunächst einmal: Was heißt hier „unsere“? Für die Menschen in China oder

68 IP • November / Dezember 2017 Zukunftskontinent Asien

Indien ist ein Arbeitsplatz genauso wichtig wie für die in Deutschland oder Großbritannien. Sie haben nicht mehr, aber auch nicht weniger Recht auf ein geregeltes Einkommen. Im Übrigen ist die Sache mit dem Offshoring eben doch keine Zwangsläu- figkeit, sondern zu einem hohen Grad eine Mode vor allem der anglo-amerika- nischen Management-Philosophie, die eng mit der Orientierung am kurzfris- tigen Shareholder-Value zusammenhängt. Laut Jack Welsh, dem langjährigen CEO von General Electrics, ist dies „die dümmste Idee der Welt.“ Seit einigen Jahren – nicht erst seit Trump – gibt es auch in den Vereinig- ten Staaten immer stärkere Zweifel daran, ob und wann sich das Offshoring wirklich lohnt. Theoretisch steigert es zwar den Profit. In Wirklichkeit verur- sacht es aber viele versteckte Kosten, zum Beispiel vertrackte logistische Pro- bleme und den Verlust von Know-how. Europa und vor allem Deutschland haben nie mit ganzem Herzen an das Offshoring geglaubt. Diese Skepsis hat sich ausgezahlt. Der Anteil der Indus- trieproduktion am Bruttoinlandsprodukt ist in Deutschland seit den späten 2000er Jahren gewachsen und hat sich seitdem bei etwa 23 Prozent stabilisiert. In Amerika liegt er heute bei knapp 13 Prozent. Gerade das deutsche Beispiel zeigt also, dass die Globalisierung nicht unbedingt Arbeitsplätze kostet. Zu den wichtigsten Erfolgsfaktoren in Deutschland – und auch anderswo, etwa in den Niederlanden oder Schweden – gehören gut ausgebildete Facharbeiter, die sich nicht ohne Weiteres ersetzen lassen. Ein weiterer Erfolgsfaktor scheint paradox: Der hohe Grad der Automati- sierung, zum Beispiel durch Roboter in der deutschen Autoindustrie, schützt Arbeitsplätze, weil er sie weniger mobil macht. Auch sind die Investitionen in solch anspruchsvolle Produktionsanlagen so hoch, dass man sie nicht mal eben am anderen Ende der Welt neu aufbauen kann. Obendrein müssen potenzielle Konkurrenten aus Schwellenländern ge- nauso viel investieren, um mithalten zu können. Kurz gesagt: Investitionen in Ausbildung und Technik beschützen gute Arbeitsplätze in den entwickel- ten Ländern. Der Verlust von Arbeitsplätzen betrifft dagegen vor allem Branchen, in de- nen Technik und Ausbildung weniger relevant sind. In den reichen Ländern bedeutet dies zwar weniger Arbeit im Niedriglohnsektor. Andererseits bedeu- tet es auch billigere Konsumgüter, also niedrigere Lebenshaltungskosten. Alles in allem ist die Bilanz also positiv. Im Ranking der Länder, die pro Einwohner in absoluten Zahlen am stärksten von der Globalisierung profi- tiert haben, liegt Deutschland auf Rang 6. Das berichtete der Bertelsmann Globalisierungsreport 2016. Japan, Israel und eine Reihe von kleineren europäischen Staaten belegen die übrigen Plätze unter den besten zehn. Die USA liegen auf Platz 23. Sie haben pro Kopf nicht einmal halb so viel Profit aus der Globalisierung schla- gen können wie Deutschland, trotz oder gerade wegen der Offshoring-Welle. China liegt in dieser Rangliste gerade einmal auf Platz 41. Wir im Westen, vor allem in Europa, sind die größten Gewinner der Globalisierung.

IP • November / Dezember 2017 69 Gegen den Strich

Asiens wirtschaftlicher Erfolg beruht auf ­Imitation statt Innovation So einfach ist es nicht. Entscheidend am Erfolg ist nicht, dass er auf Innova- tion beruht, sondern dass er eben das ist: Erfolg. Ein Beispiel: Die chinesische Firma Xiaomi hat das Smartphone nicht erfunden. Auch beim Design hat sie sich von Apple, nun ja, inspirieren lassen. Doch lässt es sich nicht wegdiskutie- ren, dass sie sehr erfolgreich ist, wie Huawei, wie Meizu, wie Oppo und viele andere. Auch Samsung hat mal so angefangen. In Deutschland hat niemand Ap- ple imitiert. Dafür gibt es bei uns auch keinen einzigen Smartphone-Hersteller. Das Vorurteil, dass die Asiaten keine Ideen hätten, hat schon vor 60 Jahren nicht gestimmt, als deutsche Firmen wie Leica und Zeiss sich zu fein waren, die japanische Konkurrenz ernst zu nehmen. Nikon und Canon waren, nicht anders als Huawei und Samsung, im Hinblick auf ihre Technik keine „first movers“, sondern „smart followers“. Doch haben deutsche Firmen mit exakt derselben Strategie bereits im 19. Jahrhundert die britischen „first movers“ der industriellen Revolution ausgestochen. Die These vom Innovationsmangel in Asien kennt auch eine Variation: nämlich die, der zufolge sich Einfallsreichtum und Autokratie nicht mitein- ander vertragen. Aber unter allen asiatischen Unternehmen sind es gerade die chinesischen, die ihrer westlichen Konkurrenz an Innovationskraft immer we- niger unterlegen sind. Häufig sind sie ihnen schon weit voraus. Batterien – eine Schlüsseltechnologie für E-Mobilität und erneuerbare Ener- gien – bezieht man in Europa aus Ostasien. Chinesische Firmen wie BYD und CATL haben gute Chancen, den globalen Markt dafür zu dominieren. Um eu- ropäische Konkurrenz brauchen sie sich keine Sorgen zu machen – es gibt kei- ne. Der chinesische Internethändler Alibaba ist das weltweit größte Unter- nehmen seiner Art. Und Firmen wie der chinesische Internetgigant Tencent zählen zu den besten der Welt. Sie brauchen vor allem in Sachen künstliche Intelligenz den Vergleich mit Google nicht zu scheuen. Von einem Mangel an Innovationsfähigkeit kann da eigentlich keine Rede sein.

China ist die Leitmacht Asiens Die Regierung in Peking würde sich bestimmt freuen, wenn es so wäre. Aber das kann sie nicht allein entscheiden. Die anderen Länder in Asien haben da auch noch ein Wörtchen mitzureden. Und die meisten von ihnen möchten eher nicht von China geführt werden. China hat zwar viele Geschäftspartner, aber keine echten Freunde. Das liegt daran, dass die Regierung in Peking eine recht brachiale „China First“-Politik betreibt, die noch weiter geht als Donald Trumps Ambitionen, Amerika wieder „great“ zu machen. Dazu ein Beispiel: Einen Territorialstreit mit Japan vom Zaun zu brechen – über die Senkaku-Inseln im Ostchinesischen Meer – mag hitzköpfigen Patri- oten in China Befriedigung verschaffen. Eine regionale Zusammenarbeit un-

70 IP • November / Dezember 2017 Zukunftskontinent Asien

ter Chinas Führung fördert eine solche Maßnahme ganz sicher nicht. Stattdes- sen hat der Druck aus China dafür gesorgt, dass Japan seinen seit dem Zwei- ten Weltkrieg in der Verfassung verankerten Pazifismus in wachsendem Maße aufgibt, zugunsten eines stärkeren militärischen Engagements in der Region. Daneben wetteifert Japan mit China auch um wirtschaftlichen Einfluss in Südostasien, vor allem mit Infrastrukturprojekten von Indien bis Indonesi- en. Das ist gut für die Länder in der Region, die nun von den beiden Rivalen profitieren können, anstatt sich einer chinesischen Führung unterzuordnen. Der chinesische Wunsch nach Führung zeigt sich unter anderem darin, dass Peking seine Gebietsansprüche über nahezu das gesamte Südchinesische Meer ausgedehnt hat, von den Küsten Vietnams und Malaysias bis zu den Philippi- nen und nach Indonesien. Damit hat China Territorialstreitigkeiten mit einem halben Dutzend Nachbarländer provoziert, und zwar gerade mit denen, die es für sich gewinnen möchte. Eine vertrauensbildende Maßnahme ist das nicht. Die kontraproduktive Wirkung dieser Politik geht so weit, dass sogar Viet- nam lieber mit den USA – die das Land einst fast in die Steinzeit bombten – zusammenarbeitet als mit China. Allerdings könnte sich Donald Trump noch als Retter der chinesischen Ambitionen in Südostasien erweisen.

Chinas Aufstieg führt zu militärischen Konflikten­ Auszuschließen ist das leider nicht. Innerhalb von 40 Jahren hat sich­ China­ von einem bettelarmen Entwicklungsland zu einer wirtschaftlichen Groß- macht entwickelt. Voraussichtlich wird das Land im Jahr 2050 die USA über- holen und sie nach 180 Jahren als größte Ökonomie der Welt ablösen. „Der Aufstieg Athens und die Furcht, die das in Sparta auslöste, machten den Krieg unausweichlich“, schrieb der griechische Historiker Thukydides im 5. Jahrhundert vor Christus. Die Dynamik dieses Konflikts ist auch als Thuky­ dides-Falle bekannt: Der etablierte Hegemon kann nicht tatenlos zusehen, wie der Aufsteiger ihn deklassiert. Zugleich kann die kommende Macht nicht hin- nehmen, dass es in der etablierten Ordnung keinen angemessenen Platz für sie gibt. Sparta und Athen tappten im Peloponnesischen Krieg in diese Falle. Nach 30 Jahren Kampf war Sparta nominell der Sieger. In Wirklichkeit hatten die bei- den Stadtstaaten sich gegenseitig ruiniert. Ähnlich verhielt es sich Anfang des 19. Jahrhunderts, als die Rivalität zwischen Deutschland und Großbritannien viel dazu beitrug, beide Länder in den Ersten Weltkrieg zu steuern. Werden die USA und China in die gleiche Falle tappen? Eine gewisse Logik ist der Idee nicht abzusprechen. Der Aufstieg eines neuen Akteurs bedeutet stets eine Belastung für die etablierte internationale Ordnung. Dieser Druck auf das System kann dazu führen, dass kleinere Konflikte, die unter normalen Umständen lösbar wären, außer Kontrolle geraten. Sei es die Ermordung eines österreichischen Thronfolgers in Sarajewo oder ein Streit zwischen zweitrangi- gen griechischen Städten, die ihre großen Verbündeten in den Konflikt hinein- zogen. Aber die Thukydides-Falle ist kein Naturgesetz. Sie ist eine Warnung, und die Akteure in Asien täten gut daran, diese Warnung ernst zu nehmen.

IP • November / Dezember 2017 71 Gegen den Strich

Denn es gibt tatsächlich bedenkliche Anzeichen, dass sich in Asien Span- nungen aufbauen, die außer Kontrolle geraten könnten. So scheint Chinas ex- pansive Außenpolitik gegenüber Japan, Taiwan und Südostasien zu zeigen, dass Peking Ambitionen hat, die mit Amerikas Rolle in der Region nicht kom- patibel sind. Derweil tut der US-Präsident, was er kann, um seine Optionen im Konflikt mit Nordkorea einzuengen. Möglich, dass es sich bei beiden Fällen um eine Art Sozialimperialismus handelt, dem es in Wirklichkeit mehr um innenpolitische Legitimation als um außenpolitische Ziele geht. Aber gerade da liegt die größte Gefahr. Denn wer den populistischen Tiger reitet, kann nicht absteigen, ohne von ihm gefressen zu werden. Sollten China oder die USA intern unter Druck geraten, könnte ihnen die Kontrolle über externe Konflikte entgleiten. Bedenklich ist in diesem Zusammenhang, dass Spannungen in der Region eher bilateral oder in ad hoc gebildeten Beratungsgruppen angegangen werden, ohne dass es dafür etablierte Prozesse gäbe. So blieben alle Appelle, endlich einen bindenden Kodex zu vereinbaren, um das Verhalten im Fall von Zwischenfällen im Südchinesischen Meer zu regeln, bislang eben nur dies: Appelle. Wenn man es positiv wenden will – da ist noch viel Platz für kreative Diplomatie.

Wie der Vergleich mit Indien zeigt, profitiert China von seinem autokratischen System

Heikles Thema. Die enge Zusammenarbeit zwischen Staat und Unternehmen unter Ausschaltung der Bürgerrechte – zumindest aus betriebswirtschaftlicher Sicht klingt das nach einem Erfolgsrezept. Böse Zungen behaupten allerdings, dies sei der Wesenskern des Faschismus. Tatsächlich hat sich dieser Ansatz schon des Öfteren bewährt, etwa in Taiwan und Südkorea. Nun funktioniert er in einem viel größeren Maßstab auch in China. Wenn man annehmen wollte, dass es zwischen China und Indien keinen anderen relevanten Unterschied gibt als die Regierungsform, dann würde der Vergleich der beiden Länder zeigen, dass eine Entwicklungsdiktatur effektiver ist als eine zumindest der Form nach repräsentative Demokratie. Und tatsächlich hat die Autokratie ihre Stärken. Sie kann permanent „durchregieren“, weitreichende Entscheidungen zügig umsetzen und braucht sich ihren Planungshorizont nicht von Wahlzyklen zerstückeln zu lassen. Al- lerdings sind diese Stärken zugleich gefährliche Schwächen. „Große Männer machen große Fehler“, schrieb Karl Popper in seinem Buch „Die offene Gesell- schaft und ihre Feinde“. Was damit gemeint ist, dafür kann Mao Zedong als Beispiel dienen. Auch er konnte „durchregieren“, nur war das nicht zu ­Chinas Vorteil. Auch wenn Chinas autokratisches System seit 40 Jahren große Erfol- ge erzielt – in den Jahrzehnten davor führte dieselbe Autokratie in den Irrsinn und zu einer ganzen Serie von nationalen Katastrophen. Außerdem gibt es in Ostasien neben einer Handvoll erfolgreicher Entwick- lungsdiktaturen auch eine große Zahl von Autokratien, die kläglich gescheitert

72 IP • November / Dezember 2017 Zukunftskontinent Asien

sind. Genauso wie ein ganzes Gruselkabinett von Selbstherrschern im Nahen und Mittleren Osten und Nordafrika haben auch Laos und Birma wenig Ka- pital aus ihren Autokratien geschlagen. Nicht die alternative Demokratie oder Autokratie scheint also für den wirt- schaftlichen Erfolg den Unterschied zu machen – sondern die Frage, ob ein Land eine kompetente und verantwortungsbewusste Elite hat oder nicht.

China bietet ein Alternativmodell zur westlichen Demokratie

Das stimmt bestenfalls teilweise. Richtig ist, dass westliche Demokratie immer weniger als Vorbild gilt. Das hat nicht zuletzt mit der großen Arroganz und Vehemenz zu tun, mit der westliche Länder und Institutionen wie die Welt- bank in asiatischen Ländern aufgetreten sind. Etwa während der Asien-Krise 1998, als man sich im Westen schon am guten Ende der Weltgeschichte wähnte. Es ist dann doch anders gekommen. Unter anderem hat sich gezeigt, dass es mehr als nur einen Weg zu wirtschaftlicher Entwicklung und administrativer Kompetenz gibt. Wer heute etwa aus Südostasien nach Europa oder Amerika blickt, dürfte etwas weniger beeindruckt sein als vor 20 Jahren. Die ewig wäh- renden Krisen in der EU und in Amerika, ein exzentrischer Präsident fördern nicht gerade das Prestige der westlichen Demokratie. Allerdings haben sich viele Staaten in Asien ohnehin nie daran orientiert – Suhartos Indonesien etwa, Vi- etnam, Laos und Birma brauchten nicht erst ein chinesisches Wirtschaftswun- der, um ihr Desinteresse an Parlamenten und Rechtsstaatlichkeit zu entdecken. Daran hat man sich im Westen vor dem Triumphalismus der 1990er Jah- re auch kaum je gestört. „He may be a bastard, but he is our bastard“, so lau- tet ein alter Scherz über die amerikanische Haltung gegenüber verbündeten Despoten. Aus dieser Perspektive betrachtet, besteht das Problem nicht dar- in, dass einige Länder sich nicht an westlichen Demokratien orientieren. Das Problem stellt sich erst, wenn der autokratische Mistkerl nicht „unser“ Mist- kerl ist – und quasi im falschen Team spielt. Davon abgesehen gilt, dass auch in asiatischen Ländern die Bürger den Rechtsstaat, die Meinungsfreiheit, die Kontrolle über staatliche Instanzen und andere Errungenschaften der westlichen Demokratie durchaus höher schätzen als Behördenwillkür, Zensur und Kleptokratie. Das geht so weit, dass selbst die Anführer repressiver Regime nicht umhinkönnen, den de- Bernhard Bartsch mokratischen Werten zumindest Lip- ist Senior Expert für penbekenntnisse zu zollen. Asien in der Bertels- mann Stiftung. Zuvor So ganz miserabel kann es also arbeitete er mehr um den Vorbildcharakter der Demo- als zehn Jahre als kratie nicht bestellt sein. So seltsam ­Asien-Korrespondent es auch klingt: Der Ruf des Westens in China. ist besser als sein Ruf.

IP • November / Dezember 2017 73 China

Ganz auf Linie Xi Jinping sieht die Volksrepublik global auf der Überholspur

Nele Noesselt | Parteitage der Kommunistischen Partei Chinas sind in ers- ter Linie symbolische Rituale zur Orchestrierung der Politik. Die Weichen für die weitere Rezentralisierung der Macht wurden 2017 ebenso gestellt wie die für die Fortführung des neoliberalen Staatskapitalismus. Außen- politisch dürfte die Führung in Peking ihre bisherige Linie fortführen.

Auf den alle fünf Jahre stattfinden- Staatsorgane teilweise umgangen. Pa- den Parteitagen der Kommunisti- rallel aber zielten Xi und seine Ver- schen Partei Chinas (KPCh) werden trauten darauf, innerhalb der forma- in der Regel keine unerwarteten pro- len Führungsgremien strategische grammatischen Kurswechsel vollzo- Mehrheiten zu gewinnen. gen. Vielmehr werden Modifikationen des Partei- und Staatssystems der vo- Neue, alte Gesichter rangegangenen Jahre formal abgeseg- Das scheint geglückt, denn der Par- net. So auch auf dem 19. Parteitag im teitag stellte die entsprechenden Wei- Oktober 2017. chen. Die bestehende Altersgrenze Die Erarbeitung konsensfähiger machte dieses Jahr den Austausch von Konzepte hatte lange vorher begon- etwa zwei Dritteln der Partei- und nen, in zahlreichen Arbeitssitzun- Staatsfunktionäre notwendig. Zu- gen, teils sogar unter Einbindung ex- sätzlich hat die 2012 von Xi initiierte terner Berater. Der ganz offiziell in Antikorruptionskampagne unzählige Parteierklärungen eingeräumte Re- Parteikader zu Fall gebracht und da- formstau führte dazu, dass die chi- mit die Machtbeziehungen zwischen nesische Führung Korrekturen des den verschiedenen Strömungen und bisherigen Entwicklungsmodells vor- Netzwerken innerhalb der KPCh au- nehmen musste, was unausweich- ßerhalb der formal vorgesehenen lich Interessenkonflikte innerhalb Zeitfenster verschoben. der Eliten hervorruft. Mittels so ge- In seiner Eröffnungsrede wies Xi nannter „kleiner Führungsgruppen“, auf die Gefahren und Herausforde- die von Staats- und Parteichef Xi Jin- rungen für die Einparteienherrschaft ping und seinen Vertrauten geleitet hin und forderte eine pragmatische werden, wurden die etablierten, po- Weiterentwicklung des chinesischen tenziell reformaversen Partei- und Sozialismus. Zudem ­differenzierte

74 IP • November / Dezember 2017 Ganz auf Linie

er seine „Zweimal-Hundert“-­Formel Parallel hierzu aber sind seit 2013 weiter aus, die das 100. Gründungs- zahlreiche Maßnahmen zum weite- jubiläum der KPCh (2021) und den ren Ausbau des freien Marktes be- 100. Jahrestag der Volksrepublik schlossen worden, die eine Fortfüh- (2049) als Prüfdaten für den Aus- rung des neoliberalen Wirtschafts- bau des Sozialismus fixiert hatte. Er kurses und somit ein Festhalten am skizzierte einen Mehrstufenplan des bisherigen Entwicklungs- Umbaus zu einer „modernen sozia- weg implizieren. Auch Xi hat das Prinzip der listischen Großmacht“ mit den Jah- weiterhin steht die Wirt- kollektiven Führung ren 2020, 2035 und 2050 als Eckda- schaftspolitik der Volks- ten einzelner Entwicklungsphasen. republik in der Traditi- partiell ausgehebelt on der von Deng Xiaoping Mächtiger als Mao? erwirkten Beschlüsse des 3. Plenums Auch wenn unter Xi Reformprozes- des 11. Zentralkomitees von 1978 zu se straff von oben nach unten ver- „Reform und Öffnung“ – alle wich- laufen sollen, so sind die Debatten tigen Parteidokumente zum Zusam- darüber, wie diese gestaltet werden menspiel von Politik und Wirtschaft könnten, alles andere als einheitlich. verweisen auf eben dieses Plenum Angesichts der zahlreichen konkur- und konstruieren damit eine gerade rierenden Strömungen und der stra- Entwicklungslinie des chinesischen tegischen Interessensklüngel inner- Einparteiensystems. Und Kontinui- halb der KPCh lohnt ein Blick zurück: tät – in Form der Weiterführung po- Zwar sind die parteiinternen Debat- litischer Traditionen, symbolischer ten über den „richtigen“ Entwick- Praktiken und staatsphilosophischer lungsweg mit den Reformbeschlüs- Konzepte – gilt als ein elementarer sen von 2013 und der Verabschiedung Baustein der Legitimierung des Ein- des 13. Fünfjahresplans formal abge- parteienregimes. Deshalb warnten schlossen – zumindest vorläufig. Berater die chinesische Regierung Doch bei der konkreten inhalt- vor einem radikalen Systemumbau, lichen Ausgestaltung wird die neue mit dem diese Linearität durchbro- Machtbalance der Faktionen nach chen würde. dem Parteitag eine zentrale Rol- Dieses Kontinuitätsnarrativ wird le spielen. In den vergangenen fünf in der jüngsten politischen Debatte Jahren hat Xi eine Rezentralisierung auf die Formel der „Neuen Norma- politischer Koordination und Steue- lität“ gebracht. Die Rede ist von ei- rung durchgesetzt und zugleich mit nem neuen „Dauerzustand“, in den der Re-Personalisierung chinesischer das System nach den kurzfristigen Politik auf höchster Ebene das Prin- Erschütterungen im Zuge der Ban- zip der kollektiven Führung partiell ken- und Finanzkrisen in den USA ausgehebelt. Viele Beobachter haben und Europa (2007/08) eingetreten ist. das bislang als Rückkehr zu einem Oder noch genauer: Die KPCh veror- autoritären, charismatischen Füh- tet China nun in einer Phase, die sich rungsstil mit dem Ziel der Machtma- in vielerlei Hinsicht von der „alten“ ximierung eingestuft: Xi sei heute so Normalität unterscheidet, wenngleich mächtig wie Mao Zedong, wenn nicht sie doch aus Gründen der symboli- mächtiger. schen Legitimierung als Restabilisie-

IP • November / Dezember 2017 75 China

rung und Rückkehr zur (modifizier- Anders formuliert: Große Teile ten) alten Ordnung ausgegeben wird. der Eliten sollten auch in Zukunft „Neu“ sind allerdings die aktive För- systemtreu agieren. Es sind vielmehr derung des Binnenkonsums und die Konflikte zwischen Parteikadern Umsteuerung in Richtung Nachhal- der Lokalregierungen und der Be- tigkeit – und auch die Idee, nicht län- völkerung, die das System nachhal- ger im Auftrag und nach Vorgabe des tig destabilisieren könnten. Illega- Weltmarkts zu produzieren, sondern le Landnahme, Machtwillkür, Kor- innovative Technologien zu entwi- ruption und Amtsmissbrauch sind ckeln. So soll China zu einem führen- immer häufiger Auslöser lokaler Mas- den Zentrum der Weltwirtschaft auf- senproteste – was auf dem 19. Partei- gebaut werden. tag auch zur Sprache kam. Die gegenwärtigen Systeman- passungen erfolgen vor dem Hinter- Rückmeldung aus den Provinzen grund identifizierter Fehl- Solange diese Proteste nach dem Prin- Die chinesische entwicklungen, aus denen zip des „rechtmäßigen Widerstands“ Führung sieht eine – so die Prognosen – frü- ablaufen, sie sich also auf zentral- her oder später eine laten- staatlich zugesicherte Rechte und Ge- „Neue Normalität“ te Systemkrise erwach- setze berufen und die Formeln der of- sen könnte. Die negativen fiziösen Politsprache der Partei ver- Begleit­erscheinungen der Wirtschaft- wenden, werden diese Bewegungen stransformation hin zu einer kapita- nicht automatisch unterbunden, son- listischen Marktwirtschaft (wenn- dern finden auf den übergeordneten gleich formal eingebettet in ein Sys- Verwaltungsebenen durchaus Ge- tem der zentra­listischen Wirtschafts- hör. Denn über diese Proteste erhält ordnung) sind omnipräsent und die Zentrale in Peking eine Rückmel- bergen enorme Sprengkraft. dung über die Lage in den Provinzen. Dass bislang die Einheit des Sys- An ihr kann sie dann oft erst erse- tems trotz der an so vielen Stellen hen, an welchen Schrauben nachge- eklatanten sozioökonomischen Un- zogen werden muss, um sicherzustel- gleichheit gewahrt werden konnte len, dass das, was zentral verordnet (und dies nicht primär durch gewalt- wurde, auch vor Ort umgesetzt wird. same Repression), zeugt durchaus Dass Xi in seiner ­Parteitagsrede von einer hochentwickelten Steue- ­erklärte, es existierten in China grund- rungskompetenz der politischen Eli- legende „Widersprüche“ (gemeint wa- ten. Als Schlüsselinstrument dieser ren in erster Linie die latenten sozi- staatlich generierten Systemkohäs- oökonomischen Interessenkonflikte in ion gilt, dass es der KPCh-Führung der Gesellschaft), lässt sich als Remi- bislang noch stets gelungen ist, po- niszenz an Maos Lehre der Widersprü- tenzielle Gegeneliten einzubinden che verstehen. Doch gibt es einen ent- oder zu kooptieren. Solange es für scheidenden Unterschied: Xi will kei- diese Gruppen von Vorteil ist, in ne Revolution, sondern setzt auf evo- Symbiose mit den Strukturen des lutionäre Lösungen durch den Aufbau Einparteiensystems zu agieren, sind eines „modernen“ zentralistischen so- keine revolutionären Reformforde- zialistischen Staatssystems unter Füh- rungen zu erwarten. rung der Kommunistischen Partei.

76 IP • November / Dezember 2017 Ganz auf Linie

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Der Verlust an „Dem Volk dienen“ lautete die des Marxismus unter Verweis auf „sozialer Gerechtig- keit“ scheint kein ideologische Formel der revolutionä- die spezifischen chinesischen Ent- Grund für eine grund- ren Mao-Ära. Auch weiterhin regiert wicklungsbedingungen zu modifizie- legende Kurs­ kor- die KPCh dem Anspruch nach „im In- ren. Nichtsdestotrotz arbeitet sie, ins- rektur: Xi Jinping bei teresse“ und „im Dienste“ des Volkes. besondere der linke Flügel der Partei seiner Eröffnungs- rede, 18. Oktober Nur hat sie sich im Laufe der vergan- um die Jugendliga-Faktion im Verein 2017 genen Jahrzehnte von einer revoluti- mit der Gruppierung der chinesi- onären Kaderpartei zu einer Partei schen Neuen Linken, an Maßnah- des gesamten Volkes transformiert. men, die – zumindest auf dem Papier Da sich die soziale Schichtung der – auf einen allgemeinen Ausgleich Bevölkerung ab 1978 wieder deutlich durch staatlich organisierte Umver- stärker ausdifferenziert hat, wird die teilungsmechanismen abzielen. Partei damit in eine Mittlerrolle zwi- Dies unterstreicht, dass die Span- schen den konkurrierenden sozioöko- nungen zwischen „sozialistischer“ nomischen Aufsteigern und den tradi- Systemidentität und real gelebtem tionellen Parteieliten hineingezwun- „Sozialismus“ auch aus Sicht der chi- gen. Besonders brisant ist der mittler- nesischen Führung fortbestehen und weile von der KPCh zuletzt auf dem eine Gefahr für das Überleben des po- 19. Parteitag offiziell eingestandene litischen Regimes bedeuten. Dass es Verlust der „sozialen Gerechtigkeit“, bislang nicht gelungen ist, alle Bevöl- woraus eine Glaubwürdigkeitskrise kerungsgruppen gleichermaßen an für das ja eigentlich „sozialistische“ Chinas neuem Reichtum partizipie- Einparteiensystem resultiert. ren zu lassen, wird nicht zuletzt auf Zwar ist die Staatsführung dar- die Korruption und Disfunktionalitä- um bemüht, den Sozialismus-Begriff ten des Systems auf der lokalen Ebe- neu zu definieren und die Theorie ne zurückgeführt.

IP • November / Dezember 2017 77 China

Generell zielen Xis Pläne auf eine Recht finden sich neben der offiziellen stärkere Verrechtlichung der Poli- Parteilinie zahlreiche konkurrieren- tik ab. Konzipiert wird ein System de Denkmodelle. Diese sind zum Teil der „Herrschaft durch Recht“ (rule von westlich-liberalen Verfassungs- by law), das im Unterschied zu einer konzeptionen inspiriert, aber auch „Herrschaft des Rechts“ von einem marxistischen Rechts- und Xi Jinping will den (rule of law) die Parteie- Verfassungsverständnis. Hinzu kom- chinesischen Rechts- liten über das abstrakte men Rückgriffe auf rechtsphilosophi- Recht stellt. Recht wird sche Elemente des Konfuzianismus staat ausbauen gesetzt, bewahrt, gespro- und des Legalismus. Insgesamt wer- chen – für und im Inter- den also durchaus konkurrierende esse des Volkes, aber nicht durch das Ideen zusammengeschoben, um ein Volk. Der chinesische Rechtsstaat dezidiert „chinesisches“ Rechtskon- soll, so die Abschlusserklärung des 4. zept zu konstruieren. Ple­nums von 2014, umfassend ausge- baut werden. Um dies sicherzustellen, Wider das westliche­ Muster sollen die Unabhängigkeit der lokalen Allerdings lehnen sowohl die Ver- Gerichte gestärkt und diese dem allzu fechter eines konfuzianischen als direkten Zugriff der lokalen Parteika- auch eines „sozialistischen“ Konsti- der entzogen werden. Zudem wurde tutionalismus eine Regimetransfor- der Aufbau überregionaler Gerichte mation nach dem Muster westlicher angekündigt. Demokratien ab. Liberale Ansätze­ Zur Konfiguration des chinesi- gelten als mit dem Grundkonzept schen Rechtsstaats und zur Rolle des chinesischen Modells nicht kom- der Verfassung in der Ausgestaltung patibel, da sie auch die Partei dem des Zusammenspiels von Politik und Recht unterordnen und der Verfas-

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78 IP • November / Dezember 2017 Ganz auf Linie

sung eine machtlimitierende Funkti- von aus, dass der Mensch von Natur on zuschreiben. aus böse sei, also eine gesellschaftli- Die Partei – in diesem Punkt che Ordnung nur durch Gesetze und ließ Xi Jinpings Parteitagsrede kei- Strafandrohung erzwungen und auf- nen Zweifel aufkommen – fungiert rechterhalten werden könne. als Urheberin des Rechts wie auch zugleich als Wächterin der Gesetze. Konfuzius, Han Fei, Carl Schmitt Die 2012 eingeleitete Antikorrupti- Der vierten Führungsgeneration onskampagne und Maßnahmen zur (Hu Jintao und Wen Jiabao 2002/03– Einschwörung der untergeordneten 2012/13) wird eine konfuzianisch Verwaltungskader auf die ideologi- geprägte Politikgestaltung nachge- schen Grundformeln der KPCh wer- sagt. Xi Jinping setzt im Zuge des den von Parteiorganen koordiniert. rechtsstaatlichen Neu- Die Partei erneuert und korrigiert aufbaus auf den chinesi- „Leere Reden“ sich selbst – und bindet das Volk hier- schen Rechtsphilosophen können Reformen bei nur insofern ein, als dass sie auf Han Fei (280–233 v. Chr.). Meldungen und Berichte zu Fehlent- Für Han Fei galt nicht die nicht ersetzen wicklungen und Fehlverhalten re- konfuzianische Moral- agiert. Die erfolgreiche Bekämpfung ordnung, sondern ein universelles der Korruption ist für den Einpartei- Ordnungsprinzip (dao). Von dieser enstaat eine Frage von „Leben oder Grundnorm leitete er ein abstraktes Tod“ – Korruption gilt als Auslöser universelles Rechtsverständnis ab von Dynastiezusammenbrüchen in und propagierte einen starken Staat. der chinesischen Geschichte. Die Macht, Gesetze und Vorga- Erweitert wird dies um die Ein- ben des Gemeinwesens zu formu- schätzung, dass stets umfassende Re- lieren und Fehlverhalten zu sankti- formen und konkrete Maßnahmen onieren, schrieb Han Fei allein dem erforderlich waren, um das System Herrscher zu. Eine Delegation dieser zu bewahren. Bloße Lippenbekennt- Kompetenzen an untergeordnete Ebe- nisse, „leere Reden“, reichten hierfür nen sah er als Gefahr, da hierdurch nicht aus, wie der Staats- und Partei- die Kontroll- und Steuerungsautori- chef mit Rückgriff auf Chinas Dy- tät des Herrschers geschwächt wer- nastiegeschichte erklärte. den könnte. Chaos (luan) muss um Die Rolle des Rechts, die Konzep- jeden Preis vermieden werden, so ein tion von Gesetzen und die Sicher- Grundaxiom der chinesischen Staat- stellung ihrer Einhaltung sowie die sphilosophie. Sanktionierung von Regelverstößen In der chinesischen Forschung zu – all dies wurde und wird in der chi- vormodernen Staatsrechtsdebatten nesischen Staatsphilosophie und po- werden immer wieder auch Parallelen litischen Historiografie über die Jahr- zu Schlüsselwerken der „westlichen“ hunderte hinweg immer wieder the- Rechtsphilosophie identifiziert. Trotz matisiert. der Kampfansage an „westliche“ Wer- Während konfuzianische Strö- te läuft die Exegese der Schriften Carl mungen an moralische Verhaltens- Schmitts, der in der chinesischen De- normen appellieren, gehen Anhän- batte als Vertreter einer staatszen- ger des chinesischen ­Legalismus da- tristischen, instrumentalistischen

IP • November / Dezember 2017 79 China

Rechtskonzeption verstanden wird, eben gerade eingebunden in das beste- in der Volksrepublik China weiter- hende internationale Institutionenge- hin auf Hochtouren. füge erfolgt und folglich auch an die- ser neoliberal dominierten Ordnung Außenpolitische Anspruchshaltung festzuhalten sei. Mit seinen Reden Xi Jinping sprach auf dem Parteitag auf dem APEC-Gipfel 2016 in Lima auch über die chinesische Außenpo- und auf dem Weltwirtschaftsforum in litik im regionalen und globalen Kon- Davos 2017 hat sich Xi offiziell zum text. Durchaus selbstbewusst präsen- Prinzip des Freihandels bekannt. Chi- tierte er das „sozialistische“ Modell na ist und bleibt auf den internationa- Chinas als Alternative zu liberalen len Handel angewiesen, es kalkuliert Demokratien; eine Übernahme frem- diesen im Rahmen der „Neuen Sei- der Systemelemente wies denstraßen“-Strategie und der „Neu- Xis China will in der er zurück. Einmal mehr en Normalität“ aktiv in seine Ent- Außenpolitik anleiten, positionierte er China als wicklungs- und Modernisierungsstra- ökonomisch erfolgreiche tegie mit ein. aber nicht führen Meritokratie auf der neoli- Wie Xi Jinping auf dem 19. Par- beralen Überhol­spur. Die teitag unterstrich, steht eine Ab- von Xi immer wieder vorgetragenen schottung und selbstgewählte Iso- Konzepte der globalen „Schicksals- lation Chinas nicht zur Debatte. gemeinschaft“ und des „neuen Typs Vielmehr exportiert China über die der Beziehungen zwischen den Groß- Neue Seidenstraße seine eigene Va- mächten“ unterstreichen den aktiven riation des Kapitalismus und formu- Wunsch nach Mitsprache- und Mit- liert zugleich globale Gestaltungs- gestaltungsrechten bei der Neugestal- ansprüche. Diese ergeben sich zum tung der globalen Ordnung. Teil aus innenpolitischen und ent- Bereits im Februar 2017 hatte Xi wicklungsstrategischen Handlungs- bei einem Arbeitstreffen der Kom- zwängen. Sie beruhen aber auch auf mission für Nationale Sicherheit ei- einer visionären Weltordnungskon- nen aktiven „Leitungs“-Anspruch zeption. In den kommenden Jahren ­Chinas formuliert mit Blick auf den wird hiervon im Zuge der Neuausta- „Aufbau einer gerechteren internati- rierung der Kräfteverhältnisse und onalen Ordnung“ und „die Wahrung strategischen Allianzen­ der Faktio- der internationalen Sicherheit durch nen im Zentralkomitee noch mehr die internationale Staatengemein- zu hören sein. schaft“ formuliert. Die Volksrepub- lik grenzt ihren Rollenanspruch hier- Prof. Dr. Dr. Nele bei mit dem Begriff des „(An)Leitens“ Noesselt lehrt und weiterhin deutlich von dem Konzept forscht zur Politik des „Führens“ ab. ­Chinas und Ostasiens an der Universität Es besteht ein grundlegender Kon- Duisburg-Essen.­ sens, dass der Aufstieg China zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht hin- ter den USA nicht gegen, sondern

80 IP • November / Dezember 2017 Wann Sanktionen wirken

Wann Sanktionen wirken Um dem Völkerrecht Respekt zu verschaffen, braucht es langen Atem

Christoph Heusgen und Antonia Reimelt | Wie soll die internationale Gemein- schaft reagieren, wenn der nordkoreanische Diktator sein Atomprogramm fortführt? Mit gezielten Sanktionen, basierend auf einer breiten internati- onalen Kooperation und der Bereitschaft zum Dialog. Nur so können mit- tel- bis langfristig die Erfolgschancen von Sanktionen maximiert werden.

Giftgasangriffe und gezielte Bom- Analyse von vergangenen, aber auch bardierungen gegen die syrische Zi- gegenwärtigen Sanktionsregimen soll vilbevölkerung, das russische Vorge- Antworten auf diese Fragen geben. hen gegen die Ukraine und die völker- Als Misserfolge in der Vergangen- rechtswidrige Annexion der Krim, heit werden vor allem Kuba und der wiederholte Raketentests durch das Irak, aber auch Nordkorea genannt. nordkoreanische Regime – und wie US-Präsident John F. Kennedy hatte reagiert die internationale Gemein- bereits im Frühjahr 1962 ein weitrei- schaft? Mit Sanktionen. Aufgrund chendes Handelsembargo gegen Kuba dieser erheblichen und folgenschwe- erlassen; nach der Krise um die Sta- ren Verstöße gegen internationales tionierung sowjetischer Raketen ver- Recht werden Sanktionen als außen- bot die US-Regierung auch Finanzhil- politisches Instrument wieder inten- fen an Kuba und fror kubanisches Ei- siv diskutiert. Gerade im Fall Nord- gentum in den USA ein. Doch ihr Ziel koreas allerdings wird oft bestritten, hätten die USA nicht erreicht, sagen dass Strafmaßnahmen rasche Wir- die Kritiker. Es sei nicht gelungen, die kung zeigen. Eine Verhängung gilt gar mit Moskau verbündete kommunisti- als Eskalation, die einen notwendigen sche Führung in Havanna zu destabi- Dialog erschweren und der Bevölke- lisieren, um die eigene Sicherheit zu rung des Landes unverhältnismäßige erhöhen. Belastungen auferlegen würde. Stattdessen habe das Embargo die Ist der Rückgriff auf Sanktionen wirtschaftliche Entwicklung Kubas ein effektives Mittel der Außenpoli- gebremst und das Castro-Regime über tik, um Verstößen gegen das Völker- Jahrzehnte gefestigt. In der General- recht zu begegnen? Und mit welchen versammlung der Vereinten Nationen Indikatoren kann die Effektivität von stimmte regelmäßig eine breite Mehr- Sanktionen gemessen werden? Die heit der Staaten für eine Resolution,

IP • November / Dezember 2017 81 Konfliktlösung

mit der die USA zur Aufhebung ihres fen Tönen von US-Präsident Donald­ Embargos aufgefordert wurden. Trump vor der UN-Vollversammlung In ähnlicher Weise werden die im September – macht deutlich, wie Sanktionen kritisiert, die nach dem nahe Kim Jong-un seinem Ziel ist, eine irakischen Einmarsch in Kuwait ver- Nuklearmacht zu sein. Das würde die hängt wurden und die zur damaligen gesamte ostasiatische Sicherheitsar- Zeit die umfassendsten seit dem Zwei- chitektur verändern. Bild nur in ten Weltkrieg waren. Der UN-Sicher- Auf diese Eskalation reagierte der heitsrat hatte die Invasion im August UN-Sicherheitsrat mit einer deutli- Printausgabe verfügbar 1990 verurteilt und den chen Verschärfung der Sanktionen. Bislang ohne Erfolg: Irak zum „unverzügli- Ob diese zur erhofften Verhaltensän- jahrelange Sanktionen chen und bedingungs- derung des nordkoreanischen Dik- losen Rückzug“ aufge- tators führen, bleibt abzuwarten. In- gegen Nordkorea fordert. Nur vier Tage wiefern die Weiterentwicklung des nach dem Einmarsch be- Atomwaffenprogramms unterbunden schloss der Sicherheitsrat umfassende und die Schlagkraft der nordkoreani- Wirtschaftssanktionen. Wenige Wo- schen Armee eingeschränkt werden chen später folgte eine umfangreiche können, hängt vor allem davon ab, Blockade, um jeglichen Güterverkehr wie China die Sanktionen umsetzt. mit dem Land zu unterbinden. Doch Wird es wirklich bereit sein, gegen- der Irak zog sich trotzdem nicht aus über Nordkorea die Daumenschrau- Kuwait zurück, obwohl seine Zivilbe- ben anzuziehen? völkerung litt. Am Ende sah sich des- Als größter Handelspartner Nord- wegen die internationale Gemein- koreas kann China jederzeit dafür schaft zu einer militärischen Inter- sorgen, dass das Regime in Pjöng­ vention gezwungen. Hinzu kam dann jang einen Großteil seiner Expor- noch der Skandal um das UN-Pro- te einbüßt. Bisher war es allerdings gramm „Oil-for-Food“ nach der Waf- nicht willens dazu, auch wenn sich fenstillstandsvereinbarung. All dies die Beziehungen zum immer unbere- wird als Beleg für das Scheitern von chenbarer werdenden Nachbarn im- Sanktionen angeführt. mer weiter verschlechtert haben. In Ein aktuelles Beispiel für den un- den bisherigen elf Sanktionsjahren zureichenden Erfolg dieses Mittels lie- war es China, das sicherstellte, dass fert das UN-Sanktionsregime ­gegen Nordkorea wirtschaftlich überleben Nordkorea. Diese seit 2006 bestehen- konnte. Die Angst vor einem Kollaps den und in den Folgejahren sukzes- des Regimes in Pjöngjang und einer sive verschärften Sanktionen haben massenhaften Flucht von Nordkorea- die nordkoreanische Führung nicht nern nach China, aber auch die Angst von ihrem Nuklearwaffenprogramm vor einem möglichen „Erfolg“ Südko- abgebracht. Im Gegenteil: Nordkorea reas und der USA haben China immer hat im Laufe dieses Jahres wiederholt wieder zögern lassen. Raketen getestet, obwohl der UN-Si- Auch jetzt gilt als wahrscheinlich, cherheitsrat die Strafmaßnahmen im dass Chi­nas Staatspräsident Xi Jin- November 2016 nochmals verschärft ping einen außenpolitischen Konflikt hatte. Die aktuelle Entwicklung – in der unmittelbaren Nachbarschaft nach einem Atomtest und den schar- im Umfeld des Parteitags der KP ver-

82 IP • November / Dezember 2017 Wann Sanktionen wirken

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Ob schärfere meiden will. Tatsächlich steht Xi vor auf. Trotz weiterer Verschärfungen Sanktionen zur erhofften Verhal- einer schwierigen Entscheidung: Zu- der Sanktionen kam es erst 1979 auf tensänderung sammenbruch eines benachbarten Initiative Großbritanniens zu einer führen, bleibt ab­- Regimes oder nuklearer Wettlauf in Vereinbarung zwischen den rhodesi- zuwarten: Kim der Region. schen Konfliktparteien und darauf- Jong-un feiert den erfolgreichen Test Beispiele für die Wirksamkeit von hin zu freien Wahlen. Aufgrund der einer Langstre- Sanktionen hingegen liefern die Ent- beträchtlichen Dauer dieses Prozesses ckenrakete, wicklungen in Rhodesien, Südafri- galten die rhodesischen Strafmaßnah- September 2017 ka, Libyen und Iran. Um ein Sank- men lange Zeit als Paradebeispiel für tionsregime wirklich bewerten zu das Scheitern von Sanktionen. Zu- können, sollten in einer komplexen dem hätten nicht sie das Apartheid- und global vernetzten Welt die politi- regime beendet, sondern der bewaff- schen, sozio­ökonomischen und mili- nete Kampf der schwarzen Guerilla tärischen Auswirkungen berücksich- und der südafrikanische Druck auf tigt werden. Dass eine so umfassende das rhodesische Regime. Evaluation keineswegs zu jeder Zeit In der neueren Forschung wird selbstverständlich war, zeigen die diese Sicht als einseitig kritisiert: Sie Sanktionen gegen Rhodesien. blende aus, in welchem Maße gerade Der UN-Sicherheitsrat verhängte die Sanktionen zur Stärkung des Wi- gegen die ehemalige britische Kronko- derstands gegen die Regierung beige- lonie (das heutige Simbabwe), die sich tragen und die Opposition legitimiert 1965 unter einem weißen Minister- haben. Zugleich hätten die Maßnah- präsidenten für unabhängig erklärt men auch die wirtschaftlichen Lasten hatte, weitreichende Wirtschafts- für das Regime und die politischen sanktionen und rief zur Nichtaner- Kosten für die südafrikanischen Un- kennung des rassistischen Regimes terstützer erhöht. Gerade Letzteres

IP • November / Dezember 2017 83 Konfliktlösung

habe dazu geführt, dass die südafri- sen Gesprächen die Aufhebung der kanische Regierung aufgrund ihrer Strafmaßnahmen in Aussicht. Nach- eigenen Apartheidpolitik dieses The- dem sich Libyen zur Entschädigung ma von der internationalen Tagesord- der Lockerbie-Opfer bereiterklärt hat- nung verschwinden lassen wollte. te, hob der UN-Sicherheitsrat im Sep- tember 2003 die Sanktionen auf. Im Wirksam gegen Rassismus Dezember 2003 gab der libysche Au- Gegen Südafrika hatte der UN-Si- ßenminister zu, dass in seinem Land cherheitsrat bereits 1963 zu einem Massenvernichtungswaffen existier- Waffen­embargo aufgerufen und die- ten, und er versprach – aufgrund der sen Sanktionsaufruf später um einige Verhandlungen mit den USA und Wirtschaftsbereiche erweitert. Doch Großbritannien –, dieses Programm erst 1977 verhängte die Staatenge- und die Chemiewaffen zu beseitigen. meinschaft umfassende Sanktionen. Auch hier gilt, dass die internationa- Zweigleisiges Vorgehen le Isolation, die der süd- Auch das Sanktionsregime gegen den Nelson Mandela afrikanischen Führung Iran kann gegenwärtig in die Rei- hatte ausdrücklich nicht gleichgültig war, die he erfolgreicher Beispiele eingeord- wirtschaftlichen Kosten net werden. Seit 2003 versuchten Sanktionen gefordert der Sanktionen und die Deutschland, Frankreich und Groß- Aussicht auf weitere Ver- britannien, die so genannten E3, den schärfung einen wichtigen Beitrag zur Iran auf dem Verhandlungsweg dazu Überwindung des Apartheidsystems zu bewegen, Zweifel an der rein fried- leisteten. Auch Nelson Mandela hat- lichen Nutzung des Atomprogramms te ausdrücklich umfassende Sanktio- auszuräumen und das Land zu einem nen gefordert und sie im Rückblick als transparenten Kon­trollregime zu be- wesentlich für die Überwindung der wegen. Trotz intensiver Bemühun- Apartheid ab 1990 bezeichnet. gen kündigte der iranische Präsident Die Sanktionen gegen Libyen gel- Machmud Achmadinedschad jedoch ten ebenfalls als wirksam: Seit 1979 2006 die Wiederaufnahme der Uran- hatten die USA Strafmaßnahmen ge- anreicherung an. Im selben Jahr ver- gen Libyen verhängt, ab 1992 auch stärkten die USA, Russland und Chi- der UN-Sicherheitsrat, insbesondere na die Verhandlungsgruppe der E3 wegen des Lockerbie-Anschlags und und bildeten, mit der EU als Koor- massiver Terrorismusvorwürfe ge- dinatorin, das bis heute bestehende gen Staatschef Muammar al-Gaddafi. Format der EU-3+3. Dabei wird ein Nachdem Libyen die Verdächtigten „dual track approach“ verfolgt, um ei- des Attentats gegen die Pan-Am-Ma- nerseits Verhandlungen anzubieten, schine ausgeliefert hatte, lockerte der andererseits aber den Einsatz weiter- Sicherheitsrat 1999 einige Sanktio- reichender Sanktionen anzudrohen. nen. Dem Versuch Libyens, Chemie- Wegen des begründeten Verdachts, waffen zu erhalten, folgten 2002 wei- dass der Iran kontinuierlich ein mi- tere US-Sanktionen. Anfang 2003 litärisches Atomprogramm verfol- bot Libyen Verhandlungen zur Zer- ge, brachte die Internationale Atom­ störung seiner Massenvernichtungs- energie-Organisation (IAEO) 2006 waffen an. Die USA stellten bei die- den Fall vor den UN-Sicherheitsrat.

84 IP • November / Dezember 2017 Wann Sanktionen wirken

Noch im selben Jahr verabschiede- positive Impulse für die iranische te dieser zwei Resolutionen zum ira- Wirtschaft vorsah. nischen Nukleardossier, erließ erste Sanktionen und verschärfte in den Finanzsanktionen beibehalten Folgejahren schrittweise seine Gang­ Auch die seit März 2014 gegen Russ- art. Dennoch betrieb der Iran sein land erlassenen Sanktionen zeigen Nuklearprogramm weiter, nahm un- Wirkung. Aufgrund der ­Annexion ter anderem 2010 die unterirdische der Krim und der Besetzung gro- Anreicherungsanlage Fordo in Betrieb ßer Teile der Ost­ukraine verhängten und reicherte Uran bis auf 20 Prozent die USA, ebenso wie die EU, gezielte an. Nachdem ein IAEO-Bericht 2011 Wirtschaftssanktionen in den Berei- erneut Hinweise auf eine mögliche chen Finanzen, Dual-Use-Technolo- militärische Dimension enthielt, ver- gie, Waffen und Ölausrüs- schärfte der Sicherheitsrat mehrfach tung. Im Verlauf des Kon- In Russlands Volks- seine Sanktionen, ebenso wie die flikts wurden diese im- wirtschaft spürt man USA, die Europäische Union, Russ- mer schärfer – mit einer land, Kanada und Japan. Verlängerung der sekto- deutlich die Folgen Die Sanktionen lösten eine schwe- ralen Wirtschaftssanktio- re Wirtschaftskrise im Iran aus: In- nen durch EU/G7-Individualsanktio- flation und Binnenverschuldung stie- nen und separaten Krim-Wirtschafts- gen, Exporteinnahmen und Ölpreis sanktionen. Die Folgen sind in der sanken, die Arbeitslosigkeit blieb russischen Volkswirtschaft deutlich hoch. Vor allem die Sanktionen ge- spürbar. Das US-Außenministerium gen den Öl- und Finanzsektor wirk- schätzt, dass die Sanktionen zu ei- ten sich negativ aus. 2013 sank das nem Rückgang des russischen Brut- BIP-Wachstum um 1,9 Prozent, im toinlandsprodukts um etwa 1 Pro- Laufe des Jahres 2013 verringerte zent geführt haben; der Internatio- sich der Ölexport des Iran um mehr nale Währungsfonds geht sogar von als 60 Prozent. Parallel zum Rück- bis zu 1,5 Prozent des BIP aus. gang der Exporte war das Land mit Besonders effektiv sind die Fi- einem dramatischen Wertverlust sei- nanzsanktionen. Sie führen zu hö- ner Währung konfrontiert: Die Infla- heren Zinsen, dadurch zu geringe- tionsrate lag 2013 bei 34,7 Prozent. ren Investitionen und zu schwäche- Einen grundlegenden Wandel er- rem Konsum. Ferner schränken sie fuhren die EU-3+3-Verhandlungen die Möglichkeiten der Regierung zur nach der Wahl von Staatspräsident Kreditfinanzierung ihrer Ausgaben Hassan Rohani im Jahr 2013. Er wur- ein. Nicht zuletzt dadurch ist Russ- de insbesondere wegen seines Ver- land gezwungen, eine sehr restrikti- sprechens gewählt, die Isolation sei- ve Haushaltspolitik zu betreiben: Das nes Landes zu überwinden und die Defizit soll gering bleiben, damit die Wirtschaftslage zu verbessern. Im Reservefonds möglichst lange halten. November 2013 einigten sich die EU- Die Sanktionen im Bereich Ölaus- 3+3 im Nuklearstreit auf ein Inte- rüstung tragen dazu bei, dass drin- rimsabkommen. Im April 2015 folgte gend erforderliche Investitionen in die Vereinbarung von Lausanne, die die Erschließung neuer Vorkommen die Aufhebung der Sanktionen und in schwer zugänglichen Erdschichten

IP • November / Dezember 2017 85 Konfliktlösung

unterbleiben. Insgesamt ist jedoch zu Ganz im Gegenteil: Sanktionen berücksichtigen, dass Russland sei- werden zumeist als mittel- bis lang- ne Importe auch ohne die Sanktio- fristig wirkende Elemente eines um- nen hätte drosseln müssen. Dies wäre fassenden Ansatzes in der Außenpo- notwendig gewesen, weil die Zentral- litik betrachtet. Zudem kam es spä- bank auf den Ölpreisver- testens mit den desaströsen humani- „Smart sanctions“ fall, den Kursverlust des tären Folgen der Irak-Sanktionen zu schonen die Zivil- Rubels und die Inflations- einer Weiterentwicklung in Richtung welle Ende 2014 mit einer „smart sanctions“. Diese richten sich bevölkerung massiven Erhöhung der nicht nur gegen einen definierten Per- Zinsen reagiert hatte. In- sonenkreis bzw. Individuen, sondern sofern wurde die Wirkung der Sank- verknüpfen die Sanktionierung mit tionen natürlich abgeschwächt. dem unerwünschten Verhalten des Für die Regierung in Moskau sind Adressaten. Damit ermöglichen sie die Sanktionen trotzdem ein wichti- – mitunter bereits durch glaubhafte ges Thema. Sie erklärt sie zu einer der Androhung – eine unmittelbare Ver- wesentlichen Ursachen für die Wirt- änderung des Kosten-Nutzen-Kal- schaftsprobleme des Landes – was küls der jeweiligen Akteure. Und sie von der Bevölkerung so akzeptiert reduzieren die Auswirkungen auf die wird. Auch die Idee von „Neuruss- Zivilbevölkerung. land“, einer Union der proklamier- Die Beispiele Libyen, Iran und ten Volksrepubliken Donezk und Lu- Russland zeigen deutlich, wie erfolg- hansk, mit der eine Landverbindung reich Sanktionen sein können. Das von Odessa nach Transnistrien ge- gilt erst recht, wenn sie als Teil politi- schaffen werden sollte, ist vom Tisch. scher Prozesse verstanden werden (in Damit die Minsk-Vereinbarungen Kombination mit militärischen Dro- schließlich doch noch zu einem Er- hungen wie beim amerikanischen folg führen und die territoriale Inte- „All Options on the Table“-Vorgehen grität der Ukraine wiederhergestellt gegen den Iran). Und wenn sie mit werden kann, müssen die Sanktionen klar definierten Zielen und Zielgrup- aufrechterhalten werden. pen die Dialog- und Verhandlungsbe- reitschaft gegenüber der internationa- Mittel- und langfristige Wirkung len Gemeinschaft fördern. Trotz positiver Beispiele hält sich das Umgekehrt wird an den Beispielen Vorurteil, Sanktionen würden ihr Kuba und Nordkorea deutlich: Wenn Ziel verfehlen. Auch nach der mas- die entscheidenden Akteure keine siven Verschärfung des russischen Nachteile durch restriktive Maßnah- Einsatzes in Syrien hörte man immer men in Kauf nehmen müssen, ändern wieder, Sanktionen gegen Russland sie ihr Verhalten auch nicht. Die un- seien von vornherein wirkungslos. vollständige Umsetzung internationa- Heute wird eine solche Auffassung in ler Sanktionen und fehlende interna- der Forschung kaum noch vertreten. tionale Geschlossenheit ermöglichen Das gilt genauso wenig für das Argu- ihnen ein solches Verhalten. Die Le- ment, dass Sanktionen zu unmittel- gitimation von Sanktionen kann ero- baren Verhaltensänderungen führen dieren, wie bei den US-Sanktionen müssen, um effektiv zu sein. gegen Kuba, oder auch, wie in Nord-

86 IP • November / Dezember 2017 Wann Sanktionen wirken

korea, wenn der Leidensdruck der Be- wenn die Bereitschaft fehlt, das Sank- völkerung für die Führung keine Rol- tionsinstrument auch zu nutzen. So- le spielt . Allerdings zeigt der Fall Süd- wohl für Konfliktparteien afrika, dass Sanktionen – erst recht, als auch für Außenstehen- Sanktionen sind wenn sie längerfristig angelegt sind – de muss deutlich werden, ein Gradmesser für auch das Kosten-Nutzen-Kalkül der- dass die Sanktionierung jenigen verändern können, die zwar von der Bereitschaft getra- Ernsthaftigkeit nicht selbst für unerwünschte Hand- gen wird, alle außenpoliti- lungen verantwortlich sind, aber für schen Mittel und Wege entschlossen die Aufrechterhaltung eines Regimes auszuschöpfen. unverzichtbar sind. Wichtig ist das Verhältnis zwi- schen den Sendern und den Empfän- Sender und Empfänger gern von Sanktionen: Im Empfänger- Sanktionen sind ein Gradmesser für staat gilt es, mittels gezielter Sanktio- die Ernsthaftigkeit, mit der die inter- nen erhebliche Wirkungen zu erzie- nationale Gemeinschaft unterhalb len, ohne aber die Bereitschaft zum der militärischen Schwelle auf Ver- Dialog zu untergraben. Die Sender- stöße gegen internationale Normen staaten wiederum sollten auf der reagiert. Bleiben entschiedene Re- Grundlage internationaler Koopera- aktionen auf massive Regelverstöße tion und mit realistischen Erwartun- aus, untergräbt dies die Glaubwür- gen zusammenwirken. Das sind die digkeit, mit der die betroffenen Nor- ausschlaggebenden Faktoren, um die men verteidigt und aufrechterhalten Erfolgschancen von Sanktionen zu werden. Im Zusammenhang mit dem maximieren. Iran und Syrien ist der Hinweis wich- tig, dass diese Reaktionen unterhalb Dr. Christoph Heus- der Schwelle des Militärischen liegen. gen ist deutscher Denn im Fall Iran bestand die Mög- ­Botschafter bei den lichkeit eines militärischen Eingrei- Vereinten Nationen in New York. fens durch Israel und die USA. Wenn Grenz­überschreitungen einfach hin- genommen werden, verlieren auch an- dere Grenzen des Völkerrechts an Be- deutung – und zwar nicht nur für die unmittelbar Beteiligten, sondern auch Antonia Reimelt für Dritte, die der Einhaltung inter- ist Rechtsreferendarin nationaler Normen dann weniger Be- am Kammergericht in Berlin. deutung beimessen könnten. Ein Eintreten für das Völkerrecht, Beide Autoren vertre- insbesondere das humanitäre Völker- ten hier ihre persönli- recht, und das Werben für einen Dia- chen Ansichten. logprozess sind jedoch nur Floskeln,

IP • November / Dezember 2017 87 Europa

Der Frankreich-Blues Deutschland riskiert eine Freundschaft, aus der jetzt eine Ehe werden müsste

Georg Blume | Diesseits wie jenseits des Rheins gilt die deutsch-französi- sche Freundschaft als wichtiges Gut. Doch das allein reicht nicht aus als Grundlage für ein nun nötiges Zusammenwachsen beider Nationen und die Fortentwicklung der Europäischen Union. Höchste Zeit, dass die deutschen Eliten mit Bundeskanzlerin Merkel an der Spitze die ersten Schritte tun.

Man kann sehr wohl von der te aber gibt sich der deutsche Poli- deutsch-französischen Freundschaft tik- und Medienbetrieb der Illusion schwärmen. „Wenn er nicht Fran- hin, diese Freundschaft sei selbstver- zose wäre, möchte er ein Deutscher ständlich. Als könne man ihren Fort- sein“, schrieb die französische Zei- bestand ohne Mühen voraussetzen. tung Le Rhin schon 1842 über den So gut ist sie aber nicht. französischen Nationaldichter Victor Das zeigt sich schon daran, dass Hugo nach dessen Rheinreisen zwi- Franzosen und Deutsche sich nicht schen 1838 und 1840. Was anderes so gut kennen, wie ihre berühmte aber ließe sich heute, nur umgekehrt, Freundschaft nahelegt. Im Grunde über Helmut Kohl nach seiner offizi- herrscht zwischen der überwiegen- ellen Begräbnisfeier in Straßburg sa- den Mehrheit der Menschen auf bei- gen? Wenn er nicht Deutscher gewe- den Seiten Schweigen. Jedes Land hat sen wäre, hätte er ein Franzose sein seine Themen, die selbst dann, wenn wollen! sie sich gleichen, nicht zur gleichen Und über wie viele andere könnte Zeit diskutiert werden. Selten erregt man das noch sagen! Jürgen Haber- ein Ereignis spontan die gemeinsa- mas zum Beispiel hat die meiste Zeit me Aufmerksamkeit. Noch seltener seines Lebens mit den französischen schafft es ein französischer Autor, in Philosophen quergelegen oder zumin- Deutschland erfolgreich zu sein oder dest hart mit ihnen diskutiert. Den- umgekehrt. Der französische Schrift- noch versöhnte er sich mit seinem steller Michel Houellebecq machte mit langjährigen französischen Gegen- seinem jüngsten Roman „Unterwer- spieler Jacques Derrida und schrieb fung“ ebenso eine Ausnahme wie die mit ihm ein gemeinsames Manifest junge deutsche Medizin-Doktoran- für mehr Europa. Frankreich ist ihm din Giulia Enders mit ihrem Sach- näher als jedes andere Land. Heu- buch „Darm mit Charme“, das auch

88 IP • November / Dezember 2017 Der Frankreich-Blues

in Frankreich den Weg in die Bestsel- Mächte“ über eine seiner ersten Be- lerlisten fand. gegnungen mit Valéry Giscard d’Es- Doch solche Erfolge sprechen nicht taing im September 1973. Schmidts von gegenseitiger Kenntnis. Die meis- Freundschaft mit Giscard war ein ten Franzosen und Deutschen spre- Glücksfall für die Beziehungen zwi- chen lieber Englisch als die Sprache schen Frankreich und Deutschland, des Nachbarlands. Zwischen 1998 der sich nicht beliebig reproduzieren und 2012 sank die Zahl der deutschen lässt – Verlässlichkeit zwischen den Sekundarstufeschüler, die Franzö- beiden Staatschefs jedoch sisch lernten, von 33 auf 26 Prozent. schon! Selbst die aber war Namen, die Franzo- An Frankreichs öffentlichen Gesamt- zuletzt nicht mehr gege- sen kennen: Merkel, schulen lernten 2014 etwa 15 Prozent ben. Der Herbst 2015 gab der Schüler Deutsch. Auch ihre Zahl das warnende Beispiel: Beckenbauer, Hitler ist rückläufig. Und wer heute Franzo- Hollande war zu schwach, sen am Café-Tresen nach Deutschen um Merkel in der Flüchtlingskrise zu befragt, die sie mit Namen kennen, folgen. Merkel zu stark, um sich von bekommt oft die gleichen Antworten Hollande etwas sagen zu lassen. Also wie in fernen Ländern: Merkel, Be- hörten beide nicht mehr aufeinander ckenbauer – und Hitler. und gingen getrennte Wege. Die gegenseitige Unkenntnis Stärkster Ausdruck davon war das schließt freilich nicht aus, dass der Fehlen einer gemeinsamen Reaktion Wert der politischen Freundschaft auf die Pariser Attentate vom 13. No- zwischen beiden Ländern von der vember 2015. 130 Menschen star- breiten Bevölkerung erkannt wird. ben, mehr als bei jedem vergleich­ Daran besteht kaum Zweifel. Typisch baren Ereignis in beiden Ländern ist eine Umfrage dieser Zeitschrift seit 1945. Dabei nahmen die Attentä- vom März 2017, nach der 88 Prozent ter die Fußballnationalmannschaften der Bundesbürger die enge Zusam- Frankreichs und Deutschlands ins menarbeit mit Frankreich für „wich- Visier, als sie den Anschlag auf das tig“ oder „sehr wichtig“ halten. Ähn- Stade de France bei Paris planten, wo lich denken die Franzosen. Das ist an diesem Abend ein Freundschafts- zwar keine schlechte Basis für gute spiel beider Mannschaften stattfand. Beziehungen, doch muss das fürs po- Durch glückliche Umstände töteten litische Alltagsgeschäft nicht viel be- die Attentäter in der Nähe des Sta- deuten. Da kommt es nämlich auf dions nur einen Menschen – es hät- die handelnden Personen an, die sich ten Hunderte sein können. sehr gut kennen müssen. Allen voran Dennoch reichte es am folgenden die beiden Regierungschefs. Tag nur für einen Eintrag der deut- „Am Ende hatten wir alle gelernt, schen Kanzlerin im Kondolenzbuch dass wir uns auf das Wort des Kolle- in der französischen Botschaft in Ber- gen verlassen konnten, über alle Mei- lin. Zwar trafen sich am selben Tag nungsverschiedenheiten hinweg. Da- die Wirtschaftsminister, der damalige rüber sind persönliche Freundschaf- SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel und ten entstanden: zwischen Giscard sein damaliger Amtskollege Emmanu- und mir“, schrieb Helmut Schmidt el Macron, um auf dem Pariser Platz 1987 in seinem Buch „Menschen und der Republik gemeinsam eine Kerze

IP • November / Dezember 2017 89 Europa

zum Gedenken an die Opfer aufzu- schon der große Ludwig XIV. lehrte. stellen. Doch das war ihr privates So- Deshalb führt der seit vielen Jahren lidaritätsbekenntnis. Offiziell trauer- eng mit der Kanzlerin in Verbindung ten Franzosen und Deutsche nicht ge- stehende deutsche Botschafter in Pa- meinsam, anders als noch nach dem ris, Nikolaus Meyer-Landrut, heu- Attentat gegen Charlie Hebdo. Obwohl te einen mühsamen Überzeugungs- ihnen gerade das Fußballspiel dazu kampf mit seiner Chefin in Berlin. jeden denkbaren Anlass Er selbst würde das vielleicht nicht Die EU basiert gegeben hätte. Und auch so sagen, aber das entnimmt man sei- nicht zuletzt auf von den Fußballern kam nem engagierten Eintreten für Frank- nicht viel: Zwar leisteten reich in Hintergrundgesprächen. Zu- ­Symbolpolitik sich Spieler beider Mann- letzt empfing er einenZEIT -Kollegen schaften anschließend in und mich kurz vor den französischen der Kabine Gesellschaft, doch für Wahlen im April 2017. Der Botschaf- eine gemeinsame, grenzüberschrei- ter versucht ganz offenbar, der Kanz- tende Aktion reichte es nicht. Als hät- lerin das stärkere Empfinden der ten auch die deutschen Fußballer den Franzosen für die Darstellungskunst Frankreich-Blues. in der Politik näherzubringen. Bis- Spätestens jetzt, spätestens nach lang eher erfolglos. Würde das nicht dem 13. November 2015, hätten bei bedeuten, dass sich die Kanzlerin vor den politischen Eliten in Paris und den Franzosen wenn auch nicht ver- Berlin die Alarmglocken läuten müs- beugt, so doch verbiegt? sen. Denn so ist es nun mal, so hat es Jürgen Habermas immer wieder Globale Konkurrenten beschrieben: Die Europäische Uni- Trotzdem hat Meyer-Landrut recht: on bleibt bis heute ein Elitenpro- Gute Politik hat einen Adressaten. jekt, und das gilt auch für ihren ge- Gute Politik ist transparent. Von ei- fühlten Motor, die deutsch-französi- ner deutschen Kanzlerin dürfen die sche Freundschaft. Sie basierte des- Franzosen auch mal erwarten, dass halb immer auch auf Symbolpolitik. sie zu ihnen spricht, und zwar deut- Adenauers Besuch in der Kathedrale lich und verständlich. Das hat sie von Reims, der Händedruck zwischen auf eine vernehmbare Art und Wei- Mitterrand und Kohl über den Grä- se noch nie getan. Ganz im Gegenteil bern von Verdun waren große sym- zu Macron, der schon als Präsident- bolische Gesten der Völkerfreund- schaftskandidat am 10. Januar 2017 schaft am Rhein. Doch nach dem an der Berliner Humboldt-Universität 13. November 2015 blieb ein solches eine vielbeachtete Rede an die Deut- Zeichen aus. schen hielt. Gerade Symbolpolitik ist mit „Ich habe das schon gesagt, aber der aktuellen deutschen Kanzlerin ich wiederhole es hier: Die deut- schwer zu machen. Viele ihrer Wäh- sche Gesellschaft ist der massiven ler in Deutschland schätzen das. Ge- Ankunft von Flüchtlingen mit be- rade an großen Gesten in der Politik wundernswerter Klarheit, mit Mut hängt aber das Herz vieler Franzosen, und Menschlichkeit begegnet“, sagte die Politik bis heute auch als Theater Macron in Berlin. Er wollte damit ein und Aufführung begreifen, wie es sie Zeichen setzen, um dem deutschen

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Jeder deutsche Re- Publikum entgegenzukommen. Er salsgemeinschaft angesichts der Glo- gierungschef muss eine Botschaft für wollte unbedingt erreichen, dass die balisierung, eher schon als Konkur- die Franzosen ha- Deutschen verstehen, wie hoch er ihr renten. Das kann und muss die Po- ben: Emmanuel Flüchtlingsengagement schätzt. Und litik beider Länder ändern. Deshalb Macron und Angela seine Botschaft erreichte damals ih- sind die Pläne für eine einheitliche Merkel bei der Er- öffnung der Frank­ ren Adressaten. Macrons Bejahung Unternehmensbesteuerung in Frank- furter Buchmesse, der deutschen Flüchtlingspolitik gilt reich und Deutschland so wichtig. Ok­tober 2017 seither für sämtliche Beobachter, ob Zwar wird es auch in Zukunft immer in Deutschland oder Frankreich, als einen Standortwettbewerb zwischen fester Bestandteil seiner Politik. beiden Ländern geben, aber die Re- Auf vergleichbare Art aber hat gierungen müssen alles tun, ihn un- sich Merkel in Frankreich noch nie an ter möglichst ähnlichen Bedingungen ein französisches Publikum gewandt. stattfinden zu lassen. So wichtig war es ihr nie, in Frank- Vor allem kommt es darauf an, reich eine Botschaft loszuwerden. Ein dass sich Paris und Berlin für ein solches Anliegen aber gehört zu einer ähnliches Sozialstaatsmodell stark- guten deutschen Frankreich-Politik. machen. Seit Frankreich im Jahr 2002 Jeder deutsche Regierungschef muss die 35-Stunden-Woche einführte und eine Botschaft an die Franzosen ha- Deutschland zwei Jahre später mit ben. Das ist Voraussetzung für eine den Reformen der Agenda 2010 be- Völkerfreundschaft, die von den Eli- gann, sprechen die Regierungen bei- ten geprägt bleibt. der Länder nicht mehr die gleiche so- Am deutlichsten fehlt diese Bot- ziale Sprache. Das hat über die Jah- schaft heute im wirtschaftlichen und re zu einem sich unabhängig von der sozialen Bereich. Franzosen und Deut- sozialen Realität verselbständigenden sche empfinden sich nicht als Schick- Clash der Eliten geführt: Le Pen, die

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von einer deutschen Sklavengesell- Schwächen der anderen speisen“, sag- schaft fabuliert; deutsche Kommenta- te Macron. Der gleiche Tenor wie in toren, die sich Franzosen als faulen- seinem ersten Interview in der Süd- zende Rotweintrinker vorstellen. In deutschen Zeitung vom 31. August Wirklichkeit aber bleiben Frankreich 2015: Die Starken müssen den Schwa- und Deutschland die beiden größten chen helfen. Ohne das geht es nicht, Wirtschaftsnationen der Welt, die ohne das kommt Europa nicht wei- den Namen Sozialstaat wirklich ver- ter. Dabei kommt Deutschland als dienen. Sie sichern ihre reichstem Land Europas die Vorrei- In Europa sollen Bürger in weit größerem terrolle zu. Frankreich muss seinen die Starken den Maße gegen die Gefahren überdehnten Sozialstaat erst konsoli- der Globalisierung ab, als dieren, bevor es an der Seite Deutsch- Schwachen helfen das etwa in Japan, China lands die gleichen Aufgaben wahr- oder den USA von staatli- nehmen kann. So jedenfalls lautet der cher Seite der Fall ist. Und ob Groß- Plan Macrons. britannien heute dem US-Modell nä- Wie richtig seine darin enthalte- her ist oder Frankreich und Deutsch- ne Bestandsaufnahme der Sozialpo- land, darüber lässt sich streiten. litik in Europa ist, zeigen die neues- Den Bürgern auf beiden Seiten des ten Untersuchungen des Wirtschafts- Rheins ist das aber nicht bewusst. wissenschaftlers Pasquale D’Apice. Griechenland zeigt heute, wie ein So- Der Italiener ist führender Analyst zialstaat innerhalb der Europäischen bei der Generaldirektion Wirtschaft Union zerfallen kann. Zugleich stär- und Finanzen der EU-Kommission in ken die grundsätzlichen wirtschafts- Brüssel. In einer Studie vom 13. Sep- politischen Differenzen zwischen Pa- tember 2016 zeigt er auf, dass die Län- ris und Berlin den Verdacht, dass sich der der EU zwischen 2007 und 2013 beide auch in der Sozialpolitik uneins nur 0,2 Prozent ihres Bruttosozialpro- sind. Nicht nur die Eliten, auch die dukts für umverteilende Maßnahmen Bürger empfinden das so. Auch tei- unter den Mitgliedstaaten aufwende- len Eliten und Bürger gleichermaßen ten. Mit anderen Worten: Das Geld, die Sorge um einen grundsätzlichen das reiche EU-Staaten zum Finanz- Machtverlust der Politik in Zeiten der ausgleich an arme EU-Staaten wei- Globalisierung. Die deutsch-französi- tergaben, entspricht einer verschwin- sche Freundschaft erscheint da weder dend geringen Summe. Von einer So- den Franzosen noch den Deutschen zialpolitik innerhalb Europas kann stark genug, eigene, positive Gegen- also bisher keine Rede sein. „Diese akzente setzen zu können. Das muss winzige Zahl [0,2 Prozent] zeigt, wo sich ändern, wenn diese Freundschaft wir starten“, schrieb der französische überleben soll. Wirtschaftskommentator Éric Le Bou- Macron hat das erkannt. Er plä- cher in der Pariser Wirtschaftszeitung diert für ein größeres soziales En- Les Échos am 19. Mai 2017 unter dem gagement Deutschlands in Europa. In bezeichnenden Titel: „Wir dürfen das seinem Interview vom 21. Juni 2017 Einverständnis mit Deutschland nicht mit einer Reihe europäischer Tages- überschätzen.“ Le Boucher wollte der zeitungen liest sich das so: „Die Stär- ersten „Mercron“-Euphorie damit ei- ke der einen darf sich nicht aus den nen berechtigten Dämpfer versetzen.

92 IP • November / Dezember 2017 Der Frankreich-Blues

Ich bin kein Deutschland-Exper- im deutsch-französischen Kriegsjahr te. Ich habe seit 1984, als ich zum ers- 1870. Er war einer der Ersten über- ten Mal nach Paris zog, nicht mehr haupt, die das Konzept der Völker- in meiner Heimat gelebt. Aber of- freundschaft erdachten. Seinen bis fensichtlich ist es ja wohl so, dass heute stärksten Ausdruck fand es in Deutschland derzeit keine große 1945 in Kapitel 1, Artikel Begeisterung für solidarische Zah- 1 der Charta der Vereinten Macron und Merkel lungen an schwächere EU-Partner Nationen: „Die Ziele der werden Neuland herrscht. Dass der bisherige Finanz- Vereinten Nationen sind: minister Wolfgang Schäuble mit sei- (…) freundschaftliche Be- betreten müssen ner Sparpolitik sehr populär ist. Und ziehungen zwischen den dass Themen wie Euro-Bonds und Nationen zu entwickeln, die auf der alles, was auf Transferzahlungen Achtung des Grundsatzes der Gleich- für die Armen in Europa hinauslau- berechtigung und der Selbstbestim- fen könnte, von den Kommentatoren mung der Völker beruhen.“ wie absolute Unzumutbarkeiten be- Das bleibt aber bis heute politi- handelt werden. Und dass sich Bun- sches Neuland, für das es keine Par- deskanzlerin Angela Merkel auch teiprogramme wie etwa für die tradi- aufgrund dieser Stimmung vor den tionelle Sozialpolitik gibt. Noch im- Bundestagswahlen mit konkreteren mer fällt Völkerfreundschaft in der Aussagen zu den Vorstößen Macrons Regel in die Domäne der Diploma- zurückhielt. Dennoch gilt: Das muss tie, ein traditionelles Aufgabenge- sich ändern, wenn die deutsch-fran- biet der Eliten. Die Frage ist, ob die zösische Freundschaft als Motor für deutsch-französische Freundschaft Europa weiterlaufen soll. diese Grenzen überwinden kann, ob sie wirklich auf dem Weg zu ei- Ungewisse Völkerfreundschaft ner Völkerfreundschaft ist. Erst aus Dass es dafür gleichwohl kein Partei- der historisch weder gut erforschten programm gibt, und niemand einem noch oft praktizierten Perspektive französischen Präsidenten und einer von Völkerfreundschaften erschließt deutschen Kanzlerin einen Freund- sich, wie schwierig die Aufgaben von schaftsplan präsentiert, liegt am im- Macron und Merkel sind. De Gaulle mer noch sehr neuen und ungewöhn- und Adenauer agierten noch auf di- lichen Konzept der deutsch-französi- plomatisch klar markiertem Terri- schen Freundschaft. Sie ist weltweit torium. Das taten auch Giscard und die bekannteste unter den Völker- Schmidt, als sie die G7 gründeten und freundschaften. Doch Völkerfreund- so deutsche und französische Außen- schaft bleibt eine womöglich uto- politik koordinierten. Erst die 1979 pische Angelegenheit. Ihr Rang in eingeführten Europawahlen und ihr der Politik ist keinesfalls gesichert. europäisches Währungssystem ließen „Während das offizielle Frankreich die außenpolitische Domäne tenden- und das offizielle Deutschland sich ziell hinter sich. in einen brudermörderischen Kampf Aber es ist etwas ganz anderes, stürzen, senden die Arbeiter einan- wenn Macron und Merkel heute die der Botschaften des Friedens und der gleichen Unternehmenssteuern ein- Freundschaft“, schrieb Karl Marx führen wollen. Das berührt einen

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traditionellen Bereich der Innenpoli- licher denn je erscheint, ebendiesen tik. Hier geht es um die Angleichung Schritt verhindern. zweier Staaten im Inneren. Schon nimmt es den Anschein, Man könnte sogar sagen: Hier wird als hätten Paris und Berlin die histo- aus der Freundschaft eine Ehe. Man rische Chance der Wahl Macrons zum legt sich fest, die wesentlichen Din- Präsidenten vertan. Sie, diese freie, ge im Leben – also hier im eindeutige Wahl der Franzosen weg An Nüchternheit Funktionieren der beiden von Le Pen und hin zum Guten für kann eine Freund- Staaten – zu teilen. Mer- Europa, war ein möglicher Wende- kel könnte weit über die punkt. Sie hätte auch in Deutschland schaft zerbrechen Bundestagswahlen vom Begeisterung auslösen können. Sie tat Herbst 2017 hinaus Recht es nicht. Oder nicht ausreichend. Die behalten, wenn sie schon bei der Fra- zweite Chance kommt wahrschein- ge der gemeinsamen Unternehmens- lich nach den deutschen Bundestags- steuer beim deutsch-französischen wahlen. Aber so viele Chancen wird Ministerrat am 13. Juli 2017 in Pa- es dann nicht mehr geben. Fern von ris warnte: „Das ist ziemlich kompli- Wahlen sind in Demokratien grund- ziert.“ Sie sah es eben nüchtern. sätzliche Kurswechsel kaum möglich. Aber auch an Nüchternheit kann Was bisher von Macron und Mer- eine Freundschaft zerbrechen. Oder kel verhandelt wird, reicht dafür je- sie sorgt dafür, dass zum Entschluss denfalls nicht. Es sind vor allem mi- für den nächsten Schritt in der Be- litärische und sicherheitspolitische ziehung die nötige Begeisterung und Projekte. Zwar wird die Zusammen- Entschlossenheit fehlen. An einem arbeit auf diesen Gebieten für Frank- solchen Punkt befinden sich Paris und reich und Deutschland in den nächs- Berlin. Sie haben sich Freundschaft ten Jahren an Bedeutung gewinnen. versprochen. Sie haben das mit dem Der Brexit und die NATO-Kritik von Élysée-Vertrag von 1963 offiziell ge- US-Präsident Donald Trump erfor- macht, aber den Bund fürs Leben ha- dern das geradezu. Die Flüchtlings- ben sie erst mit Gründung der Euro- krise und der islamistische Terroris- päischen Union und der europäischen mus ebenfalls. Währungsunion ins Auge gefasst. Tatsächlich sind die Ministerial- Wollen sie ihn nun wirklich schlie- beamten in Paris und Berlin fleißig ßen? Am Ende steckt in jedem Ehe- auf der Suche nach neuen deutsch-­ vertrag auch die Verpflichtung, fürei- französischen Kooperationsprojek- nander zu zahlen. Genau davor aber ten. Von Überwachungsdrohnen über scheint die Mehrheit der Deutschen Kampfflugzeuge bis zur gemeinsamen heute zurückzuschrecken. Deshalb ist Terrorfahndung und dem gemeinsa- ihr weltpolitisch vergleichsweise eher men Engagement für den europäi- nebensächlich erscheinender Frank- schen Grenzschutz: Mit „Mercron“ reich-Blues der vergangenen Jahre kommen diese Projekte, zum Teil vielleicht ein Trend von historischer schon jahrealt, alle neu auf den Tisch. Tragweite. Er könnte gerade zu einem Sogar ein gemeinsamer deutsch-fran- Zeitpunkt, da mit „Mercron“ der letz- zösischer Militäreinsatz in Afrika te, entscheidende deutsch-französi- wird denkbar. Alles schön und gut. sche Schritt zum Staatenbund mög- Doch solange es keine klare Verstän-

94 IP • November / Dezember 2017 Der Frankreich-Blues

digung und gemeinsame Auffassung Berlin einen Haushaltsplan für die darüber gibt, welches Europa beide Jahre bis 2021 vor, der keine deutsche gegen die globalen Gefahren vertei- Neuverschuldung vorsieht. Macrons digen wollen, bleibt die deutsch-fran- Pläne für die „Neugründung Euro- zösische Verteidigungspolitik Ersatz- pas“ wären damit kaum zu machen. politik. Zuerst wäre es deshalb nötig, Aber wusste man, was die Kanzlerin einen wirtschaftspolitischen Kom- darüber dachte? promiss zu statuieren, der dann auch Es ist nicht anzunehmen, dass sie eine tendenziell konvergierende Sozi- die Erste sein wird, die den Frank- alpolitik möglich macht. Mit anderen reich-Blues ablegt. Nach Fukushima Worten: Frankreich und Deutschland und in der Flüchtlingskri- müssen für alle ihre Bürger glaub- se reagierte Merkel außer- Frankreich ist bereit würdige Aussichten auf ein soziales gewöhnlich, vielleicht so- für den Lebensbund Europa schaffen – dann erst lohnt gar emotional auf die neu- sich die Freundschaft! en Situationen. Aber sie mit Deutschland folgte dabei immer auch Blick in den Abgrund instinktiv einer Mehrheitsstimmung Wie traditionell üblich, besuchte auch in der deutschen Bevölkerung und ih- der sozialdemokratische Kanzlerkan- rer Eliten: gegen Atomkraft, für Men- didat im Wahlkampf schenrechte! Muss Macron also erst 2017 Paris und den französischen die Stimmung in Deutschland zu- Präsidenten. Zu diesem Anlass emp- gunsten Frankreichs drehen, bevor fing er am 20. Juli die deutschen Kor- Merkel mehr mit ihm wagt? respondenten zum Hintergrundge- So weit aber wird es wohl nie kom- spräch. Martin Schulz lag zu diesem men. Die deutschen Eliten mit Mer- Zeitpunkt laut den Umfragen nicht kel an der Spitze müssen die ersten gut im Rennen. Aber er gab sich alle Schritte selbst unternehmen. Sie müs- Mühe, der Kanzlerin den Rang des sen aus eigener Kraft ihren Frank- besseren Frankreich-Freundes abzu- reich-Blues überwinden. laufen. Dabei war an diesem Abend Mein Eindruck ist: Viele Franzo- auffällig, wie häufig im Gespräch mit sen, auch viele Front-National-Wäh- den deutschen Journalisten der Name ler, wissen, dass sie sich in diesem von Wolfgang Schäuble fiel. Als wäre Jahr fast in den politischen Abgrund in Sachen Frankreich-Politik nicht die gestürzt hätten. Sie haben aber an- Kanzlerin der eigentliche Gegner von ders entschieden und sind bereit für Schulz, sondern der deutsche Finanz- das Risiko eines Lebensbunds mit minister. Und tatsächlich betonte Deutschland. Schulz, dass die Ablösung Schäubles im Herbst 2017 eines der wichtigsten Georg Blume Ziele sozialdemokratischer Politik sei. ist Paris-Korrespon- Also nicht nur die Ablösung Merkels! dent der ZEIT. Der Text entstammt Das war ein Hinweis, wie un- seinem soeben er- mittelbar die deutsch-französische schienenen Buch Freundschaft heute die Machtfrage in „Der Frankreich-Blues“ Deutschland berührt. Noch im Juni (Hamburg: Edition ­Körber 2017). 2017 legte Schäuble dem Kabinett in

IP • November / Dezember 2017 95 Europa

Torwächter Europas Mit Libyens Hilfe arbeitet Italien an einer Lösung der Flüchtlingskrise

Ulrich Ladurner | Als im Frühsommer 2017 innerhalb von 36 Stunden 12 000 Flüchtlinge an den Küsten Italiens landeten, da fürchtete mancher um den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Land. Das erklärt die Entschlossen- heit des Innenministers Marco Minniti, auch seine Härte. Vor allem ließ die Ex-Kolonialmacht ihre Kontakte zu Libyen spielen. Mit Erfolg.

Der italienische Innenminister Mar- Monat August 2016 waren die Zahlen co Minniti saß im Flugzeug Rich- im Vergleich zum Vorjahr um 90 Pro- tung Washington, als ihn die Nach- zent zurückgegangen. richt erreichte. Mehr als Zehntau- send Migranten, so hieß es, würden Immenser Handlungsdruck binnen der nächsten 48 Stunden an Wie war das möglich? Um auf diese den Küsten Italiens erwartet. Es war Frage eine Antwort zu finden, sollte der 27. Juni 2016. In den vier voran- man zunächst einmal die innenpoliti- gegangenen Tagen waren über 10 000 sche Lage Italiens in den Blick nehmen. Menschen aus dem Meer gefischt Nur so wird klar, unter welch immen- worden. Minniti brach seine Dienst- sem Handlungsdruck die vom sozial- reise ab und kehrte nach Rom zu- demokratischen Partito Democratico rück. Die Regierung berief eine Kri- (PD) und seinem Ministerpräsidenten sensitzung ein. Paolo Gentiloni geführte Regierung in Diese abgebrochene Reise ließe Rom stand. Erst dann kann man die sich als vorläufiger Höhe- und gleich- Motive und Entscheidungen der Ak- zeitig Wendepunkt der Flüchtlings- teure sowie ihre Folgen in einem um- krise bezeichnen, von der Italien seit fassenden Sinne verstehen. mehreren Jahren betroffen ist. In den Anfang Mai 2016 hatten bei Wah- Wochen nach der überstürzten Rück- len in über 1000 italienischen Ge- kehr Minnitis nach Rom ging die meinden rechtspopulistische Kräfte Zahl der Migranten und Flüchtlinge, zum Teil große Erfolge erzielt – al- die über Libyen nach Italien kamen, len voran die Lega Nord. Diese Partei dramatisch zurück. Bis Ende Juni wa- war in den späten 1980er Jahren als ren über 100 000 Menschen nach Ita- separatistische Partei entstanden, die lien gekommen, spätestens Mitte Juli den reichen Norden des Landes vom kamen immer weniger Menschen. Im armen Süden abtrennen wollte. Doch

96 IP • November / Dezember 2017 Torwächter Europas

die Lega wandelte sich im Laufe der Grund, diese Wahlen zu verlieren Jahre zu einer immer ausländerfeind- und von einer rechtspopulistischen licher werdenden Partei. Nicht mehr Koalition abgelöst zu werden. der „mezzogiorno“, der Süden Itali- Salvinis Lega Nord und Grillos ens, war jetzt das Objekt ihrer Pro- Fünf Sterne entdeckten im Laufe des paganda, sondern die Migranten, un- Jahres immer mehr Gemeinsamkei- ter ihnen besonders Muslime. 2013 ten. Eine Koalition der beiden schien wurde Matteo Salvini Vorsitzender nicht mehr ausgeschlossen – für den der Lega Nord. Er versucht seither, regierenden PD eine echte die separatistischen Wurzeln seiner Gefahr. Vor allem in der Es drohte eine Koali- Partei zu kappen und sie als natio- Flüchtlingspolitik fanden tion aus Lega Nord nale Kraft zu etablieren. Lega Nord und Fünf-Ster- Die Gelegenheit dafür ist güns- ne-Bewegung zusammen. und Fünf Sternen tig. Denn die langen Jahre der Herr- Sie forderten eine restrik- schaft von Silvio Berlusconi haben tivere Flüchtlingspolitik und einen die rechtskonservativen Parteien ge- „wirksamen“ Schutz der Grenzen. schwächt, um nicht zu sagen: zer- Die Lega Nord verlangte unter an- trümmert. Salvini versucht, Berlusco- derem, dass man im Meer aufgefisch- nis Erbe als Führer des rechtskonser- te Flüchtlinge direkt an die libysche vativen Lagers anzutreten. Das Vehi- Küste zurückbringen sollte. Umfra- kel dafür ist eine Verschärfung der gen zeigten deutlich, dass eine wach- ausländerfeindlichen Rhetorik. Salvi- sende Zahl von Italienern eine här- ni tourt mit dem Slogan „Salvini Pre- tere Flüchtlingspolitik befürwortet. mier“ durch die Lande. Schien das vor einigen Jahren noch ein überzogener Demokratie in Gefahr Wahlspruch einer kleinen Regional- In Rom schrillten die Alarmglocken. partei zu sein, so gewann er nach und Ministerpräsident Gentiloni musste nach an Realitätsgehalt. dringend Erfolge vorweisen, wenn er Die zweite rechtspopulistische im Amt bleiben wollte. Doch es ging Kraft, die angesichts der Flüchtlings- offenbar nicht nur um den Macht- krise ihre ausländerfeindliche Rhe- erhalt der Regierung in Rom. In im- torik stetig verschärft hat, ist die mer mehr Gemeinden regte sich Wi- Fünf-Sterne-Bewegung. Diese von derstand gegen die Aufnahme von dem Komiker Beppe Grillo angeführ- Flüchtlingen. Innenminister Minniti te Partei war bei den Parlamentswah- erklärte im September mit Blick auf len im Februar 2013 aus dem Stand die Situation im Mai/Juni 2017: „Als mit etwas mehr als 25 Prozent der innerhalb von 36 Stunden 12 000 Stimmen hinter dem PD zur zwei- Migranten an unseren Küsten lande- stärksten Kraft geworden. Seither lie- ten und sich gleichzeitig Bürgermeis- gen die Fünf Sterne stabil mit dem PD ter gegen die Aufnahme von nur 30 gleichauf, in den Umfragen schwankt bis 50 Flüchtlingen in ihren Gemein- er zwischen 25 und 30 Prozent. den wehrten, da fürchtete ich um un- In Italien stehen spätestens 2018 sere Demokratie!“ Wahlen an, doch es war auch schon Minniti ist kein Mann, der für von Neuwahlen in diesem Jahr die Übertreibungen bekannt ist. Und er Rede. Der PD fürchtete aus gutem war in Italien nicht der einzige, der

IP • November / Dezember 2017 97 Europa

den sozialen Zusammenhalt bedroht kräften ermordet worden. Die Itali- sah. Der Protest der Bürgermeister ener forderten Aufklärung und Be- war ein Zeichen für den wachsenden strafung der Mörder, die ägyptischen sozialen Widerstand gegen den unge- Behörden mauerten, die Italiener zo- hinderten Zustrom von Migranten. gen ihren Botschafter ab. Es war die Die Regierung brauchte dringend Er- schwerste Krise zwischen den beiden folge, und das hieß: Die Zahlen der Ländern seit Jahrzehnten. Bild nur in Zuwanderer mussten schnell sinken. Es war Innenminister Marco Min- Ende Juli schickte Italien ein niti, der sich um eine Normalisierung Printausgabe verfügbar Kriegsschiff und Material nach Li- der Beziehungen bemühte. Bis heute byen, um die libysche ist nicht bekannt, wer am grausamen „Seht her, wir sind Küstenwache bei ihrem Tod Regenis schuld ist. Minniti ließ zu harten Maßnah- Kampf gegen die Men- sich davon nicht beirren. Die guten schenschlepper zu unter- Beziehungen zu al-Sisi waren für ihn men bereit!“ stützen. Das war in ers- im Zweifel wohl wichtiger als weite- ter Linie eine Aktion, die re Aufklärung im Fall Regeni. Mar- nach innen gerichtet war: „Seht her, co Minniti ist der zentrale Architekt wir sind zu harten Maßnahmen be- der italienischen Flüchtlingspolitik. reit!“ Als der libysche General Kha- lifa Haftar, der den Westen Libyens Freie Hand für Rom beherrschte, drohte, er werde die ita- Viele Monate lang arbeitet er beharr- lienischen Schiffe beschießen lassen, lich daran, die Flüchtlingszahlen zu reagierte Rom ebenso prompt wie ge- reduzieren. Er tat dies auf diskrete lassen. Das sei eine leere Drohung. Weise, aber auch in der Gewissheit, Italien demonstrierte Stärke. Die dass Europa der italienischen Regie- Drohung Haftars und die Reaktion rung in Libyen die Führung über- Italiens waren zu einem guten Teil ließ. Das Vertrauen Europas tat Ita- Theater zur Besänftigung des heimi- lien gut. Das Land war mit Blick auf schen Publikums. die Migrationskrise als unzuverlässig Vor der Entsendung des Kriegs- dargestellt worden, zum Teil aus gu- schiffes hatte Italiens Regierung die ten Gründen. Denn die italienischen Kontakte zum ägyptischen Präsiden- Behörden winkten in den vergange- ten Mohammed al-Sisi, dem Schutz- nen Jahren viele Flüchtlinge Richtung patron Haftars, verstärkt. Sie muss- Norden durch. Italien wollte verlore- te sich daher keine Sorgen machen. nes Vertrauen wiedergewinnen. Da- Gute Kontakte zu Kairo waren für her macht es mit dieser Praxis weit- Rom zu diesem Zeitpunkt alles ande- gehend Schluss. Doch das Durchwin- re als selbstverständlich. Die Bezie- ken konnte auf Dauer nur beendet hungen zwischen Italien und Ägyp- werden, wenn den Zustrom über die ten waren nämlich äußerst ange- zentrale Mittelmeerroute versiegte. spannt. Im Februar 2016 war der ita- Europa signalisierte Rom, dass es in lienische Student Giulio Regeni am Libyen und auf der zentralen Mittel- Stadtrand von Kairo tot aufgefunden meerroute freie Hand habe. worden. Sein Körper wies Folterspu- Minniti setzte die humanitären ren auf. Sehr wahrscheinlich ist Re- Organisationen, die vor der liby- geni von ägyptischen Sicherheits- schen Küste kreuzten und Migran-

98 IP • November / Dezember 2017 Torwächter Europas

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ten und Flüchtlinge aus dem Meer des libyschen Diktators Muammar Italiens Innenminis­ fischten, unter Druck. Er legte einen al-Gaddafi im Jahr 2011 und dem Aus- ter Minniti ist eine bessere Kontrolle Verhaltenskodex für die Organisatio- bruch des Krieges zwischen den liby- über das gelungen, nen vor. Wer unterschrieb, verpflich- schen Milizen eine Botschaft in Tri- was auf dem Meer tete sich zu engerer Kooperation mit polis eröffnete. Im Januar 2017 wur- geschieht: Migran­ den italienischen Behörden, wer sich de der Botschafter entsandt, eine ita- ten besteigen die „Juventa“ der deut­ weigerte, musste mit Sanktionen der lienische Gesandtschaft gibt es schon schen NGO „Jugend Regierung rechnen. Auf diese Wei- seit 2015. Marco Minniti selbst stellte ­Rettet“, Juni 2017 se gewann Minniti bessere Kontrolle den Botschafter in Tripolis vor. Auch über das, was auf dem Meer geschah. das war ein klares Signal: „Wir sind Und er sig­nalisierte nach innen Stär- hier! Wir halten zu Libyen!“ ke und Entschlossenheit. Es war für Minniti lässt sich von der Über- die Rechtspopulisten nun schwerer, zeugung leiten, dass Grenzen kon­ die Regierung wegen angeblicher trollierbar sind, selbst eine so poröse Laschheit zu attackieren. Entschei- Grenze wie jene im Süden Libyens. dender aber war, was Italien auf der 5000 Kilometer lang ist diese Gren- anderen Seite des Mittelmeers macht: ze, die zwischen Libyen und seinen in Libyen. Nachbarn Niger, Tschad und Algeri- Als ehemalige Kolonialmacht ver- en verläuft. Es sind 5000 Kilometer fügt Italien in Libyen über beste Kon- Sand und Felsen. Wie lässt sich das takte. Es ist und war bereit, diese unter Kontrolle bringen? Indem man Kontakte zu nutzen. Dafür geht die mit den Menschen und Autoritäten römische Regierung auch ein Risiko arbeitet, die vor Ort sind. Das hieß ein, das andere Länder scheuen. Itali- in dem Fall die Stämme. en ist das erste und bis heute einzige Im März fand unter dem Radar westliche Land, das nach dem Sturz der großen Öffentlichkeit ein Treffen

IP • November / Dezember 2017 99 Europa

von Stammesführern aus dem Süden Neben der Regierung in Tripo- Libyens statt. Minniti hatte eingela- lis und den Stämmen im Süden des den. Er bemühte sich erfolgreich um Landes knüpfte die italienische Re- eine Schlichtung zwischen den Stäm- gierung Kontakte zu Bürgermeistern men. Es gelang ihm, ein verschiedener Städte und Ortschaf- Mit Zuckerbrot und Abkommen zu schließen. ten Libyens. Auch ihnen bot Rom Peitsche band die EU Die Vertreter der Stäm- finanzielle und ökonomische Hil- me verpflichteten sich, fen an, die allesamt das Ziel haben, Niger stärker ein den Menschenschmuggel Alternativen zum lukrativen Men- zu unterbinden. Rom ver- schenschmuggel zu entwickeln. sprach im Gegenzug langfristige öko- Der Rückgang der Migrations- nomische und finanzielle Hilfe. Auf zahlen über die zentrale Mittel- der anderen Seite der südlichen Gren- meerroute ist das Ergebnis einer ze Libyens begannen die Maßnah- über viele Monate hinweg beharr- men der EU zu wirken. Die EU hatte lich verfolgten, mühsamen Kleinar- vor allem mit Niger eine engere Zu- beit. Die Regierung in Rom handel- sammenarbeit gestartet. Durch die- te in der Gewissheit, dass der un- ses Land, insbesondere über die Stadt gehinderte Zustrom von Menschen Agadez, verläuft eine Haupttransit- den sozialen Zusammenhalt in Itali- route der Migranten und Flüchtlin- en akut bedrohte. Für Rom war Ge- ge. Mit einer Mischung aus Zucker- fahr in Verzug. Das erklärt die Ent- brot und Peitsche gelang es der EU, schlossenheit Marco Minnitis, auch Niger stärker einzubinden. seine Härte. Langfristig orientiert sich Itali- Vorbild Türkei-Deal en an dem Modell des Flüchtlings- Die Tatsache, dass die Stammesfüh- abkommens mit der Türkei aus dem rer nach Rom eingeladen worden wa- Jahr 2016. Wie die Türkei heute, soll ren, dass man sie anhörte und als Ver- Libyen zum gut bezahlten Torwäch- handlungspartner ernst nahm, ist ein ter Europas in Nordafrika werden. Beleg für die vielschichtige Strategie Doch das wird erst möglich sein, Minnitis. Wie die gesamte Europäi- wenn Libyen wieder ein funktions- sche Union stützt auch Italien den fähiger Staat ist. Wann es so weit Ministerpräsidenten Libyens Fayez sein wird, weiß man nicht einmal al-Sarraj, obwohl der im Land über im bestens vernetzten Rom. wenig Autorität verfügt. Sein Einfluss beschränkt sich auf Tripolis und die nähere Umgebung. Trotzdem halten Ulrich Ladurner die EU, die UN und eben auch Itali- ist Auslandsreporter en an ihm als zwar machtlosen, aber der ZEIT und Buch­ autor. Zuletzt erschien doch als einzig legitimen Regierungs- von ihm „Eine Nacht chef Libyens fest. Das Ziel besteht da- in Kabul“ (2010). rin, den libyschen Staat wieder zu er- richten. Al-Sarraj soll da erst der An- fang sein.

100 IP • November / Dezember 2017 Polen im Teufelskreis

Polen im Teufelskreis Die Europa-Skepsis der PiS-Regierung kommt das Land teuer zu stehen

Piotr Buras | Polens nationalpopulistische Regierung hatte auf Großbritan- nien gesetzt, um eine engere Integration in Europa zu verhindern. Doch nach dem Brexit-Votum und dem Wahlsieg Emmanuel Macrons steht War- schau im Abseits. Die Kosten sind hoch: Je weniger Einsatz und Solidari- tät Polen für Europa zeigt, desto mehr schwindet sein Einfluss.

Seit ihrem Wahlsieg im November nischen Wähler entsprechen. Aktuel- 2015 richtet Polens national-popu- le Umfragen zeigen, dass 88 Prozent listische Partei „Recht und Gerech- der Polen die EU-Mitgliedschaft be- tigkeit“ (PiS) die Politik ihres Lan- fürworten und nur 5 Prozent einen des neu aus. Unter Führung von Ja- „Polexit“ wollen. Dennoch sehnt roslaw Kaczynski hat sie sich ganz sich die Regierungspartei nach einer bewusst von den Ideen der Europä- Emanzipierung Polens vom Einfluss isierung und der Verwestlichung ab- seiner westeuropäischen Partner und gewandt, die über lange Zeit den nach mehr nationaler Souveränität. Transformationsprozess Polens ge- Am gravierendsten ist der kultu- prägt hatten. Wegmarken dieser anti- relle Backlash gegen die Europäisie- liberalen Wende waren die Neubeset- rung. Der Vorstand und die führen­ zung des Verfassungsgerichts und die den Ideologen der PiS verunglimp- „Reform“ des Justizsystems, durch fen jede Orientierung am Westen als die die Richter exekutiver Kontrolle „Politik der Nachäfferei“, als Unter- unterstellt werden. Auch die Zentra- werfung unter westliche oder deut- lisierung der öffentlichen Finanzie- sche Moden. Manche behaupten so- rung von NGOs, die Fördergelder in gar, dass die liberalen Ideen des Wes- Richtung PiS-naher Organisationen tens nicht mit der polnischen Tradi- umleiten soll, steht nicht nur für die tion und Identität vereinbar seien. forsche Machtübernahme durch die Geht es nach den führenden Intel- neue Elite, sondern symbolisiert Po- lektuellen der PiS, hat die EU ihre lens „Enteuropäisierung“. christlich-konservativen und ökono- Zwar stellt auch die euroskepti- mischen Wurzeln längst gekappt. Das sche PiS die EU-Mitgliedschaft Po- europäische Projekt sei von einer Ge- lens nicht grundsätzlich infrage. Dies neration Linksliberaler gekapert wor- würde auch nicht dem Willen der pol- den, die durch die 68er-­Bewegung

IP • November / Dezember 2017 101 Europa

nach oben gespült wurde. Sie habe die Frankreich als Teil des festen Kerns EU in ein ideologisches Vehikel um- des europäischen Projekts. Diese stra- funktioniert, um dem europäischen tegische Positionierung galt vielen als Kontinent langsam, aber sicher ein Langzeitinvestition, die Polen Sicher- homogenes soziokulturel- heit und Stabilität garantieren würde, Nun repräsentiert les Modell überzustülpen. auch wenn man dafür Kompromisse nur noch Polen den Die PiS sieht hier eine Art eingehen müsse. Social Engineering am Die PiS lehnte diesen Kurs jedoch „echten Westen“ Werk. Im Namen von Sä- von Beginn an strikt ab und sprach kularisierung und Ökolo- von einer „Politik auf den Knien“, gie, der Glorifizierung von Minder- die Polen keinerlei Vorteile gebracht heiten, des Kosmopolitismus und des habe. Während ihrer ersten Regie- Multikulturalismus hätten Linkslibe- rungszeit (2005–2007) schrieb sie rale die westlichen Gesellschaften ge- sich den „Kampf um die Erinne- wissermaßen deformiert. rung“ auf die Fahnen. Damals ging Die Flüchtlingskrise hat diese es ihr um vermeintlichen deutschen Propaganda, die im Kern nicht nur Geschichtsrevisionismus. Heute ste- EU-kritisch, sondern auch antiwest- hen andere Themen im Vordergrund. lich ist, auf dramatische Art und Wei- Die Flüchtlingskrise liefert den An- se befeuert. Die PiS und ihre Anhän- lass für Warschaus Kritik an Berlin. ger sind überzeugt davon, dass Polen Es hat nicht nur mit den antideut- den „echten Westen“ repräsentiert. schen Vorurteilen der neuen Polit-Eli- Dagegen habe Westeuropa die urty- te zu tun, dass sich Polen 2016 lang- pischen westlichen Werte verraten. sam, aber stetig Großbritannien als Die soziale Entwicklung der euro- neuem europäischem Partner zu- päischen Gesellschaften sei kein na- wandte. Vielmehr symbolisiert die- türlicher Prozess, der durch den Aus- se Allianz die polnischen Bestrebun- tausch von Wertvorstellungen und gen, im europäischen Integrationspro- Ideen angetrieben und somit unkont- zess umzusteuern. Die PiS sieht sich rollierbar sei, sondern Ergebnis einer selbst als Speerspitze einer europäi- politischen Manipulation, die rück- schen Transformationsbewegung. Als gängig gemacht werden könne. die Partei im November 2015 die Re- gierungsverantwortung übernahm, Großbritannien als Wunschpartner befanden sich Konzepte wie die Stär- Es ist keine Überraschung, dass die kung des Nationalstaats, die „Rena- von der PiS vorangetriebene „Enteu- tionalisierung“ der Märkte sowie die ropäisierung“ auch zu einer Umdeu- Kritik an tiefgreifender europäischer tung der Rolle Deutschlands, des vor- Integration und der liberalen Demo- mals wichtigsten Partners, geführt kratie im Aufwind. Die populistische hat. Die deutsch-polnische Partner- Revolte gegen das Establishment be- schaft stand lange Zeit sinnbildlich stärkte die PiS-Führung in der An- für Polens Verhältnis zur EU; im po- nahme, dass die öffentliche Meinung litischen Diskurs der 1990er Jahre in Europa auf ihrer und der Seite nannte man Deutschland auch das Großbritanniens sei. „Tor nach Europa“. Polen verstand Doch das Brexit-Votum, der Er- sich zusammen mit Deutschland und folg Emmanuel Macrons in Frank-

102 IP • November / Dezember 2017 Polen im Teufelskreis

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reich und die Krisenfestigkeit von kommen. Die Folgen gehen weit über Führt flexible Angela Merkels Kanzlerschaft (trotz eine mögliche Kürzung von Fördergel- Inte­gration „zum Scheitern und des Stimmenzuwachses für die Alter- dern oder einen simplen Imageverlust zur Aufsplitte- native für Deutschland bei der Bun- hinaus. rung“? Polens destagswahl) geben Anlass zu der Das polnische Dilemma, das in Außen­minister Vermutung, Polens Regierungspartei den vergangenen Monaten immer Witold Waszczy- kowski in London, könnte sich verrechnet haben. Ohne deutlicher zutage getreten ist, ist nicht Oktober 2017 Großbritannien finden sich Polen und neu, sondern beruht auf der Position die anderen Nicht-Euro-Länder in ei- des Landes innerhalb der EU. Polen ner viel schwächeren Position wieder. ist in vielerlei Hinsicht ein Sonder- Der zukünftige Kurs der EU wird ver- ling unter den EU-Mitgliedstaaten. mutlich nicht von Polen oder Ungarn Das hat mit der Größe des Landes, bestimmt werden, sondern von den seinen spezifischen nationalen Inter- wiedererstarkten Partnern Frank- essen und mit dem polnischen Selbst- reich und Deutschland. verständnis zu tun: Polen ist ein gro- Diese strategische Fehlkalkulati- ßes Land, das sich ambitionierte po- on der PiS hat zu einer dramatischen litische Ziele setzt, jedoch nur über li- Verschlechterung der Beziehungen mitierte Ressourcen verfügt, um diese zu den wichtigsten EU-Partnern ge- Ziele auch zu erreichen. Mit seinem führt. Mit der EU-Kommission strei- Potenzial steht Polen unangenehmer- tet Warschau um Rechtsstaatlichkeit, weise genau zwischen den europäi- mit Deutschland um Reparationszah- schen Supermächten, die den politi- lungen, die maßgeblich aus innenpo- schen Kurs vorgeben, und den kleine- litischen Motiven gefordert wurden, ren Staaten, die sich damit begnügen, und mit Frankreich über Sozialdum- diesem Kurs zu folgen. ping und Rüstungskooperation. Po- Zudem hat Polen Interessen, die len wird das am Ende teuer zu stehen von der Mehrheit der EU-Mitgliedstaa-

IP • November / Dezember 2017 103 Europa

ten abweichen. Nicht einmal alle ost- te nachhaltiger Schaden entstanden. europäischen Länder teilen etwa die Das Risiko, das Warschau mit sei- tiefe polnische Angst vor dem Nach- ner Enteuropäisierungsstrategie ein- barn Russland oder die energiepoliti- geht, beschränkt sich keineswegs auf schen Sorgen, die Warschau ob der Zu- einzelne Sektoren oder Themenfel- kunftsfähigkeit der großen der. Vielmehr ist Polen im Begriff, Der Beitritt zur Euro- polnischen Kohleindust- sich in Sachen europäischer Koopera- zone ist für Warschau rie umtreiben. Das Land tion und Integration selbst ins Abseits ist ethnisch gesehen wei- zu manövrieren und den Anschluss kein Thema testgehend homogen und an die künftige EU zu verlieren. Der will diesen Zustand kon- Beitritt zur Eurozone ist für die aktu- servieren. Gleichzeitig aber ist Polen elle Regierung kein Thema, und selbst so groß, dass von Warschau erwartet die Opposition vertritt diesbezüglich werden darf, mehr Verantwortung in keine klare Position. Skeptisch ist der Flüchtlings- und Migrationsfrage Warschau auch gegenüber den neu- zu übernehmen. en Plänen für eine Verteidigungsuni- on. Hinter dieser Haltung steht nicht Immer mehr ins Abseits nur das Bestreben, eine eigene natio- Um seine Ziele zu erreichen, muss nale Rüstungsindustrie aufzubauen, Polen äußerst achtsam agieren, Kom- sondern auch die Überzeugung, dass promisse eingehen und gleichzeitig Abgrenzungsprobleme zwischen dem hart bleiben, wenn seine Kerninter- Verteidigungs- und Sicherheitsbereich essen auf dem Spiel stehen. Das Land der EU und der NATO unvermeid- braucht eine geschickte Diploma- lich wären. Eine Vertiefung der euro- tie und darf seine Partner nicht ver- päischen Migrations- oder Sozialpoli- ärgern, um nicht auf Kollisionskurs tik und die europäische Klimapolitik mit seinen europäischen Verbündeten sind für Polen ohnehin rote Tücher. und den EU-Institutionen zu geraten. Zu einem großen Teil lassen sich Doch die PiS hat bereits die ers- die polnischen Vorbehalte mit spe- ten, politisch höchst brisanten Strei- ziellen nationalen Interessen in den tereien vom Zaun gebrochen. Im Au- jeweiligen Bereichen erklären. Doch gust 2017 missachtete die polnische das Misstrauen des national-popu- Regierung eine Anordnung des Eu- listischen Lagers gegenüber einer ropäischen Gerichtshofs, die Abhol- voranschreitenden Europäisierung zung des Bialowieza-Urwalds zu stop- – das von der öffentlichen Meinung pen, der für die Zeit des Prozesses un- oftmals geteilt wird – spielt ebenfalls ter besonderen Schutz gestellt worden eine wichtige Rolle. war. Polen weigerte sich auch, seine Hier die Integrationsbemühungen im September 2015 von der EU fest- Brüssels, dort Polens strategische Zu- gelegte Quote bei der Aufnahme von rückhaltung: Unter diesen Vorausset- Flüchtlingen zu erfüllen. Zusammen zungen wird Polens Prozess der Ent- mit dem Vertragsverletzungsverfah- europäisierung höchstwahrschein- ren, das Brüssel aufgrund der von der lich von ganz alleine weitergehen. PiS begonnenen Justizreformen ein- Um das zu verhindern, müsste War- leitete, ist in den Beziehungen zwi- schau einen radikalen Kurswechsel schen Polen und der EU bereits heu- in seiner Europa-Politik vornehmen.

104 IP • November / Dezember 2017 Polen im Teufelskreis

Die nationalen Interessen im Hin- gegen weitreichende Integration ent- blick auf den Euro, die Energie- und schieden, sollten aber die vollen Vor- die Verteidigungspolitik müssten neu teile der EU-Mitgliedschaft erhalten definiert werden, um sie in besseren bleiben. Die PiS-Idee, flexible Rück- Einklang mit der Entwicklung der EU trittsmechanismen zu kreieren, lief zu bringen. auf ein „Europa à la car- Polen ist ein großes Land, das in te“ hinaus, in dem jeder Polen läuft Gefahr, der EU eine bedeutende Rolle spielen Staat frei und je nach der von der EU zurückge- könnte. Doch unter den heutigen in- eigenen Interessenlage aus nenpolitischen Bedingungen ist War- einem festgelegten Integ- lassen zu werden schau nicht in der Lage, diese Rolle rationsmenü hätte wählen auszufüllen. Der Brexit schwächt die können. Diese Option stand in Brüs- polnische Position noch weiter. Die sel jedoch nie ernsthaft zur Debatte. strategische Herausforderung liegt Während ein Polexit weder heute nun darin zu definieren, wie viel An- noch morgen zu erwarten ist, ist viel passung nötig und möglich ist, um wahrscheinlicher, dass die EU Polen zumindest in einigen Bereichen vom „verlässt“: nicht indem sie Warschau europäischen Integrationsprozess zu formal ausschließt, sondern indem profitieren – oder wenigstens keine sie sich weiterentwickelt, neue Wege Nachteile der in Brüssel beschlosse- der Integration und Kooperation be- nen Gesetze zu spüren zu bekommen. schreitet und Polen dabei zurücklässt. Dieses Dilemma spiegelt sich auch Sollte sich Polen somit weiter „enteu- in der polnischen Ambivalenz gegen- ropäisieren“, liefe das Land Gefahr, in über Vorschlägen für ein Europa der einen Teufelskreis zu geraten: Wenn unterschiedlichen Geschwindigkei- es nicht mehr die Solidarität, die Fi- ten. Einerseits lehnt es Warschau ab, nanzstärke und den politischen Wil- die EU flexibler zu gestalten. So gab len aufbringt, die nötig sind, um eine Außenminister Witold Waszczykows- führende Rolle in der EU einzuneh- ki zu Protokoll, das Angebot einer fle- men, würde es auch weniger von der xiblen Integration sei nichts anderes EU profitieren als in der Vergangen- „als ein Rezept zum Scheitern und zur heit. Diesen relativen Machtverlust Aufsplitterung“. Derartige Vorschläge würden die Populisten dann als ein könnten „hegemonialen“ Lösungen, weiteres Argument gegen die EU und bei denen nicht vollends integrations- als Kritik an ihren größten Mitglied- willige Länder benachteiligt würden, staaten instrumentalisieren. Vorschub leisten. Andererseits waren polnische Politiker in früheren Dis- kussionen über ein flexibles Europa weitaus weniger skeptisch. Tatsäch- Piotr Buras ist Leiter lich erklärte man in Warschau lange, des Warschauer Büros die EU könne nicht nach einem stan- des European Council on Foreign Relations dardisierten „Einheitslösungs“-Prin- und arbeitet als Kom- zip funktionieren. Stattdessen müs- mentator für mehrere se man Mitgliedstaaten die Möglich- Zeitungen. keit geben, sich so weit zu integrieren wie sie wollten. Auch jenen, die sich

IP • November / Dezember 2017 105 Europa

Sehnsucht nach dem Rechtsstaat Die Menschen im Westbalkan wollen von der EU nicht nur Wohlstand

Theresia Töglhofer | Die Vorteile der EU-Annäherung müssten bei den Bür- gerinnen und Bürgern in den Westbalkan-Staaten ankommen, so die Ab- sichtsbekundungen aus Brüssel und Berlin. Doch die Beitrittsverhandlun- gen stocken, und die Reformen von Staat und Justiz kommen nicht voran. Hier muss die EU handeln, will sie das Vertrauen der Menschen behalten.

Mai 2017, Taxifahrt durch eine mit- schen vor Ort Ergebnisse zu liefern. telgroße Stadt in Serbien. Als der Wie ein Mantra zieht sich diese Ab- Fahrer erfährt, woher sein Fahr- sichtsbekundung durch die State­ gast kommt, wechselt er sofort die ments von EU-Politikern. Sprache. Acht Jahre lang habe er in Betrachtet man die Lage in den Deutschland gearbeitet, erzählt er in sechs Westbalkan-Staaten – alle An- perfektem Deutsch. „Und dann habe wärter auf eine EU-Mitgliedschaft –, ich den größten Fehler meines Lebens wird schnell klar, dass dies eher ei- gemacht. Ich bin nach Serbien zurück- nem frommen Wunsch als der Reali- gekehrt.“ Warum es ein Fehler war? tät vor Ort entspricht. Seit nunmehr „Sehen Sie sich um, nichts funktio- 17 Jahren haben Albanien, Bosni- niert hier.“ en-Herzegowina, Kosovo, Mazedo- Etwa zur gleichen Zeit in Ber- nien, Montenegro und Serbien eine lin. Auf einer Konferenz des Aspen-­ EU-Beitrittsperspektive – die beiden Instituts spricht Außenminister Sig- letzteren führen seit 2012 bzw. 2014 mar Gabriel vor seinen Amtskollegen konkrete, aber voraussichtlich lang- aus Südosteuropa. Er fordert, dass wierige Beitrittsgespräche. Im Zei- die positiven Auswirkungen der EU-­ chen der EU-Annäherung werden Annäherung ihrer Länder bei den staatliche Institutionen reformiert Bürgern im Westlichen Balkan an- oder neu geschaffen, Abertausende kommen müssten. Und er stellt selbst- Seiten von Gesetzestexten und Nor- kritisch fest, dass dies bislang nicht men werden verabschiedet und sol- der Fall sei. Auch in der Abschlusser- len in der Praxis Umsetzung finden. klärung des jüngsten Westbalkan-Gip- Zur Unterstützung dieses Prozesses fels in Triest vom Juli 2017 heißt es, fließen neben bilateralen Geldern dass die Reformanstrengungen ver- jährlich rund 580 Millionen Euro an stärkt werden müssten, um den Men- EU-Finanzhilfen in die Region.

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Auf beiden Seiten ist die Auf- in Richtung Deutschland oder ande- bruchstimmung jedoch längst ver- rer EU-Staaten verlassen. Es sind vor flogen. In den Westbalkan-Staaten allem die Jüngeren und die gut Aus- sind die Reformen ins Stocken gera- gebildeten, die gehen. Mehr als zwei ten. Von den verheerenden Auswir- Drittel der 18- bis 29-Jährigen kön- kungen der Wirtschaftskrise, von der nen sich laut Balkan-Barometer vor- die Region 2009 hart getroffen wur- stellen, ihre Heimat zu verlassen, de, erholen sich die Länder nur lang- um anderswo Arbeit zu finden. An- sam. Die Zeichen, die aus Brüssel und schaulich dargestellt wird den EU-Staaten kommen, sind sehr dies in einer Dokumenta- Auf beiden Seiten unterschiedlich: Auf alljährlichen tion der Organisation Bal- ist die Aufbruchstim- Westbalkan-Gipfeln – nach dem ers- kanac. Mit der Handyka- ten Austragungsort des Gipfels 2014 mera sind drei junge Ak- mung verflogen Berlin-Prozess genannt – wird bekun- tivisten quer durch ihre det, dass die Zukunft der Westbal- Heimatländer Bosnien-Herzegowina,­ kan-Staaten in der EU liegt. Gleich- Kroatien und Serbien gereist und ha- zeitig verlautbarte Kommissionsprä- ben junge Menschen befragt, wie sie sident Jean-Claude Juncker zu sei- die Lage vor Ort beurteilen und was nem Amtsantritt, dass bis 2019 keine sie sich von der Zukunft versprechen. neuen Mitgliedstaaten aufgenommen Lieber möchten sie bleiben, antwor- werden sollen. Ein Signal, das den ten diese unisono, aber wenn „es“ Reformkräften in der Region einen nicht besser wird, werden sie gehen. Dämpfer verpasst hat. Was ist „es“ nun, das besser werden muss? Inwieweit kommt die EU-An- Stabilität allein genügt nicht näherung ihrer Staaten tatsächlich Spricht man mit den Menschen vor bei den Menschen an? Ort, stößt man durchweg auf Unzu- Nicht unterschätzt werden soll- friedenheit, mitunter Resignation. te, wie die EU-Beitrittsperspektive Die Frustration unter den Bürgern zur Stabilisierung der Region und der Westbalkan-Staaten über den Zu- zur Überwindung der Konflikte der stand ihrer Länder ist hoch und das neunziger Jahre beiträgt. Was die Vertrauen darauf, dass sich ihre Situ- EU-­Annäherung bislang allerdings ation verbessern wird, gering. Laut nicht gebracht hat, ist wirtschaftli- dem Balkan-Barometer 2016,1 einer cher Wohlstand. Das räumte auch Erhebung des Regional Cooperation­ Außenminister Ga­briel in der bereits Council, zeigt sich ein Drittel der Be- erwähnten Rede ein und drängte auf völkerung „absolut unzufrieden“ und mehr Anstrengungen, um den West- ein weiteres Drittel „vorwiegend un- lichen Balkan zu einem attraktiven zufrieden“ darüber, wie die Dinge Wirtschaftsstandort zu machen. In in der Gesellschaft stehen, während diesem Sinne konzentriert sich der jeder Vierte sagt, dass er weder zu- Berlin-Prozess auf Konnektivität, die frieden noch unzufrieden sei. Vie- Schaffung von Infrastruktur, eines le Menschen haben ihr Land längst gemeinsamen Wirtschaftsraums und

1 Für detaillierte Ergebnisse siehe: Regional Cooperation Council. Public Opinion Survey. Balkan Barometer 2016.

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regionale Kooperation. EU-Vertreter miers Aleksandar Vucic ins Präsiden- meinen oft Wohlstand, wenn sie von tenamt stellten nicht Wohlstand in den einer Verbesserung der Lebensbedin- Mittelpunkt ihrer Forderungen, son- gungen in der Region sprechen. dern richteten sich gegen die wachsen- Zweifelsohne wollen die Menschen de Aushöhlung der Demokratie. Jobs und gute Straßen. Sollen die Vor- teile der EU-Annäherung für die Be- Verantwortung übernehmen Bild nur in völkerung auch spürbar werden, ist es Es ist nicht nur die Aussicht auf ein damit aber nicht getan. besseres Gehalt, die viele zum Verlas- Printausgabe verfügbar Die Regeln gelten EU-Integration ist näm- sen ihres Landes bewegt. Es ist auch nicht für alle Menschen lich nicht nur das Ver- der Wunsch, dass zählt, was man sprechen auf Stabilität kann und nicht, wen man kennt, um gleichermaßen und Wohlstand. Es ist be- einen Job zu bekommen. Es ist der ziehungsweise war auch Wunsch, dass in einem Rechtsstreit das Versprechen auf einen demokrati- ein Richter entscheidet, der sich nicht schen, funktionalen Rechtsstaat. Was kaufen lässt. Es ist der Wunsch, Zu- die Frustration und Ratlosigkeit in gang zu Sozialleistungen zu haben, den Westbalkan-Staaten nährt, ist die ohne jemandem zuvor einen Gefallen Erfahrung, dass viele „Volksvertreter“ tun zu müssen. Hinzu kommt die Per- nur ihre eigenen Interessen vertreten spektivlosigkeit, die viele Menschen und die staatlichen Institutionen zu empfinden. Denn die Hoffnung, dass ihrem privaten Spielplatz machen. Es sich die Lage – auch dank der EU-An- ist die täglich aufs Neue gemachte Er- näherung – zum Besseren wendet, fahrung, dass es keine verbindlichen wurde schon viel zu lange strapaziert. Regeln gibt, die für alle gleichermaßen Gewiss ist es für Politiker auf bei- gelten – die Erfahrung, nicht gehört zu den Seiten, EU und Westbalkan, an- werden und nicht zu zählen. genehmer, über Infrastrukturprojek- Die generell niedrige Wahlbetei- te zu sprechen als über Demokratie ligung in den Westbalkan-Staaten – und Rechtsstaatlichkeit. Bei ersteren 41 Prozent bei den diesjährigen Parla- zieht man an einem Strang; zweitere mentswahlen in Kosovo, 47 Prozent in erfordern Konfrontation, mitunter die Albanien – legt nahe, dass viele Bürger Infragestellung bestehender Macht- die Politik für eine Farce halten, mit strukturen. Bei ersteren handelt es der sie nichts zu tun haben wollen. Bei sich um Projekte zum Anfassen, wo den serbischen Präsidentschaftswah- Erfolge leicht abgebildet werden kön- len im April 2017 betrug die Wahlbe- nen, beispielsweise als Autobahn, die teiligung 55 Prozent; fast jeder Zehnte zwei Länder verbindet, oder mit der stimmte für den Komiker Luka Maksi- Schaffung neuer Arbeitsplätze. movic, der als Politikerfigur Beli Prele- Demokratie und Rechtsstaatlich- tacevic kandidierte (preletac bezeich- keit hingegen sind schwammige Be- net im Serbischen einen Politiker, der griffe, ihr Soll- und Ist-Zustand, Fort- zu seinem persönlichen Vorteil die schritte und Rückschläge sind schwer Seiten wechselt). Die langanhalten- zu fassen. Dennoch: Ohne dass sich den Proteste im Nachgang zu den Prä- die Entscheidungsträger im Westli- sidentschaftswahlen gegen den „flie- chen Balkan gegenüber ihren Bür- genden Wechsel“ des bisherigen Pre- gern verantwortlich zeigen, werden

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Anhaltende Proteste die Vorteile des EU-Integrationspro- finden diese Reformen jedoch meist gegen die Aushöh- lung der Demokratie: zesses niemals bei diesen ankommen. nur, soweit sie niemandem weh tun, Anti-Vucic-Demonst- In den Jahren 2011 und 2012 kün- das heißt solange sie etablierte Macht- ranten in Belgrad, digte die EU an, Rechtsstaatlichkeit strukturen nicht tangieren. Quer April 2017 in den Mittelpunkt des Beitrittspro- durch die Region drängt sich die Fest- zesses zu stellen. In der Folge wurden stellung auf, dass Reformfortschritte mit Montenegro und Serbien die Ka- vor allem „technischer Natur“ sind. pitel 23 (Judikative und Grundrech- Ob es um die Verabschiedung von te) und 24 (Justiz, Freiheit und Sicher- Gesetzen und Strategien, die Reform heit) gleich zu Beginn der Beitrittsver- oder den Neuaufbau von Institutio- handlungen eröffnet. Über den gesam- nen, Fortbildung für Staatsbediens- ten Zeitraum der Gespräche soll so tete oder die Modernisierung techni- ein „Track Record“ etabliert werden, scher Ausrüstung geht – hier können der belegt, dass Reformen tatsächlich die Westbalkan-Staaten beeindru- umgesetzt werden. Hinken rechts- ckende Ergebnisse vorweisen. Der staatliche Reformen Fortschritten in Reformprozess wird dann holprig, anderen Bereichen hinterher, könn- wenn es ans Eingemachte geht, etwa ten andere Verhandlungskapitel im wenn neu geschaffene oder reformier- schlimmsten Fall auf Eis gelegt wer- te Institutionen unabhängig arbeiten den. In ihrem Ansatz zur Förderung oder öffentliche Einrichtungen die der Rechtsstaatlichkeit in den Kandi- Mitarbeiter wegen ihrer Qualifikati- datenländern hat die EU jedoch zwei on auswählen und befördern sollen. grundlegende Probleme. Heikle Reformen werden verwässert Erstens: Auf dem Papier ist es um oder auf die lange Bank geschoben. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Gerade das sollte durch den neu- gut bestellt. Eingang in die Praxis en EU-Ansatz eigentlich vermieden

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werden. Um nachzuweisen, dass sie Damit die neuen Regeln und Instituti- Reformen konstant umsetzen, muss- onen nicht nur pro forma existieren, ten Montenegro und Serbien in den sondern auch substanzielle Verände- Beitrittsverhandlungen ­Aktions­pläne rungen mit sich bringen, braucht es vorlegen. Diese sind mit Indikato- aber einen wachen Blick und einen ren und Richtwerten, so genannten langen Atem. Benchmarks, gespickt. Kämpft man sich durch die Implementierungsbe- „Stabilitocracy“ breitet sich aus richte verschiedener Re- Zweitens: Während überall an einzel- Es wird wenig Kritik gierungsstellen, liest man nen rechtsstaatlichen Reformen ge­ geäußert, die EU will zwar viele Zahlen und arbeitet wird, zeichnet sich im Großen Daten, aber die Wirksam- und Ganzen eine besorgniserregende vor allem Stabilität keit der dahinterliegenden Tendenz ab. Eckpfeiler der Rechts- Reformen erschließt sich staatlichkeit – Medienfreiheit, unab- nicht zwangsläufig. So steigt wohl die hängige Justiz, Trennung von Staat Anzahl von Anklagen und Verurtei- und Partei sowie Korruptionsbekämp- lungen wegen Korruption auf höchs- fung – erodieren selbst in den aus- ter Ebene, wie die EU es einfordert. In sichtsreichsten ­Kandidatenländern der Statistik taucht aber auch der Fall Serbien und Montenegro. des montenegrinischen Ex-Präsiden- In der Region breitet sich eine so ten Svetozar Marovic auf: 2016 wegen ­genannte „stabilitocracy“ aus. Dabei Betrugs verurteilt, hat er seine Haft- handelt es sich um schwache Demo- strafe von drei Jahren und acht Mo- kratien mit autokratisch gesinnten naten nicht angetreten und verweilt politischen Anführern, die durch in- stattdessen im benachbarten Serbien. formelle Patronage-Netzwerke regie- Die Zahlen allein sagen auch ren, gegenüber westlichen Politikern nichts darüber aus, ob der Kampf aber als Garanten von Stabilität auf- gegen Korruption und organisiertes treten.2 Obwohl diese Tendenz an- Verbrechen systematisch betrieben hand zahlreicher Studien und Bei- wird oder sich nur gegen bestimm- spiele aufgezeigt werden kann, hält te „Sündenböcke“ aus dem gegneri- sich die EU mit Kritik zurück. Auch schen Lager oder in Ungnade Gefal- in ihrer alljährlichen Evaluierung der lene aus den eigenen Reihen richtet. Fortschritte im Beitrittsprozess schla- Ob staatliche Institutionen wie Jus- gen sich diese alarmierenden Ent- tiz oder Steuerbehörden gar gezielt wicklungen nicht nieder. Es scheint, gegen freie Medien und andere Insti- als rücke Rechtsstaatlichkeit in den tutionen eingesetzt werden, die sich Hintergrund. Die Europäische Union den herrschenden Eliten und den von – und Deutschland ist hier keine Aus- ihnen diktierten Spielregeln nicht fü- nahme – will vor allem Stabilität auf gen wollen. Zwar werden die Re- dem Balkan. formkataloge und die dazugehörigen Kritik wird nur vereinzelt ge- Benchmarks nach und nach abgehakt. äußert. Wenn in einem aktuellen

2 Für eine umfassende Studie zu demokratischen Defiziten in der Region siehe: Balkans in Europe Policy Advisory Group (BiEPAG): The Crisis of Democracy in the Western Balkans. An Anatomy of Stabilitocracy and the Limits of EU Democracy Promotion, März 2017.

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Non-Paper der EU-Kommission für forderungen der EU und darin, wo die Montenegro von beschränktem Fort- Westbalkan-Staaten gerade stehen, ei- schritt („limited progress“) in der Im- nen positiven Wettbewerb unter den plementierung verschiedener rechts- Beitrittskandidaten entfachen. Dar- staatlicher Reformen die Rede ist (die über hinaus muss die EU niedrigste Beurteilung vor „Stagna- Reformerfolge und -rück- Sporadischer Druck tion“), wissen Insider, dass das kei- schläge klar und deutlich ­seitens der EU wirkt ne gute Bewertung ist. Die Bürger in benennen, damit die Be- den Kandidatenländern können ange- völkerung auch versteht, eher willkürlich sichts der vagen und verschlüsselten wie es um die Fortschrit- Sprache jedoch nicht erkennen, ob te tatsächlich bestellt ist. Auch der und wie ihre Regierung rechtsstaatli- Faktor Zeit spielt eine wichtige Rol- che Reformen umsetzt. So ist es Politi- le. Den Beitrittsprozess unendlich in kern möglich, Rosinenpickerei zu be- die Länge zu ziehen, bedeutet auch, treiben und einzelne positive Bewer- dass er massiv an Transformations- tungen als große Erfolge zu verkaufen. kraft einbüßt. Klare Fristen würden Unterschiedliches Engagement in es stattdessen erschweren, heikle Re- einzelnen Ländern zeigt die Europäi- formen auf den St. Nimmerleinstag zu sche Union auch, wenn es um die För- verschieben. derung rechtsstaatlicher Reformen Verzichtet die EU darauf, die De- geht. In Albanien bestanden EU-Ak- fizite im Bereich der Demokratisie- teure vor Ort, in Brüssel und den Mit- rung und Rechtsstaatlichkeit zu be- gliedstaaten auf der Umsetzung der nennen und zu bekämpfen, macht sie Justizreform. Für Mazedonien ließ die sich zum Komplizen jener, die vom Europäische Kommission 2015, nach- Reformstillstand profitieren. Und sie dem eine Abhöraffäre weitreichende verliert das Vertrauen der Menschen Missstände im Bereich Rechtsstaat- in den Westbalkan-Staaten, dass die lichkeit offenbart hatte, unabhängige EU-Annäherung nicht nur mehr Experten die rechtsstaatliche Situati- Wohlstand, sondern auch mehr Mit- on im Land analysieren und Empfeh- sprache und Gerechtigkeit mit sich lungen erarbeiten. Der EU gelingt es bringen wird. Im Beitrittsprozess auf derzeit jedoch nicht, an alle Länder zeitweilige Stabilität in der Region des Westlichen Bal­kans die gleichen zu setzen, ist zu kurz gegriffen. Sol- Maßstäbe anzulegen. Sporadischer len die positiven Auswirkungen der Druck oder gelegentliche Kritik sei- EU-Integration die Bürger dauerhaft tens der EU erwecken vielmehr den erreichen, führt an der Stärkung des Eindruck von Willkür. Rechtsstaats kein Weg vorbei. Die zentralen Eckpunkte rechts- staatlicher Standards, die zu erfüllen Theresia Töglhofer sind, müssen für alle Staaten der Re- ist Associate Fellow gion – ob bereits in Beitrittsverhand- am Alfred von Oppen- heim-Zentrum für Euro- lungen oder nicht – definiert und ver- päische Zukunftsfra- bindlich sein. Auch wenn die Lösun- gen der DGAP. Zurzeit gen von Land zu Land angepasst wer- unterrichtet sie an der den müssen, können Transparenz Universität Osijek in Kroatien. und Vergleichbarkeit in den Reform-

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Wenn Bürgermeister die Welt regieren Unsere Städte müssen sich global vernetzen, um die Demokratie zu retten

Benjamin Barber | Die Nationalstaaten sind nicht mehr in der Lage, die Pro- bleme zu lösen. Sie sind in Grenzen gefangen; Klimawandel, Terror und Pandemien, aber auch Ölkartelle und Banken sind es nicht. Es ist Zeit, dass sich unsere Städte global vernetzen. Städte sind die Bausteine einer globalen Regierungsführung. Nur sie können die Demokratie bewahren.

In unserer von Menschen wimmelnden Welt, in der es zu viele Differenzen und zu wenig Solidarität gibt, steckt die Demokratie tief in der Krise. Einst sorg- ten hartnäckige Nationalstaaten dafür, dass die Demokratie nicht an immer größeren Einheiten scheiterte. Heute verhindern sie ihre Ausdehnung auf die globale Ebene. Es ist an der Zeit, ernsthaft zu fragen: Können Städte die Welt retten? Ich glaube, sie können es. In der Geschichte der Stadt hat sich der Kreis längst geschlossen. In der Po- lis, der Bürgergemeinde, begann der Weg der Menschheit zu Politik und Zivili- sation. Sie war der erste Inkubator der Demokratie. Dennoch setzten wir jahr- tausendelang unser Vertrauen in Monarchien, Weltreiche und schließlich die neu erfundenen Nationalstaaten, um sie die Bürden von Zivilisation und De- mokratie tragen zu lassen. Heute, zum Abschluss einer langen Geschichte von Erfolgen auf regionaler Ebene, lässt uns der Nationalstaat im globalen Maß- stab im Stich. Er war das perfekte politische Rezept, um die Freiheit und Unab- hängigkeit eigenständiger Völker und Nationen zu wahren. Doch für eine Welt voller wechselseitiger Abhängigkeiten ist er nicht geeignet. Und so ist die Stadt – seit jeher erste Wahl unter den menschlichen Lebensräumen – heute erneut zur besten Hoffnung für Demokratie in unserer globalisierten Welt geworden. Urbanität mag nicht in unserer Natur liegen, doch sie liegt in unserer Ge- schichte. Ob gut oder schlecht, ob aus Zufall oder durch Vorsehung: Sie be- stimmt, wie wir leben, arbeiten, spielen und miteinander umgehen. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt heute in Städten. In den Entwicklungslän- dern sind es sogar mehr als 78 Prozent. So wie die Stadt einst unser Ursprung war, so scheint sie jetzt unsere Bestimmung zu sein. In den Städten wird Kre- ativität entfesselt, die Gemeinschaft gefestigt, die Bürgerschaft errungen. Angesichts des nationalstaatlichen Widerstands gegen grenzübergreifen- de Zusammenarbeit ist es die größte politische Herausforderung der Gegen-

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wart, andere Institutionen zu finden, die in der Lage sind, die sich vervielfa- chenden Herausforderungen einer interdependenten Welt zu bewältigen. Dabei dürfen wir die demokratischen Werte nicht aufgeben, die vormals durch den Nationalstaat geschützt wurden. Um uns sowohl vor den anarchischen Aus- wüchsen der Globalisierung wie Krieg und Terrorismus als auch vor ihren monopolistischen Erscheinungen, zum Beispiel den mul- Die Stadt war unser tinationalen Konzernen, zu schützen, brauchen wir globale demo- Ursprung, jetzt ist sie kratische Institutionen, die gut funktionieren. Das bedeutet Insti- tutionen, die fähig sind, den globalen Herausforderungen gerecht zu unsere Bestimmung werden. Während der vergangenen Jahrhunderte, in denen Kriege die Welt nachhaltig geprägt haben, hat der Nationalstaat kaum Fortschritte in Richtung einer globalen Regierungsführung erzielt. Die Demokratie steckt in der Klemme. In einer Welt voller rivalisierender Nationalstaaten scheint we- der eine demokratische Globalisierung noch eine Globalisierung der Demo- kratie möglich, solange ihr Erfolg von rivalisierenden souveränen Staaten ab- hängt. Was also ist zu tun? Die Lösung steht uns vor Augen, sie ist offensichtlich, aber bisher weitge- hend unerforscht: Schaut auf die Städte, die am dichtesten vernetzten Gebilde der politischen Organisation, die wir kennen. Lasst diese Gebilde, die von Zu- sammenarbeit und Pragmatismus, von Kreativität und Vielfalt geprägt sind, dort anpacken, wo Staaten versagen. Lasst die Bürgermeister die Welt regieren. Tatsächlich passiert das schon. Städte sind immer stärker in die Netze der Kultur, des Handels und der Kommunikation eingebunden, die den Globus umspannen. Diese Netzwerke, die im Kern kooperative Strukturen darstel- len, können so weit entwickelt werden, dass sie in Zukunft das offiziell tun, was heute schon informell geschieht: dass sie durch freiwillige Kooperation und breiten Konsens Regierungsfunktionen ausüben.

Das Wesen des Kosmopolitismus In der modernen Welt besteht die zentrale Herausforderung der Demokratie darin, Teilhabe – die ihrer Natur nach lokal ist – und Macht – deren Wesen zentral ist – zusammenzuführen. Im Nationalstaat gelang dieser Balanceakt für eine Weile. Mit der Zeit wurde er jedoch einerseits zu groß, um seinen Bür- gern echte Teilhabe zu ermöglichen. Andererseits blieb er zu klein, um Macht auf globaler Ebene ausüben zu können. Der Kosmopolitismus hat eine Antwort. Er stellt sich Stadtbewohner vor, die in urbanen Nachbarschaften, in denen Teilhabe und Partizipation noch möglich sind, verwurzelt sind. Gleichzeitig kooperieren diese Städter über Grenzen hinweg, um sich der Zentralmacht entgegenzustellen und sie im Zaum zu halten. Der Kosmopolitismus stellt sich vor, dass diese Menschen sich zu- sammenschließen, um die anarchische Globalisierung und ihre unerwünsch- ten Auswüchse zu überwachen und zu regulieren. Eine Welt, die von Städten regiert wird, erfordert keinen neuen globalen Re- gierungssitz, der irgendwo aus dem Nichts errichtet würde. Diese vernetzten Städte brauchen auch keine Genehmigung der Nationalstaaten, die von ihnen ersetzt werden. In einer solchen Welt wird die Bedeutung von Bürgerschaft, Zi-

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vilgesellschaft und freiwilliger Gemeinschaft über die Grenzen hinweg betont, statt den von oben verordneten Rezepten und Exekutivmandaten der globalen Einheitsherrscher zu folgen. Was Michael Bloomberg, der ehemalige Bürger- meister von New York, einst sagte, mag anmaßend klingen, aber im Kern gibt es wieder, über welche Macht kommunaler Lokalismus in einer interdependen- ten Welt verfügt: „Mit der NYPD habe ich meine eigene Armee“, sagte Bloom- berg, „mein eigenes Außenministerium, zum großen Ärger von Foggy Bottom“. Nicht Bloombergs angeberischer Ton verleiht diesen Worten Gewicht, son- dern ihr Wahrheitsgehalt. Denn, wie Bloomberg sagte: „Der Unterschied zwi- schen meiner Ebene des Regierens und anderen Ebenen ist, dass Alle Städte ähneln auf dem Stadtlevel tatsächlich etwas passiert.“ Präsidenten dozie- sich in ihrer Funktion ren über Prinzipien, Bürgermeister räumen den Müll weg. Sie set- zen sich für Waffengesetze ein (wie in der von Bloomberg angereg- und Infrastruktur ten NGO „Mayors Against Illegal Guns“) und kämpfen gegen den Klimawandel auf der Welt (wie die C40 Cities). Diese Anpack-Men- talität zeichnet auch Organisationen wie ICLEI (Local Governments for Sus- tainability) aus. Indem sie die Netzwerke, innerhalb derer sie bereits kooperieren, vergrö- ßern und vervielfältigen, beweisen Städte, dass sie in der Lage sind, gemein- sam Dinge zu tun, zu denen Staaten nicht in der Lage sind. Was wäre ein Bür- germeisterparlament, wenn nicht die formalisierte Variante der globalen ur- banen Netzwerke, die schon heute existieren? 2010 trafen sich 3000 Vertreter aus 100 Ländern bei dem Weltkongress eines Meta-Netzwerks namens United Cities and Local Governments. Sie sind auf gutem Wege! Was wäre eine zu- künftige zivilgesellschaftliche Religion, wenn nicht der gemeinschaftliche zi- vile Ausdruck des Lebensalltags derer, die in den Städten leben? Städte gibt es in Tausenden von Variationen. Doch in funktioneller und infrastruktureller Hinsicht sind sie sich sehr ähnlich.

Kooperation in informellen Netzwerken Wie viele unterschiedliche Möglichkeiten gibt es, eine Million Menschen auf einer streng begrenzten Fläche unterzubringen? Bereits im 18. Jahrhundert stellte Jean-Jacques Rousseau fest: „Alle Hauptstädte sind ganz gleich ... Pa- ris und London scheinen mir dieselbe Stadt zu sein.“ Sind São Paulo, Tokio und New York heute wirklich verschieden? Die transnationale Zivilgesell- schaft, die wir uns vorstellen, entspricht dem bereits existierenden globalen Netzwerk aus Partnerschaften und Verbindungen, die an dieselben Werte der Bürgergesellschaft glauben. Dazu gehören Gemeinschaften, die für weltweit geltende Menschenrechte streiten, religiöse Organisationen, die für die Öku- mene eintreten, internationale Vereine von Künstlern und soziale Netzwer- ke von Freunden, die sich immer mehr ausweiten, um am Ende auch Fremde einzubeziehen. Solch ein Netzwerk wartet nicht darauf, erfunden zu werden, es ist bereits im Entstehen begriffen und muss nur noch erkannt, genutzt und formalisiert werden. Neue Mechanismen der Kooperation und der gemeinsamen Entscheidungs- findung ermöglichen es Städten, in Fragen der Waffenkontrolle, des Handels,

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des Klimawandels, des kulturellen Austauschs, der Bekämpfung von Krimi- Zusammen gegen nalität, der Drogenpolitik, der Infrastruktur, der öffentlichen Gesundheit, der den Klimawandel: Die Bürgermeisterin Migration und der Technologie effektiv zusammenzuarbeiten. Dafür braucht es von Paris, Anne keine offiziellen Mechanismen: Rey Colón, ein Mitglied des Stadtrats von Chi- Hidalgo (m.) mit Amts- cago, sah zum ersten Mal bei einer Reise nach Sevilla, wie gut innovative Fahr- kollegen beim C40- radverleihsysteme funktionieren. Bürgermeister Rahm Emanuel gab daraufhin Treffen in Mexico City, Dezember 2016 das Wahlversprechen, einhundert Meilen „grüner“ Fahrradwege an wichtigen Chicagoer Durchgangsstraßen anzulegen; ein Versprechen, das er derzeit ein- löst. New Yorks Fahrradverleihsystem startete Mitte 2013. Grüne Ideen zwi- schen Städten zu teilen und in Stadtnetzwerken wie dem C40 die Schaffung neuer Verleihsysteme und den Bau von Fußgängerzonen voranzutreiben, mag nicht dem entsprechen, was man sich unter Weltherrschaft vorstellt. Doch sie zeigen, wie weit die Städte den Staaten voraus sind, wenn es darum geht, die immensen Herausforderungen der globalen Vernetzung zu bewältigen – und sei es nur durch freiwillige und informelle Kooperation. Der langjährige Bürgermeister der Stadt Stuttgart Wolfgang Schuster ist ein europäischer Staatsmann und zivilgesellschaftlicher Akteur, vor allem aber ein kommunaler Demokrat, dem bewusst ist, wie sehr lokale demokratische Strukturen von städteübergreifender Kooperation profitieren können. „Wir sind keine Insel“, betont er, „wir brauchen eine starke Lobby für lokale Selbst- verwaltung. Aber die Städte selbst sind keine Inseln, also müssen wir in Netz- werken arbeiten, um unsere Bedürfnisse und Forderungen zu formulieren, … indem wir voneinander lernen.“ Auf diese bodenständige und praktische Art und Weise werden Städte mit ihren eigenen fortschrittlichen Netzwerken die europäischen Nationen ersetzen können, die nach der Pfeife der Banken und der G7 und G20 tanzen. Wie? Ich schlage vor, ein Bürgermeisterparlament zu

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gründen, das keinen Staat um Erlaubnis fragen muss, wenn es zusammenkom- men will, das konsensfähige Lösungen für gemeinsame Probleme anstrebt und sich freiwillig den gemeinsam beschlossenen Regeln unterwirft. Es ist kein utopisches Ziel, Bürgermeister zu globalen Entscheidungsträ- gern zu machen und ihre urbane Wählerschaft in Bürger ohne Grenzen zu ver- wandeln. Auch geht es dabei um mehr als Sehnsucht nach einem unerreichba- ren System weltweiter Gerechtigkeit. Tatsächlich würde es schon Städte und Staaten genügen, dass wir zur Kenntnis nehmen, was für eine Welt bereits stehen oft zwangs- im Entstehen begriffen ist – ohne systematische Planung oder die Legitimation staatlicher Autoritäten. Es würde schon genügen, das läufig in Konflikt einzigartige urbane Potenzial für Kooperation und Egalitarismus zu nutzen. Dieses Potenzial wird nicht von den hartnäckigen Kon- zepten der Souveränität und des Nationalgedankens zurückgehalten, die Staa- ten in der Vergangenheit dazu verleitet haben, sich in Festungen zu verstecken und sich für ihre „Autonomie“ und „Unabhängigkeit“ feiern zu lassen. Wenn Bürgermeister die Welt regieren sollen, dann werden sie den Premier- ministern und Präsidenten selbstverständlich Tribut zollen müssen. Die Städ- te und ihre Kooperationsnetzwerke mögen zwar die globale Wirtschaft beein- flussen und sich staatlichen Regeln und Vorschriften entziehen, aber sie un- terliegen noch immer der Rechtsprechung und der Souveränität größerer po- litischer Gebilde. Bürgermeister Bloomberg mag seine eigene Armee haben, aber man stelle sich nur vor, was geschehen würde, wenn er sie in Kuba, Wa­ shington oder Albany einsetzen wollte – oder einfach nur jenseits des Hudson in Hoboken, oder in Yonkers, ein paar Meilen nördlich von Manhattan. Kurz gesagt: Er kann zwar über Fahrradwege in Manhattan bestimmen, aber nicht über den Verkehr auf dem New York Thruway. Beim Regieren geht es um Macht ebenso wie um Probleme, um Gesetzge- bungskompetenz ebenso wie um ihre Funktion. Deshalb ist das Verhältnis der Städte zu den Staaten, in denen sie liegen, von zentraler Bedeutung. An diesem Punkt stellen sich zwei wichtige Fragen: Haben die Städte und die Staaten, zu denen sie gehören, deckungsgleiche Interessen? Und können Städte funktio- nieren, wenn sie es mit Staaten zu tun bekommen, die ihrem Vormarsch ins Globale nicht indifferent, sondern feindlich gesinnt sind?

Das Beharren auf nationaler Souveränität Die Antworten auf beide Fragen sind schwierig, auch mit Blick auf die lega- le und politische Gesetzgebungskompetenz. Was jedoch schon zu Beginn ei- ner solchen Diskussion klar sein muss, ist, dass die Interessen der Städte und der Staaten, zu denen sie gehören (und gehören ist an dieser Stelle das richti- ge Wort!), oftmals zwangsläufig in Konflikt miteinander stehen. So eng mitei- nander vernetzt und verflochten Städte in wirtschaftlicher, technokratischer und kultureller Hinsicht auch sein mögen, sie unterliegen der Rechtsprechung und der exekutiven und finanzpolitischen Aufsicht von Staaten, die noch im- mer sehr viel Macht haben – und so schnell auch nicht verschwinden werden. Wenn es stimmt, was Saskia Sassen sagt, nämlich, dass das „was dem Wachstum von vernetzten globalen Städten zuträglich ist, nicht auch zwangs-

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läufig den Nationen zugutekommt“, wenn also die Expansion globaler Städte zum Nachteil der nationalen Regierungen geschieht, dann ist es unwahrschein- lich, dass diese sich zurücklehnen und geduldig dem Ende ihrer Herrschaft bei- wohnen. Vielmehr werden sie versuchen, die Kontrolle über jene globalisierten Städte zurückzugewinnen, die transnationale Kooperationen anstreben. Für die Staaten gilt es dann, ein für alle Mal klarzustellen, dass Städte, egal für wie transnational und kollaborativ sie sich halten mögen, ihrer Gewalt unterliegen und sich der nationalen Souveränität unterzuordnen haben.

Bausteine einer globalen Governance Im Gegensatz zu Unternehmen und Verbänden sind Staaten von Natur aus ter- ritorial veranlagt. Städte befinden sich zwangsläufig auf dem Territorium eines Staates. New York mag sich nicht oft mit Washington beschäftigen, aber Wa­ shington wird New York stets im Auge behalten. Bürgerinnen und Bürger mö- gen grenzenlose Träume haben, doch ist es weder ihre Heimatstadt noch die in Entstehung begriffene Weltbürgerstadt, über die sie sich definieren und der sie die Treue schwören. Es sind die Nationalflaggen, die patriotischen Hym- nen, die großen Aufgaben ihrer Nation. Die voranschreitende Verflechtung der Städte mag ihre Verbindungen zu Nationalstaaten schwächen und sie zu engerer Kooperation untereinander trei- ben, aber kein Staat, der etwas auf sich hält, wird still zusehen, wie seine Metropolen das Subsidiaritätsprinzip unterwandern und sich aus der Anziehungskraft ihrer staatlichen Mutterschiffe lösen. Das gilt Nationale Gemein- selbst für Singapur, einen Stadtstaat, in dem paradoxerweise eine schaften schaffen ge- Stadt mit einem territorial gleichförmigen Staat koexistiert, der die Souveränität über die Stadt und den Staat ausübt. Zudem bleiben na- meinsame Identität tionale Gemeinschaften wichtige Bezugspunkte für Identität. Über eine gemeinsame Geschichte, gemeinsame Sprache und gemeinsame Narrative (etwa in Form von Zivilreligionen) schaffen sie Zugehörigkeiten, die es Städ- tern erlauben, sich auch über die Grenzen ihrer Gemeinden hinweg als Bür- ger zu verstehen. Anzuerkennen, dass ein Spannungsfeld zwischen urbaner und nationaler Identität existiert, bedeutet nicht, das eine oder das andere Konzept vorzuzie- hen. Es geht an dieser Stelle lediglich darum, sich der Bedeutung dieser Tatsa- che bewusst zu werden. Denn es ist dieses Spannungsfeld, das belegt, warum es systematischer und nachhaltiger Überzeugungsarbeit bedarf, um die Städte als Bausteine einer globalen Governance – also einer weltweiten Regierungs- führung – zu bewerben. In dieser Sache gilt es, die Macht und die Kompeten- zen der Staaten und die Hartnäckigkeit nationaler Grenzen ebenso zu beden- ken wie das Wesen der Städte. Diese Aufgabe verlangt von uns, dass wir uns mit der Geschichte der Städte auseinandersetzen und uns bemühen, ihre DNA zu entschlüsseln. Wir müssen ihren pragmatisch veranlagten und lösungsorientierten Charakter verstehen. Zugleich müssen wir zeigen, wie ihre Rolle als Bausteine einer globalen Regie- rungsführung trotz der möglicherweise heftigen Opposition der Nationalstaa- ten gefestigt werden kann, ohne deren Souveränität dabei rundheraus infra-

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ge zu stellen. Der Erfolg der Städte muss den Staaten dort nützen, wo sie sich als unfähig entpuppen, darf sie jedoch nicht wegwünschen oder zu den Böse- wichten der Geschichte der demokratischen Globalisierung degradieren. Denn wie wir sehen werden, rührt die Schwäche der Nationalstaaten bei der welt- weiten Zusammenarbeit zumindest teilweise aus ihren Tugenden: aus ihrer Unabhängigkeit, ihrer Souveränität, ihrem Engagement für nationale Gleich- berechtigung und Freiheit. Das Argument, das ich vorbringe, verlangt auch, dass wir die Erfolge kleine- rer, aber robuster ziviler Institutionen und Netzwerke analysieren, verstehen und auf ihnen aufbauen. Vernetzte Städte und Megastädte werden darüber be- stimmen, ob die Demokratie – vielleicht sogar die Zivilisation selbst Wir brauchen nicht – die nächsten Jahrzehnte überleben wird. Die Kernfragen werden mehr, sondern bes- in dieser Zeit dieselben bleiben, nämlich wie wir gewaltsame Aus- einandersetzungen zwischen Staaten überwinden und das verhee- sere Globalisierung rende ökonomische und ökologische Chaos sowie die Ungleichhei- ten und Ungerechtigkeiten lindern können, die in der Abwesen- heit globaler demokratischer Regierungsstrukturen grassieren. Schon heute stolpern wir einer verführerischen, aber ebenso bedrohlichen Anarchie ent- gegen, in der Pandemien und Umweltkatastrophen wüten, deren Ausbreitung der Souveränitätsgedanke noch Vorschub leistet. Schon heute leben wir in ei- ner Ära globaler Privatmonopole auf Geld und Einfluss, die unter dem Ban- ner der Freiheit gedeihen können, dank Märkten, die alles andere sind als frei. Wir brauchen nicht einfach mehr Globalisierung, sondern eine Form der Globalisierung, die öffentlich ist und nicht privat, demokratisch und nicht he- gemonial, egalitaristisch und nicht monopolistisch. Die globale Anarchie be- günstigt brutale Gewalt und eine Mentalität des „The winner takes it all“. Im Kampf dagegen können Städte, die über die Grenzen hinweg zusammenarbei- ten, etwas bewirken. Indem sie freiwillig kooperieren, um Nachhaltigkeit, Ge- rechtigkeit und demokratische Gleichbehandlung zu schaffen, können sie die von Staaten verursachte Verwüstung lindern und vielleicht sogar die globalen Märkte bändigen, die zu kontrollieren die nationalen Regierungen schon lan- ge nicht mehr willens oder fähig sind. Städte, die zur informellen Kosmopo- lis verschmelzen, können, so wie die Polis des Altertums, zu Inkubatoren der Demokratie werden. Doch dieses Mal in globalem Maßstab.

Müll, Handel und Verkehr Obwohl Städte historisch gesehen oft unter Ungleichheit und Korruption litten und dem Willen der Königshäuser und Weltreiche unterworfen waren, sind sie in ihrem Kern stets antiideologisch und auf pragmatische Weise demokratisch geblieben. Die Politik der Städte zeichnet sich durch Überzeugungsarbeit und nicht durch Präventivschläge aus. Ihre Regierenden sind Nachbarn, die Ver- nunft walten lassen und keine unnahbaren Herrscher mit einem Hang zu ro- her Gewalt. Die vorrangigen Ziele der Städte und damit der Bürgermeister sind alltäglicher, beinahe provinzieller Natur: Sie sammeln Müll und Kunst statt Wählerstimmen und Verbündete; sie errichten Gebäude und betreiben Bus­ linien, anstatt Flaggen zu hissen und politische Parteien zu führen; sie küm-

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mern sich darum, dass das Wasser fließt und nicht darum, dass der Waffen- Städte, die zur infor- handel floriert; sie unterstützen Bildung und Kultur statt nationaler Sicherheit mellen Kosmopolis verschmelzen, kön- und Patriotismus. Sie tun alles, um Zusammenarbeit zu fördern statt eines Be- nen, so wie die Polis wusstseins der eigenen Besonderheit. Ihnen geht es darum, den Sinn für Teil- des Altertums, zu habe und den Stolz in den kommunalen Zusammenhalt zu stärken, nicht um Inkubatoren der blinde Vaterlandsliebe. Demokratie werden: der Erechtheon- Städte haben keine Wahl: Um zu überleben und zu gedeihen, müssen sie Tempel auf der pragmatisch und lösungsorientiert, vernetzt und kooperativ, kreativ und in- Athener Akropolis novativ sein. Dass sie vor allem mit den Schlagwörtern Müll, Handel, Unter- nehmertum, Verkehr, Kommunikation, digitale Technologie und Kultur – mit Kreativität und Vorstellungskraft – in Verbindung gebracht werden, liegt da- bei in der Natur der Sache beziehungsweise in der Natur des menschlichen Zusammenlebens auf engstem Raum. Doch Kreativität und Vorstellungskraft sind nicht nur die Treiber hinter Innovation, Handel und Kultur, sondern auch Motoren für die Demokratie. Um die Zukunft der Stadt als Grundlage für ein neues System der demo- kratischen Global Governance zu verstehen, muss man sich zwangsläufig mit ihrer Historie und ihren demokratischen Wurzeln in der Antike beschäfti- gen. Die Demokratie wurde in der selbstverwalteten und autonomen Polis er- dacht, aber erst in der vernetzten und unabhängigen Kosmopolis kann sie zu voller Entfaltung kommen. Die Stadt steht am Ende des Anfangs der mensch- lichen Zivilisationsgeschichte. Menschen, die Sprache, Kultur und Wirtschaft erschaffen, finden sich in größeren Gemeinschaften zusammen. So wie Aris- toteles den Menschen einmal ein politisches Tier (ein Zoon politikon) nannte, so spricht Edward Glaeser heute von der Menschheit als einer „urbanen Spe- zies“, deren Städte „aus Fleisch, nicht aus Beton gemacht“ sind.

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Die Griechen gaben ihren ersten Gemeinden den Namen Polis. Im Fal- le des archetypischen Athens waren diese eine Art politisierte Ansammlung verschiedener Stämme, den so genannten Demen. So wie viele andere antike Dorfgemeinschaften war Athen eine im Grunde männliche Stadt, auch wenn sie sich mit ihrem vermeintlich egalitären Charakter brüstete. In den meisten kleinen Gemeinden und Dörfern blieben ohnehin die Stammespolitik und das Recht des Stärkeren die dominierenden Kräfte. Doch immerhin waren die Poleis geboren – und sie waren geboren, um zu wachsen. Aus den ersten von ihnen wurden befestigte Marktplät- Die Polis wurde ze, aus den befestigten Marktplätzen wurden Kleinstädte, aus den geboren, um zu Kleinstädten wurden Handelszentren, und dann wuchsen die Han- delszentren über die Mauern hinweg, die sie vor Feinden schützen wachsen sollten, und einer immer kleiner werdenden Welt entgegen; einer Welt, die durch Schnellstraßen und Flüsse, durch Handelsrouten und über die plötzlich befahrbaren Weltmeere verbunden war. Heute leben 90 Prozent der Weltbevölkerung in der Nähe von Meeren oder von Flüssen, die die Meere speisen – an Wasserwegen, die zu Mobilität und Kommunikation einladen, aber deren Gezeiten, Stürme und Fluten auch Ka- tastrophen heraufbeschwören. Über die Jahrtausende entwickelten sich Städ- te – natürlich nicht ohne Verzögerungen und zwischenzeitliche Rückschritte – zu Haupt- und Reichsstädten, in denen nicht mehr nur Tausende, sondern Hunderttausende und Millionen von Menschen lebten. Die Menschheit be- wegte sich, um es mit Max Weber zu sagen, „vom Simplen in die Komplexität, vom Allgemeinen in die Spezialisierung“. Die Welt stürzte sich in eine schein- bar unausweichliche Urbanität.

Das Entstehen der Megastädte Mittlerweile verwandeln sich Hauptstädte zusehends in vernetzte Megastäd- te, die Bewohnerzahlen im zweistelligen Millionenbereich vorzuweisen ha- ben. Diese verschmelzen wiederum mit den Randbereichen anderer Städte zu aufstrebenden Ballungsräumen und Megaregionen, in denen schon heute ein Großteil der Weltbevölkerung lebt. Noch immer dominiert in manchen Tei- len der Welt das Stammestum, aber selbst in Afrika sprießen Metropolen aus dem Boden, riesige urbane Zentren, die mitunter mehr als 20 Millionen Men- schen beherbergen. Repräsentativ für diese Entwicklung ist die Region um Lagos, Ibadan und Cotonou, in der im Jahr 2025 schon allein Lagos rund 25 Millionen Einwoh- ner haben wird. Es wird dann nach Mumbai und Tokio die drittgrößte Stadt der Welt sein. Ohnehin gibt es in Nigeria schon heute sechs Millionenstädte und ein Dutzend weiterer Großstädte, in denen zwischen 500 000 und eine Million Menschen leben – und jede einzelne von ihnen wächst in großem Tem- po weiter. Eine McKinsey-Studie geht davon aus, dass in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren 136 Newcomer in den Top-600 der Städte mit der größ- ten Wirtschaftskraft auftauchen werden – und alle von ihnen werden in Ent- wicklungsländern liegen. Im Jahr 2025 werden 100 der 600 wirtschaftsstärks- ten Städte chinesisch sein.

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Die Konzentration der städtischen Bevölkerung in immer komplexeren Sys- temen, die zugleich dichter und größer werden, schreitet in immer rasanterem Tempo voran. Der Charakter dieser urbanen Zentren ist dabei nicht ausschließ- lich unter dem Gesichtspunkt der territorialen Expansion zu verstehen. In ih- rer Studie über New York, London und Tokio argumentiert Saskia Sassen, dass diese Städte zu Service-Centern der neuen globalen Wirtschaft werden und „in vielerlei Hinsicht … als ein einziger transterritorialer Marktplatz fungieren“. Sie funktionieren nicht einzeln, sondern nur „als Triade“. Sie repräsentieren eine Form der Weltstadt, die weder territorial noch virtuell zu verstehen ist, sondern nur als Netzwerk sich überschneidender „globaler Städte“.

Architekten geben urbanen Träumen eine Form Der Weg von der Polis zur Megalopolis, von kleinteiligen Räumen zu einem großen Ganzen, gleicht einer atemberaubenden Reise vom Simplen ins Komple- xe, vom Provinziellen in das Urbane, vom Lokalen in das Globale, vom Nüch- ternen in das Imaginierte und Fantastische. Doch so inspirierend diese Reise sein mag, ihr haftet auch ein Hauch von Unvermeidbarkeit an. Die Weltbevöl- kerung wächst immer weiter, der Handel wird immer globaler, die Komplexi- tät nimmt immer weiter zu. Es scheint fast, als entwerfe die Geschichte eine Welt, die wir uns einst nur in unseren kühnsten Träumen vorzustellen wagten. Heute sind es die Stadtplaner und Architekten, die diesen Träumen eine Form geben. In den vergangenen Jahren hat das Institute for Ad- vanced Architecture of Catalonia (IAAC) gleich drei globale Archi- Internationalismus hat tekturwettbewerbe veranstaltet, von denen der Letzte unter dem sich als Sackgasse Motto „Selbstversorger-Stadt“ über 100 fantastische und doch auf der Realität aufbauende Projektentwürfe hervorbrachte, in denen herausgestellt der Lebensraum der Zukunft entworfen wurde. Unter den Ideen: Weightlessness City, Sky-City, Bio-Digital-City, Ecotopia, MegaCityBlock, Non- Stop City, Repower City, Hole City, Drift City, Swarm City und Freedom in Captivity. Trotz der Widersprüche und Hindernisse, die Städte auszeichnen, bieten sie uns doch eine großartige Alternative zum konventionellen Nationalstaats- denken, dem wir uns in den vergangenen 300 Jahren unterworfen haben. Al- lein das Wort „inter-national“ suggeriert schon, dass Nationalstaaten den An- fangspunkt bilden, wenn man über die Gestaltung der Beziehungen zwischen Menschen nachdenkt. Globale Organisationen haben dieses Vorurteil aufge- sogen und in ihre eigene Nomenklatur eingespeist: Man denke nur an das „Europäische Konzert der Großmächte“, an den Völkerbund oder die Verein- ten Nationen. Doch der Weg des Internationalismus hat sich als Sackgasse he- rausgestellt. Sind wir der Weltregierung heute wirklich näher als zu den Zei- ten, in denen Hugo Grotius und Thomas Hobbes einen Gesellschaftsvertrag zwischen den Nationen erdachten oder Immanuel Kant „Zum Ewigen Frie- den“ zu Papier brachte? Der Planet selbst zeigt uns, warum wir globale Governance brauchen. Die Meeresspiegel steigen, die Gletscher schmelzen, die Atmosphäre erhitzt sich. Doch die 193 Nationen, die sich Jahr für Jahr in Kopenhagen, Mexiko-Stadt,

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Durban oder Rio de Janeiro treffen, tun nichts. Sie sind zu sehr damit beschäf- tigt, sich gegenseitig zu erklären, warum ihre Souveränität und ihr Streben nach Unabhängigkeit für ihre stolzen Bürgerinnen und Bürger es rechtfertigen, dass sie untätig bleiben. Sie schließen die Augen vor den Tatsachen, dass Küs- ten gefährdet sind, dass Grundwasserquellen und Wassereinzugsgebiete aus-

trocknen, dass die CO2-Konzentration in der Atmosphäre den von Klimafor- schern als kritischen Punkt festgelegten Wert von 350ppm bereits überschrit- ten hat und auf 400ppm zusteuert, und dass das Zwei-Grad-Ziel der Klimapo- litik längst verfehlt ist.

In den eigenen Grenzen gefangen Genauso blind stellen wir uns beim Thema Armut. Reiche Nationen finden ständig neue Wege, um noch reicher zu werden, während die Armen ärmer werden. Doch es ist nicht allein Gier, die die Ungleichheit zwischen Nord und Süd weiter befeuert und den Kampf gegen Geißeln wie Krankheiten, Hungers- not und Völkermord erschwert. Es ist auch der Souveränitätsgedanke. Der Feh- ler im System ist sowohl politischer als auch wirtschaftlicher Natur. Speziell im Bereich der Wirtschaft macht sich die Reibung zwischen alten Theorien und neuen Realitäten bemerkbar. Heute geht es vor allem um Inter- dependenz. Seit Jahrzehnten haben Denker wie Masao Miyoshi die Demokratie muss so Entstehung einer „grenzenlosen Welt“ angekündigt. Doch die alten ansteckend werden Theorien bestehen auf der Souveränität nationaler Staaten inner- halb von festgelegten Grenzen. In Ermangelung einer universellen wie eine Epidemie Orientierung überlassen sie Banken und Ölkartellen (sowie Pan- demien und dem Klimawandel) die Weltbühne. Die Institutionen, die für die großen Krisen der Neuzeit verantwortlich sind, agieren transnati- onal, während die Staaten, welche die Krisen bewältigen sollen, innerhalb ih- rer eigenen Grenzen gefangen bleiben. Die Demokratie wurde unter ganz anderen Umständen geboren. In der an- tiken Welt und in kleinen, partizipativen Dorfgemeinden und Kleinstädten kultiviert, vermochte sie es, als sie von den rasant wachsenden Gesellschaf- ten der Frühmoderne in Frage gestellt wurde, sich in Form des repräsentati- ven Nationalstaats neu zu erfinden. Doch heute muss sich die Demokratie in einer globalen, vernetzten und von Abhängigkeiten geprägten Welt beweisen – oder sie wird untergehen. Um in der Wirklichkeit zu überleben, muss die De- mokratie Wege finden, im Virtuellen Fuß zu fassen. Um ihre Lebenskraft in den Gemeinden zu bewahren, braucht sie die globale Orientierung. Sie kann sich nicht länger hinter Grenzen verstecken oder stur die Mauern verteidigen, die um sie herum errichtet wurden. Sie kann sich nur dann schützen, wenn sie sich genauso leicht über Grenzen hinwegzubewegen lernt wie ein Aufständi- scher, der Verwüstung anrichten will, oder wie ein undokumentierter Migrant auf der verzweifelten Suche nach Arbeit. Demokratie muss so ansteckend wer- den wie die letzte große Epidemie, so gerissen wie ein Währungsspekulant, so ­viral wie das World Wide Web. Staaten werden nicht global regieren. Aber Städte können es, und sie wer- den es auch tun. Doch nicht, indem sie nach dem Vorbild der Vereinten Nati-

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Die Glokalisierung onen eine globale Charta der Städte oder eine neue Allgemeine Erklärung der stärkt erst die lokale Bürgerschaft Menschenrechte verfassen. Wir verstehen, was diese Rechte für uns bedeu- und setzt ihr dann ten und haben sie in aller Sorgfalt und in jeder Ausführung festgehalten. Wir die globale Bürger- verstehen, welche Verantwortung aufgrund dieser Rechte auf uns lastet. Uns schaft nach dem fehlen einzig die globalen demokratischen Mechanismen, mit denen wir diese Huckepackprinzip auf: Skyline von Rechte grenzübergreifend durchsetzen können. Ohne die gesellschaftlichen Vo- Chicago raussetzungen, die den Strukturen zur Durchsetzung von Rechten überhaupt erst Gewicht verleihen, sind Rechte (so wie es James Madison einst über die Bill of Rights sagte) nur Papier, Zäune aus Pergament, die kaum Schutz gegen Missbrauch bieten. Was wir brauchen, sind Mittel und Wege, die es uns ermög- lichen, über Grenzen hinweg zu kooperieren. Nur so können wir der Erklä- rung der Menschenrechte und all den anderen noblen Zielen, von denen die Un-Vereinten Nationen gerne schwärmen, Nachdruck verleihen.

Terroranschläge treffen Städte Staaten bestimmen weiterhin den Rahmen, aber die Städte tragen die Folgen. Lassen Terroristen etwa eine schmutzige Bombe hochgehen, die sie per Con­ tainerschiff in die USA geschmuggelt haben, dann mögen sie damit dem „gro- ßen Satan“, den Vereinigten Staaten von Amerika, einen Schlag versetzen wol- len. Doch es werden Städte wie New York und Los Angeles sein, die dem Blut- bad zum Opfer fallen. Boston ist nur ein Beispiel einer amerikanischen Stadt, die die Konsequenzen des globalen Terrors zu spüren bekam. Die Städte kön- nen nicht warten, bis Staaten herausgefunden haben, was Interdependenz be- deutet. Um es in den Worten von David Wylie zu sagen, werden Städte und Kleinstädte wohl oder übel selbst anfangen müssen, „Repräsentanten zu wäh- len, die sich mit anderen gefährdeten Stadtbevölkerungen vernetzen“.

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Ein globaler Städtebund ist natürlich nicht dasselbe wie eine globale Zen- tralregierung. Das kann allerdings ein Vorteil sein, weil es bedeutet, dass der Städtebund durch Überzeugungsarbeit und Vorbildfunktion „glokal“ agiert. Er kann es den Bürgern ermöglichen, sich in ihren Nachbarschaf- Es ist an den Städ- ten und ihren lokalen Stadtgemeinden zu engagieren, während ihre ten, die Demokratie Bürgermeister auf globaler Ebene zusammenarbeiten. Zudem be- stehen vernetzte Städte bereits aus einem Gewebe von Einflüssen erneut zu retten und Interaktivität, das neue Formen des globalen Sozialkapitals und der globalen Zivilgesellschaft hervorbringt. Damit entsteht so etwas wie eine globale „Zivilreligion“, deren Realität die Interdependenz, de- ren Liturgie das Recht, deren Doktrin die Kooperation und deren Praxis die Demokratie ist. Diese Netzwerke löschen den genetischen Code der Stadt nicht aus und überschreiben ihn auch nicht. Vielmehr bauen sie auf ihm auf und vervielfältigen ihn. Die Glokalisierung stärkt erst die lokale Bürgerschaft und setzt ihr dann die globale Bürgerschaft nach dem Huckepackprinzip auf. Ein Schwein, das mit einem dünnen Burschen auf dem Rücken trainiert wurde, kann später auch Schwergewichtler tragen. Städte werden nicht den gleichen unmöglichen Her- ausforderungen gegenüberstehen wie Staaten: Sie müssen sich nicht damit be- schäftigen, wie sie ihre abstrakte Souveränität aufgeben können, um ihr prak- tisches politisches Überleben zu sichern. Städte verfügen über keine Souverä- nität. Sie werden sich nicht fragen müssen, wie sie die Ketten ihrer rechtlichen Befugnisse sprengen können, um die heiligen territorialen Grenzen zu durch- brechen. Städte werden nicht von Grenzen definiert.

Organismus und Konstruktion In der Antike brachten Städte Kreativität, Vorstellungskraft und Zivilisation hervor; nach einer gewissen Zeit eröffneten sie den Weg in die Demokratie. Das rasante Bevölkerungswachstum zerstörte jedoch den Geist der antiken Stadt und rückte sie in die Rolle des engstirnigen, provinziellen Fortschritts- feinds. Heute bedroht Wachstum nicht die Städte, sondern genau die Staaten, die einst die Städte vor dem Untergang durch zu rasches Wachstum bewahr- ten. Es schlägt die Stunde der Städte, die mittlerweile zu Weltstädten herange- wachsen sind. Es liegt an ihnen, die Demokratie erneut zu retten. Diese Auf- gabe ist sowohl eine praktische als auch eine theoretische. Die zentrale Heraus- forderung liegt in der Frage, wie der Gesellschaftsvertrag, auf dessen Funda- ment moderne Nationalstaaten begründet wurden, globalisiert werden kann, ohne ihn dabei zu entdemokratisieren. Wie können wir eine Institution fin- den, die in der Lage ist, global zu regieren und die Nachfolge der Nationalstaa- ten anzutreten? Die Stadt ist ein lebendiger Organismus, aber sie ist auch eine höchst wich- tige Konstruktion, wenn es darum geht, den Gesellschaftsvertrag in eine glo- bale Dimension zu überführen. Aus diesem Grund nähere ich mich dem vor- liegenden Problem sowohl als politischer Pragmatist als auch als politischer Philosoph. Nur wer Aristoteles, Machiavelli, Hobbes, Rousseau und Dewey liest, kann verstehen, welche Herausforderungen auf Athen, Rom, London,

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Paris und New York warten. Diese Metropolen müssen Griechenland, Italien, England, Frankreich, die USA und hundert andere Nationen in ihrer Aufgabe ablösen, das Regieren im 21. Jahrhundert neu zu erfinden.

Die Stadt zieht an und stößt ab Und damit zurück zum Anfang: Können Städte die Welt retten? Diese Heraus- forderung könnte eine Nummer zu groß sein. Wahrscheinlicher ist, dass die Städte die Demokratie vor der Souveränität retten und uns dabei helfen kön- nen, unsere Welt demokratisch und von unten zu regieren und Probleme prag- matisch statt ideologisch zu lösen – und sei es nur informell. Der ehemalige amerikanische Präsident Bill Clinton erinnerte die De- mocratic National Convention im Jahr 2012 daran, dass „die Politik der ste- ten Auseinandersetzung in Zeiten, in denen die Menschen leiden, frustriert, wütend und unsicher sind, gut sein kann. Doch gute Po- Bürgermeister litik funktioniert in der Realität nicht immer zwangsläufig. Was in waren schon immer der Realität funktioniert, ist Kooperation.“ Dann schaute er tief in das Herz der Stadt und rief unter Jubel und Applaus dazu auf, „die Optimisten Bürgermeister hier vor Ort zu fragen. Los Angeles wird grün, und Chicago bekommt eine Infrastrukturbank, weil Demokraten und Republika- ner zusammen daran arbeiten, diese Ziele zu erreichen. Sie haben ihren Ver- stand nicht an der Garderobe abgegeben. Sie haben nicht aufgehört, sich zu wi- dersprechen, aber ihr Vorsatz war es, etwas zu bewegen.“ Ich will ebenfalls etwas bewegen. Ich will den Diskurs verschieben: von Staaten zu Städten, von Unabhängigkeit zu Abhängigkeit, von Ideologie zu Problembehebung. Das Thema Stadt trifft den Nerv unserer Zeit, weil die Hoffnung seit jeher eine Spezialität der Städte gewesen ist und weil Bürger- meister schon immer Optimisten waren, die etwas verändern wollten. „Der Unterschied zwischen dem Optimismus der Berichterstatter in den Städ- ten und dem Pessimismus derer, die sich mit Nationen und multinationalen ­Organisationen beschäftigen“, beobachtet der Blogger Matthew Taylor, „ist eklatant.“ Doch obwohl die Geschichte der Stadt eine der Hoffnung ist, zeichnet sie sich auch durch ein Dilemma aus: Seit Beginn des menschlichen Zusammenlebens sind wir unseren Städten mit einer gewissen Ambivalenz begegnet. Wir fürchten den urbanen Raum, obwohl (oder vielleicht gerade weil) er uns reizt. Die Stadt zieht an und stößt ab. Bevor wir ein- schätzen können, welche Vorteile wir Benjamin Barber, aus der menschlichen Migration in die der im April 2017 ver- Städte ziehen werden, müssen wir also storbene US-Politikwis- senschaftler, erfand – um es mit den Worten Peter Lasletts das Weltparlament der zu sagen – zuerst die Welt vermessen, Bürgermeister. Dieser die wir verloren haben. Und wir müs- Essay fußt auf seinem sen lernen, die Ambivalenz der Städte letzten Buch „If Mayors Ruled the World“. als kreative Kraft für uns zu nutzen.

IP • November / Dezember 2017 125 Bild nur in Printausgabe verfügbar

Brief aus … Belgrad Ost-westliche Ambivalenz Die serbische Hauptstadt zwischen Aufbruch und Rückschritt

Marko Martin | Wagt Belgrad den Weg en gängele, so seine zahlreichen Kri- zurück nach Europa – oder zelebriert tiker, mache die öffentlichkeitswirk- die Stadt lediglich einen Zwischen- sam zelebrierte Erzählung „Vom ul- kriegs-Tanz auf dem Vulkan? Hört tranationalistischen Saulus zum pro- man sich im Echoraum weltreisender westlichen Paulus“ zur Farce. Freilich Blogger, Hipster und Zeitgeistjourna- finden sich unter den Vucic-Gegnern listen um, ist die serbische Metropo- nicht nur junge liberale Serben, son- le inzwischen „der“ Partyort der Re- dern auch Verbitterte der älteren Gar- gion, angeblich sogar das „neue Ber- de, die dem Machtbewussten einen lin“. Der Verweis auf Dutzende neuer Verrat an den alten Idealen vorwer- Clubs und angesagter Bars sowie al- fen. In der Tat hat der seit seiner Zeit ternative Galerien und Kulturräume als Ministerpräsident (2014 – 2017) könnte aber auch an die kurze Blüte in die EU drängende Vucic als erster in der Weimarer Republik erinnern, ranghoher Politiker die Verantwor- als ein Teil der physisch und men- tung Serbiens für das Massaker in tal versehrten Kriegsgeneration ei- Srebrenica eingestanden und sich in nen wilden Hedonismus lebte, wäh- der Frage der Kosovo-Anerkennung rend der andere bereits auf nationa- flexibel gezeigt. Zudem ernannte er listische Revanche sann. Wer gegen- die lesbische Politikerin Ana ­Brnabic wärtig Belgrad durchstreift und die im zur Premierministerin. Laufe ihrer wechselhaften Geschichte Weder im Fernsehen noch in den mehrfach zerstörte Stadt zu verstehen Boulevardzeitungen war viel Kritik versucht, erlebt das Abenteuer einer zu hören. „Immerhin stellte die unab- Ambivalenz, das sich wohl nur frag- hängige Zeitung Vreme die richtigen mentarisch beschreiben lässt. Fragen: Was ist von einer solch ver- Der im Mai mit großer Mehrheit meintlich mutigen, vermeintlich pro- zum Präsidenten gewählte 47-jähri- europäischen Personal­entscheidung ge Aleksandar Vucic diente bereits in zu halten, wenn der Ministerpräsi- der Schlussphase der Milosevic-Herr- dentin gleichzeitig die Kompetenzen schaft als Informationsminister. Und beschnitten werden, vieles auf ein

die Art, wie er noch heute die Medi- Präsidialsystem hindeutet und die © Henning Kettel

126 IP • November / Dezember 2017 Ost-westliche Ambivalenz

gegenwärtige Animosität zwischen sen als Taxifahrer – gerne auch mit Aleksandar Vucic und Wladimir Pu- gefälschten Kilometerzählern. Gäste, tin eher persönlicher denn politischer die sich bei Erreichen des Natur ist?“ Da spricht, in druckrei- Fahrtziels nicht auf den Eine faszinierende, fem Deutsch mit charmant österrei- horrenden Preis einlas- aber etwas beunruhi- chischem Einschlag, der 88-jährige sen, werden beschimpft Schriftsteller und Jahrhundertzeu- und einfach an den Aus- gende Mischung ge Ivan Ivanji. Vom Balkon im sechs- gangsort zurückbefördert. ten Stock eines Belgrader Hochhauses Dieser auf archaischen Vorstellun- blickt der Holocaust-Überlebende und gen von Würde basierende Kamika- Tito-Dolmetscher auf seine Stadt und ze-Machismo wird in den Romanen seziert deren Tiefenschichten. von Vladimir Pistalo oder Vladimir Gemessen an der bis heute nicht Arsenijevic als balkanisches Erzübel aufgearbeiteten Gewaltgeschichte Ju- beschrieben. goslawiens erscheint die Atmosphäre in Belgrad wohltuend zivil. Mag auch Das neue Waterfront-Stadtviertel das Nationalmuseum noch immer ge- Am Ufer der Sava wird an einem schlossen sein und im Militärmuse- gigantischen­ Projekt gearbeitet: Hier um der blutige Zerfall Jugoslawiens entsteht die so genannte Waterfront übergangen werden: Junge wie älte- mit klobiger Herrschaftsarchitektur re Leute auf den Straßen der Haupt- der „Eagle Hills“-Hochhäuser. Mit stadt sind des Englischen mächtig und staatlicher Unterstützung (und, wie begegnen trotz eines lächerlich gerin- zu hören ist, nicht zu knapp Bak- gen monatlichen Durchschnittslohns schisch) wird ein von Abu Dhabi ver- von 300 Euro ihren auswärtigen Gäs- antwortetes Megaprojekt durchgezo- ten keineswegs mit Moskauer Mür- gen. Die in der Nachbarschaft ansäs- rischkeit. Auch die zahlreichen, aus- sige alternative Party­szene bekam gezeichnet sortierten Buchläden ent- bereits Besuch von einheimischen sprechen nicht dem erwarteten Bild Schlägern, was prompt zu Protest­ geistiger Ödnis. demonstrationen führte und die Wa- Aber es gibt eben auch die im his­ terfront-Investoren zwang, öffent- to­rischen Festungsareal ­Kalemegdan lich zu versprechen, das kleine Biotop feilgebotenen T-Shirts, die außer Pu- nicht anzutasten. Somit bleibt Bel- tin vor allem Konterfeis des in Den grad, wie es wohl schon immer war: Haag einsitzenden Kriegsverbre- fragil, ostwestlich vermischt auf fas- chers Ratko Mladic zeigen. Da sind zinierende, wenngleich nicht sonder- die lauschigen Cafés am wieder ur- lich beruhigende Weise. bar gemachten Donau-Kai, in de- nen die Jeunesse dorée Latte Mac- Marko Martin chiato trinkt, die Frauen in wand- lebt, sofern nicht auf hohen Spiegeln ihre von hiesigen Reisen, als Schriftstel- ler in Berlin. Jüngst Schönheits­chirurgen verunstalteten ­erschien sein Erzähl- Schmolllippen betrachten, während band „Umsteigen in der jungmännliche Anhang seinen Babylon“. Bizeps prüft. Draußen verdingen sich die weniger betuchten Altersgenos-

IP • November / Dezember 2017 127 Internationale Presse Bild nur in Printausgabe verfügbar

Internationale Presse Die Methode Macron Frankreichs Präsident treibt seine Politik voran und kämpft mit Imageproblemen

Bettina Vestring | Herkules war ein tigen Kommunistischen Partei Frank- Held der Antike, der zwölf atembe- reichs, überzeugt. „Wenn die Rede an raubend schwierige Taten vollbrach- der Sorbonne die Arbeitslosenzah- te. Ein Vorbild, so schreiben die Pari- len überdeckt“, lautete die Schlagzei- ser Zeitungen mit einer gewissen Süf- le über Macrons großer Europa-Rede fisanz, für Präsident Macron mit sei- am 26. September. nen zwölf großen Reformvorhaben Es sind zwei Interpretationen der vom Arbeitsmarkt über die Staatsfi- politischen Wirklichkeit, die sich in nanzen und die Bildung bis zur Ren- Frankreich gegenüberstehen; zwei te. „Herkules nimmt eine Aufgabe rote Fäden, die sich an einigen Stel- nach der anderen in Angriff, genau len ergänzen, an anderen Konkur- wie ein Investmentbanker einen Deal renz machen. Auf der einen Seite nach dem anderen abarbeitet. Das ist steht die traditionelle Unterteilung in die Methode, für die sich Emmanuel Rechts und Links, eine Ordnung, die Macron entschieden hat“, schrieb Le der Sichtweise der traditionellen Par- Figaro (8. Oktober). teien und Medien Frankreichs ent- Diese Beschreibung enthält eine spricht. Auf der anderen Seite steht bösartige Spitze. Investmentbanker der 39-jährige Macron selbst, der seit sind in Frankreich nicht gut angese- dem Wahlkampf versucht, die Spal- hen, und Macron hängt seine Tätig- tung des Landes zwischen Links und keit als Investmentbanker zwischen Rechts für überwunden zu erklären. 2008 und 2012 bei Rothschild hin- Stattdessen stünden heute die Euro- terher. Hier klingt an, was den Prä- päer gegen die Anti-Europäer, erklär- sidenten in diesen Wochen unter te Macron. Druck bringt: die Wahrnehmung, „Wer ist er eigentlich?“, fragte Le dass er politisch immer weiter nach Monde (15. Mai). „Die Antwort liegt rechts rückt. Selbst sein Engagement in dem ‚zugleich‘, das der neue Prä- für Europa diene dazu, seine wah- sident so gerne benutzt. Emmanuel re, neoliberale Agenda zu verschlei- Macron stellt sich selbst als links und ern. Davon ist Humanité (27. Sep- rechts zugleich da, als sozial und als li- tember), die Zeitung der einst mäch- beral, als jemand, der die nationale Er-

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zählung ebenso gut beschwören kann Wie sehr Macron trotzdem noch wie die Weltgeschichte (…), das Erin- auf Deutschland zählt, und wie wich- nern wie das Vergessen, und die Re- tig es ihm ist, die europäische Kar- volution ebenso wie die Monarchie.“ te zu spielen, zeigt sich auch an der Macron setzt auf Europa, auf ein deutsch-französischen Eisenbahnfu- radikal erneuertes und geeintes Euro­ sion von Siemens und Alstom, für die pa, wie er es in seiner Rede an der Sor- Macron unmittelbar vor bonne beschrieb. Das entspricht seinen seiner Rede an der Sor- Das deutsche Wahl- Überzeugungen, zugleich hilft es ihm bonne grünes Licht gab. ergebnis erschwert in der politischen Arena. Macron will „Durch die Megafusion keine Diskussion darüber, ob seine Po- Siemens-Alstom kann Eu- Macrons EU-Pläne litik nach rechts gerückt ist; er will die ropa es mit China aufneh- öffentliche Debatte auf den Konflikt men“, schrieb das Nachrichtenmaga- zwischen Europäern und Populisten­ zin Le Point. Doch wo die bürgerliche konzentrieren, den er schon einmal Mitte die Hoffnung auf einen neuen gewonnen hat. „Macron, der europä- europäischen Champion mit Wohl- ische Volontär“, schrieb François Er- wollen begleitete, tobten die Populis- nenwein, Chefredakteur der katholi- ten von Rechts wie von Links. schen Zeitung La Croix (28. Septem- L’Heure du Peuple (Stunde des ber). „Der Wahlerfolg hat ihm recht Volkes) heißt eine Zeitung, die der gegeben: Sein Erfolg hat die Populis- Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon, ten des Landes, die Honig saugen aus der wichtigste Oppositionspolitiker einem engstirnigen und mit europa- Frankreichs, gegründet hat. „Verkauf feindlichen Parolen gewürzten Natio- von zerlegten Unternehmensteilen, nalismus, sehr geschwächt.“ falsche Versprechungen an die Be- Aufschlussreich ist, wie Ernen- schäftigten, Verweigerung staatlicher wein im selben Artikel die Abhän- Eingriffe“, klagte das Blatt am 27. Sep- gigkeit Macrons von Deutschland be- tember. „Dieser gigantische Ausver- schreibt: Der französische Präsident kauf findet im Namen veralteter libe- habe für seine Europa-Reformen auf raler Dogmen statt, die von anderen Rückenwind aus Berlin gezählt. Doch Ländern auch nicht angewendet wer- das schlechte Abschneiden von Bun- den, unter Verachtung des nationalen deskanzlerin Angela Merkel mache Interesses.“ ihm einen Strich durch diese Rech- „Genau an dem Tag, an dem nung. Nun seien die FDP und ihr Alstom von einem deutschen Unter- „schneidiger Anführer“ Christian nehmen geschluckt wird, feiert un- Lindner für die künftige Koalition ser Präsident die immer engere Ge- unverzichtbar geworden. „Beide se- meinschaft zwischen Frankreich und hen sich als Wächter einer strengen Deutschland“, heißt es auf der ande- Disziplin und lehnen jeden Kompro- ren Seite des politischen Spektrums. miss mit einem Frankreich ab, dem Der Essayist Guillaume Bigot leitet sie Phantastereien und Ausgabenfreu- eine Business School und beschreibt de unterstellen“, schrieb Ernenwein. sich selbst als „Souveränisten“. „Wäre Merkel müsse diese neuen Verbünde- es die Absicht von Macron gewesen, ten nun mit Geschick und Mut um- die Unterwerfung von Paris unter schiffen, um Europa voranzubringen. Berlin und der Politik unter die Wirt-

IP • November / Dezember 2017 129 Internationale Presse

schaft zu versinnbildlichen, er hätte (TF1) oder Xavier Niel (Le Monde), es nicht besser anstellen können“ (In- für die gute Beziehungen zum Präsi- terview im Figaro, 27. September). denten nützlich sind. Hinzu kommt, Weil solche Konflikte dem Präsi- dass die Presse erhebliche Zuschüs- denten ebenso nützlich sind wie den se vom Staat erhält, um ihr Überle- Populisten, brach wenige Tage später ben zu sichern. 2015 bekamen allein schon der nächste Streit los. die linksliberale Libération und der „… wie ein verzoge- Anfang Oktober brachten konservative Figaro jeweils knapp nes Kind im Süß­ die Abgeordneten von Jean- 6,5 Millionen Euro an Subventionen. Luc Mélenchons Partei „La Trotzdem muss sich Macron auch warengeschäft“ France Insoumise“ einen in den etablierten Medien kritische Antrag ein, um die Euro- Kommentare gefallen lassen. Ein Bei- pa-Flagge aus der Nationalversamm- spiel ist die Berichterstattung über lung zu verbannen. Macron konter- seine Popularitätswerte. Schon im te mit der Ankündigung, er werde August 2017, nach nur 100 Tagen im beim nächsten EU-Gipfel die blau-gel- Amt, war Macron im Volk so unbe- be Flagge offiziell und in Ergänzung liebt wie noch kein französischer Prä- zur französischen Fahne anerkennen. sident vor ihm. Ein Teil dieser Ero­ Die auflagenstarke Wochenzeitung sion ging auf Macrons offensichtliche Paris Match (11. Oktober) beschrieb Machtverliebtheit während der ersten daraufhin den Zorn der Rechtspopu- Wochen im Amt zurück. Denn das listen: Marine Le Pen habe den Prä- war die Zeit, in der der neue Präsi- sidenten beschuldigt, er handele „als dent allen Ernstes den Göttervater Ju- Knecht der EU“. piter zum Rollenvorbild erklärte. Um den Figaro (31. August) zu zi- Hohe Subventionen für die Presse tieren: „Zu viel Public Relations, zu Besonders heftig werden solche Aus- viele Fotos von sich. Es entstand der einandersetzungen in den sozia- Eindruck, wie es ein Abgeordneter len Medien der Rechts- und Links­ der Rechten ausdrückte, ‚eines verzo- populisten geführt. Mélenchon hat genen Kindes im Süßwarengeschäft‘. nicht nur einen Blog, die „Stun- Macron im Militär-Look im U-Boot, de des Volkes“, sondern auch eigene Macron im Militär-Look auf einem ­Youtube-Kanäle. Auf der rechten Sei- Luftwaffen-Stützpunkt, Macron im te des Spektrums heißen die wichtigs- Fußballer-Look in Marseille … Aber ten Webseiten fdesouche oder vpoli- während Macron sich amüsierte, fehl- tique; auch sie dienen gleichermaßen te es den Franzosen an Perspektive. der Information und der Mobilisie- Und als der Sommer vorbei war, ha- rung der jeweiligen Anhänger. ben sie ihm ihr Vertrauen entzogen.“ Das Gewicht solcher Medien ist in Nach der „rentrée“, der Wieder- Frankreich, wo es kaum unabhängi- aufnahme des normalen Lebens ge Verleger gibt, vermutlich noch grö- nach dem Ferienmonat August, wur- ßer als in Deutschland. In Frankreich de auch deutlich, in welcher Schärfe sind fast alle Zeitungen, aber auch die Macron die wirtschaftlichen und so- meisten Fernsehsender im Besitz von zialen Reformen durchziehen will, Wirtschaftsmilliardären wie Serge die er im Wahlkampf angekündigt Dassault (Figaro), Martin Bouygues hatte. Kaum hatte er seine große Ar-

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beitsmarktreform in Kraft gesetzt, men, indem er das Image des elitä- folgte der Haushaltsentwurf 2018 ren Bankers zerstört“, fügte er hin- – ein Budget, das nicht nur Sozial- zu. Doch das Risiko sei groß, nun als kürzungen vorsah, sondern auch die „Präsident der Reichen“ wahrgenom- Streichung der Vermögenssteuer, die men zu werden. in den 1980er Jahren von den Sozia- Offenkundig ist das auch Macron listen eingeführt worden war. Statt- bewusst, der nun erneut umzusteu- dessen wollte Macron nur den großen ern scheint. Nach zwei Wochen hef- Immobilienbesitz höher besteuern. tiger Kritik kündigte Macrons Frak- „Es ist also geschehen. Die Re- tionschef Richard Ferrand gierung hat tatsächlich die Reichen Nachbesserungen an: Ab Eine Symbolsteuer um 4,5 Milliarden Euro Steuern ent- 2018 sollen nun nicht nur auf Yachten, Autos lastet und gleichzeitig die Beschäfti- Immobilien, sondern auch gungsbeihilfen für 150 000 Jobs ge- Luxusgüter wie Yachten, und Goldschmuck strichen“, schrieb Libération (6. Ok- Goldschmuck und Luxus- tober). „Robin Hood hat den Reichen wagen höher besteuert werden. Poli- genommen, um den Armen zu geben. tisch notwendig, wirtschaftlich frag- Macron ist ein Schakal, er ist ein ech- würdig, heißt es dazu im Kommentar ter Mann, er redet den Leuten nicht des Senders France Inter (2. Oktober): nach dem Mund. Er nimmt denen, de- „In Frankreich gibt es nur 34 Segel- nen es am schlechtesten geht, und gibt boote und 45 Motorboote von über es denen, die bereits am besten aus- 24 Meter Länge, die dem entsprechen, gestattet sind.“ Die satirische Zeitung was wir unter Luxusyachten verste- Canard Enchainé (3. Oktober) titelte hen“, sagte Dominique Seux. „Die „Jetzt rennen die Superreichen (nach politische Debatte ist reell und offen- Frankreich) zurück“. kundig legitim, aber die finanzielle Der Protest tobte, und Macron Bedeutung ist mikroskopisch klein.“ selbst heizte ihn noch an. Auf eine Ein Land, das zwischen Natio- Gegendemonstration von Arbeitslo- nalismus und Europa schwankt; ein sen während eines Besuchs im Dépar- Präsident, der sehr zielbewusst Poli- tement Corrèze reagierte der Präsi- tik macht, aber nicht weiß, mit wel- dent öffentlich mit einer abfälligen chem Image er sich den Rückhalt im Bemerkung. Arbeitslose, so sagte er, Volk sichern kann. „Herold Europas sollten sich lieber um einen neuen Job … Held der Reichen,“ titelte die Libe- kümmern, als einen Schweinestall ration (27. September) am Tag nach anzurichten. „Das war Absicht, kein Macrons Rede an der Sorbonne. Ein Ausrutscher“, urteilten Experten. schönes Wortspiel auf Französisch. Schließlich war es nicht Macrons ers- te Bemerkung dieser Art. Bettina Vestring ist Im Express (5. Oktober) sagte Phi­ freie Autorin und Publizis- lippe Moreau-Chevrolet, Professor für tin in Berlin. Sie schreibt vor allem über Außen-, politische Kommunikation, Macron Sicherheits- und Euro- versuche sich ein neues, volksnähe- papolitik. res Image zu geben. „Macron hofft, dass dieser Übergriff es ihm ermög- licht, den Franzosen näher zu kom-

IP • November / Dezember 2017 131 Buch des Jahres

Buch des Jahres Was man 2017 gelesen haben sollte

Thomas Bagger Klaus-Dieter Leiter der Abteilung Ausland, Frankenberger Bundespräsidialamt Leiter Außenpolitik, FAZ Ivan Krastevs „Europa­ Die politisch-­kulturellen dämmerung“ ist eine Gegensätze im Innenle­ kluge Erinnerung daran, ben der Vereinigten Staa­ dass Europas Geschichte ten explodieren in einem nie linear verläuft – nicht im Guten, nicht zweiten amerikanischen Bürgerkrieg. im Schlechten. Mit einer optimistischen Diese Apokalypse am Ende des 21. Jahr­ Pointe, die der Titel nicht vermuten lässt hunderts wird erzählt am Schicksal einer (siehe dazu die Buchkritik auf S. 136 f.). Familie. Sie spült Konflikte an die Ober­ Ivan Krastev, Europadämmerung, Suhrkamp 2017 fläche, deren Wurzeln einem bekannt vor­ kommen. Omar El Akkad: American War, S. Fischer 2017 Derek Chollet Executive Vice President, German Marshall Fund (GMF) Ulrike Guerot Wie konnte es passieren, Professorin für Europapolitik dass aus der US-Präsi­ und Demokratieforschung, Donau-Universität Krems dentschaft eine Reality­ show wurde? Der Journa­ Es gibt kein besseres list Kurt Andersen zeichnet einen zentra­ Buch, um einem deut­ len Strang des amerikanischen Exzeptiona­ schen Leser auf rund 160 lismus nach – die Tatsache, dass „Realität dichten und mit Informationen und Zah­ und Fantasie auf verrückte und gefährli­ len gespickten Seiten zu erklären, warum che Weise verschwimmen und miteinander Frankreich Probleme mit dem Euro hat. verwoben sind“. Wer dieses Buch liest, der Mehr noch: Das Buch macht deutlich, dass versteht, wie es dazu kam, dass Trump ge­ Macron für seine Politik keine soziale Ba­ wählt wurde, und wie fundamental die Be­ sis hat und eigentlich nur scheitern kann drohung für die amerikanische Demokratie – wenn, ja, wenn Deutschland nicht end­ ist, die von ihm ausgeht. lich versteht, dass Frankreich ein anderes Kurt Andersen: Fantasyland, Random House 2017 Europa braucht. Bruno Amable und Stefano Palombarini: L’Illusion du bloc bourgeois, Raisons d’agir 2017

132 IP • November / Dezember 2017 Buch des Jahres

Eric Gujer Joachim Krause Chefredakteur, NZZ Direktor des Instituts für Sicher- Derzeit gibt es kaum ein heitspolitik, Universität Kiel Thema, das mit derart Dieses Buch ist die derzeit bangem Tremolo verhan­ sachkundigste Auseinan­ delt wird wie der angebli­ dersetzung mit der Rol­ che Untergang der libera­ le nuklearer Waffen der len Weltordnung. Richard Haass beschreibt USA in einer Zeit internationaler Ungewiss­ nüchtern, wie sich die Welt nach dem Ende heit. Wir werden uns auf härtere Zeiten ein­ der unipolaren Ordnung verändert. Auch stellen und wieder über nukleare Abschre­ wenn die USA derzeit von ihrer Innenpolitik ckung reden müssen, auch wenn sich heute absorbiert werden, bleiben sie die militäri­ kein deutscher Politiker daran wagt. sche und ökonomische Führungsmacht. Das Brad Roberts: The Case for U.S. Nuclear Wea­ setzen sie auch unter Trump nicht aufs Spiel. pons in the 21st Century, Stanford U. P. 2016 Richard Haass: A World In Disarray, Penguin Press 2017 Stefan Liebich Mitglied im Auswärtigen Aus- Christoph Heusgen schuss für Die Linke Deutscher Botschafter bei den In seinem Roman be­ Vereinten Nationen schreibt von Dittfurth die Schonungslos reißt Bernd Vereinigung von DDR und Ulrich den Schleier der Bundesrepublik Deutsch­ Gewissheiten von den po­ land. Nur verläuft sie hier anders herum. litischen und gesellschaft­ Das Buch ist amüsant, erschreckend und lichen Entwicklungen in den USA, in Russ­ macht an vielen Stellen nachdenklich. Bei land, in Europa, in Deutschland. Ulrich for­ den Konflikten, die wir gegenwärtig in der dert den Leser; er muss vom Denken in vor­ EU, mit der Türkei, Russland, Nordkorea gefertigten Mustern Abstand nehmen. Seine oder Donald Trump haben, erinnert es da­ klaren Analysen und seine klugen Anregun­ ran, dass es nicht schadet, sich vorzustellen, gen tragen dazu bei, dass man am Ende der wie andere auf die Welt schauen, wenn man Lektüre nicht in eine tiefe Depression fällt. Lösungen finden möchte. Bernd Ulrich: Guten Morgen, Abendland, Kiepen- Christian von Dittfurth: Die Mauer steht am heuer & Witsch 2017 Rhein, Kiepenheuer & Witsch 1999

IP • November / Dezember 2017 133 Buch des Jahres

Hanns W. Maull Hildegard Müller Senior Fellow bei MERICS und Hauptgeschäftsführerin, Bun- SWP desverband der Energie- und Wasserwirtschaft Das Buch hält uns in ei­ ner brillanten, gedanken­ T.C. Boyles Roman aus reichen Philippika vor Au­ dem Jahr 1995 behan­ gen, wie prekär die Ver­ delt virtuos die Themen fassung der Welt und auch der Menschheit amerikanische Werte, die teils begründe­ selbst durch die ungebremste Machtentfal­ ten, teils paranoiden Ängste und die Aus­ tung unserer Spezies inzwischen geworden länderfeindlichkeit einer gehobenen Mit­ ist. Vielleicht hilft es, das „Prinzip Verant­ telschicht. Eine fast tragikkomische Ge­ wortung“ neu zu beleben, das Hans Jonas schichte, die uns hilft, das Amerika des ja schon 1979 eindringlich angemahnt hat. Jahres 2017 besser zu verstehen. Yuval Noah Harari: Homo Deus, Eine kurze T.C. Boyle: The Tortilla Curtain, Viking Press 1995 Geschichte von Morgen, C.H. Beck 2017

Nora Müller Almut Möller Leiterin des Hauptstadtbüros, Leiterin Berliner Büro, Körber-Stiftung European Council on Foreign Herfried Münkler be­ Relations leuchtet Ursachen, Ver­ Die Erinnerungen eines lauf und Folgen des euro­ der größten Architekten päischen Großkonflikts. der europäischen Integ­ Er verdichtet den historischen Kontext ration sind ein persönlicher und detailrei­ zum Analysemodell für aktuelle Krisen. cher Einblick in das Zusammenspiel von Eine lohnende Lektüre auch für Außen­ Konflikt und Kooperation zwischen den politiker im 21. Jahrhundert. Denn mitei­ politischen Kräften in der EU. Wir brau­ nander verwobene Hegemonial- und Reli­ chen viel mehr solcher Einblicke, wie in gionskonflikte, lokale Warlords, Kriegsun­ Europa Politik gemacht wird, damit unser ternehmer und Regionalmächte, die sich Verständnis von der EU als politischer Ge­ Stellvertreterkriege liefern, sind kein Al­ meinschaft reifen kann. leinstellungsmerkmal der Frühen Neuzeit. Jacques Delors, Erinnerungen eines Europäers, Herfried Münkler: Der Dreißigjährige Krieg, Parthas 2004 Rowohlt Berlin 2017

134 IP • November / Dezember 2017 Buch des Jahres

Cem Özdemir Verena Ringler Bundesvorsitzender, Leiterin Internationale Verstän- Bündnis 90/Die Grünen digung, Stiftung Mercator Ivan Krastev macht in sei­ Ein ungewöhnlicher und nem wunderbar lesbaren anregender Blick auf die Essay deutlich, dass wir Frage nach der „Input-Le­ Ost und West zusammen­ gitimität“ unserer Demo­ bringen müssen, um die Einheit Europas kratien. Der Archäologe Van Reybrouck zu wahren. Er fordert uns zum dringend zeichnet die Rollen von Schöffen und von notwendigen Nachdenken über die Ursa­ per Los ausgewählten Gruppen in Aushand­ chen der europäischen Krise und mögli­ lungsprozessen von der antiken Polis bis zu che Antworten darauf heraus. Ich teile mit den jüngsten Verfassungsprozessen in Irland ihm den Glauben, dass die Zukunft Euro­ und Island nach. Für die Weiterentwicklung pas im Miteinander statt in einem Rückfall der Demokratie in Europa empfiehlt er deli­ ins Gegeneinander liegt. berative Verfahren – die nicht mit direkter Ivan Krastev: Europadämmerung, Suhrkamp 2017 Demokratie zu verwechseln sind. David Van Reybrouck: Gegen Wahlen, Wallstein 2016 Volker Perthes Direktor, Stiftung Wissenschaft und Politik Constanze Ein lesenswerter Ver­ Stelzenmüller such, aus eher globaler Senior Fellow, Brookings als westlicher Perspek­ Vom Autor, einem Freund tive Faustregeln zu defi­ und Kollegen, als Fibel nieren, um die Chancen und Risiken des für die Regierung von wirtschaftlichen Auf- oder Abstiegs ein­ Hillary Clinton geschrie­ zelner Staaten erfassen zu können. Einige ben, steht dieses Buch nun als Warnung davon orthodox, andere recht unorthodox vor dem Chaos der Regierung Trump da. (darunter die Suche nach den guten und Auch für Europa, das mehr tun muss, um schlechten Milliardären!). die globale Ordnung zu erhalten, von der Ruchir Sharma: The Rise and Fall of Nations. es geschützt wird. Penguin Books 2017 Thomas Wright: All Measures Short of War, Yale University Press 2017

IP • November / Dezember 2017 135 Buchkritik

Europas Achterbahnfahrt Zwischen finsterem Pessimismus und europäischer Unabhängigkeitserklärung

Jana Puglierin | Das Jahr 2016 geriet mit der Brexit-Entscheidung, der Flücht- lingskrise und Donald Trumps Triumph in den USA zum bislang schwär- zesten Jahr der EU-Geschichte. Mit den Wahlsiegen des Niederländers Mark Rutte und des Franzosen Emmanuel Macron schien sich das Blatt 2017 zu wenden. Schlägt jetzt die Stunde der Europäer? Drei Neuerscheinungen.

Erleben wir in Europa derzeit einen EU erwartet: „Wer spricht von Sie- „Zerfallsaugenblick“? Dieser Frage gen?“, zitiert er den deutschen Dich- geht Ivan Krastev in seinem neuen, ter Rainer Maria Rilke, „Überstehn brillant geschriebenen Buch nach, ist alles!“ das auf Deutsch den düsteren Titel Krastev, 1965 in Bulgarien gebo- „Europadämmerung“ trägt. Krastevs ren, hat dem westeuropäischen Le- Buch beginnt mit einer ernüchterten ser etwas voraus, denn er kennt das Bestandsaufnahme. Entgegen der ur- plötzliche und gewaltsame Ende eines sprünglichen Erwartungen habe die politischen Systems aus eigener An- Globalisierung den Niedergang des schauung. Es gelingt ihm daher bes- Staates und des Nationalismus nicht ser als anderen, die Grenzen des Un- beschleunigt. Das politische Modell denkbaren zu erweitern und in seine der EU, gestern noch universell an- Analyse einzubeziehen. wendbar, wirke heute eher wie eine So führt er die derzeitige Kri- – zerbrechliche – Ausnahme. se der EU weder auf fundamentale Mängel in ihrer institutionellen Ar- Überstehen ist alles chitektur noch auf ihr Demokratiede- Für Krastev ist bereits die Zeit „nach fizit zurück. Stattdessen wählt er die Europa“ angebrochen. Das bedeute Flüchtlingskrise zum Dreh- und An- nicht unbedingt, dass die Europäi- gelpunkt seiner Analyse, die als „ein- sche Union am Ende sei, „wohl aber, zige wirklich gesamteuropäische Kri- dass wir unsere naiven Hoffnungen se“ das politische, ökonomische und und Erwartungen hinsichtlich der soziale Modell Europas infrage stelle. zukünftigen Gestaltung Europas und Gerade die „Unfähigkeit und die der Welt begraben müssen“. Krastev mangelnde Bereitschaft liberaler Eli- will die EU weder retten noch sie be- ten, die Migration und deren Folgen trauern. Er schaut auf das, was die zum Gegenstand der Diskussion und

136 IP • November / Dezember 2017 Europas Achterbahnfahrt

der politischen Auseinandersetzung sentlichen Erkenntnisse des Buches zu machen“, hätten dazu geführt, ist es, dass sich eine solche Spaltung dass der Liberalismus in den Au- auch im Westen wiederfindet, etwa gen vieler Menschen zum Synonym zwischen kosmopolitischen Groß- für Heuchelei geworden sei. Mehr städten und ländlichen Gegenden – noch, der Liberalismus sei durch die das habe jüngst der Wahlerfolg Do- Flüchtlingskrise mit einem zentralen nald Trumps in den USA gezeigt. Die Widerspruch konfrontiert: „Wie las- zentralen Auseinandersetzungen im sen sich unsere universellen Rechte Westen sind demnach die zwischen mit der Tatsache vereinbaren, dass Globalisten und Nativisten und jene wir sie als Bürger ungleich freierer zwischen offenen und geschlossenen und wohlhabenderer Gesellschaften Gesellschaften. genießen?“ Krastevs Blick auf Europa bleibt Was folgt, ist eine tiefgehende Ana- bis zum Ende skeptisch. Er räumt lyse der Auswirkungen der Flücht- ein, dass „Macrons Augenblick“ die lingskrise auf den Zusammenhalt in Stimmung in Europa dramatisch ver- Europa, ganz ohne übertriebene Mo- ändert habe. Zugleich verweist er je- Ivan Krastev: ralisierung. Die Flüchtlingskrise ist doch darauf, dass damit noch keines Europadämme- rung. Berlin: für Krastev „Europas 11. September“, der zentralen Probleme gelöst sei, vor Suhrkamp-Verlag der Moment, der alles veränderte. Die denen der Kontinent stehe. 2017. 143 Seiten, Krise ist der Lackmustest der europä- 14 € ischen Integration. Nicht nur hat sie Wider die Fiskalunion eine „Rebellion der Wähler gegen die Wenn es nach dem deutschen Öko- meritokratischen Eliten“ losgetreten, nomen Hans-Werner Sinn geht, tau- sie hat die Spaltungen in Europa und gen die Vorschläge des französischen seinen Gesellschaften verschärft oder Präsidenten Emmanuel Macron oh- ans Licht gebracht. nehin wenig zur Lösung der zent- Die wesentliche Spaltung, die ralen europäischen Probleme. Die- Krastev in seinem Buch beschreibt, se sieht Sinn vor allem in einer ver- ist diejenige zwischen Ost und West. fehlten Eurozonenpolitik und der Diese Beschreibung ist zugleich das fatalen Rolle der Europäischen Zen- große Verdienst dieses Buches. Kras- tralbank. Zwar ist sein Buch „Der tev gelingt es, den Mittel- und Osteu- schwarze Juni“ bereits im Sommer ropäern eine differenzierende, Zwi- 2016 erschienen und geht nicht mehr schentöne nicht ausblendende Stim- auf Macrons Wahlsieg ein. In seinem me zu geben; eine Stimme, die man Buch spricht er sich jedoch vehement im paneuropäischen EU-Diskurs zu gegen die nun von Macron geforderte oft vernachlässigt, weil man das Echo Weiterentwicklung der Eurozone zu aus diesen Ländern auf die Aussagen einer Fiskalunion mit einem einheit- eines Viktor Orbán oder eines Jaros- lichen Budget und einem Finanzmi- law Kaczynski reduziert. nister aus – wie überhaupt gegen jed- Krastev kommt zu dem Schluss, wede Form einer europäischen Haf- dass Osteuropa gerade jene kosmo- tungs- oder Transferunion. politischen Werte als Bedrohung Das große Thema von Sinns Buch empfindet, auf denen die Europäi- ist nicht nur die Abrechnung mit der sche Union basiert. Eines der we- europäischen Rettungspolitik in der

IP • November / Dezember 2017 137 Buchkritik

Eurozone, sondern auch eine Kritik die Entwicklung der EZB hin zu ei- an der Flüchtlingspolitik der vergan- ner europäischen „Bailout- und Ret- genen Jahre. Sein Ausgangspunkt tungsmaschine“ an. sind zwei Ereignisse im „schwar- Dabei verwehrt sich Sinn ge- zen Juni“ 2016, dem das Buch sei- gen den Vorwurf, die von ihm for- nen Titel verdankt. Am 21. Juni mulierte Kritik sei bloße Euroskep- 2016 unterwarf sich das deutsche sis. Denn Sinn sieht keine Alternati- Verfassungsgericht in seinem Ur- ve zur europäischen Integration. Es teil zu den endgültigen Käufen von geht ihm um die dringend gebotene Staatsanleihen („Outright Monetary Neukonstruktion der EU, nicht um Transactions“, daher OMT-Urteil ge- ihre Abschaffung. Folgerichtig be- nannt) der – nach Sinn – „ausufern- endet er sein Buch mit 15 konkreten den“ Rechtsprechung des Europäi- und weitreichenden Reformvorschlä- schen Gerichtshofs zur Rettungspo- gen. Dabei geht es etwa um geregelte litik der Europäischen Zentralbank Ein- und Austritte in die Währungs- (EZB). Am 23. Juni 2016 entschied union oder eine Reform der EZB-Po- sich die Bevölkerung Großbritanni- litik. Die Lektüre von Sinns Buch ens mehrheitlich, die EU zu verlas- lohnt sich in diesem Punkt vor allem sen. Beide Entscheidungen symboli- für diejenigen, die ansonsten eher die sieren für Sinn vor dem Hintergrund Kritik von Paul Krugman oder Joseph der „Flüchtlingswelle“ und des „Eu- Stiglitz an der deutschen Austeritäts- ro-Desasters“ eine Zeitenwende: Sie politik teilen und die nun die Ratio Hans-Werner Sinn: stellen die Weichen für die künftige hinter Wolfgang Schäubles Europapo- Der schwarze Ausrichtung Europas in eine völlig litik besser verstehen wollen – oder Juni. Freiburg/ Breisgau: Verlag falsche Richtung. wissen möchten, wie sich die FDP in Herder 2016. 384 Im OMT-Urteil des Bundesverfas- einer Jamaika-Koalition mit Blick auf Seiten, 24,99 € sungsgerichts sieht Sinn „nichts we- eine Reform der Eurozone positionie- niger als einen Freifahrtschein für ren könnte. eine Politik der Vergemeinschaftung Ein Teil von Sinns Buch ist der der Haftung für Staatsschulden“. Migrations- und Flüchtlingskrise ge- Nutznießer dieser Politik seien „vor widmet, die er als entscheidend für allem die kriselnden Südländer Euro- Europas Zukunft ansieht. Dabei geht pas und Frankreich, Zahlmeister die Sinn hart mit der Flüchtlingspolitik noch einigermaßen gesunden Nord- der Bundesregierung seit 2015 ins Ge- länder, allen voran Deutschland“. richt. Er bescheinigt ihr unter ande- rem Rechtswidrigkeit und macht sie Die EZB als „Rettungsmaschine“ indirekt für den Brexit zumindest In zwei Kapiteln, die sich mit dem mitverantwortlich. Als Hauptprob- „Weg in eine Haftungsunion“ und lem auf europäischer Ebene macht der „Gigantomanie der Europäi- Sinn ein „unauflösbares Trilemma“ schen Zentralbank“ auseinanderset- aus. Dieses bestehe darin, dass sich zen, prangert Sinn – mitunter an der das Ziel der Freizügigkeit für EU-Bür- Grenze zur Polemik – die Umvertei- ger nicht gleichzeitig mit dem der So- lung der Haftung zwischen den Eu- zialstaatlichkeit und dem der Inklu­ roländern, die Einführung von Eu- sion der Migranten in das Sozialsys- robonds durch die Hintertür und tem des Gastlands realisieren ließen.

138 IP • November / Dezember 2017 Europas Achterbahnfahrt

Er gibt hier dem ehemaligen briti- Kein Wort von der völkerrechtswid- schen Premierminister David Came- rigen Besetzung der Krim und dem ron nachträglich Recht, der diesen russischen Krieg im Osten der Ukrai- Punkt in seinen Reformverhandlun- ne, kein Wort von den vielfachen Ver- gen mit der EU vorgebracht hatte – suchen politischer Destabilisierung und damit nicht durchgedrungen war. in ganz Europa. Würde die EU die- Genauso wenig wie in den Kapi- ser Empfehlung folgen, legitimierte teln über die Eurozonenpolitik der sie damit implizit das russische Vor- EZB scheut sich Sinn in dem Kapi- gehen, historische Gebietsansprüche tel über Migration, Missstände scho- geltend zu machen und mit militä- nungslos aufzudecken. Allein schon rischer Gewalt durchzusetzen – mit deshalb lohnt sich die Lektüre sehr, unabsehbaren Folgen für Frieden auch wenn man die Meinung des Au- und Stabilität. tors nicht in allen Dingen teilt. Allerdings folgt Sinn in seiner Die EU neu gestalten Argumentation allzu oft dem Primat Eine Erneuerung Europas fordert der Ökonomie über die Politik. Be- auch Claus Leggewie, Professor für Claus Leggewie: sonders deutlich wird das in seinen Politikwissenschaft an der Univer- Europa zuerst! Berlin: Ullstein Empfehlungen für eine europäische sität Gießen, in seinem Buch „Euro- Buchverlage 2017. Politik gegenüber Großbritannien im pa zuerst!“ Es gehe darum, jetzt den 320 Seiten, 22 € Brexit-Prozess und bei seinen Rat- „kairós“, den günstigen Moment, zu schlägen für eine europäische Russ- nutzen, den der Wahlsieg Macrons land-Politik. Im ersten Fall empfiehlt am 7. Mai 2017 eröffnet habe. er, den Briten zu erlauben, die euro- Leggewies Empfehlungen lesen päische Personenfreizügigkeit zu be- sich weitgehend als das Gegenteil schränken, und das bei andauerndem dessen, was Hans-Werner Sinn vor- und ungehindertem Zugang zum eu- schlägt. Es geht ihm um eine gemein- ropäischen Binnenmarkt. same Wirtschafts-, Finanz- und Sozi- Würde die EU aber tatsächlich alpolitik, „beginnend mit einem ge- den Status eines assoziierten Mit- meinsamen Finanzminister, mit dem glieds nach den Wünschen Großbri- klaren Auftrag, Megaprobleme vor al- tanniens schaffen, der dann anderen lem im Süden wie die massive Pers- EU-Mitgliedstaaten ebenfalls offen- pektivlosigkeit der dortigen Jugend stünde, dann würde die EU einen ge- anzugehen und das Finanzkapital fährlichen Anreiz für Trittbrettfah- einzuhegen“. Daneben fordert Legge- rer setzen und weitere Austritte mo- wie eine Steuer für Finanztransakti- tivieren. Die EU ist ja gerade kein Ge- onen, eine verschärfte Bankenkont- mischtwarenladen, in dem jeder nur rolle und langfristig einen „europä- das, was ihm gefällt, in den Waren- ischen Währungsfonds unter parla- korb legen kann. mentarischer Kontrolle“. Mit Blick auf den Umgang mit Außerdem schlägt Leggewie einen Russland empfiehlt Sinn, die Han- Mindestsatz bei der Körperschafts- delsbeziehungen wieder zu inten- steuer und den entschlossenen Kampf sivieren und Putins Vorschlag ei- gegen Steuervermeidung und -hinter- ner Freihandelszone vom Atlantik ziehung vor. Die erwirtschafteten Er- bis nach Wladiwostok aufzugreifen. träge möchte er in die Finanzierung

IP • November / Dezember 2017 139 Buchkritik

europäischer Gemeinschaftsprojek- Leser erfährt hier viel Nachdenkens- te stecken, die vernachlässigten Re- wertes über den europapolitischen gionen wieder Anschluss verschaffen Diskurs in anderen EU-Ländern. und die Identifikation mit der EU er- Der Autor zeigt Alternativen zum leichtern können. Dabei sieht er vor nationalistischen Diskurs auf und allem Deutschland in der Pflicht, die vollzieht einen „Themenwechsel weg EU gemeinsam mit Frankreich in die- von der lähmenden Fremdenfurcht, sem Sinne neu zu gestalten. der übertriebenen Terrorpanik und Vergangenheitsfixierung“ hin zu den Europas Unabhängigkeitserklärung „Zukunftsthemen“, bestehend aus Nach eigenem Bekunden ist Legge- dem Dreiklang ökologische Nachhal- wies Programm „sozial-demokra- tigkeit, soziale Solidarität und politi- tisch“ bis „sozial-progressiv“, es spie- sche Teilhabe. Leggewie bietet dem gelt vieles von dem wider, was die Grü- Leser eine progressive Agenda für nen seit Langem fordern. Liest man eine nachhaltige europäische Bürger- Sinn und Leggewie nacheinander, be- und Sozialunion an, die sich aus Dut- kommt man eine Vorstellung davon, zenden konkreter Beispiele aus ganz wie schwer es in den Jamaika-Koali- Europa speist. tionsverhandlungen zwischen FDP Claus Leggewie geht davon aus, und Grünen werden wird, auf einen dass sein Programm mehrheitsfähig europapolitischen Nenner zu kom- ist und der „durchaus vorherrschen- men – zumindest, was die europäi- den Stimmungslage ‚pro EU‘ entspre- sche Wirtschafts- und Finanzpolitik che“. Allerdings sind heute euroskep- betrifft. Interessanterweise schlagen tische Populisten, die den Nationalis- beide Autoren eine gemeinsame euro- mus wieder salonfähig machen wol- päische Verteidigungspolitik und eine len, weiter auf dem Vormarsch, wie EU-Armee vor. die Wahlerfolge der AfD bei der Bun- Leggewie versteht sein Buch als eu- destagswahl und der FPÖ bei der Na- ropäische ­Unabhängigkeitserklärung. tionalratswahl in Österreich gerade Es ist nach der pessimistischen Lektü- erst wieder gezeigt haben. Ähnliches re von Krastev und Sinn eine wohltu- lassen die Vorhersagen in Tsche- end optimistische Stimme in der ak- chien befürchten. Und für Frank- tuellen Debatte – ein leidenschaftli- reich selbst steht zu befürchten, dass ches Plädoyer für ein offenes, selbst- Macron nicht wegen, sondern eher bewusstes, starkes Europa, das schon trotz seiner europapolitischen Posi- jetzt viel besser ist als seine Kritiker tionen gewählt wurde. meinen. Dabei ist Leggewie nicht blind gegenüber den Herausforderungen. Dr. Jana Puglierin Weite Teile seines Buches beschäf- leitet das Alfred von tigen sich mit dem Erstarken ei- Oppenheim-Zentrum für Europäische nes „völkisch-autoritären Nationa- ­Zukunftsfragen im lismus“. Anhand von Länderstudi- Forschungsinstitut­ en zeichnet er sehr differenziert den der DGAP. Aufstieg der „europäischen Interna- tionale der Nationalisten“ nach. Der

140 IP • November / Dezember 2017 Wir machen mobil.

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Die DGAP versteht sich als nationales Netzwerk für deutsche Außenpoli- tik an den Schnittstellen zwischen Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Wissen- schaft und Medien. Sie begleitet als unabhängiger, überparteilicher, gemein- nütziger und privater Verein mit mehr als 2600 Mitgliedern aktiv die politische Meinungsbildung zu allen relevanten außenpolitischen Themen. Ihre international besetzten Vortragsveranstaltungen, Konferenzen und Studien- gruppen sind ein wichtiges Berliner Debattenforum. Im Forschungsinstitut der DGAP arbeitet ein Team von Wissenschaftlern an praxisbezogenen Analysen; mit ihrer außenpolitischen Spezialbibliothek, ihren Internetseiten www.dgap.org, www.internationalepolitik.de und www.berlinpolicyjournal. com bietet die DGAP umfassende und aktuelle Informationen zu allen Fragen­ der ­Außenpolitik. Die Zeitschrift INTERNATIONALE POLITIK, 1945 von Wilhelm Cornides unter dem Namen „Europa-Archiv“ gegründet, erscheint alle zwei Monate. Die IP verfolgt das Ziel, außenpolitische Debatten auf hohem internationalen ­Niveau zu führen, aktuelle Entwicklungen durch sorgfältige Analysen einzu- ordnen und so zur Kursbestimmung der deutschen Außenpolitik beizutragen. Die in der Zeitschrift geäußerten Meinungen sind die der Autoren.

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Präsidium Niels Annen, Dr. Stefanie Babst, Prof. Dr. h.c. Roland Berger, , Sevim Dagdelen, Dr. Thomas Enders, Jürgen Fitschen, Dr. Stephan Goetz, Eric Gujer, Jürgen Hardt, Prof. Dr. h.c. Wolfgang Ischinger, Dr. Christian Jacobs, Bertram Kawlath, Eckart von Klaeden, Prof. Dr. Joachim Krause, Prof. Dr. Kurt Joachim Lauk, Walter Lindner, Prof. Dr. Klaus Mangold, Hildegard Müller, Christopher Freiherr von Oppenheim, Prof. Dr. Thomas Risse, Herbert J. Scheidt, Dr. , Karsten D. Voigt, Georg Graf von Waldersee, Dr. Heinrich Weiss, Prof. Dr. Michael Zürn

142 IP • November / Dezember 2017 Impressum

Herausgeber Redaktionsanschrift Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik: Rauchstraße 17 / 18 | 10787 Berlin Prof. Dr. Joachim Krause Tel.: +49 (0)30 25 42 31-46 Dr. Arend Oetker Fax: +49 (0)30 25 42 31-67 Dr. Daniela Schwarzer [email protected] Marketing und Anzeigen Chefredakteurin DGAP Consulting GmbH Dr. Sylke Tempel † Rauchstraße 17/18 | 10787 Berlin Stefan Dauwe Redaktion [email protected] Dr. Henning Hoff (V.i.S.d.P.), Tel.: +49 (0)30 26 30 20 65 Uta Kuhlmann, Dr. Joachim Staron Druckerei Projektmanagerin: Christine Krüger Media-Print Informationstechnologie GmbH Redaktionelle Mitarbeit: Eggertstraße 30 | 33100 Paderborn Sophie Bauermeister, Isabelle Stephanblome Pressevertrieb Layout DPV Deutscher Pressevertrieb GmbH Thorsten Kirchhoff Nordendstraße 2 | 64546 Mörfelden-Walldorf Erscheinungsweise sechs Mal jährlich (davon drei Mal mit Beirat IP-Länderporträt als Beilage) Prof. Timothy Garton Ash, Oxford University Dr. Guido Goldman, Harvard University Bezugspreise Dr. Richard Herzinger, Welt-Gruppe Einzelpreis Zeitschrift IP 14,90 € Dr. Michael J. Inacker, WMP-EuroCom AG Einzelpreis IP Wirtschaft 9,90 € Dr. Josef Joffe, DIE ZEIT, Stanford University Jahresabonnement Inland 118,00 € Prof. Dr. Dr. h.c. Karl Kaiser, Harvard University Jahresabonnement Ausland 128,00 € Stefan Kornelius, Süddeutsche Zeitung Luftpost 155,00 € Prof. Dr. Paul Nolte, Freie Universität Berlin Studentenabonnement 73,00 € Prof. Dr. Günther Nonnenmacher, Studentenabonnement Ausland 83,00 € Frankfurter Allgemeine Zeitung (Nachweis erforderlich) Prof. Dr. Volker Perthes, Probeabonnement (2 Ausg.) 19,50 € Stiftung Wissenschaft und Politik Alle Abonnentenpreise inkl. Versandkosten und MwSt. Weitere Prof. Dr. Helmut Reisen, Berlin Preise auf Anfrage. Kündigungen bis vier Wochen vor Ablauf des Bezugszeitraums. Für Mitglieder der Deutschen­ Gesellschaft für Markus Spillmann, Neue Zürcher Zeitung Auswärtige Politik gelten besondere Bezugspreise. Prof. Angela Stent, Georgetown University Daniel Vernet, Le Monde www.internationalepolitik.de Dr. Bernhard von Mutius, Potsdam ISSN 1430-175X

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IP • November / Dezember 2017 143 Schlusspunkt

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Uns fehlen die Worte Aber zum Glück gibt es den auch von Sylke Tempel hochgeschätzten Schweizer Karikaturisten Patrick Chappatte, der mit subtilem Witz internationale Ereignisse und Entwicklungen auf den Punkt bringt.

144 IP • November / Dezember 2017