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Sendung vom 24.11.2009, 20.15 Uhr

Liselotte Vogel und Hans-Jochen Vogel Bundesjustizminister a.D. im Gespräch mit Gabi Toepsch

Toepsch: Herzlich willkommen zum alpha-Forum. Wir haben heute ein Ehepaar zu Gast, Liselotte und Hans-Jochen Vogel. Beide haben sich vor etwa drei Jahren dazu entschlossen, in ein Seniorenwohnstift zu ziehen. Schön, dass Sie da sind. Hans-Jochen Vogel ist Münchner Alt-Oberbürgermeister und ehemaliger Bundesjustizminister, ein Mann mit einer langen SPD-Karriere. Liselotte Vogel ist, wenn ich das so sagen darf, die starke Frau im Hintergrund des erfolgreichen Mannes. Sie tritt jetzt jedoch in den Vordergrund, denn sie hat ein Buch geschrieben über den mutigen Umgang mit dem Alter. Braucht man denn Mut, um in ein Wohnstift zu ziehen? Liselotte Vogel: Man braucht nicht unbedingt Mut, um in ein Wohnstift zu ziehen, aber das ist doch eine Entscheidung, die man lange genug vorher überlegen muss, die auch Vorbereitungen braucht und die man eben am besten dann trifft, wenn man sich noch selbst entscheiden kann, wie das alles aussehen soll. Das ist auch der Sinn dieses Buchs, von dem Sie gesprochen haben. Ich möchte den Menschen Mut machen, wirklich rechtzeitig zu überlegen, wie sie ihr Alter verbringen möchten, wo sie es verbringen möchten, was sie dort haben möchten usw. Toepsch: War der Schritt ein mutiger Schritt für Sie? Hans-Jochen Vogel: Nein, das Wort "Mut" würde ich in diesem Zusammenhang nicht verwenden. Es ist schon so, dass das Alter an sich einen gewissen Mut erfordert, meine Frau hat in ihrem Buch ja auch ein Zitat einer berühmten Schauspielerin verwendet: "Alter ist kein Job für Feiglinge!" Diese Entscheidung aber war eine sachlich-verstandesmäßige. Wir hatten allerdings bereits eine gewisse Vorstellung vom Leben in diesem Wohnstift, weil sowohl die Mutter meiner Frau, also meine Schwiegermutter, als auch meine Eltern die letzten Jahre ihres Lebens in diesem Wohnstift bzw. in einem parallelen Wohnstift verbracht hatten. Nein, dafür brauchte es keinen Mut, sondern das war eine sachliche und vernünftige Entscheidung. Von heute aus betrachtet, sind wir mit dieser unserer Entscheidung auch recht zufrieden. Liselotte Vogel: Ja, sehr. Toepsch: Uns alle interessiert jetzt natürlich, wie denn Ihr Tagesablauf in so einem Wohnstift aussieht. Wahrscheinlich sind Sie das schon Tausend Mal gefragt worden, aber ich denke, es ist einfach spannend, das zu erfahren. Liselotte Vogel: Der Tagesablauf in einem Wohnstift sieht genau genommen eigentlich nicht anders aus als vorher – jedenfalls bei uns. Wir sind in diesem Wohnstift Mieter, d. h. wir haben dort eine Wohnung, die eine Wohnungstür mit einer Klingel hat. Innerhalb dieser Wohnung leben wir ganz genau so, wie wir früher auch gelebt haben. Der einzige Unterschied ist, dass wir nun mittags zum Essen gehen. Das Frühstück mache ich aber z. B. immer noch selbst. Außer den Essenszeiten mittags ist also unser Tagesablauf überhaupt nicht bestimmt vom Haus. Aber es gibt dort selbstverständlich auch kulturelle Angebote, die man wahrnehmen kann oder nicht. Unser Alltag läuft also so wie früher: Wir frühstücken und dann geht mein Mann an seinen Schreibtisch. Früher musste er jeden Morgen aus dem Haus, weil er Termine hatte: Das ist heute zwar auch noch so, aber doch ziemlich reduziert. Das heißt, wir haben mehr Zeit füreinander, was ich sehr genieße. Und ich mache nach dem Frühstück das, was ich innerhalb meines kleinen Hauswesens zu machen habe, oder ich gehe im Haus zum Singen, denn montags gehe ich immer zum Singen. Oder ich gehe zum Yoga und gelegentlich auch ins Gedächtnistraining, je nachdem, was mir Spaß macht. Mittags essen wir unten im Speisesaal bzw. im Restaurant, wie es jetzt heißt. Und nachmittags versuchen wir, auf jeden Fall spazieren zu gehen. Toepsch: Nehmen Sie denn wie Ihre Frau auch solche Angebote in Anspruch? Hans-Jochen Vogel: In viel geringerem Maße. Es gibt gelegentlich Vorträge oder auch Informationsveranstaltungen, die uns beide interessieren, zu denen ich also ebenfalls mitgehe. Neulich gab es z. B. eine interessante Vortragsreihe über Herzkrankheiten und über Herzprobleme. In unserem Alter gibt es an diesem Thema natürlich ein naheliegendes Interesse. Aber ansonsten kann ich meiner Frau nur erneut zustimmen: Unser Tagesablauf hat sich nicht so sehr durch den Umzug ins Altenwohnheim verändert, sondern dadurch, dass wir älter geworden sind, und ich zwar im Ruhestand bin, aber in diesem Ruhestand schon auch noch das eine oder andere mache oder zu helfen versuche. Es ist ganz wichtig festzuhalten, dass man in so einem Wohnstift ganz selbstbestimmt sein eigener Herr bleibt. Es ist nicht so, dass man dort unter ständiger Anleitung oder ständiger Beaufsichtigung wäre. Nur dann, wenn man wirklich pflegebedürftig wird, und das ist ein ganz großer Vorteil in diesem Altenwohnheim, wird man in seiner eigenen Wohnung gepflegt. Das heißt, man hat es dann auch mit Menschen zu tun, die man bereits kennt. Das ist dann also nicht von einem Tag auf den anderen ein jäher Übergang ins Unbekannte. Toepsch: Sie haben soeben gesagt, dass sich nicht so viel verändert habe. Aber geändert hat sich doch immerhin, dass Sie vermutlich eine Menge neuer Nachbarn bekommen haben. Liselotte Vogel: Ja, sicher. Aber das wirkt sich eigentlich nicht anders aus, als wenn wir in einem normalen Mietshaus in eine andere Wohnung umgezogen wären. Aber es ist schon so, dass in unserem Haus ein ungemein höflicher und freundlicher Ton herrscht, was ich, wie ich sagen muss, sehr genieße. Man grüßt sich weitgehend untereinander, aber es hat jeder eine Wohnungstür und eine Klingel. In diesen dreieinhalb Jahren ist es jedenfalls noch nicht vorgekommen, dass bei uns jemand vom Haus vor der Tür gestanden und geklingelt hätte. Denn normalerweise läuft das alles über Telefon: So weit man sich kennt, ruft man sich an, fragt, wie es geht usw. Das mag freilich anders sein, wenn man nicht als Ehepaar in ein solches Haus geht; hier muss man sicher immer unterscheiden. Für uns beide sind neue soziale Kontakte nicht existenziell, denn wir haben uns beide und haben unsere alten Freunde in München. Toepsch: Sie sind einfach in der Stadt geblieben. Liselotte Vogel: Für Menschen, die alleine einziehen, stellt sich das alles natürlich schon ein bisschen anders dar. Aber es muss dort auch niemand allein sein. Toepsch: Wie ist das beim Mittagessen? Sitzen Sie da als Ehepaar alleine an einem Tisch? Oder haben Sie einen größeren Tisch, gar so etwas eine Mittagsgemeinschaft? Hans-Jochen Vogel: Ja, das ist eine ganz wichtige Frage. Wenn man dort hinkommt, wird einem am ersten Tag ein bestimmter Platz angeboten, weil die Menschen, die sonst dort sitzen, z. B. im Urlaub sind. Danach wandert man ein bisschen von Tisch zu Tisch, bis sich das schließlich an einem bestimmten Tisch verfestigt. Bei uns hat das ungefähr vier, fünf Wochen gedauert, bis sich eine Tischgemeinschaft entwickelt hat, die sich immer zur selben Zeit mittags einfindet. Ich befinde mich da in einer gewissen Sondersituation, denn das sind lauter Damen. Toepsch: Das heißt, Sie sind der Hahn im Korb. Hans-Jochen Vogel: Wir mussten dann umziehen, weil das Wohnstift ja etwas erweitert worden ist. Heute haben wir einen runden Tisch, an dem fünf Damen und meine Wenigkeit Platz nehmen. Das ist für das Wohlbefinden doch von erheblicher Bedeutung. Liselotte Vogel: Dass es fünf Damen sind? Hans-Jochen Vogel: Nein, ich meine die Zusammensetzung dieses runden Tisches: Das ist eine Verbindung von freundlicher Sympathie und auch gegenseitigem Interesse und schon auch einer gewissen Distanz. Man gerät also nicht in einen kumpelhaften Zustand dabei. Und es geht eigentlich immer lustig zu, aber nicht grob vordergründig, sondern mit amüsanten Gesprächen. Eine Dame an unserem Tisch ist sehr schwerhörig, weswegen wir uns bemühen, sie immer wieder ins Gespräch einzubeziehen: Ich muss sie dann über den ganzen Tisch hinweg mit lauter Stimme ansprechen. Man freut sich eigentlich jeden Tag auf dieses Zusammensein. Uns ist es sympathisch, dass es jeden Tag dieselben Menschen sind, mit denen wir zusammensitzen. Es gibt noch mehr solcher Tische bei uns, an denen immer wieder dieselben Menschen zusammenkommen. Aber es gibt auch Tische, an denen es immer wieder einen Wechsel gibt und auch Menschen, die in bestimmten Abständen mal hier und mal dort sitzen. Toepsch: Man hat ja dem Alter gegenüber das Vorurteil, dass die Menschen dann eigentlich nur noch über ihre Leiden sprechen, über ihre Krankheiten. Was ist denn das Gesprächsthema beim Mittagessen? Können Sie da mein Vorurteil bestätigen? Sind es die Zipperlein oder ist es etwas anderes? Liselotte Vogel: Bei uns ist nahezu alles Gesprächsthema – außer Krankheiten. Jedenfalls an unserem Tisch ist das ein ungeschriebenes Gesetz, das wir nie direkt verabredet haben, über das wir nie unmittelbar gesprochen hätten: Über Krankheiten wird nicht geredet! Selbstverständlich ist keine Person an diesem Tisch noch völlig gesund – denn sonst wäre sie ja nicht hier in diesem Wohnstift. Aber das ist kein Gesprächsthema, wenn jemand fehlt. Wir haben uns daher angewöhnt, untereinander Bescheid zu sagen. Heute z. B. sind wir mittags nicht da, weil wir hier beim BR sind. Wir sagen deshalb untereinander Bescheid, damit sich niemand Gedanken machen muss, ob jemand krank geworden ist, wenn man ein paar Tage lang nichts von ihm hört. Man ruft also an und erkundigt sich. Aber wie gesagt, normalerweise kommt das Wort "Krankheit" bei uns am Tisch nicht vor. An unserem Tisch wird über alles und jedes geredet – speziell dann, wenn mein Mann da ist. Toepsch: Wahrscheinlich auch über die aktuelle politische Lage. Hans-Jochen Vogel: Ja, schon, aber auch das mit einer gewissen Zurückhaltung. Nein, ich bin inzwischen an diesem Tisch in eine Situation gekommen, in der meine Frau und ich bayerische Sprachbesonderheiten erläutern, denn diese Damen stammen aus Nordrhein-Westfalen oder aus der Ulmer Gegend usw. Da gibt es einfach immer wieder Dialektwendungen, die erklärungsbedürftig sind und die oft mit Schmunzeln zur Kenntnis genommen werden. Was die Krankheiten betrifft, halten wir uns an die Weisheiten der Teresa von Ávila, die dazu ja sehr kluge Empfehlungen gegeben hat. Toepsch: Und die da wären? Hans-Jochen Vogel: Dass man seine Mitmenschen z. B. nicht mit Geschichten über eigene Krankheiten langweilt. Das steht auch alles in dem Buch meiner Frau. Toepsch: Dieses Buch hat den Titel "Ich lebe weiter selbstbestimmt! Für einen mutigen Umgang mit dem eigenen Alter". Auf welcher Seite stehen denn da diese Empfehlungen der Teresa von Ávila? Hans-Jochen Vogel: Das steht ganz am Schluss und natürlich noch vor dem Sachregister. Ich glaube, das müsste auf Seite 135 oder stehen. Liselotte Vogel: Diese Weisheiten sind aber nicht nur in Bezug auf die Krankheiten sehr lesenswert. Toepsch: Würden Sie uns ein bisschen daraus vorlesen, Frau Vogel? Hans-Jochen Vogel: Ein "Vogelohr" in dem Fall. Liselotte Vogel: Also, das ist ein Gebet der heiligen Teresa von Ávila, die vor 500 Jahren gelebt hat: "Herr, du weißt, dass ich von Tag zu Tag älter werde und eines Tages alt. Bewahre mich vor dem Drang, bei jeder Gelegenheit etwas sagen zu müssen. Erlöse mich von der großen Leidenschaft, die Angelegenheiten anderer ordnen zu wollen. Lehre mich, nachdenklich, aber nicht grüblerisch, hilfreich, aber nicht beherrschend zu sein. Mein umfangreiches Wissen sollte eigentlich nicht brachliegen, sondern weitergegeben werden. Aber du verstehst, Herr, dass ich mir ein paar Freunde erhalten möchte. Bewahre mich davor, endlos Einzelheiten aufzuzählen, ohne auf den Kern der Sache zu kommen. Lehre mich, zu schweigen über meine Krankheiten und Beschwerden. Sie nehmen zu und die Lust, sie zu beschreiben, wächst von Jahr zu Jahr. Ich erflehe nicht die Gabe, Krankheitsschilderungen anderer mit Genuss zu lauschen, aber lehre mich, sie wenigstens geduldig zu ertragen. Lehre mich die wunderbare Weisheit, dass ich mich irren kann. Erhalte mich so liebenswert wie möglich: Ich möchte kein Griesgram sein, aber auch keine Heilige, denn mit denen lebt es sich so schwer." Toepsch: Vielen Dank. Herr Vogel, Sie haben zustimmend genickt. Hans-Jochen Vogel: Ja, da steckt einfach unendlich viel Lebensweisheit in diesen Sätzen. Aber am Schluss war sie dann doch eine Heilige, insofern ist ihr letzter Satz nicht in Erfüllung gegangen. Ja, das ist alles bedenkenswert, was diese Frau sagt. Toepsch: Wann haben Sie denn dieses Buch zum ersten Mal gelesen? Hans-Jochen Vogel: Da muss ich vom Manuskript sprechen. Es war eine stillschweigende Vereinbarung zwischen uns – oder sogar eine ausgesprochene, dass ich mich in keiner Weise einmenge. Der "Oberlehrer", wie ich ja oft genannt werde, hat sich also komplett zurückgehalten. Liselotte Vogel: Bewundernswert! Hans-Jochen Vogel: Ja, genau, lob das einmal hier öffentlich. Liselotte Vogel: Es war wirklich bewundernswert. Hans-Jochen Vogel: Ich habe das Manuskript also erst gelesen, als es fertig war. Ich habe mich dann auf ungefähr eineinhalb Bemerkungen beschränkt, weil es mir einfach eingeleuchtet und gefallen hat. Das sollte ja auch kein Gemeinschaftsbuch sein: Meine Frau hat sich 82 Jahre lang auf dieses Buch vorbereitet und dann musste sie es natürlich auch alleine präsentieren (lachen). Aber ansonsten bin ich genau so, wie das auf dem Titelbild zu sehen ist: als Begleiter mit einer gewissen Zurückhaltung. So bin ich auch ein paar Mal mit dabei gewesen, wenn das Buch präsentiert wurde oder von ihm die Rede war. Es ist im Buch ja auch gelegentlich von mir die Rede. Liselotte Vogel: Ja, du kommst schon auch vor. Toepsch: In Ihrem langen Eheleben kommen Sie zweifellos vor. Was hat Sie eigentlich auf die Idee und zu dem Entschluss gebracht, dieses Buch tatsächlich zu schreiben? Liselotte Vogel: Ich muss ganz ehrlich zugeben, dass das gar nicht meine Idee gewesen ist. Wir waren vor nun fast zwei Jahren in einer Fernsehsendung, nämlich in der Sendung "Menschen bei Maischberger": Das war kurz, nachdem wir ins Stift gezogen waren, denn unser Umzug ins Stift hatte damals einfach ein ungeheures Medienecho hervorgerufen. Zum großen Teil wurde aber auch Entsetzen geäußert: "Was macht der denn im Altersheim? Der mischt doch noch überall mit! Der braucht das doch noch nicht!" Die Rezeption dieses Umzugs bezog sich also im Wesentlichen auf meinen Mann. Wir waren also bei Sandra Maischberger und wollten und sollten dort diese unsere Entscheidung erklären. Wir mussten unsere Entscheidung fast verteidigen, denn es war auch Blacky Fuchsberger mit in dieser Sendung, der gesagt hat: "Ich sterbe mal auf der Bühne in einer Vorstellung!" Ein anderer Gast in dieser Sendung war eine alte Dame mit 86 Jahren, die gerade aus einem Heim wieder ausgezogen war, weil es ihr dort nicht gefallen hatte. Wir waren praktisch die Einzigen, die für diese Lebensform eingetreten sind. Auf diese Sendung gab es dann erneut viele Reaktionen und interessanterweise eben auch viele positive Reaktionen auf dem Kreis der 45- bis 55-Jährigen, also aus dem Kreis der Kinder der eigentlich Betroffenen. Diese Menschen bezeichneten diese Entscheidung als sehr vernünftig und sehr schön. Die Menschen, die positiv reagierten, sagten zu mir: "Ich finde es so schön, dass Sie das selbst entschieden haben und damit Ihre Kinder praktisch entlastet haben, sich in irgendeiner Form Gedanken oder Sorgen darüber machen zu müssen, was aus Ihnen wird." Im Zuge dessen ist dann auch eine Literaturagentur auf mich zugekommen und hat mich gefragt, ob ich das alles nicht niederschreiben möchte. Das wollte ich eigentlich nicht … Toepsch: Gut, dass Sie das trotzdem getan haben. Liselotte Vogel: Ja, so ist dieses Buch dann eben trotzdem entstanden. Toepsch: Haben Sie denn diese Entscheidung, ins Stift zu gehen, mit Ihren Kindern besprochen? Liselotte Vogel: Wir haben es ihnen mitgeteilt. Hans-Jochen Vogel: Wir haben nicht in dem Sinne mit ihnen darüber gesprochen, dass wir eine Diskussion veranstaltet hätten, aber wir haben doch mehrmals darauf hingedeutet, indem wir z. B. gesagt haben, dass wir einen Vorvertrag abschließen möchten usw. Eine längere Diskussion war auch deswegen nicht notwendig, weil unsere Kinder, insgesamt sind es ja fünf an der Zahl, gar nicht die räumlichen Voraussetzungen gehabt hätten, uns aufnehmen zu können. Aber auch aus beruflichen Gründen wäre das bei ihnen nicht gegangen. Insofern wäre es für sie schon eine gewaltige Überraschung gewesen, wenn wir plötzlich gesagt hätten: "Also, wir haben uns beraten und sind zum Schluss gekommen, dass wir gerne zu einem von euch ziehen möchten." Insofern ist das alles also in voller Harmonie abgelaufen, unsere Kinder sind nicht unzufrieden mit uns. Toepsch: Sie haben vorhin gerade erzählt, dass der Blacky Fuchsberger am liebsten auf der Bühne sterben möchte. Sie haben ja ein ganz großes Kapitel in Ihrem Buch, in dem es um das Brechen von Tabus geht: Sie befassen sich da u. a. auch ausführlich mit dem Tod und mit dem Sterben. Was wollten Sie damit transportieren? Liselotte Vogel: Ich finde, dass das ein Thema ist, das selbstverständlich zur Gestaltung des letzten Lebensabschnitts dazugehört. Wenn man ein gewisses Alter erreicht hat, dann kann man diesen Gedanken auch nicht endlos vor sich herschieben, man muss sich einfach damit auseinandersetzen. Ich hatte beim Tod meiner Eltern die Gelegenheit, ein Sterben zu begleiten: Da sind schon damals in mir Gedanken entstanden, ob es denn unbedingt so sein muss, wie das bei ihnen abgelaufen ist, oder ob es da nicht möglicherweise auch andere Formen gibt, die mir sympathischer sind. Meine Eltern sind vor 26 Jahren im Krankenhaus gestorben: Das war damals alles sehr kühl und sehr unpersönlich. Ich kann nicht ausschließen, dass sich da einiges gebessert hat. Durch die Palliativmedizin hat sich da sicherlich sehr vieles gebessert. Toepsch: Sie stellen in Ihrem Buch ja auch die Palliativmedizin und die Hospizbewegung vor und machen klar, dass es eigentlich nicht der Tod ist, vor dem man Angst hat, sondern das Sterben. Liselotte Vogel: Ja, das Sterben, der Weg dahin ist das, was man scheut, was man verständlicherweise scheut. Toepsch: Sie selbst sagen, dass man den Gedanken an den Tod nicht ewig wegschieben könne. In der Realität ist es aber so, dass wir heutzutage diesen Gedanken sehr wohl sehr weit wegschieben: In unserer Gesellschaft wird darüber überhaupt nicht nachgedacht. Haben Sie denn eigentlich auch über das nachgedacht, was nach dem Tod kommt? Haben Sie eine Vorstellung von einem Jenseits? Hans-Jochen Vogel: Ich glaube, hier kann ich schon in einem gewissen Sinne für uns beide sprechen: Wir haben beide die Überzeugung, dass mit dem Tod nicht alles zu Ende ist, sondern dass der Tod eine Art enges Tor, eine enge Tür ist, durch die man schreiten muss, um dann in einen ganz neuen Bereich, in einen ganz neuen Abschnitt zu gelangen. Es gibt ja diese Vorstellungen vom Paradies und auch von der Hölle: Ich glaube, dass das jedoch Begriffe und Darstellungen sind, die man ein bisschen transferieren und überdenken muss. Aber dass es nach dem Tod in irgendeiner Form ein Weiterleben gibt, ist unsere gemeinsame Überzeugung. Ich habe auch die Annahme, dass man dann vom Herrgott in ein Gespräch hineingezogen wird. Da ergeht bestimmt kein vernichtendes Urteil, aber man wird doch zur Verantwortung gezogen und man wird Rechenschaft abzulegen haben, insbesondere über kritische und sensible Phasen und Entscheidungen des eigenen Lebens. Ich glaube, der Umgang mit dem Sterben hängt auch ein bisschen davon ab, ob man meint, es sei dann wirklich alles zu Ende, oder ob man eine solche Perspektive für möglich hält, von der ich soeben gesprochen habe und an die wir beide glauben. War es recht so? Liselotte Vogel: Ja. Aber es war detaillierter, als meine Vorstellung ist. Im Prinzip ist das jedoch auch durchaus für mich zutreffend. Ich glaube auch nicht, dass mit dem Tod alles zu Ende ist. Toepsch: Sie haben soeben gesagt, dass man dann zur Verantwortung gezogen wird für die Dinge, die im eigenen Leben passiert sind. In Ihrem Leben ist ja auch in der Tat sehr vieles passiert. Was waren denn die dramatischsten Ereignisse, die Sie in Ihrem Leben durchmachen mussten? Hans-Jochen Vogel: Diese Frage bezieht sich jetzt selbstverständlich nicht auf das private und persönliche Leben, denn das würde nicht hierher gehören, sondern z. B. auf meine politischen Funktionen. Eine der schwierigsten Phasen war da sicherlich die Zeit der Entführung von und der Lufthansamaschine "Landshut". Die Verantwortung trug damals und er hat in einer unglaublich besonnenen und entschlossenen Weise diese Entscheidungen getroffen. Aber als Justizminister hatte man selbstverständlich Argumente beizutragen: Da wurde mir sehr nachdrücklich bewusst, dass von dem, was ich vortrage, das Leben eines ganz konkreten Menschen abhängen kann, eines Menschen, den ich übrigens auch kannte. Während der Entführung der "Landshut" konnte davon sogar das Leben von 99 Menschen abhängen. Das war schon eine Zeit, in der man an die eigenen Grenzen gelangte und man kann sich nicht sicher sein, ob das, was ich auch heute noch für richtig halte und, wie ich glaube, auch gut begründen kann, einem solchen "Gespräch" nach dem Tod auch wirklich standhält. Ein weiteres Feld war die Reform des Schwangerschaftsunterbrechungsrechts. Auch das ist ein Gebiet, bei dem man nicht einfach sagen kann, dass die eine Entscheidung hundertprozentig richtig und die andere hundertprozentig falsch ist. Denn auch hier geht es um das höchste Gut, nämlich um menschliches Leben. Diese beiden Dinge fallen mir also auf Ihre Frage zunächst einmal ein. Toepsch: Sie haben sich damals bei der Schleyer-Entführung ja dagegen ausgesprochen, dass den Terroristen nachgegeben wird. Diese Entscheidung hat dann aber schlussendlich doch das Leben von Hanns Martin Schleyer gekostet. Oder würden Sie das heute anders sehen? Hans-Jochen Vogel: Es hat eine Ursache dafür gesetzt, das stimmt. Es war ja nicht so, dass wir damals in diesem Krisenstab gesagt hätten: "Wir bleiben einfach passiv!" Nein, es sollte alles geschehen, um ihn zu finden und ihn zu befreien. Aber von den Mitteln, die es dafür gab, wurde eines ausgeschlossen, nämlich den Forderungen nachzugeben. Denn wir konnten uns ja noch gut an die erst einige Jahre zurückliegende Entführung von Peter Lorenz erinnern. Schon damals war ich dagegen gewesen, dass der Staat nachgibt. Wir wussten, dass die entlassenen Gefangenen nicht ins Altersheim ziehen und passiv bleiben würden, sondern dass sie ihre Tätigkeit fortsetzen würden. Die Terroristen, die im "Fall Lorenz" freigepresst worden waren, haben im Anschluss weitere Morde und Mordversuche begangen, weswegen dann erneut Haftbefehl gegen sie erlassen wurde. Man hätte also mit einer nachgiebigen Position einen gerettet und eine unbestimmte Anzahl von anderen Menschen, die man selbstverständlich noch nicht identifizieren konnte, dieser furchtbaren Gefahr ausgesetzt. Außerdem muss der Staat ja auch daran denken, wie es auf Polizeibeamte wirkt, die ihr Leben einsetzen, um solche Täter zu verhaften, wenn sie sehen müssen, wie sich die Gefängnistüren für diese Täter dann wieder öffnen. Nein, der Staat muss seine Schutzfähigkeit bewahren und verteidigen – selbstverständlich immer unter Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien. Das war die Linie, die übrigens einmütig vertreten wurde in diesem Krisenstab. Das war ein Kreis von Menschen, in dem alle Parteivorsitzenden, alle Fraktionsvorsitzenden und die zuständigen Minister und Ministerpräsidenten beieinander waren: Es war die einhellige Meinung, nicht nachzugeben. Toepsch: Sie waren deswegen dann selbst ein sehr gefährdeter Mensch und mussten zehn, fünfzehn Jahre lang mit Personenschutz leben. Liselotte Vogel: 17 Jahre! Toepsch: Wie haben Sie damit gelebt? Denn das betrifft Sie, Frau Vogel, ja auch. Liselotte Vogel: Am Anfang war das schon sehr schwer. Für mich persönlich hatte ich nie Angst und es hatten sich ja auch bestimmte Muster bei den Terroristen herausgeschält, wie sie handeln. Ich habe z. B. selbst nie geglaubt, dass sie auch einen Kindergarten überfallen würden. Denn da gab es mit dem Kindergarten des Justizministeriums ein großes Problem: Er wurde geschlossen! Ich habe das verstanden und das war auch sicherlich richtig, obwohl ich persönlich nie geglaubt habe, dass es einen Anschlag auf den Kindergarten geben könnte. Aber mein Mann stand in der Tat jahrelang auf den Todeslisten der RAF, es hätte also immer und überall etwas passieren können. Wobei ich aber der Meinung bin, dass man das gar nicht hätte verhindern können, wie der Fall Buback gezeigt hat: Wenn Terroristen jemanden totschießen wollen, dann helfen all die Sicherheitsmaßnahmen sehr wenig. Das war schon eine schwierige Zeit für uns und das war vor allem für die Kinder schwierig. Toepsch: Die damals eben auch mit Personenschutz leben mussten. Liselotte Vogel: Die Kinder haben es überhaupt nicht gemocht, morgens abgeholt und in die Schule gebracht zu werden und nachmittags heimgebracht zu werden. Sie mochten es verständlicherweise überhaupt nicht, immerzu sagen zu müssen, was sie vorhaben. 12-, 13-Jährige wissen doch morgens um acht noch nicht, was sie am Nachmittag tun wollen. Das war schon eine große Einschränkung für die Kinder. Toepsch: Das war letztlich auch eine Einschränkung der Lebensqualität. Liselotte Vogel: Ja, genau. Toepsch: Sie selbst haben ja hauptsächlich ehrenamtlich gearbeitet und haben die "Pfennigparade" in München mit aufgebaut, wenn ich das so sagen darf. Ich denke, man sollte die "Pfennigparade" hier kurz vorstellen. Sie ist zwar bekannt, aber man weiß nicht so genau, was da alles wirklich passiert. Liselotte Vogel: Es würde die Sendung sprengen, wenn ich aufzählen würde, was dort mittlerweile alles passiert. Die "Pfennigparade" geht auf eine amerikanische Erfindung zurück: Sie hat sich nach dem Vorbild des amerikanischen "March of Dimes" gegründet: Das ist eine Organisation, die 1938 entstand und bei der man Geld für Polioopfer sammelte, also Geld für Kinderlähmungsopfer. Aus diesem 1952 in München gegründeten Verein "Pfennigparade" ist zunächst eine Beratungsstelle für Polioerkrankte entstanden; dann fing man an, konkret etwas für diese Leute zu tun. Das Erste war, dass für die Atemstation im Schwabinger Kinderkrankenhaus Unterricht für die Kinder organisiert wurde. Denn diese Kinder konnten wegen ihrer Erkrankung ja nicht mehr nach Hause und haben praktisch im Krankenhaus gelebt. Der nächste Schritt war, ein Haus zu bauen, in dem man solche Kinder wieder mit ihren Familien zusammenführen konnte. Darin bestand der erste Bauabschnitt der "Pfennigparade": Das waren Ein- bis Vierzimmerwohnungen, in denen Familien mit atemgelähmten Kindern leben konnten oder auch mit Kindern mit anderen Einschränkungen. Darüber hinaus hat man auch versucht, Erwachsenen mit Kinderlähmung eine Anstellung zu ermöglichen: Wir hatten damals einen Hausmeister, der kindergelähmt war; auch am Telefon hatten wir eine kindergelähmte Frau. Daraus ist im Laufe der Zeit immer mehr und mehr entstanden. Das nächste Problem war, dass diese Kinder mit verschiedensten Behinderungen ja auch in die Schule gehen mussten: Es entstand zunächst eine Grundschule und dann eine weiterführende Schule. Mittlerweile gibt es auch eine Fachoberschule, genauer gesagt sogar eine integrierte Fachoberschule, es gehen also auch nicht-behinderte junge Menschen in diese Schule, um dort ihren Abschluss zu machen. Als damals dann die ersten behinderten Kinder mit der Schulausbildung fertig waren, mussten sie selbstverständlich auch im Beruf untergebracht werden. Also hat man Werkstätten gegründet. So ist aus diesem Haus, das am Anfang aus einem Büro mit zwei kleinen Zimmern bestand, an der Münchner Barlachstraße ein riesengroßer Komplex entstanden, der nun auch Filialen in anderen Städten Deutschlands hat, in denen behinderte Menschen leben, arbeiten und ihr Geld verdienen können. Toepsch: Und für das alles musste ja vor allem auch Geld gesammelt werden. Liselotte Vogel: Ja, da musste Geld gesammelt werden. Die Spendenbereitschaft war gleich zu Beginn sehr groß. Es musste aber auch damals immer wieder dafür gesorgt werden, dass genügend Spenden hereinkommen. Aber für die Bauvorhaben und für den Aufbau dieser Schulen gab es selbstverständlich öffentliche Zuschüsse. Toepsch: Wenn ich das richtig nachgelesen habe, dann haben Sie beide sich ja über Ihren Wunsch, Frau Vogel, ehrenamtlich zu arbeiten, kennengelernt. Ist das richtig so? Liselotte Vogel: Ja, in etwa. Es war jedenfalls so, dass ich damals, als das alles anfing, nicht berufstätig war: Ich hatte zwei Töchter und war bereits sozial engagiert. Aber das hat mich irgendwie alles nicht mehr befriedigt und in den Schuldienst wollte ich nicht, denn vom Studium her bin ich ja Germanistin. Ich dachte mir also, dass ich eine für mich befriedigende Tätigkeit finden müsse. Ich ging daher ins Rathaus – wir beide kannten uns bereits aus dem gesellschaftlichen Bereich – und habe nachgefragt: "Wissen Sie etwas, das ich tun kann?" Er hat mir zunächst einmal vorgeschlagen, ich solle in eine Partei eintreten. Hans-Jochen Vogel: Sich also politisch zu engagieren! Toepsch: Natürlich. Sie haben ihr bestimmt geraten, in die SPD einzutreten. Hans-Jochen Vogel: Ich hätte das jedenfalls begrüßt. Liselotte Vogel: Ja, ja. Ich habe seine Partei zwar immer gewählt, aber eintreten wollte ich eigentlich nicht und ich wollte mich ja auch nicht politisch engagieren. Denn ich bin eigentlich ein sehr ungeduldiger Mensch und wäre daher in der Politik nicht gut aufgehoben. Er meinte dann, wenn ich nicht in eine Partei gehen möchte, dann könnte er sich etwas anderes für mich vorstellen, denn es gäbe da einen Verein, die "Pfennigparade", die es damals bereits gab und in der ich mitarbeiten sollte. Er schrieb dann dem Leiter der "Pfennigparade" einen Brief und ich stellte mich dort vor. Ich wurde gründlich beäugt und schließlich auch genommen, weil ich ein Auto zur Verfügung hatte. Damit konnte ich nämlich Besuche in ganz Bayern machen: bei Kindergelähmten, wo wir nicht so recht wussten, was da wirklich los ist und ob man sie nach München holen kann bzw. soll, ob man ihnen eine Ausbildungsstelle vermitteln soll usw. Toepsch: Und so kam das Ganze ins Rollen. Sie haben soeben gesagt, dass Sie ungeduldig sind. Wird man denn im Alter ungeduldiger oder geduldiger? Liselotte Vogel: Ich muss sagen, die Mär, dass man im Alter weiser wird, kann ich für mich selbst nicht bestätigen. Toepsch: Man wird also im Alter nicht gescheiter. Liselotte Vogel: Nein, leider nicht, ich bin sozusagen in keiner Weise weise geworden. Toepsch: Wie ist das bei Ihnen? Hans-Jochen Vogel: Man wird erfahrener. Das Adjektiv "weise" würde ich auch für mich nicht verwenden. Es gibt eben immer wieder Dinge, die man schon einmal erlebt hat und bei denen man aufgrund der eigenen Erfahrungen dann auch klarere Vorstellungen davon hat, wie man sich verhalten sollte, wie man helfen kann usw. Bin ich ungeduldig? Das ist unterschiedlich, es gibt Felder, in denen ich geduldiger bin als früher. Aber im persönlichen Umgang bin ich, glaube ich, manchmal genauso ungeduldig wie immer schon. Es gibt da z. B. ein Thema, das ich hier freilich nur andeuten möchte. Wir beide hören nicht mehr so gut wie früher. Es ist für die Kommunikation manchmal eben schwierig, wenn man den anderen häufig bitten muss, das Gesagte noch einmal zu wiederholen oder etwas näher heranzukommen, damit man besser versteht, was er sagt. Liselotte Vogel: Stimmt, das haben wir noch nicht so recht gelernt. Aber ich denke, das wird sich noch bessern. Hans-Jochen Vogel: Wir nehmen, was diese Sache leichter macht, dieselbe Entwicklung diesbezüglich. Toepsch: Wie sieht es denn in diesem Wohnstift aus, wenn Sie krank werden? Was passiert dann? Liselotte Vogel: Es gibt dafür klare Regeln. Wenn ich eine landläufige Krankheit habe, wenn ich also z. B. eine Grippe oder eine Darmgeschichte oder so habe, dann wird man im Haus 14 Tage pro Jahr umsonst gepflegt. Man ruft also an … Toepsch: Das heißt, man kann während dieser Krankheit in der Wohnung bleiben. Liselotte Vogel: Ja, man bleibt in der Wohnung und ruft dann z. B. beim Empfang an; die schicken dann jemanden von der Pflegeabteilung, der sich um einen kümmert. Es ist in diesen Häusern nun einmal so, dass es häufig Darmerkrankungen gibt, die sich sehr schnell verbreiten. Vor einem Jahr hat es z. B. uns beide ebenfalls erwischt. Aber das Ganze wurde dort im Stift hervorragend gemanagt. Wir wurden wirklich gut versorgt in dieser Zeit. Toepsch: Muss man denn über diese 14 Tage pro Jahr hinaus etwas bezahlen? Muss man auch andere Leistungen bezahlen? Denn die Frage nach dem Geld muss hier in unserem Gespräch notwendigerweise kommen: Nicht jeder kann sich einen Platz in einem solchen Wohnstift leisten. Liselotte Vogel: Das muss man ganz deutlich dazusagen: Wir, die Bewohner dieses Stifts, sind sehr privilegiert. Es gibt zwar auch Heime, die gut sind und nicht das Preisniveau wie bei uns haben – das sagt sogar Herr Fussek, der berühmte Pflegekritiker –, denn die Qualität eines Hauses hängt nicht unbedingt von dessen Preis ab. Toepsch: Sie haben sich in Ihrem Buch in fast dem ganzen letzten Drittel ja auch die Mühe gemacht, Heime und Preise zu vergleichen. Liselotte Vogel: Ich vergleiche nicht konkrete Heime, sondern ich bringe Preisbeispiele, um aufzuzeigen, was ein Heim oder eine Pflege zu Hause kosten kann. Toepsch: Ich glaube, diese Aufstellung ist wirklich sehr, sehr nützlich. Wie haben Sie denn das alles zusammengetragen? Das muss ja eine unglaubliche Arbeit gewesen sein. Liselotte Vogel: Bei diesem Pflegeteil hat mir jemand geholfen, denn das hätte ich alleine nicht gekonnt. Toepsch: Ein Kapitel in Ihrem Buch beschäftigt sich mit dem Altern als Frau. Ist das in unserer Gesellschaft besonders schwierig? Hans-Jochen Vogel: Ich darf aber jetzt schon da bleiben, gell? Toepsch: Ja. Liselotte Vogel: Das sind ja keine Geheimnisse, wie du weißt. Ich bin jedenfalls eine vehemente Gegnerin des Jugendwahns, der bei uns herrscht. Ich empfinde es nicht nur als albern, sondern sogar als schrecklich, wenn sich 14-, 15- jährige Mädchen überlegen, ob sie sich in der plastischen Chirurgie ihre Nase oder sonst etwas richten lassen sollen, weil sie sich als nicht schön genug empfinden. Da ist irgendetwas falsch gelaufen: Das rührt von einem Mangel an Selbstbewusstsein, den ich mir zu unserer Zeit in meiner Jugend überhaupt nicht hätte vorstellen können. Das ist wirklich etwas, das ich geradezu als verabscheuungswürdig empfinde. Ich finde auch Werbungen lächerlich, die behaupten, man könne mit irgendeiner Anti-Aging-Creme Falten beseitigen. Toepsch: Die haben wir uns ja schließlich schwer erarbeitet, oder? Liselotte Vogel: Das ist einfach ein Schwindel. Und überhaupt, Sie haben recht: Man hat Falten und die hat man im Laufe eines langen Lebens wirklich gesammelt. Toepsch: Was würden Sie sich denn wünschen, was im Hinblick auf das Alter bei uns anders laufen sollte? Wo könnte man ansetzen, damit wir diesen Jugendwahn, unter dem ja speziell die Frauen leiden, endlich los werden? Liselotte Vogel: Das weiß ich nicht, das müssen die jungen Leute schon selbst machen. Das muss von unten her kommen, sie müssen selbst sagen: "Diesem Diktat unterwerfen wir uns einfach nicht mehr!" Das ist genau das gleiche Problem wie bei den Models, die doch alle magersüchtig sind. Magersucht ist eine wirklich grauenhafte Krankheit, die man nur ganz, ganz schwer wieder loswerden kann. Hans-Jochen Vogel: Aber ein bisschen einwirken auf die jüngere Generation können die Damen schon, und du hast das ja auch mit deinem Buch und mit den entsprechenden Bemerkungen getan. Man muss also nicht nur zuschauen: Wenn man von etwas überzeugt ist, dann kann man auch, wie du das gemacht hast, etwas tun dafür. Toepsch: Sie erzählen in Ihrem Buch aber auch von Ihrem früheren Leben, von Ihren Erfahrungen. Sie haben z. B. noch einen Teil des Kriegs selbst miterlebt: Ich habe diese Stellen mit sehr großem Interesse gelesen. Liselotte Vogel: Nun ja, meine "Karriere" als Kinderbuchkritikerin hat damit angefangen, dass ich … Toepsch: Darf ich das kurz erklären? Sie haben über viele, viele Jahre für die "Süddeutsche Zeitung" Kinderbücher besprochen. Liselotte Vogel: Genau. Diese "Karriere" hat damit angefangen, dass mir das Buch von einer Frau in die Hand gedrückt wurde, die genauso alt war wie ich. In diesem Buch beschrieb diese Frau das letzte halbe Jahr des Krieges, das sie im Arbeitsdienst verbrachte. Das war für mich wirklich fast so etwas wie eine Autobiografie: Dieses Buch faszinierte mich. Ich habe das dann der zuständigen Redakteurin mitgeteilt und die wiederum hat daraufhin zu mir gemeint: "Schreib doch gleich selbst eine Rezension!" Und damit fing das an. Ich bin leider nicht überzeugt davon, dass man solche Erfahrungen weitergeben kann. Ich habe z. B. ebendieses Buch meinem Enkel in die Hand gegeben, als er 17 Jahre alt wurde, denn ich bin damals mit 17 Jahren zum Arbeitsdienst nach Wagrein geschickt worden. Ich war einfach neugierig, was er sagen wird, wenn er dieses Buch liest. Er meinte nach der Lektüre zu mir: "Das ist sehr interessant, Oma, aber verstehen kann ich das eigentlich nicht!" Für Menschen, die ein, zwei Generationen später auf die Welt gekommen sind, ist vieles davon, ist vieles von diesen Kriegserlebnissen einfach nicht mehr nachvollziehbar. Toepsch: Das ist ja auch etwas Spezielles, das sind Erfahrungen, die auch ich als Nachkriegskind nicht mehr unmittelbar nachvollziehen kann. Wie hat denn diese Zeit damals Ihr Leben später geprägt? Hans-Jochen Vogel: Ich habe bis heute eine sehr intensive Erinnerung an diese Zeit. Ich war damals zwei Jahre lang Soldat: Ich bin verwundet worden, bin in die Gefangenschaft gekommen usw. Dass ich mich später für das Gemeinwesen so engagiert habe, hängt auch mit diesen Erfahrungen im Krieg, im "Dritten Reich" zusammen, denn der Schluss, den wir damals alle daraus gezogen haben, lautete: "Nie wieder!" Ich habe gerade deswegen auch die Ostpolitik von , die aus den Kriegsjahren und aus den Folgen der Kriegsjahre die entsprechenden Konsequenzen gezogen hat, von ganzem Herzen unterstützt. Die heutige Generation hält den Frieden für etwas Selbstverständliches. Wir jedoch wuchsen in einer Zeit auf, in der der Krieg etwas Selbstverständliches war. Man muss daher der jüngeren Generation immer wieder sagen: "Nehmt das nicht als selbstverständlich! Freut euch auch darüber, dass bei uns Frieden herrscht! Und engagiert euch, damit nicht neuerdings Konflikte zu so schrecklichen Folgen führen, wie wir das erlebt haben." Das gilt natürlich auch für das Verhindern von privater Gewalt oder von terroristischer Gewalt. Wenn man erlebt, wie der Kamerad neben einem fällt, also tot ist, dann vergisst man das nie wieder. Das darf nicht verdrängt werden, darüber soll nicht nur gelegentlich erzählt werden, nein, daraus müssen, so weit man das kann, auch Folgerungen gezogen werden. Toepsch: Sie haben das ja ein Leben lang gemacht. Heute sind Sie befreit von allen Ämtern, oder? Hans-Jochen Vogel: Ja. Toepsch: Aber nicht tatenlos. Mit welchem Thema beschäftigen Sie sich denn zurzeit? Hans-Jochen Vogel: In den letzten Wochen und Monaten haben natürlich der 9. November 1989 und die friedliche Revolution in der DDR eine Hauptrolle gespielt. Aber ich beschäftigte mich z. B. auch mit der gewaltigen Herausforderung, die die Bankenkrise und die daraus erwachsene Finanz- und Wirtschaftskrise für uns bedeuten. Ich versuche darzulegen, dass wir ohne eine Orientierung an Werten, die sich für uns aus der Menschenwürde ableiten, nicht leben können. Ich versuche auch darzutun, welche Folgerungen sich daraus ergeben. Darüber hinaus habe ich ja seinerzeit mitgewirkt bei der Gründung des Vereins "Gegen Vergessen - Für Demokratie", der die Erinnerung wach halten will, damit auch wirklich Konsequenzen aus diesen Erfahrungen erwachsen. Lessing hat ja viele kluge Sätze geschrieben und einer davon passt sehr gut in diesen Zusammenhang: "Sich erinnern bedeutet nicht, das Gedächtnis zu belasten, sondern den Verstand zu erleuchten." Bei diesem Verein engagiere ich mich bis heute ein bisschen. Toepsch: Das war fast schon ein wunderschönes Schlusswort. Wir sind am Ende unserer Sendung angelangt, dennoch hätte ich noch eine allerletzte Frage. In Ihrem langen Leben sind Sie beide ja bisher doch immer eher einzeln aufgetreten. In den letzten Jahren treten Sie nun zusammen auf: Wie fühlt sich das an? Hans-Jochen Vogel: Das musst du jetzt sagen. Liselotte Vogel: Für mich fühlt sich das absolut gut an. Ich muss sagen, dass ich es gelegentlich sogar genieße. Hans-Jochen Vogel: Das ist das beste Kompliment, das ich überhaupt erwarten konnte. Und mir geht es genauso. Toepsch: Was werden Sie denn als Nächstes machen? Eine Reise? Im Wohnstift etwas unternehmen? Hans-Jochen Vogel: Ich weiß nicht, ob ich das schon verraten darf, aber wir haben für Silvester eine geradezu kühne Idee gefasst. Es gibt ja hier in München ein sehr seriöses Reisebüro, dessen Namen ich jetzt aber nicht nennen will, um keine eventuelle Schleichwerbung zu betreiben. Dort gab es jedenfalls das Angebot, um Silvester herum drei Tage in Venedig zu verbringen, verbunden mit einem sehr schönen klassischen Konzert dort. Also haben wir uns gedacht, dass wir das doch mal auszuprobieren wollen. Toepsch: Dann wünsche ich Ihnen dafür ganz viel Spaß und Freude. Darüber hinaus wünsche ich Ihnen beiden natürlich auch weiterhin viel Glück und Zufriedenheit in Ihrem Wohnstift. Das war das alpha-Forum. Zu Gast war heute das Ehepaar Vogel, Liselotte und Hans-Jochen Vogel, das sich vor drei Jahren entschieden hat, in ein Wohnstift zu ziehen und dort, wie wir gehört haben, zufrieden und glücklich ist. Danke fürs Zuschauen, auf Wiedersehen bis zum nächsten Mal.

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