Marc Lacheny (Valenciennes)

Wechselseitige Diskurse über und Comédie Française von Laube (1849) zu Wildgans (1931)

[…] keine andere europäische Hauptstadt verkörpert wohl im 19. Jahrhundert dermaßen die Ambivalenz von Anziehung und Abstoßung wie Paris.1

Der Einfluss, den die französische Komödie vom 18. Jahrhundert an auf die Wiener Bühnen ausübte, ist wohl bekannt und zum Teil auch gut dokumentiert. Bereits gegen Mitte dieses Jahrhunderts bestand das Repertoire des Hofburgtheaters vorwiegend aus italienischer Oper und französischem Drama. Im 19. Jahrhundert kamen die Hauptanregungen weiterhin vor allen Dingen von Paris: Als Impulse dienten dabei nicht mehr die Stücke des klassischen französischen Repertoires aus dem 17. und 18. Jahrhundert, sondern die modischen ,comédies-vaudevilles‘, ,comédies à la Scribe‘ und ,comédies de boulevard‘. Die Wiener – und Berliner – Theaterdirektoren hatten in Paris, der „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ (Walter Benjamin), ihre Agenten, die ihnen die beliebtesten französischen Stücke zukommen ließen, welche dann schnell übersetzt oder bearbeitet wurden und in deutschen oder österreichischen Verlagen im Druck erschienen. Dieser „Markt des Theateraustauschs“ (Jeanne Benay) bahnte sich schon in den 1820er und 1830er Jahren an und gelangte in den 1840er Jahren zu voller Blüte. Um nur ein frappierendes Beispiel unter vielen für den konkreten Einfluss von Paris auf Wien2 anzuführen: Viele französische ,comédies-vaudevilles‘ wurden zu dieser Zeit nach Österreich exportiert und landeten schnell auf dem Programm der Wiener Vorstadttheater. Diese auffallende ,Gallomanie‘ Wiens trifft man etwa bei

1 Alice Bolterauer: „Das Geld, die Liebe und die Kunst oder Kein Pariser Leben. Drei Erzählungen von Ignaz Franz Castelli, Betty Paoli und Adalbert Stifter“. In: Österreich in Geschichte und Literatur 50. 2006. 226-237. Hier 227. 2 Ein ähnliches Phänomen ließe sich übrigens auch in London oder feststellen, wo Louis Angely ebenfalls ,comédies-vaudevilles‘ als Vorlagen benutzte. an, dessen Stücke zu einem Drittel auf französischen Vorlagen – insbesondere auf beliebten französischen Romanen und Vaudevilles – beruhen, v. a. auf Werken von Paul de Kock, Louis Picard, Félix-Auguste Duvert, Auguste- Théodore Lauzanne, Jean-François Bayard, Mélesville und Joseph-Philippe Lockroy. Allein zwischen 1840 und 1845 beruhten nicht weniger als 8 Nestroy-Stücke auf ,comédies-vaudevilles‘.3 In diesem Punkt blieben die österreichisch-französischen Beziehungen einseitig: Während die französischen Stücke zum großen Teil das Repertoire der österreichischen Theater (in Wien, aber auch in der Provinz) anregten und prägten, kam in Paris von 1855 bis 1865 kein einziges österreichisches Stück auf die Bühne. Um 1900 hatte sich die Situation noch kaum verändert.4 Die Einführung bzw. Einverleibung französischer Quellen in Wien beschränkte sich allerdings weder auf die 1840er Jahre noch auf die kommerziellen Theater (, , Theater in der Josefstadt), sondern betraf auch das Burgtheater selbst (v. a. ab Mitte des 19. Jahrhunderts, in der Ära Laube). Eine solche Einbettung des Wiener Theaterbetriebs in den europäischen, ja internationalen Kontext des Unterhaltungstheaters5 fordert dazu auf, den Austausch, die Parallelen und Beziehungen zwischen den Theatermetropolen Paris und Wien ab Mitte des 19. Jahrhunderts näher zu betrachten und sie neu zu hinterfragen, so wie auch deren Darstellung auf Diskursebene. In den Aussagen zu den beiden ältesten Bühnen Europas – die Comédie Française wurde 1680 gegründet, das Burgtheater über 60 Jahre später, 1741 – kann man verschiedene Diskursebenen unterscheiden: Es gibt einerseits den Diskurs der Theaterdirektoren und andererseits den der Schauspieler. Es besteht nämlich zum

3 Siehe hierzu Friedrich Walla: „,Da werden doch die deutschen Affen nicht lange zurückbleiben‘ – Neue französische Quellen zu Stücken Johann Nestroys“. In: Etudes Germaniques 51. 1996. 283-305. 4 Vgl. Robert Vilain: „ and France: Introduction“. In: Austrian Studies 13. 2005. 8. Grundsätzlich anders war die Situation im Bereich der Operette: Eine der beliebtesten Nestroy-Rollen im Jahre 1860 war eben die des Jupiter in Jacques Offenbachs Orpheus in der Unterwelt. Überhaupt spielte Nestroy eine wesentliche Rolle in der Einführung der satirischen Pariser Operette in Wien ab 1858. 5 Siehe hierzu insbesondere Johann Hüttner: Theater als Geschäft. Vorarbeiten zu einer Sozialgeschichte des kommerziellen Theaters im 19. Jahrhundert aus theaterwissenschaftlicher Sicht. Mit Betonung Wiens und Berücksichtigung Londons und der USA. 2 Bände. Habilitationsschrift Wien (unveröff.). 1982. –, W. E. Yates: „Internationalization of European Theatre: French Influence in between 1830 and 1860“. In: Austrian Studies 13. 2005. 37-54. –, Marion Linhardt, Residenzstadt und Metropole. Zu einer kulturellen Topographie des Wiener Unterhaltungstheaters (1858-1918). Tübingen: Niemeyer 2006. einen ein Diskurs, der die These einer Rivalität oder einer Suche nach dem Vorrang im symbolischen Raum des europäischen Theaters von 1850 bis 1930 zu bestätigen scheint: , der von 1849 bis 1867 das Burgtheater leitete, fungiert als Paradebeispiel hierfür. Zum anderen aber haben wir es mit einem zweiten Diskurs zu tun, der diesen scheinbar dominierenden Diskurs im Zeichen der Rivalität, ja der Feindseligkeit aufwiegt, relativiert und größtenteils widerlegt. Ein Musterbeispiel für diesen Sachverhalt stellt die enge Freundschaft zwischen dem renommierten Burgschauspieler Adolf [von] Sonnenthal und dem legendären Comédien Français Constant Coquelin dar. Zwischen einem Diskurs auf der Ebene der Theaterinstitutionen, bei dem das Symbolische im Vordergrund steht, und einem Diskurs auf der privaten Ebene, der sich vielmehr im Zeichen des Austauschs und der gegenseitigen Freundschaft und Bewunderung entfaltet, ist nicht selten eine weite Kluft festzustellen. Eben dieser Diskrepanz zwischen dem Diskurs der Theaterdirektoren und dem der Schauspieler über Comédie Française und Burgtheater sind die ersten zwei Teile dieses Beitrags gewidmet. Als Ausblick oder im Gegenteil vielleicht als Sackgasse in diesem Zusammenhang erscheint die Polemik Kraus’ gegen Wildgans und Auernheimer anlässlich von Molières 300. Geburtstag in Paris und Wien 1922.

1. Die Comédie Française als ,großer Rivale‘ des Burgtheaters?

Hinter all diesen Stellungnahmen der verschiedenen Direktoren des Burgtheaters von Laube zu Wildgans steht das beträchtliche Prestige der 1680 gegründeten Comédie Française. Davon zeugt etwa folgende Anekdote : Zu dem Erfurter Fürstenkongress mit Napoleon und Zar Alexander im Jahre 1808 wurde der legendäre Comédien Français Talma eingeladen, der vor den Herrschern folgenden Vers aus Corneilles Œdipe sprach: „L’amitié d’un grand homme est un bienfait des dieux.“ Darauf wandte sich Alexander zu Napoleon, um ihm die Hand zu schütteln.

 Einführung: Schreyvogel und das Burgtheater, Grillparzers Aussagen zur Comédie Française Von 1752 bis 1772 stand das Repertoire des Burgtheaters unter dem Einfluss von französischem Drama und ,opéra comique‘. Die Entfernung des Burgtheaters vom französischen Drama in den darauf folgenden Jahren und die Idee der Etablierung eines „nationalen Theaters“ – mit einem literarischen Drama in deutscher Sprache – sind eine direkte Folge der Übertragung des hamburgischen Experiments (das Hamburger Theater wurde 1767 gegründet) und der theoretischen Überlegungen Lessings in seiner Hamburgischen Dramaturgie auf Wien. Bekanntlich erhob Joseph II. das Burgtheater 1776 zum Nationaltheater (genauer: zum „teutschen National Theater“) und erließ zugleich die „Spektakelfreiheit“ (oder „Schauspielfreiheit“). Daraus ergab sich, dass das Theater ein ideologisch-politischer Gegenstand wurde, der zu einer kulturellen Emanzipierung von der bisher durch das französische Repertoire dominierten Hofbühne dienen konnte. Als erster machte Joseph Schreyvogel (1768-1832) das Burgtheater, das er von 1814 bis 1832 als Dramaturg sozusagen leitete, zur führenden deutschsprachigen Bühne. Zugleich ging es ihm darum, ein Programm des internationalen Dramas zu bieten und aus der Burg ein Theater europäischen Ranges zu machen6, das „[might] be said to correspond with the Théâtre Français at Paris“ [Handbook for Travellers in Southern . London: John Murray 1837. 133]. Schreyvogels Interesse galt einerseits der Weimarer Klassik – insbesondere Goethes Werk – und andererseits dem ,Weltrepertoire‘: Meisterwerken aus England (Schreyvogel selbst bearbeitete mehrere Stücke von Shakespeare), Spanien (er bot auch freie Bearbeitungen von Moreto und Calderón, wobei hier daran erinnert sei, dass Das Leben ein Traum zum ersten Mal Schreyvogel und Grillparzer zusammenbrachte), Frankreich (Molières Tartuffe 1818 und Les Femmes savantes 1819 waren zwar wenig erfolgreich, aber zahlreiche andere Komödien aus Frankreich, z. B. Stücke von Picard und Scribe, wurden zu dieser Zeit ins Programm

6 Zu der zentralen Bedeutung von Schreyvogel für das Burgtheater, siehe auch W. E. Yates: Theatre in Vienna. A Critical History 1776-1995. Cambridge: Cambridge University Press 1996. 51-59. des Burgtheaters aufgenommen), Deutschland (auf dem Programm standen die damals modischen deutschen Dramatiker, wie Müllner und Raupach). Schreyvogels Hauptzweck war es doch, bedeutende Stücke von jungen österreichischen Dramatikern zu fördern: Grillparzer natürlich, aber auch Zedlitz, Deinhardstein und Bauernfeld. Nur auf der Grundlage dieser Arbeit Schreyvogels an einer Erweiterung und Bereicherung des Burgtheater-Repertoires ist der Vergleich, den wir im Folgenden mit der Comédie Française anstellen möchten, denkbar. Um das Thema Wechseldiskurse über Burgtheater und Comédie Française bzw. über Wiener und Pariser Theaterleben noch näher zu beleuchten, eröffnet die Untersuchung von Franz Grillparzers Reisetagebüchern (1836) und Selbstbiographie (1853) interessante Perspektiven. Während Grillparzer behauptet, in Wien so gut wie nie ins Theater zu gehen, besucht er anlässlich seines Frankreichaufenthalts 18367 immer wieder die Pariser Theater: Opéra, Théâtre Français, Théâtre du Gymnase, Théâtre de la Porte Saint Martin, Palais Royal, Odéon, Théâtre du Vaudeville, Variétés, Cirque olympique. Es fällt auf, dass der Verfasser von Sappho großen Wert darauf legte, in Paris keine Theateraufführung zu versäumen. In Grillparzers Tagebuch auf der Reise nach Frankreich und England (1836) kommt eine frappierende Mischung bzw. Abwechslung von lobenden und polemischen Aussagen über die Comédie Française zum Ausdruck. Anlässlich seines allerersten Besuches in der Comédie Française bewunderte Grillparzer den Realismus des Bühnenbilds und die Qualität der Diktion der Schauspieler:

Der Vorhang ging auf – ein Gemälde lag vor mir da. Ein Zimmer mit einigen Bücherstellen [sic!], dunkel gehalten. Keine Koulissen, keine Suffiten, keine Seitenlampen, keine Einsicht zwischen die Wände; sondern eben ein Zimmer, wie man es in der Wirklichkeit sieht. Weit entfernt, daß man dasselbe von den Schauspielern sagen könnte. So spricht man nicht im Leben; aber man könnte allenfalls so sprechen. […] Das ist alles schärfer und betonter als im Leben, aber man will eben Aufmerksamkeit erregen. Die Wirklichkeit drückt sich mit Recht gemäßigt aus, denn sie hat die Unbestreitbarkeit ihres Wesens für sich, soll die Fikzion nichts thun, um das worin sie im Nachtheil steht, auszugleichen? Dazu kommt die Genauigkeit der Schule, die macht, daß nichts vor dem andern hervortritt und alles, gesteigert, aber harmonisch sich fortbewegt. Es ist als ob man eine Landschaft

7 Siehe hierzu ebenfalls W. E. Yates: „Grillparzer als Theaterbesucher in Paris und London“. In: Anzeiger der phil.-hist. Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 128. 1991. 75-95; Susan Doering: „Grillparzers Begegnung mit Paris – eine Reise-Erzählung in Tagebuchform“. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 96. 1992. 91; Jacques Lajarrige: „Grillparzer, voyageur malgré lui“. In: Austriaca 62. 2006. 85-111. Hier 97ff. durch ein gefärbtes Glas betrachtete. Die Luft flammt, die Bäume rötheln, alles spielt ins Feurige und Gelbe. Da der Ton aber allem gemeinschaftlich ist, so hat man wenig dagegen einzuwenden. Damit will ich dieser Schule nicht das Wort reden, sondern mir nur begreiflich machen, wie sie wirkt und wirken kann. So viel wenigstens ist gewiß, daß indeß bei unserer matten Natürlichkeit die Zuseher nach 3 Stunden sich bang nach Thür und Ausgängen umsehen, die Leute hier von 7 Uhr bis Mitternacht in immer gesteigerter Erwartung saßen und die Theilnahme eher stieg als sank. Die Individuen nicht eben bedeutend, bedeutend aber die allen gemeinschaftliche Schule. Der Beste vielleicht Firmin8, der den Don Juan gab. Er legte etwas Bäurisches in den komischen Theil der Rolle, das kaum darin liegen dürfte, aber zur Individualisirung diente. Mad. Volays oder wie sie hieß, vortreffliche Momente, aber von der Art wie sie alle französischen Schauspielerinen haben. Die Armbewegungen mit dem ganzen Arme machen viele Wirkung. […] König Philipp sang gar zu sehr, auch sonst nichts bedeutendes. Don Juans Erzieher gegen das Ende zu immer besser. Der Schlechteste Karl V. Wie ein reduzierter Dragoner-Offizier, der in einem Kloster das Gnadenbrot genießt et qui s'en moque. Ein junger Laienbruder, Mlle Anais9 recht gut, nur noch mehr hervortretend, als wohl der Dichter selbst wollte und viel mehr als die Sache erforderte. Das Stück ist in Prosa, die Schauspieler sprechen aber durchaus als ob es Verse wären. Von den Dekorazionen, dem Künstlerischen von Kostüme, Anordnung, Bewegungen und Stellungen (immer mit Ausnahme Karls V) läßt sich nicht genug Gutes sagen. Das Stück sah sich mitunter an als ob es etwas Besonderes wäre, was es doch, bei Gott! nicht ist. Die Aufmerksamkeit des Publikums bis ans Ende (1/2 1 nach Mitternacht) bewundernswürdig, aber eben so merkwürdig die Unzahl von Streitigkeiten, vor allem wegen der Plätze. Hinter mir forderten sich ein Paar.10

Etwas ferner zieht Grillparzer eine in unserem Kontext interessante Parallele zwischen zwei namhaften Schauspielerinnen, Mlle Mars11 und Julie Sophie Löwe12, bevor er seine Bemerkungen über diese Darstellerinnen auf eine Kritik der französischen Schauspielkunst überhaupt erweitert:

Da die Mars, die gewöhnlich nicht mehr auftritt, im Theater Odeon zum Benefiz eines Akteurs spielt, im Fiaker hinaus. Kamen um ½ 9 Uhr eben zurecht, um eine Mlle Reisner auf der Blasbalgharmonika (Accordéon) recht hübsch spielen zu hören. Dann sang ein Herr abscheulich zwei Romanzen. Hierauf Mlle Mars in der Gageure imprévue. Hat meine Erwartungen nicht erreicht. Md. Löwe in ihrer guten Zeit war mir lieber. Überhaupt will mir was ich von der haute comédie gesehen, nicht recht ein. Der Franzose ist in allen Künsten nur da ausgezeichnet, wo er sich unbekümmert seiner Natur überläßt, wie ihm einmal das Wort Kunst in den Kopf steigt, macht er die wunderlichsten Schnirkel. Mlle Mars gibt den vornehmen Ton noch abgeschliffener und farbloser als er ist. Man glaubt Flöhe husten zu hören und man greift im Leeren herum wie Einer dem die Luft ausgeht.

8 Becquerel, genannt Firmin (1787-1859), debütierte mit 13 und spielte ab 1811 an der Comédie Française. Er stellte vor allem klassische Verliebte und Helden in modernen Stücken dar. 9 Anaïs Aubert, alias Mlle Anaïs (1802-1871), debütierte mit 14 an der Comédie Française. Bis zu ihrem Rückzug 1849 spielte sie die Rolle der Naiven. 10 : Tagebücher IV, II/10. In: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von August Sauer und Reinhold Backmann. 42 Bände. Wien: Gerlach & Wiedling und Schroll 1909-1948. 10ff. In Hinkunft mit Seitenzahl im fortlaufenden Text zitiert. 11 Mlle Mars (1779-1847) war eine der großen Schauspielerinnen des romantischen Dramas an der Comédie Française. Sie spielte insbesondere in Stücken von Dumas, Vigny und Hugo. 12 Julie Sophie Löwe (1786-1852) war von 1813 bis 1842 im Burgtheater, wo sie im höheren Lustspiel und im Konversationsstück glänzte. Übrigens kann man von einemmale kein Urtheil fällen, auch war Stück und Umgebung ziemlich langweilig. Mlle Mars dagegen sehr gut in Valerie13, was bei uns Gabriele heißt. Die Sechzigjährige so zart, warm, weich, furchtsam, liebenswürdig. Das Entzücken nach vollbrachter Augenkur dagegen, schwach, und für jeden Fall unter der Aufgabe. [Grillparzer: Sämtliche Werke. Tagebücher IV. II/10. 44]

Ein drittes und letztes Mal in seinem Tagebuch kommt Grillparzer auf die Comédie Française zu sprechen, wobei hier ein Gipfel an Widerwillen gegen das dargebotene Schauspiel erreicht wird:

[…] Dann verließ ich Brandt und gieng ins théâtre français, wo man Delavignes14 neuestes Trauerspiel in einem Akt: Une famille au tems de Luther und ein Lustspiel: Les deux Anglais15 gab. Über ersteres enthalte ich mich zu reden; ja ich will versuchen, in Zukunft auch nicht mehr daran zu denken. Wäre mir nicht manches entgangen, so würde ich es eine bis zum Unsinn gesteigerte Gräßlichkeit, oder einen bis zur Gräßlichkeit gehenden Unsinn nennen. So aber bescheide ich mich und bin froh, daß es überstanden ist. Hatte die hiesige Darstellungsweise mir neulich imponirt, so mußte ich dafür heute das Lehrgeld zahlen. Ligier16, der tragische Schauspieler par excellence, ist, wie alle, in den gehaltenen Momenten gut, oft sehr gut. In den Ausbrüchen aber schlägt er eigentliche Triller der Wuth. Er dehnt nämlich die letzte Silbe des prägnanten Wortes ungeheuer, heult nach Möglichkeit und füllt den Zwischenraum mit einer Art Trommelwirbel aus. […] Das macht nun, so oft es vorkommt, auf die Zuseher einen solchen Eindruck, daß sie in vollem Sturm losbrechen, und ich nicht begreife, warum die übrigen Schauspieler es ihm nicht nachthun, da es die leichteste Sache von der Welt ist. Aber nur die Mutter Mde Dorval17 trat in Wettkampf mit ihm und traf es mitunter ganz genau. […] Einen angenehmen Eindruck machte anfangs Mde Plessy.18 Schön aussehend, mit einem Organ und einer Aussprache, wie kein deutsches Theater es aufzuweisen hat, schien sie ein Himmelslicht unter diesen Höllenbreughels; gegen das Ende aber nahm sie sich zusammen und that einige Quitsche und Nothsignale, daß mein Mittagmahl sich mir im Leibe umkehrte und ich glaubte, der Eine der Brüder habe im Eifer des Spiels dem Andern wirklich das Messer in den Leib gestoßen. Ein paar Franzosen, die neben mir sassen, und mit denen ich mich recht gut unterhielt, meinten: c’est horrible, mais c’est beau. Auf meine bescheidenen Zweifel, ließen sie doch mit sich handeln und äußerten die Überzeugung, daß diese gräßliche Epoche der Literatur bald vorüber seyn werde, wie denn das Publikum schon anfange, das Ding satt zu haben.

13 Das Stück Valérie l’Aveugle, eine Komödie in drei Akten von Scribe und Mélesville, war im Théâtre Français erfolgreich uraufgeführt worden. 14 Casimir Delavigne (1793-1844) war zuerst ein liberaler Dichter. Sein größter Erfolg war Les Vêpres siciliennes (1819) im Théâtre de l’Odéon, die dem Modell der historischen Tragödie entsprachen. 15 Une famille au temps de Luther, ein tragischer Einakter, wurde im April 1836 uraufgeführt; Les deux Anglais, eine Komödie in drei Akten von Camus, genannt Merville (1785-1853), erzielte viel Erfolg. 16 Ligier (1796-1872) spielte an der Comédie Française vorwiegend Verräter- und Heuchler-Rollen, und wußte seine Häßlichkeit auszunutzen, um seinen Rollen eine besondere Energie zu verleihen. 17 Marie Dorval (1798-1849), ab 1835 Mitglied der Comédie Française und 7 Jahre lang Vignys Mätresse, verkörperte mit gewaltigem Erfolg die großen romantischen Heldinnen. Théophile Gautier schrieb zu ihr: „elle possédait un charme suprême, un charme irrésistible […]. Elle avait des accents de nature, des cris de l’âme qui bouleversaient la salle“. 18 Mme Arnould-Plessy (1819-1897) spielte im Théâtre Français die großen coquettes und Marivaux’ Heldinnen-Rollen. Das Lustspiel Les deux Anglais ist auch in Wien schon gegeben worden. Die Darstellung war im allgemeinen nicht besser als bei uns, weshalb ich mich auch langweilte wie bei uns und das Ende kaum abwarten konnte. Höchstens möchte man Perrier, der den Lord spielte, vorzüglich nennen. Im Ganzen finde ich überhaupt das sogenannte höhere Lustspiel durchaus unbedeutend. Ich glaube, es ist in Wien besser, wenigstens entspricht es durchaus seinem Rufe nicht. Nur die Schauspieler der kleinen Theater sind vortrefflich. Nicht blos die Hauptpersonen die die foule machen; Alle, Alle. [Grillparzer: Sämtliche Werke. Tagebücher IV. II/10. 63f.]

In seiner Selbstbiographie, die ein paar Jahre nach den Reisetagebüchern verfasst wurde, ergänzt Grillparzer seine ersten Eindrücke über die Comédie Française und akzentuiert noch den Gegensatz zu Gunsten der Wiener Bühnen:

Wenn ich in Wien nie ins Theater gieng, gieng ich beinahe täglich in Paris. Der Unterschied interessirte mich. Das théâtre français war damals ganz im Verfall. Talma war tot und die Rachel noch nicht erschienen. Die Mars spielte nur noch bei einzelnen Gelegenheiten. Ich sah sie in den falschen Vertraulichkeiten, einer ihrer Glanzrollen, wo ich mir aber sagen mußte, daß Mad. Löwe in Wien mir beßer gefallen hatte, selbst was die Haltung und die Feinheit des Spiels betrifft. Dagegen war sie in der blinden Gabriele, deren sentimentale Jugendlichkeit mit ihren sehr vorgerückten Jahren im schreiendsten Kontrast hätte stehen sollen, unübertrefflich. Das Übrige war mittelmäßig und wenn sie tragierten widerlich. Ligier ist ein gräßlicher Mensch. Am Besten geriethen ihnen noch neuere Tragödien, aber eine von Racine, die sie gaben, sah sich an wie ausgewaschener Kattun. Desto beßer waren die kleinen Theater. Was der Franzose selbst beobachten kann, das stellt er mit Meisterschaft dar, aber das Stylisiren und Idealisiren gelingt ihm durchaus nicht.19

Bei Grillparzer fällt also eine Mischung von lobenden und kritischen Bemerkungen über das Théâtre Français auf, die den zweideutigen Diskurs Heinrich Laubes über die Comédie Française vorwegnimmt.

 Im Zeichen der Rivalität? Heinrich Laube20 und die Comédie Française Schreyvogels wohl bedeutendster Nachfolger an der Spitze des Burgtheaters im 19. Jahrhundert, Heinrich Laube (1806-1884), setzte dessen ,Werk‘ fort, indem er als ,artistischer Director‘ die Qualität der Schauspielertruppe noch erhöhte und das Repertoire weiter bereicherte. Als Laube 1849 Direktor des Burgtheaters wurde, sah er sich mit erheblichen finanziellen Problemen konfrontiert, die dringend überwunden werden mussten,

19 Franz Grillparzer: Selbstbiographie. Hrsg. von Arno Dusini. und Wien: Residenz Verlag 1994. 189f. 20 Zu Laube und dem Burgtheater, siehe erneut Yates (Anm. 6), 63-76. wobei Laubes Motto lautete: „Die Ausstattung knapp, die Ausführung reich!21“ Diese ,Rehabilitierung‘ des Burgtheaters nach Deinhardsteins (1832-1841) und Holbeins (1841-1849) Direktionszeit unternahm Laube einerseits durch ein ästhetisch gesehen anspruchsvolles Programm, das neue Produktionen der großen deutschen Klassiker Goethe, Schiller und Lessing enthielt, aber auch Shakespeare, ganz zu schweigen von erfolgreichen Wiederbelebungen von Grillparzers Stücken, andererseits durch die Einführung zeitgenössischer ausländischer Stücke, v. a. Sitten- und Konversationsstücke22 aus Frankreich, die Laube im Spielplan des Burgtheaters besonders pflegte. Ein fester Bestandteil des Repertoires, etwa ein Viertel der gespielten Stücke23, waren nämlich Übersetzungen24 bzw. Bearbeitungen von französischen Unterhaltungsstücken (Komödien und sozialen Dramen): Emile Augier ((1820- 1889): Le fils de Giboyer (1862), ein Stück, in dem Augier den Klerus angreift und das dabei großes Aufsehen erregte, hielt Laube für „das beste Stück […] in der neuen Komödienliteratur der Franzosen“ [Laube: Schriften über Theater. 635]), Théodore Barrière (1823-1877, Autor von Vaudevilles und Melodramen), Jean-François Bayard (1796-1853, Verfasser von über 200 Stücken), Alphonse Daudet (1840-1897, jetzt noch als Autor der Lettres de mon moulin berühmt), Alexandre Dumas (1824- 1895), Octave Feuillet (1821-1890), Delphine de Girardin (1804-1855, Verfasserin von Komödien und neoklassizistischen Tragödien), Henri Meilhac (1831-1897, Verfasser mit Ludovic Halévy von etwa 50 Stücken) oder Victorien Sardou (1831- 1908, „l’Empereur du théâtre“ genannt, Verfasser von historischen Komödien). Der Hauptlieferant französischer Stücke in dieser Zeit war aber Eugène Scribe (1791-1861, Autor von mehr als 400 Stücken!), mit Labiche und Feydeau

21 Heinrich Laube: Schriften über Theater. Hrsg. von Eva Stahl-Wisten. Berlin (DDR): Henschel 1959. 637. In Hinkunft mit Seitenzahl im fortlaufenden Text zitiert. 22 Unter dieser Bezeichnung versteht man eine Art von Sittenkomödie, in der die Kunst der gesellschaftlichen ,Konversation‘, also ein natürliches Spiel, im Vordergrund steht. 23 Laut Katharina Halczak [Burgtheater und Comédie Française. Zwei Traditionsbühnen an der Wende zum 20. Jahrhundert (1887-1914). Diss. Wien (unveröff.). 1968. 440] betrug die Zahl der französischen Autoren ein Viertel aller aufgeführten Dichter und deren Werke sogar ein Drittel der gesamten Aufführungen. 24 Zu den Übersetzern französischer Salonstücke, die in der Direktionszeit Laubes für das Burgtheater arbeiteten, gehörte etwa die berühmte Schriftstellerin und Journalistin Betty Paoli (1814-1894) unter dem Namen Branitz. einer der Meister des französischen ,vaudevilles‘: Mit 77 Inszenierungen sollte er zum meistgespielten französischen Autor an der Burg im 19. Jahrhundert werden. Auf die Vorwürfe der Kritiker (etwa Franz Xaver Riedl in Bäuerles Theaterzeitung), die Laube aus diesem Grund für einen „Förderer der Franzosen“ zum Nachteil der einheimischen Dichter hielten, antwortete dieser knapp: „Um die Franzosen ist es uns nicht zu tun, sondern um das Schauspiel der Gegenwart.“ [Laube: Schriften über Theater. 289] Die Lustspiele von Scribe, Meilhac und Sardou seien „so unbefangen europäisch lustig, wie man nur wünschen kann.“ [Laube: Schriften über Theater. 291] Zu Beginn seines Essays „Eugène Scribe und unser Lustspiel“ (1843) rechtfertigt Laube noch genauer seinen Hang zum französischen Lustspiel, hier auf Kosten des englischen Dramas:

Hier ist das Verhältnis ganz und gar anders, als wir’s zwischen Shakespeare und uns gefunden haben. Es ist geradezu umgekehrt. Unsere immer poetische Neigung harmoniert mit dem Engländer und harmoniert nicht mit dem Franzosen. Der englische Formgeschmack wird uns mehr und mehr ungenießbar, der französische ist prompt, sauber, verlockend, und mußte deshalb in dem leichten Spiel der Täuschung, im Lustspiele, die Oberhand gewinnen. Selbst daß er leichtsinnig genannt werden darf und daß er dem Vorwurfe der Oberflächlichkeit sich nicht entziehen kann, selbst das hinderte nicht seine bei uns eindringende Übermacht. Er hat sich des Repertoires und des Publikums bemächtigt trotz der Kritik, besonders auch, weil England und wir selbst im heiteren Schauspiele mit Unfruchtbarkeit geschlagen zu sein scheinen. Eine so fein gebildete Form, wie die des französischen Lustspiels, läßt sich auch nimmermehr mit der bloßen Verneinung seitens der Kritik abweisen. Der tägliche Erfolg zeigt dies spöttisch genug. Ein Erfolg ist nur möglich, und kann nur günstig sein für unsere Nation und Literatur, wenn wir das Wertvolle französischer Form, so weit es unabhängig von einer uns widerstrebenden Nationalität, für uns, für einen uns gemäßen Inhalt gewinnen. Zu dem Ende ist es nötig, das Haupttalent der Franzosen unbefangen zu betrachten, unabhängig von unsern kritischen Vorurteilen zu zergliedern. [Laube: Schriften über Theater. 712f.]

Laube war sich dabei wohl bewusst, dass die Attraktivität eines Theaters von der Vielfalt des Programms abhängt. In einem Rückblick auf seine Jahre an der Spitze des Burgtheaters mit dem Titel Das Burgtheater (1868) konnte er sogar behaupten, dass diese Mannigfaltigkeit aus dem Burgtheater eine bedeutendere europäische Bühne machte als die Comédie Française selber: „Das Burgtheater hat seit einer Reihe von Jahren das umfassendste Repertoire geboten, nicht nur in Deutschland, sondern in Europa. Das Théâtre Français, unser großer Rival, kommt wegen seines formell abgeschlossenen romanischen Wesens nirgends über romanische Grenzen hinaus und kann sich nichts aus der Fremde aneignen, wie wir es vermögen. Und ein anderer Rival ist nicht vorhanden. Die deutschen Theater sind darin sämtlich zurückgeblieben, die englische Bühne ist verfallen und die spanische wie die italienische sind französiert.“ [Laube: Schriften über Theater. 177] Bei Hofmannsthal stehen einige Jahrzehnte später fast ähnliche Betrachtungen über Paris als einzige ,Rivalin‘ von Wien im Theaterbereich: „Wien war seit dem Ende des 18. Jahrhunderts […] nicht nur das theatralische Zentrum Deutschlands, und vermöge der dynamischen Zusammenhänge beinahe auch Italiens, sondern es hatte als Theaterstadt innerhalb der zivilisierten Welt überhaupt nur eine Rivalin: Paris.25“ Überall schwanken Laubes Bemerkungen zur Comédie Française in seinen Schriften zum Theater zwischen Polemik und Bewunderung für die französische Hauptbühne:

Das Théâtre Français hat sich seine gesellschaftliche Regierungsform fast immer leidlich bewahrt. Fast immer, nicht immer. Es hat auch schwere Zeiten des Zurückbleibens gehabt, wenn es Mitglieder besaß, denen der Geist fehlte und denen die kameradschaftliche Protektion höher stand als der Aufschwung des Instituts. Aber dem Théâtre Français ist Paris immer eine unversiegbare Hilfsquelle gewesen, Paris als Zentralsitz einer einheitlichen großen Bewegung der Geister. Von solcher Macht war Wien selbst unter Kaiser Joseph noch weit entfernt, wie sehr er den einheitlichen Geist zu fördern suchte durch grundsätzliche Einführung deutschen Kulturlebens. Und unter seinen nächsten Nachfolgern trat dies weiter und weiter in den Hintergrund. Das gesellschaftliche Regiment im Hof- und Nationaltheater, wie im späteren Burgtheater, entbehrte also jener unversieglichen Hilfsquelle von Paris, und die Regierung des Theaters durch Schauspieler blieb auf den Zufall angewiesen, ob unter den talentvollen Darstellern auch geistig schöpferische Männer einkehrten oder nicht, und ob solche Männer auch zugleich mit der Energie ausgerüstet wären, der eigennützigen Kameraderie die Spitze zu bieten. [Laube: Schriften über Theater. 120]

An anderer Stelle greift Laube den „hohlen Deklamationsstil französischer Schule“ an und unterscheidet ihn „von der natürlichen Vortragsweise Schröders“ [Laube: Schriften über Theater. 109] als Vorbild für ein in seinen Augen angemessenes Sprechen auf der Bühne. Woanders stehen aber die Sätze: „Den tragischen Vortrag der Franzosen, eine nationale Konvention, können wir nicht brauchen, wohl aber die Bildung des Sprechorgans, die klare Bestimmtheit der Aussprache, welche sie verlangen. Gerade darin sündigt der deutsche Schauspieler.“ [Laube: Schriften über Theater. 474] Gérard Gengembre schreibt dazu: „Le 19e siècle est celui de la promotion de l’acteur charismatique exerçant sur le public une

25 Hugo von Hofmannsthal: „Wiener Brief [I]“. In: HvH: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Hier: Reden und Aufsätze II (1914-1924). Hrsg. von Bernd Schoeller mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a. M.: Fischer 1979. 272. véritable fascination. Toute une tradition s’est instaurée, fondée d’abord sur l’art de la voix, alliance du timbre et de la virtuosité, tantôt magnifiée par des effets déclamatoires que nous jugerions aujourd’hui outranciers et ridicules, tantôt sublimée par la musicalité d’une diction, tantôt travaillée en force, tantôt en délicatesse subtile.26“ Eine so zweideutige Haltung – Überrepräsentation des zeitgenössischen französischen Konversationsstücks auf dem Programm des Burgtheaters vs kritisch- polemische Bemerkungen über die Comédie Française in seinen theoretischen Schriften zum Theater – spiegelt sich in Laubes Standpunkt zum französischen Drama überhaupt: Zum einen hatte er eine eindeutige Vorliebe für moderne französische Lustspiele, zum andern aber nahm er zwiespältig Stellung zu Molière und zur klassischen französischen Tragödie („Das gallische Wesen erscheint uns immer zu dünn, wenn es an die tragische Lösung kommt.“ [Laube: Schriften über Theater. 516]). Dadurch brach er klar mit dem französischen klassischen ,Geschmack‘, der im Burgtheater lange Zeit vorgeherrscht hatte. Racine und Corneille brachte er etwa nie auf die Bühne, Molière anscheinend nur widerwillig (und mit wenig Erfolg). Was Molière angeht, so war Laube nämlich der Meinung, dass die dargestellten gesellschaftlichen Verhältnisse überholt und dementsprechend uninteressant geworden seien [vgl. Laube: Schriften über Theater. 177]. Im Gegensatz dazu schätzte er in den zeitgenössischen französischen Stücken à la Scribe ganz besonders die Gestaltung und Ausdeutung der gesellschaftlichen Probleme seiner Zeit. Wie aus dem Essay „Eugène Scribe und unser Lustspiel“ [Laube: Schriften über Theater. 712-718] in aller Deutlichkeit hervorgeht, stand Laube insofern im Gegensatz zu den traditionalistischen französischen Kritikern, als er Scribe – als Meister der ,Komposition‘ – Molière vorzog. Anders ausgedrückt: In Laubes Augen kam Molière als Lieferant heiterer Stücke gleichsam deswegen nicht mehr in Frage, weil er ins Bild des modernen Lustspiels nicht mehr passte. Diese Zweideutigkeit dem französischen Drama gegenüber lässt sich differenziert begründen:

26 Gérard Gengembre: Le théâtre français au 19e siècle. Paris: Armand Colin 1999. 70. Einerseits war das zeitgenössische französische Drama, dem Laube (wie den Klassikern) eine so große Bedeutung beimaß, zu dieser Zeit Mode, bildete sozusagen ein Reservoir an Stücken, auf das der Direktor des Burgtheaters zurückgreifen konnte, um sich einen finanziellen Erfolg zu sichern, den das Burgtheater um 1850 dringend benötigte. Insofern hatten die französischen Stücke, die Laube auf das Programm des Burgtheaters setzte, ein ,praktisches‘, d. h. hier finanzielles Interesse; zugleich erlaubten sie Laube, seinem Publikum ein facettenreiches und vielfältiges Programm zu bieten, das nicht nur klassische Werke enthielt. Andererseits lassen sich Laubes oft polemische Aussagen zur Comédie Française dadurch erklären, dass Laube immer wieder die Frage der Positionierung der Burg im Feld des europäischen Theaters im Auge hatte und zugleich die Absicht verfolgte, aus dem Burgtheater nicht nur die zentrale Bühne im deutschen Sprachraum, sondern auch ,das‘ nationale Theater par excellence zu machen, was Laube übrigens selbst in seinen Briefen über das deutsche Theater deutlich formuliert:

Sogar die Franzosen, deren innere und äußere Welt uns viel ferner abliegt als die der Engländer, haben unser versiegendes Lustspiel so lange unterstützt, daß am Ende wesentliche Teile ihrer Komödienform, europäisch eingebürgert, auch bei uns ganz und gar geläufig geworden sind. Da kann auch nicht mehr von einem völligen Abweisen die Rede sein: es ist von England und Frankreich wesentliches in unsere Gewohnheiten und in unsere Sinnesweise und Formen übergegangen. Aber wenn wir auch nicht völlig abweisen können, so können wir uns doch jetzt emanzipieren. Der Zeitpunkt stark erwachten deutschen Nationalgefühls ist dafür günstig, ein deutsches Nationaltheater kann ihn kräftig benutzen. […] Was das Ausland Gutes liefert, soll benützt, aber in unserem Stile benützt, es soll soviel als möglich deutsch, also wenigstens bearbeitet werden. [Laube: Schriften über Theater. 58]

In diesem symbolischen, schier politischen Kampf um den Vorrang im europäischen Theaterfeld konnte das Théâtre Français also gleichzeitig nur als zu erreichendes Vorbild und als Rivale erscheinen, mit dem sich das Burgtheater vergleichen und konfrontieren musste (was Hofmannsthal später auch verlangte). Im Falle Laubes kann man zweifellos von kulturellem Nationalismus sprechen. In Laubes Bemerkungen zur Comédie klingt unverkennbar immer noch – im späten an Lessings Hamburgische Dramaturgie – die Frage nach der Festigung eines deutschen ,Nationaltheaters‘ nach. Hinzufügen muss man auch, dass die Frage der ,Rivalität‘ zwischen Burgtheater und Comédie Française sich auf einen ganz anderen Bereich, nämlich auf die Architektur, auswirkte: Die Büsten der großen Dramatiker an der Fassade des neuen Burgtheaters – die Weltklassiker: Calderón, Shakespeare, Molière; die deutschen Klassiker: Lessing, Goethe, Schiller; die tragischen Dramatiker des Burgtheaters im 19. Jahrhundert: Hebbel, Grillparzer, Halm – zeugen nicht minder als Laubes Diskurs über die Comédie sowohl von dieser Rivalität wie von den hohen Ansprüchen des Burgtheaters.

 Das französische Repertoire am Burgtheater von Laube zu Schlenther Heinrich Laubes Nachfolger als Direktor des Burgtheaters, (1814-1881, von 1870 bis zu seinem Tod 1881 Burgtheaterdirektor), legte, in krassem Gegensatz zu Laube – und wohl als Reaktion auf das Primat des Wortes auf der Bühne –, den größten Wert auf bunte Bühnenbilder und auf das Visuelle. Das Repertoire unter Dingelstedts Leitung enthielt weiterhin moderne französische Stücke, um, ähnlich wie in der Ära Laube, aber in viel geringerem Maße, dem Geschmack des zahlenden Publikums entgegenzukommen. Zu Dingelstedts Direktionszeit erzielte eben die Aufführung der Übersetzung einer dramatischen Fassung von Alphonse Daudets berühmtem Roman Froment jeune et Risler aîné mit und Friedrich Mitterwurzer einen gewaltigen Erfolg. Dingelstedt bemühte sich aber, im Gegensatz zu seinem Vorgänger Laube wie zu seinen Nachfolgern Wilbrandt (1881-1887) und Förster (1888-1889), nach Möglichkeit das französische Unterhaltungsstück auszuschalten: In gut 10 Jahren wurden nur 22 französische Novitäten gezeigt, was einen deutlichen Gegensatz zu Laubes Direktionszeit darstellt. Anders als Laube, der auf Kosten Molières dem Konversationsstück den Vorzug gab, initiierte Dingelstedt eine Molière-Renaissance am Burgtheater. In einer Rede von 1873 stellte er nämlich den französischen Hauptvertreter der klassischen Komödie neben seinen ,Liebling‘ Shakespeare, dem er schon 1864, am Hoftheater , einen Zyklus gewidmet hatte, und 1875, diesmal am Burgtheater, eine ganze Woche widmen sollte. Dies hatte zur Folge, dass das zeitgenössiche französische Lustspiel, v. a. die ,comédie-vaudeville‘, am Burgtheater immer mehr an Bedeutung verlor (parallel dazu versetzte die Entstehung der Operette 1858 in Paris schon zuvor dem traditionellen Vaudeville à la Scribe und Labiche einen Todesstoß, so dass es nach 1870 zu Gunsten der triumphierenden Operette fast verschwand27), während Molière im Gegensatz dazu wieder an Boden gewann: Von 1878 bis 1976 wurden am Burgtheater nun mehr als doppelt so viele deutschsprachige Molière-Inszenierungen gegeben wie in den 100 Jahren davor (31 gegenüber 13). Diese – fast gleichzeitig vorkommende – auffällige Konvergenz zwischen Rückgang des Konversationsstücks und der Boulevard-Dramatik einerseits und Einsetzen der verstärkten Molière- Rezeption ist am Beispiel Scribes besonders sichtbar: Zwischen 1802 und 1872 zählte er mit 72 Inszenierungen zu den meistgespielten Autoren am Burgtheater; mit 14 Inszenierungen im Zeitraum danach wurde er aber viel bedeutungsloser, und Boulevard-Autoren wie Mélesville oder Dumas père fielen ganz aus dem Repertoire. Mit Molière traten hingegen Hugo und Musset immer deutlicher in den Vordergrund. 1890 waren unter 91 Repertoirestücken nur mehr 18 von französischen Autoren (darunter Scribe und Feuillet), was dem tiefsten Stand des französischen Einflusses am Burgtheater seit Laube gleichkam. In der Ära Max Burckhardt (1890- 1898), der für eine Spielplanerweiterung sorgte, fing das französische Drama aber wieder an, im Burgtheater an Boden zu gewinnen: 50 Werke von insgesamt 31 Autoren wurden erneut ins Programm aufgenommen. Die 487 Vorstellungen französischer Stücke, die sich daraus ergaben, entsprachen, wie zur Zeit Laubes, einem Drittel des Spielplans. Aber während die Vertreter nur unterhaltender Konversationsstücke und die sozialkritisch eingestellten Autoren der ,Sittenkomödie‘ (Augier, Coppée, Girardin, Labiche oder Sardou) allmählich abgelöst wurden, traten um die Jahrhundertwende, während Paul Schlenthers Direktionszeit (1898-1910), die ersten Vertreter der modernen französischen Dramatik in den Spielplan (dies parallel zu neuen Dramatikern wie Hauptmann, Schnitzler, Shaw oder Max Halbe): Maurice Maeterlinck 1903 mit Monna Vanna, Octave Mirbeau 1904, Tristan Bernard und

27 Siehe hierzu Gengembre, ebenda, 284: „Les années 1880 voient donc une crise du vaudeville […].“ Ein Vergleich mit dem Verhältnis der Wiener Komödie zur Operette im Wien der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wäre gewiss sehr fruchtbar. Paul Hervieu 1905, etwas später Paul Claudel (1921) und Charles Vildrac (1922) mit seinem Paquebot Tenacity. Auf diese Weise ersetzten Klassik bzw. Romantik (Molière, Hugo und Musset) und Modernität (das naturalistische, sozialkritische Theater, der Symbolismus und schließlich das absurde und moderne Theater) die ,Unterhaltungswaren‘, die Boulevard-Dramatik und das Konversationsstück des 19. Jahrhunderts, welche zu dieser Zeit auch in Frankreich aus der Mode kamen. Im Gegensatz dazu bot die Comédie Française nach wie vor fast ausschließlich Dramen einheimischer Dichter (oder sonst nur klassische Werke). Diese ,Selbstzentrierung‘ spiegelt sich im Diskurs der Verwalter der Comédie wider, die sich nicht gegenüber einem anderen Vorbild zu positionieren brauchte, sondern sich selbst – wiederum anders als das Burgtheater – zum Vorbild nahm. Folglich hatte es die Comédie Française niemals wirklich nötig, fremde, d. h. in diesem Fall: österreichische Autoren zu ,importieren‘.

2. Der Diskurs der Schauspieler als Korrektiv?

Nun fragt sich, ob der vor allem bei Grillparzer und Laube feststellbare polemische oder zumindest zweideutige Diskurs über die Comédie Française auch auf der Ebene des Schauspielerdiskurses zu beobachten ist.

 Einstieg: Das Gastspiel der Comédie Française in Wien 189228

Im Mai 1892 fand im Rahmen der Theater- und Musikausstellung in der Rotunde ein Gastspiel der Comédiens Français in Wien statt, das schon von einem

28 Siehe hierzu Halczak (Anm. 23), 281-285. Die Bibliothek der Comédie Française verfügt auch über eine Mappe mit zahlreichen Artikeln aus österreichischen Zeitungen, die das Gastspiel der Comédie in Wien 1892 lang und breit dokumentieren. Die Journaux der Schauspieler Edmond Got und Frédéric Febvre enthalten überdies nützliche Hinweise ,von innen‘ auf den Verlauf dieser Tournee der Comédiens Français in Wien. wichtigen Austausch zwischen den beiden Theatermetropolen am Ende des 19. Jahrhunderts zeugt. Es handelte sich zwar um keine offizielle Tournee – da die französische Regierung es unanpassend gefunden hatte, in einer Hauptstadt des Dreibundes eine solche zu absolvieren29 –, doch unternahmen 16 Comédiens Français unter der Leitung Edmond Gots (1822-1901) und Frédéric Febvres (1833-1916) die Reise nach Wien. Auch wenn Berühmtheiten wie die Tragöden Mounet-Sully (1841-1916) und Paul Mounet (1847-1922), die Brüder Coquelin oder Charles Le Bargy (1858-1936) sich nicht nach Wien begaben, waren doch viele bedeutende Schauspielerinnen und Schauspieler der Comédie Française dabei, wie Suzanne Reichenberg (1853-1924), Julia Bartet (1854-1941), Albert Lambert (1856-1946) oder die schon erwähnten Febvre und Got. Hinzu kamen Mmes Pierson, Fayolle, Kalb, du Minil, Daubray und MM. Prud’hon, Boucher, Leloir, Truffier, Joliet und Falconnier.30 Was das Programm jener Tournee, die vom 24. bis zum 31. Mai 1892 dauerte, anbelangt, so wurden eher ältere Repertoirestücke gewählt (wohl weil sie auch in Wien als bekannt galten). Am ersten Abend wurden Mussets Nuits d’octobre und Molières Femmes savantes gegeben. Selbst wenn die Kritik einerseits die Leistungen von Got, Febvre und Mme Reichenberg31 lobte, äußerte sie sich andererseits einstimmig gegen die veraltete Form der Darstellung und gegen den singenden Ton, in dem die Alexandriner deklamiert wurden [siehe etwa die Wiener Abendpost vom 25. Mai]. Dieses halben Erfolgs war sich auch der Schauspieler Got wohl bewusst, der im zweiten Band seines Journal von „un grand public et un effet

29 Der damalige Verwalter der Comédie Française, Jules Clarétie (1840-1913), der von 1885 bis 1913 die Comédie leiten sollte, hatte allerdings sein Einverständnis erklärt. Im zweiten Band seines Journal (Paris: Plon 1910. 270f.) schrieb Edmond Got über den zweideutigen Standpunkt der französischen Behörde zum Wiener Gastspiel der Comédiens Français, nicht ohne Ironie: „29 février 1892. – Ainsi que je m’en doutais, notre administration, obéissant au mot d’ordre du ministre, ne permet qu’officieusement le voyage d’une portion de la Comédie-Française dans une des capitales de la Triple alliance, tout en le permettant en somme. C’est à crever de rire, et le Comité de Vienne l’aura belle à faire l’impertinence de ne pas même sembler s’en apercevoir. Quant à moi, doyen, je ne l’ai pas moins belle dès à présent à mettre ma dignité sur l’oreille, et je viens de prier le comte Hoyos de présenter respectueusement mes regrets à la princesse de Metternich. Je me trouve ainsi déchargé du fardeau, c’est l’important, surtout puisque certains de mes collègues avaient fait, paraît-il, à mes propositions une grimace en dessous.“ In Hinkunft mit Seitenzahl im fortlaufenden Text zitiert. 30 Siehe Frédéric Febvre: Journal d’un comédien. Paris: Ollendorff 1896. Band 2. 175f. In Hinkunft mit Seitenzahl im fortlaufenden Text zitiert. 31 Suzanne Reichenberg, ab 1868 Mitglied der Comédie Française, wurde schon 1872 Sociétaire. 30 Jahre lang spielte sie die Rolle der Naiven. … très poli“ [Got : Journal. Band 2. 273] spricht. Am zweiten Tag (am 25. Mai) fanden dann Le Bonhomme jadis von Henri Murger und Il ne faut jurer de rien von Musset – wie die meisten Kritiker berichten – nur wenig Beachtung: Die Neue Freie Presse und die Deutsche Zeitung vom 26. Mai betonen etwa, dass nur Got als Abbé und Leloir in Murgers Stück lebhaften Beifall ernteten. In seinem Journal bestätigt Got Leloirs Erfolg auf Grund seiner klaren Aussprache: „Leloir, qui a eu beaucoup à apprendre et à travailler pour cette campagne, a du succès, et ce sera toujours de même, du moins au point de vue artistes-hommes, cette portion de la troupe ayant été d’ailleurs bien économiquement recrutée chez nous, il faut en convenir.“ [Got: Journal. Band 2. 273] Am 26. Mai wurden Jules Sandeaus Mademoiselle de la Seiglière und Molières Le Dépit amoureux gezeigt. Diesmal überragte offensichtlich die Tragödin Julia Bartet all ihre Kollegen, wie aus dem Wiener Tagblatt vom 27. Mai hervorgeht, während die Deutsche Zeitung an diesem Tag einen Wendepunkt feststellte: „Heute erst hat die Comédie Française sich das Herz unseres Publicums völlig erobert.“ Am vierten Abend kam Mademoiselle de Belle-Isle vom älteren Dumas auf die Bühne. Darauf folgte, am 28. Mai, Adrienne Lecouvreur von Scribe und Ernest Legouvé, ein Stück, in dem Rachel schon 1849 in Paris geglänzt hatte. Zu dieser Vorstellung und den Festveranstaltungen zu Ehren der Comédiens Français an diesem Tag fügte Got abermals hinzu: „Le samedi 28, au théâtre, Adrienne Lecouvreur interprétée faiblement, mais l’opinion, gagnée déjà, nous soutient au point que la pièce fait très bonne impression. D’autant que le jour il y a eu dans le Prater ,bataille de fleurs‘, à travers laquelle, promenés à la queue-leu-leu, en fiakres [sic!] enrubannés aux couleurs françaises, nous avons eu un vrai succès de mi-carême, avec ,Vive la France !‘ et bravos, de partout. Quelle foule riante et bonne [sic!] enfant, à pied comme en voiture ! Et quels équipages !32“ [Got: Journal. Band 2. 273] Am 29. Mai kamen Marivaux’ Le Jeu de l’amour et du hasard und Molières Le Médecin malgré lui auf die Bühne, die laut Got nur „demi-salle“ machten. Am folgenden Tag aber, am 30. Mai, der als Höhepunkt des Wiener Gastspiels erscheint, wurde zuerst, unter der Schirmherrschaft der Fürstin von

32 Ähnliches steht in Febvres Journal d’un comédien. Band 2. 181. Metternich, eine ,garden party‘ im Sacher organisiert, bei der Comédiens Français und Burgschauspieler einander kennenlernten und sogar miteinander fotografiert wurden, z. B. Got mit Sonnenthal und Febvre mit Josef Lewinsky (1835-1907). Am selben Abend fand in Anwesenheit Kaiser Franz Josephs und der kaiserlichen Familie die Aufführung von Denise statt, die laut Febvre einen „succès de larmes“ hatte [Febvre: Journal d’un comédien. Band 2. 179]: „Belle et glorieuse soirée pour Dumas et la Comédie-Française.“ [Ebenda. 181]. Das Fremdenblatt vom 31. Mai berichtet außerdem, dass das Publikum insbesondere Julia Bartet, aber auch Got und Mme Pierson Ovationen darbrachte. Betont wurde in der Wiener Presse schließlich, etwa in der Deutschen Zeitung vom 31. Mai, dass die Comédiens Français zum ersten Mal seit dem Anfang ihrer Tournee einen modernen Autor (Dumas den jüngeren) spielten. Das Gastspiel endete am 31. Mai mit Pépa, einem Stück von Henri Meilhac, das in Frankreich schlecht rezipiert worden war, in Wien aber, laut der Neue Freien Presse vom 1. Juni, besonders günstig aufgenommen wurde. In seinem Journal d’un comédien bietet Frédéric Febvre für den Erfolg der Gesamtveranstaltung eine Erklärung, die dem deutschen Drama gegenüber nicht einer gewissen Ironie entbehrt: „Mais, en dehors du domaine de la critique, je puis raconter, ici, quelques particularités de cette campagne, qui assura au théâtre de l’Exposition des recettes qui le firent rentrer dans les pertes causées par les représentations du théâtre allemand“ [Febvre: Journal d’un comédien. Band 2. 176- 177]. Got zieht seinerseits knapp ein nüchterneres Fazit: „En somme, avec sa rapidité et ses besognes forcées, cette tournée aura été très belle et très rémunératrice“ [Got: Journal. Band 2. 274]. Auch wenn man in den hinterlassenen Schriften der Verwalter der Comédie keinen einzigen Bezug auf dieses Gastspiel der Comédiens Français in Wien und allgemeiner auf das Burgtheater findet, ist diese Abwesenheit keineswegs synonym für ein Desinteresse der französischen Theaterleute an ihrem österreichischen Pendant. Einen offenkundigen Beweis dafür liefern die Bemerkungen des einflussreichsten französischen Theaterkritikers dieser Zeit, Francisque Sarcey33

33 Zuerst Kritiker für die Zeitung L’Opinion nationale (1860), dann für Le Temps (1867), war Sarcey zu seiner Zeit sehr berühmt und gefürchtet (etwa wie später Alfred Kerr in Berlin). Zola schrieb zu (1827-1899), über das Gastspiel der Comédiens Français in Wien 1892. Zu der ersten Vorstellung im Ausstellungstheater und allgemeiner zu den Wienerinnen und Wienern findet er höchst anschauliche Worte: „Elle a été bien belle, cette première représentation. Toute l’aristocratie de Vienne était là ; beaucoup de jolies femmes. Les Viennoises sont presque toutes de physionomie animée et piquante ; les hommes n’ont rien de cette lourdeur qu’on prête, chez nous, aux Allemands. Ils sont vifs, empressés, aimables. Il semble que, chez eux, il y ait de la cordialité dans l’air. Je me serais cru à Paris, en une soirée de gala.34“ Was die Wiener Zeitungskritiker betrifft, so finden sich bei Sarcey vielsagende Bekenntnisse zu dem Ungleichgewicht zwischen Wien und Paris: „On a bien du gout et bien de l’esprit à Vienne. Vraiment, quand je compare la compétence avec laquelle ils parlent de notre théâtre, et notre ignorance du leur, j’entre en confusion et je rougis de honte.“ [Sarcey: Quarante ans de théâtre. Band 1. 386] Sarcey, der im selben Zug (dem Orient-Express) wie die Comédiens Français nach Wien gereist war, begnügte sich doch nicht damit, den Vorstellungen der Comédiens am Ausstellungstheater beizuwohnen und sie zu kommentieren, sondern besuchte auch das Burgtheater, wo er in einer Darstellung des ersten Teils von Shakespeares Heinrich IV. die Schauspielkunst des Wiener Ensembles bewundern konnte. Insbesondere erschien ihm Bernhard Baumeister (1828-1917) als einer der besten Schauspieler, die er je auf einer Bühne gesehen habe, und er verglich Sonnenthals Kunst mit der von Frédéric Febvre aus der Comédie Française: „C’est Febvre qui faisait Clitandre. Les Viennois ont chez eux un artiste qui jouit d’une grande réputation, M. Sonnenthal. M. Sonnenthal a débuté dans l’emploi des jeunes premiers, qu’il a tenu durant de longues années avec éclat et qu’il garde encore dans un âge assez avancé. Son public qui l’a vu vieillir lui passe aisément de n’avoir plus la jeunesse et la vivacité des personnages qu’il représente. Il est parfaitement admis que nous avons envers Febvre la même condescendance, que nous lui pardonnons de n’avoir plus la verdeur d’aspect et la légèreté de mouvements qu’exige le rôle de

ihm: „Dès qu’il entre, un murmure court de loge en loge. […] S’il applaudit, la fortune de l’œuvre est faite ; s’il baille, tout est perdu.“ 34 Francisque Sarcey: Quarante ans de théâtre. Band 1. Paris: Bibliothèque des Annales 1900. 385. In Hinkunft mit Seitenzahl im fortlaufenden Text zitiert. Clitandre. Il le joue avec autorité et adresse, en comédien expert.“ [Sarcey: Quarante ans de théâtre. Band 1. 388] Schließlich muss noch hinzugefügt werden, dass das Gastspiel der Comédie Française in Wien 1892 keine Ausnahme war, denn viele bedeutende Comédiens Français gastierten in Wien schon ab Mitte des 19. Jahrhunderts: Rachel (1821- 1858), die ,Göttin der Tragödie‘ genannt, gastierte dort im Jahre 1850; Got gastierte gleichfalls in Wien 1875 zu wohltätigen Zwecken35; Sarah Bernhardt (1844-1923) spielte 1882, 1887 und 1908 am Theater an der Wien36; im November 1882 lud der sehr frankophile Journalist Moritz Szeps Coquelin aîné (1841-1909) dazu ein, in Wien (Carltheater) zu gastieren, und im Sommer 1897 kehrte Coquelin mit Antoine nach Wien zurück. Ebenfalls begab sich der berühmte Tragöde Mounet-Sully nach Wien 1894 und spielte Œdipe am Carltheater. Zu seiner Leistung schrieb Hugo Wittmann in der Neuen Freien Presse vom 21. Januar 1894: „Dieser Franzose gehört zu den bedeutsamsten und glänzendsten Erscheinungen in der modernen Schauspielkunst“. Interessanterweise bleibt Mounet-Sully in den Schriften Hermann Bahrs auch eine wiederkehrende Autorität im Bereich der modernen Schauspielkunst, z. B. in Wiener Theater (1892-1898), wo Bahr die „paar wahrhaft großen Dinge […] der modernen Schauspielkunst [erwähnt], die nimmer in der Erinnerung vergehen, wie die Adelheid der Wolter, die Marguerite der Bernhardt, die Clotilde der Duse, der Hamlet des Mounet, der Romeo des Kainz.37“ Bahrs Annäherung von Sarah Bernhardt und Mounet-Sully an so renommierte Schauspieler wie Charlotte Wolter (1831-1897), Eleonora Duse (1858-1924) und Josef Kainz (1858-1910) zeugt von seiner lebhaften Bewunderung für die Kunst der französischen Darsteller. Nach ihm gehören sie ins Pantheon der modernen Schauspielkunst. Nun stellt sich die Frage, ob das Gastspiel der Comédiens Français in Wien 1892 Ursachen und Auswirkungen auf der Ebene der konkreten Beziehungen zwischen Comédiens Français und Burgschauspielern haben konnte.

35 Ein Brief (vom 26. Januar 1875) der Fürstin von Metternich an Edmond Got befindet sich in Gots Journal, Band 2, 288f. 36 Siehe Yates (Anm. 6), 178. 37 : Wiener Theater (1892-1898). Berlin: Fischer 1899. 223.

 Sonnenthal, Febvre und Got Interessant scheint zunächst, dass der legendäre Burgschauspieler Adolf [von] Sonnenthal (1834-1909) mit verschiedenen berühmten Comédiens Français seiner Zeit, wie den bereits erwähnten Frédéric Febvre oder Edmond Got, in Briefwechsel stand. Frédéric Febvre, von 1866 bis 1893 Mitglied der Comédie, wo er v. a. in Stücken Molières und Marivaux’ spielte, wurde sogar deren Sociétaire-Doyen. Von der ,garden party‘ anlässlich der Tournee der Comédiens Français in Wien 1892 ist in einem dankbaren Brief Febvres an Sonnenthal aus eben diesem Jahre die Rede:

Mon cher et illustre camarade,

Vous avez été pour moi si aimable à Vienne que je n’hésite pas à venir vous demander un grand service. Mr. Kohn-Abrést, qui m’a fait le grand plaisir de me présenter à vous, vous dira ce dont il s’agit. Si vous voulez bien me prêter votre puissant appuis [sic!], j’en serai flatté et charmé, ayant une grande et vive sympathie pour votre personne et une grande admiration pour votre talent si parisien. Car vous jouez comme nous quand nous jouons bien, très bien ! A Paris il n’y a rien en ce moment qui puisse vous offrir une création digne de votre talent – Mais l’hiver prochain, si Dumas donne sa pièce, le rôle qu’il a écrit pour moi vous offrira l’occasion d’un nouveau triomphe. Je vous l’ai dit et je vous le répète : si à Paris je puis vous être agréable ou utile à mon tour disposez de votre admirateur et ami

Frédéric Febvre. Vice Doyen38

Und an einer Stelle seines Briefwechsels zählt Sonnenthal andersherum Febvre zu den „Altmeistern der französischen Schule“ [Adolf von Sonnenthals Briefwechsel. Band 2. 144].

Edmond Got, 1850 Sociétaire und 1873 Doyen der Comédie Française, hatte schon elf Jahre vor dem Wiener Gastspiel 1892, anlässlich des 25-jährigen Burgtheaterjubiläums von Sonnenthal, Stella Hohenfels (die später Alfred von

38 Adolf von Sonnenthals Briefwechsel in 2 Bänden. Nach den Originalen herausgegeben von Hermine von Sonnenthal. Stuttgart und Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt 1912. Band 2. 110f. In Hinkunft mit Seitenzahl im fortlaufenden Text zitiert. Bergers Frau werden sollte) folgendes Schreiben geschickt, das wichtige Hinweise auf Sonnenthals entscheidende Rolle als Förderer des französischen Repertoires im Burgtheater enthält:

Paris, 27 mai 1881. Mademoiselle,

J’apprends que les Artistes Viennois vont célébrer, en l’honneur de Monsieur Sonnenthal, le 25me anniversaire de son entrée au Théâtre Impérial et Royal de la Burg. En qualité de Doyen de la Comédie Française – j’y suis, moi, depuis 37 ans – et aussi d’hôte très reconnaissant de la Ville de Vienne, j’ose vous demander, Mademoiselle, de joindre mon sincère hommage au votre [sic!], pour le transmettre en cette occasion à Monsieur Sonnenthal, qui, par son caractère certes n’honore pas moins que par son talent notre commune et chère profession. Hommage donc, puis-je surtout dire en qualité d’artiste Français, à l’éminent interprète Viennois du „Duc d’Aléria“, des „Intimes“, des „Pattes de mouche“, de „Il ne faut jurer de rien“, du „Verre d’eau“, et de bien d’autres de nos meilleures pièces, dont il a tant aidé à faire passer le succès sur votre illustre Scène, contribuant ainsi pour sa bonne part, et je l’en remercie pour la mienne, à l’alliance délicate et secrète des esprits de deux grandes nations.

Veuillez agréer, Mademoiselle, l’assurance de mes sentiments de respectueuse confraternité.

E. Got, Sociétaire Doyen de la Comédie Française, Chevalier de l’Ordre de François Joseph. [Adolf von Sonnenthals Briefwechsel. Band 1. 270f.]

Sonnenthals Antwortbrief – in französischer Sprache – vom 19. Juni 1881 enthält auch sehr interessante Stellen für unser Thema, vor allem im ersten Absatz, wo Sonnenthals Bewunderung für die Comédie Française deutlich zum Ausdruck kommt:

Monsieur,

Rien n’égale l’attachement sans bornes que j’ai voué au Burgtheater, auquel je dois tout ce que je suis, si ce n’est l’admiration que m’inspire cette scène, sœur aînée de la notre [sic!], cette illustre Comédie Française qui a compté et compte encore tant et de si grands artistes. C’est vous dire combien je suis à la fois touché et fier des félicitations que vous avez bien voulu m’adresser à l’occasion du 25me anniversaire de mon entrée au Burgtheater. Parmi les précieux témoignages de sympathie dont je viens d’être comblé, votre aimable lettre est à coup sûr un de ceux auxquels j’attache le plus de prix. Aussi est-ce d’un cœur profondément reconnaissant et qui vous est depuis longtemps tout acquis que je vous prie, cher et illustre confrère, d’agréer mes remerciments [sic !] les plus chaleureux et l’expression de mon inaltérable amitié.

A. Sonnenthal. [Adolf von Sonnenthals Briefwechsel. Band 1. 270]

 Die ,monstres sacrés‘: Sonnenthal und Coquelin aîné im Briefwechsel

Was in unserem Zusammenhang aber von besonderem Interesse ist, ist die langjährige Freundschaft, die die Schauspieler Sonnenthal und Coquelin aîné miteinander verband. Adolf [von] Sonnenthal am Burgtheater und Constant Coquelin (genannt Coquelin aîné) an der Comédie Française wurden schon zu Lebzeiten als sehr bedeutende Schauspieler gerühmt und gefeiert. Karl Kraus sah z. B. in Sonnenthal, der von 1856 bis 1909 am Burgtheater tätig war, die Verkörperung des „alten Burgtheaters39“ und setzte ihm sogar ein Denkmal in Form eines eponymen Gedichts in der Fackel [Die Fackel 418-422. 1916. 60]. Coquelin aîné genoss einen ähnlichen Ruf in der Comédie Française: Ähnlich wie der Schauspieler Talma im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts war er einer der einflussreichsten französischen Schauspieler seiner Zeit. Ab 1864 am Théâtre Français bewährte er sich als Bühnenvirtuose und legte sowohl Talent als auch große Lebhaftigkeit an den Tag.40 Coquelin kam zum ersten Mal im November 1882 nach Wien, wo er schon sehr herzlich gefeiert wurde. Am 26. November fand im Carltheater sogar eine Matinee statt, an der Coquelin und Sonnenthal in dem Einakter Täter und Töchter von Sigmund Schlesinger zusammen auftraten. Eben am Ende dieser Vorstellung schworen sich die beiden Schauspieler in französischer Sprache „ewige Freundschaft“. Hier ist festzustellen, dass die dauerhafte Freundschaft zwischen Sonnenthal und Coquelin also nicht erst seit dem Gastspiel der Comédie in Wien im Jahre 1892 besteht. In Sonnenthals Briefwechsel taucht der Name Coquelin mehrmals und immer wieder in einem höchst positiven Zusammenhang auf. Interessant ist diese Korrespondenz auch deswegen, weil sie einen österreichisch-französischen Austausch über mehr als 20 Jahre dokumentiert.

In einem Brief vom 2. März 1880 bittet der berühmte Kritiker Ludwig Speidel (1830-1906) zunächst Sonnenthal um Informationen über Coquelin [siehe

39 Siehe hierzu meine Ausführungen in: Pour une autre vision de l’histoire littéraire et théâtrale. Karl Kraus lecteur de Johann Nestroy. Paris: Presses Sorbonne Nouvelle 2008. 127ff. 40 Zu Coquelin siehe Michel Corvin (Hrsg.): Dictionnaire encyclopédique du théâtre à travers le monde. Paris: Bordas/SEJER 2008. 350. Adolf von Sonnenthals Briefwechsel. Band 1. 212]. In seinem langen Antwortbrief vom 4. März erteilt der Befragte genaue Auskünfte über die Bedingungen seiner Bekanntschaft mit Coquelin und macht dabei kein Hehl aus seiner Bewunderung für dessen Schauspielerkunst. Von Bedeutung ist hier auch die Parallele, die Sonnenthal zwischen den ,Größen‘ des Burgtheaters und denen der Comédie zieht:

Ich habe Coquelin bei meiner letzten Anwesenheit in Paris 1869 zum erstenmal und leider nur in zwei wenig hervorragenden Rollen gesehen, und doch war der Eindruck, den gerade Coquelin auf mich machte, ein unvergeßlicher und im strengsten Sinne des Wortes ein unvergleichlicher. Ich konnte alle anderen Größen der Comédie-Française, wie Regnier, Got, Delaunay, Bressant41 mit unseren Heroen: La Roche, Anschütz, Löwe, Fichtner42 ganz gut vergleichen; es fanden sich immer verwandte künstlerische Züge, die ich in mein geliebtes deutsches Burgtheater übertragen konnte. Coquelin jedoch ist so durch und durch Franzose, spielt so specifisch französisch, daß ich unter all’ den großen Künstlern meiner Epoche vergebens nach einer ähnlichen künstlerischen Individualität suche. Seine Rede- und Darstellungsweise ist moussirend und prickelnd wie Champagner. Man glaubt ihn schon zu hören, wenn man ihn noch gar nicht auf der Scene sieht, und hört ihn noch immer, wenn er sie schon lange verlassen hat. […] Das Mienenspiel dieses Menschen, eh’ er noch ein Wort spricht, sein halb verlegenes, halb entrüstetes Wesen, andererseits wieder der Gentleman, der auch eine solche Person nicht verräth, dies Alles war von einer Übereinstimmung in Mimik, Wort und Gebärde, wie ich es in dieser Vollendung nie wieder gesehen. [Adolf von Sonnenthals Briefwechsel. Band 1. 212f.]

Abschließend ist noch von Coquelins „Verve“, „übersprudelndem Humor“ und „bezaubernd liebenswürdige[r] Realistik“ die Rede. Diese – hier noch indirekt formulierte, d. h. einem Dritten ausgesprochene – Bewunderung Sonnenthals für Coquelin spiegelt sich im direkten Briefwechsel zwischen den beiden Schauspielern wider. Hinzu kommt eine starke gegenseitige Dankbarkeit, Hochschätzung und Freundschaft, wie im folgenden Brief Coquelins an Sonnenthal von November 1882:

Mon bien cher Sonnenthal!

Comment voulez-vous que je vous remercie, vos camarades et vous, de l’honneur que vous m’avez fait hier soir?43 Il n’est pas de parole qui puisse vous dire mon étonnement, ma gratitude et ma reconnaissance.

41 Jean-Baptiste Bressant (1815-1886), Louis Delaunay (1826-1903) und die Komiker Philoclès Regnier (1807-1885) und Edmond Got zählten mit Coquelin aîné zu den berühmtesten Schauspielern der Comédie Française zu dieser Zeit. 42 Die Schauspieler Karl von La Roche (1794-1884), Heinrich Anschütz (1785-1865), Ludwig Löwe (1795-1871) und Karl Fichtner (1805-1873) gehörten ihrerseits auch zu den renommiertesten Darstellern des ,alten Burgtheaters‘. 43 Hier sei daran erinnert, dass Coquelin zum Abschied von Wien von den Künstlern des Burgtheaters (unter Sonnenthals Führung) ein silberner Lorbeerkranz überreicht bekam. J’ai été touché jusqu’au fond de l’âme de cette preuve d’estime dont j’apprécie l’inestimable valeur. J’espère revenir en Janvier. J’irai personnellement vous remercier tous, mais je ne puis partir sans vous dire à tous que je vous serre les mains, que je vous embrasse et que je suis bien fraternellement à vous.

Coquelin.

PS. Les portraits que je trouve les seuls bons vont m’arriver de Paris. Je vous les enverrai aussitôt avec prière de les remettre à vos amies et amis. Encore à vous, mon ami, de tout mon cœur.

Coquelin. [Adolf von Sonnenthals Briefwechsel. Band 1. 285]

Drei Jahre später, in einem Brief vom 5. September 1885, bittet Coquelin Sonnenthal um Auskünfte über den Schauspieler Karl von La Roche (1794-1884), aus dem er den Helden einer Novelle machen möchte. Übrigens informiert Coquelin Sonnenthal hier über die Rollen, die er in naher Zukunft spielen möchte, insbesondere die Rolle des Mephistopheles aus Goethes :

[…] Je vais avoir un hiver très laborieux. – Je vais créer plusieurs rôles très importants : entre autre un qui vous plaira et vous ira comme un gant. C’est le Chamillac d’Octave Feuillet, sur lequel je vous engage à avoir l’œil. J’aurai aussi un Socrate de Th. de Banville qui est ravissant. – Pardonnez-moi, mon cher ami, si je dois vous déranger, mais vous avez été pour moi si fraternellement bon et dévoué que j’aurais trouvé très mal à moi d’hésiter à faire appel à votre bonne grâce. Vous savez peut-être que j’ai toujours la ferme intention de jouer Méphisto. Or puisque je ne puis arriver à faire venir Faust au Théâtre Français je lui ferai faire un tour d’Amérique et je compte bien qu’au retour, on le prendra. – Serait-il possible d’avoir la pièce telle que vous la jouiez autrefois, avant d’avoir mis tout le poëme [sic !] à la scène ? Est-ce imprimé tel qu’on le donnait au Burg-Théâtre ? Vous serez bien gentil de me renseigner aussi là-dessus. Rappelez-moi au souvenir de vos collègues et amis – je n’oublierai jamais l’accueil que tous vous m’avez fait … Pour vous, mon cher Sonnenthal, permettez-moi de vous embrasser de tout cœur. [Adolf von Sonnenthals Briefwechsel. Band 1. 327]

Jener Wunsch Coquelins, Mephisto zu spielen, ist wohl in erster Linie darauf zurückzuführen, dass Coquelin durch Josef Lewinskys denkwürdige Leistung in dieser Rolle besonders stark beeindruckt worden war, als er in Wien zu Gast gewesen war. Ganz zu Beginn von Coquelins L’art du comédien steht nämlich: „Ayez en vous l’esprit de votre personnage : vous en déduirez naturellement les dehors, et le pittoresque, s’il y a lieu, s’y ajustera de lui-même. C’est l’âme qui construit le corps. Si Méphistophélès est laid, c’est que son âme est monstrueuse. Je l’ai vu rendre supérieurement à Vienne par Lewinski [sic!], qui nous le montre bossu et boîteux ; cela est approprié au personnage.44“ In seinem langen Antwortschreiben von September 1885 fängt Sonnenthal zuerst damit an, die ,Legende‘ zu widerlegen, nach der La Roche ein Sohn Goethes gewesen wäre, und entwirft dann eine kurze Biografie des namhaften Schauspielers. Von besonderem Interesse in unserem Kontext ist, dass Sonnenthal La Roche mit den künstlerischen Qualitäten des berühmten Komödienspielers und Lehrers Regnier aus der Comédie Française vergleicht. Der zweite Teil des Briefes ist Coquelins Absicht gewidmet, Mephisto zu spielen. Selbst wenn Sonnenthal sich freut, dass sein Freund ein solches Ziel verfolgt, lässt er doch kaum versteckte Zweifel an der Machbarkeit dieses Projekts aufkommen, denn ,Faust‘ ist ein specifisch deutsches Stück. Sie selbst als Mephisto werden noch leichtes Spiel haben, denn der Teufel paßt für alle Nationen und „der Geist der stets verneint“ zieht sich durch die ganze Welt – aber das Gretchen, dieses rührende Urbild eines deutschen Mädchens, und zumal Faust selbst! Ich habe bei dem Studium desselben Blut geschwitzt, denn philosophische Probleme lassen sich nicht dramatisch darstellen und Goethe hatte vollkommen Recht, als er sich Anfangs gegen die Aufführung sträubte. Es sind ja Scenen darin von unerreichter dramatischer Kraft und Größe – aber bis man zu diesen gelangt! Wird Ihr Publikum diese Geduld und vor Allem die Pietät für den deutschen Dichter mitbringen? Ich verspreche Ihnen, zur Premiere im Théâtre Français hinzukommen – es wäre für mich zu interessant, schon des ersten Eindrucks auf das Publikum wegen. Sie werden staunen wie man Ihren feinsten Nuancen folgen wird, und mit einem Verständnis, mit einer Empfänglichkeit, daß Sie sich ins Théâtre Français versetzt wähnen werden, ebenso wie ich vor meinem Publikum zu spielen glaubte. Es gibt eben nur eine Kunst und diese kommt zur Geltung in jeder Sprache, vor jeder Nation. [Adolf von Sonnenthals Briefwechsel. Band 1. 328f.]

In einem langen Brief an Ludwig Speidel vom 12. Mai 1896 kommt Sonnenthal wieder auf seine Vorstellung der Schauspielkunst zu sprechen, die sich von der Coquelins unterscheide: „[…] nur durch geistige und seelische Vertiefung in den Gegenstand seiner Aufgabe, nur in das vollständige Sichhineinleben in die gegebene Situation vermag der darstellende Künstler den Schein der Wahrheit zu erreichen, ja die Wahrheit und die Natur selbst, ohne die Grenzen des Schönen auch nur mit einer Linie überschreiten zu brauchen. Ich weiß sehr wohl, daß ich mich mit meiner Anschauung mit vielen meiner berühmten Collegen im Widerspruch befinde. Mein Freund Coquelin z. B. behauptet, der Künstler müsse über der Situation stehen.

44 Constant Coquelin: L’art du comédien. Paris: Ollendorff 1894 (2. Auflage). 10. Nun, das ist rein individuell. Ich vermag es nicht“ [Adolf von Sonnenthals Briefwechsel. Band 2. 142f.]. Wiederholt werden diese Thesen etwas später im Brief: „Also, wie gesagt, Wahrheit, Natur, und – füge ich noch hinzu – Einfachheit der Spielweise: das war die Lehre unserer Altmeister […]“ [Adolf von Sonnenthals Briefwechsel. Band 2. 143]. Hier hebt Sonnenthal tatsächlich einen Hauptunterschied in der Diktion der Burgschauspieler und der Comédiens Français insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hervor, den man auf die einfache Formel bringen könnte: ,natürliches‘ (Burgtheater)45 vs musikalisch-deklamatorisches Spiel (Comédie Française). In einem anderen Brief an Sonnenthal vom 21. Januar 1902 bittet Coquelin seinen Freund sogar um Hilfe in Form von einem Eingriff höheren Ortes, damit er „zwei- oder dreimal“ am Wiener ,Théâtre Royal‘ spielen kann.46 Ein letztes Mal wird Coquelin in einem Brief Sonnenthals an Eugen Zabel vom 14. September 1904 erwähnt. In eindeutigen Worten bezieht sich Sonnenthal auf „seinen Freund Coquelin“ und auf dessen „Büchlein“ L’art du comédien, um die „Deutlichkeit und Richtigkeit“ seiner Aussprache des ,r‘ zu rechtfertigen [Adolf von Sonnenthals Briefwechsel. Band 2. 207]. Daran wird noch einmal deutlich, dass nicht nur freundschaftliche Beziehungen die beiden Schauspieler miteinander verbanden, sondern auch gegenseitige Anregungen zur Schauspielkunst, hier in Form des Buches von Coquelin, dessen Inhalt Sonnenthal offensichtlich genau zur Kenntnis genommen hatte.

 Coquelin als dauerhaftes Vorbild für die Burgschauspieler

45 Yates (Anm. 6), 15: „In 1779 the idiom appropriate to comedy was defined as a language drawn from Nature, but not from the common mob. Actors expected to model their bearing, too, on fine society, and so began another tradition: the Burgtheater became a model of manners. The theatre imitated society; society in turn imitated the theatre.“ 46 Dieses Gastspiel kam aber nie zu Stande, weil die strengen Hausgesetze des Burgtheaters das Gastieren fremder Künstler an dieser Hofbühne nicht gestatteten. Auffällig ist auch die Tatsache, dass Coquelin aîné über Sonnenthal hinweg ein Vorbild für verschiedene Schauspielergenerationen des Burgtheaters geblieben ist. Dieser Status von Coquelin als Vorbild bzw. als Autorität auf dem Gebiet der Schauspielkunst ist zweifelsohne sowohl auf seine damalige Berühmtheit über die französischen Grenzen hinaus als auch auf seine verschiedenen Gastspiele in Wien zurückzuführen. (1854-1944) sah zum Beispiel in Coquelin einen Meister seines Faches. Folgende Stelle aus Thimigs Tagebuch zeugt deutlich von seiner Bewunderung für die Kunst des französischen Schauspielers, die er anlässlich von Coquelins Gastspiel im Carltheater 1882 erleben konnte:

17. NOVEMBER. Im Carltheater erste Vorstellung Coquelin’s47 in leidlicher Umgebung. Coquelin hat seine Fähigkeit zur Vollendung ausgebildet und verwendet sie durchwegs hochkünstlerisch. Er ist ein großer Kerl. 19. NOVEMBER. Coquelin als Tartüffe gesehen. Colossale Leistung mit einer einzigen Unklarheit bei einem Abgange. Zum Schluß spielte er eine Scene aus „Le mariage forcé“ (Pankratius) mit vollendeter Technik und köstlichstem Humor. 21. NOVEMBER. Heute wohnte der Costümprobe von Faust I. […] Coquelin bei. Zu meiner innigsten Herzensfreude sind ihm Meixner und ich (als Student und Schüler) als Naturells aufgefallen. Er hat sich hoch anerkennend über mich geäußert. 24. NOVEMBER. Coquelin als Des Tournelles wieder gesehen. Abends bei Szeps Soirée. Coquelin und Sonnenthal spielten ein reizendes Gelegenheitsstück von Schlesinger für die Sonntag zum Besten der ,Concordia‘ stattfindende Matinee.48 27. NOVEMBER. Coquelin ist abgereist; die hochschlagenden Kunstherzen finden sich wieder im ruhigen Tacte der Alltagsbewegung. Mitten in die begeisterte Schaffensfreudigkeit, mit der das Burgtheater an die große Aufgabe gegangen, den ganzen Faust auf die Bühne zu stellen, platzte der Künstlermeteor Coquelin. Wir sind gewöhnt, in gerühmten französischen Darstellern Enttäuschungen zu erfahren. Die Manier und Effectsucht bei ihnen läßt uns meistens bei allem Talente zu keinem ungetrübten Genusse kommen, den uns deutschen Puppenspielern nur das Enthüllen der Ideale Wahrheit und Einfachheit bereiten kann. Nun kommt aber in Coquelin ein Kerl, der seine Technik zu einer bisher ungeahnten Vollendung entwickelt hat und der sein immenses Können nur rein und keusch künstlerisch verwendet. Kein Wunder, daß er uns alle besoffen gemacht hat. Auf mein künstlerisches Vorwärtsschreiten hat Coquelin durch Beispiel und belebende Anerkennung energischsten Einfluß genommen. Letzteres geschah so: Coquelin, ein Hüne an Arbeitskraft und - zähigkeit, hatte seiner lächerlich überbürdeten Zeit hier es abgerungen, sich die Costümprobe von Faust I. anzusehen. Obwohl er nicht der deutschen Sprache mächtig ist, so kennt er Faust genau, da er schon jahrelang daran arbeitet, ihn, mit sich als Mephisto, auf das Théâtre français zu bringen. Mein Schüler (in total neuer Arbeit von meiner Seite) hatte ihn – so wahnsinnig eingebildet das auch aus meinem Munde klingen wird – entzückt, denn er kam nach Schluß der Scene auf die Bühne und ließ sich mir vorstellen. Er hat sich gegen alle Welt enthusiastisch über mich geäußert und mir seine

47 Die Tournee Dieudonné-Coquelin gab im Carltheater vom 17. bis zum 26. November 1882 zehn Gastspiele. Am 17. wurden L’Aventurière und Les précieuses ridicules, am 19. Tartuffe, am 22. und 24. Mademoiselle de la Seiglière gespielt. 48 Diese Matinee fand am 26. November im Carltheater statt. Gegeben wurden Väter und Töchter (Einakter von S. Schlesinger) und Madame Lili (Einakter von M. Monnier). Moritz Szeps war Begründer und Inhaber des Neuen Wiener Tagblatts. überzeugungsvolle Anerkennung gestern durch Übersendung seines Bildes ausgedrückt, das die mich stolz und glücklich machende Widmung trägt: „à mon camerade [sic!] Thimig souvenir de Faust. C. Coquelin.“49

In Josef Kainz’ „Antwort auf eine Rundfrage: ,Soll der Schauspieler seine Rolle empfinden?‘“ (1909) befindet sich ebenfalls ein lehrreicher Vergleich zwischen Coquelin und Salvini. Darauf folgen eindeutig lobende Bemerkungen Kainz’ über Coquelins Schauspielkunst, in denen aber deutlich wird, dass Kainz Coquelins „Geist“ auf Kosten des „Empfindens“ à la Salvini schwer nachzuvollziehen vermag (bekanntlich spielte Kainz am liebsten Rollen, die eher seinem Naturell entsprachen):

Und maître Coquelin! Man hat mir geschildert, daß Ihr Seufzer unter dem Balkon Roxanens, wenn Sie als Cyrano durch Ihre Redekunst dem blöden Christian zum ersten Liebeskuß verholfen hatten, die Leute laut schluchzen machte; und Sie hätten diesen Seufzer, der beim Publikum jene Empfindung weckte, im Augenblick nicht empfunden? Sie hätten diese feinsten Schwingungen einer zermarterten Seele immer rein mechanisch spielen lassen? Wie machen Sie das? – Ich glaube, die „verdrehte Schraube“ in Paul Lindaus „Ein Erfolg“ hätte ebenso naiv Shakespeare oder Goethe fragen können: „Wie dichten Sie eigentlich?“ – Wie sollen solche Auserwählte, die ihres Gottes voll schaffen, hinterher wissen, wie das geschah? Die Frage bleibt ungelöst, denn der liebe Gott gibt keine Audienzen mehr, und wenn er sie gibt, dann gibt er sie im Schlaf. „Im Schlummer krönt Gott seine Auserwählten“. Meinen Sie auch?50

Der polemische Diskurs ,von oben‘, nämlich der Diskurs eines Direktors wie Laube, wird zum großen Teil durch den Diskurs von Schauspielern wie Sonnenthal und Coquelin aufgewogen, die nicht selten freundschaftliche Beziehungen unterhalten haben, welche im Gegensatz zum Streit um das Prestige stand, dem Laube noch einen so großen Wert beimaß. Unterstrichen sei schließlich, dass das Polemische, das dem Diskurs Laubes (und Grillparzers) über das Théâtre Français zu Grunde liegt, zweifellos eine andere Facette der Bewunderung darstellt: Die Comédie Française bleibt für das Burgtheater das Vorbild, das zu erreichen ist.

49 Hugo Thimig erzählt von seinem Leben und dem Theater seiner Zeit. Briefe und Tagebuchnotizen ausgewählt und eingeleitet von Franz Hadamowsky. und Köln: Böhlau 1962. 53f. 50 Kainz. Ein Brevier. Hrsg. von Marie Mautner-Kalbeck. Wien: Österreichische Staatsdruckerei 1953. 75.

3. Ausblick oder Sackgasse? Das Burgtheater (Wildgans51) und die Neue Freie Presse (Auernheimer) in Paris 1922

Tout comprendre c’est tout pardonner, Euer Gnaden wissen eh. Und uns kann nix g’schehn. Was bleibt einem übrig bei den Zeiten, den teuern als betteln zu gehn und nach Paris, um Molière zu feiern? [Karl Kraus: Die Fackel 588-594. 1922. 35]

Diese ,Reise‘ durch die wechselseitigen Diskurse über Burgtheater und Comédie Française von Laube zu Wildgans möchte ich mit einer halb literarischen, halb politischen Episode abschließen, die Karl Zieger durchaus zu Recht als „une polémique austro-autrichienne autour du tricentenaire de la naissance de Molière52“ bezeichnete. Auch diesmal dokumentiert die Polemik Kraus’ gegen Wildgans zum einen die Beziehungen zwischen der Pariser und der Wiener Bühne und zum andern die Tatsache, dass die Comédie Française weiterhin als Vorbild für das Burgtheater fungierte.

Am 16. Januar 1922 fand eine Festaufführung des Eingebildeten Kranken zum 300. Geburtstag Molières im Burgtheater statt. Musik umrahmte sie, und der von Hofmannsthal verfasste Prolog wurde ihr vorangestellt. Parallel zu dieser Veranstaltung wurden der Direktor des Burgtheaters, Anton Wildgans (1881-1932), und der bekannte Kritiker und Feuilletonist der Neuen Freien Presse Raoul Auernheimer (1876-1948) dazu eingeladen, den Festlichkeiten anlässlich des 300. Geburtstags von Molière in Paris beizuwohnen. Bei dieser Gelegenheit hielt Wildgans im Namen Österreichs eine Rede, die als Entwurf in

51 Anton Wildgans war zweimal Direktor des Burgtheaters: zuerst 1921-1922 (in diesen Jahren war er mit einer höchst schwierigen finanziellen Lage konfrontiert), dann 1930-1931. 52 Karl Zieger: „Molière et la ,Jeune Vienne‘: la réception de Molière par Hofmannsthal“. In: Littératures Classiques 48. 2003. 173-182. Hier 173. seinem Briefwechsel auffindbar ist. Darauf wird auch in einem Brief Wildgans’ an seine Frau Lilly angespielt:

An seine Frau, Mödling. Paris, 16. Jänner 1922

Liebste Lilly!

... Nach langer, aber verhältnismäßig guter Reise Sonntag Mittag in Paris angekommen. Am Abend Festvorstellung in der Comédie. […] Heute war für mich der schwerste Tag. Bei einem großen Bankett, an dem alles teilnahm, was in Frankreich berühmt und mächtig ist, und überdies die Delegierten von 44 Staaten, mußte ich eine Rede halten und hielt sie – französisch. Sie wurde an mehreren Stellen von lebhaftem Beifall unterbrochen und endete mit einem vollen Erfolg für Österreich, das Burgtheater und mich. Das hätte ich mir wohl niemals träumen lassen, daß meine schwere Zunge ausgerechnet und gleichsam vor ganz Paris und der übrigen zivilisierten Welt französisch werde turnen müssen. Nun jagt eine offizielle Veranstaltung die andere, und ich werde Mühe haben, von Paris die paar Dinge zu sehen, die ich unbedingt sehen möchte. Spätestens Donnerstag Abend erfolgt die Rückreise, so daß ich programmgemäß Freitag nachts ankomme. Meine Gedanken sind desungeachtet immer bei Euch, und ich freue mich, dieses Abenteuer bald hinter mir zu haben. Grüß mir alle und sei selbst tausendmal geküßt von Deinem Toni.53

Und der skizzenhafte Entwurf zur Rede in Paris anlässlich der Molièrefeier am 16. Jänner 1922 im Wortlaut:

Der Einladung der französischen Regierung folgend, bin ich gerne nach Paris gekommen, um dem Genius Molières zu huldigen. Ich für meinen Teil tue dies in doppelter Eigenschaft: erstens als deutscher Schriftsteller und zweitens als Direktor jenes Wiener Burgtheaters, das, wie Ihre Comédie Française, nicht nur die erste Bühne des Vaterlandes, sondern überdies eine Angelegenheit menschlicher Kultur ist. So wie die Stimmen der Gebildeten in aller Welt laut werden müßten, wenn der Bestand der Comédie Française gefährdet wäre, so müßte dies gleichfalls der Fall sein, wenn durch die Not der Zeit gezwungen, der österreichische Staat nicht mehr in der Lage wäre, das Burgtheater zu erhalten. Denn in diesem ist die nationale Eigentümlichkeit eines Volkes so sehr ins allgemein Geistige gesteigert, daß nicht nur allein Österreich, sondern die ganze kultivierte Welt ärmer wäre, wenn das Burgtheater seine Tore schließen müßte. Diesen Charakter eines Weltgutes gewinnt das Burgtheater ebenso wie die Comédie Française durch seine Geschichte, die in seinen Traditionen aufbewahrt und gepflegt wird, und auch durch seinen Spielplan, der die dramatische Weltliteratur umfaßt. Dieser Spielplan bleibt unberührt von den zeitlichen Konstellationen der internationalen Politik, soweit es sich um klassische Werke der Weltliteratur handelt, die das Gemeingut aller Völker sind. So hat das Wiener Burgtheater inmitten der traurigen Epoche des Krieges, unbekümmert um diesen, die internationale Einheit alten Geistes betont und unter anderem auch Molière gespielt, und keinem Menschen ist es eingefallen, daran Anstoß zu nehmen. Und so ging auch am gestrigen Tage, zur selben Stunde, wo in der Comédie Française der „Bürger als Edelmann“ gespielt wurde, im Burgtheater zu Wien „Der eingebildete Kranke“ als Festvorstellung in Szene, und einer der ersten Dichter Österreichs [Hofmannsthal, Anm. M. L.] hat dazu einen Prolog geschrieben. Dies gibt mir den Stolz, heute vor Sie, meine Damen und Herren, hinzutreten und Sie zu bitten, in dieser Gleichzeitigkeit ein tiefes Symbol geistigen und kulturellen Zusammenhanges zu erblicken. Dies gibt mir aber auch den Mut, Sie zu bitten, darin auch ein Beispiel zu sehen. Denn die

53 Anton Wildgans: Ein Leben in Briefen. Hrsg. von Lilly Wildgans. Wien: Frick 1947. Band 2. 266f. Fruchtbarkeit aller menschlichen Beziehungen beruht auf dem Prinzip edler Gegenseitigkeit, die auf dem Gebiete des Geistes, d. h. der Kunst und Wissenschaft, keine Grenzen haben darf, mag die Politik indessen tun, was sie wolle. In diesem Sinne bitten wir Sie, unser Erscheinen und besonders unsere Huldigung für Molière zu deuten.54

Abgesehen von dieser Rede, die Wildgans in französischer Sprache hielt, publizierte Wildgans’ ,Begleiter‘ in Paris, Raoul Auernheimer, ein Feuilleton mit dem Titel „Molière et la tradition théâtrale en Autriche“ in der französischen Tageszeitung L’Eclair vom 19. Januar 1922. Auf all dies reagierte der Satiriker Karl Kraus in einer Folge von überaus ironischen und bissigen Texten in der Fackel-Nummer von März 1922 (drei Aufsätze und Glossen: „Annäherung der Nationen“. In: Die Fackel 588-594. 38f.; „Einzug in Paris“, ebenda. 96-102; „Wien im Lichte Molières“, ebenda. 103-106; und ein Gedicht: „Österreich bei der Molière-Feier“, ebenda. 25), die sich auf Wildgans’ Bitte bei den Franzosen um eine Subvention zur Bewahrung des Burgtheaters, auf die Legitimität der Anwesenheit österreichischer Vertreter bei der Molière-Feier in Paris 1922 und auf Auernheimers Artikel in L’Eclair konzentrieren. Auernheimer verglich in seinem Aufsatz das Burgtheater mit der Comédie Française und insistierte dann auf der besonderen Bedeutung, die Molière für die österreichischen Dramatiker hätte: „Nous autres Autrichiens avons été éduqués à l’école française, sur le domaine de la comédie, dont Molière reste le prototype le plus pur. En effet, Molière n’est pas seulement le plus grand de tous les auteurs de comédie ; c’est lui qui a créé le genre. […] Il est donc tout naturel que la tradition du Burgtheater s’appuie sur Molière, ancêtre de la comédie. […] Dans les vingt dernières années, l’Autriche, comme cela s’est produit dans tous les autres pays, à commencer par la France, s’est orientée à nouveau vers Molière, attestant par ce retour en arrière le souci de remonter à la source la plus pure de la comédie.“ Durch seine geistigen Kunststücke versuchte also Auernheimer zu beweisen, dass die österreichischen Komödiendichter des 18. Jahrhunderts von Molière inspiriert gewesen wären. Immer noch zu diesem Zweck verglich er dann Molières Le Misanthrope mit Hofmannsthals Der Schwierige (ein übrigens legitimer

54 Ebenda. 267ff. Vergleich55) und Molière mit Karl Schönherrs Der Weibsteufel (1914), das doch ein Musterbeispiel für den ländlichen Naturalismus darstellt. Auch die Annäherung Molières an Schnitzlers Einakter Literatur wirkt heute kaum überzeugend. Sämtliche geistigen Konstruktionen Auernheimers, insbesondere sein Annäherungsversuch zwischen Burgtheater und Comédie Française, und allgemeiner zwischen Österreich und Frankreich, werden von Kraus erbarmungslos angegriffen, gewissenhaft entkräftet und ins Lächerliche gezogen. Wie oft (ähnlich verfährt er etwa in seiner ununterbrochenen Kritik an Moriz Benedikt und, über ihn hinaus, an der Neuen Freien Presse) dehnt Kraus seine Kritik an Auernheimer auf eine grundsätzlichere, hier höchst ironische Kritik an der Zeitung (L’Eclair) aus, in der Auernheimer seinen Artikel veröffentlicht hatte: „Der »Eclair« veröffentlicht anläßlich der Feierlichkeiten zur Erinnerung an den 300. Geburtstag Molières einen Festartikel Dr. Raoul Auernheimers über »Molière und das österreichische Theater«. Es ist dies seit Kriegsbeginn der erste mit Namen gezeichnete Beitrag eines österreichischen Schriftstellers in der französischen Presse. Nur keine Aufregung, ich bitte sich nichts anzutun. Der ‚Eclair‘ ist eine zwar in Paris gedruckte, aber dort nicht gelesene Zeitung, die sich schon vorher mit gewissen österreichischen Kreisen verbrüdert hatte, indem sie einen Abonnenten in Prangins besaß.56“ Insgesamt findet Kraus den Ton Auernheimers in seinem Molière-Artikel übertrieben ehrerbietig und deswegen lächerlich. Was hier auf dem Spiel steht, ist, über die Polemik gegen Auernheimer und Wildgans hinweg, Kraus’ Instrumentalisierung Molières gegen dessen (seiner Ansicht nach) unbefugte Lobredner, die folglich auch eine indirekte Hommage an den Dramatiker bedeutet: Kraus war seit jeher ein prinzipieller Gegner von ‚Publicity‘-Ritualen der Intellektuellen – auch im deutschsprachigen Raum. Hier knüpft der Satiriker in seinem Angriff auf Auernheimer an seine persönliche Polemik gegen Anton Wildgans an:57 Kraus, der (mit Franz Blei und Robert Musil, der Wildgans zum Antidichter schlechthin machte, indem er ihn den

55 Siehe hierzu ebenfalls die Ausführungen von Zieger (Anm. 52). 179ff.; Le Misanthrope au théâtre, hrsg. von Juliette Vion-Dury, Paris: Sedes 2007, insbesondere den 2. Teil („Lectures croisées“ von Anne Teulade). 56 Karl Kraus: „Annäherung der Nationen“. In: Die Fackel 588-594. 1922. 38. In Hinkunft mit Seitenzahl im fortlaufenden Text zitiert. 57 Zum Kontext dieser Polemik siehe abermals auch Zieger (Anm. 52). 175f. „Dichter der Spießer58“ nannte) zu Wildgans’ Hauptgegnern zählte, wirft am Schluss von „Einzug in Paris“ dem damaligen Leiter des Burgtheaters vor, 1914 einer der heftigsten Verfechter des Krieges gewesen zu sein und nun Frankreich um finanzielle Unterstützung zur Rettung des Burgtheaters anzubetteln. Ein solches Verhalten ist für Kraus gleichbedeutend sowohl mit Opportunismus als auch mit Schamlosigkeit und vor allem Heuchelei. Die Hauptursachen für Kraus’ lebenslange Animosität gegen den Verfasser von Dies irae liegen in Wildgans’ Gedicht mit dem drohenden Titel Vae victis (1914), das den „verbündeten Heeren“ gewidmet war und von Kraus am Ende von „Einzug in Paris“ [Kraus. In: Die Fackel 588-594. 1922. 101] als höchst wirksame ,Selbstverurteilung‘ Wildgans’ angeführt wird:

Weh den Besiegten! Härtester der Sprüche, An ihren Nacken wird er kalt vollstreckt Mit Schlächterruhe ohne Haß und Flüche Zermalmt die Brut und was sie ausgeheckt. Der Sieger wird die Großmut unterdrücken, Und über schmählich hingekrümmte Rücken Hinstampfen wie auf häßliches Insekt.

Den Ausdruck „häßliches Insekt“ konnte Kraus Wildgans nie verzeihen [vgl. hierzu auch Kraus: Die Fackel 423-425. 1916. 22]. Was ihn an diesem besonders entrüstete, war, dass dieser – sogar offiziell! – nach Paris geschickt worden war, was für das nach dem Ersten Weltkrieg wirtschaftlich (wie konstitutionell) schon sehr geschwächte Österreich zu Ausgaben von 5 Millionen Kronen führte. Überdies habe diese Entscheidung auch dazu geführt, „daß wir das Geld, welches wir zusammenbetteln, mit vollen Händen hinausschmeißen“: „Auf dieses Unternehmen sollte es vernünftiger Weise keine andere Antwort geben als Steuerverweigerung.“ [Kraus: „Einzug in Paris“. In: Die Fackel 588-594. 1922. 96f.] Der Vorwurf der Geldverschwendung – ein ständiges Thema in Kraus’ politischen Kommentaren über

58 Ähnlich Kraus in seinem längsten Text über Wildgans in der Fackel [„Um Wildgans“. In: Die Fackel 852-856. 1931. 67-75. Hier 74f.]: „Sicherlich, Wildgans, der zu allen Gefühlen, die das Bürgertum gern klingen hört, auch noch über das soziale Mitleid verfügt und je nach dem Akzent der Zeit weder das Vaterland noch die Menschheit enttäuschen konnte, ist heute die stärkste Erfüllung des Begriffes, den das Publikum von der Poesie besitzt, und er mag sogar den ehrlichen Mangel einer Tiefe, die Werfel nicht hat, vor diesem voraushaben.“ die Nachwirkungen des Krieges – muss also vor allem im Kontext der wirtschaftlichen Not des Nachkriegsösterreich betrachtet werden. Ferner empörte sich Kraus zutiefst darüber, dass Wildgans, der so aggressive Kriegsgedichte verfasst hatte, nun laut von Versöhnung und „Übernationalität“ sprach und das „Prinzip edler Gegenseitigkeit“ verfocht, um vom ehemaligen Feind Subventionen zu erhalten. Eben dies war für Kraus, Alfred Polgar und andere das unbestreitbare Zeichen dafür, dass der Humanismus, den Wildgans von jetzt ab an den Tag legte, eigentlich nur eine Maske oder ein Trugbild war, und dass diese Tarnung einen Menschen entlarvte, der weniger zu Bedauern als zu Verwandlung und Heuchelei fähig war. In diesem Punkt weist Kraus’ Polemik gegen Wildgans eine frappierende Ähnlichkeit mit dem Kampf des Satirikers gegen Gottlieb-Kerr auf: Für Kraus blieb Wildgans – ähnlich wie der Berliner Theaterkritiker Alfred Kerr – v. a. der Verfasser von aggressiven (und ästhetisch gesehen schwachen) patriotischen Kriegsgedichten [siehe hierzu insbesondere Kraus: Die Fackel 572-576. 1921. 23f., 43 und 89]. Deswegen gehört Wildgans in Kraus’ Augen, genauso wie z. B. Bruder Willram, Franz Theodor Csokor, Richard Dehmel, Ottokar Kernstock und Richard von Schaukal, in die Kategorie der „Kriegsliteraten“ [Kraus: Die Fackel 588-594. 1922. 102]. In diesem Zusammenhang seien hier auch Gerhart Hauptmanns patriotische Lyrik, Thomas Manns Essay „Gedanken im Krieg“, Rilkes Fünf Gesänge oder Hermanns Bahrs „Kriegssegen“ genannt. Wie oft bei Kraus geht die moralische Verwerfung des Feindes mit dessen ästhetischer Ablehnung einher. Anders ausgedrückt: Kraus’ Kritik an der Person Wildgans’ ist nicht zu trennen von seiner Kritik an Wildgans’ literarischem Werk. In Richtigstellung steht eines der in dieser Hinsicht charakteristischsten Urteile Kraus’ über Wildgans’ künstlerische (Un-)Fähigkeiten: „Ich gestehe ohne Umschweife, daß ich eigentlich nicht viel mehr von Wildgans weiß als daß er fromm und bieder, wahr und offen für Recht und Pflicht steht […]. Ich kenne seine berühmtesten Gedichte, die ich für einen großen Dreck halte […]. Es ist quantitativ wenig, was ich von ihm kenne, aber da es qualitativ nichts ist, so ist es mehr als genug.“ [Kraus: Die Fackel 572-576. 53-60. Hier 55] Das sehr negative Porträt Wildgans’, das Kraus in vielen Fackel-Nummern entwirft, steht im krassen Gegensatz zu dem Bild von Wildgans als gutem österreichischen Patrioten und Humanisten, das Eduard Castle in der Deutsch- österreichischen Literaturgeschichte von Nagl-Zeidler-Castle zeichnet. Obwohl in Wildgans’ Briefwechsel keine Spur von Aufregung über Kraus’ Artikel in der Fackel zu finden ist, weist Arthur Schnitzler in seinem Tagebuch am 14. März 1922 darauf hin, dass Wildgans nach Lektüre eines der Artikel vom „kleinen Kraus“ sehr irritiert darüber gewesen sei: „– Im Burgtheater. – Wildgans sehr erregt über einen pamphlet. Artikel des kleinen Kraus anläßlich der Pariser Molière Feier, wo W. und Auernheimer Delegirte waren […].59“ An dieser heftigen Polemik Karl Kraus’ gegen Wildgans und Auernheimer ist deutlich geworden, wie Kraus sich des Bildes des großen Klassikers Molière bediente, um die offiziellen Vertreter Österreichs herabzusetzen. Das von Kraus als Heuchelei angeprangerte Verhalten Kerrs und Wildgans’, des ehemaligen ,Kriegsbarden‘ und Frankreich-Feindes, kommt einer tiefen Belastung für jeden Diskurs gegenseitiger Aufgeschlossenheit gleich.

Schluss

Zusammenfassend bildet das Polemische eines der auffälligsten Merkmale im wechselseitigen Diskurs über Burgtheater und Comédie Française von Laube zu Wildgans. Jene Charakteristik, die sich aus der Untersuchung eines gezielt gewählten Korpus (Schriften zum Theater und Briefwechsel der Schauspieler und Theaterdirektoren aus beiden Ländern) ergab, sollte doch nicht zum vorschnellen Fazit führen, dass nur Polemik und sterile Rivalität das Verhältnis zwischen den Hauptvertretern der beiden Theaterinstitutionen beherrscht hätten. Es hat tatsächlich auch freundschaftliche Beziehungen zwischen den Schauspielern beider Theater gegeben, die zu ihrer Zeit wohl ebenso wichtig waren wie der oft polemische Diskurs ,von oben‘. Diese vieldeutige Spannung zwischen zwei Diskursen ist das Hauptcharakteristikum von Beziehungen, die auf der

59 Arthur Schnitzler: Tagebuch 1920-1922. Hrsg. von Werner Welzig et al. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1993. 290. österreichischen Seite unter dem Zeichen der Anziehung und der Ablehnung stehen. Auffallend bleibt die Koexistenz zweier Diskurse, die sich nicht ausschließen, sondern in manchen Punkten auch überlappen oder ergänzen, indem sie ein neues und ganz konkretes Licht auf die Komplexität der österreichisch-französischen Kulturbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert werfen. 1967 wurde ein symbolisch wie kulturell gesehen bedeutendes gegenseitiges Gastspiel veranstaltet: Während die Comédie Française sich nach Wien begab, um Le Cid von Corneille und Le Dindon von Feydeau zu spielen, reiste das Burgtheater seinerseits nach Paris, um in der Comédie Française österreichische Stücke auf die Bühne zu bringen. Vom 17. bis zum 21. Oktober wurden Grillparzers Ein Bruderzwist in Habsburg, Schnitzlers Professor Bernhardi und Nestroys Einen Jux will er sich machen mit einigen der damals prominentesten Darsteller des Burgtheaters in der Comédie Française gespielt. Diese wechselseitige – und in dieser Form bis jetzt einmalige – Tournee lässt sich durchaus als ein Zeichen der Überwindung einer obsolet gewordenen Rivalität und der Rückkehr zu einem fruchtbaren Austausch zwischen dem österreichischen und dem französischen Theater betrachten, von dem sich die österreichischen Bühnen im 19. Jahrhundert schon so intensiv genährt hatten. 1922 schrieb doch Felix Salten: „Der Wiener, der zu Paris in die Comédie Française geht, hat am ersten Abend die merkwürdige Empfindung, als sei er nicht zum ersten Mal da, sondern irgendwie schon früher einmal hier gewesen … Es weht eine geistige Atmosphäre in der Comédie, die unbestimmt, aber dennoch unabweisbar mit der des Burgtheaters verwandt ist. Europa besitzt denn auch nur zwei Bühnen solcher Art: das Burgtheater und die Comédie Française. Beide entstanden im engen Anschluß an einen prunkvollen Hof, aber die Volksart gibt beiden die Dominante ihres Wesens. Beide sind einzig in ihrer Kontinuität und beide entwickeln sich aus den Gesetzen des national-geistigen Klimas ihres Landes.60“

60 Felix Salten: Das Burgtheater. Naturgeschichte eines alten Hauses. Wien und : Wiener literarische Anstalt 1922. 20f. * Für Anregungen, Bemerkungen und Hinweise bin ich Gilbert J. Carr, Kargl, Sigurd Paul Scheichl und W. Edgar Yates zu großem Dank verpflichtet. Herzlich bedankt seien an dieser Stelle auch die Beamten der Bibliothek der Comédie Française (v. a. Florence), die mir ständig mit Rat und Tat zu Hilfe gekommen sind und ohne die dieser Beitrag nicht zu Stande gekommen wäre.

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