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Sonntag, 05. September 2021

15.03 – 17.00 Uhr

Franz Schubert Die Musikserie von Christine Lemke-Matwey

Freunde und andere Männer: nur ein Gesellschaftsspiel? (10/21)

Heute möchte ich da anknüpfen, wo ich vergangenen Sonntag aufgehört habe: bei der Oper. Kennen Sie Freundschafts- oder Liebes-Duette mit Männern? Der Marquis von Posa und Don Carlos fallen einem natürlich ein, bei Verdi. Oder Bizets „Perlenfischer“. Viel mehr wird es kaum sein. Männer in der Oper sind, grob geschätzt, zu 98 Prozent Antagonisten, Gegner, Feinde, Konkurrenten. Nicht so bei Schubert! Hören Sie das Duett Froila/Mauregato „Kein Geist, ich bin am Leben“ aus dem dritten Akt seiner Oper „“ – und seien Sie herzlich begrüßt zur elften Folge unserer Sendereihe: „Freunde und andere Männer: nur ein Gesellschaftsspiel?“

1 BPHR 3‘24 LC 13781 „Alfonso und Estrella“ D 583 150061 Duett „Kein Geist; ich bin am Leben“ CD 8, Track 21 , Bariton Jochen Schmeckenbecher, Bariton Berliner Philharmoniker Ltg.: Nikolaus Harnoncourt (2005)

Was für eine Musik! Da begegnen sich Abendland und Morgenland, der Christ Froila und der „Heide“ Mauregato, und sie tun es bei Schubert in stockenden, tastenden, fast ungläubigen Rhythmen. Dann aber umschlingen sich ihre Melodien im Herzpuls und finden miteinander ins Unisono. In jeder moderneren Oper wäre das psychologisch sicher weiter ausgebreitet worden, Schubert aber findet: Das Ergebnis ist unerhört genug. Dass zwei Erzfeinde mitei- nander Frieden schließen; dass Märchenhaftes und Historisches zusammengehen; und dass zwei Männer öffentlich Gefühle zeigen, Empathie. Sie hörten Christian Gerhaher und Jochen Schmeckenbecher, sie wurden begleitet von den Berliner Philharmonikern unter Nikolaus Harnoncourt.

Schubert und die Männer, Schubert und seine Freunde, das ist ein großes Thema. Hie und da hat es mich schon beschäftigt: als es hier um Schubert und die Schule ging beispielsweise, seine ersten wichtigen Kontakte knüpft der Komponist im Wiener Stadtkonvikt; oder bei der Frage nach den Texten, die er vertont. Schubert genießt das Leben in der Wiener Bohème des frühen 19. Jahrhunderts, der Austausch mit den Künstlern und Intellektuellen ist ihm Familienersatz und Lebensform, prägt seine eigene ästhetische Entwicklung und schärft seine politische Wahrnehmung: für einen Aufbruch in bessere, friedlichere Zeiten nach der

Franz Schubert – 10. Folge Seite 2 von 8

Befreiung von Napoleon. „Der Kampf ist nun entschieden./ Bald, bald erscheint der Frieden/ In himmlischer Gestalt./ Drum jubelt hoch, ihr Deutsche,/ Denn die verruchte Peitsche/ Hat endlich ausgeknallt.“

2 cpo Franz Schubert 1‘20 LC 08492 Terzett „Verschwunden sind die Schmerzen“ D 88 999399-2 (eigener Text!? Anonymus) 1813 Track 3 (2004)

Ein Terzett a cappella für Männerstimmen, vom ganz jungen Schubert komponiert, 1813, auf einen anonymen Text. Manche Forscher vermuten, Schubert selbst sei der Dichter dieser acht patriotischen Strophen, inspiriert möglicherweise von Theodor Körner, den er früh liest und vertont. Wahrscheinlich ist es aber nicht. Schubert ist kein Mann des Wortes, weder schreibt er viel noch spricht er gern, wie wir von seinen Freunden wissen. Und alles dezidiert Politische ist ihm ohnehin fremd. „Verschwunden sind die Schmerzen“, so heißt dieses Ter- zett, D 88, es sangen die Singphoniker.

Es gibt eine berühmte Sepia-Zeichnung von , die zeigt Schubert im Kreise seiner Künstlerfreunde. Zwei Dinge sind daran interessant: erstens, dass Schwind die Zeich- nung im Nachhinein anfertigt, 1868, aus dem Gedächtnis heraus (wobei er sicher fremdes Bildmaterial zur Hilfe nimmt). Trauen kann man der Sache also nicht, im dokumentarischen Sinn. Es ist ein . Deswegen ist, zweitens, interessant, wo Schubert auf der Zeich- nung sitzt – ziemlich genau in der Mitte nämlich, am Flügel zwischen dem Sänger und Josef von Spaun, einem seiner ältesten Weggefährten. Der schweigsame, schüchterne Komponist ist das Herz des Ganzen. Und alle, alle drängen sich um ihn her: Maler, Dichter, Musiker; Rieder, Kupelwieser, Mayrhofer, Hüttenbrenner und wie sie alle heißen. Und natürlich, gleich vorne rechts, der Dichter des unseligen „Alfonso und Estrella“-Librettos, der gerne Schauspieler geworden wäre, ein hoch gebildeter Mann und schillernder, „zweideutiger“ Charakter, wie es heißt. 1822 vertont Schubert sein Gedicht „Frühlingsgesang“, ein Text, bei dem man leicht auf zweideutige Gedanken kommen kann.

Noch einmal die Singphoniker.

3 cpo Franz Schubert 4‘12 LC 08492 Terzett „Frühlingsgesang“ D 709 (Schober) 1822 999399-2 Die Singphoniker Track 17 (2004)

Wenn Männer singen: das a cappella-Terzett „Frühlingsgesang“ auf ein Gedicht von Franz von Schober. Eine Aufnahme mit den Singphonikern.

War Schubert homosexuell? Diese Frage hat viele Gemüter bewegt und wird auch heute noch gerne diskutiert. Die Forschung wird nie herausfinden, ob Schubert nun bi- oder homo- sexuelle Neigungen hatte oder nicht. Es existieren keine Bekenntnisse, keine erotischen Tagebücher und auch keine Prozessakten – immerhin wurden homosexuelle Handlungen in

© rbbkultur vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.rbbKultur.de Franz Schubert – 10. Folge Seite 3 von 8

Österreich schwer bestraft. Seit 1878 zwar nicht mehr mit dem Tod, dafür aber mit Folter und Kerker.

Junge Männer wie Schubert sehen sich also besser vor. So wie sie sich vor der Zensur hüten. Mit Gedichten wie Schobers „Frühlingsgesang“ bewegt Schubert sich auf der sicheren Seite: Metaphern wie der „flammende Speer“ des Sommers, rieselnde Quellen und schwellenden Knospen gehen gut auch als Naturlyrik durch.

Im Leben aber hat Schubert – so viel immerhin lässt sich sagen – hat keine Wahl. Er kann es sich nicht aussuchen, ob er bürgerlich leben möchte, mit Frau und Kindern und einer festen Anstellung, oder ob er sein Heil als freischaffender Künstler sucht. Die Gründung einer Fami- lie bleibt ihm verwehrt, dazu fehlt ihm schlicht das Geld. Also bleibt er Junggeselle und geht ins Bordell, zumindest einmal, wozu Schober ihn verleitet haben soll – mit dramatischen Fol- gen, seiner -Infektion nämlich; oder er hält sich, wenn man so weit gehen möchte, an andere junge Männer in einer ähnlichen Lebenssituation.

Ein frühes wie „Der Jüngling und der Tod“ nach Josef von Spaun scheint das zumindest nahezulegen, auch wegen seiner Beschwörung von „schön‘ren Welten“ und einem „geträumten Land“.

Christian Gerhaher und , 2002.

4 Arte Nova Franz Schubert 4‘23 LC 03480 „Der Jüngling und der Tod“ D 545 (Spaun) 1817 74321 92771 Christian Gerhaher, Bariton 2 Gerold Huber, Klavier Track 2 (2002)

Ein sperriges, finsteres Lied! Ursprünglich für zwei Stimmen geschrieben, als Duett sozusa- gen: „Der Jüngling und der Tod“ D 545. Ein Geschwisterlied zu Schuberts Matthias-Claudius- Vertonung „Der Tod und das Mädchen“. Die Bezüge reichen bis in einzelne Verse hinein. Das Mädchen ruft „Ich bin noch jung, geh Lieber!/ Und rühre mich nicht an“; der Jüngling bittet „O komm‘ und rühre mich doch an“. Was sagt diese Umkehrung, diese Spiegelung? Sie zeigt, wie intensiv Schubert und seine Freunde in der Kunst gelebt haben, wie intensiv wie mit Ideen umgegangen sind. Der Tod, das ist zu diesem frühen Zeitpunkt die Erlösung, die „schön‘re Welt“, die Utopie eines Allaufgehobenseins. Bei Schubert wird sich das später ändern. Noch aber ist er sich mit seinen Freunden einig: Die Kunst ist die einzig mögliche Existenzform auf Erden.

Ein Gedicht von Johann Baptist Mayrhofer, „An Franz“, und das „Ständchen“ aus dem „“, ein Lied also nach – hintereinander weggesprochen und -gesungen, ganz im Sinne einer , in der Verschiedenartiges, zueinander kommt. Julian Prégardien, Xavier Doaz-Latorre, Marc Hantai und Philippe Pierlot.

5 MYR An Franz“ (Johann Baptist Mayrhofer) 4‘21 LC 19355 Franz Schubert 018 „Ständchen“ aus: Schwanengesang D 957 Track 27 + 28 Julian Prégardien, Bariton

© rbbkultur vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.rbbKultur.de Franz Schubert – 10. Folge Seite 4 von 8

Xavier Doaz-Latorre, Gitarre Marc Hantai, Traversflöte Philippe Pierlot, Baryton

Eines der vielen Schubert-„Ständchen“, in einer Bearbeitung für Gitarre, Traversflöte und Baryton. Es sang Julian Prégardien.

Es gibt unterschiedliche Künstlerkreise, in denen Schubert sich bewegt, und richtig säuber- lich auseinanderzuhalten sind sie nicht. Es ist eben nicht so, dass er vom „Linzer Kreis“ um Anton von Spaun, dem Bruder seines Freundes Josef, in den „Wiener Kreis“ um Franz von Schober wechselt und von dort aus dann mit den Jüngeren weiterzieht, mit Mayrhofer, Kupelwieser und Bauernfeld. Die Grenzen sind vielmehr fließend. Der „Linzer Kreis“, heißt es, sei eher „utopisch-jakobinisch“ ausgerichtet, man will offenbar auch politisch etwas bewegen; der „Wiener Kreis“ und seine „Lesegesellschaft“ hingegen verstehen sich als „uto- pisch-romantisch“. Die politische Aufbruchsstimmung nach den Befreiungskriegen ist aufge- zehrt, unter der Knute des Metternich-Regimes tritt so etwas wie Resignation ein. Was bleibt, ist der Freiraum der Kunst, was bleibt, ist die Freundschaft, das Leben in einer mehr oder weniger verschworenen Gemeinschaft. Wobei man sich das nicht freudlos vorstellen darf. Die Freunde lesen nicht nur streng Goethe, Kleist, Tieck, Aischylos, Heine, Schlegel, Rückert oder Platen und steigern sich in einen heiligen geistigen Eifer hinein, sie spielen auch Spiele oder machen Ausflüge. Nach Schloss Atzenbrugg zum Beispiel, 35 Kilometer westlich von Wien gelegen und zum Stift Klosterneuburg gehörend. Schobers Onkel ist dort Gutsver- walter, wie günstig.

Sechs Atzenbrugger Deutsche, es spielt Paul Badura-Skoda.

6 Gramola Franz Schubert 5‘10 LC 20638 Sechs Atzenbrugger Deutsche D 145/365 99104 Paul Badura-Skoda, Klavier Track 5 (2015)

Paul Badura-Skoda mit Sechs Atzenbrugger Tänzen, so genannten Deutschen, also im 3/4- oder 3/8-Takt geschrieben und auch zu tanzen.

Die Künstlerkreise entfalten die unterschiedlichsten Aktivitäten, gemeinsam gelesen wird viel und regelmäßig, oft trifft man sich aber auch einfach nur im Wirtshaus. Zu den Aktivitä- ten gehören auch die von Anton von Spaun und herausgegebenen „Beyträge zur Bildung für Jünglinge“. Darin setzt man sich u.a. mit dem Freundschaftsbegriff auseinander, und die Emphase, in der das geschieht, ist typisch für den Schubert-Kreis und seine Zeit. Freundschaft, heißt es da, befreie von Gewalt, begeistere zum Siegen oder Ster- ben, lehre Bürgertugend, sei der Schrecken der Tyrannen und belebe die verfallenden Staa- ten mit frischem Geiste. Hohe Ideale! Gelebt werden sie unter allen Kunstsparten gleich, das ist wichtig. Der Austausch dient dem Austausch mit anderen, nicht mit seinesgleichen. Für Schubert ist das wegweisend. Er, der eine ordentliche, aber keine überragende Schulbildung hat, profitiert von der geistigen Gewandtheit seiner Freunde. Und von ihrer politischen Gesinnung.

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Vor allem sind es Dichter und Maler, die Schubert inspirieren, Wort und Bild also. Aber natürlich hat er auch mit Musikern zu tun, mit anderen Komponisten. Mit zum Beispiel, den er schätzt, mit Johann Jenger – oder mit Anselm Hüttenbrenner. Der kompo- niert 1816 sein erstes Streichquartett, sein Opus 3, und Schubert schreibt über ein Thema aus diesem Quartett ein Jahr später Variationen, 13 an der Zahl und für Klavier. Will er sich damit vor dem Freund verbeugen? Oder verbeugt er sich vielleicht vor jemand ganz ande- rem?

7 GCCDSA Ludwig van 2‘28 LC 00690 Sinfonie Nr. 7 A-Dur op. 92 921116 2. Allegretto CD 4, Track 6 of the Eighteenth Century 0‘00 – 2‘28 Ltg.: Frans Brüggen Blende (2011)

Das Allegretto aus Beethovens Siebter, ein Ausschnitt daraus, Franz Brüggen leitete das Orchestra of the Eighteenth Century – und das spiele ich hier, weil es exakt das Thema ist aus Anselm Hüttenbrenners Streichquartett, auf das wiederum Schubert sich in seinen Hüt- tenbrenner-Variationen bezieht. Musik über Musik über Musik, wenn Sie so wollen.

Der mit den „13 Variationen über ein Thema von Hüttenbrenner“ in a-Moll, D 576.

8 DG Franz Schubert 14‘38 LC 00173 13 Variationen über ein Thema von Hüttenbrenner 479 5545 a-Moll D 576 CD 32, Tracks Wilhelm Kempff, Klavier 6 – 19 (1968)

Wilhelm Kempff mit Schuberts Hüttenbrenner-Variationen, eine Aufnahme von 1968.

Man darf sich die Künstler- und Freundeszirkel, in denen Schubert sich bewegt, nicht zu gemütlich und locker vorstellen. Das Ganze ist ein Lebensmodell und hat Ansprüche – „das Gute allenthalben frey und öffentlich auszusprechen“, wie Anton von Spaun es einmal formuliert. Auch setzen sich die Freunde mit theoretischen Schriften zur Kunst auseinander, mit Friedrich Schlegels Universalpoesie zum Beispiel, in der es heißt: „Das Wesen der höhern Kunst und Form besteht in der Beziehung aufs Ganze. Darum sind alle Werke Ein Werk, alle Künste Eine Kunst, alle Gedichte Ein Gedicht. Denn alle wollen ja dasselbe, das überall Eine und zwar in seiner ungeteilten Einheit.“ Diese Idee von einem Ganzen, diese Idee von einer Art hat Schubert, den Liederfürsten, den verhinderten Opernkomponis- ten, sicher fasziniert.

Aber man ist auch gerne lustig miteinander. So pflegt sich der Wiener Kreis um Schober Tarn- namen aus dem Nibelungenlied zu geben. Schober ist „der grimme Hagen“, der Maler Moritz von Schwind ist Giselher, das Kind, Franz von Bruchmann, der angehende Jurist, ist Gunther und Schubert ist Volker, der Spielmann. Ein ähnliches Rollenspiel wiederholt sich in einer Parodie, die 1825 zu Silvester schreibt, diesmal an der Commedia dell‘arte orientiert: Hier übernimmt Schober den Pantalone, Schwind den Arlecchino und

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Schubert den Pierrot. Dass Schubert sich komponierend am komischen oder komödianti- schen Fach versucht, ist selten. Hin und wieder aber tut er es, bei „Herrn Josef Spaun, Asses- sor in Linz“ zum Beispiel – Rezitativ und Arie auf einen in der Ferne weilenden, schmerzlich vermissten Freund.

Dietrich Fischer-Dieskau und .

9 DG Franz Schubert 4‘55 LC 00173 „Herrn Josef Spaun, Assessor in Linz“ D 749 477 9002 Dietrich Fischer-Dieskau, Bariton CD 13, Track 17 Gerald Moore, Klavier (1969)

Das Dokument einer parodistisch erhöhten : „Herrn Josef Spaun, Assessor in Linz“, D 749. Die Interpreten waren Dietrich Fischer-Dieskau und Gerald Moore.

Unter den Freunden gibt es also: Lesegesellschaften, Wirtshausbesuche, kleinere Ausflüge, größere Landpartien, die Schubertiaden, auf die ich gleich noch kommen werde – und es gibt telepathische bzw. musiktherapeutische Sitzungen, die man abhält. Was es damit auf sich hat, erklärt das folgende Protokoll aus dem Hause des Malers Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld: „Abends 7 Uhr 25 fiel die Somnambule Louise Mora in Trance, als Herr Schubert einen jener Deutschen Tänze spielte, welcher wie gewöhnlich bei ihr diese Wirkung hervor- bringt. < … > Unter anderen Stücken wurde auch , von ihm selbst componirt, gespielt, welcher ebenfalls einen tiefen Eindruck auf sie machte. Sie begehrte wach zu wer- den.“

Mit dem „Wanderer“ ist wohl die berühmte „Wandererfantasie“ gemeint, die Schubert im November 1822 schreibt, und vielleicht bleibt in dem Protokoll bewusst etwas undeutlich, ob die Patientin durch die Fantasie nun weiter in Trance gehalten wurde, oder ob ihr rabiater Wanderschritt sie erwachen ließ. Schubert als Hypnotiseur, was für eine Idee! Doch wenn, dann wäre wohl die Wandererfantasie dafür geeignet, einen in Trance zu versetzen: weil sie auf einem einzigen musikalischen Motiv fußt und ihre vier Sätze ineinander übergehen, und weil das Ganze so vielsagend schillert zwischen Fantasie und Sonate. Der Sog, den das hat, dieser Sog ist jedenfalls sehr schubertisch.

Die Fantasie in C-Dur D 760 op. 15, die „Wandererfantasie“. Es spielt: Swjatoslaw Richter.

10 Profil Franz Schubert 20‘44 Hänssler „Wanderer“ Fantasie C-Dur D 760 op. 15 LC 13287 Swjatoslaw Richter, Klavier PH 17005 (1963) Tr. 505

„Der Teufel soll dieses Zeug spielen!“, soll Schubert gerufen haben beim Versuch, seine Fan- tasie in C-Dur D 760 selbst aufzuführen, die legendäre „Wandererfantasie“ – zweifellos eines seiner technisch anspruchsvollsten Werke überhaupt. Wir hörten eine Aufnahme mit Swjatoslaw Richter aus dem Jahr 1963.

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Immer wieder gibt es in den Künstlerkreisen auch Entfremdungen, Zerfallsprozesse, etwa wenn sich die Zusammensetzung ändert. Der harte Kern aber bleibt bestehen. Ihn bilden Schober, Schwind, Schubert und Bauernfeld, und wie weit das geht, wie eng Kunst und Leben miteinander verzahnt sind, zeigen Eduard von Bauernfelds Erinnerungen: „In der Frage des Eigentums war die kommunistische Anschauungsweise vorherrschend; Hüte, Stiefel, Hals- binden, auch Röcke und sonst noch eine gewisse Gattung Kleidungsstücke, wenn sie sich nur beiläufig anpassen ließen, waren Gemeingut. Wer eben bei Kasse war, zahlte für den oder die anderen. Natürlich dass Schubert unter uns die Rolle des Krösus spielte und ab und zu in Silber schwamm, wenn er etwa ein paar Lieder an < den > Mann gebracht hatte.“

Einer für alle, alle für einen – was für ein gelebtes Ideal! Dieses Ideal steht sozusagen hinter allem, auch hinter einer Oper wie „Alfonso und Estrella“, wenn sich am Ende alle Konflikte lösen und die Idylle über die harte politische Realität siegt.

Rezitativ, Terzett und Finale aus dem dritten Akt, „Empfange nun aus meiner Hand – Hab ich dich, Vater, wieder! – Die Schwerter hoch geschwungen“. Nikolaus Harnoncourt leitet die Berliner Philharmoniker.

11 BPHR Franz Schubert 8‘03 LC 13781 „Alfonso und Estrella“ D 583 150061 Rezitativ, Terzett und Finale „Empfange nun aus CD 8, Track 22 meiner Hand – Hab ich dich, Vater, wieder! - Die Schwerter hoch geschwungen“ Christian Gerhaher, Bariton Jochen Schmeckenbecher, Bariton Dorothea Röschmann, Sopran Kurt Streit, Tenor Hanno Müller-Brachmann, Bass Rundfunkchor Berlin Berliner Philharmoniker Ltg.: Nikolaus Harnoncourt (2005)

Christian Gerhaher, Jochen Schmeckenbecher, Dorothea Röschmann, Kurt Streit, Hanno Müller-Brachmann sowie der Rundfunkchor Berlin und die Berliner Philharmoniker unter Nikolaus Harnoncourt mit dem Finale aus Schuberts Oper „Alfonso und Estrella“, die zu Leb- zeiten des Komponisten nie aufgeführt wurde.

Welche Rolle spielt Schubert im Kreis seiner Freunde? Glaubt man Moritz von Schwinds Sepia-Zeichnung: eine bedeutende. Der Komponist sitzt im Zentrum des Bildes, wie gesagt, die Gesellschaft scheint ihn zu brauchen. „Schubertiade“, so heißt der Titel dieser Zeichnung. Schubertiaden sind größere Veranstaltungen ab Januar 1821, bei denen Schuberts Musik im Vordergrund steht und zu denen formell eingeladen wird, oft mit Tanz im Anschluss. Ohne Schubert, ohne die Musik hätte das nicht funktioniert. Allerdings gibt es den einen Schubert,

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den öffentlichen, nicht ohne den anderen, ohne denjenigen, der ganz mit sich allein sein muss, um an musikalischen Problemen und Fragen zu arbeiten.

12 Sony Franz Schubert 3‘59 LC 06868 Fuge in e-Moll D 952 60137 Allegro moderato Track 11 Yaara Tal & Andreas Grothuysen, Klavier (1995)

Das klingt sehr wenig nach geselliger Unterhaltungsmusik: Das Klavierduo Yaara Tal und Andreas Grothuysen mit einer späten Fuge in e-Moll, ursprünglich für Orgel zu vier Händen komponiert. Und das ist eben auch Schubert: ernst, grüblerisch, schwermütig. Als er begreift, was seine Syphilis-Diagnose bedeutet, entfremdet er sich mehr und mehr von den Freunden. Sie sind gesund, für sie geht das Leben in der Kunst weiter, der Traum vom Tod als Erlösung. Für ihn aber wird der Tod zur bitteren Realität. „Schubert war lange und schwer krank gewe- sen“, schreibt Mayrhofer, „er hatte niederschlagende Erfahrungen gemacht, dem Leben war die Rosenfarbe abgestreift; für ihn war Winter eingetreten.“

Diesen Winter – und das ist das Großartige – fasst Schubert auch am Ende seines Lebens in Töne, die immer noch von Sehnsucht sprechen und von Hoffnung. Anna Lucia Richter, Gerold Huber und Matthias Schorn mit dem „Hirt auf dem Felsen“. 13 Pentatone Franz Schubert 12‘26 LC 12686 „Der Hirt auf dem Felsen“ D 965 5186 722 Anna Lucia Richter, Sopran Track 15 Gerold Huber, Klavier Matthias Schorn, Klarinette (2019)

Die junge Sopranistin Anna Lucia Richter mit dem „Hirt auf dem Felsen“, eine brandneue Aufnahme von 2019. Begleitet wurde sie von dem Pianisten Gerold Huber und dem Klarinet- tisten Matthias Schorn.

Nächste Woche, in Folge 11, lautet das Thema „Grün ist alle Utopie“, und das ist natürlich nicht tagespolitisch gemeint, sondern beschäftigt sich mit Schubert auf Landpartie. Ich bin Christine Lemke-Matwey und gebe Ihnen jetzt noch ein paar Walzertakte mit in einen hoffentlich schönen Sonntagabend.

14 PROFIL Franz Schubert 1’53 LC 13287 12 Grazer Walzer, D 924 16094 Nr. 8 und 12 Tr. 008 Ammiel Bushakevitz, Klavier

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