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Allegorie und Prophezeiung

Christopher S. Wood

Die Beziehung zwischen Allegorie und Kunst in der Moderne ist nicht offensichtlich, nicht entspannt. Im Jahr 1648 beschrieb Carlo Ridolfi ein Bild Tizians in der Samm- lung Borghese in Rom schlicht als „due donne vicine a una fonte“ [Abb. 37]. Seit 1693 trägt es den Titel Amor divino e Amor profano oder einen ähnlich lautenden Namen.1 Fast jeder, der sich zu dem um 1515 entstandenen Werk geäußert hat, hat auch versucht, es zu deuten. Der geheimnisvolle Reiz des Bildes wird dabei in eine sprachliche Formel übersetzt, die auf eine Maxime über die menschliche Natur oder eine Aussage über das menschliche Streben hinausläuft. Man geht davon aus, dass das Bild auf versteckte Weise Bedeutung vermittelt: die Interaktion zweier Frauen, von denen die eine bekleidet und die andere nackt ist, und die auf einem Brunnenrand einander gegenübersitzen, ist schließ- lich eine Situation, der man in der gewöhnlichen Erfahrung nicht oft begegnen dürfte. Deshalb wird angenommen, dass es dafür eine beson- dere Motivation gibt: die Figuren müssen in genau dieser Weise ange- ordnet worden sein, um uns etwas zu sagen, was wir nicht wissen. Die Unwahrscheinlichkeit der Szene signalisiert demnach, dass es um mehr geht als man mit bloßem Auge erkennen kann. Die gefühlte Anwesen- heit einer unsichtbaren Motivation, die hinter der Zeichenoberfläche verborgen ist, reicht aus, um dieses Gemälde als Allegorie zu identifi- zieren. Aber ist Tizians Gemälde tatsächlich eine Allegorie? Und falls es eine ist, welche Position kommt einer derartigen Allegorie innerhalb einer Genealogie moderner Kunst zu? Genau besehen ist die Allegorie eine Verdoppelung von Rede. Eine Allegorie ist ein Text, bei dem sich herausstellt, dass er etwas anderes sagt, als es bei der ersten Lektüre den Anschein hatte, sobald er mit Hilfe eines Schlüssels entziffert wird. Nicht klar ist jedoch, ob ein Bild über- haupt eine Allegorie sein kann. Tizians Gemälde zeigt uns ein Bild zwei-

1 Vgl. Maria Grazia Bernardini, „L’ ‚Amor Sacro e Profano‘ nella storia della cri- tica“, in: Tiziano, Amor Sacro e Amor Profano, Ausst.kat., Rom 1995, S. 35. 568 Christopher S. Wood er Frauen, die unter freiem Himmel an einem Brunnen sitzen. Doch es sagt gar nichts. Das Bild ist kein Text. In der Renaissance war es unüb- lich, den Begriff ‚Allegorie‘ auf Gemälde anzuwenden, wenn er über- haupt je zu ihrer Beschreibung benutzt wurde. Giorgio Vasari , der His- toriker der italienischen Kunst des 16. Jahrhunderts, hat das Wort nicht ein einziges Mal verwendet.2 Dennoch können wir versuchen, Tizians Gemälde zu ‚lesen‘, indem wir die Figuren und andere Bildelemente be- stimmten Wörtern oder Begriffen zuordnen und dadurch entdecken, dass das Bild uns nicht nur etwas zeigt, sondern uns zusätzlich auch etwas zu sagen hat. Vielleicht stellt sich dann heraus, dass das Gemälde ‚mit Bildern zu schreiben‘ versucht. Bilder-Schreiben ist ein altehrwürdiges Verfahren zur Vermittlung wichtiger Botschaften. Priester und Propheten verkleideten Begriffe als Bilder. Die Götter selbst schrieben in Bildern, wenn sie Botschaften in Form von Träumen schickten. Moses zufolge „erfolgen die meisten Weissagungen der Propheten in Bildern. Denn hierin besteht die Tätigkeit des Werkzeugs, dessen sie sich dabei bedienten, nämlich der Einbildungskraft“.3 Das prophetische Bild und der Traum besitzen beide eine geschichtete, in sich gedoppelte Struktur: unter einer un- scheinbaren oder unverständlichen Oberfläche verbirgt sich eine Bot- schaft von größter Bedeutung. Der unachtsame Empfänger einer Pro- phezeiung oder eines Traums mochte sie lediglich für ein merkwürdiges oder schönes Bild halten; der weise Interpret hingegen verstand es, diese oberflächliche Rezeption des Bildes mit Hilfe einer eindringlicheren Le- sestrategie zu überwinden. Diese gestaffelte Rezeption, zu der das pro- phetische Bild einlädt, rückt es in die Nähe allegorischer Texte. Die Tra- dition des Bilder-Schreibens hilft also zu erklären, warum ein Gemälde

2 Vgl. Giorgio Vasari, Le Vite de’ più eccellenti pittori, scultori e architettori. Con- cordanze, Bd. I.A, hrsg. von Paolo Barocchi [u. a.], Pisa 1994. Der Grande Dizio- nario della Lingua Italiana führt keine Verwendung des Wortes allegoria in Ver- bindung mit der Malerei vor dem 18. Jahrhundert auf. Joost Keizer, „Leonardo and Allegory“, Oxford Art Journal, 35/2012, S. 435–455, dort S. 435–436, refe- riert die Betrachtungen des Humanisten Cristoforo Landino über die Möglich- keit einer bildlichen Allegorie. Das wirklichkeitsgetreue Gemälde – so Keizers Lektüre von Landino – kann nicht eine andere Ebene jenseits der Darstellung andeuten, kann also nie allegorisch wirken. Es wird später klar, dass Keizers und meine Thesen sich mindestens teilweise decken. 3 Moses Maimonides, Führer der Unschlüssigen. Zweites Buch, übers. von Adolf Weiss, Leipzig 1924, Kap. 47, S. 304. Allegorie und Prophezeiung 569 wie Tizians Himmlische und irdische Liebe, dessen Oberfläche so seltsam ist wie ein Traum , als Allegorie bezeichnet wurde. Obwohl aber viele Kommentatoren meinen, Tizians Bild versuche etwas zu sagen, herrscht keine Einigkeit darüber, was dieses Etwas sei. Und was noch interessanter ist: nicht alle modernen Kunsthistoriker sind der Auffassung, dass es überhaupt von Bedeutung sei, was das Bild sage. Edgar Wind, dessen Buch Pagan Mysteries in the Renaissance ein Kapitel über dieses Gemälde enthält, hielt die Klärung der Frage für wichtig. Wind schrieb: „[A]esthetically speaking, there can be no doubt that the presence of unresolved residues of meaning is an obstacle to the enjoyment of art.“ Bis die Botschaft des Bildes übermittelt worden sei, werde der Betrachter „plagued by a suspicion that there is more in the painting than meets the eye“.4 Man kann sich jedoch leicht einen anderen Betrachter vorstellen, der die unzugängliche Fülle des Gemäl- des zwar ahnt, von diesem Eindruck aber keineswegs ‚geplagt‘ wird. Ein Beispiel für einen solchen Betrachter war der Kunsthistoriker Sydney Freedberg, ein Formalist, der sich damit zufrieden gab, das Thema des Bildes auf einer sehr allgemeinen Erklärungsebene zu belassen. Freed- berg zufolge zeigt Die himmlische und irdische Liebe im Kern die „clas- sicizing idea of mutually responsive part and counterpart […] using not only the form and meaning of the figures to his end but all the elements of setting. The clothed and unclothed figures make two competing yet related radiances“. „The effect of art“, fährt Freedberg fort, „is suppor- ted further by the poetic theme.“5 Ein linker Kunsthistoriker wiederum wird die Berühmtheit des Gemäldes nicht so sehr auf dessen immanen- te Eigenschaften zurückführen, sondern auf dessen Stellung als Zeichen innerhalb eines Systems sozialer Beziehungen: Der Zweck des Systems, so nimmt man an, sei es zwar letztlich, die Verfügung über Geld und Besitztum zu organisieren, doch getragen würden die entsprechenden Beziehungen von Mythen über ‚reale‘ Bedeutungen, die anderswo zu finden seien. Für Rona Goffen etwa wird das klassische Sujet von Tizi- ans Gemälde durch den Kommentar des Bildes zur zeitgenössischen Ehe außer Kraft gesetzt. Goffen zufolge ist Die himmlische und irdische Liebe „primarily concerned with the reality and ideality of women in

4 Edgar Wind, Pagan Mysteries in the Renaissance, New Haven/CT 1958, S. 22; zum Tizian-Gemälde vgl. S. 121–128. 5 Sydney J. Freedberg, Painting in , 1500 to 1600, Harmondsworth 1979, S. 147–148. 570 Christopher S. Wood marriage“.6 In einem System sozialer Beziehungen gelten Kunstwerke als Objekte, deren Vorhandensein dank der Fiktion des Genies künst- lich begrenzt wird; Objekte, durch die man wertstiftende Bedeutungen zu finden und zu entziffern fftho , vorausgesetzt, man ist im Besitz des richtigen Schlüssels. Allein der erste dieser drei Kommentatoren, der Ikonograph, be- trachtet die Entzifferung der Bedeutung des Gemäldes als heilige Pflicht. Er glaubt, er könne mit seiner Erfahrung des Gemäldes erst dann begin- nen, wenn ihm dessen Botschaft klargeworden sei. Doch hat das Bild, wie in Edgar Winds Szenario, seine Bedeutung einmal preisgegeben, hat es seine allegorische Arbeit getan. Wie der Formalist Freedberg und die politische Realistin Goffen betrachtet daher auch Wind die allegorische Qualität von Tizians Bild als etwas, das ihm nicht wesenhaft angehört.7 Alle drei Kommentatoren beerben eine Tradition romantischen Denkens, das Zweifel daran hegte, ob die Ziele der Kunst jemals mit denen der Allegorie versöhnt werden können. Kunst und Allegorie galten den Romantikern als unvereinbar, weil jeder Verdacht des Re- zipienten (Lesers, Betrachters), die Bedeutung sei sorgfältig ausgeklü- gelt, das Versprechen des Kunstwerks untergräbt, uns mit einem Gott oder einer Natur oder mit einem Selbst zu versöhnen, zu dem wir den Kontakt verloren haben. Dem wegweisenden Kunsthistoriker des spä- ten 19. und frühen 20. Jahrhunderts Aby Warburg war das allegorische Werk suspekt, da es zur Entschlüsselung mit dem Verstand aufforder- te. Mit jeder eingehenden Beschäftigung mit allegorischen Chiffren , so Warburg , verschanzen wir uns nur noch tiefer in einer Situation, in der wir uns von den wahren Bedeutungsquellen, die archaischen Leiden- schaften entspringen, zunehmend entfernen. Ein Rest von ihnen sei nur noch in wenigen, besonders machtvollen Bildern spürbar, deren dynamische Formen die Vergangenheit in unsere unmittelbare Gegen- wart hereinholten. Ein Werk, das mit allegorischen Personifizierungen überfrachtet sei – als Beispiel nannte Warburg eine Oper aus dem spä-

6 Rona Goffen,Titian’s Women, New Haven/CT 1997, S. 33. 7 Wind, Pagan Mysteries, S. 188, interessiert sich nicht für bloße ‚sphinx-artige‘ Symbole, die sterben, sobald ihre Geheimnisse enthüllt werden. Das ‚großarti- ge‘ Symbol, argumentiert Wind, wird im Gegenteil nach der Entschlüsselung seines Rätsels noch lebendiger. Er verdeutlicht diese These allerdings nicht. Für eine Zusammenfassung der wichtigsten Interpretationen des Gemäldes vgl. Harold E. Wethey, The Paintings of Titian, London 1975, Bd. III, S. 175–177. Vgl. auch die Liste von 17 (!) weiteren Deutungen ebd., S. 178–179. Allegorie und Prophezeiung 571 ten 16. Jahrhundert, doch mit etwas mehr Mut hätte er auch Tizian ins Visier nehmen können –, werde das Repertoire an Assoziationen, das es mit dem Betrachter teile, übersteigen und entsprechend in solipsistische Bedeutungslosigkeit verfallen.8 Für einen Kritiker der Allegorie wie Warburg kann die Kunst der italienischen Renaissance nicht zwei Rollen gleichzeitig spielen: die Rol- le einer Kunst, welche der Allegorie einen privilegierten Status zusprach und zugleich die Rolle einer Kunst, die als Matrix moderner, säkularer Kunst erscheint. Wenn die einzige Leistung des allegorischen Gemäl- des darin besteht, die Betrachter zu verwirren, indem es sich proble- matischerweise an der Dichtung oder an neoplatonischem mystischem Denken orientiert, oder vielleicht an ägyptischen Hieroglyphen, die sie als präkonventionelle oder göttliche Schriftzeichen missverstehen; und wenn sie die Unwissenheit der Betrachter bloßstellen bzw. sie mit Andeutungen einer nie sich einstellenden Sinnhaftigkeit quälen, dann hätte ein Gemälde wie Die himmlische und irdische Liebe als Werk zu gelten, das nicht etwa die neugewonnene Freiheit der Malerei zelebriert, sondern als Werk, das einer katastrophalen Wende in der Geschichte der Kunst zuarbeitet – einer Wende, die zu drei Jahrhunderten einer akademischen Kunst führte, die nur gebildeten Betrachtern zugänglich war. Romantische Maler, Dichter und Kritiker lehnten die Allegorie und mit ihr die Tradition des hochgebildeten Bilder-Schreibens ab und zo- gen das Symbol vor, weil es das Erlebnis einer größeren Wahrheitsfülle versprach. Die Anerkennung der romantischen Sichtweise auf die Alle- gorie ist deshalb gleichbedeutend mit dem Ausschluss der allegorischen Malerei der Renaissance aus der Vorgeschichte der modernen Kunst. Einige Denker des 20. Jahrhunderts entwickelten jedoch eine ein- flussreiche Gegenkritik, die das romantische Vertrauen in das Symbol in Zweifel zog und die Vorzüge der Allegorie neu für sich entdeckte. Diese Kritik ist verbunden mit den Namen Walter Benjamin , Hans-Ge-

8 Aby Warburg, „I costumi teatrali per gli intermezzi del 1589“ [zuerst 1895], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.1: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance, hrsg. von Gertrud Bing, Leipzig 1932, S. 422–438. Vgl. auch Matthew Rampley, „From Symbol to Allegory. Aby Warburg’s Theory of Art“, in: Art Bulletin, 79/1997, S. 41–55. 572 Christopher S. Wood org Gadamer und Paul de Man. 9 Ihren Arbeiten zufolge kann ein alle- gorisch strukturiertes Gedicht in der Tat nicht das leisten, was es ver- spricht – ganz so, wie seine romantischen Kritiker es immer behauptet hatten. Doch die neuen Allegoriker betonen, es liege in der Natur der Sprache selbst, keine Bindung an die Realität herstellen zu können. Sprache sei zu jedweder Form von Vergegenwärtigung unfähig. Folgt man Benjamin, Gadamer und de Man, so ist es die besondere Beru- fung dichterischer Sprache, das Scheitern des referentiellen Bezuges zu reflektieren, das aller sprachlichen Kommunikation Widerstand leistet: sei es, um es zu beklagen, sei es, um ihm die Stirn zu bieten, doch in jedem Fall, um auf dieses Scheitern hinzuweisen. Die Allegorie signali- siert eine Form der Resignation, die sich nicht nur mit der Entfremdung des Zeichens von der Realität abgefunden hat, sondern auch mit der zeitlichen Lücke oder Differenz, die jedem Zeichenprozess innewohnt. Die allegorische Schreibweise erscheint daher nicht so sehr verblendet als vielmehr desillusioniert und kann aufgrund ihrer Skepsis und ihrer philosophischen Genauigkeit sogar als die dichterische Schreibweise angesehen werden, die der Moderne am angemessensten ist. Die Al- legorie tröstet dann das desillusionierte Bewusstsein, indem sie lehrt, keine naive Übereinstimmung zwischen der Sprache und den Dingen anzustreben oder eine solche Vereinigung in der Kunst zu suchen, son- dern vielmehr Bedeutungen in einem schwebenden Netz aus Zeichen zu finden (oder zu konstruieren zu versuchen), Zeichen, die Texten entliehen sind und bereits unendlich oft zu neuen Texten zusammen- gesetzt wurden. Die verästelte, gestaffelte, dezentrierte Bewegung von Zeichen zu Zeichen, losgelöst von jeder politischen Autorität – das ist der Rhythmus der modernen Gesellschaft, ganz gleich, ob diese sich in ihrer liberalen, revolutionären oder post-revolutionären Phase befindet. In dieser Denktradition beginnt der Begriff der Allegorie sich aus- zudehnen, bis er jede mehrdeutige Lektürepraxis einschließt, und die

9 Vgl. Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, hrsg. von Rolf Tie- demann, Frankfurt/M. 1978, hier bes. den Teil „Allegorie und Trauerspiel“; Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophi- schen Hermeneutik, Tübingen 1975, hier bes. das Kap. „Die Grenze der Erleb- niskunst; Rehabilitierung der Allegorie“, S. 66–77; Paul de Man, „The Rhetoric of Temporality“, in: ders., Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of Con- temporary Criticism, Minneapolis/MN 1983, S. 187–228. Vgl. auch Northrop Frye, Anatomy of Criticism, Princeton/NJ 1957; sowie Angus Fletcher, Allegory. The Theory of a Symbolic Mode, Ithaca/NY 1964. Allegorie und Prophezeiung 573

Allegorie am Ende gleichbedeutend wird mit dem Akt des Lesens selbst. Es gibt keine Spannung mehr zwischen Allegorie und Kunst, sondern die Allegorie gilt als die wahre Form der Kunst. Denn die Kunst erweist sich als der Ort, an dem die Bewegung der allegorischen Sinngebung als Bewegung mit einem unbestimmten Ende zur Aufführung gelangt. Und das heißt, dass sich die Kunst als eine Institution herausstellt, durch die sich eine Gesellschaft klarmacht, dass ihr die Paradoxien der Referenz bewusst sind, auch wenn sie ihren praktischen Geschäften nachgeht, als wäre nichts geschehen und als stünde die Sprache tatsächlich in Verbin- dung mit der Wirklichkeit. Dieses Argument hinsichtlich der allegorischen Struktur aller po- etischen Konstrukte, vielleicht sogar aller Kunst, ist seit de Man nicht wesentlich weiterentwickelt worden. In der Reflexion über die Allegorie erleben wir gegenwärtig eine Pause. Der Grund dafür ist vielleicht darin zu suchen, dass unter den romantischen Anhängern des Symbols und den post-romantischen Fürsprechern der Allegorie eine grundsätzliche Einigkeit über die Prämissen der Debatte herrscht. Sie gehen nämlich alle davon aus, dass die Allegorie ein desillusionierter Modus und das Symbol ein naiver Modus der Darstellung sei. Am Ende stellt sich dann schlicht die Frage, ob man mit der Desillusionierung leben kann, oder ob man trotz allem ‚naiv‘ vorprescht und das Phantom ‚Präsenz‘ anzu- nehmen bereit ist. Das scheinbare begrifflicheDilemma, das in dem Ge- gensatz von ‚Allegorie versus Symbol‘ zum Ausdruck kommt, stellt sich als existentielle Entscheidung heraus, sogar als religiöse Entscheidung. Edgar Wind lehnte die romantische Kritik der Allegorie ab, verstand die allegorische Darstellungsweise aber dennoch als einen Weg zur Prä- senz. Spätere Kunsthistoriker, darunter Freedberg und Goffen , scheinen hingegen akzeptiert zu haben, dass die Allegorie keine Realität übermit- telt – sie räumen das romantische Argument demnach ein –, weshalb sie andere Aspekte von Tizians Werk hervorhoben. Gibt es eine Möglichkeit, Tizians allegorische Ziele zu akzeptieren und ihn dennoch in eine Genealogie moderner Kunst miteinzureihen? Schließlich hat Walter Benjamin einen Weg gefunden, mit dem ästhe- tische Unbeholfenheit in eine positive, vorwärtsweisende Eigenschaft verwandelt werden kann. Vielleicht bietet sein Argument einen Schlüs- sel zu den allegorischen Gemälden Tizians und denen anderer Renais- sancekünstler. Benjamin machte die allegorische Maschine der Spät- renaissance und des Barock zur Basis seiner Theorie der Allegorie. Er ging davon aus, dass die deutschen Trauerspiele des 17. Jahrhunderts, die bis zur Absurdität mit Personifikationen überladen waren, mit ihrer 574 Christopher S. Wood

Willkürlichkeit und Fragmentierung zeigten, dass die Verwicklung des künstlerischen Ausdrucks in geschichtlichen Konventionen zur Belas- tung wurde. Durch die Klarheit, mit der die selbsternannte Allegorie des Barock die Schwierigkeit wirksamer Symbolisierung ausweise, so Benjamin, antizipiere sie die neuen Bedingungen der Kunstproduktion in der Moderne . Soweit ich weiß, hat noch kein moderner Historiker versucht, Ben- jamins Projekt einer post-romantischen Verteidigung der Allegorie des Barock auf Tizian anzuwenden und ihn als einen desillusionierten Künstler aufzufassen, der sich für die allegorische Darstellungsweise ent- schied, weil er wusste, dass Kunstwerke bei dem Versuch, Kontakt mit der Realität herzustellen, scheitern würden.10 Aus ebendiesem Grund aber wurden die bildlichen Allegorien aus der Zeit um 1500 (etwa die von Renaissancegelehrten entworfenen Embleme , die zeitlose Weishei- ten in ausgeklügelten Schaubildern zeigen) von der Kunstgeschichte der letzten Jahre weitgehend unbeachtet gelassen. Man empfand sie schlicht als zu sperrig, statt ihre Sperrigkeit als Indiz einer prophetischen Vor- wegnahme der Zukunft aufzufassen. Ich beziehe mich hier zum Beispiel auf die fünf kleinen allegorischen Tafeln Giovanni Bellinis in der Accademia in Venedig (1490er Jahre), den Sturm von Giorgione , ebenfalls in der Accademia (um 1505), die Allegorie Lorenzo Lottos in der National Gallery of Art in Washington (1505) sowie auf einige Drucke wie den sogenannten Traum des Raffael oder schlicht Traum von Marcantonio Raimondi (um 1508) [Abb. 38]. Das letztgenannte Werk stellt zwei nackte Schläferinnen am Ufer ei- nes Gewässers dar. Ihre Ruhe wird von einem Brand im Mittelgrund und dem Anmarsch einer Truppe kleiner Ungeheuer bedroht. Dieses Bild und ähnliche Bilder haben eine parataktische, zusammengesetz- te Struktur. In ihnen werden auf unerwartete und verwirrende Weise Körper und Objekte nebeneinandergestellt. Tizians Die himmlische und

10 Vgl. Daniel Arasse, „La signification figurative chez Titien. Remarques de théorie“, in: Tiziano e Venezia. Convegno internazionale di studi, Venezia, 1976, Vicenza 1980, S. 149–160. Ohne den Allegoriediskurs ausdrücklich aufzurufen, behauptet Arasse, dass Tizians ‚Undeutlichkeit‘ sich logisch aus den ‚Bedingun- gen des bildschaffenden Akts‘ ergibt, der eine ‚bildliche Verdichtung der Be- deutung‘ mit sich bringt. Ein Gemälde wie Tizians Die himmlische und irdische Liebe, das dem Wesen der Malerei treu ist, kann, so Arasse, nur als diskursiv undurchsichtig erscheinen. Allegorie und Prophezeiung 575 irdische Liebe ist eine glattere, subtilere und viel größere Version einer solchen Komposition. Obwohl ich diese Kompositionen Allegorien nenne, möchte ich sie von Bildern abgrenzen, die bekannte Mythen wie etwa die Geschichten Ovids darstellen. Solche Bilder zeigen Allegorien, die als Erzählungen strukturiert sind, oder Erzählungen, die jeder längst allegorisch zu le- sen gewohnt war. Ein Beispiel hierfür ist Tizians Bacchus und Ariadne (National Gallery, London, 1520–1523), das den Gott des Weines dar- stellt, wie er aus seinem Wagen heraus auf eine erschrockene Ariadne zuspringt. Die Jungfrau, ihres Zeichens Prinzessin von Kreta, war gera- de von ihrem Liebhaber Theseus verlassen worden. Die Begegnung wird von Catull so beschrieben: at parte ex alia florens uolitabat Iacchus cum thiaso Satyrorum et Nysigenis Silenis, te quaerens, Ariadna, tuoque incensus amore. [Doch schon zieht ihr im Fluge der blühende Bacchus entgegen, Satyrnschwärme, Silene aus Nysas Aun ihn begleiten: Dich, Ariadne, ersehnt er, für dich erglüht er in Liebe!] (Carmina 64, 252–254)11 Bei Tizians Bacchus handelt es sich strenggenommen nicht um eine Allegorie, sondern um die bildhafte Darstellung eines Erzähltextes, die zu einer allegorischen Deutung einlädt. Tatsächlich hat Catull nicht das Ereignis selbst beschrieben, sondern einen imaginären Wandteppich im Palast des Peleus, das diesen Vorgang darstellt. Eine weitere Bildsorte, die nicht als Allegorie im eigentlichen Sinne bezeichnet werden kann, betrifft Bilder, die ein allegorisches Bild als Traum ausweisen und ein- rahmen, wie zum Beispiel Raffaels um 1504 entstandene kleine Tafel in der National Gallery in London. Sie zeigt einen schlafenden Soldaten, der von zwei weiblichen Figuren flankiert wird. Das Bild wird üblicher- weise als Darstellung einer antiken Sage aufgefasst, in der es um einen Traum des Scipio Africanus geht, eines Kriegshelden der römischen Re- publik. Die Figuren in Scipios Traum , Personifikationen von Tugend und Laster, verlassen in Raffaels Gemälde den Traum und betreten den naturalistischen Raum, der Scipios Körper umgibt. Der Künstler macht dies in einem Bild möglich, doch das Bild selbst ist keine Allegorie; es ist die Erzählung eines Traums, dessen Inhalt eine allegorische Lektüre

11 Die dt. Übers. folgt der Ausgabe Catullus, übers. von Paul Lewinsohn, Berlin 1922. 576 Christopher S. Wood fordert. Solche Träume dienen dann allegorischen Darstellungen Belli- nis , Lottos und Tizians als Vorbild. Man kann leicht sehen, wie die parataktischen Bilder Bellinis und der anderen Maler in einer Genealogie moderner Kunst ihren Platz fin- den, da sie sich durch ihre ‚ungrammatischen‘ Strukturen einer abschlie- ßenden semantischen Auflösung entziehen. Benjamins Argument über die sperrigen Dramen des Barock bietet hierfür eine mögliche Basis. Doch sogar das romantische Denken kann für eine solche Argumenta- tion herangezogen werden. Laut Friedrich Creuzer sind die Merkmale, die dem Symbol seine große Bedeutung verleihen, „die Überfülle des Inhalts“ und „die Inkongruenz des Wesens mit der Form“, wodurch das Symbol seine eigene „Ungenügsamkeit“ zum Ausdruck bringe.12 Und dennoch sind die venezianischen Bilder jemals weder als proto-roman- tisch noch als proto-modern gedeutet worden. Vielleicht ist es ein Fehler, die bildliche Allegorie der italienischen Renaissance als Kategorie zu betrachten, die auch nur ansatzweise eine historische Unterscheidungskraft besitzt. Schließlich haben sich viele ältere religiöse und säkulare Gemälde der Technik des Bilder-Schrei- bens bedient. Gegenstände wie Kreuze, Brunnen und Weinpressen wurden von den Betrachtern christlicher Gemälde stets als Dinge ver- standen, die auf Begriffe verweisen. Als der Humanist Leon Battista Al- berti die Allegorie als Beispiel einer lobenswerten bildlichen Erfindung hervorhob, erklärte er das Bilder-Schreiben zu einer der Grundlagen des öffentlichen und belehrenden Auftrags der Malerei. Im dritten Buch seiner Abhandlung De picture (1435) beschreibt Alberti ein verlorenge- gangenes Gemälde von Apelles , das uns nur durch eine Beschreibung Lukians überliefert ist. Es zeigt eine Personifizierung der Calumnia und anderer abstrakter Begriffe. Das Sujet, nach einem Entwurf von Alb- recht Dürer , sollte später die Wand des Nürnberger Rathauses zieren.13 Wie aber unterscheiden sich Marcantonios Traum oder Tizians Himmlische und irdische Liebe von christlichen und humanistischen Allegorien? Der Unterschied besteht im Wesentlichen darin, dass ihre

12 Friedrich Creuzer, Symbolik und Mythologie der alten Völker [zuerst 1810– 1812], hier zit. nach Ernst H. Gombrich, „Icones symbolicae. Philosophies of Symbolism and their Bearing on Art“, in: ders., Symbolic Images. Studies in the Art of the Renaissance, II, London 1972, S. 123–195, hier S. 187. 13 Dürers auf 1522 datierter Entwurf befindet sich in der Albertina in Wien. Vgl. Friedrich Winkler, Die Zeichnungen Albrecht Dürers, 4 Bde., Berlin 1936–1937, Nr. 922. Allegorie und Prophezeiung 577

Inhalte neu oder erfunden sind, statt konventioneller Natur zu sein. Kein Mensch hatte je zuvor Bilder dieser Art gesehen, und niemand konnte sich einfach anderen Bildern oder Texten zuwenden, um dort einen Schlüssel zu ihrer Entzifferung zu finden. Gemälde dieser Art wa- ren zwar weiterhin auf Konventionen angewiesen, um überhaupt lesbar zu sein, doch die konventionellen Elemente wurden nun auf unvorher- gesehene Weise kombiniert. Wie die Dichter hatten ihre Schöpfer eine Lizenz zum Erfinden in Anspruch genommen. Das öffentlich zugängliche allegorische Wandbild im Palazzo Pub- blico in Siena aus den späten 1330er Jahren mit dem Titel Allegorie der guten und schlechten Regierung zeigt ebenfalls ein neues, erfundenes Thema. Der Maler Ambrogio Lorenzetti verwendete darin Abbildungen von Körpern, um eine Aussage über die Gefahren eines schlechtgeord- neten Gemeinwesens zu machen. Lorenzetti benutzte jedoch zur Ver- deutlichung seiner Botschaft darüber hinaus beschriftete Schilder. Eine solche Anleitung für die Betrachter ist in den Allegorien Giorgiones , Lottos , Marcantonios und Tizians aber nirgends zu finden. Die Botschaft von TiziansDie himmlische und irdische Liebe, was immer diese auch sein mag, scheint vergleichsweise weniger dringlich und gewichtig als diejenige Lorenzettis oder die der Wandbilder Dürers im Nürnberger Rathaus. Die Aussage von Tizians Gemälde scheint hin- gen nicht von öffentlichem Interesse. Eine öffentliche Botschaft wäre im ursprünglichen Kontext des Gemäldes, einer privaten Wohnung, auch deplatziert gewesen. Bellini , Giorgione und Tizian bewegten sich in einem neuen Feld der Malerei, das von herkömmlichen Erwartungen und von liturgi- schen oder politischen Verantwortlichkeiten relativ unabhängig war. Dieses neue Feld der Malerei symbolisierte durch seine bloße Existenz, dass die Bedeutung, welche die Kunst im Leben besaß, eine andere ge- worden war. Es kann daher nicht überraschen, dass der Inhalt eines allegorischen Bildes es häufig nicht vermag, das Interesse eines moder- nen Kunsthistorikers dauerhaft zu fesseln. Denn wenn die Allegorie nur eine der Formen ist, welche die Kunst annimmt, um ihre eigene Freiheit zu verkünden, und damit in einer Reihe mit der Landschaft und dem Stillleben steht, dann gibt es keinen Grund, sie anders als diese Bildgat- tungen zu behandeln. Denn der auf Kunst per se eingestellte Rezipient wird einen Rezeptionsmodus finden wollen, der füralle Kunstwerke gilt, eine allen gleichermaßen angemessene Lektürestrategie – ‚Forma- lismus‘ vielleicht oder ‚Sozialgeschichte‘ oder einfach ‚Ästhetizismus‘. Und dies bedeutet, das Bild gegen sich selbst zu lesen und durch seinen 578 Christopher S. Wood

Inhalt hindurch auf eine tiefere Bedeutungsebene zu blicken, etwa auf Stil, Struktur, ästhetische Schönheit oder soziales Handeln. Wie wir ge- sehen haben, ist dies genau das, was viele post-romantische Betrachter getan haben, indem sie es vorzogen, solche Bilder nicht nach deren ei- genen Regeln zu lesen, sondern sie stattdessen den nicht-allegorischen Kategorien der Malerei zuzuschlagen. Im Folgenden konzentriere ich mich nicht auf solche nicht-allegori- schen Eigenschaften. Dies würde ihnen eine nicht-allegorische Struktur zuschreiben, etwa die eines Kunstwerks oder historischen Dokuments. Stattdessen werde ich die These verfolgen, dass es nach wie vor gewinn- bringend sein kann, über die allegorische Maschinerie der Gemälde Bellinis oder Tizians nachzudenken, und zwar, indem ich diese vene- zianischen Gemälde mit einer anderen Kategorie allegorischer Darstel- lung vergleiche, einer Kategorie, die damals wie heute nicht als ‚Kunst‘ betrachtet wird. Es geht um das prophetische Bild, das in seinem Bil- der-Schreiben eine verschlüsselte Vision der Zukunft zeigt. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts waren solche Bilder in Venedig von großem öffentlichen Interesse. Wie der Tagebuchschreiber Marino Sa- nudo 1509 notierte, glaubten die Menschen, der ‚Mob‘ oder die ‚Masse‘ (la briga’ = la brigata), in hohem Maße an Prophezeiungen und unter- zogen die rätselhaften Mosaike von San Marco akribischen Analysen, um Hinweise auf das zukünftige politische Geschehen zu erhalten.14 Im selben Jahr 1509 schrieb der Dichter und Historiker Jean Lemaire de Belges, man habe ihm, als er drei Jahre zuvor in Venedig weilte, das Mosaikbild zweier Löwen in der Pflasterung von San Marco gezeigt [Abb. 39].15 Der eine Löwe, kräftig und gesund, der Körper auf den Wellen schwimmend, die Pranken an Land, stand für die Macht der ve- nezianischen Seestreitkräfte. Der andere Löwe, gänzlich an Land, doch völlig entkräftet, stellte ein Venedig dar, das törichterweise versucht hat- te, seinen Herrschaftsbereich auf die terra ferma auszuweiten. Lemaire wurde mitgeteilt, diese Warnung sei von dem kalabrischen Mönch und mystischen Theologen Joachim von Fiore (ca. 1135–1202) hinterlassen

14 Vgl. Marino Sanudos Eintrag zum 30. Mai 1509: „[L]a briga’ al presente atende molto a prophetie et vano in chiesa di San Marco, vedando prophetie di musai- cho, qual fece far l’abate Joachim“, in: Diarii di Marino Sanudo, Bd. VIII, hrsg. von Rinaldo Fulin [u. a.], Venedig 1882, Sp. 326. 15 Vgl. Jean Lemaire de Belges, „Le Traicté nommé la Legende des Venetiens, ou leur Chronique Abbregee“, in: ders., Œuvres, hrsg. von J. Stecher, Louvain 1885, S. 361–363. Allegorie und Prophezeiung 579 worden, einem Mann, der einer venezianischen Legende zufolge einmal in San Marco gelebt hatte. Joachim hatte angeblich in einer Zelle gehaust und die für die Ausschmückung der Basilika zuständigen Handwerker mit Bildkonzepten beliefert, welche die Zukunft vorhersagen konnten.16 Soweit wir wissen, war Joachim von Fiore nie in Venedig. Otto De- mus geht dennoch davon aus, es könnten sich tatsächlich joachimitische Elemente in den Mustern von San Marco befinden.17 Wie die Erzählun- gen über die prophetischen Mosaike des Markusdoms entstanden sind, ist unklar. Bereits im 13. Jahrhundert wurde von Joachim berichtet, er habe Bilder auf die Wände seiner Zelle gemalt; auch ein Bild des Heiligen Franziskus stamme von ihm.18 Ein franziskanischer Text von 1367, der früheste, der eine Verbindung zwischen Joachim und dem Markusdom herstellt, berichtete, der Prophet habe zwei unbeschriftete Bildnisse von Mönchen in den Fußboden eingelegt. Diese hätten die Gründung der Bettelorden vorausgesagt, die einige Jahrzehnte später durch Franziskus und Dominikus erfolgte. Diese Mosaike, die sich im südlichen Querschiff der Basilika unter dem Bogen vor der Tür der Sakristei befinden, zeigen tatsächlich Dar- stellungen von Franziskus und Benedikt [Abb. 40].19 Niemand scheint sie mit der damaligen venezianischen Politik vor 1500 in Verbindung gebracht zu haben.20 Ein weiteres Bild, das einen Hahn zeigt, der einem Fuchs die Augen aushackt, wurde Lemaire gegenüber als eine Weis- sagung gedeutet, derzufolge die Republik Venedig durch den König von Frankreich zerstört werden würde [Abb. 41].21 Im Jahr 1509 ver- lor Venedig gegen den französischen König Ludwig XII. eine wichti-

16 Vgl. Giuseppe Marino Urbani di Gheltof, „Pavimento della Basilica“, in: Ca- millo Boito, La Basilica di San Marco, Venedig 1893, S. 231. Zitiert wird die Geschichte Venedigs von Francesco Sansovino aus dem 16. Jahrhundert. 17 Vgl. Otto Demus, The Mosaics of San Marco in , Chicago 1984, Bd. I, S. 256–261. 18 Vgl. Marjorie Reeves, The Influence of Prophecy in the Later Middle Ages, Ox- ford 1969, S. 72–73. 19 Vgl. Demus, Mosaics of San Marco, Bd. I, Abb. 90 und 91. 20 Vgl. Ottavia Niccoli, „‚Prophetie di Musaicho‘. Figure e scritture gioacimite nel- la Venezia del Cinquecento“, in: Forme e destinazione del messaggio religioso. Aspetti della propaganda religiosa nel Cinquecento, hrsg. von Antonio Rotondò, Florenz 1991, S. 197–227, hier S. 203. 21 Niccoli, „Prophetie di Musaicho“, S. 204, weist darauf hin, dass das Mosaik ei- gentlich einen Adler darstellt, der ein Kaninchen ergreift. Außerdem stellt sie fest, dass einer Urkunde zufolge das Bild 1610 restauriert oder sogar ersetzt wurde. Alle Mosaiken in San Marco wurden im Laufe der Zeit immer wieder 580 Christopher S. Wood ge Schlacht. Ein anderes Bild zeigte den „Letzten Papst“, wiederum ein weiteres einen gefesselten Wolf (Ludovico Sforza), der von zwei Hüh- nern an einer Stange getragen wird (Karl VIII. und Ludwig XII.).22 Die Überzeugung, wonach den Steinplatten der Basilika prophetische Visi- onen eingeschrieben seien, für alle sichtbar und der Auslegung harrend, wurde bis ins 17. Jahrhundert hinein wiederholt, trotz der Bedenken, die Lemaire und andere Kommentatoren angemeldet hatten. Reisenden wie etwa dem französischen Gelehrten Guillaume Postel wurden die Bilder gezeigt. Auch wurde der Befehl ausgegeben, keines der Mosaike zu zerstören, ohne vorher eine Kopie anzufertigen.23 Es gab einige, die bezweifelten, dass Joachim mit den Bildern von San Marco unmittelbar etwas zu tun hatte, schreibt Marjorie Reeves, doch viele glaubten, seine Prophezeiungen seien den Abbildungen verschlüsselt eingeschrieben.24 Viele Theologen des frühen 16. Jahrhunderts, darunter auch protes- tantische Reformatoren , wie Aby Warburg überrascht feststellte, wand- ten sich dem Himmel oder Naturwundern zu – Kometen, monströsen Geburten und Ähnlichem –, um Aufschluss über Gegenwart und Zu- kunft zu erhalten.25 Um wie viel einfacher war es da, Bilder zu entziffern , die wie die Mosaike des Markusdoms bereits den Filter der menschli- chen Einbildungskraft durchlaufen hatten: die Funktion des Prophe- ten Joachim von Fiore bestand schlicht in der Beglaubigung göttlicher Botschaften. Ein anderes Beispiel: der Reformator Andreas Osiander stieß in der Bibliothek eines Nürnberger Klosters auf eine illustrierte Ausgabe der Prophezeiungen Joachims , die kurz zuvor in Bologna er- schienen war. In einigen dieser seltsamen Bilderrätsel erkannte Osian- der Prophezeiungen der Reformation , woraufhin er eine neue Ausgabe mit Holzschnitt-Kopien der Bilder anfertigen ließ (1527).26 Unterdessen veröffentlichte Albrecht Dürer 1525 einen Holzschnitt, von dem es hieß,

erneuert. Das Bild, das Niccoli reproduziert (ebd., Abb. 5), ist aber nicht mit dem Bild, das Boito reproduziert [Abb. 41 im vorliegenden Band], identisch. 22 Vgl. Niccoli, „Prophetie di Musaicho“, Abb. 6. 23 Vgl. Niccoli, Prophecy and People in Renaissance Italy, Princeton/NJ 1990, S. 23–25. 24 Reeves, Influence of Prophecy, S. 96–99. 25 Aby Warburg, „Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zei- ten“ [zuerst 1920], in: ders., Gesammelte Schriften, S. 487–535. 26 Vgl. Warburg, „Heidnisch-antike Weissagung“; Roland H. Bainton, „‚Eyn wunderliche weyssagung‘“, in: The Germanic Review, 21/1946, S. 161–164. Die Bilder in der Bologneser Veröffentlichung leiten sich von byzantinischen Quellen ab. Allegorie und Prophezeiung 581 er sei die Reproduktion einer Allegorie, die auf einem einhundert Jahre alten Wandteppich zu sehen sei, der Ereignisse der Gegenwart voraus- gesagt habe.27 Wie die Allegorien von San Marco enthielt auch dieses mysteriöse Bild Darstellungen lebender Tiere, darunter mehrere Vögel und einen Fuchs.28 Antike Bilder, deren Ikonographien vergessen oder deren Formen dunkel genug waren, ließen kreative Projektionen zu, die der Hoffnung Ausdruck verliehen, sich der Bedeutung der Gegenwart zu versichern oder die Zukunft vorherzusehen. Eine solche Praxis war möglicherwei- se viel weiter verbreitet, als uns heute bewusst ist. So verkündete der Doge von Venedig Leonardo Loredan im Jahre 1509, von einer antiken Relief-Skulptur an der Kirche San Giacomo di Rialto den Auftrag er- halten zu haben, nicht gegen die Deutschen in den Krieg zu ziehen.29 Während einer Reise durch Südtirol im Jahr 1538 hielt der Gelehrte Pa- racelsus eine Inschrift und einen Kopf, die in das Portal einer Kirche aus dem 13. Jahrhundert gemeißelt waren, fälschlicherweise für eine pro- phetische Darstellung Martin Luthers. 30 In antiken Texten finden sich Vorläufer dieser Lektürepraxis. So berichtete Sueton von Wahrsagern, die einer Eingebung gefolgt waren und bei Tegea in Arkadien eine heili- ge Stätte ausgruben. Diese sei ein Ort gewesen, „wo eine Sammlung ur- alter Vasen entdeckt worden war, die mit einem erstaunlichen Ebenbild Vespasians bemalt waren“ (Divus Vespasianus 7). Die venezianischen prophetischen Mosaike, die eine eigene Gattung des Bilder-Schreibens darstellen, weisen mit den allegorischen Bildern Bellinis, Lottos, Giorgiones, Marcantonios und Tizians mehrere Ge- meinsamkeiten auf. Erstens fordern sie zur Interpretation auf, indem sie beispielsweise durch unerklärliche Zusammenstellungen von Figu- ren die Erwartungshaltungen ihrer Betrachter enttäuschten. Zweitens signalisieren ihre Verletzungen der Darstellungskonvention eine klare Abgrenzung zu der Vorstellung, es mit einer Reihe traditioneller Bilder zu tun zu haben; die Regelverstöße deuten an, dass hier eine gestaltende,

27 Vgl. Christopher S. Wood, Forgery, Replica, Fiction. Temporalities of German Renaissance Art, Chicago 2008, S. 362–367. 28 Vgl. Heike Talkenberger, Sintflut. Prophetie und Zeitgeschehen in Texten und Holzschnitten astrologischer Flugschriften, 1488–1528, Tübingen 1990, S. 192, Anm. 162. 29 Vgl. David Chambers/Brian Pullan (Hrsg.), Venice. A Documentary History 1450–1630, Oxford 1992, S. 397–398. 30 Vgl. Wood, Forgery, Replica, Fiction, S. 367–368. 582 Christopher S. Wood sinngebende Intelligenz am Werk war. Drittens legen das prophetische Bild und das allegorische Kunstwerk einen zeitlichen Rahmen für die Interpretation nahe, so dass das Bild seine Bedeutung erst nach einer Verzögerung preisgibt. Doch das prophetische Bild und das allegorische Gemälde unter- scheiden sich zugleich in zweifacher Hinsicht. Erstens vermittelt das prophetische Bild , ist es erst einmal entziffert , eine einzige, kohärente Botschaft. Ist die verborgene Bedeutung gefunden, wird die sichtbare Oberfläche schlicht verworfen. Im Gegensatz dazu dauert die Entfal- tung der verborgenen Bedeutungen an, solange das Kunstwerk besteht; die Oberfläche hat nie vollständig ausgedient. Zweitens ist das prophe- tische Bild nicht schön oder nicht besonders schön, wohingegen das allegorische Bild oft ein bemerkenswert positives Verhältnis zur Schön- heit besitzt – und dies aus Gründen, die im Folgenden noch deutlicher werden. Doch zunächst wollen wir uns noch weiterhin mit den Ähnlichkei- ten beschäftigen, die zwischen diesen beiden Bildkategorien bestehen, die in den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts in Venedig und Deutsch- land Konjunktur besaßen. Die joachimitischen Mosaike von San Marco fielen in den riesigen, mit Mosaiken geschmückten Flächen auf, weil ihre merkwürdigen Themen für Verwirrung sorgten. Der nach dem Fuchs hackende Hahn, der gefangene Wolf und die beiden kontrastie- renden Löwen waren keine christlichen Themen und schienen nirgend- wo hinzugehören: es gab keine Texte, die sich als Schlüssel anboten. Sie stellten absurde Ereignisse dar, für die es in der gewöhnlichen Erfah- rung kein Äquivalent gibt. Dasselbe lässt sich von den joachimitischen Piktogrammen sagen, auf die Andreas Osiander gestoßen war, oder von dem von Dürer reproduzierten Wandteppich. Die Absurdität der dar- gestellten Szenen kann man mit einer Aufschrift vergleichen, die ‚Lies mich‘ sagt. Ganz ähnlich signalisieren die Allegorien Bellinis und an- derer ihre Differenz zu anderen Bildern durch Absurditäten und Un- möglichkeiten, die als Überdeterminiertheit aufgefasst wurden und zu exegetischer Aufmerksamkeit aufforderten. Der buchstäbliche Sinn der Abbildungen – zwei nackte Frauen, die vor einer brennenden Stadt an einem Flussufer schlafen, eine bekleidete und eine nackte Frau, die sich an einem Brunnen unterhalten –, konnte keinen anderen Bildern, Tex- ten oder Erfahrungen zugeordnet werden. Auf der Stufe der bildlichen Komposition war kein Muster erkennbar, und genau dies war das Signal dafür, dass das Bild einem verborgenen Muster gehorchte, das sich viel- leicht entdecken ließ. Allegorie und Prophezeiung 583

Die prophetischen Porträts heiliger Männer im Markusdom un- terschieden sich von konventionellen Darstellungen der Zeit hingegen auf andere Weise. Im 14. Jahrhundert wurden diese Bilder als joachi- mitische Vorwegnahmen der Bettelmönche Franziskus und Dominik verstanden, weil sie keine Beschriftungen aufwiesen. Mit Ausnahme der Stigmata des Franziskus gab es nichts, was diese Porträts auf ihre Referenten beziehbar machte. Doch die franziskanische Überlieferung verstand sie als Prophezeiungen, weil die Porträts der beiden Heiligen (ähnlich wie das Porträt Vespasians auf den archaischen Vasen) nicht als Porträts aufgefasst werden und als Bilder mit referentiellem Bezug gel- ten konnten, bevor nicht die Geschichte für sie bereit war. Im 13. Jahr- hundert wusste allein Joachim , was die Stigmata bedeuteten. Die Port- räts waren Bilder, deren Ursprung in der Zukunft lag. Doch alle diese Bilder vermittelten den Eindruck, als wären sie von jemandem hervorgebracht worden – sei es von Gott, von Joachim von Fiore oder von einem schöpferischen Geist, der ein neues Bildprogramm ersonnen hatte. Denn sie entstammen sichtlich nicht der Tradition, wie es von den meisten Bildern behauptet wurde. Jedes Porträt eines Heili- gen oder Stifters, die biblische Geschichte, auch jede Darstellung eines heidnischen Gottes wurde automatisch als eine Darstellung verstanden, die aus einer langen Reihe von Bildern hervorgegangen war, die alle- samt mehr oder weniger getreue Kopien voneinander waren. Das Bild eines Heiligen musste als wirkungsvoller Ersatz für alle Bilder dessel- ben Heiligen gelten können; anderenfalls wäre das gesamte ikonogra- phische System in Idiosynkrasien zerfallen. Solche Bilder hatten keinen Urheber, denn ein Urheber ist ein Schöpfer, der etwas Neues schafft. In einem Paradigma der Bildproduktion, das der Logik der Substitution gehorcht, ist der Künstler lediglich ein Medium des Ermöglichens, das stabile Inhalte von Bild zu Bild überträgt. Die Prophezeiungen und Allegorien dagegen waren erfunden. Sie sind Darstellungen, die darauf warten, interpretiert zu werden. Sie legen ein zeitliches statt eines räumlichen Modells der Vieldeutigkeit nahe. Ambiguität wird oft durch räumliche Metaphern ausgedrückt: wir sa- gen, die wahre Bedeutung liege hinter oder unterhalb der Oberfläche ; sie sei ‚latent‘; wir entdecken eine ‚implizite‘ Bedeutung, die in den Text ‚eingefaltet‘ ist. Das prophetische Bild und das allegorische Kabinett-Bild indes zeigen die Bedeutungsherstellung als einen zeitlich ausgedehnten Vorgang. Die Schwierigkeit der Interpretation wird als zeitliches Prob- lem verstanden, als Fall eines Verfrühtseins. Die Zeit ist es, die das Bild aktivieren und seine Bedeutung offenlegen wird. Auf die gleiche Weise 584 Christopher S. Wood funktioniert auch die biblische Typologie . Sie liest ein Ereignis als ein Bild, indem es ein dem Ereignis innewohnendes Muster identifiziert, das seinen formalen Reim dann zu einem späteren Zeitpunkt in einem anderen Ereignis findet. Das spätere Ereignis, der Antitypus , der den Typus vervollständigt, ist nicht wirklich ein separates Ereignis: die zwei Ereignisse sind dasselbe Ereignis; allein die menschliche, zeitgebundene Perspektive lässt sie unterschiedlich erscheinen. Die Prophezeiungen und die allegorischen Kabinett-Bilder unter- scheiden sich voneinander dann wiederum dadurch, dass erstere von allen gesehen werden konnten, während letztere einem privaten Pub- likum vorbehalten waren. Der soziale Kontext der Interpretation steht mit der zeitlich ausgedehnten Mehrdeutigkeit in einem Zusammen- hang. Die private Sphäre bzw. die privaten Gemächer der Elite bieten Zuflucht vor dem Hin und Her des Geschäftslebens und der Politik. Das Privatgemach bietet ein gewisses Maß an otium, Muße, eine Span- ne unstrukturierter Zeit, in der Bedeutung entstehen kann. Im Privaten hat man Zeit, die Bedeutung herauszuarbeiten. Mit etwas Zeit entdeckt man, dass im Bild am Ende doch Bedeutung zu finden ist. Obwohl das prophetische Rätsel auf dem Boden von San Marco öffentlich und das gemalte Rätsel Giorgiones nur privat zugänglich ist, unterwerfen sich beide dem Lauf der Zeit. Das eine Bild wartet darauf, dass die Geschich- te es einholt, während das andere Bild sich aus der Geschichte zurück- zieht und sich seinen eigenen zeitlichen Schutzraum schafft, in dem der Geist die Freiheit besitzt, sich zu bewegen, immer in der Hoffnung, dort Bedeutung zu finden. Zahlreiche Allegorien der Renaissancemalerei thematisieren Muße und Sorglosigkeit. Führt die Allegorie ihre Rätsel an fiktiven Schau- plätzen auf, die Genuss und Muße konnotieren – die pastorale Land- schaft, der Garten –, so verweist sie auf die zeitliche Ausdehnung als das eigentliche Medium der Interpretation. Dies hilft, einen markanten Unterschied zu erklären, von dem bereits die Rede war. Er betrifft den Unterschied zwischen prophetischen und allegorischen Bildern. Das prophetische Bild ist oft hässlich, denn es stellt Bedeutungseinheiten einander parataktisch gegenüber, ohne sich darum zu sorgen, ob sie irgendeinem übergeordneten formalen Prinzip gehorchen. Das allego- rische Bild dagegen ist oft schön, weil es den Idealzustand des Wohlbe- findens spiegelt und diesen als seinen eigenen Deutungskontext proji- ziert. Es ist bemerkenswert, dass das allegorische Bild der Jahrzehnte um 1500 Schönheit und Hässlichkeit in oft unerwarteter Weise kombi- niert, indem es etwa sehr schöne und sehr hässliche Figuren nebenei- Allegorie und Prophezeiung 585 nanderstellt. Hierzu gehören Botticellis Die Verleumdung des Apelles in den Uffizien (ca. 1495), MantegnasPallas vertreibt die Laster aus dem Garten der Tugend im Louvre (ca. 1502) sowie Marcantonios Traum. Das autonome allegorische Gemälde ging aus den Fresko-Zyklen und bemalten Einrichtungsgegenständen des täglichen Lebens hervor.31 Das horizontale Format der Himmlischen und irdischen Liebe bezieht sich auf die Ursprünge des anspielungsreichen und allegorischen Modus der Bemalung von Truhen (sogenannter Cassoni). Hatten die Truhen zuvor lediglich der Ausstattung des häuslichen Lebens, des Privatbereichs, des Körpers und des Begehrens gedient (supplement), erwiesen sich nun die Gemälde als autonome Kunstwerke. Die künstlerische Legitimität der privaten Allegorie war nicht gesi- chert. Als in einem Fall der private allegorische Modus in die venezia- nische Öffentlichkeit verlagert wurde, kam es zu einer hermeneutischen Krise. Vasari berichtet, dass Giorgione im Jahr 1504 beauftragt wurde, die Außenmauer des Fondaco dei Tedeschi, eines höchst auffälligen Orts, mit Fresken zu verzieren: Per il che messovi mano Giorgione , non pensò se non a farvi figure a sua fantasia per mostrar l’arte; chè nel vero non so ritrova storie che abbino ordine o che rappresentino i fatti di nessuna persona segnalata o antica o moderna; ed io per me non l’ho mai intese, nè anche, per dimanda che si sia fatta, ho trovato chi l’intenda; perchè dove è una donna, dove è un uomo in varie attitudini; chi ha una testa di lione appesso, altra con un angolo a guisa di cupido; nè si giudica quel chi si sia. [Aus diesem Grund dachte Giorgione , sobald er Hand angelegt hatte, an nichts anderes, als Figuren nach seiner Phantasie zu schaffen und damit seine Kunstfertigkeit zu demonstrieren, weshalb man dort tatsächlich keine Szene findet, die einer Ordnung folgen oder die die Taten der gezeigten Per- sonen schildern, seien sie nun antik oder modern ; ich für meinen Teil habe sie nie verstanden und konnte auch durch Nachfrage niemanden ausfindig machen, der sie versteht. Da sieht man hier eine Frau, dort einen Mann in unterschiedlichen Haltungen, da ist jemand mit einem Löwenkopf an der Seite und ein anderer mit einem Engel in Gestalt eines Cupido, aber was dort dargestellt sein soll, vermag man nicht zu beurteilen.]32

31 Vgl. den Ausstellungskatalog The Triumph of Marriage. Painted Cassoni of the Renaissance, Boston 2008; sowie Anne Dunlop, Painted Palaces. The Rise of Se- cular Art in Early Renaissance Italy, University Park/PA 2009, S. 109. 32 Giorgio Vasari, Le Vite de’ più eccellenti pittori, scultori e architettori, 9 Bde., hrsg. von Gaetano Milanesi, Florenz 1906, Bd. IV, S. 96–97. Die dt. Übers. folgt der Ausgabe Das Leben des Giorgione, Correggio, Palma il Vecchio und Loren- 586 Christopher S. Wood

Diese Bilder waren aber nicht rätselhafter als Giorgiones private Ge- mälde. Warum also war Vasari so aufgebracht? Weil der Ortswechsel – von drinnen nach draußen – auch eine Veränderung des Zeitrahmens mit sich brachte. Indem sie sich dem Blick der Öffentlichkeit aussetzten, traten Giorgiones Wandgemälde erneut in die Geschichte ein. Vasari erwartete von ihnen, dass sie sich im Gleichschritt mit den Rhythmen des öffentlichen und politischen Lebens bewegen würden. In einem pri- vaten Umfeld wäre denselben Bildern ein ruhigeres, nachdenklicheres Leben gestattet worden, ohne den Druck, eindeutige Botschaften über- mitteln zu müssen. Das erinnert an den anderen, bereits erwähnten Hauptunterschied zwischen dem allegorischen und dem prophetischen Bild , nämlich dass das allegorische Bild nicht ausgeschöpft ist, wenn sei- ne Prophezeiung von der Zeit ‚eingeholt‘ wurde, sondern dass es in der Zeit weiterlebt und weitere ‚Prophezeiungen‘ überbringt, ohne jemals an ein Ende zu kommen. Beide Bildarten, das prophetische und das allegorische, brechen mit dem normalen, substituierbaren Bild, das von der anonymen Maschi- nerie der Tradition hervorgebracht wird. Dieser Bruch hat damit zu tun, dass diese Bilder geschaffen wurden, einen angebbaren historischen Ursprung hatten. Doch die Prophezeiung besaß ein klares historisches Ziel. Anders die Allegorie, die ihre Bedeutungen in einer unendlichen Zahl von Lektüren entfaltete. Das prophetische Bild ist der Doppelgän- ger des allegorischen Kunstwerks, wenn auch ein reduzierter Doppel- gänger; vielleicht so etwas wie eine Parodie. Man könnte diese Formulierung aber auch umdrehen und das prophetische Bild als homöopathisches Heilmittel für das unendliche Spiel der Interpretation beschreiben, das politisch inakzeptabel ist. Das prophetische Bild offenbart eine Lücke zwischen Zeichen und Bezeich- netem, doch nur zu dem Zweck, diese Lücke am Ende zu schließen. Es weiß von der zeitlichen Verortung des Lesers und begreift sie als Einschränkung. Das prophetische Bild trägt dem Intervall Rechnung, der sich zwischen dem Senden und Empfangen der Botschaft befindet, doch nur, um diesen für immer zu schließen. Es muss Zeit vergehen, bevor das Bild verstanden wird, doch ist es einmal verstanden, offen- bart sich die Nicht-Wirklichkeit der Zeit und Geschichte wird gefestigt. Das prophetische Bild versucht, die Rolle zu reduzieren, die Zufall und

zo Lotto, eingel., komm. und hrsg. von Sabine Feser und Hana Gründler, neu übers. von Victoria Lorini und Hana Gründler, Berlin 2008, S. 22–23. Allegorie und Prophezeiung 587

Entscheidungsfreiheit in der Politik spielen; es stellt Politik unter das Zeichen der Notwendigkeit. Das prophetische Bild hatte seinen heraus- gehobenen Platz in einer Welt, die politischen Erfolg als erfolgreiche Behauptung der eigenen Überlegenheit über die Zeit definierte, denn es erklärt, seine eigene zeitliche Existenz sei von unendlicher Dauer und seine Feinde seien nicht mehr als zufällige Erscheinungen in der Ge- schichte. In solch einer Welt bedeutet politische Randständigkeit, aus dem heilsgeschichtlichen Plan ausgeschlossen zu sein; im politischen Zentrum zu stehen ist dagegen der Beweis dafür, in ihm enthalten zu sein. Der Unterschied wird klar am Beispiel moderner liberaler Politik, die man als Versuch auffassen könnte, jeden Prozess und jede Person zeitlich miteinander in Bezug zu setzen. Das künstlerische Bild ähnelt dem prophetischen Bild insofern, als auch die Künstler versuchen, die Zeit zu beherrschen. Das allegorische Kabinett-Bild und das prophetische Bild der Renaissance sind sich bei- de der Nachträglichkeit ihrer Entschlüsselung bewusst und nehmen damit eine Auffassung des Kunstwerks als Prophezeiung vorweg, die drei Jahrhunderte später von den Dichtern der Romantik, von Blake bis , propagiert wurde. Die Idee, wonach ein wirklicher Dichter tatsächlich aus der Zukunft ankommt, oder die Idee, dass Künstler den Weg weisen und der Gesellschaft als ‚Wachposten‘ oder ‚Vorhut‘ dienen, sind unterschiedliche Metaphern für ein künstlerisches Selbstverständ- nis, das die Schranken der Normalzeit überschreitet. Der Konventions- bruch, der von dem wahren oder romantischen Kunstwerk vollzogen wird, ist so grundlegend, dass das Werk nur in historischer Perspekti- ve wahrgenommen werden kann. Der originelle Künstler wird wie der Prophet von seiner eigenen Zeit nicht verstanden; seine Originalität of- fenbart sich erst der Nachwelt. Laut Northrop Frye ist jeder Text der „Typus “ seiner eigenen Lektüren, das heißt, er ist lediglich eine Präfi- guration, umbra et figurain der theologischen Sprache der Typologie, wohingegen seine zukünftigen Lektüren vollständig real sind.33 Das von Walter Benjamin beschriebene „dialektische Bild “ ist eine weitere Ver- sion desselben Gedankens. Das dialektische Bild wird nur dann richtig gelesen, wenn die Gesellschaft zu seiner Lektüre bereit ist: „Der histori- sche Index der Bilder sagt nämlich nicht nur, daß sie einer bestimmten

33 Northrop Frye, The Great Code. The Bible and Literature, New York 1982, S. 226. 588 Christopher S. Wood

Zeit angehören, er sagt vor allem, daß sie erst in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen.“34 Ernst Gombrich wusste von der inneren Affinität zwischen dem allegorischen Bild der Renaissance und des Barock einerseits und den mysteriösen prophetischen Symbolen der romantischen Künstler ande- rerseits. Was er an beiden hervorhob, war eine diagrammartige Struk- tur.35 Das an die Romantik anschließende Standardnarrativ, das besagt, dass die sterile Allegorie der Renaissance und des Barock von der leben- digen Symbolsprache der Romantiker überwunden wurde, wurde von Gombrich gründlich umgekrempelt. In seinem Schema waren die Al- legorie der Renaissance und das romantische Symbol beide sehr künst- lich und kopflastig, was ihre Wirksamkeit als Kunstwerke einschränkte. Gombrich hätte meiner Aussage wohl zugestimmt, dass die Allegorie der Renaissance etwas mit den diagrammartigen prophetischen Mosai- ken von San Marco gemeinsam hat. Gombrich kontrastierte die visuellen Allegorien der Renaissance mit den äußerst sinnträchtigen allegorischen Gemälden des Barockzeit- alters , den Deckengemälden österreichischer Kirchen und Paläste, die er aus seiner Kindheit kannte und die für ihn Personifikationen - nischer Ideen darstellten, die in seinen Augen „alles andere als blutlos“ waren.36 Diese Bilder wiesen nicht nur auf eine ideale Realität, sondern sie wurden diese Realität. Deshalb wich Gombrich von beiden rivali- sierenden Theorien der Allegorie ab. Der antiromantischen Rehabili- tation der Allegorie konnte er nicht zustimmen, da er nicht einsah, wie die Interpretation, wenn man sie als zeitliches Problem auffasste, der Kunst als Grundlage dienen könne. Er war aber auch nicht bereit, die romantische Herabsetzung der vormodernen oder akademischen Al- legorie zu akzeptieren, da seiner Auffassung nach die Romantiker das wahre Wesen dieser Allegorie verkannten. Denn als die Allegorie im 17. und 18. Jahrhundert zur beherrschenden Kunstform avancierte, gelang es ihr, so Gombrich , die Zeit zu beherrschen, indem sie beeindruckende Fiktionen von Präsenz hervorbrachte. Im Gegensatz zu den Allegorien des Barock , die uns heute noch außerordentlich gegenwärtig sind, war das prophetische Bild eine Bot-

34 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1982, Konvolut N 3,1. Vgl. auch Anselm Haverkamp, Figura cryptica. Theorie der literarischen Latenz, Frankfurt/M. 2002, S. 50. 35 Vgl. Gombrich, „Icones symbolicae“, S. 187–189. 36 Gombrich, „Icones symbolicae“, S. 123. Allegorie und Prophezeiung 589 schaft, die von einem Ort jenseits der Geschichte erging und den in der Geschichte gefangenen Menschen mitteilte, wie die Welt von außen aussah. Es versichert dem Betrachter, dass die Zeit ein übergeordnetes sinnhaftes Muster besitzt; denn der Zeit unterworfen zu sein, unterwegs zu sein zum Tod und zur Entropie, und trotz aller Heilsversprechen der Theologie weder Grund noch Zweck des Lebens zu kennen, war ein ent- setzlicher Gedanke. Für jemanden, der Gewissheit darüber sucht, dass die Geschichte tatsächlich einem Plan folgt, ist der spezifische Inhalt eines prophetischen Bildes, sein Kommentar zum Zeitgeschehen, viel- leicht von gar nicht so großer Bedeutung. Wichtiger ist der Eindruck, der von dem prophezeienden Bild vermittelt wird, dass nämlich die Wirklichkeit überhaupt sinnhaft strukturiert ist. Es könnte deshalb sein, dass der spezifische Inhalt der künstleri- schen Allegorie nicht entscheidend ist – genau wie unsere Triade kunst- historischer Kommentatoren andeutete. Wichtiger noch ist die Möglich- keit des allegorischen Bildes, ein Bild, das nicht ein für alle Mal die Lage der Dinge offenbart, sondern das seiner Lektüren harrt. Dem Betrachter wird vom allegorischen Bild angetragen, zum Leser zu werden. Er mag durchaus der Ansicht sein, die Bildlektüre sei ihr eigener Lohn, weshalb er keine Belohnung am Ende erwartet – was im Übrigen hilft, das Para- dox zu erklären, dass bedeutende Kunstwerke oft banale Bedeutungen besitzen. Das prophetische Bild und das allegorische Kunstwerk fanden also zwei unterschiedliche Wege, um der Zeit der gewöhnlichen Erfahrung zu entfliehen: Das eine trug sich in den mystischen , übermenschlichen Plan kosmischer Geschichte ein, das andere beanspruchte Zeit der Muße und Interpretation. Beide brachen mit dem Substitutionsmodell der Bildproduktion, in welchem das Bild sich voll und ganz durch Wie- derholung und die Übereinstimmung mit einem Typus durch den Fluss der Zeit bewegt und dadurch Effekte der Kontinuität und der Bedeu- tungskonsistenz hervorbringt. Die Affinität des prophetischen und des allegorisch-ästhetischen Bildtypus wurde um 1500 von vielen Künstlern bemerkt, deren Selbstbild stark von der Vorstellung der eigenen schöp- ferischen Autorität geprägt war (d. h. von der Vorstellung ihrer Unab- hängigkeit von der gewöhnlichen Zeit gewöhnlicher Erfahrung). Sie fühlten sich zu Emblematik , Hieroglyphik oder prophetischen Bildern hingezogen, alles Bilder, die auf wundersame Weise eine Zeitlichkeit jenseits der bloßen Erfahrung einzufangen schienen. Der wahre Künst- ler wollte in jener Zeit leben, selbst wenn er dadurch seine eigene Au- torität aufs Spiel setzte. Obwohl Albrecht Dürer von dem weissagenden 590 Christopher S. Wood

Wandteppich im Schloss Michelfeld fasziniert war, verband er das Bild nicht mit seinem eigenen künstlerischen Projekt. Der Holzschnitt, den er von dem Wandteppich anfertigte, trägt nicht sein Monogramm. Den- noch hat dieses prophetische Bild einen Ort in seinem Gesamtprojekt, denn letztlich ging es Dürer darum, Platz für eine Kunst jenseits der Politik zu schaffen; er strebte nach mehr als bloßer Zeitgenossenschaft. Obwohl der Michelfelder Wandteppich aktuelle Ereignisse kommen- tiert, tut er dies von einem Standpunkt, der außerhalb des politischen Tagesgeschäfts liegt. Seine Schöpfer hatten den gesamten Plan der Ge- schichte im Auge. Das ist der Standpunkt – bezogen auf den gesamten Plan der Kunstgeschichte –, den nun der Künstler einnehmen will. Die Allegorie vermittelt eine Zeitlichkeit , die außerhalb der ge- wöhnlichen Erfahrung liegt. Künstler verstanden schnell, dass dies nicht unbedingt die Bildkategorie ‚Allegorie‘ im engeren Sinne erfor- dert, d. h. ein Bild, das vermittels Personifizierungen ‚schreibt‘. Bereits Tizians Himmlische und irdische Liebe entzieht sich der Kategorie der Allegorie, obwohl das Gemälde sie zu erfüllen scheint. Warum wird Himmlische und irdische Liebe überhaupt als Allegorie bezeichnet? Das Identifizierungsmerkmal jedes allegorischen Bildes – das Etikett mit der Aufschrift ‚Lies mich‘ – ist die Unwahrscheinlichkeit der dargestellten Szene. Und was ist unwahrscheinlich in Tizians Gemälde? Der land- schaftliche Schauplatz ist in der gewöhnlichen Erfahrung vertraut. Es handelt sich zwar um eine idealisierte Landschaft, doch sie wird kon- kret ausgeführt. Die dargestellte Welt ist auch eine geordnete Welt: im Hintergrund rechts jagt der Hund den Hasen und nicht andersherum, wie man es vielleicht im Boden von San Marco dargestellt finden könn- te. Der Brunnen, der womöglich aus Teilen eines antiken Sarkophags besteht, könnte sich ohne weiteres in einem venezianischen Garten oder Innenhof befinden. Die Wahrscheinlichkeit indes, einen solchen Brunnen in einer offenen, wilden Landschaft vorzufinden, ist gering. Die Frau links im Bild ist in moderne Tracht gekleidet, glanzvoll zwar, aber durchaus wirklichkeitsgetreu. Sie sitzt nicht ganz auf der Ecke des Brunnens, sondern wahrscheinlich auf einem niedrigeren Absatz direkt davor. Die Frau auf der rechten Seite ähnelt der anderen, doch mit Aus- nahme eines über ihre Lenden geworfenen Schleiers und eines roten Umhangs, der nur ihren linken Oberarm und rechten Fuß bedeckt, ist sie völlig unbekleidet. In ihrer Hand hält sie ein rauchendes Gefäß em- por. Das Asymmetrische der Komposition – die Frauen befinden sich nicht in der Mitte des Bildfeldes – signalisiert, dass das Gemälde etwas anderes ist als ein abstraktes Schaudiagramm. Die Nacktheit der Frau Allegorie und Prophezeiung 591 zur Rechten zeigt, dass das Bild letztlich doch etwas Abstraktes zu sa- gen versucht und dass es nicht nur zeigen will, wie die Realität aussieht. Ähnliches gilt für den geflügelten Putto, der seinen Arm in den Brun- nen streckt. Subtiler geht es bei der unbekleideten Frau zu, deren sanf- ter Protest in Richtung ihrer bekleideten Nachbarin das vertraute, aus Dürers Herkules-Stich bekannte Schema umkehrt (B. 73), wonach es die bekleidete, die Tugend darstellende Frau ist, welche die sinnliche Nackte tadelt.37 Tizians Gemälde erinnert hierin an das Mosaik von San Marco: es ist gleichsam der Vogel, der dem Fuchs die Augen aushackt. Mit diesen Mitteln deutet das Bild an, dass es etwas zu sagen ver- sucht, doch bietet es weder eine Beschriftung an (was in diesem Ge- mälde auch sehr archaisch angemutet hätte), noch klammert es sich an konventionelle Attribute. Stellt die unbekleidete Frau Venus dar? Ist sie die Personifizierung eines abstrakten Begriffs? Eine Nymphe vielleicht? Ist sie die schlafende ‚Nymphe am Brunnen‘, wie man sie aus einer pseudo-klassischen Inschrift kennt und aus den ihr nachempfundenen Gedichten und Springbrunnen? Ist diese Nymphe nun vielleicht auf- gewacht?38 Ist die bekleidete Frau ebenfalls eine Personifikation oder ist sie das Porträt einer realen Person (oder beides)?39 Ähnlichkeit mit einer lebenden Person ist eine Eigenschaft, die von einigen Betrachtern des Gemäldes bemerkt worden wäre, aber natürlich nicht von allen. Die Ähnlichkeit mit Frauen in anderen Gemälden Tizians legt aber nahe, dass es sich nicht um ein Porträt handelt. Wie die Figuren der Heiligen Franziskus und Dominikus in San Marco harren die beiden Frauen ih- rer Identifizierung. In einem Gemälde des Mittelalters ist es schwierig, dem Mangel an darstellerischer Glaubwürdigkeit Bedeutung beizumessen. Es ist nicht immer klar, ob ein unrealistischer Bestandteil in einem mittelalterlichen Gemälde technischer Inkompetenz zuzuschreiben ist – etwa der Unfä- higkeit, rationale Räume darzustellen – oder ob er als Störung im Be-

37 Die Landschaft, die Burg, der Putto und das Gewand, das die rechte Schulter bedeckt und sich an den Füßen kräuselt, sowie die gewaltsamen Szenen am Sarkophag scheinen alle auf Dürers berühmten Kupferstich der späten 1490er Jahre hinzudeuten. 38 Vgl. Elizabeth MacDougall, „The Sleeping Nymph. Origins of a Humanist Fountain“, in: Art Bulletin, 57/1975, S. 357–365. 39 Aufgrund einer Stemma, die im Relief und in der Schüssel am Rand des Sarko- phags identifiziert wurde, wird das Gemälde mit einer Hochzeit in Verbindung gebracht. 592 Christopher S. Wood zeichneten zu lesen ist, die dazu veranlassen soll, die Bedeutung jenseits des offensichtlich Bezeichneten zu suchen. Die Fähigkeit des Malers der Renaissance, den glaubhaften Eindruck einer Freiluftszene zu vermit- teln und so die Wahrnehmung zu verdoppeln, bedeutet demgegenüber, dass es lediglich der Beifügung eines einfachen Hinweises bedarf, um eine zusätzliche Bedeutung jenseits des Wahrnehmungseindrucks zu signalisieren. In Tizians Gemälde ist die Nacktheit der Frau ein Hin- weis darauf, dass hier eine solche zusätzliche Bedeutung entdeckt wer- den soll. Diese Nacktheit ist ein relativ subtiler Hinweis, denn durch sie werden keine Gesetze des physischen Universums, sondern allenfalls soziale Konventionen verletzt. Um eine Bedeutungsfülle zu signalisie- ren, musste Tizian nicht ein bizarres Diagramm (wie die Illustrationen zu den joachimitischen Texten) oder eine absurde Erzählung erfinden, mit der die Naturgesetze auf den Kopf gestellt werden (der gefesselte Wolf oder der Hahn, der den Fuchs angreift). In einem fiktionalen, aber plausiblen Bild der Welt, wie Tizian es herzustellen verstand (nicht aber der Mosaizist von San Marco), kann die Anwesenheit eines Arguments inmitten der fiktionalen Welt durch eine leichte Störung von Erwartun- gen signalisiert werden. Ist das Gemälde naturalistisch und stellt das Aussehen der Dinge dar, kann die zur Deutung auffordernde Absurdität reduziert werden. Das war die Grundlage der doppelten Verschlüsse- lungstechnik, die von niederländischen Malern des 15. Jahrhunderts erfunden wurde und von Kunsthistorikern als ‚verkleideter Symbolis- mus‘ bezeichnet wird. Durch diese Technik werden Gegenstände, die in einer christlichen Bildsprache als Bedeutungsträger fungieren (z. B. Lilien oder eine Waschschüssel) in ein glaubwürdiges häusliches Interi- eur versetzt, wo sie zwischen den anderen, nicht-bedeutungstragenden Haushaltsgegenständen zu verschwinden drohen.40 Die importierten Gegenstände werden nur von solchen Betrachtern als Störungen ih- rer Erwartungen empfunden, die mit einem christlichen Symbolismus rechnen. Wird die Störung gesteigert und kommt die Absurdität in vol- ler Pracht und doch realistisch daher, wird das Resultat zum Zeichen einer massiven Störung im Kosmos. Dieser Technik bediente sich Hie- ronymus Bosch . Tizian ist in der Lage, allegorische Effekte zu erzeugen, ohne andere, nicht-allegorische Effekte dadurch zu schwächen. Die Darstellungswei-

40 Vgl. Erwin Panofsky, Early Netherlandish Painting, Cambridge/MA 1953, S. 131–148. Allegorie und Prophezeiung 593 se eines Gemäldes wie Himmlische und irdische Liebe besitzt eine star- ke Überzeugungskraft, weil es Wahrnehmungseindrücke reproduziert. Himmlische und irdische Liebe misst 118 x 279 cm und zeigt Körper na- hezu in Lebensgröße. Das Gemälde bekräftigt die grundsätzliche Gül- tigkeit der Sinneswahrnehmung und arbeitet damit jedweder transzen- denten Bedeutung entgegen. Die Konkurrenz zwischen dem Inhalt der bildlichen Botschaft und dem Bild selbst war Theologen immer bewusst; nicht ohne Grund betrachteten sie die religiösen Bilder mit Misstrauen. Dasselbe Vorstellungsvermögen, das der eingangs zitierten Bemerkung Maimonides’ zufolge Prophetie ermöglicht, trägt auch zu deren Schwä- chung bei. Das Paradox der Allegorie in der Malerei ist damit ein Problem, das die allegorische Dichtung nicht kennt. Die meisten Allegorien impli- zieren, dass sich hinter der bloß historischen Existenz ein unveränder- liches Sein verbirgt. Doch es ist das sinnliche Simulacrum der visuellen Erfahrung, das zumindest (aber nicht nur) in der europäischen Malerei seit dem 15. Jahrhundert von der Oberfläche des Bildes hervorgebracht wird, welches das Sein in all seiner Fülle am effektivsten symbolisiert. Die Oberfläche selbst hält sich nicht an die Ermahnung des Gemäldes, die Oberfläche zu ignorieren, und deutet dadurch an, dass die Natur und der Körper vielleicht das Sein sind und nicht bloß dessen Schatten. Das Mosaikbild und das Diagramm im Medium des Holzschnitts boten ein schlechtes Simulacrum der visuellen Erfahrung, weshalb sie das Sein nur auf recht schwache Weise symbolisieren konnten. Die Oberfläche des Mosaiks war prachtvoll und kostspielig; die Oberfläche des Holzschnitts dagegen war bescheiden und nicht teuer. Doch sie hat- ten eines gemeinsam: sie geben nicht vor, die Wirklichkeit hinlänglich abzubilden. Die schimmernden Facetten der Mosaikoberfläche brach- ten vielmehr das Analogon einer übernatürlichen Realität hervor, die sich anderswo, weit weg von der gewöhnlichen Erfahrung befindet. Die grobe, lineare Sprache des Holzschnitts überbrachte effizient und ohne viel Aufhebens ein Bündel von Botschaften, die von anderswoher stammten. Das Ölgemälde hingegen besaß seine eigene Realität, hier und jetzt, eine mächtige Fiktion der Präsenz, die sich selbst als Präsenz anbot. Die Oberfläche des Gemäldes kann deshalb nicht einfach ignoriert werden. Tizians Gemälde ist der Vorläufer des heutigen Bildtypus, den Jacques Rancière das ostensive Bild nennt: das Bild, das „seine Macht in der rohen, bedeutungslosen Präsenz behauptet“, doch anders als etwa 594 Christopher S. Wood das Dokumentarphoto dies „im Namen der Kunst“ tut. Dem Betrachter zugewandt wird die stumpfe Präsenz, die die Geschichten und Diskurse unterbricht, […] zur leuchtenden Kraft eines face-à-face. […] Die Präsenz spaltet sich hier in die Präsentation der Präsenz. Für den Zuschauer wird die stumpfe Kraft des Bildes als grundloses Dortsein zum Aufblitzen eines Gesichts, das sich am Modell der Ikone orientiert, wie der Blick einer göttlichen Transzendenz. Rancière berichtet von einer kürzlich stattgefunden Ausstellung, welche diese Eigenschaft des Kunstwerks-als-Bild dramatisierte: Die Werke der Künstler […] werden auf ihr einfachstes „Hiersein“ redu- ziert. Das Hiersein wird gespalten, die Werke selbst werden zu Ikonen, die alle sinnliche, materielle Präsenz bezeugen, abseits der anderen Wei- sen, in denen Ideen und Intentionen die Daten der Sinneswahrnehmung organisieren. ‚Me voici‘, ‚Nous voici‘, ‚Vous voici‘ – die drei Rubriken der Ausstellung – machen sie zu Zeugen einer ursprünglichen Ko-Präsenz von Menschen und Dingen, von Dingen untereinander und von Menschen un- tereinander.41 Das ostentative Bild – und Tizians Himmlische und irdische Liebe gehört zu dieser Klasse – kann nie ganz allegorisch sein im Sinne de Mans oder im Sinne Petrarcas und der Bedeutungstheoretiker der frühen Renais- sance, denn es suggeriert Präsenz stärker als Worte dies können. Auch in den zeitlich ausgedehnten Feldern der Typologie oder Prophetie kann das Bild nicht um Bedeutung werben, weil seine erfahrungverdoppeln- de Oberfläche es in einer permanent erneuerten Gegenwart verankert. Es gibt jedoch eine Möglichkeit, Rancières Denkweise, die zu einem naiven oder neo-theologischen Begriff des Kunstwerks als realer Prä- senz zu führen droht, im Zaum zu halten. Diese Möglichkeit besteht darin, das Kunstwerk als Ort zu verstehen, an dem sowohl das dar- stellende als auch das schreibende Kunstmodell thematisiert werden. Tizians Gemälde gibt nicht der Darstellung gegenüber dem Schreiben den Vorzug, sondern bringt beide Arten künstlerischer Bedeutung in ein Verhältnis wechselseitiger Spannung. Das Gemälde ist eine Verhält- nisgröße zwischen dem Modus des Schreibens (und dem Problem der Zeitlichkeit ) auf der einen Seite und dem Modus der Erfahrung auf der anderen Seite. Der Inhalt des Gemäldes kann dann als der Unterschied verstanden werden zwischen einem ‚räumlich-darstellenden‘ Modus und einem ‚zeitlich-lesenden‘ Modus.

41 Jacques Rancière, Politik der Bilder, Zürich – Berlin 2010, S. 32–33. Allegorie und Prophezeiung 595

Man könnte Tizians Bild als eine Allegorie verstehen, die sich durch ein Zuviel an Präsenz oder an Schönheit selbst untergräbt. Aber auch das genaue Gegenteil ist möglich. Dann ließe es sich als ein Bild auf- fassen, das Präsenz auf sehr geradlinige Weise hervorbringt und ein allegorisches Element hineinmischt, um einen Rest von Geheimnis zu- rückzugewinnen. Denn die mimetische Malerei droht allem Vieldeu- tigen und Mysteriösen den Garaus zu machen. Die Bedeutung eines Bildes wie Tizians Himmlische und irdische Liebe ist offensichtlich nur das, was man sieht. Diese (von allem Interpretationsdruck befreiende) Möglichkeit schwebt unausgesprochen über allen Interpretationen des Bildes. In diesem Gemälde ebenso wie in den Deckengemälden öster- reichischer Kirchen und Paläste, die den jungen Gombrich einst so sehr beeindruckten, steht der geflügelte Putto, der ohne Sprache infans( ) ist, für die Möglichkeit, dass das Gemälde nicht über Verborgenes spricht, sondern einfach nur das ist, was es zu sein scheint: die Gegenwart zwei- er Frauen in einer Landschaft. Das Konzept ‚Allegorie‘ gibt der Male- rei die Möglichkeit, dem Schicksal einer solch einfältigen Direktheit zu entkommen. Die Funktion der Allegorie in der Kunst erweist sich dann als die Hervorbringung des Geheimnisvollen, das der entmystifizierenden Tendenz der Mimesis widerstreitet. Tizians Gemälde wird missverstanden, wenn man es schlicht als al- legorische Botschaft auffasst. Man wird ihm eher gerecht, wenn man es als Zusammenspiel realer Kräfte begreift – als Produkt von Wünschen, Entscheidungen, Wirkmächten, das ein neues und andauerndes Zusam- menspiel dieser Kräfte aktiviert und Interaktionen mit den Betrachtern bewirkt, die durch die Alternative zwischen erfahrungsbezogenen und bedeutungsbezogenen Lektüren des Werks strukturiert sind. In dieser Struktur wird zwischen einem Bild unterschieden, das die Gegenwart zweier schöner Frauen in einer Landschaft nachbildet und einer Lektü- re, die von den Frauen fort in eine andere Richtung weist. Die Oberflä- chenbedeutung und die verborgene Bedeutung verbleiben dabei immer beide im Spiel. Die Schönheit muss im Spiel verbleiben, um die Auf- merksamkeit des Betrachters auf das Bild zu fixieren. Die Kunst der Frühen Neuzeit hat die Allegorie dann nicht so sehr ausagiert, im Sinne einer performance , sondern sie aufgeführt, als eine Möglichkeit, die weder ergriffen noch zurückgewiesen wird. Allegorie ist deshalb nicht die Form dieser Kunst, sondern ihr Inhalt. Von nun an begannen Kunstwerke einen ihnen eigenen Freiraum abzustecken, indem sie allegorische Herausforderungen aufführten, die nicht ganz ernstgemeint waren. Es ging nicht darum, den Betrachter zu einer wah- 596 Christopher S. Wood ren, latent vorliegenden Bedeutung hinzuführen, sondern vielmehr da- rum, ihn aufzufordern, über die Lücke nachzudenken, die sich zwischen einer allegorischen Lektüre, die von der Oberfläche weg weist, und einer nicht-allegorischen Lektüre, die auf nichts als sich selbst weist, auftut. Die parataktischen Allegorien Bellinis, Lottos und Giorgiones wa- ren bereits Allegorien von Allegorien in diesem Sinn. Spätestens seit Petrarca war die Allegorie ein wichtiger Bezugsrahmen für die Refle- xion über poetische und, vorsichtig erweitert, auch über bildliche Be- deutung. Die Allegorie, schreibt Anne Dunlop , „placed a new and po- sitive stress on the fictive nature of painting; further, it opened a space between sign and referent to be bridged by the operation of mind and memory, and from this space a new need for active viewer interpreta- tion.“42 Die parataktischen venezianischen Bilder der 1490er Jahre und der ersten Jahre nach 1500 waren Reflexionen über die Möglichkeiten der bildlichen Allegorie. Für die Kunst der Malerei bedeuteten sie einen Augenblick der institutionellen Emanzipation oder Autonomisierung. Tizians Himmlische und irdische Liebe hob die Thematisierung des Pa- radoxons der bildlichen Allegorie (d. h. die Spannung zwischen anspre- chender Bildoberfläche hier und erbaulicher Bedeutung dort) auf eine neue, verfeinerte Stufe. Tizians Gemälde konstituiert ein Bildfeld, das durch bestimmte unplausible Elemente als allegorisches gekennzeich- net ist, so dass eine uncodierte mimetische Fiktion der zeitlichen und verschiebenden Natur der Allegorie entgegenarbeitet. Das Werk ist so kalibriert, dass es das Vorhandensein einer latenten Bedeutung nahe- legt. Doch diese Bedeutung kann nie in Worte gefasst werden. Sie muss verborgen bleiben, um Latenz zu symbolisieren. Der augenscheinliche Inhalt des Werks ist nichts als ein Köder. Die Himmlische und irdische Liebe mit einer Aussage über die Liebe zu identifizieren, hieße das Werk auf seine historischen Umstände zu reduzieren und es seinem wahren Medium, der Zeit, zu entreißen. Diese Doppelstruktur von Himmlische und irdische Liebe wird von den Szenen dramatisiert, die sich als Relief auf der Seite des Sarkophags eingemeißelt befinden. Zu sehen sind ein Pferd, mehrere nackte männ- liche und weibliche Figuren sowie die Szene eines Angriffs oder einer Auspeitschung. Diese blassen Gewaltdarstellungen, so legt das Gemälde nahe, offenbaren die wahre Bedeutung der anmutigen Begegnung, die

42 Anne Dunlop, „Allegory, Painting and Petrarch“, in: Word and Image, 24/2008, S. 77–91, hier S. 77. Vgl. auch dies., Painted Palaces, S. 120–121 und S. 156–158. Allegorie und Prophezeiung 597 sich in der lebendigen, farbenfrohen Welt zuträgt (in welcher sich aber eben auch der Sarkophag befindet). Doch auch diese Gewaltdarstellun- gen sind nichts als Köder. Die Reliefs des Sarkophags lassen sich nicht entziffern. Sie liefern nicht den Schlüssel, den sie versprechen. Ihre Un- lesbarkeit zeigt die schwindende Bedeutung eines literarischen Modells der Allegorie für die Kunst der Malerei, demzufolge Geschichten nur deshalb erzählt (oder bildlich dargestellt) werden, um über sich hinaus- zuweisen. Indem das Gemälde den Betrachter mit einer fast lesbaren, eingebetteten Darstellung reizt, scheint es sich einer allegorischen Tech- nik zu bedienen. Doch mit dem geheimnisvollen Sarkophag weist das Gemälde zwar auf die Möglichkeit einer abschließenden semantischen Auflösung hin, aber nur, um damit ein Bedeutungsmodell zu zitieren, auf das die Malerei als Kunst von nun an immer häufiger verzichten wird. Die Venezianer strömten vor den allegorischen Bildern von San Marco in Scharen zusammen, nicht allein, um etwas über den Lauf der Geschichte zu erfahren, sondern auch weil sie glaubten, die Gegenwart solcher Bilder werde es ihnen vielleicht ermöglichen, die Gegenwart des Seins selbst zu erfahren. Es war das Gegenstück zum Besuch eines wundertätigen Bildes an einem Marienschrein.43 Die Magie der poli- tischen Prophezeiungen wie auch diejenige der wundertätigen Bilder konnte mit einem menschlichen Zeitmaßstab gemessen werden. Sie waren wichtiger als viele herkömmliche christliche Bilder, weil letztere Ereignisse darstellten, die entweder bereits stattgefunden hatten oder für geraume Zeit noch nicht stattfinden würden (wie etwa das Jüngste Gericht). Genau wie im Fall der Orte, die mit Wundern in Zusammen- hang gebracht werden, richtete sich das wahre Interesse an den prophe- tischen Bildern nicht auf die bestimmte Botschaft, die sie vermittelten. Es zielte vielmehr auf die Möglichkeit, mit einem Ding, einem Ort oder einer Person in Kontakt zu treten (z. B. mit Joachim von Fiore), also mit Gehalten, die als Botschaften aus einer anderen Wirklichkeitssphäre aufgefasst wurden. Weil Joachim seine Instruktionen von Gott bezog, wurden seine Prophezeiungen in einen Fundus von Bildkonventionen übersetzt, der anderen Sterblichen noch viele Jahre verschlossen bleiben würde. In dem Moment, da die Botschaft des prophetischen Mosaiks von der Zeit offenbart worden war, wurde dem gewöhnlichen Betrach-

43 Vgl. Erik Thunø/Gerhard Wolf (Hrsg.), The Miraculous Image in the Late Mid- dle Ages and Renaissance, Rom 2004. 598 Christopher S. Wood ter Zugang zu diesen Konventionen gewährt, so dass er in die Nähe der Quelle dieser Botschaft gelangte. Die allegorische Malerei bot noch einen weiteren Reiz, der ebenfalls unabhängig von der Offenbarung eines spezifischen Inhalts war und eine neue Funktion der Allegorie markierte. Diese Funktion war die ei- nes Schutzraumes für gewagte Experimente in der modernen Malerei, Experimente, durch welche die Präsenz des Körpers und der Natur als Grundlage der Anziehungskraft des Werks hervortreten konnte. Dies war eine so simple Idee, dass sie damals wie heute die Einrahmung oder Remystifikation durch eine allegorische Bedeutungsabsicht zu erfor- dern schien. Diese neue Zusammenführung von Allegorie und Mime- sis wurde dem schöpferischen Individuum zugeschrieben. Sofern man nicht annahm, dass der Künstler so wie Joachim von Fiore direkte An- weisungen von Gott erhielt, befolgte er in seiner Arbeit eine Reihe von selbstgesetzten Konventionen, die anderen noch nicht vertraut waren. Die Idee des göttlichen Künstlers erscheint so als Vorwegnahme der späteren romantischen Vorstellung vom Künstler als Propheten. Sowohl die ‚Allegorie‘ als Bildkategorie als auch die Idee des göttlichen Künst- lers waren Remystifikationen der Malerei als einer Kunst, die immer häufiger in reiner Präsenz aufging. Da die joachimitischen Bilder hinge- gen direkt von Gott stammten, zählten sie zu den letzten europäischen Bildern, die keiner Remystifikation bedurften. (Übersetzer: Thomas Stachel)