Mein Leben in Theresienstadt

Als eine Überlebende von Theresienstadt und und dass Juden nicht als Menschen anerkannt Auschwitz ergreife ich heute das Wort für alle würden. Ich saß da wie gelähmt und konnte mich diejenigen, die nichts mehr sagen können. Ihnen nicht rühren, als der Vortrag – wie immer – von bin ich es schuldig, Zeugnis abzulegen - und der Klasse beklatscht wurde, weil der Lehrer ja allen, die davon wissen wollen. eine gute Note geben sollte. Die anderen haben applaudiert, aber ich war wie erstarrt. Herr Prof. Weber hat schon so viel von meiner Kindheit erzählt, dass ich dazu nichts mehr Nach der Befreiung hat mir diese Mitschülerin sagen muss. Ich möchte aber auf die Frage der einen Brief geschrieben. Damals begriff wohl jüdischen Nationalität eingehen. Der erste Präsi- keiner, was ich gefühlt habe. Ein Mitschüler kam dent der tschechoslowakischen Republik, Tho- nach der Stunde zu mir und fragte, warum ich so mas G. Masaryk, verstand viel vom Judentum. traurig sei. Ich konnte ihm gar nicht antworten. Seiner Ansicht nach ist Judentum nicht nur eine Auch mein Englischlehrer hat mit mir darüber Religion, sondern auch eine Ethnie, eine Volks- gesprochen. Er hat sich entschuldigt: Wenn er zugehörigkeit. Ich komme aus einer multikultu- geahnt hätte, welchen Text meine Mitschülerin rellen Gesellschaft. Bei uns konnte man sich zur aussuchen würde, hätte er es verboten. Seine tschechischen, zur deutschen, zur slowakischen, Entschuldigung änderte nichts, aber ich habe zur ungarischen und zur jüdischen Nationalität seine Worte nie vergessen. bekennen; diese hat mein Vater auch bei der Volkszählung 1930 angegeben. Jüdisch zu sein Ich war in dieser Zeit, um 1938, Mitglied in der war für mich selbstverständlich. Wenn man ver- jüdischen Jugendbewegung und wollte als land- folgt wird, ist es sehr wichtig, genau zu wissen, wirtschaftliche Arbeiterin in ein Kibbuz nach wohin man gehört. Nichts ist schlimmer, als für Palästina gehen. Doch meinem Vater war es etwas zu leiden, mit dem man sich nicht identifi- wichtig, dass ich das Abitur mache. Es fehlte zieren kann. auch Geld für die Auswanderung, und es war schwierig, die nötigen Papiere zu bekommen. Ich besuchte die tschechische Volksschule in Olmütz, hatte zu Hause Deutschunterricht und bin dann auf das deutsche Gymnasium gegan- Deutsche Besatzung gen. Ich bin sehr gerne in die Schule gegangen. Wir - 21 Jungen und 9 Mädchen - hatten sehr Unser Leben veränderte sich drastisch mit dem viel Spaß. Ich war voll integriert. Einmarsch der deutschen Truppen am 15. März 1939. Zu diesem Zeitpunkt habe ich meinem Vater energisch erklärt, dass ich nicht weiter zur Ausgegrenzt sein Schule gehen will. Stattdessen wollte ich eine Ausbildung in der Landwirtschaft machen. Mir Und hier greift die Geschichte ein: Mit dem war klar, dass ich unter den neuen Machthabern Münchner Abkommen 1938 wurde das Sudeten- ohnehin nicht mehr lange auf dem Gymnasium land an Deutschland abgetreten. In diesem Mo- würde bleiben können. Ich bat meinen Klassen- ment änderte sich das Klima in der Schule. In lehrer um ein Abschlusszeugnis. Er war über- diese Zeit fällt auch meine erste Erfahrung, von rascht, weil ich eine gute Schülerin war. Er woll- den anderen als Jüdin wahrgenommen zu wer- te mich schützen. Doch ich war sicher, dass ihm den. Ich habe später sehr viel Schlimmes erlebt, dies nicht gelingen konnte. Ich habe dann übri- aber die Begebenheit, von der ich jetzt berichte, gens ein viel besseres Zeugnis bekommen, als habe ich bis heute nicht vergessen. Um die engli- ich es verdiente, vor allem in Mathematik. sche Sprache zu üben, sollten wir kurze Vorträge vor der Klasse halten. Eine Mitschülerin trug Wenn ich in Schulen spreche, sind die Kinder und einen Text vor, bei dem es sich um die Über- Jugendlichen oft überrascht, wenn sie von fol- setzung eines Artikels aus dem „Stürmer“ han- gender Erfahrung hören: Vor dem 15. März 1939, delte. Darin wurde der Unterschied zwischen vor der deutschen Besatzung, war ich ein Kind, Engländern und uns Deutschen beschrieben – eine Schülerin wie alle anderen. Alle kannten mich und haben mich auf der Straße gegrüßt. Von Verhaftung und Gefängnis einem Tag zum anderen änderte sich das. Niemand hat mir etwas Böses getan, aber ich war Anlass für den tiefsten Einschnitt in meinem bis- von heute auf morgen nicht mehr vorhanden. Nur herigen Leben war die Ermordung des Reichs- Tschechen hielten noch zu uns. Ich hatte zum protektors von Böhmen und Mähren Reinhard Glück eine tschechische Freundin. Aber ich Heydrich am 4. Juni 1942. Tschechische Fall- stellte mir vor, wie Juden in Deutschland lebten schirmjäger, die von London eingeflogen waren, und wahrscheinlich niemanden mehr hätten. verübten das Attentat in Prag. Unmittelbar darauf Gerade junge Menschen glauben an Treue und wurde das Standrecht ausgerufen. Tausende wur- Freundschaft. Und dann sind sie plötzlich verlas- den verhaftet und ohne Gerichtsverfahren ermor- sen, für die anderen nicht mehr vorhanden. det. Die Repressionen waren sehr grausam. Ich war zu diesem Zeitpunkt mit einer Gruppe der Ich konnte meine landwirtschaftliche Ausbil- Jugendbewegung auf einem Gut, wie in den dung auf einem Gut in Mähren beginnen. Ich letzten Jahren immer im Sommer. Dort wurde lernte Melken, die Arbeit auf dem Feld und ich verhaftet. Damit war mein Plan hinfällig, in vieles andere. Alle Aufgaben habe ich sehr gern der Woche darauf nach Hause zu fahren, um übernommen, die Arbeit und das Leben in der meine Mutter nach Theresienstadt zu begleiten. Gemeinschaft machte mir große Freude - viel- Die Landräte waren ja frühzeitig darüber infor- leicht waren ja doch irgendwelche Vorfahren miert, wann die jüdischen Bürger aus ihrem Bauern. Dann kam der 1. September 1939, der Kreis deportiert werden sollten. Ich wollte meine Überfall der deutschen auf Polen, der Mutter nicht allein lassen. Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Mir wurde verschwiegen, dass mein Vater an diesem Tag als Aber, wie gesagt, eine Woche vorher wurde ich Geißel abgeholt wurde und nach Buchenwald, ohne Angabe von Gründen verhaftet und jeweils später nach Dachau gebracht wurde. Ich habe ihn mit einem Privatauto von zwei Gestapobeamten nie mehr lebend gesehen. in verschiedene Gefängnisse gebracht. Jedes Mal, wenn sich die Tür der Zelle öffnete, wusste Die meisten anderen aus meiner Ausbildungs- ich nicht, ob ich vielleicht zur Erschießung gruppe gingen in diesen Monaten nach Palästina, geholt würde. Der schlimmste Moment war, als obwohl die Einreise illegal war, von den Englän- wir im Kaunitz-Kolleg in Brünn ankamen. Ich dern verboten. Jüdische Flüchtlinge mussten wusste genau, dass dort das Standgericht war. heimlich landen und zusehen, wie sie ins Land Ich musste mich an eine Wand stellen und ganz kamen. Dabei sind Einwanderer umgekommen lange mit dem Gesicht zur Wand stehen bleiben. oder zurückgeschickt worden - oft in die Depor- Ich war 21 Jahre alt und kann nicht erklären, wie tation. mir zumute war, als ich jeden Moment mit dem Erschießen rechnete. Man kann das nicht Ich konnte nicht mitreisen, denn es gab einen nachvollziehen - und ich glaube, es ist gut, dass kleinen Weinberg, den mein Vater auf mich man es nicht kann. überschrieben hatte. Es war klar, dass mir dieses Eigentum weggenommen werden würde, aber Zu meinem großen Erstaunen steckte man mich die bürokratische Abwicklung kostete Zeit, so jedoch in ein Polizeiauto. Ich wurde in Brünn ins dass ich noch bleiben musste. Später wollte mir Gefängnis gebracht, so dass ich immerhin wuss- die internationale zionistische Frauenorganisa- te, ich würde zunächst nicht erschossen werden. tion ein Zertifikat für Palästina ausstellen als Von dort kam ich wieder in meine Heimatstadt Anerkennung dafür, dass ich in der Jugendbewe- Olmütz - genau eine Woche, nachdem meine gung so aktiv war. Ich sollte die erforderlichen Mutter nach Theresienstadt deportiert worden Papiere für die Auswanderung erhalten, damit war. An diesem Gefängnis bin ich jeden Tag auf meine Mutter wenigstens keine Angst um mich dem Weg ins Gymnasium vorbeigegangen. Jetzt, haben musste. Meine Sachen waren gepackt, hinter Gittern, wurde mir klar, dass ich damals zweimal war ich sozusagen auf dem Sprung. nie daran gedacht hatte, wie viel Leid es hinter Doch dann haben die deutschen Behörden verbo- diesen Mauern gab. Nun war ich drinnen und das ten, dass Juden ins Ausland gehen. Die Emigra- Leben draußen ging weiter - und niemand wuss- tion nach Palästina war unmöglich geworden. te, wie mir zumute war. Ich war dort zusammen mit vielen tschechischen In meiner Zelle erreichte mich die Nachricht Intellektuellen und vor allem mit der Familie der vom Tod meines Vaters, gestorben an Lungen- Dekane der Kirche, in der sich die Attentäter ver- entzündung im Konzentrationslager Dachau, steckt hatten. Sie wurden alle in Konzentrations- bürokratisch alles sehr korrekt vermerkt, auch lager verschleppt. Mir war nur wichtig, nach sein Ehering war bei den Papieren. In diesem Theresienstadt zu kommen, um meine Mutter Augenblick war meine ganze Energie ver- und vielleicht auch einige aus meinen Jugend- braucht. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass es gruppen dort zu finden. Die Haft war sehr niemanden mehr auf der Welt gibt, für den es schwer. Warum ich nach einiger Zeit in Einzel- wichtig ist, dass ich lebe. Und wenn man für haft kam, habe ich nie erfahren. niemanden mehr wichtig ist, dann will man nicht mehr leben. Doch ich wusste nicht, wie ich es Nach sechs Wochen wurde ich zum Verhör hätte bewerkstelligen können, Selbstmord zu geführt. Eine meiner tschechischen Freundinnen begehen. Die Messer waren sehr stumpf. Ich war hatte geholfen, junge tschechische Männer über absolut am Ende. die Grenze zu bringen. Ich hatte große Angst, nach ihr gefragt zu werden. Wie würde ich stand- halten unter Folter? Als dann der Name meiner Mosaiksteinchen für das Überleben Freundin überhaupt nicht fiel, war ich sehr erleichtert, obwohl die Anklage ein Todesurteil Wenn man mich heute fragt, wieso hast Du über- war: Mir wurde Hochverrat und illegale kommu- lebt, antworte ich immer: Mein Überleben be- nistischen Tätigkeit vorgeworfen. steht aus vielen kleinen Mosaiksteinchen. In den Tagen nach der Nachricht vom Tod meines Va- Dazu muss man wissen: Bis etwa Anfang 1942 ters wurde mir ein solches Steinchen geschenkt. wurden die Aktivitäten der zionistischen Grup- Gegenüber meiner Zelle renovierte ein tsche- pen geduldet. Doch dann erklärte die Gestapo chischer Maurer die Wohnung des Verwalters. dem Leiter der jüdischen Gemeinde, wer jetzt Dieser Maurer hat mir jeden Tag Mut zu gespro- noch bei der zionistischen Jugendarbeit erwischt chen; ohne ihn hätte ich das nie, nie durchge- würde, der käme ins KZ. Wir hatten uns ent- standen. Ich habe ihn nie vergessen, ich habe nie schieden, trotzdem weiterzumachen. Wir waren erfahren, wie er hieß, ich weiß es auch heute jung, wir hatten keine Vorstellung, was diese nicht. Ihm verdanke ich, dass ich nicht versucht Drohung wirklich bedeutete. Mit den heutigen habe, mich umzubringen. Augen sieht das ganz anders aus. Später war das Gefängnis so überfüllt, dass eine junge, schöne Zigeunerin - ich weiß nicht ob Im Verhör habe ich deshalb geantwortet, dass ich Sinti oder Roma - in meine Zelle kam. Von ihr illegal gearbeitet hätte, aber in der zionistischen ging so viel Kraft und Optimismus aus - und ich Jugendarbeit, nicht mit Kommunisten. Sie woll- war so niedergeschlagen und verzweifelt. Ich ten wissen, wie lange ich in der KP war - ich hatte jeden Glauben an Gott verloren, ich konnte wusste damals nicht einmal, was diese Abkür- mich an nichts mehr klammern - und das war zung bedeutet. Mir war vollkommen klar, dass es furchtbar. Sie wollte mir aus der Hand lesen. ohnehin keine Rolle spielte, was ich getan hatte - Früher hatte ich das immer abgelehnt aus Angst, einmal in der Mühle drinnen, würde ich keine an das vorausgesagte Schlechte zu glauben. Ich Chance haben, wieder herauszukommen. wollte nicht erfahren, was geschehen wird, denn das Gute werde ich annehmen, auch ohne es Die Einzelhaft war sehr hart. Ich hatte nichts, vorher zu wissen, und das Schlechte kommt keinen Bleistift, kein Papier, kein Buch. Ich ohnehin. Ihr aber habe ich erlaubt, mir die Zu- durfte nur Tüten kleben in der Zelle. Das einzige, kunft vorauszusagen. Sie erklärte mir, ich würde was ein wenig Erleichterung brachte, waren herauskommen und den Mann meines Lebens unsere Spaziergänge. Die tschechischen Mitge- kennen lernen. Etwas Besseres hätte mir in mei- fangenen wussten, wie todunglücklich ich war. ner Lange damals nicht passieren können. Sie haben mir immer zugerufen: „Sei froh, dass Du hier bist, sie werden Euch umbringen“ - und Nach sechs Monaten Haft wurde ich entlassen. sie meinten damit uns Juden. Das wusste man Dies habe ich der Initiative des deutschen Poli- damals. Mir war gleichgültig, was mit mir pas- zeipräsidenten von Olmütz zu verdanken - und es siert. Ich wollte nur unter Menschen sein, zu ist mir sehr wichtig, dies zu berichten. Er veran- denen ich gehöre. lasste, dass ich nicht länger als politischer Häftling der Abt. II a angesehen wurde, sondern Theresienstadt war für mich zwischen der Ein- als rassisch verfolgter Häftling der Abt. II b; zelhaft davor - mit der Drohung, erschossen zu diese Gruppe wurde nach Theresienstadt ge- werden - und nachher Auschwitz die beste Zeit. bracht. Dieser Polizeipräsident hat mir und Das sage ich, um deutlich zu machen, wie relativ anderen geholfen. Man gab mich in die Obhut Erinnerungen sind, obwohl sie trotzdem wahr der Familie des Leiters der jüdischen Gemeinde. sind. Dort lernte ich auch meinen späteren Mann Ich weiß nicht mehr wie, aber ich erreichte das kennen, der aus Deutschland deportiert worden Messegelände in Prag, wo die Transporte nach war. Theresienstadt abgingen. Theresienstadt war anders als die anderen Lager, obwohl die Verhältnisse sehr schlimm waren. Es Theresienstadt gab eine Selbstverwaltung, für die ich als Be- treuerin von Jugendlichen gearbeitet habe, und Theresienstadt war seit 1941 jüdisches Ghetto es gab unendlich viel Kultur. Das war der einzige und Durchgangslager, zunächst für tschechische Widerstand, den ich leisten konnte. Ich erinnere Juden. Dort sollte die Zahl derer, die dann weiter mich daran, dass wir auf dem kalten Fußboden in den Osten verschleppt werden würden, dezi- saßen und eine Vorlesung über Judentum und miert werden. Theresienstadt hatte auch eine Hellenismus von Leo Baeck hörten. In diesen Alibifunktion, wo Juden festgehalten wurden, zwei Stunden kam es mir vor, als sei ich auf der für die sich möglicherweise jemand einsetzen Universität und nicht im Lager. Hunger ist ganz würde. 1942 gab Eichmann den Befehl, Juden schlimm, aber Hunger ohne Kultur ist nicht aus Deutschland und Österreich, später auch aus auszuhalten. Kultur kann einem kolossal viel den Niederlanden und aus Dänemark, dorthin zu geben und die menschliche Würde bewahren. deportieren. Ein Beispiel möchte ich nennen: Das berühmte Als ich 1942 dort ankam, wusste ich nichts von Requiem von Verdi wurde einstudiert. Die SS- alldem. Aber ich fand meine Gruppe wieder und Leute haben die Aufführungen beklatscht. Und meine Mutter, der ich den Tod meines Vaters der für Theresienstadt verantwortliche Sturm- sagen musste. Ich war - trotz aller widriger Um- bannführer Rahm verkündete stolz, er werde die stände - glücklich, an diesem Ort zu sein. Eine Künstler nicht auseinanderreißen. Daran hat er Freundin, die im Widerstand war und mit der sich gehalten. Er hat sie alle nach Auschwitz ge- zusammen ich heute oft in Schulen von meinen schickt, sie haben alle nicht überlebt. Erfahrungen berichte, ermahnt mich immer Mit den Kindern haben wir stundenlang disku- wieder: „Sprich‘ nicht so gut von Theresienstadt. tiert, ob man zum Beispiel Gemüse aus dem Gar- Man glaubt sonst, Du hättest dort Urlaub ten der SS - trotz des strengen Verbots - mitneh- gemacht.“ Dazu passt eine wahre Begebenheit: men darf. Wir haben das nicht verboten, weil Jedes Jahr findet in Theresienstadt ein interna- dem Feind etwas gestohlen wurde. Um Diebstahl tionaler Kongress statt. Wenige Jahre nach dem würde es sich handeln, wenn der Gemeinschaft, Krieg wurde während eines solchen Treffens ein zu der man gehört, etwas weggenommen wird. Film von Theresienstadt gezeigt mit Kindern, die Einer der Erzieher, der aus Deutschland kam, inzwischen erwachsen geworden waren. Einige war ganz anderer Meinung: Wir dürften nicht von ihnen sagten danach: „Unsere schönste Zeit zulassen, dass die Kinder stehlen, denn sie müss- war in Theresienstadt“. Sie erinnerten sich daran, ten anständige Menschen sein. Die tschechische dass sie damals noch ihre Eltern hatten, dass sie und die deutsche Mentalität war hier sehr unter- im Lager Freunde gefunden hatten, dass sie in schiedlich. Wir waren überzeugt, dass die Kinder einer Gemeinschaft lebten – bevor sie nach Au- genau wussten, was Diebstahl wirklich bedeutet schwitz oder in andere Lager deportiert wurden. und wie es im Lager war. Wir haben so hart ge- Andere sprangen wütend auf mit dem Vorwurf, stritten, als ob es um unser Leben ging. Ich arbei- wie man vergessen könne, wie viel Hunger, wie tete mit Mädchen in der Landwirtschaft und habe viel Krankheit, wie viel Unrecht sie erlitten natürlich auch versucht, von der Ernte etwas für hatten - sie waren in Theresienstadt geblieben uns zu organisieren. Bewacht wurden wir von und erlebten dort die Befreiung. Auf ihre Weise der tschechischen Gendarmerie - und bis auf haben - wie ich meine - beide Gruppen recht. wenige Ausnahmen haben die Polizisten wegge- sehen, wenn wir etwas ins Lager schmuggelten. Vielleicht haben Sie von der berühmten Kinder- Sie haben sicher von den internationalen Kom- oper Brundibár gehört, die etwa fünfzig Mal missionen gehört, die nach Theresienstadt ka- aufgeführt wurde. Trotz des Hungers haben die men. Vorher wurde alles saubergemacht, die Bür- Kinder mit viel Freude geprobt, gespielt und gersteige geschrubbt. Es wurde für einen Tag ein gesungen. Es hat ihnen - und uns - unendlich viel Musikpavillon aufgebaut, ein Kaffeehaus und ein bedeutet. Wir haben auch ein herrliches Sportfest Pavillon aus Glas. Darin lagen die Kinder, die für die Kinder organisiert mit vielen Disziplinen erzählen mussten, welch wunderbare Lebens- und mit Preisen. Wir haben versucht, den Kin- mittel sie bekamen. Bevor die Kommission dern zu geben, was nur möglich war. Alle Künst- ankam, wurden alte und kranke Menschen weg- ler haben sich in ihren Dienst gestellt. Ich habe ja gebracht. Den Gästen wurde eine schöne Lager- erst nach der Befreiung mehr über das Schicksal welt gezeigt. Alles war inszeniert. Als einmal der Kinder erfahren. Und ich bin heute dankbar, eine Kommission eintraf, überquerte ein jüdi- dass sie in ihrem kurzen Leben wenigstens diese sches Mädchen - entgegen aller Rassentheorie - kleinen Freuden hatten. mit einem blonden Zopf und blauen Augen mit Schafen auf die Minute genau die Straße. Sie Die kleine Festung bei Theresienstadt war das können sich ein idyllischeres Bild kaum vor- schlimmste Gefängnis für Widerstandskämpfer stellen. Es war übrigens eine Schafherde aus aus Europa. Auf der großen Festungsanlage war Lidicé, aus dem Dorf, das nach der Ermordung Platz für etwa 7.000 Personen, in der schlimms- Heydrichs dem Erdboden gleich gemacht worden ten Zeit waren dort aber 50.000 Menschen zu- war. Lidicé liegt nah bei Theresienstadt. sammengepfercht. Sie können sich vorstellen, was das für eine Katastrophe war - Ungeziefer, Die Mitglieder der Kommission konnten übri- Krankheiten, Epidemien. Uns ging es vor allem gens mit keinem Häftling unter vier Augen spre- darum, Zeit zu gewinnen. Wir wurden durch die chen. Ihr Leiter fiel auf die Inszenierung herein tschechischen Gendarmen ständig über das und hat berichtet, wie gut es uns doch gehe. Kriegsgeschehen informiert. Auch später hat er von diesen Aussagen nichts zurückgenommen. Die Selbstverwaltung entschied unter anderem auch über die Verteilung der Lebensmittel. Der Abgesehen von dem, was wir an Kultur erhalten Ältestenrat hatte festgelegt, dass Schwerstar- habe, waren Hunger und Epidemien bestimmend beiter die meisten Kalorien bekommen müssten. für den Alltag. Es war der Vorhof zur Hölle. Wir Den Arbeitern sollten normale Rationen zugeteilt waren uns auch darüber im klaren, dass unsere werden. Andererseits wollten wir für die Kinder Aufführungen instrumentalisiert wurden, aber besonders gute Überlebenschancen schaffen. wir konnten auf diese Kultur nicht verzichten, sie Was man ihnen mehr geben wollte, musste aber hat uns viel Lebensmut gegeben. arbeitsunfähigen, also alten und kranken Men- schen, weggenommen werden. Eine großartige Auschwitz und andere Lager Frau machte uns klar, dass wir den Alten und den Kranken etwas schuldig sind. Wir beschlossen, Im September 1944 wurden 18.000 Menschen dass die Jungen ihnen helfen. An einem freien nach Auschwitz deportiert. Meine Mutter war im Tag sind wir mit unseren Kindern in die Kaser- achten Transport, mein Mann und ich im nen gegangen, haben alles sauber gemacht, neunten. Etwa 12.000 Häftlinge blieben zunächst haben die Böden geschrubbt, die Betten gelüftet, noch in Theresienstadt. Besorgungen erledigt. Es haben sich unglaub- liche Freundschaften zwischen den Kindern und Die Ankunft in Auschwitz, im Herbst 1944. Ich den alten Leuten entwickelt. Ich war sehr stolz - erinnere mich nur an die Rampe und Herrn und bin es immer noch -, dass wir trotz der Mengele, mit dem Daumen nach rechts oder schlimmen Umstände nicht vergessen haben, links zeigend. Damals hatte ich keine Ahnung, was wir den alten und kranken Menschen schul- dass rechts Arbeiten und links Tod bedeutete. Ich dig sind. stand dort einen Moment zusammen mit meinem Mann, wusste überhaupt nichts, nichts - aber ich Über Theresienstadt hing ein Damoklesschwert: hatte ein grausames Gefühl. Ich sagte zu ihm: Ständig gingen Transporte Richtung Osten. Wir Hier lieber tot als lebendig. Wenn wir überleben wussten nicht, wohin. würden, was sehr unwahrscheinlich war, wollten wir uns in Theresienstadt wiedertreffen. Wir wurden in die Duschräume geschickt, muss- Lagern war. Das war wieder so ein Wunder, ein ten uns ausziehen und duschen und wurden kahl weiteres Mosaiksteinchen für das Überleben. Ich geschoren. Dann mussten wir nackt an den SS- bekam schweren Durchfall: Die Ärztin brachte Leuten vorbei zu einer Kleiderkammer gehen - mich während der ganzen Nacht immer wieder eine meiner demütigendsten Erinnerungen, unver- zur Latrine und wieder zurück. Allein hätte ich gesslich. Dort bekamen wir irgendwelche Sachen das nicht geschafft. zum Anziehen. Wir wurden nicht mehr tätowiert. Innerhalb einer Stunde erklärten die anderen Häft- Beim Einmarsch der russischen Truppen in linge, was Auschwitz, was der Kamin bedeutete. Schlesien im Januar 1945 wurden wir in Marsch Ich habe nicht gewagt, an meine Mutter zu den- gesetzt. Unser Lagerkommandant hat nieman- ken, ich habe es verdrängt bis nach der Befreiung. den, der im Krankenrevier war, erschossen, wie es sonst üblich war. Wir zogen Richtung Westen. Ich erinnere mich auch noch an das stundenlange Irgendwann sagte der Lagerkommandant, wer Appellstehen, dass ich dabei nur den einen nicht weiter könne, solle zurückbleiben, es wür- Wunsch hatte, tot umzufallen. - Damit endet den Busse kommen. Ich habe im ersten Moment meine Erinnerung. daran geglaubt, weil ich so geschwächt war. Wenn ich mir das heute überlege, so war das völ- Ich war nur sehr kurz in Auschwitz. Ich kann lig irrsinnig. Ich bin mit einigen anderen einfach mich an nichts weiter erinnern und ich bin auch in diesem kleinen Ort in Schlesien geblieben. nie wieder dorthin gefahren. Auf die Frage, wie Die größere Gruppe zog weiter und erreichte ich mir diesen partiellen Gedächtnisverlust schließlich Bergen-Belsen, schlimm dezimiert. erkläre, habe ich geantwortet: „Es ist wie bei sehr heftigen körperlichen Schmerzen: Wenn man Glück hat, fällt man dann in Ohnmacht. Ich Leben in der Illegalität glaube, dass auch eine Seele ohnmächtig werden kann“. So erkläre ich mir, dass ich keine Erinne- Die russischen Soldaten kamen immer näher. rungen an Auschwitz habe bis auf jene Augen- Und plötzlich war ich frei. Es war niemand mehr blicke, von denen ich erzählt habe. da, dem ich Rechenschaft geben musste, ich war kein Häftling mehr. Wir haben uns zusammenge- Ich wurde bald schon wieder in einen Zug ge- funden in einer Gruppe von tschechischen Mäd- steckt und in ein Lager in Schlesien, nach Kurz- chen. Als der Panzerspitzenalarm kam - das Zei- bach, gebracht, kein Vernichtungs-, sondern ein chen für die Einwohner, zu fliehen - haben wir Arbeitslager; es gehörte zum KZ Großrosen. uns dem Treck der Deutschen nach Westen ange- Dort mussten wir Panzergräben schaufeln. Der schlossen. Lagerkommandant besorgte bessere Kleidung für uns. Er meinte, wer arbeiten müsse, brauche An diesem Tag begann mein Leben in der Illega- anständige Kleidung. Weil wir kahlgeschoren lität. Vieles von dem, was ich von da an erlebte, waren, haben wir für den Kopf Tücher bekom- ist so unwahrscheinlich, dass ich es niemanden men. Er hat darauf verzichtet - wie es in den übel nehme, der es nicht glauben will. Wir Lagern sonst üblich war - auf den Rückseiten gingen immer weiter, auch die alten Leute, denen unserer Mäntel mit roter Lackfarbe einen Strei- es sicher in der Kälte sehr schwer fiel. Einer fen zu markieren, so dass wir sofort als Häftlinge sagte plötzlich. „Das ist die Strafe Gottes für das, zu erkennen gewesen wären. was wir den Juden angetan haben“, ohne zu wis- sen, wer vor ihm geht. Es gab kaum etwas zu essen, was sehr, sehr hart war. Ich wurde krank und kam auf die Kran- Wir bekamen unterwegs zu essen und erreichten kenstation. Eine Frau, mit der ich Baumstämme eine kleinere Stadt. Eine aus unserer Gruppe, aus dem Wald holen musste, eine Ungarin, hat Elvira, sprach beim Bürgermeister vor. Ich weiß sich für mich bei der jüdischen Häftlingsärztin nicht, was sie ihm alles erzählte, aber er gab ihr eingesetzt, damit sie mich einige Tage dort schließlich ein Papier mit der Anweisung, ihr als behielt. Diese Hilfe war ungewöhnlich, denn die Mannschaftsführerin und zehn Mädchen überall jüdischen tschechischen Gefangenen existierten Quartier und Essen zu geben, mit Stempel und für die jüdischen ungarischen praktisch nicht. Siegel. Damit hatten wir Anspruch auf eine Man kann sich heute nicht vorstellen, wie groß Unterkunft und Lebensmittel. Uns ging es wie die Bedeutung der Landsmannschaften in den dem Hauptmann von Köpenick Eines Tages waren wir in einer Scheune einquar- Elvira begann einen Flirt mit einem Vorgesetzten, tiert mit Angehörigen des „Volkssturms“. Dank dessen Ehefrau es merkte und darauf bestand, meiner landwirtschaftlichen Umschulung konnte dass Elvira strafversetzt würde; es ist wie in ich die Kuh melken und alle waren begeistert, als einem Roman von Hedwig Courths-Mahler. Ich ich die frische Milch brachte. Wir haben mit den übernahm ihre Aufgabe als Krankenschwester. Leuten vom „Volkssturm“ ganz normal geredet - Der Arzt war überzeugter Nationalsozialist, ohne Hass, nur drei Monate nach Auschwitz. Ich behandelte aber die Zwangsarbeiter anständig. Er kann es gar nicht verstehen. fing an, sich mit mir zu unterhalten. Seiner Ansicht nach waren die Frauen dazu da, Kinder Das Militär brauchte die Scheune. Die Gruppe zu bekommen. Hitler wolle nur vollenden, was suchte mich aus, um mit einem Offizier eine Napoleon nicht gelungen sei. neue Behausung für uns zu suchen. Wenn ich diese Episode heute erzähle, geht’s mir wie In Auschwitz hätte man alles mit mir machen damals; ich kam mir vor, als ob ich mir selbst in können, ich hätte mich nicht gewehrt. Jetzt hatte einem Film zuschaue: Ich fuhr mit dem Auto ich wieder etwas zu essen, ein Stück meiner durch das verschneite Dorf. Er zeigte mir ein Freiheit und meine Würde zurückgewonnen. Haus mit enorm vielen Vorräten, die wir auf- Jetzt hatte ich plötzlich Mut und bin wieder brauchen durften. Und er fragte noch, ob das gut Risiken eingegangen. Eines Tages sagte ich zu genug für uns sei, was ich bejahte. Dieses Haus ihm: „Herr Doktor, Sie wissen doch, der Krieg habe ich mit einem Kilometerstein markiert, ist verloren – und trotzdem müssen die Leute damit wir es wieder finden würden. Dort blieben immer noch so hart arbeiten, warum?“ Er ver- wir zunächst, fünf jüngere Mädchen und vier stand den Hinweis und hat viele krank geschrie- ältere Frauen. ben. Die Zwangsarbeiter habe ich aufgefordert, dass sich immer ein anderer krank melden solle, Einige deutsche Soldaten wollten von uns tsche- damit viele diese Möglichkeit nutzen konnten. chischen Mädchen wissen, was wir nach dem Später habe ich ihn gefragt, ob er Juden hasse. Krieg mit ihnen machen würden. Doch wir wa- Darauf hat er herablassend geantwortet: „Ich bin ren so weit weg von „nach dem Krieg“, dass wir Arzt, ich hasse keine Menschen, auch keine die Frage nicht verstanden haben. Ein Soldat Juden, ich weiß gar nicht, was ich mit denen meinte, wir wüssten doch, was in Lidicé passiert reden sollte“. Zuletzt habe ich im April mit ihm sei. gesprochen. Der Krieg war verloren und ich wollte von ihm wissen, warum er nicht aufgibt. Es war wichtig, dass wir uns in der Nähe der Seine Antwort war: „Wir können nicht aufgeben, Frontlinie aufhielten, denn die Gestapo mied die- aber eines will ich ihnen sagen: Was immer die se Zone. In dem Moment, wo die Front stehen Russen uns antun werden, sie werden nie das blieb, wurde es gefährlich für uns. Elvira hatten erreichen, was wir getan haben“. wir bisher unsere Sicherheit in der Illegalität zu verdanken, Elvira setzte sie aber auch aufs Spiel. Elvira hatte zu viel riskiert, sie wurde als russi- Sie fühlte sich unangreifbar und sprach viele sche Spionin verhaftet, nachdem sie mit einer Soldaten an. Einer bot ihr - es war Anfang März gefälschten deutschen Kennkarte erwischt wor- 1945 - eine Stange Zigaretten an, wenn sie sich den war. Man fand das Papier mit unseren bei seinen Eltern in Breslau als Schwiegertochter Namen bei ihr. Wir wurden noch am 25. April vorstellen würde. Das ist wirklich wahr. verhaftet. Man steckte uns in ein Gefängnis nahe Waldenburg und dann in das KZ Merzdorf. Wir Doch dann stand die Front still. Die Gestapo waren schon sehr nah der tschechischen Grenze. wurde auf uns aufmerksam und verlangte Papie- Eine SS-Aufseherin forderte unsere Mäntel, um re. Das Papier des Bürgermeisters half uns, ver- den roten Streifen anzubringen und uns so wie- pflichtete aber auch zur Arbeit. Wir wurden zu der als Häftlinge zu kennzeichnen. Das war in einem Gut geschickt, wo französische, polni- den ersten Tagen des Mai 1945. Sie hätte uns sche, tschechische und ukrainische Zwangsarbei- erschießen können, aber wir hatten den Mut, ter waren sowie „wehrunwürdige“ Deutsche, um „Nein“ zu sagen; es ist mir wichtig, das zu Panzergräben auszuheben. Auch dort hat uns berichten. Sie war so perplex, dass sie nichts niemand als Jüdinnen und ehemalige KZ-Häft- mehr sagte. linge erkannt, aber wir hatten natürlich irrsinnige Angst vor Entdeckung. Kriegsende

Am 9. Mai erfuhren wir von zwei russischen Soldaten, dass der Krieg zu Ende war. Wir waren völlig euphorisch, wir hatten überlebt. Über das Riesengebirge wanderten wir Richtung Prag. Doch je näher Prag kam, um so schlimmer wur- de die Stimmung. Unser Überlebenskampf war überstanden, und wir fingen an, nachzudenken und nach Überlebenden zu suchen, als wir unser Ziel erreicht hatten. Ich habe nach meinem Mann gefragt. Man hatte ihn gesehen, aber in einem schlechten Zustand, was mich sehr traurig mach- te. Bis heute begreife ich nicht, warum ich dann nach Olmütz gefahren bin, nach Hause, acht Stunden lang. Ich hatte also viel Zeit zum Nach- denken.

Die Ankunft in meiner Heimatstadt, in der ich groß geworden war, war der allerschlimmste Au- genblick nach der Befreiung. Ich wusste nicht, wo ich gewohnt hatte, ich wusste nicht, weshalb ich gekommen war. Alles stürzte über mir zusammen. Ich musste mir eingestehen, was ich verdrängt hatte, was mit meiner Mutter passiert war. Ich habe diesen Tod bis heute nicht verwun- den. Ich bin schließlich zu meiner tschechischen Freundin gegangen. Ich habe einen ähnlichen „Black out“ erlebt wie in Auschwitz. Freunde erzählten mit später, dass sie mit mir zu verschie- denen Stellen in der Stadt gegangen sind. Ich weiß nichts davon und die Erinnerung ist nicht zurückgekommen. Olmütz war für mich wie eine Totenstadt.

Ich fuhr weiter zu meiner einzigen Verwandten, der Schwester meines Vaters, die in Mischehe überlebt hatte. Von einer Freundin erfuhr ich dann, dass ihr Bruder mit meinem Mann aus Dachau zurückgekommen und nach Theresien- stadt gegangen sei. Die Stadt war aber wegen einer Typhusepidemie abgesperrt. Es gelang mir, mich trotzdem hinein zu schleichen. Und ich habe meinen Mann wieder gefunden. Wir waren nicht mehr dieselben. Es trafen sich zwei Men- schen, mit allem, was sie erlebt hatten; man geht nicht ungestraft durch so eine Hölle. Wir wollten zusammen etwas Neues beginnen. Wir haben sofort angefangen als Angestellte des tschechi- schen Sozialministeriums an der Auflösung des Ghettos in Theresienstadt mitzuarbeiten.

Damit möchte ich meinen Bericht schließen.

Trude Simonsohn Über die Einzigartigkeit des Mordes an den europäischen Juden (Durchgesehene Nachschrift einer Tonbandaufzeichnung)

Heute ist noch deutlicher geworden, als es schon Diese Aussage ist keine moralische. Jeder Mord bisher war: Auschwitz ist das Symbol des Mor- ist unmoralisch. Mord ist übrigens natürlich auch des an den europäischen Juden im Zweiten Welt- eine Art von Ereignis, die man seit dem Beginn krieg. Nicht ohne Grund: An keinem Ort wurden der menschlichen Geschichte kennt. Diese Aus- mehr Juden ermordet als in Auschwitz; von den sage ist auch keine quantitative. Sie bezieht sich ungefähr sechs Millionen insgesamt wurde dort nicht auf die Zahl der Opfer. Stalin brachte ungefähr eine Million umgebracht. Dieser Mord, wahrscheinlich mehr Menschen zu Tode als die manchmal auch das Naziregime, wird oft einzi- Nazis. Die Aussage ist eine allein wissenschaft- gartig, einmalig, unvergleichlich genannt oder liche. Antisemitismus, Judenfeindschaft, Juden- mit ähnlichen Adjektiven bezeichnet. Ich mache verfolgungen, auch Judenmorde, Pogrome waren nur einige Anmerkungen zu den Begriffen, um nicht neuartig, als dieser Mord geschah. Sie den Vorgang historisch einordnen zu können. waren bereits bekannt, sie waren einer bekannten Art zuzuordnen. Erstens: Jedes Ereignis ist einmalig, indem es sich von anderen Ereignissen unterscheidet. Kein Aber: Nie zuvor - jetzt kommt das Einzigartige - Ereignis ist jemals einem anderen ganz gleich. hatte ein Staat, ein Staat, wohlgemerkt, in der Es ist deswegen banal zu sagen, dieses oder jenes Gestalt seines Führers, des Staatsführers, be- Ereignis sei einmalig gewesen. Der Begriff ist in schlossen, alle Angehörigen einer Gruppe, die er einem strengen Sinne zur Charakterisierung des als Juden definierte, obwohl viele von ihnen Vorgangs daher unbrauchbar. dieser Definition widersprochen hätten, ein- schließlich der Alten, der Frauen, der Kinder und Zweite Bemerkung: Kein Ereignis ist unver- der Säuglinge, ohne Ausnahme zu töten. Und er gleichlich. Nur aus einem Vergleich kann sich hatte diesen Beschluss, sie alle ohne Ausnahme ergeben, ob ein Ereignis einzigartig war oder ist zu töten, durch staatliche Organe vollzogen, oder nicht. Wenn wir sagen, etwas sei unver- indem er die Opfer tötete, wo immer er sie er- gleichlich, verbieten wir uns etwas, was wir - zu- greifen konnte und viele sogar über große Ent- mal in der Wissenschaft - notwendigerweise fernungen hinweg in eigens zum Zweck der immer wieder tun, nämlich vergleichen. Man Tötung geschaffene Einrichtungen transportierte. teilt die Ereignisse in Arten ein und stellt fest, dass die meisten Ereignisse mehrfach vorkom- Ich spreche hier von den sogenannten Vernich- men, zum Beispiel Kriege, Revolutionen, Dikta- tungslagern, von denen Auschwitz II das größte turen, Erd- oder Seebeben usw. Sie sind ein- war. Der amerikanische Historiker Raul Hilberg malig, indem sie sich von anderen Ereignissen hat diese Lager einmal „killing centers“ genannt, ihrer Art unterscheiden. Der Zweite Weltkrieg Tötungs- oder Mordzentren, und das ist die rich- unterscheidet sich vom Ersten Weltkrieg oder gar tige Bezeichnung. Herkömmliche Antisemiten von den Punischen Kriegen selbstverständlich, hatten sich immer nur vorgenommen, die Juden indem er einen anderen Verlauf genommen hat. in ihrem eigenen Lande zu verfolgen und auch Aber er gehört in die gleiche Kategorie, in die zu töten. Das taten die Nazis anfänglich auch, gleiche Art, an die wir uns gewöhnt haben, näm- von 1933 bis 1939 - und das war nicht neu, das lich: Krieg. Und das gilt ebenso für Revolu- war nicht einzigartig. Entrechtet, verfolgt, aus tionen, für Diktaturen, für Erd- oder Seebeben. dem Lande getrieben, auch getötet wurden Juden Diese Ereignisse sind nicht einzigartig, weil sie schon seit Jahrhunderten; ich erinnere etwa an sich einer bereits bekannten Kategorie von Er- die große Austreibung der Juden aus Spanien im eignissen zuordnen lassen. Jahre 1492. Aber bei diesem Mord waren am Ende von sechs Millionen Ermordeten 97 bis 98 Das führt zu meiner dritten Bemerkung: Einzig- Prozent nichtdeutsche, also ausländische Juden. artig kann und soll nur heißen: Etwas derartiges, Das ist noch nicht hinreichend in das öffentliche etwas von dieser Art, hatte sich zuvor nicht Bewusstsein vor allem in Deutschland einge- ereignet. Es war, als es geschah, neu, neuartig - drungen. Das ist ein Aspekt der Einzigartigkeit, und damit in diesem Augenblick einzigartig. dass man die Juden nicht im eigenen Lande, in dem Lande der Mörder und der Täter verfolgte, aber nicht in andere Länder, um sie dort zu töten. sondern in anderen Ländern, und zwar über- Ich glaube, wir dürfen den deutschen Mord nicht wiegend. durch andere Morde, etwa an den Armeniern oder auch an den Indianern Nordamerikas relati- Von den insgesamt etwa sechs Millionen er- vieren. mordeten Juden kamen ungefähr 165.000 aus Deutschland, was zwischen zwei und drei Pro- Meine Aussage ist übrigens auch nur, dass dieser zent der Gesamtzahl entspricht. Es ist vielleicht Mord an den europäischen Juden damals, als er verständlich, dass wir uns in Deutschland den geschah - von 1939 an in Polen, massiv ab 1941 Mord an den europäischen Juden - Sie merken, mit dem Beginn des Krieges gegen die Sowjet- dass ich den Begriff Holocaust vermeide - so union bis 1945 - neu und einzigartig war. Ob vorstellen, als sei er aus der Verfolgung der bei derartiges seitdem abermals geschah, etwa in uns lebenden - wie man dann immer so schön Afrika, in Ruanda, ist möglich, aber für diese sagt - jüdischen Mitbürger hervorgegangen. Das Definition ohne Belang. ist nicht falsch, aber es erfasst nicht den histo- rischen Charakter von Auschwitz und nicht die Wann, wie und von wem der Beschluss gefasst Einzigartigkeit. wurde, von dem ich gesprochen habe, ist kontro- vers. Sicherlich nicht in einem Gremium, wie Erlauben Sie noch ein paar andere Zahlen. etwa auf der Wannseekonferenz. Das ist eine Während aus Deutschland ungefähr zwei Pro- absurde Vorstellung. Auf der Wannseekonferenz zent aller Ermordeten stammten, kamen aus den waren Beamte, weisungsgebundene Beamte, ver- übrigen westeuropäischen Ländern, und damit sammelt, die einen solchen Beschluss nicht meine ich die Niederlande, Frankreich, Öster- fassen konnten. Er ist auch von keinem anderen reich, Belgien, Italien, Luxemburg, Norwegen Gremium getroffen worden, allein deswegen und Dänemark, ungefähr 280.000, also ungefähr nicht, weil seit 1938 die Regierung des Deut- fünf Prozent. Aus Ungarn, Rumänien, der Tsche- schen Reiches, niemals mehr zu einer Sitzung choslowakei, Jugoslawien, Griechenland und zusammengetreten ist. Es gab keine solchen Albanien kam etwa eine Million oder ungefähr Sitzungen. 1937 hat die letzte sogenannte Minis- 16 bis 17 Prozent. Für Polen aber wird die Zahl terbesprechung stattgefunden, Anfang 1938 die der ermordeten Juden auf drei Millionen ge- Sitzung des letzten Reichskabinetts, und danach schätzt oder sogar noch etwas mehr als drei hat es so etwas bis 1945 nie wieder gegeben. Es Millionen, und für die damalige Sowjetunion, existierten unter dem Naziregime keine anderen mit Estland, Lettland und Litauen, auf 1,3 Kollegialorgane; - in der nicht gerade sehr Millionen, so dass der Anteil dieser Länder - demokratischen Sowjetunion gab es immerhin Polen an der Spitze und dann die Länder der ein Politbüro und Zentralkomitee. Nichts davon ehemaligen Sowjetunion - mehr als 70 Prozent gab es in Deutschland. ausmacht. Der Mord an den europäischen Juden war ganz überwiegend ein Mord an osteuropäi- Der Mord ergab sich auch nicht wie von selbst schen Juden. aus einer kumulativen Radikalisierung des Anti- semitismus. Am wahrscheinlichsten ist, dass Nicht ganz, aber weithin neuartig war die Tech- Hitler den Beschluss fasste. Wenn das so ist, nik des Mordes. Ich spreche von den Gaskam- dann ist die Entscheidung nicht datierbar, denn mern. Die meisten ermordeten Juden sind aber wir können nicht in den Kopf eines anderen auf andere Weise zu Tode gekommen, wurden im Menschen hineinschauen. Es war wohl sein Freien erschossen oder bei der Arbeit vernichtet. Wunsch, seine Absicht, entweder schon sehr Die industrielle Technik des Mordens, die häufig früh, 1919 bis 1924, oder auch später in ver- mit seiner Einzigartigkeit in Zusammenhang schiedenen Entwicklungsstufen. gebracht wird, war neuartig, ist aber noch nicht das entscheidende Kriterium der Einzigartigkeit. Wahr ist, dass Hitler zahlreiche Helfer fand und auf keinen großen Widerstand stieß. Das Motiv Die Morde an den Armeniern im Ersten Welt- dieser Helfer, die ihn dabei unterstützten, war krieg im Osmanischen Reich waren eher von vielfach nicht Judenhass. Insofern geht die Morden begleitete Evakuierungen, und sie voll- Antisemitismusforschung, die den Antisemitis- zogen sich im eigenen Lande. Die Türken mus als die eigentlich alleinige Ursache des verfolgten die Armenier in der Türkei, gingen Mordes ansieht, im wesentlichen an der Sache vorbei. Das Hauptmotiv war meines Erachtens Stalingrad häuften sich Berichte aus allen Teilen vor allem Willfährigkeit. Es versprach Vorteile, des Reiches, in denen es hieß: Die Volksge- einen Wunsch des Führers zu erfüllen, und es nossen drücken ihre Furcht aus, dass die vielen versprach Nachteile, sich ihm zu widersetzen. deutschen Soldaten, die in sowjetische Gefan- genschaft geraten waren, dort so behandelt Das gilt übrigens nicht nur für die Mittäter an werden würden, wie „wir“ die Juden - manchmal den Erschießungsgruben und in den Lagern, son- wird auch hinzugefügt: die Russen oder Polen - dern auch für ausländische Staaten. Die rumäni- behandelt haben. sche Regierung etwa machte mit, erfüllte den teilweise auf diplomatischem Wege ausge- „Der Weg nach Auschwitz“ - so heißt es im Titel sprochenen deutschen Wunsch, beteiligte sich an der Ausstellung, die wir heute sehen - hat viele den Deportationen und den Mordaktionen, so- Aspekte. Der Antisemitismus ist ein wichtiger lange Hitlerdeutschland den Krieg zu gewinnen Aspekt, schon deswegen, weil ohne ihn Hitler schien, und setzte diese Mitarbeit im Jahre 1943 nicht hätte Antisemit werden können. Aber er ist aus, als der deutsche Krieg an der Ostfront in die keineswegs der einzige. Mir kam es hier darauf erste große Krise geriet. Ähnliches gilt für das an, die Einzigartigkeit des Mordes an den Verhalten der bulgarischen Regierung. Das heißt, europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg diese Regierungen versprachen sich zunächst darzulegen und diesen Begriff zu begründen. Vorteile davon, als Deutschland eine Großmacht Denn das allein, scheint mir, eröffnet den Weg zu und der Führer eine große mächtige Figur war, einer richtigen Einschätzung dieses einzigartigen und dann versprachen sie sich Nachteile. Vorgangs.

Ganz ähnlich übrigens ist die Reaktion der deut- schen Bevölkerung gewesen. Wir wissen heute, Eberhard Jäckel dass die Kenntnis von den Tötungen vor allem in der Sowjetunion weiter verbreitet war, als oft angenommen worden ist. Wir wissen auch, dass damals viel darüber gesprochen wurde. Es war ein Thema in Deutschland. Nach 1945 war es kein Thema mehr. Dann wollte fast niemand mehr etwas davon gewusst haben. Ich mache diese Aussage über die Kenntnisse der deutschen Bevölkerung übrigens nicht aufgrund von Ver- mutungen, sondern von Tausenden von Stim- mungsberichten, die die Behörden des Nazi- staates anlegten.

Es gab damals noch keine Meinungsforschung. Aber die Behörden, die Polizei und viele andere wollten wissen, wie die Stimmung war, und da- raus ergibt sich unsere Kenntnis von der Reak- tion der Bevölkerung. In den Medien stand darü- ber nichts. Aber viele Soldaten zum Beispiel haben die Erschießungen in der Sowjetunion gesehen. Sie waren dabei. Sie haben zugeschaut, wenn sie nicht mitgemacht haben. Sie haben manchmal in ihren Briefen nach Hause davon erzählt, da waren sie etwas vorsichtiger. Aber im Urlaub haben sie mehr davon erzählt, und das hat sich dann verbreitet. Die vorwiegende Reaktion war - ich fasse das jetzt kurz zusammen - im wesentlichen die Furcht, einmal ebenso behan- delt zu werden - so heißt es dann in den Berich- ten immer -, wie „wir“ die Juden behandelt haben. Nach dem Untergang der 6. Armee in Zur Erschließung der schwedischen Auslandstonwochen. Ein Arbeitsbericht

Die in der Abteilung Filmarchiv des Bundesar- hänge der verschiedenen Länderversionen der chivs aufbewahrten Auslandstonwochen (ATW), ATW untereinander und mit den DW. Damit ver- die von der Ufa von 1927 bis 1945 für das Aus- bindet sich in erster Linie die Frage, woher die land produziert wurden, führen in der histo- Bilder der ATW kamen. Es wäre zu klären, ob sie rischen Forschung vor allem im Vergleich mit mehrheitlich bereits in den DW verwendet den Deutschen Wochenschauen (DW) bisher ein worden waren, ob die Versionen für die ver- randständiges Dasein. Dieser Umstand ist zu schiedenen Länder mehr oder weniger deckungs- einem guten Teil dem niedrigen Erschließungs- gleich sind, in welchem Ausmaß die Filme in grad geschuldet, denn bisher sind die Filme nur den Auslandsredaktionen selbst produziert wur- über unredigierte Findmittel recherchierbar oder den und welche Rolle die sogenannten ,inter- noch gar nicht erschlossen. Abgesehen von nationalen’ Versionen spielten, in denen ein bun- wenigen Historikern, die sich mit den ATW für ter Strauß von Sujets (einzelne Filmbeiträge) bestimmte Länder (vor allem Frankreich und ohne Kommentar als Bildersteinbruch bereitge- Belgien) beschäftigt haben1, wird das kultur- stellt wurde. und kommunikationsgeschichtliche Potential dieser Propagandafilme kaum zur Kenntnis ge- Das Praktikumsprojekt sollte einen Zugang zu nommen. Nicht nur sind die Inhalte, die über die diesem Fragenkomplex erarbeiten, doch ange- ATW in besetzten, verbündeten oder neutralen sichts des generell damit verbundenen Auf- Länder vermittelt werden sollten, bisher ledig- wandes und des geringen Zeitrahmens musste lich in Ausschnitten bekannt; man weiß auch die Aufgabenstellung von vorneherein darauf wenig über die organisatorischen Rahmenbe- begrenzt werden, lediglich eine kleine Bresche dingungen, personellen Strukturen und die zu schlagen. Zwei mögliche Herangehensweisen redaktionelle Arbeitsweise dieser Produktionen. boten sich dabei an: zum einen die punktuelle Untersuchung einzelner herausgegriffener Ein- Die Abteilung Filmarchiv ist an einer Behebung zelsujets, die sich beispielsweise auf herausra- dieses Mankos interessiert und hat in den gende Ereignisse bezieht und deren Darstellun- „Mitteilungen aus dem Bundesarchiv“ bereits gen in den DW und ATW miteinander vergleicht; darauf aufmerksam gemacht2. Allerdings sind zum anderen die vergleichende Gesamterfassung die redaktionelle Überarbeitung der schon von DW und ATW in einem bestimmten chrono- vorhandenen Findmittel und die Verringerung logischen Abschnitt. Der erste Weg führt aller- der Erschließungsrückstände als wichtigste dings zu methodischen Schwierigkeiten, da die Voraussetzungen für eine steigende Nachfrage Auswahl von Sujets bzw. Ereignissen (Weltge- der Forschung anzusehen. schehen, Reichsthematik, Alltag?) relativ will- kürlich wäre, so dass die Aussagekraft im Hin- So wurden Anfang 2004 im Rahmen eines vier- blick auf eine umfassende Fragestellung eher zu wöchigen Praktikums (während des Archivrefe- leiden hätte. Hingegen lässt sich der chronologi- rendariats) mit dem längerfristigen Ziel einer sche Ansatz leichter und nachvollziehbarer ope- verbesserten Erschließung und Benutzbarkeit der rationalisieren, wenn er auch mit einem größeren ATW entsprechende Vorarbeiten in Angriff ge- Aufwand bei der inhaltlichen Bearbeitung ver- nommen. Dabei sollte über den eigentlichen bunden ist. archivischen Kernbereich hinausgegangen und in Teilen eine inhaltliche Auswertung vorgenom- Unter den im Filmarchiv aufbewahrten ATW men werden. zählen die schwedischen Versionen zu den am besten überlieferten Stücken. Vor allem für das Jahr 1944 liegt eine fast vollständige Reihe vor, Aufgabenstellung so dass sich dieser Zeitabschnitt als Ausgangs- punkt für das weitere Vorgehen anbot. Die Bear- Ein umfassender Ansatz zur Erforschung der beitung einer möglichst großen Zahl von zeitlich ATW, wie er 2003 als Antrag für ein For- zusammenhängenden ATW, am besten eines schungsprojekt formuliert wurde3, bezieht sich ganzen Jahrgangs, wäre die sinnvollste Heran- unter anderem auf die inhaltlichen Zusammen- gehensweise gewesen, doch stand dafür nicht genügend Zeit zur Verfügung. Aus diesem Grund In einem dritten Teil begegnet man überwiegend wurden 16 schwedische ATW (lfd. Nr. 671-686) Themen aus dem Deutschen Reich, die nun aus dem zweiten Halbjahr 19444 herausgegrif- eindeutig propagandistische Tendenzen aufwei- fen, um sie hinsichtlich der Gesamtkomposition sen. Vordergründig wird das Alltagsleben der sowie der Einzelsujets mit den internationalen Deutschen vorgestellt, doch eigentlich geht es ATW-Versionen und den DW aus diesem Jahr darum, die totale Mobilmachung der Zivilbe- systematisch zu vergleichen. Dabei stand die völkerung, insbesondere den Arbeitseinsatz von Frage im Mittelpunkt, welche bildinhaltlichen Frauen, ins rechte Licht zu rücken. Diese Sujets und strukturellen Zusammenhänge zwischen den sind überwiegend auch in den internationalen drei Wochenschautypen festzustellen sind. Als ATW und den DW anzutreffen. Den Abschluss weiterer Analyseschritt müsste ein inhaltlicher bilden wie bei den anderen Wochenschauen Vergleich der deutschen und schwedischen ausführliche Berichte über das Kriegsgeschehen Kommentare folgen, bei dem mit interessanten an allen Fronten. Abweichungen zu rechnen wäre, doch wurde darauf aus sprachlichen Gründen vorerst verzich- Von diesem Grundgerüst gibt es immer wieder tet. Zur besseren Kontextualisierung der behan- Abweichungen, indem beispielsweise die Ge- delten Tonwochen wurden die Findmittel für die wichtung der Sujettypen verschoben wurde, meisten übrigen schwedischen ATW aus dem oder wenn besondere Ereignisse Anlass für eine Jahr 1944 überblicksartig gesichtet. Sonderberichterstattung gaben, z. B. nach dem Attentat auf Hitler (Nr. 675) oder nach der Invasion in Nordfrankreich (Nr. 668ff.). Merkmale der schwedischen ATW

Eine typische schwedische ATW besteht aus Struktureller Vergleich der Wochenschauen sieben bis acht Einzelsujets. Ausnahmen ergeben sich vor allem bei besonderen Ereignissen wie Ein wichtiger Aspekt der Analyse betrifft das dem D-Day. Am Anfang stehen in der Regel ein Ausmaß der Übernahme von Sujets aus DW und bis zwei Sujets mit schwedischem bzw. skandi- internationalen ATW in die schwedischen Ver- navischem Inhalt. Diese Kurzfilme wurden sionen5. Kurz gesagt kann weder von einer offenbar speziell für das Publikum im neutralen Deckungsgleichheit zwischen internationalen Schweden produziert und decken eine große und schwedischen ATW-Versionen noch zwi- Bandbreite an ‚harmlosen‘ Themen ab: Rosen- schen schwedischer ATW und DW ausgegangen zucht, Sport, Freizeitbeschäftigung, Bericht über werden. Wie bereits angesprochen, bestanden die eine Bruderschaft und ähnliches. Daneben trifft ersten beiden Teile der schwedischen ATW man bisweilen auf brisantere Sujets, wie die hauptsächlich aus Eigenproduktionen sowie aus Umsiedlung der karelischen Bevölkerung in Kurzfilmen, die sich thematisch wie bildlich von Finnland (Nr. 673) oder die sportliche Ertüchti- den anderen Wochenschauen unterschieden. gung der schwedischen Armee (Nr. 689). Beim empirischen Vergleich wird ersichtlich, dass im Schnitt bestenfalls die Hälfte der Sujets Auf diese Einleitung folgen meist mehrere Sujets anderweitige Verwendung gefunden hatte; daran mit internationalen Themen, vor allem Sport und ändert auch der Umstand nichts, dass ein Akrobatik sowie Jubiläen, Ausstellungen, Wis- kleinerer Teil der internationalen ATW aufgrund senschaft und ähnlichem, ohne besonderen Be- mangelnder Erschließung oder Überlieferung zug zum Krieg oder zu anderen Krisen, wobei es nicht berücksichtigt werden konnte. jedoch auch hier Ausnahmen gibt (Nr. 672: Bericht über Manöver von spanischen und Auch die Beiträge, die in den anderen Wochen- marokkanischen Soldaten). Der größte Teil schautypen auftauchten, wurden keineswegs en dieser Sujets scheint ebenfalls besonders für bloc übernommen, sondern in Auswahl aus ver- Schweden hergestellt worden zu sein, denn sie schiedenen Nummern neu zusammengestellt und können weder in den internationalen ATW noch -geschnitten. Tendenziell stammen mehr Sujets in den DW ausfindig gemacht werden. Mög- aus den DW, was mit dem thematischen Schwer- licherweise konnte sich die schwedische Redak- punkt im dritten Teil der schwedischen ATW tion aber auch aus einem großen Ufa-Fundus zusammenhängt, während die Übereinstimmung bedienen, der nicht von allen Beteiligten glei- zwischen internationaler und schwedischer Ver- chermaßen genutzt wurde. sion selten mehr als 40 Prozent, meistens sogar weniger ausmacht. Die tatsächlich übernom- – In ATW (schwed.) 674 wird ein finnischer menen Sujets waren zuvor zu einem großen Teil Kindersoldat gezeigt. Das Motiv wurde aus jeweils in den zeitlich parallel zueinander veröf- einem längeren Bericht über die finnische fentlichten DW und internationalen ATW ver- Front (DW 723) herausgeschnitten. wendet worden. – Als Ergänzung zu einem Sujet über den Ar- beitseinsatz von Frauen, darunter auch Ange- Das meiste Bildmaterial, das die schwedischen hörige des deutschen Filmballetts, in der deut- ATW aus ihrem internationalen Pendant und den schen Industrie wurde für Schweden ein viel DW übernahmen, wurde aus mehreren Wochen- älteres Sujet vorgeschaltet, das die Ballett- schaunummern zusammengestellt, die im allge- tänzerinnen bei Proben zeigt (ATW 681, DW meinen eine bis drei Wochen zurücklagen. Nur 703 und 731). in wenigen Fällen erschienen Sujets zeitgleich – Aus einem Bericht über estnische Flüchtlinge, auch in einer der beiden anderen Wochen- die sich von Reval nach Danzig einschifften, schauen. Häufig reichte der Rückgriff auf die wurde eine Doku-Soap konstruiert, indem Bilder zeitlich sogar noch weiter zurück; im man das ursprüngliche Material kürzte und Extremfall konnte ATW- und DW-Material aus- neue Bilder anhängte, auf denen zwei junge geschlachtet werden, das schon ein halbes Jahr Damen aus dem Schiff zu sehen sind, die sich alt und älter war (z. B. Nr. 674 und 681). Dage- nach ihrer Ankunft in Danzig umsehen und gen kam es eher selten zur Verwendung von Bil- dort Arbeitsstellen als Kinderkrankenschwes- dern aus der schwedischen ATW in späteren ter und Straßenbahnschaffnerin antreten Ausgaben der DW (vgl. DW 697-1 und ATW (ATW 686, DW 736). 644-3; DW 698-7 und ATW 644-8; DW 703-7 – Ein Bericht über die Lage an der Westfront ist und ATW 650-9). in der schwedischen ATW 677 länger, d. h. mit zusätzlichen Bildern angereichert, als im Die Auswertung des Vergleichs von Sujets, die internationalen Pendant ATW 675. aus den internationalen ATW übernommen wur- den, mit den aus den DW stammenden wirft ein Diese Indizien - Eigenproduktion von Sujets, weiteres bezeichnendes Schlaglicht auf die Ar- relativ unabhängige Zusammenstellung der beitsweise der schwedischen ATW-Redaktion. ATW, starke Bearbeitung des übernommenen Es zeigt sich, dass neben internationalen und Bildmaterials - legen die Schlussfolgerung nahe, deutschen Wochenschaunummern, die fast gar dass die schwedischen ATW als Produktionen nicht rezipiert wurden, andere Schauen stehen, einer zumindest im untersuchten Zeitraum in deren Sujets zum größten Teil oder gar vollstän- weiten Teilen eigenständig handelnden Redak- dig in den schwedischen ATW verwendet wur- tion anzusehen sind. Diese Arbeitshypothese als den, wenn auch nicht in ein und denselben Ergebnis der systematischen Analyse steht natür- Ausgaben. So erschienen beispielsweise alle vier lich empirisch auf sehr schwachen Füßen und Sujets der internationalen ATW 678 danach in müsste durch weitere ausführliche Studien über- den schwedischen ATW auf drei verschiedene prüft werden. Außerdem sollte auch die parallele Nummern verteilt; sechs von sieben Kurzfilmen Schriftgutüberlieferung des Propagandaminis- aus DW 724 finden sich in vier schwedischen teriums und der Ufa (soweit vorhanden) einbe- ATW wieder. zogen werden.

Hinzu kommt, dass das mehrfach verwendete Bildmaterial für die schwedische Veröffentli- Inhaltlicher Vergleich der Wochenschauen chung ausgiebig bearbeitet wurde, indem Teile herausgeschnitten, ganze Sequenzen umgestellt, Diese aus der Strukturanalyse gewonnenen Er- ein Sujet aus Versatzstücken mehrerer anderer kenntnisse können durch Beobachtungen zum Sujets mit gleicher Thematik zusammengestellt Inhalt der verschiedenen Wochenschautypen er- oder auch neues Material dazwischengeschnitten gänzt werden. Prinzipiell gemeinsam ist den ATW wurde. Vier besonders auffällige Beispiele für und DW der Grundaufbau, der in der Aufeinan- diesen Befund sollen genannt werden: derfolge von beschaulich-alltäglichen, informa- tiven (mit Schwerpunkt auf den Sport), kulturell- gesellschaftlichen und kriegsorientierten Sujets besteht, wobei die Kriegsberichterstattung im allgemeinen zeitlich den größten Raum einnimmt. Deutliche Unterschiede zeigen sich aber in der ATW des öfteren in Erscheinung, werden aber Auswahl und im Zuschnitt der verwendeten dem deutschen Publikum nur sehr dosiert bis gar Sujets. So waren die schwedischen ATW wegen nicht präsentiert. ihrer Zielrichtung auf ein ausländisches Publi- kum wesentlich ‚internationaler‘ ausgerichtet als Fazit: Weit davon entfernt, eine umfassende Er- die DW. Dies lässt sich daran ablesen, dass viele schließungsleistung präsentieren zu können oder nationale Ereignisse, wie Parteitage, Ehrungen, einen neuen Zugang für die Forschung geschaf- Kundgebungen, Fabrikbesichtigungen usw., fen zu haben, hatte dieser Arbeitsbericht vor- nicht den Weg nach Schweden fanden. Manch- nehmlich den Zweck, einer kaum bekannten mal scheint man sogar bestimmte Sujets, wie Quellengattung ein wenig Aufmerksamkeit zu Sportereignisse in Deutschland, in zeitnahen verschaffen. Anknüpfend an frühere Werkstatt- ATW durch ähnliche Berichte aus Schweden berichte in dieser Zeitschrift, sollten vor allem oder anderen Ländern ersetzt zu haben. Auch Problembereiche und Betätigungsfelder aufge- den deutschen Nazi-Größen, Funktionären, Ge- zeigt werden, die sich für die Erschließung und nerälen und sonstigen Amtsträgern widmete man Erforschung der ATW aus dem Vergleich der in der schwedischen Ausgabe wenig Aufmerk- verschiedenen europäischen Versionen der ATW samkeit. Hitler erscheint nur sehr selten in den und der DW ergeben. ATW, Truppenbesichtigungen durch Rommel oder andere Generäle werden fast völlig ver- Thomas Kreutzer nachlässigt, Ritterkreuzverleihungen spielen nur eine untergeordnete Rolle. Ein schönes Beispiel stellt ATW (schwed.) 677 dar, die eine Auffüh- rung der Berliner Philharmoniker vor prominen- Anmerkungen tem Publikum (darunter Goebbels) zeigt, jedoch die in DW 712 folgende lange Goebbelsrede 1) Vgl. Roel Vande Winkel, Die Belgischen Fassungen der Ufa-Auslandstochwoche (1940-1944). Ein Arbeitsbericht, vollständig vorenthält. in: Mitteilungen aus dem Bundesarchiv, Heft 2/2001, S. 29- 32; Ders., Nazi newsreels and foreign propaganda in Ger- Überhaupt blenden die schwedischen ATW ideo- man-occupied territories: the Belgian version of Ufa’s logische Themen, Reden, Aufmärsche, Tagun- foreign weekly newsreel, ATW (1940-1944), 2 vol., Thesis, gen, Kundgebungen und sonstige agitatorische University of Ghent 2003; James Charrel, Les actualités cinématographiques en France (1940-1944), MA-Thése, Umtriebe von nationalsozialistischen, faschisti- Université de Paris VIII 1999; Ders., Entre pouvoir alle- schen und militärischen Gruppierungen aller Art mand et pouvoir français: les actualités cinématographiques aus ganz Europa, wie sie in den DW und den en France (1940-1944), en: Société et Représentations 12 internationalen ATW häufig erscheinen, überwie- (2001), p. 63-70; Ders., Die französischen Fassungen der gend aus. Offenbar bemüht man sich um eine Ufa-Auslandstonwoche (1940-1944). Ein Arbeitsbericht, in: subtilere Vermittlung von propagandistischen Mitteilungen aus dem Bundesarchiv, Heft 3/2003, S. 31-33. Nach dem Praktikum erschienen: Nazi newsreels in Ger- Aussagen, indem man die Schwerpunkte auf man-occupied Europe, 1939-1945. Special Issue, in: Histo- Kameradschaft und Arbeitsleistungen des deut- rical Journal of Film, Radio and Television 24,1 (2004); schen Volkes legt. Erstaunlicherweise werden darin besonders einschlägig: Roel Vande Winkel, Nazi jedoch Bilder von Luftangriffen auf deutsche newsreels in Europe, 1939-1945: the many faces of Ufa’s Städte, die sich zur Sympathiewerbung für die foreign weekly newsreel (Auslandstonwoche) versus Ger- man’s weekly newsreel (Deutsche Wochenschau), p. 5-34. Deutschen hätten ausnutzen lassen, nicht gezeigt. 2) Vgl. Wolfgang Gogolin, Die Erschließung der Ufa- Auslandstonwoche, in: Mitteilungen aus dem Bundesarchiv, Die schwedischen ATW unterscheiden sich von Heft 1/2000, S. 59-63. Weiterhin: Zum Stand der Er- den DW aber nicht nur durch das Weglassen schließung, in: www.bundesarchiv.de/ aufgaben_organi- bzw. Hervorheben bekannter Themen und Sujets. sation/abteilungen/fa/00918/. Zum einen grenzen sich die oben angesproche- 3) Kay Hoffmann, Die deutsche Auslandstonwoche im Zweiten Weltkrieg als nationalsozialistisches Propaganda- nen schwedenspezifischen Eigenproduktionen instrument in den besetzten Gebieten und für das neutrale gegenüber vergleichbaren ,deutschen’ Sujets Ausland, Manuskript, 2003. durch die geographische Verortung der Inhalte 4) Darunter befanden sich vier ATW, die in diesem Zusam- ab. Noch weiter allerdings scheinen sich die menhang erstmals gesichtet und erschlossen wurden: lfd. ATW im Bereich der religiösen Thematik vorzu- Nr. 676, 683, 684 und 686. 5) Die folgenden Ausführungen basieren auf empirischem wagen, wo sie signifikant über das vorgegebene Material (insbesondere Tabellen), das während des Projekts Gerüst der DW hinausgehen. Sujets mit Bildern erarbeitet wurde, aber für eine Veröffentlichung nicht in von Gottesdiensten und Wallfahrten treten in den Betracht kam. Sicherung und Nutzbarmachung der deutschen Kolonialakten im Nationalarchiv von Tansania

Für gut 30 Jahre war das heutige Tansania als jungen Kollegen sollen künftig in Daressalam für Teil von „Deutsch-Ostafrika“ eine deutsche die fachliche Betreuung des Archivguts verant- Kolonie. Während die deutsche Herrschaft infol- wortlich sein, das dort aus der Zeit der deutschen ge des Ersten Weltkriegs verschwand, lagern ihre Kolonialherrschaft in Ostafrika gesichert und zur Zeugnisse in Form von Akten im Tansanischen Nutzung bereitgestellt wird. Weiterhin sollen sie Nationalarchiv (Records and Archives Manage- die dort im Zuge des Projektes geplanten be- ment Department of Tanzania) in Daressalam. standserhaltenden Maßnahmen unterstützen. Auf diese Aufgaben wurden die beiden tansanischen Mit einem Workshop in Daressalam im Oktober Archivare während ihres Aufenthaltes im Bun- 2004 ist, basierend auf den Ergebnissen der Be- desarchiv gezielt vorbereitet. Ihnen wurden auf standsaufnahme von Johannes Ganser aus dem das Archivgut aus deutscher Zeit bezogene ver- Frühjahr 2002, die Arbeit an dem Projekt zur waltungsgeschichtliche, kolonialgeschichtliche, „Restaurierung, Konservierung und Aufarbei- aktenkundliche und paläografische Kenntnisse tung von deutschen Kolonialdokumenten in vermittelt und in Übungen vertieft. Abgerundet Tansania“ begonnen worden. Im Ergebnis des und vervollständigt wurde das Programm durch Workshops haben die beteiligten Projektpartner Informationen über sachgerechte Verpackung (Tansanisches Nationalarchiv, Bundesarchiv, und Magazinierung, Konservierung und Mikro- Deutsche Gesellschaft für technische Zusam- verfilmung von Archivgut. In Vorbereitung auf menarbeit GmbH, kurz: GTZ) einen Ablauf- und diese Aufgaben hatten die Kollegen in den davor Zeitplan für die voraussichtliche Gesamtdauer liegenden Wochen bereits Intensiv-Sprachkurse des Projektes erarbeitet. bei der deutschen Botschaft in Daressalam und beim Carl-Duisberg-Centrum in Saarbrücken Das Bundesarchiv, vertreten durch die beiden absolviert. Archivare Johannes Ganser und Dr. Oliver Sander und im weiteren Projektverlauf durch Fachkräfte aus den Bereichen Restaurierung/ Konservierung und Mikroverfilmung, wird dabei Hilfestellung bei der Ausbildung tansanischer Kollegen in den Bereichen deutsche Sprache und Paläografie, Restaurierung, Mikroverfilmung, Datenbankerfassung sowie Webpräsentation geben. Zudem wird die für diese Arbeiten in Daressalam notwendige technische Ausstattung mit Hilfe des Bundesarchivs beschafft.

Nach der Umbettung in säurefreie Behältnisse und der Restaurierung der beschädigten Archiva- lien durch die tansanischen Mitarbeiter werden alle Akten mikroverfilmt, wobei für das Bundes- archiv jeweils eine Kopie angefertigt wird. Die Verzeichnungsangaben zu den deutschen Akten werden in eine Datenbank übertragen. Diese Daten werden im Internet für Recherchezwecke zur Verfügung stehen.

Gemäß dem vorgesehenen Arbeitsplan hielten sich vom 29. März bis 7. April 2005 zwei tansa- nische Archivare, Herr Antony Mwela und Herr Restaurierungsbedürftige Akte des Bestands G 3 Laurent Mwombki, zu einem Arbeitsbesuch Nr. 19 „Etat für das Schutzgebiet 1912“. beim Bundesarchiv in Koblenz auf. Die beiden Foto: privat Das gesamte Projekt wird von der GTZ finan- vier Jahren soll das tansanische Nationalarchiv ziert und in enger Kooperation mit örtlichen im Rahmen von „South-to-South“ Kontakten GTZ-Vertretern realisiert. Ziel ist dabei die anderen afrikanischen Archiven Hilfestellung bei Sicherung der in Tansania vorhandenen knapp bestandserhaltenden Maßnahmen an Archivalien 9000 Akten aus der deutschen Kolonialzeit, leisten können. deren Bereitstellung für die Forschung im Inter- net und eine Qualifizierung des tansanischen Personals. Nach Abschluss des Projekts in circa Johannes Ganser, Oliver Sander

Unsachgemäße Lagerung des Bestands G 54 Die Akten aus den Beständen der „German Bezirksamt Wilhelmstal in beschädigten, nicht Records“ weisen z.T. erhebliche Schäden auf säurefreien Kartons. (Wasserschaden, Schimmelbefall, Insekten- und Foto: privat Tintenfraß etc.). Foto: privat Besuch des Centre des Archives de l´occupation française en Allemagne et en Autriche in Colmar

Am 28. Januar 2005 fand in der Außenstelle des Frau Moreau hob auch hervor, welche Akten sich französischen Außenministeriums in Colmar, in nicht in Colmar befinden; im Einzelnen sind dies dem das Archivgut der französischen Besat- folgende Unterlagen: zungsverwaltung nach 1945 verwahrt wird, eine Informationsveranstaltung mit anschließender – Ministerialbestände (Französisches National- Diskussion und Magazinführung statt. An der archiv Paris sowie Centre des Archives Con- Veranstaltung nahmen neben den Gastgebern temporaines (CAC), Fontainebleau), Nathalie Moreau, Pascal Penot, Valerie Fleury – Militärische Akten (Französisches Verteidi- und eine weitere Archivmitarbeiterin, zwölf gungsministerium), Vertreter deutscher und französischer Archive – Konsulatsunterlagen der französischen Besat- (Archives départementales du Haut- Rhin, Stadt- zungszone in Österreich und Deutschland archiv Landau, Stadtarchiv Saarbrücken, Lan- (Ministère des Affaires Etrangères [MAE], desarchiv Speyer, Universitätsarchiv Freiburg, Nantes), Stadtarchiv Freiburg sowie Staatsarchiv Frei- – Akten französischer Besatzungsoffiziere in burg) teil. Für das Bundesarchiv waren Herr Dr. Deutschland (Miltärarchiv Vincennes), Hans-Joachim Harder, Herr Dr. Kai von Jena, – Dokumente französischer Kriegsgefangener in Frau Sabine Herrmann und der Verfasser anwe- Deutschland (Französisches Nationalarchiv send. Paris, CAC, Fontainebleau sowie Militärar- chiv Caen), Die Archivleiterin, Frau Moreau, informierte – Akten deutscher Kriegsgefangener in Frank- zusammen mit Herrn Penot über die Geschichte reich (Französisches Nationalarchiv Paris so- des Centre des Archives de l´occupation, seine wie CAC, Fontainebleau), Bestände, Benutzungs- und Recherchemöglich- – Zwangsarbeiterunterlagen in Deutschland2 keiten sowie über die archivrechtlichen Grund- (Militärarchiv Caen). lagen.

Findmittel und Benutzungen Die Bestände Die Findmittel setzen sich bislang vorwiegend Der Gesamtumfang der Akten umfasst sechs aus den Abgabelisten im Original zusammen, die laufende Kilometer Archivgut. Ein Teil der sukzessive archivisch überarbeitet werden. Zu Akten wurde bereits in den 1950er Jahren in einigen Beständen sind bereits überarbeitete Kartons oder Kisten nach Frankreich gebracht, Inventarlisten und Findbücher mit Angabe der andere Unterlagen blieben bis in die 1980er Archivsignatur, Titel und Laufzeit vorhanden. Jahre in den Botschaften in Wien und Berlin1. Die Bestände umfassen die zentrale und lokale Die Recherchethemen umfassen beispielsweise Verwaltung der französischen Besatzungszone in Anfragen zu personenbezogenen Daten über die Deutschland und Österreich - einschließlich des Mitgliedschaft in der NSDAP, das Konzentra- französischen Sektors in und Wien - tionslager Hinzert bzw. Konzentrationslager im (administration au niveau central bzw. adminis- Allgemeinen, Prozessakten aus Rastatt3, das tration au niveau local). Munitionsdepot Urlau, lokale Vereine, kulturelle Angelegenheiten (u.a. zu den Philosophen Neben den Akten der Alliierten Hohen Kommis- Martin Heidegger und Eugen Fink) sowie die sion (HCA) sind auch Unterlagen der gemeinsa- Rückführung deutscher Kriegsgefangener. men Einrichtungen der drei Besatzungsmächte, der angeschlossenen Behörden und der Joint Frau Moreau hob hervor, dass durchschnittlich Export Import Agency (JEIA) der französischen ca. 60 Benutzungen pro Jahr stattfinden; etwa ein Besatzungszone sowie der Bizone überliefert. Drittel aus Deutschland, ein Drittel aus Übersee Daneben sind Fotos, Plakate, Dokumentationen (Japan, USA oder Kanada) und ein Drittel aus und private Archivsammlungen vorhanden. Frankreich. Der Lesesaal ist für Benutzer mon- tags bis freitags von 9.00 bis 16.00 Uhr geöff- land (SMAD) sind inzwischen zu 95 Prozent net4. Benutzer müssen älter als 18 Jahre sein. geöffnet. Ein kürzlich veröffentlichtes Findmittel Gegen die Vorlage eines gültigen Ausweises und zu den Beständen der SMAD im GARF enthält zweier Fotos ist die Benutzung der Bestände detaillierte Angaben, welche Akten zugänglich möglich. Die Schutzfristen für die Akten der sind. Von insgesamt ca. 10.000 Akten sind nur französischen Besatzungszone liegen nach fran- noch 500 gesperrt, darunter solche über Kapital- zösischem Archivgesetz vom 17. Juli 1978, verbrechen der Roten Armee sowie Eigentums- zuletzt geändert am 11. Juli 1979, zwischen null angelegenheiten und Beutekunstfragen7. und 150 Jahren5. Die Arbeit mit Unterlagen aus der französischen Trotz der bestehenden Schutzfristen kann die Besatzungsverwaltung ist im Vergleich zu den Benutzung aller Akten beantragt werden („déro- anderen Besatzungsmächten wegen Sperrfristen gation“), wobei unerschlossene Akten dem und mangelnder Erschließung derzeit noch sehr Benutzer nicht vorgelegt werden. Der Benutzer schwierig. Die französische Überlieferung ist da- muss hierzu einen Antrag beim MAE in Paris her bislang von der Wissenschaft weitestgehend stellen und seine Anfrage präzisieren. Die betref- ungenutzt geblieben. Dies bestätigte sich in den fenden Akten werden in Colmar geprüft; nach weiteren Gesprächen, wobei deutlich wurde, erfolgter Genehmigung und Benachrichtigung ist dass ein Großteil der Bestände noch nicht ar- die Einsichtnahme möglich6. Bei einer Ableh- chivisch verzeichnet wurde. Bei Erschließungs- nung kann Beschwerde eingelegt werden. Akten, arbeiten werden immer wieder deutsche Pro- die bei interalliierten Einrichtungen entstanden venienzen aufgefunden. Frau Moreau wies auf sind, sind frei benutzbar (bis auf die Überliefe- die Aktenrückgabe an das Bundesarchiv im rung über Geheimdienste, Notfallpläne Berlin, Oktober 2004 hin. Neuere Findmittel sind unter Beziehungen zu den Sowjets, personenbezogene der Adresse http:// www.diplomatie.gouv.fr/ar- Unterlagen sowie das Gefängnis Spandau). chives/service/inventaires/colmar/colmar.html zugänglich. In der Bibliothek können u.a. Findmittel zu den Beständen und eine Sammlung der wichtigsten Nachmittags fand eine Führung durch die Maga- Verordnungen und Gesetze aus der Zeit zwi- zine, die in einem Nebengebäude mit Erdge- schen 1945 und 1949, die Gazetten der Alliierten schoss und zwei Obergeschossen untergebracht Kommission von Österreich und Auszüge der sind, statt. Dabei war zu sehen, dass ein Teil der Verwaltungsgerichtsakten der ersten Instanz der Akten nach der Anlieferung in Colmar im Origi- französischen Besatzungszone eingesehen wer- nalzustand in die Regale (Metallstandregale) den. eingelagert worden war, bislang jedoch aufgrund des Personalmangels noch nicht archivisch Im Zusammenhang mit dem Neubau des Archivs bearbeitet werden konnte. Auch einige wenige MAE im Jahr 2008/2009 ist ein Umzug und Amtsdruckschriften (v.a. Veröffentlichungen und somit eine Verlagerung der Bestände nach Paris Gesetze) sind vorhanden. Die Teilnehmer konn- geplant. Im Vorfeld ist eine vorherige konserva- ten einen Einblick in personenbezogene Unterla- torische und archivarische Bearbeitung der Be- gen, Akten der JEIA sowie der HCA bekommen stände vorgesehen. (Einlagerung der Akten in Kartons).

Gegen 15.30 Uhr endete die Veranstaltung. Der Gespräche weitere Ausbau und die Pflege der Kontakte zwi- schen den deutschen und französischen Archiven In der dem Vortrag nachfolgenden Diskussion (Mikroverfilmung; Austausch von Findmitteln) hob Herr Dr. von Jena hervor, dass die Akten der wurde von allen Teilnehmern begrüßt. amerikanischen Besatzungsverwaltung (OMGUS) im Vergleich mit den Beständen der übrigen Lars Amelung Besatzungszonen am besten zugänglich sind. Umfangreiche Findmittel zu Akten der britischen Besatzungsverwaltung stehen im Internet zur Verfügung. Die im Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF) verwahrten Akten der Sowjetischen Militäradministration in Deutsch- Anmerkungen

Die genaue Adresse ist: Centre des Archives de l´occupation française en Allemagne et en Autriche, 3 rue Fleischhauer, 68000 Colmar, FAX: 03-89-21-75-76, E-mail: ar- [email protected]. Internet: http:// www.diplomatie.gouv.fr/archives/service/ inventaires/colmar/colmar.html. 1) Zu den Akten der direction de la surete sind in Colmar nur einige wenige Grundsatzakten vorhanden; der übrige Bestand gilt als verschollen. 2) Ergänzend ist hierbei auch der Internationale Suchdienst in Arolsen heranzuziehen. 3) Die Gerichtsakten der Prozesse in Rastatt sollen zur Erleichterung der Recherchen in naher Zukunft digitalisiert werden. 4) Zur Zeit sind in Colmar drei Vollzeitkräfte beschäftigt. 5) Eine neue, überarbeitete Fassung des französischen Ar- chivgesetzes ist für 2005 geplant. 6) Die Anfertigung von Kopien muss zeitgleich mit dem Antrag zur Akteneinsicht gestellt werden; eine verspätete Antragsstellung ist nicht möglich. Das Genehmigungsver- fahren kann bis zu zwei Monaten dauern. 7) Siehe „Mitteilungen aus dem Bundesarchiv“, Heft 2/2004, S. 97.

Der Einsatz der Bilddatenbank DC 5 im Bundesarchiv

Im Sommer 2003 hat das Bildarchiv mit der Digi- Deutschen Bundestages und der Redaktion In- talisierung seiner Fotos begonnen. Anstoß dafür ternet der Bundeswehr eingesetzt wird. Von war die Übernahme von Fotoarbeiten für Benutzer großem Vorteil ist auch, dass die Benutzerober- durch einen externen Dienstleister (Firma Ossen- flächen, d.h. die einzelnen Masken frei konfigu- berg und Schneider, Remagen), die Reproduktio- rierbar sind. Für jeden Bildtyp - Fotografie, nen ausschließlich auf digitalem Wege herstellt, Luftbild und Plakat - stehen eigene Masken zur d.h. Benutzern werden Scans, Prints oder digital Verfügung. Bei der Einrichtung des Systems hergestellte Ausbelichtungen zur Verfügung ge- wurden die Masken nach den Vorgaben des stellt. So entstehen jährlich etwa 10.000 digitale Bundesarchiv definiert, um die einzelnen Ar- Bilder, die den Grundstock für eine Bilddatenbank beitsabläufe im Bildarchiv von der Recherche legen. über die Auftragserteilung und den Bildversand mit Hilfe der Datenbank abwickeln zu können. Um die Scans, die aus der alltäglichen Benutzung heraus entstehen, verwalten zu können, ist der DC 5 wurde im Januar 2005 in Betrieb genom- Aufbau und die Nutzung einer Bilddatenbank un- men. Die bereits vorhandenen ca. 15.000 Scans umgänglich. Bereits in der Planungsphase der Di- ließen sich problemlos in das System integrie- gitalisierung wurde 2002 das Bildverwaltungssys- ren. Alle Fotobestellungen der Benutzer werden tem Image Finder, das vorzugsweise von Landes- nunmehr über DC 5 abgewickelt. Auch ein klei- medienzentren und kleineren Bildagenturen ver- ner Teil der Recherchen lässt sich bereits mit wendet wird, versuchsweise als Einzelplatzversion Hilfe der Datenbank erledigen. Das System hat im Bildarchiv eingesetzt. Das System erwies sich sich mittlerweile im Arbeitsalltag des Bildar- als wenig anpassungsfähig an die Erfordernisse der chivs bewährt. archivischen Erschließung. Mehrere Programmab- stürze führten aus Gründen der Datensicherung Nach erfolgreicher Einführung von DC 5 ist es schließlich zur Stilllegung des Programms. nun möglich, die Datenbank allen Mitarbeiterin- nen und Mitarbeitern des Bundesarchivs und Das schnelle Anwachsen des Bestandes an digita- den Benutzern in den Benutzersälen zur Verfü- len Fotos machte die rasche Beschaffung einer leis- gung zu stellen. Erreichbar ist das System unter tungsfähigen Bilddatenbank erforderlich. Zudem http://athene/bundarch/. Wenn mit dem Web- ist es mittlerweile dringend geboten, durch ein on- browser die Startseite der Datenbank aufgerufen line verfügbares Bildangebot die stetig zunehmen- wird, erfolgt eine Aufforderung, sich anzumel- den Benutzeranfragen soweit wie möglich abfan- den. Im Feld ‚Name‘ wird der Benutzername gen zu können, um der Erschließung von Bildbe- „bundesarchiv“ und im Feld ‚Passwort‘ das ständen wieder mehr Raum zu geben. Kennwort „bundesarchiv“ eingegeben. Voraus- sichtlich im Februar 2006 ist damit zu rechnen, Die für den Bereich der Archive verfügbare Open dass die Bilddatenbank auf der Internetseite des Source Software befindet sich gegenwärtig noch in Bundesarchivs freigeschaltet werden wird. der Entwicklung, so dass marktübliche Datenban- ken geprüft wurden. Die Entscheidung des Bildar- chivs fiel schließlich auf das Bilddatenbanksystem DC 5 der Firma Digital Collections Hamburg, weil sich das Programm, das auf einer Oracle- Datenbank beruht und Browser basiert ist, tech- nisch problemlos in die IT-Umgebung des Bundes- archivs einpasst. Ein weiterer wichtiger Grund war, dass DC 5 bereits in der Bundesbildstelle des Pres- se- und Informationsamtes der Bundesregierung, dem Archiv des

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Die Einstiegsmaske

Nach der Anmeldung im DC 5 System öffnet sich Punkt ‚Bildarchiv’, gelangt man zur Recherche als Einstieg eine Oberfläche, die im Menü die Op- in die Bilddatenbank, unter ‚Aufträge’ befindet tionen ‚Archive’ und ‚Sammlungen’ anbietet. Un- sich die Auftragsabwicklung der Bildbestellun- ter ‚Archive’ findet sich die Auswahl ‚Bildarchiv’ gen. Die Auftragsabwicklung ist nur für Mitar- und ‚Aufträge’. Wählt man den beiter des Bildarchivs zugänglich.

Einfache Suchfunktion

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Mit einem Klick auf die Schaltfläche ‚Bildarchiv’ werden dann mit einem „kaufmännischen und“ öffnet sich die einfache Recherchemaske. Hier (&) verknüpft. Ist die Schreibweise eines Such- erfolgt über die Volltextsuche eine Recherche begriffs unklar oder sollen ähnliche Wörter in ei- über alle Metadaten, d.h. über alle inhaltlichen nem Suchvorgang ermitteln werden, wird als und formalen Informationen, die zu den Bildern Platzhalter bzw. Trunkierungszeichen in DC 5 das registriert sind. Es kann nach einem Wort oder Prozentzeichen (%) verwendet. Viele andere Da- auch nach einer Wortkombination gesucht wer- tenbanken nutzen stattdessen den Stern (*) für den. Für die Suche nach Wortkombinationen gibt eine trunkierte Recherche. Das Trunkierungszei- man beliebig viele Wörter, getrennt durch ein chen kann am Ende, in die Mitte, aber auch an den Leerzeichen ein (z.B. Hotel Adlon). Möglich ist Anfang eines Suchbegriffs gesetzt werden und auch eine Recherche nach Begriffen, die nicht steht für eine beliebige Anzahl von Zeichen.. unmittelbar nebeneinander stehen. Die Begriffe

Erweiterte Suchefunktionen (Teil 1)

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Erweiterte Suchefunktionen (Teil 2)

Von der einfachen Recherchemaske gelangt man oder den UTM-Koordinaten. Eine gezielte Re- über den Button ‚Erweitert’ zur erweiterten Su- cherche zu bestimmten Themen, Personen oder che. Die Maske für diese Suche weist eine Viel- Orten bietet sich über die Klassifikation, einen zahl von Feldern auf, die sich auf inhaltliche (z.B. Personenkatalog und das Ortsregister an. Bildtitel, Datum, Fotograf) und formale Daten (z.B. Materialarten, Ausrichtung des Fotos) be- Verschiedene Felder der Maske sind mit einem ziehen. Assistenten versehen, der hinterlegte Informatio- nen in einer Liste als Suchhilfe anzeigt. So kann Da mit der Datenbank Fotos, Plakate und Luftbil- auch die Klassifikation über den Assistenten ge- der verwaltet werden, ist es erforderlich, nach öffnet und die gewünschte Klassifikationsgruppe spezifischen Informationen der einzelnen Bildty- angesteuert werden. Bei negativem Resultat wird pen recherchieren zu können. Bei Plakaten ist die die Meldung ‚Kein Treffer’ in der bisherigen Suche nach Graphiker oder Drucker möglich. Für Suchmaske angezeigt. Nach erfolgreicher Suche Luftbilder gibt es spezielle Suchfelder über Geo- wechselt das System in die Ergebnisdarstellung. daten wie den Gaus-Krüger-Koordinaten

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Galerieübersicht

Zunächst wird das Ergebnis in einer Galerie mit kann in andere Ergebnisdarstellungen gewechselt Thumbnail-Bildern und einem Kurztitel ange- werden. Angeboten wird eine Bild/Text Liste, in zeigt. Über Schaltflächen oberhalb der Galerie der Foto, der Originaltitel und der Fotograf zu finden sind.

Bild / Text Liste

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Detailansicht

Weiterhin sind eine Detailansicht und eine erwei- terte Detailansicht wählbar, die beide ein Vollbild zeigen. Die Detailansicht bietet inhaltliche Infor- mationen, die erweiterte Detailansicht zusätzliche formal-technische Informationen zum Bild.

Die Bilder, die über eine Recherche gefunden wurden, können als pdf-Dokument ausgedruckt oder als pdf-Datei heruntergeladen werden. Ein Download von tiff- oder jpeg- Dateien ist nur für Mitarbeiter des Bildarchivs möglich.

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Sammlungen

Alle Nutzer der Datenbank können eigene Samm- Die Erschließung der Bilder, d.h. das Hinzufügen lungen anlegen. Die Fotos werden in der Samm- der Metadaten zu den digitalen Fotos muss lung lediglich als Verweis gespeichert. Das Anle- selbstverständlich vor dem Einsatz von DC 5 er- gen einer neuen Sammlung erfolgt über die folgen über das Ausfüllen der ITPC-Felder (Inter- Schaltfläche ‚Sammlung anlegen’ in der Ein- national Press and Telecommunication Council: stiegsmaske über das Menü. Neu angelegte genormte inhaltliche Beschreibung von Informa- Sammlungen kann man in der Auswahlliste unter tionsobjekten) in einer Bildbearbeitungssoftware. der Option ‚Sammlungen’ finden. Persönlich an- Der ITPC-Standard für die Beschriftung digitaler gelegte Sammlungen sind für alle Nutzer der Bilder ist ein international übliches Verfahren, Bilddatenbank sichtbar, so dass häufig wiederkeh- das sich in Bildarchiven und Bildagenturen be- rende Anfragen (z.B. zur „Reichskristallnacht“) währt hat. Seit der Einführung von DC 5 wird die oder aktuell interessierende Recherchen (z.B. zum Bilderschließung direkt im System vorgenom- Thema Kriegsende) eventuell bereits durch einen men. Erfolgt der Export eines Bildes aus DC 5, anderen Benutzer recherchiert wurden und somit kann die inhaltliche Beschreibung immer über leicht abrufbar sind. eine marktübliche Bildbearbeitungssoftware, die ITPC Daten anzeigt, gelesen werden. Arbeiten im Bildarchiv Das Aufrufen der einzelnen zu betextenden Fotos Der Import digitaler Bilder erfolgt über einen so- ist durch den Zugang über den Benutzerauftrag, genannten Bildeingangsscanner: Die für Benutzer über den Scans in die Datenbank eingespielt wur- oder das Bildarchiv angefertigten Scans werden den oder auch durch die Suche nach der Bildsig- über diesen „Scanner“ direkt in die Datenbank natur (gleich Dateiname) möglich. eingespielt. Dabei importiert das System automa- tisch die Formaldaten Bildsignatur, Ausrichtung des Fotos und Größe des digitalen Bildes.

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Bilderschließung

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Die Bilderschließung erfolgt in zwei getrennten Button ‚Assistent‘. Nach dem Eingeben eines Masken. In der ersten werden alle inhaltlich rele- Begriffs zeigt das System die möglichen Klassifi- vanten Daten, in der zweiten alle formalen und kationsstufen an. Die entsprechende Stufe wird technischen Informationen erfasst. Je nach Bild- ausgewählt und übernommen, d.h. mit dem Bild typ - Fotografie, Luftbild, Plakat – öffnen sich verknüpft. Auch für den Personenkatalog und das spezielle Masken, die die spezifischen Metadaten Ortsregister kommt die Suchfunktion zum Ein- abfragen. Erfasst werden zunächst alle inhaltli- satz. Einige Felder der Erschließungsmaske sind chen Daten, die zum Bild vorliegen. Das sind zu- mit Listen hinterlegt. Über die Schaltflächen ‚As- meist Bestand, Bildtitel, Datierung und Fotograf. sistent‘ gelangt man in die jeweilige Liste und Die Informationen werden den Bildrückseiten kann die entsprechenden Angaben suchen (z.B. oder vorliegenden Findbüchern entnommen. Liegt Bestand oder Fotograf). Sind Daten noch nicht in zu einem Foto kein Originaltitel vor, wird durch der Liste erfasst, ist es möglich, über das Menü den Bearbeiter ein archivischer Titel gebildet. ‚Listen bearbeiten‘ die Daten hinzuzufügen. Kurztitel sollten immer vergeben werden, denn in der Galerie-Übersicht erscheint der Kurztitel un- Besonders komfortabel ist die Eingabe von Meta- ter dem Bild und erleichtert so die Auswahl der daten, die für eine Anzahl von Bildern gleich sind Motive für den Benutzer. (z.B. Bestand, Fotograf, Titel oder formale Da- ten). Nach der Auswahl der Fotos, die über das Zur inhaltlichen Erschließung gehört die klassifi- Setzen eines Häkchens am Motiv oder über die katorische Zuordnung. Das Klassifizieren erfolgt Funktion ,Alle auswählen‘ erfolgen kann, werden über eine sachthematische Klassifikation, die alle in der Erfassungsmaske die Metadaten in die ent- historischen Epochen abdeckt, zu denen Bildma- sprechenden Felder eingetragen. Die einmal ein- terial vorhanden ist. Eine Erweiterung der Klassi- gegebenen Daten erscheinen nach dem Abspei- fikation ist im Bedarfsfall jederzeit möglich. Ne- chern bei allen ausgewählten Fotos. Auch selekti- ben der sachthematischen Klassifikation stehen onsweise Änderungen sind auf diese Weise mög- ein Personenkatalog und ein Ortsregister zur Ver- lich.Bei der inhaltlichen Erschließung der Bilder fügung. ist Präzision oberstes Gebot, weil schon durch einen Tippfehler ein Bild unter Umständen nicht Das Klassifizieren wird durch eine Suchfunktion wieder zu finden ist. unterstützt. Geöffnet wird die Suche über den

Die Erfassung der Formaldaten

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In die spezielle Maske für die Erfassung der for- an einer Ampel ablesbar. Rot steht für ein neues malen und technischen Angaben werden alle In- Foto, gelb für betextet, grün für klassifiziert und formationen über Materialarten und die Größe blau signalisiert das fertig bearbeitete Bild. von Positiven, Negativen, Dias und Drucken auf- genommen. Die Vorbereitung konservatorischer Nicht alle Bilder sollen für das Internet freigege- Arbeiten z.B. an Glasnegativen oder Plakaten ben werden. Fotos, bei denen digitale Rechte kann damit unterstützt werden. Auch für die Be- nicht beim Bundesarchiv liegen oder ungeklärt urteilung der Qualität eines Scans sind die Anga- sind sowie Aufnahmen, die problematische Moti- ben über das Ausgangsmaterial wichtig. ve zeigen, können durch ein ‚nein’ im Feld ‚In- ternetfreigabe’ für das Internet gesperrt werden. Der Bildstatus gibt an, in welcher Bearbeitungs- Die Erschließungsdaten sollen zwar recherchier- phase sich das Bild befindet, ob es ein neu einge- bar, das Motiv aber nicht zu sehen sein. Das Foto spieltes Bild ist, betextet, klassifiziert oder fertig ist in einem solchen Fall direkt beim Bundesar- bearbeitet. Der Status ist in der Galerieübersicht chiv anzufordern.

Die Bearbeitung von Bestellungen

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Wie bereits erwähnt, erfolgt die gesamte Bearbei- ment-Funktion erfolgen können, d.h. mit dem tung von Fotobestellungen nunmehr ausschließ- Herunterladen berechnet das System alle anfal- lich über die Datenbank DC 5. Für jede neue Be- lenden Kosten und Gebühren und führt die finan- stellung wird ein neuer Auftrag angelegt, der un- zielle Transaktion durch. ter einer vom System vergebenen fortlaufenden Auftragsnummer zu finden ist. Mit der Online-Bilddatenbank bietet sich für den Benutzer der Vorteil einer schnellen Recherche Neu angefertigte Scans werden über diese Auf- und Bildlieferung. Das Bundesarchiv erhofft sich tragsnummer in DC 5 eingespielt und im System dadurch eine Entlastung von Bildanfragen, um betextet. Die Bilder eines Auftrages sind dauer- verstärkt Bildbestände erschließen und der Benut- haft mit diesem verlinkt, so dass jederzeit nach- zung zuführen zu können. Wie bereits erwähnt, vollziehbar ist, welcher Benutzer welches Foto wird die Bilddatenbank DC 5 neben dem Bundes- erhalten hat. archiv auch im Bildarchiv des Deutschen Bundes- tages, im Bundespresseamt und von der Redakti- Der Versand von Fotos kann bei geringen Daten- on Internet der Bundeswehr genutzt. Denkbar wä- mengen direkt aus dem System heraus per Email re ein gemeinsames Internet-Bildportal, das be- mit einem Nachrichtentext erfolgen. Mehrere Fo- standsübergreifende Bildrecherchen ermöglicht. tos werden aus dem System exportiert, auf CD gebrannt und auf dem Postweg versandt. Für Be- nutzer ist es aber auch möglich, Scans vom FTP- Berit Pistora Server des Bundesarchivs herunter zu laden.

Neben den für Benutzer angefertigten Scans wur- den bereits Teile verschiedener Bildbestände digi- talisiert und in die Datenbank eingespielt. Große Teile der Sammlung Walter Dobbertin (Bild 105) sowie alle Fotos der Bildsammlungen Max Baur (Bild 170) und Adolf von Bomhard (Bild 121) sind bereits über DC 5 recherchierbar.

Mit Hilfe zweier Projekte wird die Datenbank in absehbarer Zeit um ein vielfaches anwachsen. Zum einen werden Teile der Bildüberlieferungen des Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienstes der DDR (Bild 183) außerhalb des Bundesarchivs digitalisiert. Zum anderen sollen im Rahmen ei- nes zwölfmonatigen Beschäftigungsprojekts etwa 30.000 Fotos aus einer Abgabe des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, die die Geschichte der Bundesrepublik von 1951 bis 1991 abdeckt, in die Datenbank integriert werden. Die Bilddatenbank wird dann einen mengenmäßi- gen Umfang und eine thematische Breite erreicht haben, die ein Online-Angebot der Bilder ermög- licht.

Die Fotos werden als Galerie mit Kurztitel und als Vollbild mit sämtlichen Erschließungsdaten dem Benutzer zur Verfügung stehen. Es wird sich um niedrig aufgelöste Bilder handeln, die mit einem Copyright-Zeichen des Bundesarchivs und zusätz- lich mit einem „Wasserzeichen“ versehen sind. Druckfähige hochauflösende Fotos sollen über eine Download-Funktion herunterladbar sein. Der Download soll über eine e-Pay-

Mitteilungen aus dem Bundesarchiv, Heft 1 (2005) 35 Luftbilder des Rheins aus dem Jahr 1953

Das Bundesamt für Bauwesen und Raumord- Format von ca. 23 cm x 23 cm und zeigen - mit nung (BBR) hat im Februar 2003 eine Serie von einer größeren Lücke zwischen Speyer und 2354 Luftbildern an das Bundesarchiv abgege- Bingen sowie vereinzelten Lücken, z. B. für die ben, Positiv-Schrägaufnahmen der beiden Ufer Innenstadt von Koblenz - jeweils das Rheinufer des Rheins von Basel bis zur deutsch-nieder- und einen ca. 300 m bis 500 m breiten Streifen ländischen Grenze, die im Juli und August 1953 des Uferhinterlandes. Im Gegensatz zu Senk- gemacht wurden. Die Luftbilder haben ein recht-Aufnahmen lassen schräg aufgenommene

Die Innenstadt von Boppard Bundesarchiv, Bild 195/250 Luftbilder nicht nur die Höhenunterschiede der Landschaft erkennen, sie ermöglichen es auch, einzelne Gebäude oder Gegenstände bis zur Größe von Autos deutlich zu sehen. Leider lie- gen für die Befliegungen keinerlei Dokumenta- tionen vor. Lediglich die unmittelbar auf den Luftbildern aufgedruckten Angaben geben Aus- kunft u.a. über das Aufnahmedatum. Die übrigen Kodierungen können bislang nicht entschlüsselt werden; das Kürzel „AF“ wird jedoch als Hin- weis gewertet, dass die Befliegungen durch die US Air Force durchgeführt wurden.

Das Fehlen von Kilometerangaben hat die Er- schließung der Luftbilder erheblich erschwert. Herr Marcellus Karbach, Anfang 2004 als Prak- tikant im Bildarchiv tätig, und Herr Thomas Ausschnittvergrößerung: die spätromanische Frank haben die Bilder, ausgehend von eindeutig Kirche St. Severus identifizierbaren Örtlichkeiten, wie etwa der Bundesarchiv, Bild 195/250 Innenstadt von Breisach oder der Nahemündung in Bingen, identifiziert und hinsichtlich des ab- Die Kosten der Digitalisierung trug die Bundes- gebildeten Rheinabschnitts zumindest annähernd anstalt für Gewässerkunde, während das Bundes- beschrieben. archiv die Organisation dieser Arbeiten und die anschließende Erschließung übernahm. Die Die Digitalisierung der Bilder erfolgte im Rah- hochauflösenden digitalen Bilder mit einem men einer Kooperation mit der Bundesanstalt für Gesamtvolumen von ca. 300 GB wurden dem Gewässerkunde in Koblenz. Die Luftbilder besit- Bundesarchiv im Januar 2005 auf 65 DVDs zen für zahlreiche Fragen und Problemstellungen übergeben. Hier wurden sie zunächst auf dem des Natur- und Artenschutzes, der Landschafts- Massenspeicher abgelegt, der auch die sonstigen pflege und der städtebaulichen Raumordnung Bilddateien des Bildarchivs trägt. Bevor sie in einen erheblichen Aussagewert. Sie ermöglichen die Bilddatenbank importiert werden konnten, es beispielsweise, die frühere Gestalt der Ufer wurden zunächst niedriger aufgelöste Kopien der mit der heutigen zu vergleichen und Schlüsse Dateien mit 300 dpi hergestellt. Die Ursprungs- hinsichtlich der Entwicklung von Tier- und dateien werden allerdings auch weiterhin in Pflanzenarten zu ziehen. Die Bilder können für einem separaten Verzeichnis vorgehalten, um sie die Erstellung von Hochwasseraktionsplänen insbesondere amtlichen Benutzern mit einem und den Deichbau ebenso herangezogen werden entsprechenden Interesse an diesen hohen Auflö- wie für städtebauliche Umbau- und Rückbau- sungen zur Verfügung stellen zu können. maßnahmen. Die DVDs, ein „Satz“ der niedriger aufgelösten Damit die Luftbilder auch tatsächlich für diese Bilder zur leichteren Durchsicht und eine Datei Zwecke genutzt werden können, reicht die sonst mit den Erschließungsinformationen wurden im für die Digitalisierung von Schwarz-weiß-Fotos Februar 2005 der Bundesanstalt für Gewässer- dieser Größe übliche Auflösung von ca. 300 dpi kunde übergeben. nicht aus. Stattdessen wurde in diesem Fall eine Auflösung von 1200 dpi gewählt, die auch starke Die Bilder der Rheinbefliegung sind für die Mit- Vergrößerungen noch zulässt, ohne dass das Bild arbeiter und Benutzer des Bundesarchivs über sich in Punkte auflöst. Das Beispiel (Bild die Bilddatenbank einsehbar. Sobald das Inter- 195/250) zeigt im Vollbild die Innenstadt von net-Bildangebot des Bundesarchivs - voraus- Boppard und der stark vergrößerte Ausschnitt die sichtlich im Frühjahr 2006 - in Betrieb gegangen spätromanische Kirche St. Severus. Die Größe sein wird, werden die Rheinbilder auch online der einzelnen Bilddateien schwankt zwischen verfügbar sein (mit der Möglichkeit, sie herun- 114 MB und 120 MB; die Abweichungen erge- terzuladen). ben sich aus den nicht immer gleichen Aus- gangsformaten der Bilder. Michael Hollmann Zur Geschichte der Eisenbahnen: Die Reichsbahnakten im Bestand R 5 - Reichsverkehrsministerium, Teil 1: Organisationsgeschichte

Die Verwaltung fasste3. Der einzige Zusammenschluss vor 1920 der deutschen Eisenbahnen bis 1914 war die 1896/97 abgeschlossene Finanz- und Betriebsgemeinschaft der hessischen Eisenbah- Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 18. nen mit der preußischen Staatsbahnverwaltung. April 1871 hatte in ihrem Artikel 41 erstmals den Gedanken der einheitlichen Leitung der Eisen- Ein ständig steigendes Transportvolumen, der bahnen formuliert. An Reichsbehörden, die aus- technische Fortschritt, die stabilen politischen schließlich für Eisenbahnangelegenheiten zu- Verhältnisse und die Geldwertstabilität bewirk- ständig waren, gab es vor 1920 aber nur das ten, dass die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg die Reichseisenbahnamt (vgl. Bestand R 4101), das größte Wachstumsphase der deutschen Bahnen lediglich als Aufsichtsbehörde für alle deutschen war. Das Streckennetz erreichte 1913 mit Aus- Staats- und Privatbahnen fungierte, und das nahme der Kleinbahnen (immerhin über 10.000 Reichsamt für die Verwaltung der Reichseisen- km) mehr als 63.000 km; das bedeutete einen bahnen (vgl. Bestand R 4201). Diese Behörde Zuwachs seit 1895 um mehr als 17.000 km4. Bis verwaltete die 1871 von Frankreich übernomme- 1914 erzielten die Länderbahnen große Gewinne nen elsaß-lothringischen Eisenbahnen, die somit und finanzierten sogar die einzelnen Staatshaus- bis 1920 die einzigen Reichseisenbahnen dar- halte zu einem großen Teil. Prächtige Bahnhöfe, stellten. Im übrigen waren bis 1920 für das Ver- luxuriöse Hofzüge und selbst ausgedehnte Eisen- kehrswesen in der Regel die deutschen Bundes- bahner-Wohnsiedlungen wurden gebaut. Es kam staaten zuständig.1 zu Annäherungen der deutschen Bahnverwal- tungen, so z.B. durch eine gemeinsame Bau- und In die Kompetenz des Reiches fielen somit nur Betriebsordnung (1904), einen einheitlichen Per- die Gesetzgebung und die Oberaufsicht über die sonen- und Gepäcktarif aller deutschen Staats- Eisenbahnen, nicht aber deren Bau und Betrieb. bahnen (1907) und die Gründung des Staats- Die Eisenbahnen in den deutschen Bundes- bahnwagenverbandes (1909). staaten waren zunächst meist Staatsbahnen, nur in Preußen und Sachsen existierten anfangs über- wiegend Privatbahnen. Das erschwerte schon Der „Eisenbahnkrieg“ und seine Folgen ihre landesinterne Koordination. Noch schwieri- ger war es, den Verkehr aufeinander abzustim- Da die Mobilmachung zu Beginn des Ersten men, wenn er die Landesgrenzen überschritt. Weltkrieges alle Bereiche von Wirtschaft und Hierfür war als Koordinierungsgremium von Gesellschaft und deren Unterstellung unter mili- Staats- und größeren Privatbahnen bereits 1847 tärische Bedürfnisse und Zielsetzungen bedeu- der Verein Deutscher Eisenbahnverwaltungen tete, wurden auch die Eisenbahnen weitgehend gegründet worden (vgl. Bestand R 4307)2. Trotz militärischen Kommandostrukturen unterworfen. dieser notwendigen Kooperation waren die Truppenbewegungen und die Versorgung der Eisenbahnverwaltungen der Länder selbständig Heere beherrschten zwischen 1914 und 1918 den und unabhängig. Bahnbetrieb, weshalb der Erste Weltkrieg auch als „Eisenbahnkrieg“ bezeichnet wurde5. An der Reichskanzler von Bismarck hatte vergeblich Spitze stand die Eisenbahnabteilung beim „Chef versucht, die deutschen Eisenbahnen in der Hand des Feldeisenbahnwesens“ unter dem späteren des Reiches zu vereinigen. Süddeutsche Beden- Reichsverkehrsminister Wilhelm Groener. Mit ken gegen eine Vormachtstellung Preußens der Funktion dieser Behörde war zugleich ein verhinderten 1875 die Zusammenfassung der bedeutender Schritt in Richtung Reichsbahn Bahnen in einer Hand und ihren Ankauf durch getan. das Deutsche Reich. In größerem Umfang fand nur in Preußen eine Verstaatlichungsaktion statt, so dass dort im Jahre 1900 das Streckennetz der Privatbahnen nur noch ca. 2.300 km, dagegen das der Staatsbahnen mehr als 33.000 km um- Der Münchener Hauptbahnhof um 1930. Bundesarchiv, Bild 183-H25 730

Durch die Zentralisation des Eisenbahnwesens Mit der sich abzeichnenden militärischen Nie- für die Zwecke des Krieges traten die länder- derlage Deutschlands forderten nicht mehr nur spezifischen Eigenheiten der Bahnen zunehmend politische Parteien, sondern auch in zunehmen- in den Hintergrund. Auch auf dem zivilen Sektor dem Maße Vertreter von Handel und Industrie gab es Ansätze für ein Zusammengehen: Nach- eine Zentralisation des Eisenbahnwesens. In dem die Verkehrsprobleme im Krieg immer mehreren Konferenzen der Vertreter aller Län- größer geworden waren, forderten u.a. auch derbahnen zwischen Juni 1918 und Januar 1919 nationalliberale und sozialdemokratische Abge- zeichnete sich immer deutlicher ab, dass das alte ordnete des Reichstages die zentral verwaltete Staatsbahnsystem politisch und auch ökono- Reichsbahn. misch nicht mehr zu halten war. Vor allem die bayerische Staatsregierung wollte sich allerdings Die Folgen des Ersten Weltkrieges waren für die „lebenswichtige Sonderrechte“ wie das Eigen- Eisenbahnen in mehrfacher Hinsicht katastro- tum und die Nutzung der Staatsbahn nicht neh- phal. Obwohl das Schienennetz nicht durch men lassen. Kriegshandlungen zerstört war, ging die Über- lastung der Bahnen an die materielle Substanz. Nach dem Ausbruch der Novemberrevolution Dementsprechend waren viele Lokomotiven und und der Ausrufung der Republik waren sowohl Wagen sowie Gleisanlagen in einem maroden die Mehrzahl der Abgeordneten der Nationalver- Zustand. Hinzu kam die Ausführung des Waffen- sammlung als auch wortgewaltige Vertreter der stillstandsabkommens, demzufolge die Länder- Industrie und der Fachpresse der Ansicht, dass bahnen bis Mai 1919 insgesamt 5.000 fahr- nur eine Vereinheitlichung der Eisenbahnen die tüchtige Lokomotiven (ein Fünftel des Gesamt- enormen verkehrstechnischen und wirtschaft- bestandes), 20.000 Personenwagen und 150.000 lichen Probleme würde lösen können. Schließ- Güterwagen an die Siegermächte der Entente ab- lich bestimmte die Weimarer Verfassung vom 11. zugeben hatten6. August 1919 in ihren Artikeln 89 bis 96 und 171, dass die Eisenbahnen des allgemeinen Verkehrs für Preußen und Hessen eine gemeinsame spätestens bis zum 1. April 1921 in das Eigentum Zweigstelle. Die Zweigstellen in Baden, Würt- des Reiches übergehen und als einheitliche temberg und Sachsen wurden zum Jahresende „Verkehrsanstalt“ verwaltet werden sollten. Zur 1920 aufgelöst und ihre Geschäfte entweder vom Wahrnehmung dieser und anderer Aufgaben7 RVM oder von Reichsbahndirektionen übernom- ordnete Reichspräsident Ebert am 21. Juni 1919 men. Neu eingerichtet wurden anstatt der Kriegs- die Bildung des Reichsverkehrsministeriums betriebsleitung drei Oberbetriebsleitungen. (künftig: RVM) an8. Besonders die Eisenbahn als wichtigstes Vermögensobjekt des Reiches Im Staatsvertrag hatte sich das Reich verpflich- machten das RVM zu einer „Schlüsselverwal- tet, das gesamte Eisenbahnpersonal der Länder tung“9. zu übernehmen. So wurde die Reichsbahn mit mehr als einer Million Beschäftigten zum größ- ten Arbeitgeber der Weimarer Republik. Das Die „Verreichlichung“ der Eisenbahnen Reich übernahm die Eisenbahnschulden aus den Jahren 1914 bis 1920 und stellte die Länder Nicht nur die Betriebsschwierigkeiten, sondern rückwirkend von den kriegsbedingten Sonderbe- auch die sich dramatisch verschlechternde lastungen frei. Mit der Abschaffung der Akkord- Finanzsituation der Länder ließen es opportun arbeit, der Einführung des Achtstundentages und erscheinen, den Verfassungsauftrag schnell zu den Mitbestimmungsrechten der Betriebs- und realisieren. Nach langwierigen und schwierigen Beamtenräte „war die Reichsbahn zu einem Mo- Verhandlungen, bei denen es vor allem um die dell eines am Sozialstaat und der Republik orien- Länderentschädigung, also den „Kaufpreis“ für tierten Unternehmens geworden“12. die Bahnen ging, wurde zwischen der Reichs- regierung und den acht deutschen Ländern mit Zur Ankurbelung der Wirtschaft und zur Siche- Staatsbahnbesitz (Preußen, Bayern, Sachsen, rung von Arbeitsplätzen vergab die Reichsbahn Württemberg, Baden, Hessen, Mecklenburg- umfangreiche Beschaffungs- und Reparatur- Schwerin und Oldenburg) ein Staatsvertrag10 ge- aufträge für Lokomotiven, Güterwaggons und schlossen, der bereits mit Wirkung vom 1. April Personenwagen, so dass die Ausgaben die Ein- 1920 (also genau ein Jahr früher als in der Ver- nahmen weit übertrafen und der Staatsbetrieb ein fassung vorgesehen) in Kraft trat und die „Ver- wachsendes Defizit vor sich herschob. Um das reichlichung“ der Staatseisenbahnen besiegelte. Defizit abzubauen, wurden die Tarife im Güter- und Personenverkehr der Inflation angepasst, die Dies war die erste von vier grundlegenden Ände- Zahl der Beschäftigten reduziert13 und der Bau rungen in der Eisenbahnverfassung Deutschlands von neuen Eisenbahnlinien weitgehend ein- von 1920 bis 1945. Es bleibt festzuhalten, dass gestellt. Durch Modernisierungen und die sich die Länder im Staatsvertrag und einem allmähliche Anpassung an den infolge der neuen Zusatzprotokoll einige Auflagen und Mitwir- Reichsgrenzen veränderten Verlauf der Verkehrs- kungsrechte gesichert hatten, wie z.B. die Ent- ströme konnte eine Steigerung der Transport- sendung eigener Beamter in den Verwaltungsrat leistung erreicht werden. Anfang 1922 zeichnete und besondere Kompetenzen für die Reichsbahn- sich eine Entspannung bei der wirtschaftlichen direktionen11. Lage der Reichsbahn ab. Die Hoffnung auf eine endgültige Überwindung der Krise wurden je- Der 1. April 1920 gilt als der Geburtstag der doch durch die (Hyper)Inflation und die Ruhr- Deutschen Reichsbahn. besetzung schnell zerstört.

Die Verwaltungsorganisation der bisherigen Staatsbahnen blieb zunächst fast unverändert Die Ruhrbesetzung 1923 bestehen: Die früheren Landeseisenbahndienst- stellen - von nun an Reichsbehörden - wurden in Die Ruhrbesetzung ab Januar 1923 hatte große fünf Zweigstellen des RVM (wie in den meisten Bedeutung für die Reichsbahngeschichte, denn Ländern) umbenannt, nur in Mecklenburg und dieses Ballungsgebiet war nicht nur das wirt- Oldenburg wurden die bisherigen Bezeichnun- schaftliche Zentrum Deutschlands, sondern auch gen beibehalten (Eisenbahn-Generaldirektion die wichtigste Verkehrsregion der Reichsbahn. bzw. Eisenbahn-Direktion). Wegen des bereits Die meisten Eisenbahnverbindungen zwischen erwähnten Zusammenschlusses von 1897 gab es den besetzten und unbesetzten Gebieten wurden durch den Truppeneinmarsch unterbrochen. Da- in der Sachverständigenkommission unter Lei- raufhin rief die Reichsregierung zum passiven tung des US-Bankiers Charles G. Dawes über die Widerstand auf. Die Eisenbahner wurden ange- Regelung der Reparationen verhandelt. Schon in wiesen, Befehle und Anordnungen der Besatzer Artikel 248 des Versailler Vertrages hatte sich die nicht zu befolgen. Frankreich und Belgien deutsche Regierung dazu verpflichtet, die reagierten mit der Einrichtung einer „Regie der deutschen Eisenbahnen als Reparationspfand der Eisenbahnen in den besetzten Gebieten“ ab Alliierten einzusetzen. 1. März 1923. Der passive Widerstand war auf Dauer nicht durchzuhalten und wurde im Sep- Die Kommission legte im April 1924 ihre Gut- tember 1923 abgebrochen, die deutsche Wirt- achten vor, die schließlich zusammenfassend als schaft stand vor dem Zusammenbruch und auch Dawes-Plan bezeichnet wurden. Im Londoner die Reichsbahn konnte diese Notlage auf Dauer Abkommen vom 16. August 1924 war der Text nicht verkraften. Die Inflation erreichte astrono- des wohl wichtigsten Dawes-Gesetzes „über die mische Dimensionen14. -Gesellschaft“ (kurz: Reichsbahngesetz) enthalten18. Dieses Gesetz Nach der Aufgabe des passiven Widerstandes hatte die dritte grundlegende Änderung in der lenkten die Alliierten in der Reparationsfrage Eisenbahnverfassung Deutschlands seit 1920 zur ein. Mit der Einführung der Rentenmark am 15. Folge. Sie hatte am längsten Bestand und galt im November 1923 wurde die Grundlage für einen Prinzip bis 1937. In diesem Zeitraum war die stabilen Geldwert und damit für eine Regelung oberste Spitze der Reichsbahnverwaltung gespal- des Reparationsproblems geschaffen. Im glei- ten in Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft (DRG) chen Monat begannen zwei unabhängige Sach- und RVM. Da die Hauptverwaltung, also die verständigenkommissionen mit der Überprüfung DRG, die Hauptaufgaben wahrnahm, sollen sich der Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft die folgenden Ausführungen auf sie konzen- und der Erarbeitung von Vorschlägen für die trieren, das RVM wird erst wieder ausführlich Reparationszahlungen. für den Zeitraum ab 1937 untersucht.

Die Finanzierung der Reichsbahn war zunächst wie die der übrigen Reichsverwaltung über den Die Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft Reichshaushalt erfolgt. Mit der Notverordnung 1924 bis 1937 über die Schaffung eines Unternehmens Deut- sche Reichsbahn vom 12. Februar 192415 wurde Der Dawes-Plan wies der Reichsbahn eine die Reichsbahn aus dem Reichshaushalt ausge- Schlüsselrolle bei der Aufbringung der Repa- gliedert und als selbständiges Wirtschaftsunter- rationen zu, denn die DRG wurde nun durch völ- nehmen mit eigener Rechtspersönlichkeit und kerrechtlichen Vertrag zwischen dem Deutschen eigenem Haushalt geführt. Für diese politische Reich und den Siegermächten des Ersten Welt- Grundsatzentscheidung waren die Unbeweglich- krieges als unmittelbare Reparationsquelle he- keit der Finanzverwaltung und der Mittelbe- rangezogen19. Auch die Einnahmen aus der Be- willigung, die Politisierung der Verwaltung und förderungssteuer waren größtenteils auf das die immer noch erhebliche Überbesetzung mit Reparationskonto zu überweisen. Organe der Bahnpersonal maßgebend. Die formale Verselb- Reparationskontrolle waren der Eisenbahn- ständigung veränderte jedoch die Eigentumsver- kommissar und der Treuhänder, die somit beide hältnisse des Reichs an allen Eisenbahnen des die Interessen der Reparations-Schuldverschrei- allgemeinen Verkehrs16 nicht, d.h. die Aufsicht bungen wahrzunehmen hatten. auch über Privat- und Kleinbahnen, Straßen- und Schmalspurbahnen blieb nach wie vor beim Der Status der Reichsbahn wurde durch das inter- Reichsverkehrsminister, der seit April 192417 national gebundene Reichsbahngesetz und die als gleichzeitig Generaldirektor des Unternehmens Bestandteil dieses Gesetzes geltende Satzung der Deutsche Reichsbahn war. Im RVM wurde der DRG bestimmt: Als deutsche Gesellschaft war Teil des Ministeriums, der die Reichsbahn ver- sie dem deutschen Recht unterworfen, aber sie waltete, von jetzt an bis 1937 als Hauptverwal- entsprach keiner der im Handelsgesetzbuch tung bezeichnet. Dies bedeutete die zweite von vorgesehenen Gesellschaftsformen; sie wurde vier grundlegenden Änderungen in der Eisen- nicht in das Handelsregister eingetragen und war bahnverfassung bis 1945. Sie hatte jedoch nur auch keine Aktiengesellschaft, denn es gab keine wenige Monate Bestand, denn inzwischen wurde Gesellschafter. Die gesamten Stammaktien ge- hörten dem Deutschen Reich. Die DRG verfügte nehmens besaß er außerordentliche Machtbefug- über kein Sachvermögen; das ganze bewegliche nisse; er nahm ungefähr die Stellung ein, die bis und unbewegliche Vermögen, das sie bewirt- dahin dem Reichsverkehrsminister als Leiter der schaftete - Grundeigentum, Gebäude, Bahn- gesamten Reichsbahnverwaltung zugekommen strecken, Fahrzeuge - gehörte nicht ihr, sondern war. Die Hauptverwaltung der Reichsbahn war dem Deutschen Reich. Sie besaß nur das Be- nun vom RVM losgelöst, das nur noch für die triebsrecht an den Anlagewerten, bis die Repa- Rechts- und Tarifaufsicht und für die Über- rationslasten abgetragen sein würden (im Gesetz wachung der Betriebssicherheit zuständig blieb. war dafür der 31. Dezember 1964 vorgesehen!). Der Verwaltungsrat konstituierte sich am 27. September 1924. Seine Mitglieder wählten ihren Präsidenten20 und den Generaldirektor21, die Generaldirektoren ausländischen Verwaltungsratsmitglieder zudem der Deutschen Reichsbahn den Eisenbahnkommissar. Die DRG-Hauptver- waltung übernahm am 11. Oktober 1924 den 1924-1926: (1858-1926), Betrieb der Reichsbahn im unbesetzten Gebiet. Deutsche Demokratische Partei, Reichs- Nachdem einen Monat später auch die von der verkehrsminister vom August 1923 bis französisch-belgischen Regiebahn betriebenen Dezember 1924 Strecken im besetzten Gebiet der neuen Gesell- 1926-1945: Julius Dorpmüller (1869- schaft übergeben worden waren, begann ihre 1945), parteilos, später NSDAP, Reichs- Tätigkeit. verkehrsminister vom Februar 1937 bis Mai 1945 Im Jahre 1930 hob der Young-Plan alle interna- tionalen Bindungen einschließlich der Mandate des Treuhänders, des Kontrollkommissars und der ausländischen Verwaltungsratsmitglieder auf. Die DRG hatte zwei Organe, den Verwaltungsrat Die bisherigen Reparations-Schuldverschreibun- und den Vorstand. Der Verwaltungsrat, dessen gen wurden in eine jährliche Reparationsabgabe Vorsitzender ein Deutscher sein musste, bestand umgewandelt. Insofern wurde das Reichsbahn- aus 18 Mitgliedern, die je zur Hälfte von der gesetz von 1924 revidiert22, ebenso durch das Reichsregierung und vom Treuhänder zu ernen- Zugeständnis, dass der RVM nun einen Vertreter nen waren. Die Rechte des Verwaltungsrats gin- ohne Stimmrecht in den Verwaltungsrat entsen- gen weit über diejenigen des Aufsichtsrats einer den konnte. Das Lausanner Abkommen von Aktiengesellschaft hinaus, denn er überwachte 1932 brachte schließlich das Ende der Repara- die gesamte Geschäftsführung der DRG und tionszahlungen auch für die DRG. entschied über alle wichtigen oder grundsätz- lichen Fragen. Er ernannte den Generaldirektor und die leitenden Beamten, die als Direktoren Modernisierung und Investitionen zugleich Leiter der Hauptabteilungen der DRG waren. Die Machtfülle des Verwaltungsrats kam Mit den Schlagworten Personalabbau, kaufmän- auch darin zum Ausdruck, dass ihm weder nische Buchführung23, Modernisierung24 und Mitglieder der Reichsregierung, also auch nicht Motorisierung kann man die wichtigsten Vor- der RVM, noch Parlamentsabgeordnete ange- gänge in der Betriebsführung der DRG in dieser hören durften. Die Reichsregierung hatte ihre Periode kennzeichnen. Das Bahnstreckennetz Genehmigungsrechte für die Wirtschaftsführung erfuhr zwar keine nennenswerte Bereicherung25, der Bahn an den Verwaltungsrat abgetreten. jedoch schritt die bereits vor dem Ersten Welt- krieg begonnene Elektrifizierung zügig voran, Dem Vorstand, bestehend aus dem Generaldi- vor allem in Berlin und Hamburg, sowie in rektor und mehreren Direktoren, oblag die Füh- Bayern, Schlesien und Mitteldeutschland. Die rung der laufenden Geschäfte. An seiner Spitze Erneuerung des Oberbaus (Schienen, Weichen, und damit zugleich an der Spitze der Reichs- Kreuzungen) bildete eine bedeutsame Grundlage bahn-Hauptverwaltung stand der jeweils für drei für höhere Geschwindigkeiten der Züge und für Jahre gewählte Generaldirektor, dessen Ernen- größere Zuglasten. An die Stelle der aus Länder- nung vom Reichspräsidenten zu bestätigen war. bahnzeiten übernommenen Vielfalt an Lokomo- Als oberster Leiter des größten deutschen Unter- tivtypen traten neue standardisierte Baureihen. Durch die Einführung von Großgüterwagen und „Mitteleuropäischen Schlafwagen- und Speise- Spezialfahrzeugen wie Kühlwagen oder die wagen AG“ (Mitropa, vgl. Bestand R 8132). Sie bereits Ende der 1920er Jahre zu verzeichnenden setzte seit 1925 verstärkt Werbung ein und schuf Anfänge des Behälterverkehrs (Containerver- sich 1928 in Gestalt der Reichsbahnzentrale für kehrs) wurde das Transportangebot wesentlich den deutschen Reiseverkehr (vergl. Bestand erweitert. Ende der 1920er Jahre hatte das RVM R 4323) eine eigene Tochtergesellschaft, die mit 58 „Bauanstalten“ für Personen-, Gepäck- Plakate, Werbeschriften und Filme herausgab. und Güterwagen Geschäftsverbindungen. Erhebliche Mittel wandte die DRG für soziale Trotzdem verlor die Eisenbahn in dieser Zeit ihr Belange und für das Wohlfahrtswesen auf. Sie faktisches Monopol im Land-Transportwesen, leistete Zuschüsse zu Versicherungen (vgl. denn mit der Entwicklung des Kraftfahrzeugs Bestand R 4309) und förderte zahlreiche Selbst- entstand für die Bahn ein gefährlicher Konkur- hilfeeinrichtungen des Personals wie Sterbe- rent. Das galt für den Personenverkehr und erst kassen, Waisenhorte (vgl. Bestand R 4308), recht für den Güterverkehr, der für die Reichs- Erholungsheime, Spar- und Darlehensvereine bahn von existentieller Bedeutung war. Last- sowie Turn- und Sportvereine. Besondere Be- kraftwagen- und Omnibusunternehmen began- deutung kam dem Wohnungsbau zu. nen, sich immer stärker zu entwickeln26. Dem versuchte die DRG entgegenzuwirken, indem sie Mit der „Machtergreifung“ der Nationalsozia- einen eigenen Kraftverkehr aufbaute. Außerdem listen 1933 war keine nominelle Reorganisation betrieb sie zusammen mit der Deutschen Reichs- der Reichsbahn verbunden, aber ihr Status aus post unter der Bezeichnung „Kraftpost“ gemein- dem Jahre 1924 wurde bald durch eine Reihe same Linien. Um das Eindringen des LKW in von Maßnahmen außer Kraft gesetzt28. Die den angestammten Verkehrsmarkt der Bahn zu weitgehend autonome Verwaltung durch die stoppen, verbilligte die DRG seit 1927 ihre DRG war mit dem Leitbild vom zentralen Transporttarife und führte eine Fülle von speziel- Führerstaat inkompatibel. Das Gesetz über den len Ausnahmetarifen für einzelne Güterarten ein. Neuaufbau des Reiches vom 30. Januar 1934 und Des weiteren übernahm sie im Februar 1931 das Gesetz zur Vereinfachung und Verbilligung heimlich die Spedition Schenker & Co., eines der Verwaltung vom 27. Februar 1934 besei- der größten europäischen Fuhrunternehmen. tigten die Mitbestimmungsrechte der Länder, so dass die staatlichen Hoheitsrechte nun für alle Das Konkurrenzverhältnis Schiene - Straße Bahnen auf das Reich übergingen. Die wenigen konnte jedoch nicht dauerhaft gelöst werden. Die Eisenbahnen des allgemeinen Verkehrs, die nicht DRG verlor während der Weltwirtschaftskrise, vom Reich, sondern von Gesellschaften, Krei- die u.a. durch einen Rückgang der Transporte auf sen, Kommunalverbänden u.a. verwaltet wurden, allen Gebieten gekennzeichnet war, zwischen unterstanden bereits seit 1920 der Hoheit und 1930 und 1932 ca. 39 % ihrer Güterverkehrs- Aufsicht des Reiches. Vorstand und Verwaltungs- einnahmen und 36 % ihrer Personenverkehrs- rat der DRG existierten zwar weiter, gaben aber einnahmen27, so dass sie am Ende der Weltwirt- einen Teil ihrer Befugnisse zugunsten der schaftskrise in eine kritische wirtschaftliche Reichsregierung auf29. Zu einschneidenden Lage geriet. Da die Bahn aber trotz der Repara- personellen Veränderungen an der Spitze der tionszahlungen zwischen 1925 und 1929 erheb- Reichsbahn kam es jedoch zunächst kaum. liche Überschüsse erzielt und daraus Rücklagen gebildet hatte, überstand sie die Krise besser als Infolge des Gesetzes über die Errichtung eines andere Wirtschaftszweige. Unternehmens „Reichsautobahnen“ vom 27. Juni 1933 erhielt die DRG den Auftrag, ein Schon in der Weimarer Republik trug die Reichs- „Zweigunternehmen“ zu gründen „zum Bau und bahn wesentlich dazu bei, dass sich der Frem- Betrieb eines leistungsfähigen Netzes von Kraft- denverkehr zu einem wesentlichen Faktor der fahrbahnen“. Die DRG stellte 100 % des Grund- Volkswirtschaft entwickelte. Geringere Arbeits- kapitals von 50 Millionen Reichsmark. General- zeiten sowie bezahlter Urlaub waren Voraus- direktor Dorpmüller übernahm den Vorsitz des setzungen für das neue Freizeitverhalten der Verwaltungsrats, doch die Reichsbahn blieb auf Bevölkerung. Die Reichsbahn war größter An- die Rolle des Kapitalgebers beschränkt. Der teilseigner des Mitteleuropäischen Reisebüros Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen und erwarb 1925 die Aktienmehrheit der (vgl. Bestand R 4601) Fritz Todt führte die Die Ankunft des Schienen-Zeppelin in Berlin am 21. Juni 1931. Bundesarchiv, Bild 183-R 98 029

„Gesellschaft Reichsautobahn“ (vergl. Bestand Autonom war seit 1935 auch die Luftfahrt, so R 4602) faktisch autonom, wenn auch an der dass das RVM auf den Status eines Ministeriums Spitze der verschiedenen Bauleitungen der Auto- für Eisenbahn, Schifffahrt und den gewerblichen bahn hohe Bahnbeamte standen. Güterverkehr reduziert blieb. Das RVM konnte zunächst weiterhin nicht direkt in die Geschäfts- Reichskasse hatte die Reichsbahn nur eine Ab- politik der Reichsbahn eingreifen. Dies änderte gabe abzuliefern, die sich nach der Höhe der sich grundlegend nach der Rede Hitlers im Bahneinnahmen richtete. Ähnlich wie bei einer Reichstag am 30. Januar 1937, worin er durch juristischen Person mit eigener Rechtspersön- eine öffentliche Erklärung über den Bruch der lichkeit haftete das Reichseisenbahnvermögen „Fesseln von Versailles“ die Autonomie der nicht für die Verbindlichkeiten des Reiches und Reichsbahn aufhob, ohne dass vorher gesetzge- dieses nicht für diejenigen der Reichsbahn. Die berische Voraussetzungen für eine Reform des Reichsbahn konnte unter ihrem Namen Verträge Reichsbahngesetzes geschaffen worden waren. schließen, klagen und verklagt werden.

Ein neues Reichsbahngesetz vom 4. Juli 1939 Ein Staatsbetrieb, bestätigte den bisherigen Status und bezog vor kein selbständiges Unternehmen allem die österreichischen, sudetendeutschen und memelländischen Bahnen ausdrücklich ein. Das folgende „Gesetz zur Neuregelung der Ver- Das Gesetz hielt den gemeinwirtschaftlichen hältnisse der Reichsbank und der Reichsbahn“ Zweck der Reichsbahn ausdrücklich fest: Sie vom 10. Februar 1937 bewirkte schließlich die war kein Gewerbebetrieb und ihre Betriebs- vierte und letzte grundlegende Änderung der führung musste nicht um jeden Preis Gewinne Eisenbahnverfassung Deutschlands bis 1945: erzielen wie die Privatwirtschaft, sondern „...die Die DRG verlor den Status eines selbständigen Erfüllung der Aufgaben der Deutschen Reichs- Unternehmens, wurde in „Deutsche Reichsbahn“ bahn ist öffentlicher Dienst“. Mit dieser spezifi- umbenannt und in die Reichsverwaltung einge- schen Unternehmungsform nahm die Reichs- gliedert. Damit war die 1924 gespaltene Spitze bahn eine ganz besondere Position ein. Als nach der Reichsbahnverwaltung wieder vereinigt und wie vor größter Arbeitgeber in Deutschland und sämtliche Dienststellen waren von nun an wieder durch die Höhe ihres Betriebsvermögens ließ sie Reichsbehörden. Julius Dorpmüller hatte seit- sich mit keiner anderen Firma oder Gesellschaft dem in Personalunion die Funktionen des vergleichen31. Reichsverkehrsministers und Generaldirektors der Reichsbahn inne. Demzufolge ging auch die Zwischen 1933 und 1938 erhöhte sich die Zahl Hauptverwaltung vollständig im RVM auf, ihre der von der Reichsbahn gefahrenen Personen- Abteilungen wurden in Ministerialabteilungen kilometer um 95,7 %32. Die weitaus beste Ein- umgewandelt und ihr stellvertretender General- nahmequelle des Personenverkehrs bildete die 3. direktor avancierte zum Staatssekretär der Eisen- Klasse der Reichsbahn33. Später gab es immer bahnabteilungen. Die Vorstandsmitglieder der mehr Fahrpreisermäßigungen. Besonders billig DRG fungierten jetzt als Abteilungsleiter im waren Urlaubsfahrten mit der „Kraft durch Range von Ministerialdirektoren. Freude“-Organisation hauptsächlich per Bahn. Auf diese Weise reisten z.B. 1937 über 70 % Der bereits mehrfach umgestaltete Verwaltungs- aller Fahrgäste zu reduzierten Preisen34. So rat amtierte weiter nur noch als Beirat unter nimmt es nicht wunder, dass der Güterverkehr, Vorsitz des RVM mit beratenden Aufgaben. der trotz weiterhin gewährter verbilligter Trans- Leitungsbefugnisse standen ihm zwar nicht mehr porttarife hohe Erträge brachte, die zunehmen- zu, doch spielte er aufgrund des großen Sachver- den Defizite im Personenverkehr auszugleichen standes und der langjährigen Berufserfahrung hatte: Etwa zwei Drittel aller Einnahmen brach- seiner Mitglieder keine unwichtige Rolle, zumal ten in dieser Zeit die Güterzüge. an seinen Sitzungen ständig der Reichsminister der Finanzen und während des Krieges häufig Kontinuität und Wandel, stetige Entwicklung auch Vertreter des Oberkommandos der Wehr- und spektakulärer Fortschritt kennzeichneten das macht teilnahmen. Verhältnis der Reichsbahn zur Technik in diesem Zeitraum35. Ihr gesamtes System gewann an Ganz anders als die DRG war die Reichsbahn Geschwindigkeit und Sicherheit. Hitler verfolgte von 1937 an ein Staatsbetrieb30. Sie behielt aber zeitweise den utopischen Plan, quer durch im Gegensatz zu den Jahren 1920 bis 1924 den Europa eine „transkontinentale Breitspurbahn“ Status eines nichtrechtsfähigen Sondervermö- zu bauen. Im Wettbewerb mit den anderen gens (Reichseisenbahnvermögen) mit eigener Verkehrsträgern suchte die Reichsbahn ihre Wirtschafts- und Rechnungsführung. An die Marktchance im stetigen Ausbau des Container- verkehrs. Sie betrieb nicht nur eigene Omni- bedeutete fast das Dreifache des deutschen Vor- busse, sondern sogar eigene Schiffe, beispiels- kriegsnetzes. weise auf dem Bodensee oder im Fährbetrieb auf See. Bereits 1934 hatte die Reichsbahn Anteile Zu den vielfältigen Transportaufgaben der an der Deutschen Lufthansa erworben, die es Reichsbahn im Zweiten Weltkrieg zählten die nicht zuletzt ermöglichten, dass zwei „Reichs- Sicherung des Nachschubs an Waffen und bahn-Flugstrecken“ von Berlin nach Königsberg Soldaten sowie die Regelung des Fronturlauber- und nach Breslau besonders für Expressgut und Verwundetenverkehrs. Im Zusammenhang eingerichtet werden konnten. mit einer schweren Transportkrise Anfang 1942 kam es auf dem maßgeblichen Gebiet des Loko- Bleibende Leistungen sind im Ausbau der S- motiv- und Waggonbaus zur Entmachtung der Bahnen, vor allem der Berliner, zu verzeichnen. Reichsbahn durch die Gründung des „Haupt- Damals war Berlin der wichtigste Eisenbahn- ausschusses Schienenfahrzeuge“37 am 7. März knotenpunkt Europas. Ein enormes Wachstum 1942. Dieser steuerte künftig die Produktion im war auch bei den von der Reichsbahn geförder- Rahmen der Fertigungsprogramme der Wehr- ten Wohlfahrts- und Selbsthilfeeinrichtungen zu macht vom Reichsministerium für Bewaffnung verzeichnen36. und Munition aus. Es wurde die vereinfachte Kriegslokomotive der Baureihe 52 entwickelt, von der ab Mitte 1943 monatlich 500 Stück Der Zweite Weltkrieg produziert werden konnten38. Durch die starke Beanspruchung der Eisenbahn traten zudem in Für die am 21. August 1939 beginnende Mobil- zunehmendem Maße Engpässe bei der Bereit- machung, die das Heer um drei Millionen Sol- stellung der Wagen auf und die Zahl der Reise- daten sowie einige Hunderttausend Pferde und züge wurde immer mehr eingeschränkt, weil Fahrzeuge ergänzte, hatte die Reichsbahn außer- Kriegsgütertransporte und Fronturlauberzüge ordentliche logistische Leistungen zu erbringen. Vorrang hatten. Schon bald nach Beginn des Zweiten Welt- krieges wurde das polnische Eisenbahnwesen im Ebenso waren beim Personalbestand große Generalgouvernement mit der Gründung der sog. Lücken zu schließen, da viele Eisenbahner in die „Generaldirektion der Ostbahn“ (Gedob) in besetzten Gebiete beordert oder zur Wehrmacht Krakau den Bedürfnissen des Reiches unterge- eingezogen wurden. Die verstärkte Anwerbung ordnet. Deren rechtliche Stellung blieb jedoch von Frauen39 reichte bei weitem nicht aus, um trotz einer „Verordnung über die Verwaltung des diesen Mangel zu beheben. Deshalb wurden in Eisenbahnwesens im Generalgouvernement“ wachsendem Maße ausländische Arbeitskräfte vom 9. November 1939 umstritten. ins Land geholt, die anfangs noch auf freiwilliger Basis angeworben, später aber zu Hundert- Für die anderen im Verlauf des Zweiten Welt- tausenden unter Zwang ins Deutsche Reich krieges besetzten Nachbarländer Deutschlands transportiert wurden. Als Transporteur von galten andere Regelungen: Das französische, Arbeitskräften spielte die Reichsbahn sogar eine belgische, niederländische und dänische Eisen- entscheidende Rolle: Die rund 7,6 Millionen bahnwesen wurde nach anfänglicher Verwaltung Ausländer, die 1944 in Deutschland arbeiteten, durch die Wehrmacht der Aufsicht des RVM kamen überwiegend mit der Eisenbahn. Zwangs- unterstellt und durch die Hauptverkehrsdirektio- arbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge ar- nen in Paris und Brüssel (vgl. Bestand R 4306) beiteten auch für die Reichsbahn. Im Reichs- bzw. durch Bahnbevollmächtigte in Utrecht und gebiet betrug ihre Zahl 1943 rund 200.000 bei Aarhus geleitet. Dagegen wurden nach dem einer Gesamtbelegschaft von knapp 1.297.000 Überfall auf die UdSSR deren Eisenbahnen Beschäftigten; hinzu kamen etwa 1.300 Häft- zunächst ab Januar 1942 einer „Zweigstelle linge aus Konzentrations- und Arbeitserzie- Ost(en)“ des RVM und ab Dezember 1942 der hungslagern40. Vermutlich stieg die Zahl der daraus hervorgegangenen „Generalverkehrs- Ausländer bei der Reichsbahn weiter an, weil die direktion Osten“ in Warschau (vgl. Bestand Gesamtbelegschaft bis Herbst 1944 auf R 4317) unmittelbar unterstellt. Auf dem Höhe- 1.366.000 Mitarbeiter anwuchs. punkt der Ausdehnung des deutschen Machtbe- reichs betrieb oder beaufsichtigte die Reichsbahn 1942 ein Streckennetz von 152.000 km, das Durch die Deportation jüdischer Bürger in die Anmerkungen Ghettos und in die Konzentrations- und Vernich- tungslager war die Reichsbahn unmittelbar am 1) In Preußen z.B. bis 1919 das Ministerium der öffent- lichen Arbeiten, in anderen Ländern das Finanzministerium. Holocaust beteiligt, wobei sie die Transportkos- Ein ausschließlich für den Verkehr zuständiges Ministerium ten den Auftraggebern - SS und Reichssicher- wurde in Deutschland erstmalig 1904 in Bayern errichtet. heitshauptamt - in Rechnung stellte.41 Nach dem 2) Nach dem Beitritt vieler Bahnverwaltungen des europä- bisherigen Stand der Forschung wurden insge- ischen Auslands erweiterte sich der Verein 1932 zum Verein samt mehr als die Hälfte aller ermordeten Juden, Mitteleuropäischer Eisenbahnverwaltungen. 3) Sarter, Adolf und Kittel, Theodor, Was jeder von der ca. 3 Millionen Menschen, mit der Eisenbahn in Deutschen Reichsbahn wissen muss. Ein Überblick über 42 die Todeslager im Osten transportiert . Entstehung, Verfassung, Aufgaben und Wirken der Deut- schen Reichsbahn, Leipzig. 1939, S.7. Die letzte große Aufgabe stellte sich der Reichs- 4) Gall, Lothar, Die Staatsbahn vor dem Ersten Weltkrieg. bahn und ihrem Personal mit dem Transport der In: Die Eisenbahn in Deutschland von den Anfängen bis zur großen Flüchtlingsströme aus den Ostgebieten in Gegenwart, hrsg. von Lothar Gall und Manfred Pohl, München 1999, S. 56; künftig: „Eisenbahn in Deutsch- das Altreichsgebiet. Allein aus dem Danziger land...“. Raum benutzten innerhalb weniger Wochen 5) Gottwaldt, Alfred, Deutsche Reichsbahn. Kulturge- mehr als 500.000 Menschen die Eisenbahn zur schichte und Technik, Berlin 1994, S. 11. Flucht in den Westen43. Hinzu kam, dass die 6) Kopper, Christopher, Handel und Verkehr im 20. Jahr- Bahn ab Frühjahr 1943 mit zunehmenden hundert (Enzyklopädie Deutscher Geschichte Band 63, hrsg. von Lothar Gall), München 2002, S. 3. Schwierigkeiten infolge der englischen und 7) wie z.B. auch die Überführung der Wasserstraßen auf das amerikanischen Bombenangriffe zu kämpfen Reich (vgl. hierzu Findbuch 1 R 5). Zum Kraftverkehr und hatte. Bis Anfang 1945 konnten beschädigte Straßenwesen sowie zum Luftverkehr siehe Findbuch 2 R 5. Strecken zwar meist noch repariert werden, aber 8) Reichsanzeiger 1919, Nr. 138. gezielte Bombenangriffe auf die großen Rangier- 9) Deutsche Verwaltungsgeschichte, hrsg. von Kurt A. und Verschiebebahnhöfe machten es der Reichs- Jeserich u.a., Bd 4: Das Reich als Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus, 1984 (künftig: Verwal- bahn seitdem unmöglich, die Leistungsfähigkeit tungsgeschichte...). des Eisenbahnnetzes durch Notreparaturen 10) Gesetz betreffend den Staatsvertrag über den Übergang wiederherzustellen. Mehr und mehr kam der der Staatseisenbahnen auf das Reich, RGBl 1920, S. 773. gesamte Zugverkehr zum Erliegen, Verbindun- 11) Verwaltungsgeschichte..., S. 925. gen bestanden schließlich nur noch strecken- 12) Eisenbahn in Deutschland..., S. 91. 13) Bis Oktober 1924 sank die Zahl der Reichsbahner von weise, von Bahnhof zu Bahnhof. Schienen, über einer Million auf 775.000; s. Kopper, S. 5. Brücken, Signalanlagen und Fernmeldekabel 14) Auch die Reichsbahn druckte eigenes Notgeld , den sog. waren weitgehend zerstört. „Oeserrubel“, benannt nach dem Reichsverkehrsminister Rudolf Oeser. Dieses Notgeld fand sogar die meiste Ver- Die Geschichte der Reichsbahn ist mit der be- breitung im Deutschen Reich, s. Katalog DB-Museum, S. dingungslosen Kapitulation Deutschlands am 20. 15) RGBl S. 57. 8. Mai 1945 nicht zu Ende. Die Deutsche 16) Zu den Bahnen des allgemeinen Verkehrs zählten nur Reichsbahn bestand nach 1945 auf dem Gebiet nicht die ausschließlich dem Privatverkehr dienenden der Sowjetischen Besatzungszone und späteren Privatanschlussbahnen, Bergwerksbahnen usw. Deutschen Demokratischen Republik weiter und 17) Verordnung vom 3. April 1924, Reichsverkehrsblatt, fand ihr Ende erst nach der Vereinigung der S. 109. 18) verabschiedet vom Reichstag am 31. August 1924, beiden deutschen Staaten, als die Deutsche RGBl II, S. 272 – 280. Reichsbahn und die Deutsche Bundesbahn mit 19) d.h. sie wurde mit Schuldverschreibungen in Höhe von dem Jahresende 1993 zur Deutschen Bahn AG 11 Milliarden Goldmark belastet, die ab dem zweiten Jahr verschmolzen (vgl. Bestände DM 1 und DM 100 (1925) mit jährlich 5% zu verzinsen und ab dem vierten bzw. B 108, B 121 und B 235). Jahr (1928) mit 1% zu tilgen waren. (Teil 2 folgt im nächsten Heft). 20) Carl Friedrich von Siemens (1872-1941), seit 1919 Chef des Siemens-Konzerns. 21) zunächst Rudolf Oeser (1858-1926) und nach seinem Tod ab 1926 Julius Dorpmüller (1869-1945), der spätere Ulrich Roeske RVM, den Alfred Gottwaldt zutreffend als „Hindenburg der Reichsbahn“ bezeichnet; vgl. Gottwaldt, Alfred B., Julius Dorpmüller, Die Reichsbahn und die Autobahn. Verkehrs- politik und Leben des Verkehrsministers bis 1945, Berlin 1995, S.126. 22) Novelle zum Reichsbahngesetz vom 13. März 1930, RGBl II S. 359. Findbuch zum Bestand DP 2 - Oberstes Gericht der DDR

Ein mehrjähriges Erschließungsprojekt des Refe- Ausübung der ordentlichen Gerichtsbarkeit rats DDR 2 fand im November 2004 seinen durch einen Obersten Gerichtshof sowie durch Abschluss: die archivische Bearbeitung des Be- die Gerichte der Länder. Mit der Verabschiedung standes DP 2 - Oberstes Gericht der DDR. Die des Gesetzes über die Errichtung des Obersten Drucklegung des Publikationsfindbuches ist ver- Gerichtshofes5 am 8. Dezember 1949 trug die anlasst, eine Präsentation als Online-Findbuch Provisorische Volkskammer diesem Verfassungs- erfolgt in Kürze. gebot Rechnung.

Eingebettet in die gesamte Schriftgutüberliefe- Unter der Bezeichnung „Oberstes Gericht der rung der Zentralen Justiz- und Sicherheitsorgane DDR“ nahm das höchste Organ der Rechtspre- der DDR bietet der Bestand trotz ausgedehnter chung seinen Dienstsitz in der Berliner Scharn- Überlieferungslücken eine gute Quellengrund- horststraße6. An seiner Spitze fungierte der lage zur Erforschung und Bewertung der Justiz- Präsident. Ihm unterstanden ein Vizepräsident politik der DDR. Die vorliegenden Primärquel- sowie Oberrichter und Richter. Das Vorschlags- len erlauben detaillierte Einblicke in die zentrale recht für die Kandidaten zur Richterwahl oblag Lenkung und Steuerung der untergerichtlichen verfassungsgemäß der Regierung. Hingegen war Rechtsprechung. Zudem spiegeln sich vielfach für die Wahl und Abberufung der Mitglieder gesellschaftliche Krisenschwerpunkte, wie bei- allein die Volkskammer zuständig. spielsweise Alkoholmissbrauch und die damit einhergehende Beschaffungskriminalität, im rea- Zu den Aufgabenbereichen des Obersten Ge- len Bild des Kriminalitätsgeschehens wider. richts der DDR zählten anfangs Dokumente zur Jurisdiktion nach dem 2. und 8. Kapitel des Besonderen Teils des Strafgesetz- – die Durchführung erstinstanzlich geführter buches der DDR1 (Verbrechen gegen die DDR2, Strafverfahren, in denen der Oberste Staats- Straftaten gegen die staatliche und öffentliche anwalt der Republik wegen der überragenden Ordnung3) können für Forschungen insbeson- Bedeutung der Fälle Anklage vor dem Obers- dere zum politischen Strafrecht in der DDR ten Gericht erhob, herangezogen werden. – die Verhandlung und Entscheidung über An- träge auf Kassation rechtskräftiger Urteile. Parallel zu den Jahrzehnte währenden Bemühun- gen der zentralen Justiz- und Sicherheitsorgane Sowohl die den Oberlandesgerichten bis dahin der DDR um die Senkung der Kriminalitätsrate obliegende Kassationstätigkeit in Strafsachen7 unternahmen die staatlichen Organe im zivil- als auch die Kassationsrechtsprechung in Zivil- rechtlichen Bereich wiederkehrend Anstrengun- sachen ging mit der Verabschiedung des Gesetzes gen zur Erhaltung von Ehen. Die ständig steigen- über die Schaffung des Obersten Gerichtshofes de Anzahl der Ehescheidungen wurde mehrfach der DDR auf diesen über8. Das Antragsrecht auf auf Plenartagungen des Obersten Gerichts Kassation lag beim Generalstaatsanwalt der thematisiert. Hierzu überlieferte Dokumente DDR. bieten dem interessierten Nutzer unter anderem signifikantes Quellenmaterial für soziologische Von der Einbindung in den Instanzenzug der Forschungen. Gerichte zunächst ausgeschlossen, erfuhr das Oberste Gericht der DDR in den Folgejahren eine wesentliche Erweiterung seiner Befugnisse. Errichtung, gesetzliche Grundlagen, Mit der Verabschiedung des Gerichtsverfas- Zuständigkeiten sungsgesetzes 19529 wurde es als Rechtsmittel- gericht in den Instanzenzug integriert. Erstmalig In der am 7. Oktober 1949 durch den Präsidenten waren zweitinstanzliche Verfahren über das der DDR verkündeten und einen Tag später im Rechtsmittel des Protests, der Berufung sowie Gesetzblatt proklamierten Verfassung der DDR der Beschwerde gegen die am Bezirksgericht10 war die Errichtung zentraler Rechtspflegeorgane erstinstanzlich erlassenen Entscheidungen in vorgesehen4. Gemäß Artikel 126 erfolgte die Straf- und Zivilsachen möglich11. Seine Aufga- Eröffnungssitzung des Obersten Gerichts am 24. März 1950. Präsident Kurt Schumann und Richterin Hilde Benjamin beim Aktenstudium in einer Verhandlungspause. Bundesarchiv, Bild 183-594 973 ben als Kassationsgericht blieben bestehen. Kurz nach der Wahl Walter Ulbrichts zum Jedoch erfolgte die Ausdehnung des Kassations- Vorsitzenden des Staatsrates der DDR im Sep- antragsrechts auf den Präsidenten. tember 1960 legte dieser in einer programma- tischen Erklärung am 4. Oktober seine Ideen von Voraussetzungen und Antragsberechtigungen für den Grundlagen der „sozialistischen Rechtsord- Kassationen sowie Grundsätze zur Durchfüh- nung“ dar16. Die von ihm geplanten tiefgreifen- rung und Entscheidung in Kassationsverfahren den Umwälzungen in der Rechtspflege fanden definierte die am 2. Oktober 1952 in Kraft getre- ihren Niederschlag in den Beschlüssen des tene Strafprozessordnung. Der außerordentliche Staatsrates vom 31. Januar 196117 und vom 24. Rechtsbehelf der Kassation12 diente dem Obers- Mai 196218 über die Entwicklung in der Rechts- ten Gericht als Kontrollinstrument bei der An- pflege der DDR. Neben der Kriminalitätsbe- leitung der Rechtsprechung. Nach dem Vorbild kämpfung durch die Strafverfolgungsorgane galt des sowjetischen Obersten Gerichts13 erhielt das als Zielorientierung die Intensivierung der mit dem Gerichtsverfassungsgesetz neugeschaf- Kriminalitätsvorbeugung mittels enger Zusam- fene Plenum als Kollegialorgan für die Leitung menarbeit aller Rechtsprechungs- und anderen der Rechtsprechung die Befugnis, Richtlinien Staatsorgane, der gesellschaftlichen Organisa- und Beschlüsse mit bindender Wirkung für alle tionen, wissenschaftlichen Institutionen und der Gerichte zu erlassen14. Neben anderen Instru- „Werktätigen“. Zu Beginn des Jahres 1963 orien- mentarien sicherte das Oberste Gericht mit Hilfe tierte der VI. Parteitag der SED in seinem dieser normativen Weisungen bis 1990 die Programm auf eine noch stärkere Kooperation einheitliche Anwendung und Auslegung der der Rechtspflegeorgane mit der Bevölkerung19. Gesetze und Rechtsvorschriften im Gerichts- system der DDR15. Der Erlass des Staatsrates der DDR über die grundsätzlichen Aufgaben und die Arbeitsweise der Organe der Rechtspflege vom 4. April 196320 (Rechtspflegeerlass) konkretisierte einschlägige verfahren Verurteilten die Möglichkeit, das Forderungen an die Rechtspflegeorgane und erstinstanzliche Urteil durch ein höheres Gericht stärkte das Oberste Gericht in seiner Stellung wie überprüfen zu lassen27. Die Schaffung der auch in seinen Kompetenzen. Primäre Aufgabe Appellationsinstanz war Bestandteil der justiz- war neben der Rechtsprechung in Straf- und politischen Maßnahmen zur Vorbereitung des Zivil- , Familien- und Arbeitsrechtssachen (ZFA- Besuches Erich Honeckers in der Bundesrepu- Sachen) nach wie vor die ständige Anleitung blik Deutschland28. aller Gerichte. Um das Plenum bei der Anleitung der Bezirks- und Kreisgerichte - insbesondere Eine wesentliche Veränderung erfuhr das Rechts- zwischen den Plenartagungen - zu unterstützen, system der DDR kurz vor seinem Ende: Das wurde das Präsidium als Kollegialorgan gebil- Gesetz über die Zuständigkeit und das Verfahren det21. Gleichzeitig übernahm es die bis dahin der Gerichte zur Nachprüfung von Verwaltungs- dem Plenum obliegende Zuständigkeit für die entscheidungen vom 14. Dezember 198829 Verhandlung und Entscheidung der Anträge des führte die seit 1952 abgeschaffte Verwaltungsge- Präsidenten oder des Generalstaatsanwaltes auf richtsbarkeit der DDR wieder ein, wenngleich Kassation rechtskräftiger Entscheidungen. Ferner nicht in der Form eines separaten Rechts- wurden drei Kollegien gebildet, die jeweils für zweigs30. Demzufolge lag die sachliche Zustän- Strafsachen, ZFA-Sachen sowie für Militärstraf- digkeit für gerichtliche Nachprüfungen von taten zuständig waren22. Dem Obersten Gericht Verwaltungsentscheidungen bei den Kreisgerich- oblag nunmehr die Rechtsprechung für Militär- ten. Anfechtungen der kreisgerichtlichen Ent- strafsachen ebenso wie die Anleitung der ihm im scheidungen durch Rechtsmittel waren nicht Instanzenzug nachgeordneten Militärobergerich- vorgesehen31. Es blieb den Betroffenen anstelle te und Militärgerichte. eines Rechtsmittels lediglich die Möglichkeit, eine Kassationsanregung an den eigens für die- Das zeitgleich mit dem Rechtspflegeerlass am sen Rechtszweig geschaffenen Senat für Verwal- 17. April 1963 im Gesetzblatt der DDR veröf- tungsrecht am Obersten Gericht zu übermitteln. fentlichte Gerichtsverfassungsgesetz23 präzisier- te die Stellung, Aufgaben und Zuständigkeiten Drei Monate vor der Auflösung des Obersten des Obersten Gerichts analog zu den Festlegun- Gerichts am 3. Oktober 1990 wurde das 6. Straf- gen des Staatsrates. Die dort fixierten Regelun- rechtsänderungsgesetz32 verabschiedet. Die Re- gen zur Besetzung und zu den Organen des gelungen der Strafprozessordnung zur Kassation Obersten Gerichts blieben bis zur Verabschie- als außerordentlicher Rechtsbehelf gegen ge- dung eines neuen Gerichtsverfassungsgesetzes richtliche Entscheidungen veränderten sich darin 197424 bestehen. Dieses hatte einschneidende wesentlich. Die Bezirks- und Militärobergerichte Veränderungen in der Leitungsstruktur des wurden als Kassationsgerichte abgeschafft, diese Obersten Gerichts zur Folge. Mit dem Ziel, die Funktion hatte fortan nur noch das Oberste Leitungsebene zu straffen, wurden die separaten Gericht inne. Der Kassation unterlagen aus- Stellen der Kollegiumsvorsitzenden aufgelöst. schließlich rechtskräftige Entscheidungen in Die Stellvertreter des Präsidenten nahmen die Strafsachen. Kassationen in Zivil-, Familien-, Ämter der Vizepräsidenten und jene der ihnen Arbeits-, und Verwaltungsrechtssachen entfielen bis dahin unterstellten Kollegiumsvorsitzenden ab diesem Zeitpunkt. Statthaft waren sie nur in Personalunion wahr25. noch zugunsten des Angeklagten. Das Antrags- recht oblag allein dem Generalstaatsanwalt.33 Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Ände- rung und Ergänzung des Gerichtsverfassungs- gesetzes und der Strafprozessordnung der DDR vom 18. Dezember 198726 wurde am Obersten Gericht ein Großer Senat eingerichtet, der für die Verhandlung und Entscheidung der Rechtsmittel Berufung, Protest und Beschwerde gegen die von den Bezirksgerichten, Militärobergerichten und dem Obersten Gericht in erster Instanz er- lassenen Entscheidungen zuständig war. Gemäß der UNO-Konvention über zivile und politische Rechte bestand somit für jeden in einem Straf- Organisation, Arbeitsweise, Hauptaufgaben Das Amt des Präsidenten des Obersten Gemäß der eingangs beschriebenen Kompetenz- Gerichts übten aus: erweiterungen bzw. -einschränkungen änderte Kurt Schumann > 1949 bis 1960 sich die Organisationsstruktur und Geschäftsver- Heinrich Toeplitz > 1960 bis 1986 teilung mehrfach34. Die Zahl der Senate stieg Günter Sarge > 1986 bis 1990 von drei Straf- und einem Zivilsenat im Jahre Gerhard Körner > 1990 1950 auf sechs Strafsenate, vier Senate für Zivil-, (amtierte ab Febr. 1990) Familien-, Arbeits- und Verwaltungsrecht sowie zwei Militärstrafsenate im Jahr 1988. Die Ämter der Vizepräsidenten hatten inne:

Im Mittelpunkt des sozialistischen Rechtsver- Hilde Benjamin > 1949 bis 1953 ständnisses der DDR stand die Durchsetzung Walter Ziegler > 1953 bis 1958 und Einhaltung einer sozialistischen Gesetzlich- Gustav Jahn > 1958 bis 1962 keit. Nach der geltenden marxistisch-leninis- Walter Ziegler > 1962 bis 1977 tischen Staats- und Rechtstheorie umfasste Günter Sarge > 1977 bis 1986 dieser Terminus die Einhaltung der Beschlüsse Gerhard Körner > 1986 bis Jan. 1990 der SED sowie die strikte Befolgung und ein- Joachim Schlegel > 1990 heitliche Anwendung der Rechtsnormen durch (amtierte ab Febr. 1990) alle Staatsorgane35. Das Prinzip der Gewalten- Hans Reinwarth > 1966 bis 1969 teilung ablehnend, leitete die SED entsprechend Peter-Paul Siegert > 1969 bis 1974 der Doktrin von der führenden Rolle der Partei Werner Strasberg > 1974 bis 1990 Wilhelm Hurlbeck > 1990 die mit der Rechtssetzung befassten Staatsorgane (amtierte ab Febr. 1990) an, bestimmte die Ziele und Inhalte der Rechts- Günter Sarge > 1971 bis 1977 36 normen und lenkte deren Auslegung . Die Lothar Penndorf > 1977 bis 1990 Staatsorgane sorgten ihrerseits für die Durch- setzung der Gesetze und Vorschriften in allen Bereichen der Gesellschaft, insbesondere gegen- Als höchstes Organ der Rechtsprechung war das über dem einzelnen Bürger. Oberste Gericht der Volkskammer und zwischen ihren Tagungen dem Staatsrat verantwortlich und Die dem Sekretariat des ZK der SED unterstellte rechenschaftspflichtig. Mittels verschiedener Abteilung Staats- und Rechtsfragen hatte unter Instrumentarien hatte es für die Einheitlichkeit in anderem die Umsetzung der Beschlüsse der Par- der Rechtsprechung Sorge zu tragen, die Um- teiführung in folgenden Staatsorganen zu über- setzung der Leitungsdokumente bis zur untersten wachen: Ministerrat, Staatsrat, Ministerium des Ebene im Gerichtssystem zu kontrollieren und Innern, Generalstaatsanwalt, Oberstes Gericht, die durch wissenschaftliche Analysen gewonne- Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften nen Erkenntnisse für eine Qualitätssteigerung in Potsdam37. Sie spielte bei der Steuerung der der Rechtsprechung zu nutzen. Zu den wichtigs- zentralen Justizorgane eine maßgebliche Rolle, ten Leitungsdokumenten zählten die auf den wobei sie ihre dominierende Position zur vierteljährlichen Tagungen des Plenums be- Entscheidung in Personalangelegenheiten nutzte. schlossenen Richtlinien und Orientierungen zur Zudem schöpfte sie ihren Handlungsspielraum Rechtsprechung sowie die vom Präsidium verab- bei der Überprüfung von Vorlagen des Obersten schiedeten Beschlüsse. Gerichts, des Generalstaatsanwaltes und des Ministeriums des Innern aus, bevor diese ihren Als operatives Kontrollorgan fungierte die In- eigentlichen Adressaten, den Generalsekretär spektionsgruppe. Die mittels der Inspektions- bzw. das Politbüro, erreichten. Folglich wurden einsätze vor Ort gewonnenen Informationen die Aufgaben und Befugnisse des Obersten Ge- dienten neben der Vorbereitung von Richtlinien richts durch „die Beschlüsse der Partei der Ar- und Beschlüssen des Plenums und Präsidiums beiterklasse auf der Grundlage der Verfassung“38 auch der ständigen Einschätzung des ideolo- und die eingangs beschriebenen Rechtsvor- gischen und fachlichen Potentials der Gerichte39. schriften geregelt. Zudem konnten bei der „Entscheidung beson- derer Einzelfragen“40 sofort verwertbare Infor- mationen auf der Grundlage kurzfristiger Ein- sätze gewonnen werden. Dem Präsidenten oblag intern - neben der Aus- anderen zentralen staatlichen Organen und Ein- übung seiner Leitungsfunktionen in den Kolle- richtungen, insbesondere den Justiz- und Sicher- gialorganen - die Verantwortung für die Um- heitsorganen. Dies schloss die Teilnahme an den setzung der Parteipolitik in Personalfragen, für regelmäßig durchgeführten Stellvertreterberatun- deren Wahrnehmung er die wöchentlich durch- gen48 ein. geführten Leitungsbesprechungen nutzte. Sei- nen Pflichten innerhalb der zentralen Rechts- In seiner Eigenschaft als kollektives Organ49 ent- pflege- und Sicherheitsorgane kam er u.a. auf schied das Kollegium bei konträren Auffassungen deren zentralen Leitungsbesprechungen nach41. der Senate im Zusammenhang mit grundsätz- Zusammen mit anderen zentralen Staatsorganen lichen Rechtsfragen. Inhaltliche Vorbereitungen wurden „Gemeinsame Anweisungen“ als Anlei- der Plenartagungen und Präsidiumssitzungen tungen für nachgeordnete Organe herausgege- erfolgten durch das Kollegium auf der Grundlage ben. So bedienten sich beispielsweise das von Vorlagen zu Entscheidungen, „Standpunk- Oberste Gericht und das Ministerium der Justiz ten“50 und Vorschlägen. Ergänzend zu den Bera- mit der „Gemeinsamen Anweisung zur Gestal- tungen des Kollegiums nutzten die jeweiligen tung der Wochenmeldungen an das Ministerium Senatsvorsitzenden die Vorsitzendenberatungen, der Justiz und an das Oberste Gericht vom um konkrete Rechtsprobleme zu erörtern und 24.11.1977“42 eines Instrumentariums43, mit gegebenenfalls zu verallgemeinern. Dieses Ver- dessen Hilfe möglichst zeitnah Informationen fahren war gelegentlich im Zusammenhang mit über wichtige politisch-ideologische und recht- der Auslegung von Rechtsfragen bei Ausübung liche Probleme44 zu erhalten waren. der Rechtsprechung der Senate auf den ihnen zugeordneten Sachgebieten erforderlich51. Einen weiteren gemeinsamen übergreifenden Arbeitsschwerpunkt der zentralen Justiz- und Die unterste Ebene der fachlichen Organisations- Sicherheitsorgane bildete die Verwirklichung einheiten bildeten die Senate. Zur Ausübung der zahlreicher Gesetzgebungsvorhaben unter der erstinstanzlichen Rechtsprechung in Strafsachen Federführung des Ministeriums der Justiz. Hier sowie zur Entscheidung über Rechtsmittel, waren der Präsident bzw. seine Stellvertreter welche gegen erstinstanzliche Entscheidungen sowie verschiedene Richter in einschlägige der Bezirks- und Militärobergerichte eingelegt Kommissionen eingebunden45. Externe dienst- wurden, verhandelten die Senate in der Beset- liche Kontakte pflegte der Präsident auch auf zung mit einem Oberrichter und zwei Berufsrich- internationaler Ebene. Er vertrat das Oberste tern52. Mit der Zielsetzung, die Rechtsprechung Gericht im Ausland. Durch die Mitgliedschaft in Übereinstimmung mit den Erfordernissen zum der DDR in der UNO war das Oberste Gericht Schutz des Staates und seiner Bürger auszu- neben der Beteiligung an der Ausarbeitung von üben53, oblag ihnen die strikte Anwendung der UNO-Konventionen in die Überprüfung der für Leitungsdokumente des Obersten Gerichts sowie die DDR verbindlichen völkerrechtlichen Verträ- die konsequente Anleitung und Kontrolle der ge einbezogen. Zu diesem Zweck kontrollierte Rechtsprechung auf der bezirks- und der kreis- das Ministerium der Justiz hauptverantwortlich gerichtlichen Ebene. Darüber hinaus fungierten die Anwendung und Einhaltung der UNO- sie als Kassationsgericht. Der besondere prozes- Konventionen in der DDR.46 suale Rechtsbehelf der Kassation54 wurde von ihnen gezielt als Methode der Leitung der Recht- Die dem Präsidenten nachgeordneten drei Vize- sprechung genutzt55. präsidenten nahmen in Personalunion die Funk- tionen der Vorsitzenden der Kollegien47 wahr. Innerhalb der Rechtsprechung der Senate des Zuständig für die Umsetzung der vom Plenum Kollegiums für Strafrecht nahm der 1. Strafsenat und dem Präsidium beschlossenen Dokumente eine exponierte Stellung ein. Die vor dem Senat zur Leitung der Rechtsprechung, oblag ihnen die verhandelten Straftatbestände der Staatsverbre- Leitung und Organisation des jeweiligen Kol- chen und Straftaten gegen die öffentliche Ord- legiums und der Senate, die Koordinierung der nung manifestierten das politische Strafrecht der Zusammenarbeit mit anderen Strukturteilen, die DDR mit der Zielsetzung, sowohl die politische Durchführung wissenschaftlicher Beratungen so- als auch die ökonomische Macht des Staates zu wie extern die intensive Zusammenarbeit mit sichern und zu erhalten56. Erstinstanzlich geführtes Strafverfahren gegen den Hamburger Industriellen Herbert Latinsky und den Westberliner Kaufmann Hermann Hüttenrauch wegen Spionage und Sabotage. Bundesarchiv, Bild 183-F1011-041-001

Im Gegensatz zu den vor den Strafsenaten 2 bis 5 Eingebunden in verschiedene Konsultativräte, verhandelten sogenannten kriminellen Delikten erörterten einzelne Senate grundsätzliche Rechts- war das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) probleme aktueller Art59. Je nach Themenstel- das zuständige Untersuchungsorgan bei politisch lung setzten sich die Teilnehmer der Konsultativ- motivierten Straftaten. Der im Ergebnis der räte aus Vertretern verschiedener Forschungsein- Ermittlungen des MfS erstellte Schlussbericht richtungen, Hochschulen und Universitäten, wurde „in jahrzehntelanger Tradition ... Gegen- Justiz- und Sicherheitsorganen sowie verschie- stand der Anklageschrift“57 des Staatsanwaltes. dener Ministerien zusammen. Die Zielstellung Mit der Verabschiedung des Strafgesetzbuches der Vereinheitlichung der Rechtsprechung ver- der DDR 1968 verlagerte das Oberste Gericht pflichtete die Senate, zusätzlich zu den in die politische Rechtsprechung zunehmend auf Eigenregie erarbeiteten Leitungsdokumenten die die unteren Instanzen. Wie in den anderen gesamte Rechtsprechung des Obersten Gerichts Rechtsgebieten vereinheitlichte es die Recht- auf den einzelnen Rechtsgebieten, auch durch sprechung auch in politischen Strafsachen durch verallgemeinerte Erkenntnisse aus der Recht- Richtlinien des Plenums, Präsidiumsbeschlüsse, sprechung, in Form von Rechtssätzen60 in der Standpunkte, Anleitungsschreiben und Tagun- zentralen Rechtssatzkartei des Obersten Gerichts gen. Demselben Zweck dienten die Übersendun- zu dokumentieren61. gen von Urteilsabschriften der Bezirks- und Kreisgerichte an das Oberste Gericht, die Durch- führung von Fachrichtertagungen58 sowie die Auswertung der operativen Einsätze der Inspek- tionsgruppe des Obersten Gerichts. Bestandsgeschichte Zielgerichtete Impulse für eine planmäßige Archivarbeit erfuhr das Verwaltungsarchiv mit Unstrittig trug die Rechtsprechung des Obersten den verstärkten Anleitungsbemühungen des Gerichts zur Realisierung des Alleinherrschafts- DZA66. Diese konnten sogenannte „Schwarz- anspruches der SED bei. Die Intention der erst- kassationen“67 nicht gänzlich verhindern68, und letztinstanzlich geführten strafrechtlichen gaben jedoch den Anstoß zur Vorbereitung der Verfahren lag vor allem in der Unterdrückung 1972 in Kraft getretenen Archivordnung des und Ausmerzung nonkonformen Gedankengutes. Verwaltungsarchivs und zur Erarbeitung des Die enge Verbindung des Obersten Gerichts zum Schriftgutkatalogs69. Aufbauend auf den Gene- Ministerium für Staatssicherheit zeigte sich nicht ralaktenplan des Obersten Gerichts vom 1. April nur in der Vorbereitung der vor dem 1. Strafsenat 196870 stand dem Verwaltungsarchivar erstmalig geführten Verfahren. Im Jahre 1981 gelang dem ein Instrumentarium mit detaillierten Informa- MfS auch die Archivierung der Verfahrensakten tionen zur Aufbewahrung und Aussonderung des aus den Jahren 1951 bis 198062. Alle weiteren dienstlichen Schriftgutes zur Verfügung. Die Akten zivil- und strafrechtlicher Kassations- und bisherigen Regelungen zur ständigen Aufbe- Rechtsmittelverfahren verblieben hingegen im wahrung der Originale der in Rechtsmittel- oder Obersten Gericht. Kassationsverfahren ergangenen Entscheidungen wurden beibehalten. Hingegen lag die Aufbe- Während der Bestandsbearbeitung ließ sich die wahrungsfrist parallel geführter Vorgänge zu den Tätigkeit des Verwaltungsarchivs nur mühsam Verfahren lediglich bei 5 Jahren. Dokumente zur aus dort unregistriert überliefertem Schriftgut, Entscheidungsfindung der Senate waren somit den Sachakten der verschiedenen Fachbereiche nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist unwieder- und einigen wenigen Dokumenten der Bestands- bringlich verloren. Ähnliche Vorschriften galten akte rekonstruieren. Erste Überlegungen zur für das Schriftgut der Kassationsantragsabtei- Einrichtung eines Verwaltungsarchivs stellte der lungen; die Aufbewahrungsfrist endete hier nach Präsident auf Grund der Anordnung der Errich- 3 bzw. 5 Jahren. Infolgedessen veranlasste das tung von Verwaltungsarchiven vom 26. Februar Verwaltungsarchiv 1973 die Kassation des ge- 195163 an. Die fachliche Weisungsbefugnis samten Schriftgutes der Kassationsantragsabtei- gegenüber den in zentralstaatlichen Verwaltun- lungen aus den Jahren 1952 bis 196571. gen einzurichtenden Archiven lag beim Minis- terium des Innern, Hauptabteilung Archivwesen Ab Mitte der 1970er Jahre verursachte der und dem Deutschen Zentralarchiv (DZA). zunehmende Umfang des Aktenbestandes akute Jedoch vertrat das Ministerium des Innern Kapazitätsprobleme im Verwaltungsarchiv. In gegenüber dem Präsidenten im April 1951 die seiner Weisung vom 30. Juni 1978 veranlasste Auffassung, dass die Errichtung eines Verwal- der 1. Vizepräsident die „Bereinigung der Ver- tungsarchivs nicht erforderlich sei64. fahrensunterlagen bis zum Entstehungsjahr 1972“72 mit der Zielsetzung der nachfolgenden Der genaue Zeitpunkt der Einrichtung des Abgabe an das Zentrale Staatsarchiv in . Verwaltungsarchivs lässt sich nicht mehr feststel- Die erforderliche Übergabe-/Übernahmeverein- len. Erste Kontakte des DZA mit dem Verwal- barung unterzeichneten der 1. Vizepräsident des tungsarchiv des Obersten Gerichts sind für das Obersten Gerichts und der Direktor des Zentra- Jahr 1959 dokumentarisch belegt65. In der Fol- len Staatsarchivs am 9. April 1980. Die Abgabe gezeit führte das DZA in mehrjährigen Abstän- der ca. 26,5 lfm Verfahrensakten erfolgte in 3 den Anleitungs- und Kontrollbesuche durch, Etappen in den Jahren 1982 bis 198773. deren Erfolg sich allerdings erst gegen Ende der 1960er Jahre erwies. Aufbewahrung, Aussonde- Als Folge struktureller Änderungen nach der rung und Vernichtung der für den laufenden Neuwahl der Richter des Obersten Gerichts 1986 Geschäftsverkehr des Obersten Gerichts nicht initiierte der Leiter der Grundsatzabteilung, das mehr benötigten Akten oblag bis zu diesem Zeit- Schriftgutbewertungsverzeichnis und den Akten- punkt den Senaten in Eigenregie. Die Anleitung plan zu überarbeiten. Schließlich gelang es dem der aktenführenden Stellen durch das Verwal- Zentralen Staatsarchiv, Modifikationen im Zu- tungsarchiv war auf Grund der permanenten sammenhang mit Bewertungsentscheidungen Besetzung des Verwaltungsarchivs mit einer durchzusetzen. Aus heutiger Sicht erwies sich die archivisch nicht ausgebildeten Hilfskraft prak- Festlegung der Aufbewahrungsfristen als wir- tisch unmöglich. kungslos; lassen doch große Überlieferungslücken Vermerk: Errichtung von Verwaltungsarchiven. Bundesarchiv, DP 2/2826 den Schluss zu, dass in den letzten Monaten des akten mittels wenig brauchbarer Abgabelisten. Bestehens des Obersten Gerichts umfangreiche Ca. 25 lfm lagerten ohne jegliche Nachweis- Schriftgutvernichtungen vorgenommen wurden74. mittel, zum Teil in loser Form, unbenutzbar in Gleiches gilt für die im Verschlusssachen-(VS-) den Archivmagazinen. Ähnlich verhielt es sich Archiv der Abteilung I verwahrten Dokumente. mit der Benutzbarkeit der Verfahrensunterlagen. Im August 1990 forderte der Staatssekretär im Die im Zusammenhang mit der Sicherungsüber- Ministerium der Justiz, Walther, den amtierenden nahme vorliegenden unvollständigen Abgabelis- Präsidenten Dr. Körner auf, die ihm bekannt ten der Jahrgänge 1969 bis 1990 waren weit- gewordenen fortlaufenden Vernichtungen von VS- gehend unbrauchbar. Unterlagen mit sofortiger Wirkung einzustellen75. Zwar dementierte Körner in seinem Antwort- Die endgültige archivische Bearbeitung der ca. schreiben jegliche „unkontrollierten“ Vernichtun- 300 lfm77 umfassenden Schriftgutüberlieferung gen, die überaus spärliche Überlieferungslage an erstreckte sich mit geringfügigen Unterbrechun- VS-Unterlagen spricht jedoch für sich. gen von Juni 1997 bis Dezember 2003. Zunächst erfolgte die Sichtung des „Materials“ der Trans- portsäcke. Sensationelle Funde waren nicht zu Übernahme ins Bundesarchiv und erwarten, da der Inhalt bereits im Vorfeld von archivische Bearbeitung Mitarbeitern des Bundesministeriums der Justiz im Bundesarchiv, Zwischenarchiv Berlin, ge- Im September 1990 wurde das Sekretariat des sichtet worden war. Im wesentlichen enthielten Präsidenten geräumt, wodurch das Zentrale die Säcke durch den Reißwolf vernichtetes Staatsarchiv bzw. seit dem 3. Oktober 1990 das Schriftgut, per Hand zerrissene Dokumente, Bundesarchiv ca. 5 lfm überwiegend unbear- Literatur, Drucksachen und Müll, wie z.B. Medi- beitetes, loses Schriftgut aus der Amtszeit des kamente, Essensreste und andere Dinge des per- Präsidenten Toeplitz übernahm. Weitere Siche- sönlichen Bedarfs der Mitarbeiter des Obersten rungsübernahmen erfolgten in den Monaten Gerichts. Lediglich 9 lfm Schriftgut ließen sich September und Oktober 1990. Die insgesamt in mühevoller Kleinarbeit aussortieren und zu 183 lfm umfassende Überlieferung enthielt Akten formieren. Dokumente, welche mehr als Verfahrensunterlagen mit teilweise ungeordneten einmal von Hand zerrissen vorlagen, konnten und unvollständigen Aktenverzeichnissen, Sach- nicht mehr zusammengesetzt werden. Bei den akten aus dem Verwaltungsarchiv mit vorläufi- verunreinigten Unterlagen handelte es sich fast gen Ablieferungsverzeichnissen sowie loses ausschließlich um Dokumente der verschiedenen Schriftgut aus den Registraturen und sonstigen Straf- und Zivilsenate, vor allem um Urteilsab- Ablagen der verschiedenen Organisationsein- schriften und bearbeitete Kassationsanregungen heiten ohne jegliche Nachweismittel. sowie um die Erarbeitung von Gesetzestexten und Mehrfachüberlieferungen. Im Zuge der Auflösung der Behörde des Obers- ten Gerichts übernahm die Bibliothek des Bun- Sowohl die unbearbeiteten Sachakten als auch desgerichtshofes die bis dahin in der Unterab- die in unterschiedlichen Portionen gelagerten teilung Information und Dokumentation geführte und nach uneinheitlichen Kriterien erfassten Ver- Entscheidungssammlung des Obersten Gerichts fahrensunterlagen legten die Formierung archi- einschließlich der dort verwahrten Rechtssatz- vischer Bandfolgen und Serien nahe. Die ur- kartei. sprünglich im Verwaltungsarchiv praktizierte universelle Gestaltung der Aktentitel sowie das Im Zusammenhang mit der Räumung der Gebäu- Zusammenfassen verschiedener Vorgänge in bis de des ehemaligen Obersten Gerichts im De- zu 15 cm fassenden Überlieferungseinheiten zember 1990 wurden in zwei Garagen insgesamt zwangen zu Aktenneubildungen bzw. -trennun- 111 Transportsäcke mit - teilweise zerstörtem - gen. Loses Schriftgut unterlag gleichfalls der Aktenmaterial aus der Tätigkeit des Obersten Formierung neuer Akteneinheiten. Die thema- Gerichts vorgefunden. tisch vielfältigen Sachkomplexe innerhalb der Verzeichnungseinheiten erforderten eine intensi- Das Bundesarchiv sicherte das offensichtlich zur ve Erschließung, umgesetzt mittels IT-gestützter Vernichtung vorgesehene Schriftgut und über- Datenbank des Bundesarchivs. Primär orientierte nahm es im Frühjahr 199176. Seither erfolgte die sich die Klassifikation des Bestandes an der in Benutzung des überwiegenden Teils der Sach- den letzten Jahren des Bestehens des Obersten Schreiben des Staatssekretärs des Ministeriums der Justiz an den Präsidenten des Obersten Gerichts der DDR: keine weitere Vernichtung von Akten. Bundesarchiv, DP 2/2649 Gerichts gültigen Organisation. Innerhalb der Vorgangsbildung. Zusätzliche Datumsangaben Klassifikationsgruppen erfolgte eine Unterglie- der gegebenenfalls als Anlage beigefügten älte- derung nach Aufgaben und Kompetenzen der ren Dokumente bleiben unberücksichtigt. Inner- jeweiligen Organisationseinheiten. Letztlich halb eines Bandes sind im Regelfall mehrere wurde auch der mengenmäßige Umfang des Vorgänge in chronologischer Reihung enthal- überlieferten Aktenmaterials bei der Erstellung ten79. Ebenfalls kassiert wurde das ohnehin des Klassifikationsschemas berücksichtigt. Fast schon zerstörte und in Transportsäcken gelagerte ausnahmslos wurde innerhalb der Klassifika- Schriftgut. tionsgruppen chronologisch geordnet. Lediglich in Ausnahmefällen bildeten sachliche Kriterien Das Ergebnis der archivischen Bearbeitung die Grundlage der Reihung. bilden 5481 Archivalieneinheiten im Umfang von 147 lfm. Die Mehrzahl der Akten enthält Angesichts der gestörten Überlieferungslage des partiell oder ausschließlich personenbezogenes Bestandes beschränkten sich Kassationen im Material, das nach den Bestimmungen des Bun- wesentlichen auf vorhandene Mehrfachüberliefe- desarchivgesetzes nur eingeschränkt benutzbar rungen, nicht verwendungsfähige Karteimateria- ist80. lien sowie unbrauchbare Nachweisunterlagen und Registerbücher. Von den in der Unterab- Abschließend möchte ich mich bei meinen teilung (UA) Zentrale Schriftguterfassung gela- Kollegen Frau Sperlich und Herrn Lamster für gerten Kassationsanregungen der Straf- und Ihre hilfreiche Unterstützung bei der technischen ZFA-Senate78 aus den Jahren 1985 bis 1989 Bearbeitung der Verfahrensunterlagen sowie bei wurde auf Grund ihres - gemessen am Gesamt- der Eingabe von Datensätzen in BASYS-S bestand - großen Umfangs eine repräsentative bedanken. Kollegialen Rat und fachliche Unter- Auswahl für wissenschaftliche Forschungs- stützung fand ich bei Frau Dr. Walther und Frau zwecke archiviert. Von den jährlich in jedem Risse. Gleichfalls gilt Ihnen, wie auch Herrn Dr. Senat 700 bis 1200 abschlägig beschiedenen Ritter und Frau Gand, mein Dank für einschlä- Kassationsanregungen wurden zwei Drittel nach gige Hinweise und Anregungen bei der redak- archivischer Bewertung vernichtet. Die Laufzeit- tionellen Überarbeitung des Findbuches. angaben der archivierten Kassationsanregungen beziehen sich ausschließlich auf das Jahr der Kerstin Schimmeck

Lagerung der mit Schriftgut gefüllten 111 Säcke im Bundesarchiv, Zwischenarchiv Berlin, Ruschestraße. Bild: privat Anmerkungen den Gerichten für Militärstrafsachen tätigen Militär- personen. Für sie galten die militärischen Bestimmungen 1) Siehe Gesetzblatt der DDR (GBl.) 1974. Teil I Nr. 3, S. des Ministeriums für Nationale Verteidigung. Demzufolge 14. Strafgesetzbuch der DDR vom 12. Januar 1968 in der nahm das Kollegium für Militärstrafsachen durch seine Neufassung vom 19. Dezember 1974. doppelte Unterstellung eine Sonderposition am Obersten 2) Hierzu zählen u.a. die Straftatbestände Hochverrat, lan- Gericht ein. desverräterische Agententätigkeit, Terror, staatsfeindlicher 23) Ebenda, S. 45 ff. Gesetz über die Verfassung der Menschenhandel, Hetze. Gerichte der DDR (Gerichtsverfassungsgesetz) vom 17. 3) Hierunter fallen die Straftatbestände ungesetzlicher April 1963. Grenzübertritt, Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit, Row- 24) GBl. 1974. Teil I Nr. 48, S. 457 ff. Gesetz über die Ver- dytum, Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und fassung der Gerichte der Deutschen Demokratischen Repu- Sicherheit durch „asoziales“ Verhalten. blik – Gerichtsverfassungsgesetz – vom 2. Oktober 1974. 4) Siehe GBl. 1949. Nr. 1, S. 4 ff. 25) Siehe Rudi Beckert. Die erste und letzte Instanz. 5) Siehe GBl. 1949. Nr. 16, S. 111 ff. Gesetz über die Er- Goldbach 1995, S. 52 ff. richtung des Obersten Gerichtshofes und der Obersten Rudi Beckert übte in der DDR den Beruf eines Richters aus. Staatsanwaltschaft der DDR vom 8. Dezember 1949. Seit Beginn der 70er Jahre war er bis zur Auflösung des 6) 1975 zog das Oberste Gericht in die Berliner Littenstraße Obersten Gerichts dort in verschiedenen Funktionen tätig, um. Siehe BArch, DP 2 / 2308. so z. B. 1971 in der Inspektionsgruppe, 1975 als Richter am 7) Siehe Irmgard Buchholz, Rudolf Herrmann, Horst 2. Strafsenat. In seiner Publikation verweist er auf heftige Luther. Strafverfahrensrecht-Lehrbuch. Herausgegeben von mündliche Kritik seitens des Politbüros des ZK der SED der Sektion Rechtswissenschaft der Humboldt-Universität hinsichtlich formalistischer und perfektionistischer Tenden- zu Berlin. Berlin 1977, S. 52. zen am Obersten Gericht, auf die Macht der Administration 8) Siehe ebenda, S. 53 ff. und die Vernachlässigung der wissenschaftlichen Leitungs- 9) Siehe GBl. 1952. Nr. 141, S. 983 ff. Gesetz über die tätigkeit. Die Position des Obersten Gerichts sollte durch Verfassung der Gerichte der DDR vom 2. Oktober 1952. „Verkleinerung“ mittels Stellenabbau geschwächt werden. 10) Analog der mit dem Gesetz über die weitere Demokrati- 26) GBl. 1988. Teil I Nr. 31, S. 302 ff. sierung des Aufbaus und der Arbeitsweise der staatlichen 27) Siehe Johannes Raschka. Justizpolitik im SED-Staat. Organe in der DDR vom 23. Juli 1953 eingeführten Neu- Schriftenreihe des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitaris- gliederung der Verwaltungsstruktur in 14 Bezirke und 221 musforschung. Herausgegeben von Klaus-Dietmar Henke Kreise wurde mit dem Gerichtsverfassungsgesetz die Neu- und Clemens Vollnhals. Köln, Weimar, Wien 2000, S. 251 ff. gestaltung der Gerichtsbezirke vorgenommen. Ausführlich 28) Ausführlich hierzu: ebenda. in: Wentker, Justiz in der SBZ/DDR, S. 544 ff. 29) GBl. 1988. Teil I Nr. 28, S. 327 ff. 11) Das im Rechtsmittelsystem der alten Strafprozess- 30) Siehe Joachim Hoeck. Verwaltung, Verwaltungsrecht ordnung vorgesehene Rechtsmittel der Revision, das für und Verwaltungsrechtsschutz in der DDR. Schriften zur einen Teil der Verfahren drei Instanzen vorsah, wurde abge- Rechtsgeschichte, Heft 103. Berlin 2003, S. 440 ff. schafft. Siehe auch Irmgard Buchholz, Rudolf Herrmann, 31) Siehe ebenda, S. 421 ff. Horst Luther. Strafverfahrensrecht – Lehrbuch. Herausge- 32) Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Strafgesetz- geben von der Sektion Rechtswissenschaft der Humboldt- buches, der Strafprozessordnung, des Einführungsgesetzes Universität zu Berlin. Berlin 1977, S. 57 ff. zum Strafgesetzbuch und zur Strafprozessordnung, des 12) Siehe Gerhard Köbler, Heidrun Pohl. Deutsch- Gesetzes zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten, des Deutsches Rechtswörterbuch. München 1991, S. 276 ff. Strafregistergesetzes, des Strafvollzugsgesetzes und des 13) Siehe BArch, DP 2 / 788, Bericht über die Tätigkeit des Passgesetzes vom 28.6.1990, in: GBl. 1990. Teil I Nr. 39, S. Obersten Gerichts 1949 – 1952 von Hilde Benjamin. 515 ff. 14) Siehe auch Günter Sarge, Jörg Arnold, Ursula Fieber, 33) Siehe auch Köbler/Pohl. Deutsch-Deutsches Rechts- Wolfgang Rieger. Das Oberste Gericht der DDR – Recht- wörterbuch, S. 276 f. sprechung im Dienste des Volkes. Berlin 1989, S. 29. 34) Ausführlich dazu siehe Findbucheinleitung. 15) Siehe Hubert Rottleuthner. Das Havemann-Verfahren: 35) Siehe Raschka, Justizpolitik im SED-Staat, S. 13 ff. Das Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) und die Gut- 36) Siehe ausführlich ebenda, S. 14. achten der Sachverständigen H. Roggemann und H. 37) Siehe ebenda, S. 26. Fußnote 2. Rottleuthner. Baden-Baden 1999, S. 40 ff. 38) Siehe BArch, DP 2 / 2491, Präsidiumsbeschluss vom 16) Siehe GBl. 1961. Teil I Nr. 2, S. 3 ff. 11. Mai 1988 – Die vorläufige Arbeitsordnung des Obersten 17) Ebenda. Gerichts der DDR. 18) GBl. 1962. Teil I Nr. 4, S. 53 ff. 39) Siehe ebenda, DP 2 / 2977, Zu den Aufgaben und der 19) Siehe auch Buchholz, Herrmann, Luther, S. 64. Arbeitsweise der Inspektionsgruppe des Obersten Gerichts 20) GBl. 1963. Teil I Nr. 3, S. 21 ff. vom 13.07.1973. 21) Mit dem Gerichtsverfassungsgesetz von 1952 wurde 40) Ebenda. das Präsidium am Obersten Gericht abgeschafft. Es hatte 41) Siehe ebenda, DP 2 / 1517, Schriftwechsel H. Benja- bis zu diesem Zeitpunkt vor allem die innere Geschäftsver- mins mit H. Toeplitz vom Juni 1961. Beide betonten die teilung zu regeln. Siehe Sarge, Arnold, Fieber, Rieger, Das Notwendigkeit der planmäßigen Zusammenarbeit der Oberste Gericht der DDR, S. 31. Zentralen Justizorgane zur Erhöhung des Niveaus der Lei- 22) Die Bildung des Kollegiums für Militärstrafsachen war tungstätigkeit. Erklärte gemeinsame Zielstellung war die das Ergebnis des Erlasses des Staatsrates der DDR über die „Weiterentwicklung der Anleitung der Rechtsprechung und Stellung und die Aufgaben der Gerichte für Militärstraf- der Zusammenarbeit des Obersten Gerichts und des Justiz- sachen (Militärgerichtsordnung) vom 4. April 1963. GBl. ministeriums auf diesem Gebiet“. Bis zur Umsetzung der 1963. Teil I Nr. 4, S. 71 ff. § 6 regelte die Stellung der bei geforderten zentralen Leitungsbesprechung sollten aber noch 3 Jahre vergehen, die erste fand am 14.4.1961 statt. 56) Siehe Jörg Arnold. Die Normalität des Strafrechts in der Siehe ebenda, DP 2 / 2986, Vermerke und Niederschriften DDR. Bd. 1. Gesammelte Beiträge und Dokumente. Er- des Präsidenten über die zentralen Leitungsbesprechungen. schienen in der Reihe Beiträge und Materialien aus dem Die Teilnehmer - Generalstaatsanwalt Streit, Minister des Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Innern Dickel, Staatssekretär des Ministeriums des Innern Strafrecht. Freiburg im Breisgau, 1995, S. 64 ff. : Zum Grünstein, Minister für Staatssicherheit Mielke, stellvertre- Begriff des politischen Strafrechts. tender Justizminister Ranke, Sekretär des FDGB Kirchner, 57) Ebenda, S. 72. Präsident Toeplitz und Vizepräsident Ziegler des Obersten 58) Fachrichtertagungen fanden im Regelfall am Obersten Gerichts - kamen überein, dass regelmäßige Zusammen- Gericht statt. Initiiert durch den jeweiligen Senatsvorsitzen- künfte in monatlichem Rhythmus beibehalten werden den, richtete sich die Thematik nach den Vorgaben der sollten. Arbeitspläne des Obersten Gerichts. Zum Teilnehmerkreis 42) Siehe ebenda, DP 2 / 1700. gehörten vor allem Richter der Bezirksgerichte. Darüber 43) Siehe ebenda, DP 2 / 1329, Anweisung des Vizepräsi- hinaus konnten als Gäste Mitarbeiter anderer zentralstaat- denten Nr. 2 / 63 zur Bedeutung und Gestaltung der licher Organe geladen werden. Wochenmeldungen der Bezirke. 59) Beispiel: Konsultativrat zum neuen Strafrecht 1968. 44) Siehe ebenda, DP 2 / 1700. Siehe BArch, DP 2 / 914; Konsultativrat des 1. Zivilsenats 45) Siehe ebenda, DP 2 / 1500. Toeplitz war seit 1959 zum Familienrecht. Siehe ebenda DP 2 / 1447. Mitglied der Grundkommission zur Erarbeitung eines Zivil- 60) Siehe Jörg Arnold. Die Normalität des Strafrechts in der gesetzbuches. DDR, Bd. 2, S. 325. Als Rechtssätze bezeichnet wurden 46) Siehe ebenda, DP 2 / 2451. Innerhalb der Arbeitsgruppe „die verallgemeinerungsfähigen Hauptaussagen wichtiger des Ministeriums der Justiz zur Überprüfung der für die Einzelentscheidungen des OG", die zur Veröffentlichung DDR verbindlichen völkerrechtlichen Verträge verwies das kamen. Siehe ebenda, Fußnote 1. Siehe auch K. Wünsche, Oberste Gericht darauf, dass gemäß der UNO-Konvention Zur Frage der Verbindlichkeit von Rechtssätzen, in: Auto- über zivile und politische Rechte vom 16.12.1966 eine renkollektiv (Hrsg.), Grundlagen der Rechtspflege Lehr- Rechtsmittelinstanz für erstinstanzliche Entscheidungen des buch, Berlin 1983, S. 102. Obersten Gerichts geschaffen werden müsse. 61) Siehe BArch, DP 2 / 1143, Schriftwechsel Straßberg – 47) Am Obersten Gericht bestanden drei Kollegien: Kolle- Vizepräsident Reinwarth vom September 1966: Vorschläge gium für Strafrecht, Kollegium für Zivil-, Familien-, und zu Aufgaben und Struktur der neu zu schaffenden Doku- Arbeitsrecht, Kollegium für Militärstrafsachen, auch mentationsabteilung. Rechtssätze wurden nach Rechtsge- Militärkollegium genannt. Siehe auch BArch, DP 2 / 2491, bieten untergliedert, innerhalb der Rechtsgebiete erfolgte Vorläufige Arbeitsordnung 1988. eine Aufschlüsselung nach Grundsatzfragen, komplexen 48) Auf der Ebene der Stellvertreter der zentralen Justiz- Rechtsfragen und Fragen der gesellschaftlichen Effektivität und Sicherheitsorgane wurden bereits vor 1961 regelmäßige der Entscheidungen sowie wichtigen Einzelfragen. Zur Besprechungen über operative Fragen, die sogenannten Dokumentationswürdigkeit von Rechtssätzen siehe DP 2 / Sicherheitsbesprechungen, durchgeführt. Später firmierte 1166, Gemeinsame Anweisung des Präsidenten des Obers- dieses Beratungsgremium unter der Bezeichnung Stellver- ten Gerichts und des Justizministers vom 22.12.1966 zur treterberatung. Siehe ebenda, DP 2 / 1517. Schriftwechsel Information und Dokumentation. Benjamin – Toeplitz vom Juni 1961. 62) Siehe Dienstakte 7864-23/2. Übergabe-/Übernahme- 49) Neben dem Vizepräsidenten waren die Senatsvorsitzen- vereinbarung zwischen dem Obersten Gericht und dem MfS den Mitglieder des Kollegiums. vom 2. Oktober 1981. 50) Auf ihren Rechtsgebieten erarbeiteten die Kollegien 63) Siehe Ministerialblatt der DDR. Nr. 9, S. 29 ff. Siehe verbindliche Leitungsdokumente zur Anleitung der Gerich- auch BArch, DP 2 / 2826, Bl. 44 Verfügung des Präsidenten. te unter der Bezeichnung „Standpunkte“. 64) Siehe ebenda. Diese Entscheidung könnte maßgeblich 51) Siehe auch Jörg Arnold. Die Normalität des Strafrechts eine Ursache der fatalen Überlieferungslage aus der in der DDR. Bd. 2. Die gerichtliche Überprüfung von Anfangszeit des Obersten Gerichts darstellen. Geständnis und Geständniswiderruf im Strafverfahren. Er- 65) Siehe Dienstakte des BArch, Az.: 7864-23/2. schienen in der Reihe Beiträge und Materialien aus dem 66) 1972 umbenannt in Zentrales Staatsarchiv (ZStA). Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales 67) Gemeint sind Vernichtungen dienstlichen Schriftgutes Strafrecht. Freiburg im Breisgau, 1996, S. 326. ohne Genehmigung des DZA. 52) Eine Ausnahme bildete der Senat für Arbeitsrecht. Die- 68) Siehe Dienstakte 7864-23/2. Durchgängig werden in ser war mit einem Oberrichter, einem Richter und drei den Protokollen der Anleitungsbesuche bis ins Jahr 1985 Schöffen besetzt. Die Laienrichter repräsentierten alle Zwei- umfangreiche Schriftgutvernichtungen der 60er Jahre fest- ge und Bereiche der Volkswirtschaft und der beruflichen gestellt. Tätigkeiten und sollten mit ihrem Erfahrungsschatz die 69) Siehe BArch, DP 2 / 1532, Ordnung über die Aufgaben Arbeitsrechtsprechung bereichern. Siehe auch Sarge, Ar- und die Arbeitsweise des Verwaltungsarchivs des Obersten nold, Fieber, Rieger, Das Oberste Gericht der DDR, S. 40 ff. Gerichts der DDR – Archivordnung – vom 15. Juli 1972; 53) Siehe BArch, DP 2 / 2491. Vorläufige Arbeitsordnung Schriftgutkatalog für das gesamte Schriftgut des Obersten des Obersten Gerichts vom 11. Mai 1988. Gerichts der DDR vom 05.07.1972. 54) Siehe ebenda, DP 2 / 1331, Gemeinsame Anweisung 70) Siehe ebenda, DP 2 / 781. 6/63 des Generalstaatsanwaltes und des Präsidenten des 71) Siehe BArch, DP 2 / 777. Obersten Gerichts über die Kassationstätigkeit vom 4. Juli 72) Siehe ebenda und Dienstakte 7864-23/2. Weisung über 1963. die Sichtung und Bereinigung der im Verwaltungsarchiv des 55) Buchholz, Herrmann, Luther, Strafverfahrensrecht – Obersten Gerichts befindlichen Verfahrensunterlagen im Lehrbuch, S. 464 ff. Straf- und ZFA-Recht. 73) Siehe Dienstakte 7864-23/2. Protokolle über die 77) Der mengenmäßige Umfang kann lediglich grob ge- Abgabe von Schriftgut vom 24.04.1980, 13.12.1982, schätzt werden, da das Schriftgut aus den ursprünglich zur 14.10.1987. Kassation vorgesehenen Transportsäcken eingerechnet wer- 74) Siehe ebenda, DP 2 / 783. Bestätigt wird diese Vermu- den muss. tung durch ein internes Schreiben des Leiters der Grund- 78) Die Kassationsanregungen des 1. Strafsenats wurden satzabteilung an den Präsidenten vom 19.12.1989 zur vollständig archiviert. Archivgutsicherung. Beckert beschreibt mangelndes Ver- 79) Abweichungen von der chronologischen Reihung wur- ständnis der verschiedenen Bereiche hinsichtlich der den in den archivisch gebildeten Akten aus dem zur Kassa- Notwendigkeit, nicht mehr benötigtes Schriftgut abzuge- tion vorgesehenen Schriftgut zugelassen (Transportsäcke). ben, und fordert zum wiederholten (!) Male dazu auf, kein 80) Gesetz über die Sicherung und Nutzung von Archivgut Schriftgut in eigener Zuständigkeit zu kassieren. des Bundes (Bundesarchivgesetz – BarchG) vom 6. Januar 75) Siehe ebenda, DP 2 / 2649. 1988 (BGBl. I S. 62), zuletzt geändert durch Gesetz zur 76) Siehe Dienstakte 7864/23-2. Änderung des Bundesarchivgesetzes vom 5. Juni 2002 (BGBl. I S. 1782). Findbuch zum Bestand DM 1 - Ministerium für Verkehrswesen der DDR, Teil I: Zivile Luftfahrt

Im Referat DDR 1 des Bundesarchivs ist zur die polnische LOT und die tschechoslowakische zivilen Luftfahrt der DDR unter Anwendung der CSA statt. IT-Datenbank BASYS-S ein Onlinefindbuch für den Bestand DM 1 - Ministerium für Verkehrs- Am 28. Februar 1950 erhielt das Ministerium für wesen erstellt worden. Enthalten ist die Akten- Verkehr der DDR durch Verfügung des Minis- überlieferung terpräsidenten Otto Grotewohl den Auftrag zur Organisation des Messeflugverkehrs nach Leip- – der Hauptabteilung Zivile Luftfahrt (HAZL, zig. Der Minister übertrug daraufhin der Gene- 1957 - 1960), raldirektion Kraftverkehr und Straßenwesen am – der Hauptverwaltung Zivile Luftfahrt (HVZL, 11. Dezember 1950 die flugtechnische Leitung 1961 - 1990), des Messeflugbetriebes auf dem Flughafen – der Abteilung Luftfahrt (1990), Leipzig-Mockau. Zur Realisierung dieser Auf- – des Stellvertreters des Ministers für den Be- gabe erfolgte der Ausbau des Flughafens, reich Zivile Luftfahrt und Leiters der HVZL insbesondere der Flugsicherungsanlagen und (1961 - 1977), technischen Einrichtungen. Ab Januar 1953 – des Stellvertreters des Ministers für den Be- nahm eine Dienststelle zur laufenden Instand- reich Zivile Luftfahrt und Generaldirektors haltung und für vorbereitende Maßnahmen beim der Interflug (1978 - 1990), Messeflugbetrieb auf dem Flughafen ihre Tätig- – der Prüfstelle für Luftfahrtgerät der Zivilen keit auf, die unmittelbar dem Staatssekretariat Luftfahrt (PfL ZL, 1961 - 1972) und für Kraftverkehr und Straßenwesen unterstand. – der Staatlichen Luftfahrtinspektion (SLI, 1968 - 1990). Die politischen und völkerrechtlichen Voraus- setzungen für die Aufnahme des Flugverkehrs Die Einleitung beschreibt ausführlich Organisa- auf dem Territorium der DDR ergaben sich aus tion und Arbeitsweise der Struktureinheiten des der Erklärung der Regierung der UdSSR vom 26. Ministeriums für Verkehrswesen (MfV) und der März 1954, die der DDR Souveränitätsrechte staatlichen Stellen im Bereich der zivilen Luft- übertrug. Sie erhielt auch das Recht zur Aus- fahrt, die durch ihre Aufgabenstellung, den Auf- übung der Lufthoheit über ihrem Gebiet und bau und die Entwicklung des Luftverkehrs und übernahm die Verantwortung, den Luftverkehr in des Luftrechts in der DDR miteinander verbun- eigener Regie zu betreiben und die Luftkorridore den waren. nach West-Berlin in flugsicherungsmäßigem Zu- stand zu erhalten. Zur Vorgeschichte Im April 1954 erarbeitete das Staatssekretariat Der Alliierte Kontrollrat, der ab Juni 1945 als für Kraftverkehr und Straßenwesen Vorschläge höchstes Machtorgan des in vier Besatzungs- zur Entwicklung des Luftverkehrs der DDR. zonen geteilten Deutschlands fungierte, unter- Diese sahen u.a. die Bildung eines Hauptrefe- sagte nach der Potsdamer Konferenz mit seiner rates Luftfahrt mit vier Planstellen im Staats- Proklamation Nr. 2 vom 20. September 1945 die sekretariat vor, das alle Aufgaben zum Aufbau Wiederaufnahme des Luftverkehrs sowie die erforderlicher Bodenorganisationen und nachge- Herstellung, den Besitz, die Unterhaltung und ordneter Dienststellen übernehmen sollte. Da- den Betrieb von Flugzeugen aller Art durch rüber hinaus wurden Stellenpläne für die Mitbe- Deutsche. In der Sowjetischen Besatzungszone nutzung bzw. die Übernahme des Flughafens (SBZ), in der die Sowjetische Militäradministra- Berlin-Schönefeld in deutsche Verwaltung vor- tion die Entscheidungshoheit ausübte, erfolgte gelegt. Als Beschlussvorlage gelangten die Vor- die Demontage der Betriebe der Luftfahrtindus- stellungen zur „Entwicklung und Durchführung trie. Die deutschen Flugzeugbauer wurden ab des Flugverkehrs der DDR“ Anfang Juni 1954 an Oktober 1946 in die Sowjetunion verbracht. Der das ZK der SED, Abt. Eisenbahn, Verkehrs- und zivile Luftverkehr fand in der SBZ hauptsächlich Verbindungswesen. Eine Umsetzung des Be- durch die sowjetische Fluggesellschaft Aeroflot, schlusses gab es nicht. Zur Wahrnehmung der dringlichsten staatlichen DDR 1963 erfolgte die Übernahme des Luftver- Aufgaben auf dem Gebiet der zivilen Luftfahrt kehrs durch die 1958 gegründete Interflug entstand noch im Juni 1954 im Ministerium des GmbH. Die überlieferten Unterlagen belegen Innern (MdI) die Abteilung Flugsport, die der aussagekräftig deren Wirksamkeit als einheit- Verwaltung der Aeroklubs, der damaligen Lei- liches staatliches Luftfahrtunternehmen der tung der Luftstreitkräfte der Kasernierten Volks- DDR bis hin zur Entflechtung und Abwicklung polizei unterstand. Die Besetzung der Planstellen im Jahr 1990. Die einschlägigen Akten gewinnen erfolgte hauptsächlich mit Offizieren. an Relevanz, da die Überlieferung der DLH bzw. der Interflug nicht im Bundesarchiv verwahrt In der zivilen Luftfahrt der DDR setzte ab Mitte wird1. der 1950er Jahre ein rasantes Entwicklungs- tempo ein. Mit den bestehenden Organisations- Als weitere inhaltliche Schwerpunkte des Find- formen konnte die staatliche Aufsicht und Anlei- buches können benannt werden: tung bald nicht mehr ausreichend gewährleistet werden. Die Notwendigkeit der Koordinierung – Erarbeitung des Luftverkehrsgesetzes vom 31. und der Abgrenzung der Kompetenzen veran- Juli 1963 bzw. des Luftfahrtgesetzes vom 27. lasste das Präsidium des Ministerrates der DDR Oktober 1983; zum Erlass des Beschlusses 53/10 „Über Zivile – Aus- und Weiterbildung von Luftfahrtperso- Luftfahrt“ vom 21. Februar 1957. Als Ergebnis nal; des Beschlusses wurde die Abteilung Flugsport – Flugzeugkatastrophen; im MdI aufgelöst und es entstand mit Wirkung – Konstruktion und Fertigung von Luftfahrzeu- vom 15. Juni 1957 im Ministerium für Verkehrs- gen, wie der 152 V-1 und der IL-14P; wesen die Hauptabteilung Zivile Luftfahrt. – Entwicklung und Ausübung des Flugsports so- wie die – internationale Zusammenarbeit auf dem Ge- Wert der Überlieferung biet der Luftfahrt, speziell mit RGW-Ländern, aber auch mit anderen Staaten. Den quantitativen und qualitativen Schwerpunkt der ca. 42 lfm umfassenden Gesamtüberlieferung Folgende Überlieferungslücken konnten festge- bilden die Unterlagen der Hauptverwaltung stellt werden: Zivile Luftfahrt und der Staatlichen Luftfahrt- inspektion. Die Akten des Teilbestandes Zivile – Innerdienstliches Schriftgut der einzelnen Luftfahrt belegen klar den Einfluss der UdSSR Registraturbildner aus dem Zeitraum 1957 bis in diesem Bereich. Erkennbar sind die von 1990, das Strukturveränderungen, Arbeitsab- Anfang an vorhandenen Verflechtungen zu läufe etc. aufzeigt; militärischen Strukturen mit ihren Auswirkungen – Unterlagen zum Luftpostverkehr; auf dem Gebiet des Geheimnisschutzes. Der ge- – Dokumente zu den strukturellen, personellen scheiterte Versuch zum Aufbau einer Luftfahrt- und technischen Gegebenheiten der zivilen industrie in der DDR kommt, wenn auch nur Flugsicherung sowie sporadisch, in den Unterlagen ebenfalls zum – Unterlagen zur Übergabe des Flughafens Ber- Ausdruck. In gleicher Weise ist die außerge- lin-Schönefeld durch die UdSSR an die DDR wöhnliche Situation im Luftverkehr über Berlin Mitte der 1950er Jahre und zur ersten Ausbau- dokumentiert, denn nur die Alliierten des Zwei- stufe des Flughafens. ten Weltkrieges besaßen das Recht, die inner- deutsche Grenze in drei Luftkorridoren von und Insgesamt bleibt festzuhalten, dass der Teilbe- nach Berlin zu durchqueren. stand trotz einiger Lücken eine erstrangige Quellenbasis zu den Entwicklungstendenzen des Der zivile Luftverkehr der DDR repräsentierte Luftverkehrs nach dem Zweiten Weltkrieg in der sich in der Öffentlichkeit größtenteils über die DDR und auch darüber hinaus darstellt. Die Luftverkehrsgesellschaften. Anfänglich war dies Akten belegen, dass das Flugzeug ab Mitte der die Deutsche Lufthansa (DLH). Durch die Nut- 1950er Jahre bemerkenswerte Erfolge im Wett- zung des gleichen Namens und Warenzeichens in bewerb mit Schienen- und Schiffsverkehr ver- beiden deutschen Staaten entbrannten Auseinan- zeichnete und dass die DDR mit Hilfe der zivilen dersetzungen, die sich im Schriftgut wider- Luftfahrt beachtlichen politischen und wirt- spiegeln. Nach der Liquidation der DLH der schaftlichen Nutzen erzielen konnte. Darüber hinaus gibt das Schriftgut ein aufschlussreiches Bild über die staatenverbindende Funktion des Luftverkehrs. Nicht zuletzt zeugen die Archi- valien von der in der Öffentlichkeit stets vorhan- denen Faszination für das Fliegen.

Elke Vogel

Anmerkung

1) Das Archiv der ehemaligen Interflug GmbH befindet sich auf dem Gelände des Flughafens Berlin-Schönefeld. Eigen- tümerin des Schriftgutes ist die Flughafen Berlin-Schöne- feld GmbH. Online-Findbuch zum Bestand DQ 112 - Institut für Medizinische Statistik und Datenverarbeitung

Die Erschließung maschinenlesbarer Daten, die Krankheiten (IKK)6, Gesellschaftliches Ar- bei Einrichtungen der DDR entstanden sind, beitsvermögen; erfordert in der Regel die Überprüfung der – Abteilung Statistische Methodik mit dem Be- schriftlichen Überlieferung, um die unzureichen- reich II EDV und den Abteilungen Projektent- den Dokumentationen zur Entstehung und zum wicklung, Projektkoordinierung, Rechenbe- Gehalt der Dateien zu ergänzen. Aus der Tätig- trieb und Bürocomputer. keit des Instituts für Medizinische Statistik und Datenverarbeitung (ISD) sind maschinenlesbare 1989 zeigte sich nur eine geringfügige Verän- Daten1 und Schriftgut2 in das Bundesarchiv ge- derung der Organisationsstruktur: im Bereich I langt. Da für einen Teil des Schriftgutes jedoch Medizinische Statistik entfiel die Abteilung In- nur sehr summarische Inhaltsangaben vorlagen, formationssystem. Der Bereich II EDV bestand strebte das jetzt abgeschlossene Erschließungs- aus folgenden Abteilungen: Projektentwicklung - projekt die mögliche Nutzung der archivwürdi- Informationssystem/Leitung/Planung, Projekt- gen Akten des ISD durch Benutzer und Archivare entwicklung - Medizinische Einrichtungen, an. Der folgende Beitrag gibt einige Informa- Projektkoordinierung, Statistische Methodik, tionen zu dem jetzt online-gestellten Findbuch. Rechenbetrieb.

Mit der Wiedervereinigung veränderten sich die Aufgaben und Organisation wirtschaftlichen Möglichkeiten und Interessen der neu gegliederten Länder und Gemeinden Das Institut für Medizinische Statistik und sowie die datenschutzrechtlichen Bestimmun- Datenverarbeitung (ISD) war eine dem Minis- gen, so dass das Institut mit Wirkung vom 31. terium für Gesundheitswesen der DDR unter- Dezember 1990 seine Tätigkeit einstellte. stellte Einrichtung. Es war für die Erfassung, Aufbereitung und Analyse von medizinisch-sta- Die statistischen Berichterstattungen auf dem tistischen Daten für Leitungs- und Planungs- Gebiet des Gesundheits- und Sozialwesens der zwecke sowie für das Informationssystem und DDR wurden entsprechend der Verordnung über die EDV-Anwendung im Gesundheitswesen Rechnungsführung und Statistik vom 11. Juli zuständig3. Es entstand 1985 durch Ausgliede- 19857 von der Staatlichen Zentralverwaltung für rung der entsprechenden Aufgaben aus dem Statistik (SZS) genehmigt und als amtliche Institut für Sozialhygiene und Organisation des statistische Erhebungen registriert. Sie wurden Gesundheitsschutzes (ISOG), das 1976 medizin- jedoch als sogenannte „Fachberichterstattungen“ statistische Aufgaben der Akademie für Ärzt- vom Ministerium für Gesundheitswesen erhoben liche Fortbildung übernommen hatte. Die Auf- und in zusammengefasster Form in Veröffent- gaben des Instituts wurden in einem 1988 lichungen der SZS, z. B. in die Statistischen erlassenen Statut beschrieben4. Jahrbücher, aufgenommen. Die Arbeitsergebnis- se des Instituts wurden im Jahresgesundheitsbe- Das Institut wurde von einem Direktor geleitet richt sowie in Mitteilungsheften8 veröffentlicht. (1985 bis Anfang 1990 Doz. Dr. sc. oec. P. In den Mitteilungsheften des 1985 gebildeten Giersdorf, anschließend bis zur Auflösung des Instituts wurden Statistikreihen, die von der Instituts im Dezember 1990 Direktorin Dr. sc. Akademie für Ärztliche Fortbildung und vom med. Doris Bardehle) und war in Abteilungen Institut für Statistik und Organisation des und Bereiche unterteilt. Als Anlage zum Arbeits- Gesundheitsschutzes (ISOG) begonnen worden plan im Mai 1985 wurde folgende Struktur waren, bis 1990/1991 fortgesetzt. Das Statisti- ermittelt5: sche Bundesamt veröffentlichte auf dieser Grundlage in der „Sonderreihe mit Beiträgen für – Abteilung Demographie mit dem Bereich I das Gebiet der ehemaligen DDR“, in den Heften Medizinische Statistik und den Abteilungen 17, 24, 25 und 27 (Teil I – IV) Statistiken zum Informationssystem, Dokumentation, Gesund- Gesundheits- und Sozialwesen. heitsstatistik, Internationale Klassifikation der Inhaltliche und zeitliche Charakterisierung Bestandsgeschichte der im Findbuch erfassten Überlieferung und archivische Bearbeitung

Das im Findbuch erfasste Schriftgut des ISD Nach der Einstellung der Tätigkeit des Instituts enthält über die veröffentlichten Statistiken wurden das Schriftgut und die maschinen- hinausgehende detaillierte statistische Daten zur lesbaren Daten des ISD von dessen Abwick- Entwicklung von Erkrankungen und ihrer Be- lungsgruppe zunächst als Arbeitsgrundlage für handlung und zur Organisation des Gesund- Rückrechnungen und Veröffentlichungen zum heitswesens der DDR. Außerdem dokumentiert Gesundheits- und Sozialwesen für das Gebiet der es die Methodik der Datenerhebungen und er- DDR an das Statistische Bundesamt sowie an möglicht damit quellenkritische Bewertungen. das Bundesgesundheitsamt (Rechtsnachfolger: Für folgende Statistiken wurden im September Robert-Koch-Institut) übergeben. Die Mitarbei- 1990 Daten erhoben9: ter des Bundesarchivs waren sehr bemüht, das auf beide Einrichtungen verteilte Schriftgut und – Einrichtungsregister, die maschinenlesbaren Daten des ISD12 zu – Krankenblattdokumentation, sichern, sobald die Unterlagen dort nicht mehr – Schwangerendokumentation und -betreuung benötigt wurden. So wurden die maschinenles- einschließlich der Aufstellung von Schwan- baren Daten und der größte Teil der im Findbuch gerschaftsunterbrechungen und Aborten, aufgeführten Unterlagen sowie die „Mitteilun- – Morbiditäts- und Mortalitätsaufstellungen, gen“13 des ISD vom Statistischen Bundesamt – Meldepflichtige übertragbare Krankheiten, und vom Robert-Koch-Institut (RKI) zwischen – Berufstätige im Gesundheits- und Sozialwe- 1991 und 2001 an das Bundesarchiv abgegeben. sen, Ein Teil der Überlieferung ist jedoch zunächst – Krippen und Heime, dem Bestand DE 2 - Staatliche Zentralverwal- – Finanzberichterstattungen. tung für Statistik zugeordnet gewesen. Die vom Statistischen Bundesamt übergebenen Unterla- Besonderes Interesse werden möglicherweise die gen waren größtenteils bereits zu Aufbewah- Ausdrucke der statistischen Erhebungen zu Krip- rungseinheiten formiert und in Abgabelisten pen und Heimen, zur Krankenblattdokumenta- erfasst worden. tion, zur Morbiditätsstudie im Kreis Zittau10, zum Hochschulkaderprojekt sowie zur Krebs- Das vom RKI übergebene Schriftgut hatte noch statistik finden. Neben Methoden der Datener- keine archivtechnische Behandlung erfahren. Es fassung und -auswertung zu den Fachbericht- wurde in summarischen Abgabelisten übergeben. erstattungen sind Konzeptionen zum Einsatz der Das Archivgut wurde im Bundesarchiv zunächst Rechentechnik im Gesundheits- und Sozialwe- in Archivmappen und -kartons verpackt und sen einschließlich der Hard- und Softwarepla- signiert. Schwierigkeiten entstanden bei der nung überliefert. Eine umfangreiche Formblatt- technischen Bearbeitung durch das unterschied- sammlung dokumentiert die im Gesundheits- liche Format der Unterlagen - z.B. EDV-Aus- und Sozialwesen angewendeten Formblätter und drucke (A3) und Aktenordner (A4). deren Aktualisierung11. Überliefert sind des weiteren Unterlagen zur Aktualisierung der In- Die Verzeichnung erfolgte in der Bundesarchiv- ternationalen Klassifikation der Krankheiten im datenbank BASYS-S mit gleichzeitiger Zuord- Zusammenhang mit den erfolgten Revisionskon- nung in ein vorab erstelltes Klassifikations- ferenzen der ICD (IKK). schema. Da mit der Auflösung des Instituts Schriftgut verloren gegangen ist, wurden bei der jetzigen Bearbeitung lediglich Doppelüberliefe- rungen und Rechnungsschriftgut kassiert. Auf einen Sachindex wurde verzichtet, da durch die Erstellung eines Online-Findbuches komfortable Recherchemöglichkeiten gegeben sind. Der Bestand hat nach der Bearbeitung einen Umfang von 23 laufenden Metern, es wurden 588 Daten- sätze bearbeitet.

Barbara Fritsch Anmerkungen

1) BArch, Institut für Medizinische Statistik und Datenver- arbeitung – maschinenlesbare Daten, DQ 112 MD. 2) BArch, Institut für Medizinische Statistik und Daten- verarbeitung, DQ 112 3) Siehe Verfügungen und Mitteilungen des Min. f. Gesund- heitswesen 1988 Nr. 4. 4) Siehe Verfügungen und Mitteilungen des Min. f. Gesund- heitswesen 1988 Nr. 4. 5) Siehe BArch, DQ 112/289. 6) IKK: Internationale Klassifikation der Krankheiten (DDR Abkürzung für ICD-International Statistical Classifikation of Diseases, Injuries and Causes of Death / einzige weltweit verwendete Klassifikation, betrifft im wesentlichen Diagnosen, Symptome und Verletzungen, alle 10 Jahre finden Revisionskonferenzen statt). 7) GBL. I Nr. 23 S. 261. 8) Siehe Bibliothek SAPMO – BArch /ZB 20365. 9) Siehe BArch, DQ 112/1. 10) Siehe BArch, DQ 112/129. 11) Siehe BArch, DQ 112/38-81. 12) BArch, Institut für Medizinische Statistik und Datenver- arbeitung–maschinenlesbare Daten, DQ 112 MD. 13) Siehe Bibliothek SAPMO – BArch /ZB 20365. Kinderkrippen in der DDR - Daten aus einem Forschungsprojekt

Im Jahre 2001 hat das Bundesarchiv Daten schutzgesetz“ durch die Staatsanwaltschaft Leip- übernommen, die über Entwicklungsstand und zig ein Ermittlungsverfahren gegen Karl Zwiener Gesundheitszustand von Krippenkindern der einleiten, mit dem Vorwurf, die Daten seien DDR Auskunft geben. Diese Daten sind inzwi- „grob rechtstaatswidrig erhoben“ worden. Die schen für die Langzeitarchivierung erfolgreich Staatsanwaltschaft ließ die schriftlichen Unterla- migriert und archiviert worden und können jetzt gen aus den Forschungen von Karl Zwiener im der wissenschaftlichen Forschung zur Verfügung Juli 1999 in seiner Privatwohnung beschlagnah- gestellt werden (Bestand Institut für Hygiene des men. Im Juli 2000 wurde das Verfahren jedoch Kindes- und Jugendalters - maschinenlesbare eingestellt und das Schriftgut schließlich im Daten, Signatur DQ 120 MD/1). Es handelt sich September 2000 an das Bundesarchiv übergeben, um eine hochinteressante Quelle. Die Dateien da die Überlieferung des IHKJ seit dem 3. Okto- können in Zukunft im Rahmen der Bestimmun- ber 1990 in dessen Zuständigkeit fällt. Aus dem gen des Bundesarchivgesetzes1 z.B. für Frage- Schriftgut wurde der Bestand Institut für Hy- stellungen der entwicklungspädagogischen oder giene des Kindes- und Jugendalters (DQ 120) sozialwissenschaftlichen Forschung zur Verfü- gebildet. Es handelt sich leider nur um einen gung gestellt werden. Umfang von ca. 4 lfm., die derzeit noch unbear- beitet sind. Die Unterlagen umfassen den Zeitraum von 1969 bis 1990. Eine Podiumsdiskussion mit Folgen Das Bundesarchiv schloss im Januar 2001 mit Im März 1999 fand im Audimax der TU Dresden Karl Zwiener einen Vertrag über die Übereig- eine Podiumsdiskussion statt, bei der der nung der schriftlichen Unterlagen aus seiner Kriminologe Christian Pfeiffer2 die recht Forschungstätigkeit ab, da er seine wissenschaft- provokative These vortrug, die heutige Fremden- liche Arbeit weiterhin fortsetzt. Zugleich über- feindlichkeit in Ostdeutschland sei die Folge der gab Karl Zwiener erste Daten aus der Unter- Kita-Erziehung in der DDR.3 Er berief sich dabei suchung an das Bundesarchiv. u. a. auf die Arbeiten von Hans-Joachim Maaz4 und Dietmar Sturzbecher5 aus den frühen 1990er Jahren.6 Im Verlauf der sich anschließenden Ziel und Inhalte der Erhebung im Jahr 1988 kontroversen Diskussion meldete sich der Kin- derpsychologe Karl Zwiener zu Wort, der sich Die hier vorgestellten Daten stammen aus einer bereits seit den 1960er Jahren intensiv mit der 1988 durchgeführten empirischen Untersuchung Erforschung der Arbeitsweise der Kinderkrippen des Instituts für Hygiene des Kinder- und und der Entwicklung von Krippenkindern in der Jugendalters (IHKJ) in Berlin. Das IHKJ war DDR beschäftigt hatte.7 Karl Zwiener, bis 1990 eine „wissenschaftliche Einrichtung sowie Abteilungsleiter der „Arbeitswissenschaftlichen Leiteinrichtung zur Sicherung der Grundfragen Untersuchungsstelle für Krippen der DDR“ auf dem Gebiet der gesunden allseitigen Ent- (AWU) im „Institut für Hygiene des Kinder- und wicklung der Kinder in Krippen und Heimen und Jugendalters“(IHKJ), erläuterte seine Untersu- der hygienischen Gestaltung der Lebens- und chungen zum Thema Kinderkrippen in der DDR Erziehungsbedingungen in Kinderkollektiven in und stellte seine Forschungsergebnisse kurz vor. Einrichtungen der gesellschaftlichen Erziehung.“ Es verwundert kaum, dass er die These von Dem IHKJ oblag insbesondere die Aufgabe, Christian Pfeiffer nicht bestätigen konnte.8 Er „Grundsätze für die Gewährleistung und Förde- ließ das interessierte Publikum weiterhin wissen, rung der Gesundheit und der Leistungsfähigkeit dass er nach der Wiedervereinigung das Unter- der Kinder sowie ihrer allseitigen Entwicklung suchungsmaterial vor der Vernichtung bewahrt9 zu erarbeiten“10. und zuhause weiter ausgewertet habe. Die Untersuchung erfolgte im Rahmen des beim In Folge seines Diskussionsbeitrags ließ der Ministerium für Gesundheitswesen ange- Sächsische Datenschutzbeauftragte wegen ver- siedelten Forschungsprojektes „Gesundheits- muteten „Verstoßes gegen das Sächsische Daten- schutz im Kindes- und Jugendalter“11 unter der Leitung von Karl Zwiener. In einer früheren zahl der Planstellen für Erzieherinnen, Ausstat- Untersuchung Anfang der 1980er Jahre hatte er tung mit Spielzeug, Freiflächen, gesundheits- bereits die Entwicklung der Krippenkinder in bzw. aktivitätsfördernder Ausstattung. Leipzig, Moskau, Bratislava und Budapest ver- glichen und dabei festgestellt, dass die ungari- Zu den Eltern wurden Daten erhoben wie: schen Kinder mit Abstand am besten entwickelt Familienstand, Fachausbildung und Geburtsjahr. waren.12 Da die Forschungsansätze der hier Zusätzlich fand eine Elternbefragung zur Erfas- behandelten Untersuchung mit der offiziellen sung von Informationen über „Nachtschlaf und Parteilinie nicht konform gingen, musste die häuslichen Morgenimbiss“ statt. Untersuchung wegen „ideologischer Mängel“ mehrfach zurückgestellt werden.13 Die Daten wurden auf insgesamt 27 ver- schiedenen Formblättern erhoben, anschließend Ziel der Untersuchung war die repräsentative per Datenerfassung in die EDV übertragen und Erfassung von Entwicklungsstand und Gesund- mit dem Datenbankverwaltungsprogramm heitszustand von Kindern in Kinderkrippen der REDABAS weiter verarbeitet. Die Auswertung DDR. Die Erhebung der Daten von 11.954 kam ins Stocken, als das IHKJ und die AWU in Kindern der Geburtsjahrgänge 1985 bis 1988 Folge der Wiedervereinigung zum 31. Dezember sowie von möglichen Einflussbedingungen aus 1990 aufgelöst wurden und das Forschungs- Familien und Krippen bzw. Heimen fand in etwa material kurz vor der Vernichtung stand. Glück- 200 ausgewählten Kindereinrichtungen statt. licherweise konnten aber der größte Teil der bisherigen Auswertungen und ein Teil der For- Die Erhebung umfasste zu jedem Kind Daten schungsdaten selbst von Karl Zwiener gerettet wie z. B. Geburtsdatum, Aufnahmedatum in die werden, ein anderer Teil gelangte nach Berlin in Krippe, Art der Unterbringung (Tages-, Wochen- das Bundesgesundheitsamt.15 oder Heimkind), Anzahl der in der Familie lebenden Kinder, Gewicht und Größe zur Zeit Karl Zwiener und Elisabeth Zwiener-Kumpf der Geburt, Aufenthaltszeit in der Einrichtung, setzten die Auswertungsarbeiten 1991 bis 1992 emotionaler Zustand, Beziehung zur Erzieherin, am heimischen Schreibtisch fort. Die statistische Schlafverhalten, Gruppenwechsel, Einnahme Auswertung der Daten erfolgte mit der Software von Mahlzeiten sowie Aufenthalt im Freien. SPSS-X. 1992 konnte ein vorläufiger Abschluss erreicht werden. Als Ergebnis der Auswertungen Die Erzieherin hatte anhand von 18 Punkten in entstand eine Studie, die 1994 in überarbeiteter den letzten zehn Tagen eines Lebensquartals den und ergänzter Form in den Materialien zum Entwicklungsstand jedes Kindes zu beurteilen Fünften Familienbericht publiziert wurde16. und das Ergebnis in einem Dokumentationsblatt festzuhalten. Ein Fragen- und Aufgabenkatalog „zur periodischen Kontrolle von Leistung und Übernahme und Bearbeitung im Verhalten bei Kindern von 0,1 bis 3,6 Jahren“ Bundesarchiv war bereits 1970 bis 1978 entwickelt worden.14 Wie bereits erwähnt, übereignete Karl Zwiener Zur Beurteilung des Gesundheitszustandes der im Januar 2001 dem Bundesarchiv in Ergänzung Kinder wurden die Ergebnisse der Anamnese des bereits archivierten Schriftgutes eine (Schwangerschafts- und Geburtsverlauf), der Diskette mit einer der wichtigsten Dateien aus Statuserhebung bei der ärztlichen Reihenunter- der Untersuchung, nämlich mit den Daten der suchung und die Erkrankungshäufigkeit, -art und Entwicklungskontrolle.17 Im Oktober 2001 -dauer im Untersuchungszeitraum festgehalten. konnte das Bundesarchiv weitere 33 Disketten vom Robert-Koch-Institut (RKI)18 übernehmen. Zu den Erzieherinnen wurden beispielsweise Die nähere Sichtung der zusammengeführten Angaben zum Umgangston gegenüber den Daten und der Dokumentationsunterlagen ergab, Kindern, Gruppeneinsatz, Beschäftigungsgrad, dass im Bundesarchiv die Daten von 23 der 27 Dienstalter, Qualifikation, Lebensalter und Formblätter19 überliefert sind, die 1988 zur Berufserfahrung erfasst. Erhebung dienten. Somit sind die Daten aus der Untersuchung im Bundesarchiv als nahezu Zu den Krippen finden sich z. B. Angaben zu vollständig überliefert anzusehen. Nicht erhalten Kapazität, Zahl der angemeldeten Kinder, An- sind mit einer Ausnahme die Dateien mit konkretem Personenbezug.20 Für Sekundärana- Formblätter zugrunde. Jedoch fehlen im Bundes- lysen des Datenmaterials dürften personenbe- archiv die Einzelangaben von Formblatt 43 zogene Daten aber nicht relevant sein. (Gesamteinschätzung), die im SPSS-Setup im Zentralarchiv wiederum enthalten sind. Die Da- Die vom RKI übernommenen Dateien waren in teien des Projekts Kinderkrippen in der DDR einem alten REDABAS-Datenbankformat auf können im Bundesarchiv und im Zentralarchiv Robotron-Disketten gespeichert, die nur mit für empirische Sozialforschung unter Beachtung einem Bürocomputer Robotron EC 1834 gelesen der Persönlichkeitsschutzrechte Betroffener so- werden konnten. Im Bundesarchiv fand die wie schutzwürdiger Belange Dritter nach den Migration der Dateien in das neuere Format Bestimmungen des Bundesarchivgesetzes be- REDABAS-4 auf dem EC 1834 statt. Es erfolgte nutzt werden. eine Zusammenfassung der wegen der geringen Speicherkapazität (ca. 600 KB) teilweise auf Ulf Rathje mehrere Disketten gesplitteten Dateien. Schließ- lich wurden die Dateien für die Langzeitarchi- vierung in das Standardformat ASCII bzw. ASCII csv konvertiert. Die verschiedenen Schrit- Anmerkungen te der Bearbeitung und Migration wurden mit Standard-Befehlen von REDABAS und DBASE 1) Gesetz über die Sicherung und Nutzung von Archivgut des Bundes (Bundesarchivgesetz – BArchG) vom 6. Januar 1988 IV durchgeführt. (BGBl. I S. 62), zuletzt geändert durch Gesetz zur Änderung des Bundesarchivgesetzes vom 5. Juni 2002 (BGBl. I S. Die Datei „Angaben zum Kind“ ist die einzige 1782), http://www.bundesarchiv.de/benutzung/rechtsgrundla- personenbezogene Datei21. Sie enthält die in der gen/bundesarchivgesetz/ (Stand: 08.01.2004). Zu den be- DDR Anfang der 1970er Jahre eingeführte Per- nutzungsrechtlichen Bestimmungen siehe insb. § 5 BArchG. 2) Prof. Dr. Christian Pfeiffer, damals Leiter des Kriminolo- sonenkennziffer (PKZ). Die Namen der Kinder gischen Forschungsinstitutes Niedersachsen e.V., Hannover waren im Formblatt zwar noch erfasst, es erfolg- (siehe auch: http://www.kfn.de/profdrpfeiffer.html, Stand: te aber keine Übertragung in die EDV. Im 08.01.2004), später Justizminister des Landes Niedersachsen. Verlauf der Bearbeitung der Daten wurde aus Online-Publikation des umstrittenen Vortrags „Fremden- Gründen des Persönlichkeitsschutzes eine ano- feindliche Gewalt im Osten – Folge der autoritären DDR- nymisierte Benutzerkopie dieser Datei gene- Erziehung?“ unter http://www.kfn.de/fremdengewaltosten. 22 html (Stand: 08.01.2004). Siehe dazu auch das Interview mit riert . Schließlich wurden Sicherungskopien Christian Pfeiffer in Jungle World vom 17.03.1999 unter aller Dateien auf CD-R und Digital Audio Tape http://www.buergerinitiative-ems-land.de/jungle19990317. angefertigt. Die technische Bearbeitung konnte htm (Stand: 08.01.2004) sowie: C. Augustin (1999). im August 2003 abgeschlossen werden. 3) Sächsische Zeitung vom 25.03.1999, 01.04.1999 und 30.07.1999. 4) Maaz, Hans-Joachim (1990). Das Bundesarchiv ist nicht das einzige Archiv, in 5) Sturzbecher, Dietmar (1992, 1993, 1994). dem Daten aus dem Krippenprojekt zu finden 6) Kindererziehung in Tagesstätten und Kindergärten wurde sind. Am Standort Koblenz liegen die 1988 bis ab 1990 zu einem vieldiskutierten Thema, siehe z. B. auch 1990 entstandenen Daten im ASCII-Format23. die Ergebnisse des Forschungsprojektes „Entwicklung der Allerdings hatte Karl Zwiener 1992 einen Teil Arbeit des Kindergartens sowie der Pädagogischen Fach- der Ergebnisse seiner Erhebungen an das Zen- schulen im Volksbildungssystem der DDR“ (i.A. des Minis- teriums für Bildung, Jugend und Sport des Landes Branden- tralarchiv für empirische Sozialforschung in burg am Institut für Sozialpädagogik, Erwachsenenbildung 24 Köln gegeben . Es handelte sich um Rohdaten und Pädagogik der Frühen Kindheit der Universität Dort- im Format EBCDIC25, die Basis der letzten Aus- mund): Höltershinken (o. J.). wertungsarbeiten 1991 bis 1992 waren. Diese 7) Zwiener, Karl, unter besonderer Mitarbeit von Ch. Daten wurden nach ASCII konvertiert, um sie Truntschka, M. Bothe, R. Härtnig (1969). 8) Elisabeth Zwiener-Kumpf wertete das Datenmaterial für auf dem PC nutzbar zu machen. Anschließend ihre Dissertation (in Psychologie) aus und kam ebenfalls zu 26 wurde ein SPSS-Setup erstellt . dem Ergebnis, dass zu DDR-Zeiten das Elternhaus einen größeren Einfluss auf die Kinderentwicklung hatte. Siehe: Die Daten unterscheiden sich aber nicht nur in Zwiener-Kumpf, Elisabeth (1991) und Zwiener-Kumpf, ihrem Speicherformat bzw. Zeichencode. Die Elisabeth (1996). SPSS-Datei im Zentralarchiv umfasst Daten aus 9) Karl Zwiener erwarb die Magnetbänder mit den Daten vom Organisations- und Rechenzentrum (ORZ) Leipzig, als acht Formblättern, nämlich soweit sie für die die Bänder gelöscht bzw. vernichtet werden sollten. Auswertungsarbeiten 1991 bis 1992 relevant 10) Siehe: Anordnung über die Rechtsfähigkeit des Instituts waren. Den Daten im Bundesarchiv liegen 23 für Hygiene des Kindes- und Jugendalters vom 10. Jan. 1973 (GBl. der DDR I, 1973, S. 51) sowie Anweisung über Literaturüberblick zum ZKDS das Statut des Instituts für Hygiene des Kindes- und Jugendalters (In: Verfüg. u. Mitt. d. MfGe, 1973, S. 49-50). Quellen im Bundesarchiv 11) Ministerium für Gesundheitswesen: Forschungsprojekt 08 „Gesundheitsschutz im Kindes- und Jugendalter“ (Pro- Bestand Institut für Hygiene des Kinder- und Jugend- jektbeauftragte Frau Prof. Dr. sc. med. Gerda Niebsch). alters (Signatur DQ 120, Laufzeit 1969 bis 1990, 12) Siehe dazu: Zwiener, Karl (1984). Lagerort: Berlin-Lichterfelde, derzeit noch unbear- 13) Siehe Zwiener, Karl, Elisabeth Zwiener-Kumpf und beitet und daher noch nicht benutzbar, Stand: Dez. Christa Grosch (1994), S. 11f. 2003). 14) Zwiener, Karl und Eva Schmidt-Kolmer (1982). 15) Das 1952 gegründete Bundesgesundheitsamt wurde Bestand Institut für Hygiene des Kinder- und Jugend- 1994 aufgelöst, heute Robert-Koch-Institut, Berlin. alters – maschinenlesbare Daten (Signatur DQ 120 16) Der Familienbericht wird von einem Sachverständigen- MD/1, Laufzeit 1988 bis 1990, Lagerort: Koblenz, gremium erstellt, der Familienberichtskommission der benutzbar gemäß § 5 BArchG). Bundesregierung. Die Kommission bittet um Expertisen zu bestimmten Themenbereichen oder Fragestellungen. Hier Bestand Ministerium für Gesundheitswesen, insb. handelt es sich um Band 5 der Materialien zum 5. Familien- Hauptabt. IV (Soziale Betreuung), Sektor 2 (Krippen bericht. Zur Studie siehe: Zwiener, Karl, Elisabeth Zwiener- und Heime) (Signatur DQ 1, Lagerort: Berlin-Lichter- Kumpf und Christa Grosch (1992); zur Publikation siehe: felde, benutzbar gemäß § 5 BArchG). Zwiener, Karl, Elisabeth Zwiener-Kumpf und Christa Grosch (1994). 17) Die Daten wurden auf Formblatt 10 erhoben (Ergebnis Sekundärliteratur der Entwicklungskontrolle). Die Datei umfasst 19.658 Datensätze im Format DBASE IV. Augustin, C.: Anleitung zum Hass. Der Kriminologe 18) Die Daten konnten auf dem Dachboden eines Dienstge- Christian Pfeiffer über die Erziehung in der DDR und bäudes des Robert-Koch-Instituts in der General-Pape-Str., die Folgen. In: Der Spiegel 12/1999 vom 22.03.1999, Berlin-Tempelhof, sichergestellt werden. Inzwischen ist das S. 60ff. RKI nach Nordufer 20, 13353 Berlin-Wedding, umgezogen, siehe: http://www.rki.de/ (Stand: 08.01.2004). Brunner, Regina, Karl Zwiener und Eva Schmidt- 19) Ein vollständiger Satz Muster der Formblätter kann Kolmer (1978): Zusammenhänge zwischen körperli- sowohl im Bundesarchiv in Koblenz, als auch im Zentralar- cher und psychischer Entwicklung von Krippenkindern chiv (ZA) für emprische Sozialforschung an der Universität in Abhängigkeit von den Lebens- und Erziehungs- zu Köln (Bachemer Str. 40, 50931 Köln, http://www.gesis. bedingen (Hygiene in Kinderkollektiven; Band 5). org/za/, Stand: 08.01.2004), eingesehen werden. Die Berlin: VEB Verlag Volk und Gesundheit. Formblätter sind in Zwiener, Karl, Elisabeth Zwiener- Kumpf und Christa Grosch (1994) nicht abgedruckt. Grosch, Christa und Karl Zwiener (1987): Beurtei- 20) Es fehlen die personenbezogenen Daten der Formblätter lung von Gesundheit und Entwicklung und die pro- „Liste der Erzieherinnen“, „Liste der Kinder“, „Gruppenbe- phylaktische Betreuung in der frühen Kindheit (Hy- zeichnungen“, „Gesamteinschätzung“. giene des Kindes- und Jugendalters; Band 10). Berlin: 21) Die Erhebung der Daten erfolgte auf dem Formblatt 01 VEB Verlag Volk und Gesundheit. „Angaben zum Kind“ (Dateiname hyg01n.dbf). 22) Während die Stellen 1 bis 6 der PKZ, das Geburtsda- Höltershinken, Dieter, Hilmar Hoffmann und Gudrun tum, für Auswertungen erhalten geblieben sind, wurden die Prüfer (o. J.): Kindergarten und Kindergärtnerin in Stellen 7 bis 12 (Geschlecht und Geburtsort) gelöscht. Ein der DDR. Neuwied: Luchterhand. einzelnes Kind kann somit nicht re-identifiziert werden, da eine territoriale Zuordnung nicht möglich ist. Maaz, Hans-Joachim (1990): Der Gefühlsstau. Ein 23) ASCII = American Standard Code for Information Psychogramm der DDR. Berlin, Aragon-Verlag. Interchange, der Standardcode für die Welt der PCs und der UNIX-Engines. Schmidt-Kolmer, Eva (1984): Kinderkrippen – Krip- 24) Zentralarchiv (ZA) für emprische Sozialforschung an penkinder (Hygiene in Kinderkollektiven, Band 8). der Universität zu Köln (Bachemer Str. 40, 50931 Köln, Berlin, VEB Verlag Volk und Gesundheit. http://www.gesis.org/za/, Stand: 08.01.2004). 25) EBCDIC = Extended Binary Coded Decimal Inter- Schmidt-Kolmer, Eva, Karl Zwiener und F.-J. Guts- change Code, der Quasi-Standard der Fa. IBM auf dem muth (1987): Anamnese und Gesundheitszustand Mainframe-Sektor. entwicklungsbeeinträchtigter Kinder. In: Christa 26) Die SPSS-Daten sind im Zentralarchiv unter der Stu- Grosch u. Karl Zwiener: Beurteilung von Gesundheit dien-Nr. 6415 archiviert. Sie wurde vereinbarungsgemäß in und Entwicklung und die prophylaktische Betreuung die Zugangskategorie C eingestuft (Die Daten und Doku- in der frühen Kindheit (Hygiene des Kindes- und mente sind für die akademische Forschung und Lehre nur Jugendalters; Band 10). Berlin: VEB Verlag Volk und nach schriftlicher Genehmigung des Datengebers zugäng- Gesundheit. lich. Das ZA holt dazu schriftlich die Genehmigung unter Angabe des Benutzers und des Auswertungszweckes ein). Sturzbecher, D. u. a. (1992): Jugendszene und Ju- gendgewalt im Land Brandenburg (hrsg. v. Landes- zentrale für Politische Bildung), Potsdam. Sturzbecher, D./Dietrich, P. (1993): Jugend in Bran- Erziehung (Hygiene in Kinderkollektiven, Band 7) denburg. Signale einer unverstandenen Generation. In: S. 199-287. Berlin, VEB Verlag Volk und Gesundheit. Aus Politik und Zeitgeschichte B 2-3/1993, S. 33 ff. Zwiener, Karl, Eva Schmidt-Kolmer und Gerda Nie- Sturzbecher, D. u. a. (1994): Jugend in Brandenburg bsch (1982): Ergebnisse der Eichung, Normwerte zur 93 (hrsg. v. Brandenburgische Landeszentrale für Beurteilung des einzelnen Kindes. In: Eva Schmidt- politische Bildung), Potsdam. Kolmer: Entwicklungskontrolle in der frühen Kind- heit in ihrer Bedeutung für die gesundheitliche Ueberschär, Ursel, unter Mitarb. von Karl Zwiener Betreuung und die Erziehung (Hygiene in Kinder- (1984): Unser Kind kommt in die Krippe (Ratgeber kollektiven, Band 7). Berlin, VEB Verlag Volk und für Eltern). Dresden: Dt. Hygiene-Museum in d. Gesundheit. DDR, Inst. für Gesundheitserziehung. Zwiener, Karl (1987): Adaptionsmaßnahmen in Zwiener, Karl, unter besonderer Mitarbeit von Ch. Kinderkrippen – Voruntersuchung zur Forschungs- Truntschka, M. Bothe, R. Härtnig (1969): Analyse der aufgabe „Entwicklungsstand und Gesundheitszustand Tätigkeitsstruktur in den Kindertages- und Wochen- in Abhängigkeit von Umweltbedingungen“. Unver- krippen Schkeuditz als ein Beitrag zur Rationali- öffentlichter Forschungsbericht. sierung der Krippenarbeit. Forschungsbericht i. A. der Zentralstelle für die Hygiene des Kinder- und Jugend- Zwiener, Karl (1989): Untersuchungen von Entwick- alters, Leiter: Prof. Dr. med. habil. Eva Schmidt- lungsbedingungen in Krippen und Familien und Kolmer. Leipzig, März 1969 (Typoskript, 519 S.) ihrem Einfluss auf den Entwicklungsstand von Klein- (Bundesarchiv, Bestand Ministerium für Gesundheits- kindern: Langjährige Studien zur Erarbeitung von wesen, Sign. DQ 1 /11645-11646). Verfahren zur Kontrolle der Umweltbedingungen und der Entwicklung von Kleinkindern. Berlin, Akad. für Zwiener, Karl (1977): Familienverhältnisse. In: Eva Ärztl. Fortbildung d. DDR, Diss. B. Schmidt-Kolmer: Zum Einfluß von Familie und Krip- pe auf die Entwicklung von Kindern in der frühen Zwiener, Karl, Elisabeth Zwiener-Kumpf und Christa Kindheit. (Hygiene in Kinderkollektiven Band 2). Grosch (1992): Einflüsse von Familie und Krippe auf Berlin: VEB Verlag Volk und Gesundheit. Entwicklung und Gesundheit bei Krippenkindern – eine Untersuchung aus zweihundert Kinderkrippen Zwiener, Karl und Eva Schmidt-Kolmer (1975): der DDR (1988, Typoskript). Arbeitsanleitung zur periodischen Kontrolle von Leistung und Verhalten bei Kindern von 0,1 bis 3,6 Zwiener, Karl, Elisabeth Zwiener-Kumpf und Christa Jahren für die Krippenerzieherin. Hrsg. Vom Institut Grosch (1994): Kinderkrippen in der DDR. Einflüsse für Hygiene des Kindes- und Jugendalters, Abt. von Familie und Krippe auf Entwicklung und Ge- Arbeitswissenschaftliche Untersuchungsstelle für die sundheit bei Krippenkindern – eine Untersuchung aus Krippen der DDR. Leipzig, als Typoskript gedruckt. zweihundert Kinderkrippen der DDR (Materialien zum Fünften Familienbericht, Band 5). München, Zwiener, Karl und Eva Schmidt-Kolmer (1977): Der Verlag Deutsches Jugendinstitut. Einfluß von Fläche, Kapazität, Bautyp und Einrich- tungsart. In: Eva Schmidt-Kolmer: Zum Einfluß von Zwiener-Kumpf, Elisabeth (1991): Entwicklung von Familie und Krippe auf die Entwicklung von Kindern Krippenkindern und Einflüssen durch Eltern und in der frühen Kindheit (Hygiene in Kinderkollektiven Erzieherinnen. Diplomarbeit in Psychologie, Univer- Band 2). Berlin: VEB Verlag Volk und Gesundheit. sität Leipzig.

Zwiener, Karl und Eva Schmidt-Kolmer (1978): Ar- Zwiener-Kumpf, Elisabeth (1996): Geschlechtsunter- beitsanleitung für die Krippenerzieherin zur periodi- schiede von Entwicklung und ausgewählten Lebens- schen Kontrolle des Entwicklungsstandes bei Kindern bedingungen bei Krippenkindern. Leipzig, Univ., von 0,1 bis 3,6 Jahren. Leipzig: Inst. f. Hygiene des Diss. Kindes- u. Jugendalters.

Zwiener, Karl (1980): Zur Analyse der pflege-er- zieherischen Arbeit in den Krippen. Verteilung, Inten- sität und Qualität der Arbeit der Krippenerzieherinnen (Lehrmaterialien für Ausbildung und Weiterbildung von mittlerem medizinischem Personal. Hrsg.: Insti- tut für Weiterbildung mittlerer medizinischer Fach- kräfte). 2., erw. Auflage, Potsdam.

Zwiener, Karl und Eva Schmidt-Kolmer (1982): Zur periodischen Kontrolle von Leistung und Verhalten bei Kindern von 0,1 bis 3,6 Jahren. Arbeitsanleitung für Krippenerzieherinnen. In: Eva Schmidt-Kolmer: Entwicklungskontrolle in der frühen Kindheit in ihrer Bedeutung für die gesundheitliche Betreuung und die Ein Schellenbaum für die Philippinen. Die Steyler Mission und das Bundesministerium für Verteidigung Anfang der 1960er Jahre

In einer Sammelakte der Unterabteilung W I, in Für diesen Pater, der als Missionar aus den der Abteilung Verteidigungswirtschaft zuständig Ostgebieten keine Heimatpfarrei, die sich um ihn für Beschaffungs- und Rüstungsplanung, finden kümmern könne, mehr habe, hätte er gewisser- sich neben Beschaffungsvorgängen im Rahmen maßen die Patenschaft übernommen. Er be- der Ausrüstungshilfe für verschiedene afrikani- schreibt den Pater als in der Vergangenheit sche Staaten auch drei Vorgänge, in denen schwer geprüften Priester und Missionar aus zugunsten der Steyler Mission Rüstungsmaterial Überzeugung und erwähnt dessen Gefangen- beschafft bzw. zum Kauf angeboten wurde oder schaft während des Krieges in China: „Auch dies zumindest geplant war1. Hier sollen nun lernte er den roten chinesischen Kommunismus anhand des ersten dieser Fälle Abläufe der kennen, besonders in der Gefangenschaft“. Ausrüstungshilfe in Fällen geringeren Umfanges Später habe er an der SVD-Universität in Japan beschrieben werden. Vor allem aber zeigt die hier gewirkt und sei nun seit 1955 mit Sonderauftrag erfolgte Unterstützung der Steyler Mission durch als „Wehrmachtskaplan“ an philippinischen das Bundesministerium für Verteidigung, wie in Schulen tätig. der Zeit des Kalten Krieges mit Mitteln der militärischen Ausrüstungshilfe innerhalb des Das Kürzel SVD wird nicht aufgelöst, offen- weltanschaulichen Ringens um Einflusssphären sichtlich wird von Herrn W. vorausgesetzt, dass auf subtile Weise die eigene Position gestärkt der Adressat die Auflösung kennt und es sich bei werden sollte. der SVD um die Societas Verbi Divini, die „Gesellschaft vom Göttlichen Wort“, besser Das missionarische Wirken des katholischen bekannt als „Steyler Missionare“, handelt. Da Ordens wurde als dem Kommunismus funda- die Missionsprokur dieses katholischen Ordens mental entgegengesetzt begriffen, demzufolge in St. Augustin bei Bonn liegt, war dies vielleicht wurde eine Förderung der Missionare, so banal tatsächlich so und bei einem prononciert katholi- sie auf den ersten Blick wirken mochte, in deren schen Minister möglicherweise ohnehin zu er- Wirkungsbereich auch als ein Instrument zur warten. Schwächung des weltanschaulichen Gegners angesehen. Sie stellte letztlich nichts anderes dar, Herr W. schreibt weiter, Pater B. habe überall, als ein weiteres, vielleicht subtileres, Positions- wo er in dieser Funktion bisher gewirkt habe, beziehen innerhalb des Kalten Krieges. Die Un- „die ersehnte Goldmedaille der Wehrmacht“ für terstützung der Mission gewann damit aus Sicht besonders gute Leistungen hinterlassen. Dies sei des Verteidigungsministeriums dieselbe Bedeu- auch an der jetzigen, seiner dritten Schule, in tung wie die militärische Ausrüstungshilfe für Tagbilaran sein Ziel. Hier wäre es nun etwas irgendeinen afrikanischen oder asiatischen Staat. schwerer, weil „ein abgefallener Katholik“ eben- falls eine Schule unterhielte und alles versuchen würde, der katholischen Schule den Rang Instrument der ideologischen abzulaufen. Doch es ginge ja schließlich nicht Auseinandersetzung? um die Goldmedaille, sondern über diese um die Anerkennung der Schule und damit um Werbung Mit Eingang vom 28. August 1962 wird im Bun- für sie und ihre Studenten. In Herrn W.s Worten: desministerium für Verteidigung ein seltsamer „Das allerletzte und das Hauptziel der katholi- Beschaffungsvorgang in Gang gesetzt, der hinter schen Schule ist (sic!) ja die Seelen der Schüler“. seiner vordergründigen Skurrilität vorherrschen- de politische Sichtweisen widerspiegelt. Das Damit kommt der Schreiber zum Kern des eingegangene Schreiben stammt von einem Anliegens: „Zu diesem Zweck möchte er mit dem Herrn W. aus Düsseldorf und wendet sich an den Schellenbaum Menschen fangen nicht für die Verteidigungsminister Strauß persönlich. Herr Schule sondern für Christus.“ Die hervorge- W. schreibt nicht in eigener Sache, sondern hobene Passage des Zitats wurde mit Bleistift sendet als Anlage ein Gesuch eines Paters B. mit. unterstrichen, vermutlich von Bundesminister Strauß selbst, der das Schreiben abgezeichnet und Ein Beschaffungsvorgang in den Geschäftsgang gegeben hat. Herr W. fährt fort, und darin liegt der Kern der Argumentation Beide Schreiben gehen nun am 31. August vom und wohl auch der im folgenden nie ausge- Ministerbüro an die Abteilung W des Mini- sprochenen Begründung für die Bewilligung des steriums, zuständig für Verteidigungswirtschaft Antrages: „Uns kann und darf es nicht gleich- und hier an die Unterabteilung W I (Verteidi- gültig sein, ob Asien von Kommunisten oder gungswirtschaftliche Planung), die wiederum Christen regiert wird“. Abschließend folgt die Herrn W. am 25. September 1962 mitteilt, dass Bitte um wohlwollende Prüfung des Antrages. der Schellenbaum nicht vorrätig sei und erst beschafft werden müsse, was voraussichtlich Es folgt das Schreiben des Paters B. aus Tagbila- zwei Monate dauern würde. Das Schreiben ran vom Holy Name College vom 6. Juli 1962 an schließt mit: „Ich darf Sie darauf aufmerksam den „Herrn Bundeswehrminister“. Pater B. machen, dass diese Maßnahme eine ganz schildert sich als Danziger, der seit 1939 in besondere Ausnahme im Interesse der politi- Ostasien als Steyler Missionar tätig ist, seit 1955 schen und kulturellen Beziehungen darstellt.“ in den Philippinen. Er erklärt, dass an allen philippinischen Kollegien und Universitäten Auf dem entsprechenden Entwurf des am 26. eigene „departments“ für Reserveoffiziere einge- September abgegangenen Schreibens findet sich gliedert seien, die jeder Student verpflichtet sei noch ein Vermerk, dass dieses vor Abgang über zu besuchen und an denen die Ausbildung durch den Staatssekretär dem Minister vorgelegt wurde eigens bestimmte „Wehrmachtsoffiziere“ erfol- und die Kosten in Höhe von 1800 DM aus den gen würde. Mitteln zur Ausrüstungshilfe für andere Staaten genommen werden sollen. Abgezeichnet wurde Er sei hier als Militärkaplan und Sonderbeauf- dies am 24. September vom Staatssekretär. tragter der Schulverwaltung tätig und könne somit den Kurs beeinflussen, erste Preise bei den Es folgt im Vorgang ein handschriftlicher, unda- „tactical inspections“ wären bisher erzielt wor- tierter und nicht unterzeichneter Vermerk, auf den. Er hoffe, auch dieses Jahr seine Truppe - dem die in der Folge einzuschaltenden Dienst- also seine Schüler und Studenten - zum Sieg stellen notiert sind. Hier wird erstmals festge- führen zu können. Dann kommt Pater B. zu halten, dass der Schellenbaum ohne Fahne seinem eigentlichen Anliegen: „Unsere 30köpfi- auszuliefern sei. Die Auslieferung soll an Herrn ge Musikkapelle hilft uns zum schnittigen W. in Düsseldorf erfolgen. Der Beschaffungs- Marsch und so mancher deutsche vertraute Ton gang läuft nun weiter, ausgehend vom Referat W erfüllt Tagbilaran. Das könnten andere Schulen I 2 (a), zuständig unter anderem für Rüstungs- auch noch leisten. Wenn aber plötzlich an der material, über das Referat W III 6, in der Durch- Spitze unserer Truppe ein Schellenbaum auf- führung der Beschaffungsprogramme zuständig tauchte, dann wären wir mit einem Schlage, das unter anderem für Unterkunftsmaterial und was ich wünschte, unerreichbar in der Erschei- mobiles Feldgerät und von diesem zur Wehr- nung. Damit ziehen wir neue Schüler an, ver- bereichsverwaltung VI in München, die eine grössern unsere Erziehungsmöglichkeit und entsprechende Firma beauftragen soll. erreichen unser missionarisches Ziel. Alles ist gut, wenn es nur zu unserm letzten Ziele führt: Im weiteren Fortgang der Beschaffung treten nun Glaubensverbreitung.“ jedoch Verzögerungen ein. Zunächst erfährt das Referat W I 2 (a) im Februar von der WBV VI, Der unterstrichene Teil des Zitats wurde wieder dass die zunächst beauftragte Firma wieder mit Bleistift markiert, an der linken Seite des abgesagt habe. Am 10. Mai schließlich fragt Herr Zitats befindet sich mit Bleistift ein Längsstrich, W. selbst beim Ministerium nach, wie die Sache links davon steht „1800.-“. Pater B. bekräftigt denn nun stünde, da jetzt ja bereits über sieben seine Bitte, betont, er wäre auch mit einem ge- Monate vergangen seien. Daraufhin bitten die brauchten, selbst einem abgenutzten Schellen- Referate W III 6 und W I 2 (a) die WBV VI um baum zufrieden, auch nur Einzelteile nehme er Beschleunigung der Angelegenheit. Nunmehr gerne und er versichert im voraus seinen Dank. meldet die WBV VI am 20. Mai zurück, wegen Er schließt mit den Worten: „Möge der deutsche Facharbeitermangel bei der neu beauftragten Schliff hier durch eine sichtbare Grossherzigkeit Firma verzögere sich die Beschaffung erneut. Es zum Siege geführt werden.“ kommt zur Zusicherung der Auslieferung Ende Juni, am 23. Juli ist sie schließlich tatsächlich Weitere Beschaffungen erfolgt. Allerdings wurde nun der Richtpreis überschritten, die Kosten belaufen sich auf Noch in zwei weiteren Fällen bemühte sich das 1987,18 DM statt 1800 DM, was von der WBV Verteidigungsministerium zu Gunsten der Stey- VI mit der Monopolstellung der beauftragten ler Mission. So wurden 1964 an die Mission fünf Firma begründet wird. kleine Transport- und Passagier-Flugzeuge vom Typ Do-27 A 4 verkauft, unter kostenlosem Ein- Mit Schreiben der Missionsprokur der Steyler bau ziviler Funkgeräte. Diese Maschinen sollten Mission in St. Augustin an den Bundesminister zum Teil in Neuguinea, zum Teil im Kongo ein- der Verteidigung vom 29. Januar 1964 wird die gesetzt werden. Ob die von der Mission erbetene Übernahme des Schellenbaums von Herrn W. Freistellung eines Bundeswehrpiloten zur Über- bestätigt. Abschließend findet sich ein Schreiben führung zweier Maschinen in den Kongo ge- Herrn W.s vom 12. Juni 1964 an das Minis- währt wurde, ist dabei aus dem Vorgang selbst terium, in dem dieser mitteilt, dass die Schule nicht ersichtlich. Pater B.s bei den jährlichen Vergleichen als beste abgeschnitten hätte:„[...] dazu wird wohl nicht Ende 1964 setzt schließlich der dritte und letzte wenig der Schellenbaum beigetragen haben“. Er Fall ein. Ein Steyler Missionar aus Neuguinea bedankt sich für die großzügige Spende und bemüht sich hier, ein geländegängiges Motorrad kündigt einen Brief Pater B.s mit Bildern an, der oder einen Jeep aus Bundeswehrbeständen sich jedoch nicht im Vorgang befindet. kaufen zu können. Sein Anliegen findet ebenfalls Unterstützung, wird aber schließlich im Februar Der beschaffte Gegenstand mutet in seiner 1965 zuständigkeitshalber an das Bundesminis- Charakterisierung als „Rüstungsmaterial“ skurril terium für wirtschaftliche Zusammenarbeit an. Auch die Hintergründe wirken zunächst eher weitergegeben. Hintergrund ist eine Rüge des amüsant und man könnte versucht sein, den zu- Bundesrechnungshofes für die Lieferung des ständigen Beamten, ja selbst dem Minister zu Schellenbaums an die Steyler Mission, weil unterstellen, sie hätten die Möglichkeiten ihrer dieser aus Mitteln der hierfür nicht gedachten Behörde genutzt, um einem seltsamen Patron Ausrüstungshilfe finanziert worden war. Da die eine Freude zu bereiten. Dass man sich über den von den Missionaren gewünschten Gegenstände direkten Ton des Paters amüsiert haben mag militärischer Art waren, ist es an sich nur natür- dahingestellt lassend, wäre dies insgesamt jedoch lich, dass sich das Verteidigungsministerium zu kurz gegriffen. „Uns kann und darf es nicht zunächst als zuständig empfand. Da das Wirken gleichgültig sein, ob Asien von Kommunisten der Missionare grundsätzlich als positiv bewertet oder Christen regiert wird“ - In diesem Zitat liegt wurde, bemühte man sich eben im Rahmen der sicherlich die Wurzel der positiven Behandlung eigenen Möglichkeiten um bestmögliche Unter- des Antrages durch das Ministerium, drückt dies stützung. doch eine politisch-weltanschauliche Grund- einstellung aus, die zweifellos konform ging mit Gegenüber der Mission wurde nun als der in Grundanschauungen der Unionsparteien. derartigen Beschaffungsanliegen zukünftig rich- tige Weg als über das Ministerium für wirt- Hinter der Bewilligung des Schellenbaums als, schaftliche Zusammenarbeit und den Katholi- wie es an einer Stelle heißt, „besondere Aus- schen Missionsrat gehend bezeichnet, unter nahme im Interesse der politischen und kulturel- Inanspruchnahme von Mitteln des Haushalts- len Beziehungen“ verbirgt sich also von Seiten titels für die Förderung von kleinen Vorhaben der des unionsgeführten Ministeriums eine bewusste christlichen Kirchen. Die eigenständige Ent- Unterstützung des missionarischen Wirkens wicklungs- bzw. Ausrüstungshilfe des Verteidi- eines christlichen Ordens als einem im weltan- gungsministeriums für die Steyler Mission fand schaulichen Ringen zwischen Kommunismus damit im Februar 1965 ihr Ende. und westlichem Modell die gegnerische Seite schwächenden und so die eigene Seite unter- Thomas Menzel stützenden politischen Handeln. Anmerkung

1) Der Vorgang befindet sich im Bundesarchiv-Mili- tärarchiv in einer Akte des Bestandes Bundesministerium der Verteidigung; Bundesarchiv, BW 1/2018. Neues Angebot im Internet: Zentraler Zugang zu SED-Archivgut

Seit dem 13. Mai 2005 können Interessierte im Das Angebot Internet unter http://www.bundesarchiv.de/sed- archivgut/ gebündelte Informationen über die Was findet nun der Nutzer auf der Webseite zentrale und regionale archivalische Überliefe- „SED-Archivgut“? Die Startseite liefert die rung der Sozialistischen Einheitspartei Deutsch- wesentlichen Inhaltsangaben und gliedert sich in lands (SED) finden. Die regionale und zentrale drei Bereiche. Der obere, blau unterlegte Balken schriftliche Hinterlassenschaft der SED wird kann als grobes Inhaltsverzeichnis angesehen erstmalig virtuell an einer Stelle zusammenge- werden. Er präsentiert die sechs geschaffenen fasst, beschrieben und erläutert. Dies macht auch Informationsfelder. Die linke Leiste gibt einen den früheren engen Zusammenhang zwischen Überblick über die beteiligten Archive. Bei Inte- zentralen Gremien und regionalen Parteiorga- resse kann der Besucher sofort deren Internetsei- nisationen deutlich. Der Präsident des Bundes- ten aufrufen. Zur ersten territorialen Orientie- archivs Professor Dr. Hartmut Weber stellte das rung erscheinen in der Mitte zwei Karten mit der Webangebot mit den Worten vor: „Archive von Verwaltungsstruktur der DDR nach Bezirken Bund und Ländern schaffen in gemeinsamer (Mitte 1952 – Mai 1990) bzw. der Gliederung Aktion eine neue Transparenz über ihre Bestän- nach den fünf neuen Bundesländern (ab Mai de. Damit erhält die Forschung und die interes- 1990), die eine entsprechende Zuordnung er- sierte Öffentlichkeit neue Möglichkeiten, sich möglichen. Über die Karten können die SED- über die Geschichte der DDR und den Einfluss Beständelisten der einzelnen Länder und der der Staatspartei SED zu informieren.“ Zentrale aufgerufen werden.

Dr. Angelika Menne-Haritz, Direktorin der Stiftung, Prof. Dr. Hartmut Weber, Präsident des Bundes- archivs, Ute Räuber, Bundesarchiv, bei der Vorstellung am 13. Mai 2005. Foto: Bundesarchiv Startseite des Netzwerkes SED-Archivgut.

Die Rubrik „Benutzung“ beinhaltet Antworten ginnen und Kollegen der zuständigen Archive auf häufig gestellte Fragen zum SED-Schriftgut. anfertigten, zeigen eine unterschiedliche Infor- Sie gibt Auskunft über die heutigen Rechts- mationsdichte und ein verschiedenartiges Bild. grundlagen der Benutzung, über den Verbleib der Sie bieten die Möglichkeit, relevante Archiv- Mitgliederunterlagen, die Besonderheiten der bestände schnell aufzufinden. Eine Einleitung SED-Kaderakten, über Recherchemöglichkeiten mit Hinweisen zu dem jeweiligen Bezirkspar- bei Rehabilitierungsanträgen und Rentenan- teiarchiv oder dem Zentralen Parteiarchiv er- fragen, über das SED-Parteiarchivwesen und die gänzt diese Informationen. Überlieferungslage in den Archiven. Ange- reichert wurde dieser Teil mit relevanten Do- Die Beständelisten umfassen die vorhandenen kumenten, die zeigen, dass die überwiegende Archivalien der jeweiligen Parteigremien, ein- Mehrheit der Vorgänge im SED-Apparat von schließlich der nachgeordneten Kreisleitungen Regularien bestimmt wurde. Eine kleine Aus- und abgabepflichtigen Grundorganisationen der wahl an Literaturhinweisen zu diesem speziellen SED sowie der Vorläuferorganisationen KPD Thema ergänzt die Rubrik. und SPD (1945/46) in der Region. Überwiegend enthalten sie auch Bestandsbezeichnung, Sig- Im nächsten Abschnitt können die „Bestände- natur, Laufzeit, Umfang und Findhilfsmittel. listen“, das Kernstück der Internetpräsentation, Vereinheitlicht wurden das Titelblatt und die ausgewertet werden. Die Startseite bietet einen Grobgliederung. Zu einem späteren Zeitpunkt Überblick, wo sich heute die Überlieferung der können die Angaben der Beständelisten im Zuge Parteiarchive befindet und gibt die aktuellen der weiteren Erschließung der SED-Bestände Adressen an. Die Beständelisten, die die Kolle- vervollständigt werden. Der Teil „Führungsgremien“ liefert Angaben über führende Funktionäre und Tagungen der Spitzengre- mien der zentralen und regionalen Ebene. Als zusätzliche Funktion wird die Suchmaschine Im November 2003 fand das erste Arbeitstreffen MidosaSEARCH angeboten. Mit deren Hilfe der sechzehn Kolleginnen und Kollegen im kann der Benutzer nach konkreten Begriffen Bundesarchiv in Berlin statt. Zwei Archivarinnen über alle Bestände suchen und erhält dabei der SAPMO legten Entwürfe vor und erläuterten archivübergreifende Ergebnisse. Forscht er bei- ihre Vorstellungen, die weitgehend akzeptiert spielsweise zur Entwicklung der Kinderheime in wurden. Für die anstehende Arbeit wurde eine der DDR und möchte wissen, ob Schriftgut Projektgruppe gebildet, deren Mitglieder die relevanter Grundorganisationen vorhanden ist, Entwürfe der Texte erarbeiteten, diskutierten und kann er über den Suchbegriff „Kinderheim“ zwei den Teilnehmern des Arbeitstreffens zur Kennt- Grundorganisationen ausfindig machen und sich nisnahme, Korrektur oder Ergänzung schickten. konkret an die Archive, die heute das Schriftgut Die umfangreichen Listen zu den SED-Bestän- verwalten, wenden. den fertigten die Kolleginnen und Kollegen der zuständigen Archive an. Im dritten Teil, im Glossar, werden 55 Begriffe aus dem SED-Sprachgebrauch erläutert. Die An- Die gesamte technische Umsetzung des Vorha- gaben basieren auf der Auswertung der Original- bens erfolgte im Bundesarchiv. Hier wurden die dokumente (u. a. Statut der SED, Beschlüsse des umfangreichen Angaben virtuell zusammenge- Politbüros bzw. des Sekretariats des ZK der fasst sowie aufwendige Ergänzungen und Kor- SED). rekturen vorgenommen. Auf dem zweiten Ar- beitstreffen im November 2004 im Landesarchiv Im vierten Teil „Führungsgremien“ findet der Berlin präsentierte die Projektgruppe eine De- Nutzer Namenslisten führender Funktionäre (u.a. moversion der Internetseite und stellte sie zur Mitglieder und Kandidaten des Politbüros des Diskussion. Bis das neue Informationsangebot ZK der SED, Mitglieder des Sekretariats des ZK im Mai endlich ins Netz gestellt werden konnte, der SED, 1. Sekretäre der Bezirksleitungen der war jedoch noch viel Arbeit zu leisten. SED) und Angaben zu Tagungen der Spitzen- gremien der zentralen und regionalen Ebene. Mit dieser Internetseite verbessern die beteilig- ten Archive ihre Dienstleistungsangebote für die Es folgt ein umfangreiches Abkürzungsverzeich- Benutzer weltweit und hoffen auf regen Zu- nis, in dem etwa 2.700 Abkürzungen, welche in spruch. Das Bundesarchiv betreut die Webseite der DDR in verschiedenen gesellschaftlichen derzeit in seinem Internetangebot, solange bis Bereichen benutzt wurden, aufgelöst werden. ein deutsches Archivportal oder eine ähnliche Auch Bezeichnungen deutscher und internatio- Einrichtung die Trägerschaft übernehmen kann. naler historischer Parteien, Verbände und Orga- nisationen finden sich hier. Solveig Nestler, Ute Räuber Entstehungsgeschichte

Die sechste Rubrik schildert kurz die Entste- hungsgeschichte der Webseite. Diese haben Mit- arbeiterinnen und Mitarbeiter der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO), der Staats- bzw. Landesarchive der neuen Bundesländer sowie des Landesarchivs Berlin in einem Kooperations- projekt in nur achtzehn Monaten erarbeitet.

Die 96. Archivreferentenkonferenz hatte den Vorschlag, eine Internetseite „SED-Archivgut“ zu gestalten, begrüßt; die Direktoren der Lan- deshauptarchive und die Verantwortlichen im Thüringischen Hauptstaatsarchiv sowie im Refe- rat Archivwesen des Sächsischen Staatsminis- teriums des Innern stimmten dem Vorhaben zu. Digitalisiertes Archivgut im Internet: Internationaler Workshop

Der schnelle und bedarfsgerechte Zugang zu nalen bzw. internationalen Portalen zusätzliche Archivgut im Internet ist eine zentrale Aufgabe Erschließungsinformationen zu Archivgut bereit- für moderne Archive. Vor diesem Hintergrund stellen zu können. Existierende Zugangspunkte diskutierten Experten von archivischen Internet- wie beispielsweise die Research Library Group projekten bei einem internationalen Workshop ermöglichen bereits die Recherche in über innovative Wege zur Einbindung von digita- 50.000 Online-Findbüchern und umfangreichen lisiertem Archivgut in Online-Findmittel. Das Bilddaten. Dabei nutzen sie die Strukturierungs- Treffen fand unter der Leitung von Frau Prof. Dr. standards EAD und METS bisher noch unab- Angelika Menne-Haritz im Rahmen des Projekts hängig von einander. Eine Integration aller drei „Digitalisiertes Archivgut in Online-Findmit- Standards würde die Grundlage schaffen, mehr teln“ () vom 26. bis 29. Mai in Berlin- Informationen attraktiver darstellen zu können. Lichterfelde statt. Daniel V. Pitti von der EAD-Working-Group stellte in diesem Zusammenhang heraus, dass Das Projekt ist ein Vorhaben des Bun- eine Integration von EAC und EAD durch Ver- desarchivs und wird von der Andrew W. Mellon linkung bzw. Pointer möglich wäre. Wie die Ver- Stiftung in New York finanziell unterstützt. Es bindung zwischen METS und EAD aussehen geht um die Entwicklung einer neuartigen Web- kann, muss noch erprobt werden. präsentation. Ziel ist es, auf der Grundlage von internationalen Standards Online-Findmittel mit zusätzlichen Informationen und Digitalisaten zu Europäische Konferenz im Bundesarchiv versehen. Mehr Transparenz und verbesserter Komfort helfen Benutzern, ihren Archivbesuch Insgesamt bewerteten die Workshopteilnehmer gezielter vorzubereiten. die Strategie des Pilotprojektes als vielversprechend. Es setzt auf die Weiterent- Die Workshopteilnehmer kamen aus den USA, wicklung von OpenSource XML-Editoren und Frankreich, Großbritannien, Schweden, Polen Viewern für EAC und METS. Als Editor für und Deutschland, darunter sechs Mitglieder der EAD kann das Projekt auf der Software Mido- EAD-Working Group der Society of American saXML aufbauen. Archivists (SAA). Vom Bundesarchiv beteiligten sich neben Frau Prof. Dr. Angelika Menne- Haritz Herr Dr. Sebastian Barteleit, Herr Dr. Dirk W. Koß, Herr Rainer Jacobs, Frau Anke Löbnitz und Herr Marc Straßenburg.

Archivische Standards

Auf dem Workshop diskutierten die Teilnehmer die zukünftige Entwicklung internationaler ar- chivischer Standards. Dies sind Encoded Archi- val Description (EAD) zur Beschreibung von Findmitteln, Encoded Archival Context (EAC) zur Beschreibung der Herkunftstellen von Archivgut und METS (Metadata Encoding and Transmission Standard) zur Strukturierung von digitalisiertem Archivgut. Daneben wurden auch Erschließungs- und Präsentationswerkzeuge der beteiligten Länder vorgeführt. Daniel V. Pitti von der EAD-Working Group Wichtigstes Diskussionsthema war eine Verlin- erklärt die Verlinkungsmöglichkeiten kung der Standards, um auf diese Weise in natio- Foto: Bundesarchiv Die Erfahrungen können in ein zukünftiges Ar- Auf den Webseiten des Bundesarchivs erhalten chivportal Deutschland bzw. ein europäisches Sie bald unter der Rubrik Aktuelles/Projekte Gateway einfließen. Diese Portale werden Nut- mehr Informationen über die Hintergründe und zern einen zentralen Zugang zum Archivgut den aktuellen Stand des Projekts. Im nächsten deutscher bzw. europäischer Archive bereit stel- Heft der „Mitteilungen“ wird ebenfalls über den len. Ein erstes internationales Forum, bei dem Fortgang berichtet. die Projektergebnisse präsentiert werden, ist die Europäische Konferenz zu EAD und EAC im Anke Löbnitz Herbst 2006, die das Bundesarchiv ausrichtet. Eine Auseinandersetzung mit den Standards ist wegen der weiten internationalen Verbreitung und den positiven Erfahrungen anderer Staaten sinnvoll und unerlässlich.

Teilnehmer bei der Führung, von links nach rechts: Noel Marx, Daniel V. Pitti, Claire Sibille, Paul Bantzer, William Stockting, Dr. Sebastian Barteleit, Michael J. Fox, Anne van Camp, Anna Laszuk, Prof. Dr. Angelika Menne-Haritz, Merrilee Proffitt Foto: Bundesarchiv Festakt aus Anlass des 10-jährigen Beste- Förderverein ein Originalerinnerungstuch an das hens des Fördervereins der Erinnerungsstätte „Jom-Kippur-Fest“ an der Front vor 1870, das in der Erinnerungsstätte bislang nur als Der Förderverein der Erinnerungsstätte für die Reproduktion zu sehen war. Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschich- te ist im Mai 1995 angetreten, um ein „einge- Ein „öffentliches Bekenntnis“ zur Erinnerungs- schlafenes Museum“ - so die Regierungspräsi- stätte und deren Förderverein legte Staatssekretär dentin und Vorsitzende des Fördervereins Ger- Michael Sieber vom Ministerium für Wissen- linde Hämmerle - wieder wach zu rütteln. Diese schaft und Kunst, Baden-Württemberg, ab, in- Zielvorgabe hat der Förderverein mit Bravour dessen Oberbürgermeister Klaus-Eckhard Walker erreicht. Das belegen allein die 44.000 Besucher den „besonderen Stolz auf die Erinnerungsstätte und 225 Führungen durch das Rastatter „Frei- in unserer Stadt“ hervorhob. Der Vizepräsident heitsmuseum“ im Jahre 2004. Am 21. Mai wurde des Bundesarchivs, Dr. Klaus Oldenhage, ge- sein zehnjähriges Bestehen mit einem Festakt stand ein, dass die Erinnerungsstätte „vor zehn gewürdigt, den Karin Schnur aus Karlsruhe mit Jahren in einer Krise“ gewesen sei und „ohne den stimmungsvoller Harfenmusik umrahmte und Förderverein die Krise nicht überwunden hätte, Rolf Hochhuth mit einem sehr kritischen Vortrag zumindest nicht so schnell“. Dieses Verdienst würzte. komme „in erster Linie“ Müller-Wirth zu, mit dem er „eine gute Streitkultur gepflegt“ habe und Zehn Jahre Förderverein seien „zehn Jahre enga- der „Flagge gezeigt hat, als man als Demokrat giertes Arbeiten einer mitreißenden Vorstand- Flagge zeigen musste“. schaft, ein hervorragendes Zusammenarbeiten mit dem Bundesarchiv und eine vertrauensvolle Der scheidende Förderverein-Geschäftsführer Zusammenarbeit mit der Stadt Rastatt und dem nannte als sein Ziel: „Graswurzelarbeit leisten Land Baden-Württemberg“, bilanzierte Frau für eine streitbare Demokratie“. Es gelte, sich an Hämmerle. Dem Leiter der Erinnerungsstätte die Jugend zu wenden, damit aus der Erinne- seit 1997, Professor Dr. Wolfgang Michalka, rungsstätte für die Freiheitsbewegungen nie eine attestierte sie ein „riesengroßes Stück Engage- Erinnerungsstätte an die Demokratie werde. Dr. ment und Ideenreichtum“. Hans-Joachim Fliedner, eine „Koryphäe im kultu- rellen Leben Baden-Württembergs“ (Hämmerle) Sodann würdigte sie die Verdienste des scheiden- und Nachfolger Müller-Wirths, nannte als Ziel den ehrenamtlichen Geschäftsführers des Förder- des Fördervereins, die „Freiheitserinnerung“ vereins, Dr. Christoph Müller-Wirth, eines direk- neben die Erinnerung an den Holocaust zu setzen ten Nachfahren von Johann Georg August Wirth und das Andenken der Menschen, die für die (Herausgeber der „Deutschen Tribüne“, Organi- Demokratie ihr Leben ließen, hochzuhalten. sator und Hauptredner des Hambacher Festes 1832). „Zehn Jahre Förderverein ist zehn Jahre In seinem Festvortrag vor dem Auditorium - zu Dr. Christoph Müller-Wirth“, so Hämmerle. Ge- dem auch Romani Rose (Vorsitzender des Zen- mäß dem Leitwort „Dem Ideal der Freiheit die- tralrats Deutscher Sinti und Roma), Lucienne nen“ habe er mitgemacht, verändert, sich einge- Schmitt (Leiterin des Zentrums für Menschen- mischt und eingebracht. Gustav W. Heinemann rechte, Sélestat und Gustav-Heinemann-Preis- sei ihm Wegweiser gewesen bei seiner „Herange- trägerin), Professor Dr. Manfred Wichelhaus hensweise mit kleinen, aber realistischen Schrit- (Schwiegersohn des Initiators der Erinnerungs- ten“. stätte, Bundespräsident Gustav W. Heinemann) und der vormalige Ettlinger Oberbürgermeister Müller-Wirth habe Förderer und Sponsoren ge- Josef Offele gehörten - hielt der Schriftsteller wonnen und das Projekt Ehrenamt im Museum Rolf Hochhuth ein flammendes Plädoyer gegen großgeschrieben – „nachdrücklich, konsequent, soziale Missstände in unserer Gesellschaft. zäh und auf die Nerven fallend; doch er ärgert uns nicht, er begeistert uns, er führt uns an und Aus den vielfältigen Unterstützungen des För- treibt uns vorwärts“, betonte die Vorsitzende dervereins für die Arbeit der Erinnerungsstätte hinsichtlich Müller-Wirths fortbestehendem En- sind aus der Sicht des Bundesarchivs zwei be- gagement im Vorstand des Fördervereins. Als sonders zu würdigen: Zum einen ist es gelungen, Dank überreichte sie ein Kunstwerk von Klaus ehrenamtliche Helfer und Führer zu gewinnen Staeck. Das Freiheitsmuseum erhielt von seinem und gründlich in ihre Aufgaben einzuführen. Sie Regierungspräsidentin Gerlinde Hämmerle, die Vorsitzende des Fördervereins, überreicht Vizepräsi- dent Klaus Oldenhage und Wolfgang Michalka das Gedenktuch zum Jom-Kippur-Fest vor Metz 1870. Foto: Rainer Wollenschneider haben einen wesentlichen Anteil an dem ver- Herrn Bultmann erarbeitete Projekt „Schüler besserten Angebot und der dadurch bewirkten führen Schüler“ samt Unterrichtsmaterialien erheblichen Steigerung geführter Besuchergrup- auch über das Internet abgerufen werden kann. pen. Hierfür konnte der Förderverein Mittel der Robert-Bosch-Stiftung einwerben. Zum anderen Grundsätzlich bietet der Förderverein der Erin- hat der Förderverein sich engagiert dafür einge- nerungsstätte die willkommene Möglichkeit, setzt, dass ein didaktisches Konzept für die neue Projekte kurzfristig und pragmatisch zu realisie- Dauerausstellung erstellt werden konnte (siehe ren. Gerade die am 27. Januar 2005 in Rastatt „Mitteilungen aus dem Bundesarchiv“, 1/2004, eröffnete deutsch-polnische Wanderausstellung, S. 73 ff.). Diese Arbeit leistete Herr Studienrat die eine starke Resonanz erfährt, kann dafür Markus Bultmann, der für zwei Jahre für diese stellvertretend genannt werden. Das Bundesar- Aufgabe freigestellt wurde. Die anfallenden chiv dankt dem Förderverein für die nunmehr Kosten trug der Förderverein zur Hälfte. Der zehnjährige kreative Zusammenarbeit. wachsenden Nachfrage von Seiten der Schulen wird dadurch Rechnung getragen, dass das von Manfred Mayer, Wolfgang Michalka „Unbekannte Archive“: Tagen bis zum Kriegsende gingen jedoch fast 75 Das Theodor-Fontane-Archiv in Potsdam Prozent seiner Bestände verloren. Erst 1947 ging man daran, das Archiv wieder aufzubauen, zu- So unbekannt ist es vielleicht nicht. Und er nächst als Teil der Brandenburgischen Landes- schon gar nicht: Fontane. Zumindest hat sicher bibliothek, dann der Deutschen Staatsbibliothek fast jeder schon mal von „Herrn von Ribbeck auf zu Berlin (DDR). Seit 1992 arbeitet das Fontane- Ribbeck im Havelland“, „Effi Briest“ oder den Archiv als selbständige wissenschaftliche Ein- „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ richtung des Landes Brandenburg mit Sitz in der gehört, den Bestsellern Fontanescher Schreib- brandenburgischen Landeshauptstadt. kunst. In unmittelbarer Nähe des bekannten Holländerviertels, Am Bassin 4 in Potsdam, Das Archiv hat die Aufgabe, Handschriften, befindet sich mit dem Theodor-Fontane-Archiv Literatur und andere Medien zu Fontane und sei- der bedeutende Nachlass des weit über das ner Zeit zu sichern, zu sammeln, zu erschließen Brandenburgische hinaus bekannten Schrift- und durch seine Präsenzbibliothek, durch Publi- stellers Theodor Fontane (1819 - 1898). Nur kationen und Veranstaltungen der Forschung durch den entschlossenen Ankauf des Nachlasses ebenso wie der interessierten Öffentlichkeit Fontanes durch die Brandenburgische Provin- zugänglich zu machen. Etwa 18.000 Blatt zialverwaltung konnte 1935 dessen beginnende Originalhandschriften Fontanes und seines Zersplitterung unterbunden werden, nachdem es Umkreises wie Werkmanuskripte, Briefe, Notiz- der Familie nicht gelungen war, die Bestände an und Tagebücher (darunter Leihgaben der Staats- die Preußische Staatsbibliothek zu veräußern. bibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, der Humboldt-Universität zu Berlin und der Das Archiv befindet sich seit 1939 in Potsdam Berliner Stadtbibliothek) sowie ca. 12.000 Blatt und war zunächst der Landesbibliothek zuge- Abschriften und Kopien von Handschriften, ordnet. Durch den Bombenangriff am 14. April deren Originale zum Teil verschollen sind, 1945 und dessen Auswirkungen in den letzten zählen zu seinen Beständen.

Archivar Klaus-Peter Möller zeigt den originalen Bücherschrank, in dem sich auch heute noch ein Teil der Bücher befinden, die der Dichter „im Handgebrauch“ hatte. Foto: privat Darüber hinaus betreibt das Archiv Grundlagen- forschung, fördert und initiiert literaturwissen- schaftliche Forschungsprojekte und unterstützt Editionen zum Werk Fontanes.

Gemeinsames Publikationsorgan des Theodor- Fontane-Archivs und der Theodor Fontane Gesellschaft e. V. ist die halbjährlich erschei- nende Zeitschrift „Fontane Blätter“. Im Archiv befinden sich Arbeitsstellen zur Edition der Großen Brandenburger Fontane-Ausgabe und zur Personalbibliographie Theodor Fontane. Neben weiteren Publikationen gibt es eine Doku- mentation „Vermißte Bestände des Theodor- Fontane-Archivs“, die 1999 von Manfred Horlitz im Auftrage des Archivs verfasst wurde.

Neueste Projekte sind die Retrokonversion der Katalogsysteme, das Anlegen von Online-Kata- logen sowie eine Neuerschließung des Zeitungs- archivs.

Das Archiv steht allen offen, die sich für Litera- tur und für Fontanes Werk interessieren. Wäh- rend man die umfangreiche Sammlung von Primär- und Sekundärliteratur der Präsenzbiblio- thek ohne lange Wartezeiten nutzen kann, unter- liegt die Einsichtnahme in Handschriften zu wissenschaftlichen Zwecken besonderen Bedin- gungen.

Adresse: Theodor-Fontane-Archiv, Am Bassin 4, 14467 Potsdam Tel.: 0331- 0331-201396 Fax: 0331-2013970 Internet. www.fontanearchiv.de

Mitarbeiter: Dr. Hanna Delf von Wolzogen (Leiterin), Ingrid Düdder, Cornelia Becker, Peter Schaefer, Klaus- Peter Möller, Dr. Christine Hehle, Dr. Wolfgang Rasch.

Karl-Heinz Friedrich