69. Jahrgang, 15/2019, 8. April 2019

AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Pariser Friedensordnung

Jörn Leonhard Alan Sharp PARISER DAS PRINZIP NATIONALER FRIEDENSKONFERENZ 1919 SELBSTBESTIMMUNG UND SEIN GLOBALES VERMÄCHTNIS Birte Förster FRAUENFRIEDENSKONGRESS Peter Hoeres 1919 IN ZÜRICH VERSAILLER VERTRAG: EIN FRIEDEN, DER KEIN Robert Gerwarth FRIEDEN WAR ZUM KONTINUUM DER GEWALT VON 1917/18 BIS 1923 Eckart Conze „VERSAILLES“ ALS James Kitchen PROPAGANDAWAFFE GEGEN FRANKREICHS UND DIE WEIMARER REPUBLIK GROẞBRITANNIENS KOLONIALREICHE NACH Susanne Brandt DEM ERSTEN WELTKRIEG PARLAMENTSDEBATTEN ZUM VERSAILLER VERTRAG

ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung Pariser Friedensordnung APuZ 15/2019

JÖRN LEONHARD ALAN SHARP PARISER FRIEDENSKONFERENZ 1919 DAS PRINZIP NATIONALER SELBSTBESTIMMUNG Die Pariser Friedenskonferenz war ein Laborato- UND SEIN GLOBALES VERMÄCHTNIS rium für politische Ordnungsstiftung im 20. Jahr- Mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker hundert. In dem Beitrag werden die Erwartungen, erhielt zum Ende des Ersten Weltkrieges ein Konflikte und Handlungsspielräume ausgeleuchtet Grundsatz zusätzlichen Anschub, der auch und vor diesem Hintergrund Belastungen und jenseits der in Paris ausgehandelten Friedensver- Leistungen der Konferenz bilanziert. träge weltweit Machtverschiebungen nach sich Seite 04–11 zog und noch heute Fragen aufwirft. Seite 31–37

BIRTE FÖRSTER FRAUEN­FRIEDENSKONGRESS IN ZÜRICH 1919 PETER HOERES 1919 versuchten sich Pazifistinnen in Zürich VERSAILLER VERTRAG: als alternative Friedensmacherinnen. Ihr Ziel: EIN FRIEDEN, DER KEIN FRIEDEN WAR Frieden durch mehr soziale Gerechtigkeit, eine Der Versailler Vertrag brach mit den Grundsät- bessere Rechtsstellung von Frauen und das zen erfolgreicher Friedensschlüsse: Er demütigte nationale Selbstbestimmungsrecht auch für die die Verlierer, machte sie ökonomisch und mora- Kolonialbevölkerungen zu sichern. lisch für alle Gräuel und Schäden verantwortlich Seite 12–17 und etablierte ein widersprüchliches Regime, das keinen Neuanfang ermöglichte. Seite 38–44 ROBERT GERWARTH ZUM KONTINUUM DER GEWALT VON 1917/18 BIS 1923 ECKART CONZE In Westeuropa ist der Erste Weltkrieg im „VERSAILLES“ ALS PROPAGANDAWAFFE kollektiven Gedächtnis stärker präsent als die GEGEN DIE WEIMARER REPUBLIK Zeit des Übergangs vom Krieg zum Frieden. Im Nach dem Ersten Weltkrieg instrumentalisierten östlichen Europa sind hingegen die bitteren Jahre demokratiefeindliche Kräfte den Versailler zwischen 1917 und 1923 prägend, die bis heute in Vertrag für ihre Hetze gegen die Weimarer Denkmustern und Mentalitäten nachwirken. Republik. Das Scheitern der ersten deutschen Seite 18–23 Demokratie auf den Friedensschluss zurückzu- führen, ist jedoch eine verkürzte Darstellung. Seite 45–49 JAMES KITCHEN FRANKREICHS UND GROẞBRITANNIENS KOLONIAL­REICHE NACH DEM ERSTEN SUSANNE BRANDT WELTKRIEG PARLAMENTSDEBATTEN Der Erste Weltkrieg hatte erhebliche Folgen für ZUM VERSAILLER VERTRAG die Kolonialherrschaft der europäischen Sieger- In der Diskussion über die Bestimmungen des mächte. Die Gründung des Völkerbundes und Versailler Vertrages in Deutschland wurden das Aufkommen bedeutender nationalistischer „Schmach“ und „Schande“ zu zentralen Begriffen. Bewegungen forderte die Kolonial­herrschaft Das spiegeln auch die Debatten in der National- nach 1918 grundsätzlich heraus. versammlung beziehungsweise im Reichstag der Seite 24–30 Weimarer Republik wider. Seite 50–53 EDITORIAL

Paris, 1919: Von allen fünf Kontinenten sind zehntausend Vertreter von Staaten, Nationen und Interessengruppen in die französische Hauptstadt gereist, wo nach dem Ende des „Großen Krieges“ über den Frieden verhandelt wird. Die Erwar- tungen sind hoch: Nichts weniger als „ewiger Frieden“ ist das Ziel, und große Hoffnungen sind mit dem 14-Punkte-Programm von US-Präsident Woodrow Wilson verbunden, mit dem er Grundsätze für eine Nachkriegsordnung prokla- miert hat, wie das Ende der Geheimdiplomatie, den Abbau von Handelsschran- ken, globale Abrüstung, nationale Selbstbestimmung und die Schaffung einer zwischenstaatlichen Organisation zur dauerhaften Friedenssicherung. Von ihrem Beginn im Januar an sind die Gespräche, die zunächst im Rahmen einer interalliierten Vorkonferenz unter Ausschluss der besiegten Mittelmächte stattfinden, überschattet von den gegensätzlichen Interessen der Siegermächte. Der mühsam erarbeitete Kompromiss, auf dessen Grundlage im Mai die Frie- densverhandlungen mit den Delegationen der Verliererstaaten beginnen, ist von Widersprüchlichkeiten geprägt, und mit den bis zum Sommer 1920 unterzeich- neten Friedensverträgen von Versailles mit dem Deutschen Reich, von Saint- Germain mit Österreich, von Neuilly mit Bulgarien, von Trianon mit Ungarn und von Sèvres mit dem Osmanischen Reich ist niemand zufrieden. „Ewiger Frieden“ stellt sich denn auch nicht ein: In Irland, im südlichen und östlichen Europa sowie in vielen Kolonien und den Mandatsgebieten des neu gegründeten Völkerbundes kommt es zu Aufständen, Revolutionen, Bürger- kriegen und zwischenstaatlichen Konflikten. In Deutschland sorgt insbesondere Artikel 231 des Versailler Vertrages, der dem Deutschen Reich und seinen Verbündeten die alleinige Kriegsschuld zuschreibt, für Entsetzen und bietet den Republikfeinden eine Steilvorlage. Vor diesem Hintergrund und mit dem Wissen um den zwanzig Jahre später beginnenden Zweiten Weltkrieg geht häufig unter, wie wegweisend die Diskussionen von 1919 für die heutige Weltordnung gewe- sen sind – nicht nur jene in Paris, auch jene in Zürich auf dem parallel stattfin- denden Frauenfriedenskongress.

Anne-Sophie Friedel

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ERWARTUNG UND ÜBERFORDERUNG Die Pariser Friedenskonferenz 1919 Jörn Leonhard

Im Januar 1919 schien Paris dem jungen briti- HOFFNUNGEN UND schen Diplomaten Harold Nicolson wie eine INTERESSENGEGENSÄTZE „noch vom Nervenschock befallene Hauptstadt“. Das Gewimmel an Menschen, das Flirren der Er- Die Pariser Friedenskonferenz war eine Veran- wartungen, das Nebeneinander von Nachrich- staltung von bisher unbekannten Ausmaßen, ein ten und Gerüchten bedeuteten eine enorme phy- Versuchsraum für internationale Ordnungsstif- sische und psychische Herausforderung. Paris, tung im 20. Jahrhundert. 03 Ein Zentrum der Welt so Nicolson, „verlor für die Dauer dieser paar war Paris im Frühjahr und Sommer 1919 nicht al- Wochen seine Seele. Das Gehirn von Paris, die- lein wegen der geografischen Agenda, die von Sa- ses glorreiche Produkt westlicher Zivilisation, moa im Pazifik, dem ostasiatischen Kiaut­schou hörte auf zu funktionieren. Die Nerven von Pa- und Ostafrika über Mossul, Albanien, Teschen ris schrillten misstönend durch die Luft.“ Schon und Danzig bis nach Eupen-Malmedy an der bel- bald empfand er die Größe der Stadt, die Theater, gisch-deutschen Grenze reichte. Zu den Vertre- Konzerte und Museen, den Verkehr und ein hoch tern der alliierten und assoziierten Siegermächte nervöses Publikum als Hindernis für die not- und den offiziellen Delegationen aus unabhän- wendige Konzentration, die doch alle brauchten, gigen Staaten sowie der britischen Dominions um sich der Architektur des Friedens widmen Kanada, Australien, Neuseeland und Südafri- zu können: „Wir kamen uns vor wie Chirurgen, ka kamen weitere Abordnungen aus Indien und die eine Operation mitten im Ballsaal vornehmen Ägypten, die keinen offiziellen Status hatten, und sollten, mit allen Tanten und Anverwandten des selbst verschiedene Gruppen der Kosaken aus Patienten ringsherum.“ 01 dem ehemaligen Zarenreich hatten Vertreter nach Das lang ersehnte Ende des Krieges schlug Paris entsandt. Insgesamt umfasste die Konferenz sich in hohen Erwartungen für die auszuhandeln- etwa 10 000 Teilnehmer – Staatschefs und Regie- de Friedensordnung nieder, die nicht nur europä- rungsvertreter, Diplomaten und zahlreiche Ex- ische Gesellschaften prägten, sondern auch welt- perten für militärische, finanzielle und rechtliche weit vernehmbar waren. Zugleich erschienen die Fragen, aber auch Wirtschaftsvertreter und Hun- ungeheuren Aufgaben der Friedenskonferenz derte Journalisten aus aller Welt, die aus der Frie- nach dem Ende der multiethnischen Imperien der denskonferenz auch einen globalen Medienmo- Habsburger, Romanows und Osmanen als eine ment machen sollten. Am Gesamtplenum, das auf fast übermächtige Herausforderung, in der sich Vorschlag des US-Präsidenten Woodrow Wilson bereits eine strukturelle Überforderung andeute- den französischen Premierminister Georges Cle- te. Auch der aus Irland stammende Korrespon- menceau zum Vorsitzenden wählte, und den 58 dent des „Daily Telegraph“, Emile Joseph Dil- Ausschüssen nahmen bis zu 1000 Mitglieder teil. lon, empfand die Stimmung in der französischen Auch die Kosten der Konferenz waren enorm. Hauptstadt als widersprüchlich. So sehr ihn die Allein das britische Außenministerium wand- Versammlung der ganzen Welt in der Metropo- te bis September 1919 über 205 000 Pfund Ster- le faszinierte, so aufmerksam registrierte er auch ling für Hotels, Reisen und Verpflegung der briti- die Kluft zwischen den Abendgesellschaften und schen Delegation auf. 04 Konzerten der Politiker und Diplomaten sowie Über den engeren Kreis der offiziellen De- den Einwohnern von Paris, die wenige Wochen legierten hinaus versammelte sich in Paris eine nach dem Ende des Krieges mühsam den Alltag kosmopolitische Gesellschaft, die eine eigene in- meisterten. 02 ternationale Öffentlichkeit mit zahlreichen per-

04 Pariser Friedensordnung APuZ sönlichen Netzwerken jenseits der Konferenzti- oder völkerrechtliche Fragen setzte, stand die Er- sche bildete, die 1919 lange überdauern sollten. öffnung der Konferenz im Zeichen des deutsch- Mit hohen Erwartungen kamen die Vertreter vie- französischen Konflikts und bald ausbrechender ler Kolonialgesellschaften aus Afrika und Asien Konflikte zwischen den Siegern. Mit einem ge- nach Paris – gerade sie setzten ihre Hoffnungen schichtspolitischen Akzent eröffnete der franzö- auf den Einfluss des US-Präsidenten und die glo- sische Staatspräsident Raymond Poincaré sie am bale Geltung des von ihm propagierten Selbstbe- 48. Jahrestag der Proklamation des deutschen Kai- stimmungsrechts der Völker. Der spätere Führer serreiches, die nach dem preußisch-deutschen Sieg der vietnamesischen Befreiungsbewegung, Ho am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Schlosses Chi Minh, zählte ebenso dazu wie der führende von Versailles stattgefunden hatte. Formal handel- Intellektuelle der Afroamerikaner, W. E. B. Du te es sich zunächst um eine „Vorbereitende Frie- Bois. Die zahlreichen Eingaben, etwa des Pan- denskonferenz“, zu der nur Vertreter der Sieger-, afrikanischen Kongresses, der Bewegung „Jung nicht aber der Verliererstaaten zugelassen waren. Algerien“ oder der Vietnamesen, zielten auf eine Erst in ihrer letzten Phase, nach der Übergabe des politische Statusverbesserung gegenüber den eu- Vertragsentwurfs an die bis dahin von allen Be- ropäischen Kolonialmächten. 05 In all diesen Fäl- sprechungen ausgeschlossene deutsche Delegation len ging es nicht zuletzt darum, den internatio- und danach an die Delegationen Österreichs, Un- nalen Moment der Pariser Friedenskonferenz zu garns, Bulgariens und des Osmanischen Reiches, nutzen und Öffentlichkeit für die Probleme des sollte sie zu einer allgemeinen Friedenskonferenz europäischen Kolonialismus in Afrika und Asien werden. 07 Von Anfang an war klar, dass der Frie- oder die Frage der Rassentrennung zu schaffen. 06 densvertrag mit dem Deutschen Reich im Mittel- Im Gegensatz zu den großen Erwartungen, die punkt der Konferenz stand und sich die anderen auf eine grundlegend neue und globale Friedensar- Verträge an ihm orientieren würden. 08 chitektur im Namen progressiver Prinzipien, auf Angesichts der Vielzahl von Teilnehmern zeig- Transparenz der Verhandlungen und auf die Rolle te sich bald, dass effiziente Entscheidungsprozes- von Sachexperten für wirtschaftliche, militärische se nur innerhalb eines kleineren Kreises möglich waren. Unter den Großmächten USA, Großbri- tannien, Frankreich, Italien und Japan wurden die 6 01 Harold Nicolson, Friedensmacher 1919, 1934 , S. 76–79; substanziellen Fragen schließlich innerhalb des Vgl. Ferdinand Czernin, Die Friedensstifter. Männer und Mächte um den Versailler Vertrag, Bern 1968, S. 84; Jörn Leonhard, Der über- Rates der Vier, also der Staats- und Regierungs- forderte Frieden. Versailles und die Welt, München 2018, S. 651. chefs der vier alliierten Hauptmächte, Woodrow 02 Vgl. Emile Joseph Dillon, The Inside Story of the Peace Confe- Wilson, David Lloyd George, Georges Clemen- rence, New York 1920, S. 28–31. ceau und Vittorio Emanuele Orlando, behandelt. 03 Vgl. Harold William Temperley (Hrsg.), A History of the Doch bereits nach kurzer Zeit waren die Interes- Peace Conference of Paris, 6 Bde., London 1920–1924; Leonhard 09 (Anm. 1), S. 650–687; Manfred Boemeke/Gerald D. Feldman/ sengegensätze unübersehbar. Der US-Präsident Elizabeth Glaser (Hrsg.), The . A Reassessment konzentrierte sich auf den Völkerbund als Instru- after 75 Years, Cambridge 1998; Gerd Krumeich (Hrsg.), Versailles ment der kollektiven Sicherheit sowie die ihm un- 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung, Essen 2001; Jean- terstellten Mandatsgebiete, die aus den ehemaligen Jacques Becker, Le traité de Versailles, Paris 2002; Jeff Hay (Hrsg.), Kolonien des Deutschen Reiches und den Gebie- The Treaty of Versailles, San Diego 2002; David A. Andelman, A Shattered Peace. Versailles 1919 and the Price We Pay Today, ten gebildet wurden, die das Osmanische Reich Hoboken 2008; Timothy Baycroft/Conan Fischer (Hrsg.), After the im Nahen Osten verloren hatte. Die Satzung des Versailles Treaty. Enforcement, Compliance, Contested Identities, Völkerbundes wurde Teil des Versailler Vertrages London 2008; Alan Sharp (Hrsg.), The Versailles Settlement. Peace- mit dem Deutschen Reich und aller anderen Pa- making After the First World War, 1919–1923, New York 2008. riser Vorortverträge, doch gehörten ihm zunächst 04 Vgl. Manfred Berg, Woodrow Wilson. Amerika und die Neuordnung der Welt, München 2017, S. 163; Eberhard Kolb, lediglich die Alliierten, Assoziierten und 13 neu- Der Frieden von Versailles, München 2011, S. 49–53; Sally Marks, Behind the Scenes at the Paris Peace Conference of 1919, in: Journal of British Studies 2/1970, S. 154–180, hier S. 178. 07 Vgl. Czernin (Anm. 1), S. 10 ff. 05 Vgl. Erez Manela, The Wilsonian Moment. Self Determination 08 Vgl. Marcus Payk, Frieden durch Recht? Der Aufstieg des and the International Origins of Anti-Colonial Nationalism, Oxford modernen Völkerrechts und der Friedensschluss nach dem Ersten 2007, S. 141–175; Leonhard (Anm. 1), S. 837–852. Weltkrieg, Berlin 2018, S. 358–366. 06 Vgl. Margaret MacMillan, Die Friedensmacher. Wie der 09 Vgl. Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Versailler Vertrag die Welt veränderte, Berlin 2015, S. 533. Ersten Weltkriegs, München 2014, S. 950 f.

05 APuZ 15/2019 trale Staaten an, also ausdrücklich weder Russland Zukunft der deutschen Kolonien geprägt. Ange- noch eines der besiegten ­Länder. 10 sichts der Vielzahl an Themen, Akteuren und Ver- Aus der französischen Perspektive stellte die handlungsebenen zeichnete sich bald eine Tendenz Sicherheit gegenüber Deutschland den entschei- ab, komplizierte Detailregelungen an Experten zu denden Orientierungspunkt dar. Ein Wiederer- delegieren, denen aufgrund des wachsenden Zeit- starken Deutschlands musste in den Augen der drucks in vielen Fragen, die nicht wie die künftige französischen Regierung unter Georges Clemen- Behandlung Deutschlands im Zentrum standen, ceau und der Militärführung unter Marschall eine entscheidende Rolle zukommen konnte. Ferdinand Foch unter allen Umständen verhin- Anders als es die weltweit verbreiteten Fo- dert werden, und diesem Ziel dienten die Forde- tos der „Großen Vier“ suggerierten, waren die rung nach der Rheingrenze, aber auch die späte- Handlungsspielräume der wichtigsten politischen ren Bündnisse mit den neu entstandenen Staaten Akteure in Paris von Anfang an eingeschränkt: in Ostmitteleuropa. Ergänzt wurde die französi- zum einen durch die bereits zwischen Novem- sche Position durch die Forderung hoher Repa- ber 1918 und Januar 1919 vor allem in Ostmit- rationen, die nicht nur die erheblichen französi- tel- und Südosteuropa neu begründeten Staaten schen Verluste in Nordfrankreich kompensieren, wie Polen und die Tschechoslowakei, während sondern auch die deutsche Wirtschaftskraft lang- britische und französische Truppen im Nahen fristig eindämmen sollten. Osten ihre Interessenzonen sicherten, zum an- Der britische Premierminister David Lloyd deren durch die Dynamik von Konflikten, die George suchte vor allem die globale Position über das Kriegsende hinaus andauerten oder in- Deutschlands zu minimieren und konzentrierte folge des Ordnungsvakuums ab November 1918 sich daher auf die Themen Handelskonkurrenz, neu entstanden waren, wie etwa die Bürgerkrie- Flotte und Kolonien. In seinem Fontainebleau- ge in Russland oder Finnland. Schließlich standen Memorandum wandte er sich im Frühjahr 1919 die führenden Staats- und Regierungschefs in Pa- aber im Zeichen eines starken Antibolschewismus ris unter dem Eindruck großer innenpolitischer gegen eine zu weitgehende Schwächung Deutsch- und innergesellschaftlicher Erwartungen, die im lands oder gar seine territoriale Zerstückelung, die Verlauf des Krieges entstanden und ab November Teile der französischen Führung um Foch immer 1918 durch Wahlkämpfe und intensive Pressebe- wieder ins Spiel brachten. Die britische Delegation richterstattung gesteigert worden waren. 12 beharrte darauf, Deutschland als lebensfähige Kon- Schon am 24. Januar, also nur sechs Tage nach tinentalmacht zu erhalten, um der Gefahr einer ex- dem Beginn der Friedenskonferenz, zeigte sich pansiven bolschewikischen Revolution etwas ent- Woodrow Wilson im Plenum der Konferenz tief gegenzusetzen und ein langfristiges Gleichgewicht beunruhigt darüber, dass man an vielen Orten auf dem europäischen Kontinent zu sichern. 11 auf eine Strategie gewaltsam vollendeter Tatsa- chen setze und Gebiete okkupiere, „deren recht- AGENDEN UND mäßige Inhaber von der Friedenskonferenz be- HANDLUNGSSPIELRÄUME stimmt werden sollten“. Er warnte, „dass durch Gewalt erzwungener Besitz ernstlich die Ansprü- Die erste Phase von der Eröffnung am 18. Januar che jener schädigt, die solche Mittel anwenden“. bis zur Abreise Wilsons in die Vereinigten Staaten Auch der britische Premier Lloyd George blick- Mitte Februar, die bereits im Zeichen dortiger in- te mit zunehmender Sorge auf die Fortsetzung nenpolitischer Auseinandersetzungen um die Völ- der Gewalt nach dem Ende des Krieges. Gerade kerbundakte stand, war von Verfahrensfragen und die Territorien des Zarenreiches und der Habs- der Diskussion um die Völkerbundakte sowie die burger-Monarchie erschienen ihm wie „Mangro- vensümpfe, in denen die völkischen Wurzeln so 10 Vgl. Margaret MacMillan, Paris 1919. Six Months that Chan- ineinander verstrickt waren, dass sich kein Frie- ged the World, New York 2001, S. 53–106. densmacher in ihnen bewegen konnte, ohne sich 11 Vgl. David Lloyd George, Fontainebleau-Memorandum vom zu verfangen.“ 13 23. März 1919, in: Klaus Schwabe (Hrsg.), Quellen zum Friedens- schluß von Versailles, Darmstadt 1997, S. 156–166; Caroline Fink, The Peace Settlement, 1919–1939, in: John Horne (Hrsg.), 12 Vgl. Leonhard (Anm. 1), S. 852 ff. A Companion to , Malden 2010, S. 543–557, hier 13 David Lloyd George, The Truth about the Peace Treaties, 2 Bde., S. 543–547. London 1938, hier Bd. 1, S. 307. Vgl. Czernin (Anm. 1), S. 193 f.

06 Pariser Friedensordnung APuZ

Mit der vierwöchigen Abwesenheit des US- Ostmittel- und Südosteuropa als Stabilisierungs- Präsidenten entstand zwischen Mitte Februar faktor wirken. Doch faktisch entstanden keine und Mitte März 1919 ein Vakuum in Paris, das für homogenen Nationalstaaten, sondern neue „Na- viele Akteure der zweiten Reihe neue Spielräu- tionalitätenstaaten“ mit großen ethnischen und me schuf, vor allem für Wilsons Berater Edward religiösen Minderheiten, die den Minderheiten- House. Besonders die französische Seite nutzte schutz zur permanenten Aufgabe machten. 16 Kri- die Abwesenheit Wilsons, um eigene Bedingun- senverschärfend wirkten sich die italienischen gen durchzusetzen. Da sich in einigen Fragen wie Forderungen aus, die weit über die während des im Falle der deutschen Reparationen die britische Krieges gemachten Zusagen etwa für Südtirol Delegation der französischen Argumentation an- hinausreichten und sich symbolisch in der For- schloss, sah sich House im Februar und März derung nach Fiume zuspitzten, der heute kro- 1919 zu Kompromissen gezwungen. Gleichzeitig atischen Hafenstadt Rijeka. Im Nahen Osten brachten sich viele Experten in den Ausschüssen wurden die Hoffnungen vieler Araber und des zu den großen Themen der deutschen Grenzen Führers der arabischen Delegation in Paris, Prinz im Westen und Osten, den deutschen Reparati- Faisal, auf einen eigenen Staat im Gegenzug für onen und Abrüstungen ein, drohten aber immer ihre Kriegsleistungen gegen die Truppen des Sul- wieder, sich in Details zu verlieren. Schließlich tans enttäuscht. Hier bedeutete die britisch-fran- wurde in dieser Phase die Presse in Paris immer zösische Mandatslösung faktisch zunächst viel- deutlicher in die Kontroversen einbezogen, etwa fach die Fortsetzung einer kolonialen Praxis. 17 indem Journalisten Informationen zugespielt Den dritten thematischen Schwerpunkt und wurden, um die französische Öffentlichkeit ge- den Kern der Konferenz bildete ohne Zweifel die gen Lloyd Georges Haltung in der Frage der pol- Behandlung Deutschlands. Dabei entwickelte sich nischen Grenzen oder gegen Wilsons Position ge- der Versailler Vertrag mit seinen 440 Artikeln in genüber Frankreich zu mobilisieren. 14 15 Teilen, Anhängen und Ergänzungsdokumenten Nachdem Wilson am 15. März aus den USA zum bislang längsten und kompliziertesten Frie- zurückgekehrt war, eskalierten die Konflikte. Im densvertrag, der zugleich das Muster für alle an- Mittelpunkt standen nun verschiedene Themen- deren Friedensverträge darstellte. Die Behandlung bereiche, die immer wieder miteinander verfloch- Deutschlands war mit anderen Grundfragen der ten wurden. Zunächst ging es um die Aufteilung Konferenz verflochten: mit französischen Sicher- der deutschen Kolonien in Afrika und Asien und heitsinteressen genauso wie mit dem territorialen das neue Ordnungsmittel der Völkerbundman- Status Polens und der ökonomisch-finanziellen date. Dabei kam es zu einem erbitterten Konflikt Nachkriegsordnung, zumal angesichts der hohen um die Zukunft des ehemals deutschen Pacht- interalliierten Schulden. Während es hinsichtlich gebietes Kiautschou in China, das Japan zu Be- der Demilitarisierung Deutschlands bald zu trag- ginn des Krieges erobert hatte und behalten woll- fähigen Kompromissen kam, führten die Ausein- te. Nachdem bereits die japanischen Forderungen andersetzungen um die territorialen Bestimmun- nach einer Antidiskriminierungsklausel in der gen zu einer schweren Krise um den künftigen Völkerbundakte angesichts massiver Widerstän- Status des Rheinlandes, des Saarlandes und Dan- de in Australien und den USA gegen Immigran- zigs. 18 Als besonders kompliziert stellte sich das ten aus Asien nicht hatten durchgesetzt werden Reparationsproblem dar. Allein ihre genaue De- können, stand die Abreise der japanischen Dele- finition – Entschädigung unmittelbarer Kriegs- gation im Raum. 15 schäden oder Aufkommen für langfristige Kriegs- Zweitens rückte die Stabilisierung der post­ folgen, wie Pensionen – war hoch umstritten. imperialen Zusammenbruchzone in den Fokus. Die Kompromisslösung war bei näherem Hinse- Die Konversion großer Teile des ehemaligen Za- hen denkbar fragil, denn die Höhe der Reparati- renreiches und der Habsburger-Monarchie in souveräne Nationalstaaten nach dem Kriteri- um nationaler Selbstbestimmung sollte in Ost-, 16 Vgl. Erwin Viefhaus, Die Minderheitenfrage und die Entste- hung der Minderheitenschutzverträge auf der Pariser Friedens- konferenz 1919. Eine Studie zur Geschichte des Nationa­litäten­ 14 Vgl. Leonhard (Anm. 1), S. 854 f. problems im 19. und 20. Jahrhundert, Würzburg 1960. 15 Vgl. Bruce A. Elleman, Wilson and China. A Revised History of 17 Vgl. Leonhard (Anm. 1), S. 746–759. the Shandung Question, Armonk 2002, S. 93–110. 18 Vgl. ebd., S. 759–788.

07 APuZ 15/2019 onen wurde zunächst nicht festgelegt und Folge- Konferenz, denn auf der Basis dieses Entwurfs konferenzen aufgegeben. Artikel 231, auf den sich konnte man am 18. April die Deutschen nach in Deutschland die Wahrnehmung des Versailler Paris einladen, andererseits für die Siegermäch- Vertrages zusammen mit den Strafrechtsbestim- te und ihr Bemühen um eine Nachkriegsord- mungen gegen Wilhelm II. und andere Mitglieder nung. Der Preis für diese Leistung in den rund der politischen und militärischen Führung kon- zwölf Wochen seit dem 18. Januar war die Wider- zentrieren sollte, wurde schließlich in der Repa- sprüchlichkeit vieler Regelungen im Detail, die rationskommission von US-Experte John Foster das Ergebnis zahlloser Kompromisse war. Dulles formuliert, der eine theoretische Gesamt- Der US-Präsident war zu weitgehenden Kon- verantwortung Deutschlands mit der gleichzeiti- zessionen bereit, um die Völkerbundakte als Kern gen Anerkennung der beschränkten Zahlungsfä- der von ihm avisierten neuen Friedensarchitektur higkeit des Landes verknüpfte. Hier kollidierten zu realisieren. Beim Umgang mit den ehemaligen unübersehbar die unterschiedlichen finanziellen deutschen Kolonien akzeptierte er die britische und wirtschaftlichen Zielsetzungen der Sieger. 19 Forderung, Deutschland als Flotten- und Kolonial- macht auszuschalten. Allerdings fielen die ehema- KRISEN UND WIDERSPRÜCHE ligen deutschen Besitzungen in Afrika und Asien nicht einfach an Großbritannien und Frankreich. Die Krisenphase der Konferenz ab Mitte März Das Prinzip der vom Völkerbund verliehenen und 1919 zwang die führenden Politiker am 24. März von europäischen Großmächten übernommenen dazu, nur noch allein und mit Dolmetschern in Treuhänderschaft im Rahmen der Mandate bedeu- den Privatquartieren zusammenzutreffen und ab- tete einen entscheidenden Schritt zu einer Interna- solute Vertraulichkeit zu wahren. Die folgenden tionalisierung im Umgang mit Kolonialgesellschaf- 148 Sitzungen des Rates der Vier entwickelten sich ten. Es markierte ein neues Rechtsverständnis, das zum eigentlichen Entscheidungskern der Konfe- nicht von der traditionellen Legitimität kolonialen renz. Mitte April gelang schließlich ein Kompro- Eigentums durch Inbesitznahme ausging, sondern miss zwischen den Vereinigten Staaten, Frankreich von den prinzipiell gleichgewichtigen Interessen und Großbritannien in der Frage des Saarlandes, der Bewohner und der Treuhänder. das für 15 Jahre einen Sonderstatus unter Aufsicht Die Krisen der Konferenz rund um Territorien des Völkerbundes erhielt, während für das Rhein- wie das Rheinland, das Saargebiet, Danzig, ­Fiume land entgegen französischer Forderungen eine le- oder Kiautschou entwickelten sich, weil diese diglich temporäre Demilitarisierung bestimmt Orte als Symbole des Sieges oder der Niederlage wurde. Die Probleme mit den Forderungen Itali- emotional besonders aufgeladen waren. Hier wur- ens nach Fiume und Japans nach Kiautschou blie- de die Politik auf ganz neue Weise verräumlicht, ben dagegen bis Ende April bestehen. Als Wilson und gerade verlorene Gebiete sollten wie Phanto- unnachgiebig blieb, reiste die italienische Delega- me in den Nachkriegsgesellschaften weiterwirken tion unter massivem innenpolitischen Druck em- und Ansatzpunkte für einen aggressiven Revisi- pört ab und brachte die Konferenz an den Rand onsnationalismus bilden. Der international aner- des Scheiterns. 20 Angesichts der Belastung durch kannte Besitz von Gebieten schloss das Kriterium die Interessengegensätze und Machtasymmetrien ethnischer Zugehörigkeit ein – das verlieh dem zwischen den Siegern, durch globale Krisenherde Nationalstaat als Herrschaft über ein bestimmtes und die Instabilität der Situation in Deutschland Territorium, als Basis rechtlicher und politischer wuchsen die Zweifel, ob ein Friedensschluss über- Entscheidungen und als Raum national bestimm- haupt noch gelingen könne. ter Loyalität so enorme Bedeutung. 21 Der Mitte April vorgelegte Entwurf des Ver- Allerdings zeigte sich neben dem Prinzip sailler Vertrages stellte eine doppelte Stabilisie- der Territorialität ein neues Kriterium für die rungsleistung dar: einerseits für den Fortgang der

21 Vgl. Charles S. Maier, Consigning the Twentieth Century to 19 Vgl. ebd., S. 788–812; Bruce Kent, The Spoils of War. The History. Alternative Narratives for the Modern Era, in: American Politics, Economics, and Diplomacy of Reparations 1918–1932, Historical Review 3/2000, S. 807–831; ders., Transformation of Oxford 1989. Territoriality 1600–2000, in: Gunilla Budde/Sebastian Conrad/Oli- 20 Vgl. Holger Afflerbach, Italien als Siegermacht in Versailles ver Janz (Hrsg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und 1919, in: Krumeich (Anm. 3), S. 159–173. Theorien, Göttingen 2006, S. 32–55; Leonhard (Anm. 9), S. 18 f.

08 Pariser Friedensordnung APuZ

Asymmetrie von Machtbeziehungen zwischen henden Friedensvertrag stärken könne. 23 Dass den Siegern. Es verwies auf die finanziellen und Kiautschou Japan und nicht China zugesprochen wirtschaftlichen Machtpositionen, auf die Verfü- wurde, war eine Lösung, die in aller Deutlich- gungsgewalt über ökonomisch wichtige Ressour- keit das Glaubwürdigkeitsproblem bei der Um- cen wie Erdöl und globale Infrastrukturen wie setzung des Selbstbestimmungsrechts als Leitlinie Kanäle oder Seekabel. Die durch den Krieg neu der Konferenz aufzeigte. 24 begründete Stärke der Vereinigten Staaten, die demografische und finanzielle Schwäche Frank- BELASTUNGEN UND LEISTUNGEN reichs und die aus den interalliierten Schulden resultierende Einengung von Handlungsspiel- Frankreich, Großbritannien, Italien und den Ver- räumen unterstrich, dass die Friedenskonferenz einigten Staaten war es ab Ende 1917 gelungen, nicht im Triumph des Territorialismus aufging. eine funktionierende Kriegskoalition zu bilden. In den Konflikten entwickelten sich unter- Aber der Verlauf der Friedenskonferenz bewies, schiedliche Allianzen der Siegermächte je nach dass die Sieger an den Herausforderungen eines Gegenstand. Kooperierten die USA in den Terri- gemeinsamen Friedensprogramms immer wieder torialfragen mit Großbritannien, um eine franzö- scheiterten. 25 Nur durch Kompromisse, Notlö- sische Hegemonialposition auf dem europäischen sungen und um den Preis erheblicher Widersprü- Kontinent zu verhindern, standen in der Repara- che gelang es am Ende überhaupt, einen Vertrags- tionsfrage die US-amerikanischen Vertreter ge- entwurf fertigzustellen. Damit entfernte man sich gen die Delegationen aus London und Paris. Im von den Bedingungen jenes Friedens, auf dessen Gegenzug für das gegenüber Clemenceau formu- Basis die Vertreter Deutschlands am 11. Novem- lierte Versprechen einer vom Völkerbund unab- ber 1918 den Waffenstillstand unterzeichnet und hängigen Tripelallianz, also der faktischen Fort- ihre faktische Entwaffnung akzeptiert hatten. Da- setzung des Kriegsbündnisses, gelang es Wilson rin lag ein entscheidendes Glaubwürdigkeits- und und Lloyd George schließlich, die getroffenen Legitimationsdefizit, das durch den Ausschluss Vereinbarungen der Experten zu den Grenzver- der Besiegten von der Friedenskonferenz ver- läufen zu revidieren, die sonst sehr stark zulasten stärkt wurde. Während man in Paris an der Fik- Deutschlands ausgegangen wären. 22 tion einer Vorfriedenskonferenz festhielt, lag im Besonders aufschlussreich ist der Vergleich April 1919 ein weitestgehend ausformulierter De- zwischen dem Umgang mit den italienischen finitivfrieden vor, für den es keinen echten Ver- und japanischen Forderungen nach Fiume bezie- handlungsspielraum mehr gab, weil die Lösung hungsweise Kiautschou. In beiden Fällen gingen der Interessengegensätze zwischen den Siegern die Forderungen auf vertragliche Versprechen alle Konzessionspotenziale ausgeschöpft hatte. von London und Paris gegenüber Rom und To- Nach seinen Erfahrungen in Paris äußerte kio während des Krieges zurück, die Auseinan- sich ein desillusionierter Wilson bei seiner Rück- dersetzungen führten bei Wilson jedoch zu un- kehr in die Vereinigten Staaten vor dem US-Se- terschiedlichen Reaktionen, die exemplarisch nat: „Als ich diese Worte sagte (‚dass alle Völker sowohl die Widersprüche des Friedensschlusses ein Selbstbestimmungsrecht besäßen‘), sagte ich als auch die Verknüpfung der Agenden beleuch- sie ohne das Wissen um all die Nationalitäten, die teten: Hatte Italien der Völkerbundakte bereits Tag für Tag zu uns kommen (…). Sie wissen nicht vor den Auseinandersetzungen um Fiume zuge- und können sich nicht vorstellen, was für Ängs- stimmt, konnte Japan seinen Beitritt zum Völ- te ich ausgestanden habe, weil viele Millionen kerbund unter Vorbehalt stellen und Druck auf von Menschen sich Hoffnungen auf der Grund- die US-Delegation ausüben. Wilsons Berater lage dessen machten, was ich gesagt habe.“ 26 Die warnten vor dem eklatanten Bruch des Selbstbe- stimmungsrechts und der 14 Punkte, doch Wil- 23 Vgl. ebd., S. 18 f. son verwies darauf, dass Japan sonst einen Sepa- 24 Vgl. Leonhard (Anm. 1), S. 858 ff. ratfrieden mit Deutschland abschließen und so 25 Vgl. Leonhard von Muralt, Der Friede von Versailles und die dessen Position im Widerstand gegen den anste- Gegenwart, Zürich 1947, S. 78 ff.; Wilhelm Deist, Die militärischen Bestimmungen der Pariser Vorortverträge (1966), in: ders., Militär, Staat und Gesellschaft. Studien zur preußisch-deutschen Militärge- 22 Vgl. Klaus Schwabe, Einleitung, in: ders. (Anm. 11), S. 1–38, schichte, München 1991, S. 235–248, hier S. 247. hier S. 15. 26 Zit. nach Manela (Anm. 5), S. 215.

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Wirklichkeit komplexer ethnischer Gemengela- schutzverträgen gegenüber den ostmittel- und gen in weiten Teilen Ostmittel- und Südosteuro- südosteuropäischen Staaten die Bereitschaft ab- pas hatte man in Paris unterschätzt, und die in der zeichnete, staatliche Souveränität unter Berufung Praxis weder konsequente noch widerspruchs- auf übergeordnete Prinzipien zu durchbrechen. 29 freie Anwendung des Selbstbestimmungsrechts Hatten die Friedensverträge vom 17. bis ins der Völker vervielfachte das Problem. Vor diesem 19. Jahrhundert nach der Erfahrung der frühneu- Hintergrund entwickelte sich ein von außen je- zeitlichen Konfessions- und Bürgerkriege mit derzeit mobilisierbares Gewaltpotenzial, das mit der Oblivionsklausel die Idee eines „wohltätigen aggressiven Interventionsfantasien einherging. 27 Vergessens“ enthalten, so kam es in Paris zu ei- Das Ergebnis der Pariser Friedensverhand- ner starken emotionalen und symbolischen Auf- lungen war ein komplexer Kompromiss zwischen ladung, wie sich in der Behandlung der deutschen enttäuschten Siegern, der niemanden zufrie- Delegationen bei der Übergabe der Friedensbe- denstellte. Anders als auf dem Wiener Kongress dingungen Anfang Mai und in der Unterzeich- 1814/15 oder auf dem Berliner Kongress 1878 nungszeremonie am 28. Juni 1919 erwies. An die handelten die politischen Akteure nicht mehr als Stelle der prinzipiellen Gleichrangigkeit der Ak- isolierte Elite im diplomatischen Elfenbeinturm. teure, wie sie nach 1815 innerhalb der Pentarchie Ihre Entscheidungen und die Ergebnisse der Ver- aus Großbritannien, Frankreich, Russland, Ös- handlungen mussten Wilson, Clemenceau und terreich und Preußen fortbestand, und der Ent- Lloyd George, aber auch die deutschen, österrei- kriminalisierung des Feindes trat die Vorstellung chischen, ungarischen, türkischen oder italieni- des Krieges als Verbrechen und Bruch morali- schen Delegationen ihren Heimatgesellschaften scher Normen. Einerseits knüpfte man damit an vermitteln. 28 die großen Hoffnungen an, mithilfe des interna- Hatten die Diplomaten auf den großen Frie- tionalen Rechts eine universell gültige Friedens- denskonferenzen von 1648 und 1815 das Ziel ordnung auf Basis rationaler Kriterien zu schaf- verfolgt, Machtungleichgewichte durch terri- fen. Wenn zumal die alliierte Kriegspropaganda toriale Verschiebungen auszubalancieren und den Krieg als Konflikt um das Völkerrecht dar- sie durch Dynastien sowie die revolutionspro- gestellt hatte, dann schien die Sprache des Rechts phylaktische Wirkung des monarchischen Prin- 1919 die einzig legitime Form für einen Friedens- zips einzuhegen, traten in Paris Nationalstaat, schluss, der etwas anderes sein sollte als das Er- Völkerbund und ein international abgesicherter gebnis machtpolitischer Rivalität. Andererseits Minderheitenschutz in den Vordergrund. Wäh- bot die Sprache des Rechts selbst ein Reservoir rend 1814/15 die Diplomaten auf die Verhinde- für hochemotionale Inszenierungen und eine Mo- rung hegemonialer Bestrebungen und die Absi- ralisierung der Politik. So wurden die Kategorien cherung gegen einen neuen großen Krieg gesetzt von Verbrechen, Schuld und Bestrafung Teil der und einen begrenzten Regelungsanspruch ver- Friedenspolitik von 1919. Gerade in der Repara- treten hatten, waren die Friedensverträge 1919 tionsfrage überlagerten sich politische und mora- durch viel weitergehende Gestaltungsansprüche lische Ökonomie, wurden Schuld und Schulden und eine entsprechende Regelungsdichte gekenn- immer wieder aufeinander bezogen. 30 zeichnet. Ein weiterer Unterschied lag im Sou- Im Vergleich zu anderen Nachkriegsordnun- veränitätskonzept, das 1815 stark monarchisch gen hatte die Pariser Friedensordnung von 1919 geprägt war und den prinzipiellen Verzicht auf die kürzeste Wirkungsdauer. Durch das Vertrags- Interventionen enthielt, während sich nach 1919 werk löste sich die Pentarchie auf – das Deut- an der Reparationsfrage, am Anschlussverbot ge- sche Reich und Russland waren von der neuen genüber Deutsch-Österreich, dem Umgang mit Nachkriegsordnung zunächst ausgeschlossen, die dem Osmanischen Reich und den Minderheiten-

29 Vgl. Reinhard Stauber, Innerstaatliche Ordnung und internati- 27 Vgl. Martin Schulze Wessel (Hrsg.), Loyalitäten in der Tsche- onales System auf dem Wiener Kongress 1814/15, in: Der Staat. choslowakischen Republik 1918–1938. Politische, nationale und Beiheft 23/2015, S. 79–99. kulturelle Zugehörigkeiten, München 2004; Anthony Lentin, Decline 30 Vgl. Jörg Fisch, Krieg und Frieden im Friedensvertrag. Eine and Fall of the Versailles Settlement, in: Diplomacy & Statecraft universalgeschichtliche Studie über Grundlagen und Formelemen- 2/1993, S. 358–375. te des Friedensschlusses, 1979, S. 92–123; Leonhard 28 Leonhard (Anm. 9), S. 967. (Anm. 1), S. 1265 ff.

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Habsburger-Monarchie war aufgelöst. Frankreich Einen Tag nach der Unterzeichnung des Ver- und Großbritannien konnten allenfalls als prekä- sailler Vertrages zog der südafrikanische Di- re Gewinner gelten, die ökonomisch und demo- plomat Jan Smuts Bilanz. In einem Artikel für grafisch ausgelaugt waren, während die USA nach die „New York Times“ hob er hervor, dass der der gescheiterten Ratifizierung des Vertrages und 28. Juni nicht der Abschluss der Friedenssuche ihrem frühen Rückzug als starker politischer Part- sein könne, sondern nur der Beginn eines langen ner ausfielen. 31 Eine weitere Schwäche lag nicht und mühsamen Prozesses: „Die eigentliche Ar- zuletzt in der prinzipiellen Annahme, dass alle beit am Frieden wird erst beginnen, nachdem die- Staaten die Verträge als solche akzeptieren wür- ser Vertrag unterschrieben worden ist und ein de- den. Doch die Türkei und China stellten sie un- finitives Ende der zerstörerischen Leidenschaften mittelbar infrage und verfolgten eine eigene Revi- gesetzt ist, die Europa fast fünf Jahre lang heim- sionspolitik. Deutschland und Ungarn waren nur gesucht haben.“ Smuts kritisierte die seiner An- unter massivem Zwang bereit, die Verträge zu ra- sicht nach zu harschen Vertragsbedingungen, be- tifizieren, und konzentrierten sich alsbald auf ihre mühte sich aber um ein ausgewogenes Urteil. So Revision. Hinzu kamen die Konflikte zwischen hob er als Ergebnisse des Krieges eine beschä- den verbleibenden Siegern: Die italienische Füh- digte Zivilisation, aber auch das Ende des preu- rung verfolgte eigene nationale Ziele, Frankreich ßischen Militarismus hervor. Aus den „pazifisti- und Großbritannien waren weiterhin in vielfälti- schen Idealen“ sei der Völkerbund entstanden, ge Auseinandersetzungen verwickelt, die von der der die Chance auf einen wirklichen Frieden zwi- Behandlung der deutschen U-Boote und der Um- schen den Völkern biete. 33 Bei allen Belastungen setzung der Vertragsbedingungen in Ostmitteleu- und Widersprüchen boten das Vertragswerk und ropa und in der Türkei bis zur Frage der Reparati- die darin enthaltene Völkerbundakte in seinen onen für Russland reichte. Das Ergebnis war eine Augen entscheidende Ansätze für eine schrittwei- Kultur der angenommenen Vorläufigkeit. se Änderung der internationalen Ordnungsprin- Und doch dürfen über die Probleme und Be- zipien entlang neuer Kriterien, an denen Verstöße lastungen auch die Errungenschaften nicht über- ab jetzt gemessen werden konnten. Dazu zählten sehen werden. Denn es stellte eine erhebliche für ihn Selbstbestimmung, Minderheitenrechte, Leistung dar, angesichts der Krisen auf der Frie- eine permanente neue internationale Organisati- denskonferenz, der Fortsetzung von Gewalt an on sowie Abrüstungsbemühungen. Mit der Inter- vielen Orten und der bedrohlichen Instabilität in nationalen Arbeitsorganisation unter dem Dach den Gesellschaften der Besiegten überhaupt zu ei- des Völkerbundes waren Ansätze für weltweite nem Friedensvertrag zu gelangen. Mit der Völker- Standards in der Arbeitswelt erkennbar, und das bundakte, den Mandaten und den Ansätzen eines Mandatssystem war trotz des Fortwirkens rassi- internationalen Minderheitenschutzes etablierte scher Hierarchien und Kolonialregime ein erster man neuartige Institutionen und Normen, mit de- Schritt in Richtung einer internationalen Kon- nen man den unvollkommenen Vertrag weiterent- trolle von Kolonialherrschaft. In all diesen Ele- wickeln konnte. Auch mit seinen Widersprüchen, menten steckte ein großes Versprechen, das Hoff- Belastungen und aufgeschobenen Problemen war nungen weckte. Auch wenn sie nicht kurzfristig das Ergebnis im Sommer 1919 besser als ein Schei- erfüllt werden konnten, zeichnete sich für Smuts tern der gesamten Friedenskonferenz, durch das gegenüber der Vorkriegszeit eine Ausgangsbedin- die erschöpften Nachkriegsgesellschaften in eine gung für eine neue Friedensordnung ab: Es war unabsehbare Folge neuer Gewalt geschlittert wä- ein Anfang, keine Erfüllung, kein Ende, und es ren. 32 Mit all seinen Schwächen repräsentierte der würde darauf ankommen, wie die Politiker und Friedensschluss genau das, was im Sommer 1919 Diplomaten diese Rahmenbedingungen konkret erreichbar war. ausfüllten. 34

31 Vgl. Jennifer D. Keene, The United States, in: Horne (Anm. 11), S. 508–523, hier S. 519 f. JÖRN LEONHARD 32 Vgl. Leonhard (Anm. 1), S. 819–837, S. 854 ff. ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte 33 Siehe auch Fisch, (Anm. 30), S. 92–123; Leonhard (Anm. 1), S. 1265 ff. am Historischen Seminar der Albert-Ludwigs- 34 Vgl. William Mulligan, The Great War for Peace, New Haven Universität Freiburg. 2014, S. 300 f.; Leonhard (Anm. 1), S. 1049 f. [email protected]

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FRIEDENSMACHERINNEN Der Frauenfriedenskongress in Zürich 1919 Birte Förster

Als Jeanne Mélin am letzten Tag des Frauenfrie- Pazifismus zielende Erziehung gefordert hatte. 03 denskongresses endlich in Zürich eintraf, unter- Viele dieser Anliegen waren auch im 14-Punkte- brach dessen Präsidentin Jane Addams für einen Plan Woodrow Wilsons zu finden 04 – die Frie- Moment die Sitzung. Der französischen Pazifistin densaktivistinnen waren selbst davon überzeugt, war von ihrer Regierung zunächst keine Ausreise- dass der US-Präsident sich bei ihrer Haager Er- genehmigung erteilt worden, 01 nun aber, am 17. Mai klärung bedient hatte, über die ihn die bekannte 1919, wurde sie mit tosendem Beifall von den 150 amerikanische Sozialpolitikerin Addams persön- Delegierten empfangen. Ein besonderer Gruß wur- lich ins Bild gesetzt hatte. Ziel der Haager Kon- de ihr von der deutschen Frauenrechtlerin Lida ferenz war es gewesen, den Ersten Weltkrieg so Gustava Heymann zuteil, die ihr einen Strauß Ro- schnell wie möglich zu beenden. Zwei Delegati- sen überreichte und die Hoffnung äußerte, die deut- onen der Konferenz reisten im Anschluss an das schen Frauen könnten den französischen die Hand Treffen durch Europa, um die Regierungsvertre- reichen, um nach dem Krieg eine Brücke zwischen ter der kriegführenden wie der neutralen europä- Frankreich und Deutschland zu bauen. Mélin ant- ischen Staaten davon zu überzeugen, sich auf eine wortete, unmittelbar nach der Katastrophe sehe sie Vermittlung durch neutrale Staaten einzulassen. mit Beklemmung, wie die Staatsmänner neue Krie- Vergeblich, der Krieg sollte noch mehr als drei ge in die Wege leiteten, weil sie die 14 Punkte von Jahre dauern. 05 US-Präsident Woodrow Wilson missachteten. Es Die Teilnehmerinnen der Konferenz grün- sei daher an den Frauen, sich gegen einen neuer- deten das Internationale Frauenkomitee für den lichen Militarismus zu wehren und sich für einen dauerhaften Frieden, das ein Büro in Amsterdam dauerhaften Frieden einzusetzen. Der symbolische betrieb. Allerdings wurde es nach 1915 zuneh- Handschlag der beiden Pazifistinnen wurde durch mend schwieriger, transnational zusammenzuar- einen gemeinschaftlichen Eid der Anwesenden be- beiten. Auch in den Sektionen der einzelnen Län- siegelt, alles in ihrer Macht Stehende dafür zu tun, der war das nicht leicht, vor allem in Deutschland den Krieg zu beenden und den Frieden zu wahren. 02 waren die Publikationsmöglichkeiten einge- schränkt. So berichtete etwa die deutsche Frau- EINE WEIBLICHE enrechtlerin und Herausgeberin der Zeitschrift FRIEDENSORDNUNG FÜR DIE WELT „Die Frauenbewegung“, Minna Cauer, von Zen- surmaßnahmen. Doch das „Feuer am Herd der Die beiden Frauen kannten sich schon seit dem Internationale erlosch nicht“, 06 wie die deutsche internationalen Frauenfriedenskongress von Den Sektion zur Jahreswende 1917/18 festhielt. Haag, zu dem im April 1915 die Ärztin und Frau- Nach dem Waffenstillstand im November enrechtlerin Aletta Jacobs in die neutralen Nie- 1918 machten sich Addams und Jacobs daran, derlande geladen hatte. Damals hatten 1136 De- einen zweiten internationalen Frauenfriedens- legierte aus zwölf Ländern eine Resolution kongress zu organisieren. Vergeblich hatte die verabschiedet, die neben dem Frauenwahlrecht Inter-Allied Women’s Conference bei US-Präsi- und der Demokratisierung von Institutionen auch dent Wilson für die Friedenskonferenz in Paris das Selbstbestimmungsrecht der Völker, Abrüs- die Einrichtung einer Frauenkommission ange- tung, einen Schlichtungsgerichtshof für internati- regt. Nicht einmal eine beratende Funktion für onale Konflikte in Den Haag, eine demokratisch Frauenfragen war ihr eingeräumt worden, das legitimierte Kontrolle der Außenpolitik als ein hatten die übrigen Siegermächte verhindert. Ziel Mittel gegen die Geheimdiplomatie und eine auf des zweiten internationalen Frauenfriedenskon-

12 Pariser Friedensordnung APuZ gresses war es daher, aus der Ferne die Friedens- Deutschland, das Ideal der „Rassengleichheit“ so- verhandlungen im Sinne einer dauerhaften Frie- wie das Verhältnis von Revolution und Pazifismus. denssicherung zu beeinflussen und dabei eine Ausweitung politischer und ziviler Frauenrech- VERSÖHNUNGSGESTEN te zu erreichen. Friedenssicherung und die welt- UND MENTALE ABRÜSTUNG weite Ausweitung von Recht und Gerechtigkeit standen aus Sicht der Pazifistinnen in einem en- Durch symbolische Gesten wie den Blumen- gen Zusammenhang. strauß für Mélin und den Handschlag zwi- Für den zunächst geplanten Termin im Feb­ schen Delegierten aus Ländern, die gegeneinan- ruar 1919 war es auch wegen der ständigen Un- der Krieg geführt hatten, durch die Versicherung terbrechungen des Postverkehrs jedoch bald zu der gemeinsamen Trauer und des wechselseitigen spät, sodass man die Zusammenkunft auf den Mai Mitleids wie auch durch die Arbeit an einer Zu- verschieben musste. Damit fiel sie auf ein Datum, kunftsvision schufen die Delegierten für die Kon- an dem die meisten Debatten in Paris bereits zum ferenz, aber auch für ihren Verband eine „emotio- Abschluss gekommen waren. Nach einigem Hin nale Gemeinschaft“. 08 Eine solche Gemeinschaft und Her bot die schweizerische Sektion des Ver- beruht auf gemeinsamen Gefühlen, Haltungen bandes an, die Veranstaltung auszurichten. Paris und Werten. 09 Der Krieg war eben erst zu Ende kam als Tagungsort nämlich nicht infrage, weil gegangen, aber die nach Zürich gereisten Frauen dorthin nur Frauen aus den alliierten Staaten rei- aus den unterschiedlichsten Ländern brachten es sen konnten, die deutschen und österreichischen bereits fertig, die mentale Mobilmachung hinter Frauen aber auch mitdiskutieren sollten. 07 sich zu lassen und die Traumata des Krieges ge- Themen des Zürcher Kongresses waren neben meinsam in Worte zu fassen. 10 dem Vertrag von Versailles, dessen Bedingungen Das wurde sicherlich durch die vor hundert unmittelbar vor der Konferenz bekanntgegeben Jahren herrschenden bürgerlichen Vorstellun- worden waren, die Satzung und Ziele des Völker- gen von Männlichkeit und Weiblichkeit erleich- bundes und der Internationalen Arbeitsorganisa- tert: Frauen galten als das per se friedliebende und tion (IAO), die Rechtsstellung der Frauen nach sanftmütige Geschlecht, viele der Teilnehmerin- dem Krieg, die sogenannte Hungerblockade gegen nen begründeten Forderungen nach Veränderun- gen der Friedensbedingungen wie etwa nach dem

01 Zur internationalen Frauenfriedensbewegung einschlägig An- Ende der Hungerblockade mit der Fürsorglich- nika Wilmers, Pazifismus in der Internationalen Frauenbewegung keit der Frau. Die Pazifistinnen in Zürich verstan- 1914–1920, Essen 2008, hier S. 69. Zur internationalen Frau- den sich auch selbst ganz essenzialistisch als das enbewegung vgl. Leila J. Rupp, Worlds of Women. The Making friedlichere Geschlecht und beanspruchten mit of an International Women’s Movement, Princeton 1997; Marie diesem Argument ihre besondere Verantwortung Sandell, The Rise of Women’s Transnational Activism. Identity and Sisterhood between the World Wars, London 2015. für den Weltfrieden. Krieg war aus ihrer Sicht eine 02 Vgl. Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (Hrsg.), männliche Angelegenheit, Frauen hingegen waren Bericht des Internationalen Frauenkongresses. Zürich, 12.–17. Mai die mütterlichen Hüterinnen des ­Lebens. 11 1919, Genf 1919, S. 154 ff. 03 Vgl. Internationales Frauenkomitee für den dauernden Frieden (Hrsg.), Internationaler Frauenkongresses, Haag 28. April bis 08 Vgl. Jo Vellacott, Feminism as if All People Mattered. Working 1. Mai 1915, Amsterdam 1915, S. 39 ff. to Remove the Causes of War, 1919–1929, in: Contemporary 04 Woodrow Wilson, 14 Punkte, in: Susanne Brandt, Das European History 10/2001, S. 375–394, hier S. 379. letzte Echo des Krieges. Der Versailler Vertrag, Ditzingen 2018, 09 Vgl. Barbara Rosenwein, Worrying about Emotions in History, S. 207–223. in: American Historical Review 107/2002, S. 821–845, hier S. 842 f. 05 Vgl. Internationale Frauenliga (Anm. 2), S. 196, S. 478; Jo Vel- 10 Vgl. Rupp (Anm. 1), S. 118 ff.; Jost Dulffer, ersaillesV und die lacott, Feminist Consciousness and the First World War, in: History Friedensschlusse des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Gerd Krumeich Workshop 23/1987, S. 81–101, hier S. 93 ff.; Wilmers (Anm. 1), (Hrsg.), Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung, Essen S. 51–55. 2001, S. 17–34. 06 Zit. nach Wilmers (Anm. 1), S. 66. Zu den allgemeinen Bedin- 11 Vgl. Jennifer A. Davy: „Männliche Gewalt“ und „weibliche gungen während des Krieges siehe ebd., S. 62–66. Friedfertigkeit“. Die Militarismuskritik von Anita Augspurg und Lida 07 Vgl. ebd., S. 67; Jo Vellacott, Putting a Network to Use. Gustava Heymann, in: Wolfram Wette (Hrsg.), Schule der Gewalt. Mili- Formation and Early Years of the Women’s International League tarismus in Deutschland 1871–1945, Berlin 2005, S. 152–170, hier for Peace and Freedom, in: Eva Schöck-Quinteros et al. (Hrsg.), S. 159–164; Leila J. Rupp/Verta Taylor, Forging Feminist Identity in an Politische Netzwerkerinnen. Internationale Zusammenarbeit von International Movement. A Collective Identity Approach to Twentieth Frauen 1830–1960, Berlin 2007, S. 131–154, hier S. 148. Century Feminism, in: Signs 24/1999, S. 363–386, hier S. 377.

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Die emotionale Gemeinschaft der Pazifistin- banden die Delegierten ihren Pazifismus mit der nen, die sich in Zürich als „Internationale Frauen- Forderung nach mehr Rechten für Frauen, die sie liga für Frieden und Freiheit“ (IFFF) einen neuen auch an die beiden von der Pariser Friedenskon- Namen und eine neue Satzung gaben, machte die ferenz geschaffenen Organisationen adressierten: mentale Demobilisierung nach dem Krieg mög- den Völkerbund und die Internationale Arbeits- lich. Neben den erwähnten symbolischen Ver- organisation. söhnungsgesten ging es auch um die konkrete Ein Teil der Beschlüsse der Konferenz sollte Benennung beispielsweise der Gewalttaten deut- nach innen in die nationalen Sektionen wirken, scher Männer gegenüber französischen und bel- ein zweiter Teil des Schlusskommuniqués wur- gischen Frauen und die Anerkennung des da- de direkt zur Friedenskonferenz nach Paris ge- durch verursachten Leids. 12 Die Teilnehmerinnen schickt. Mit eingeschlossen war der „Freibrief begegneten einander mit Großzügigkeit, denn der Frauen“, der am 14. Mai 1919 angenommen sie begriffen sich als über die gemeinsame Frie- wurde und zur Aufnahme in den Friedensvertrag densarbeit aneinander gebunden. Dies unterstrich gedacht war. In diesem Brief forderten die Frau- Jane Addams in ihrer Eröffnungsrede folgender- en: „Die vertragsschließenden Parteien erkennen maßen: „Frei von Groll über gewolltes Missver- an, dass die soziale, politische und ökonomische stehen, frei von Misstrauen gegenüber sogenann- Stellung der Frau von höchster internationaler ten Feinden“ sollten die Frauen sich in Zürich Bedeutung ist.“ 17 Die Absicherung ihrer Rech- begegnen können. 13 te sollte also Teil der Friedensvereinbarung sein, doch das war weder in Wilsons 14 Punkten noch MEHR MITSPRACHERECHTE bei den Verhandlungen in Paris vorgesehen. Die FÜR FRAUEN in Zürich versammelten Pazifistinnen gingen so- gar noch weiter: Verlangt wurde eine völlige Um- Mit dem Kongress versuchten die Frauen, sich in kehrung der bürgerlichen Vorstellungen davon, internationalen politischen Angelegenheiten Ge- wie das „natürliche Verhältnis zwischen Mann hör zu verschaffen. 1919 gewann ihr Anliegen und Frau“ aussehen sollte. Es sollte künftig von auf einen Schlag neue Überzeugungskraft, weil „Unabhängigkeit“ und „Mitarbeit“ geprägt sein, Frauen in einer Reihe von Staaten inzwischen das denn es sei „für die Gesellschaft schädlich (…), Wahlrecht bekommen hatten. 14 Die Juristin Anita die Frauen zu einer abhängigen Stellung zu ver- Augspurg, Mitbegründerin des Deutschen Bun- urteilen und ihre Entwicklungs- und Erziehungs- des für das Frauenstimmrecht, formulierte selbst- möglichkeiten zu begrenzen“. 18 bewusst, es gehe in Zürich nicht um die Vorha- Der Forderungskatalog umfasste das Frau- ben der „Staatsmänner in Paris“, sondern darum, enwahlrecht sowie die Gleichstellung von Mann „dass wir ganz unabhängig von deren Absich- und Frau in nationalen wie internationalen In- ten und Möglichkeiten hier das feststellen, was stitutionen. Ehefrauen sollten Rechtspersonen die Frauen für recht und billig halten“. 15 Vor al- bleiben und die Verfügungsgewalt über ihr Ver- lem warteten die Pazifistinnen nicht ab, ob sie ge- mögen behalten, Mütter das Recht der Vormund- fragt wurden – denn spätestens seit der misslun- schaft bekommen. Dieser letzte Punkt war 1919 genen Intervention der alliierten Frauenverbände in noch keinem Staat erfüllt, selbst in Skandina- in Paris war allen bewusst: Man würde sie nicht vien erhielten Frauen erst Ende der 1920er Jah- fragen, sie mussten schon eigene Forderungen re das Vormundschaftsrecht. 19 Dazu gesellten aufstellen. Das Mandat dazu hatten die Aktivis- sich Forderungen, die auch hundert Jahre später tinnen sich selbst erteilt. 16 Wie schon 1915 ver- in vielen Staaten der Welt aktuell sind: Es sollte gleichen Lohn für gleiche Arbeit geben, die Ver-

12 Vgl. Leila J. Rupp, Constructing Internationalism: The Case of antwortung für uneheliche Kinder bei beiden El- Transnational Women’s Organizations, 1888–1945, in: American Historical Review 99/1994, S. 1571–1600, hier S. 1590. 17 Internationale Frauenliga (Anm. 2), S. 343. 13 Internationale Frauenliga (Anm. 2), S. 8. 18 Ebd. 14 Vgl. Hedwig Richter/Kerstin Wolff (Hrsg.), Frauenwahlrecht. 19 Vgl. Blanca Rodrígues-Ruiz/Ruth Rubio-Marín, Introduction. Demokratisierung der Demokratie, Hamburg 2018. Transition to Modernity, the Conquest of Female Suffrage and 15 Internationale Frauenliga (Anm. 2), S. 78. Women’s Citizenship, in: dies. (Hrsg.), The Struggle for Female Suf- 16 Vgl. Vellacott (Anm. 8), S. 378, S. 382 f.; Birte Förster, 1919. frage in Europe. Voting to Become Citizens, Leiden 2012, S. 1–46, Ein Kontinent erfindet sich neu, Stuttgart 2018, S. 93. hier S. 37.

14 Pariser Friedensordnung APuZ tern liegen, und für ihre Familienarbeit sollten bürgerlichen und politischen Rechte der natio- Frauen entschädigt werden. Dieser Katalog soll- nalen Minderheiten eines jeden Landes“ zu ge- te auch mithilfe der Politik des Völkerbundes in währleisten. Die radikalste Forderung betraf aber dessen Mitgliedstaaten verwirklicht werden und den Kolonialbesitz. Künftig sollten „alle rück- so „für die ganze Welt einen dauerhaften Segen ständigen Rassen, die unter der Vormundschaft bedeuten“. 20 Doch keines dieser Themen wurde fortgeschrittener Nationen stehen, dem Schutz in der französischen Hauptstadt diskutiert, ob- des Völkerbundes unterstellt werden und (…) schon nach dem Willen des US- Präsidenten dort die Mandatarmächte sich verpflichten, die Ent- eine neue Weltordnung entstehen sollte. wicklung und die Möglichkeit des Selbstbestim- mungsrechtes der ihnen anvertrauten Völker zu VÖLKERBUND ALS INSTRUMENT fördern“. 23 Was die Siegermächte für die deut- FÜR MEHR GERECHTIGKEIT schen Kolonien vereinbart hatten, sollte nach dem Willen der IFFF für alle Kolonien und Pro- An die Verfassung des Völkerbundes 21 stellten tektorate gelten. Das hätte de facto das Ende der die Delegierten in Zürich ähnlich deutliche For- Kolonialimperien bedeutet, denn die Mandatsge- derungen. Eine Minderheit der Delegierten wollte biete des Völkerbundes sollten in einer nicht nä- ihn zwar rundheraus ablehnen, weil seine Satzung her bestimmten Zukunft auch das Selbstbestim- in zu wenigen Punkten ihren Idealen entsprach. mungsrecht der Völker wahrnehmen und sich zu Allerdings scheuten die Pazifistinnen davor zu- souveränen Staaten entwickeln dürfen. 24 Globale rück, die Idee eines Völkerbundes als solche zu Gerechtigkeit war aus Sicht der IFFF ein Mittel torpedieren, und so erklärten sie zwar ihre Ak- der Friedenssicherung, und der Völkerbund soll- zeptanz des Bundes, machten aber umfassen- te sie vorantreiben. de Änderungsvorschläge. Mitglieder sollten nach den Vorstellungen des Kongresses alle souverä- GEMEINSAM nen Staaten werden können, zwischen Siegern GEGEN RASSISMUS? und Besiegten sollten bei der Mitgliedschaft keine Unterschiede gemacht werden. Der Einfluss der Eine Forderung an die Pariser Konferenz stellte Großmächte im Völkerbundrat sei zu beschrän- die Organisation jedoch nicht, obwohl die Vor- ken, mindestens elf Nationen sollten Mitglieder sitzende der US-amerikanischen National Asso- sein und damit die Möglichkeit bestehen, die vor- ciation of Colored Women, Mary Church Terrell, gesehene Mehrheit der Großmächte überstimmen dazu in Zürich eine flammende Rede gehalten zu können. Freihandel, eine bessere Verteilung hatte: Von einer Verankerung der „Rassengleich- der Nahrungsmittel weltweit, die Abschaffung heit“, mit der auch Japan schon bei den Ver- der Kinderarbeit und eine internationale Gesund- handlungen zum Völkerbund in Paris gescheitert heitsbehörde wurden ebenso als Ziele des Völker- war, 25 war im mehr als vier Seiten langen Forde- bundes festgelegt wie die Abschaffung der Zensur rungskatalog keine Rede. Terrell, die gemäß ih- und die Gleichstellung von Frauen in allen Gremi- ren eigenen Worten auf dem Kongress die „einzi- en. Letzteres hatte die Inter-Allied Women’s Con- ge Frau“ war, „die, wenn auch nur einen Tropfen, ference bereits durchgesetzt, nun sollte es auch in farbiges Blut in ihren Adern hat“, sah sich des- der Satzung des Völkerbundes kodifiziert und da- halb in der Pflicht, in Zürich „nicht nur die farbi- mit in den Mitgliedstaaten bindend werden. 22 gen Frauen der Vereinigten Staaten, sondern auch Die Völkerbundstaaten sollten darüber hi- diejenigen Afrikas und anderer Länder zu ver- naus „auf gleicher Grundlage für alle Staaten“ treten“. Wollte man nach dem Krieg den Frieden die Abrüstung vorantreiben und die Wehrpflicht dauerhaft sicherstellen, dann sei auch ein Ende abschaffen. Zudem forderten die Delegierten, des Rassismus vonnöten, denn ein „dauernder den Minderheitenschutz zu verankern und „die

23 Ebd., S. 340, S. 342. 20 Internationale Frauenliga (Anm. 2), S. 343 f. 24 Vgl. Susan Pedersen, The Meaning of the Mandate System. 21 Vgl. Marcus M. Payk, Frieden durch Recht? Der Aufstieg des An Argument, in: Geschichte und Gesellschaft 32/2006, S. 560– modernen Völkerrechts und der Friedensschluss nach dem Ersten 582. Siehe auch den Beitrag von James Kitchen in dieser Ausgabe Weltkrieg, Berlin 2018, S. 543–591. (Anm. d. Red.). 22 Vgl. Internationale Frauenliga (Anm. 2), S. 339–342. 25 Vgl. Förster (Anm. 16), S. 101 f.

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Friede ist eine Unmöglichkeit, solange die far- das Thema jedoch nicht angesprochen. Dies war bigen Rassen der Ungerechtigkeit unterworfen der Dominanz weißer Frauen aus der gebildeten sind, nur weil sie farbig sind“. 26 Mittelschicht in einer Organisation geschuldet, Diese „Ungerechtigkeit“, diesen Rassismus in der Mary Church Terrell 1919 eine Ausnah- skizzierte Terrell, die aus einer wohlhabenden me darstellte und die erst begann, sich mit Rassis- Familie stammte, am renommierten Oberlin Col- mus und Antisemitismus in den eigenen Reihen lege klassische Literatur studiert hatte und als ers- ­auseinanderzusetzen. 29 te Frau dem Bildungsrat von Washington ange- hörte, 27 anhand der Lebenssituation von People PAZIFISTISCHE KRITIK of Color in den Südstaaten. Diese seien weitge- AM VERTRAG VON VERSAILLES hend vom Wahlrecht ausgeschlossen, hätten sehr viel schlechtere Bildungsmöglichkeiten und da- Mit deutlichen Worten kritisierten die Pazifistin- mit schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt nen den Friedensvertrag von Versailles. Sie bewer- und seien zudem alltäglich Gewalt ausgesetzt. teten ihn vorrangig nach dem Kriterium, ob seine Dass es selbst einer neuen Institution wie dem Bedingungen dazu geeignet waren, den Frieden Völkerbund nicht gelungen war, das Ideal der in Europa und der Welt zu garantieren. Es ging „Rassengleichheit“ in ihre Satzung aufzunehmen, ihnen um dessen pragmatischen Nutzen, nicht empfand sie als herbe Enttäuschung. um nationale Ressentiments. Im Zentrum stand Bei der Bildungsarbeit der IFFF zum Frieden die Frage, wie Friede, Gerechtigkeit und Freiheit sei auch der gleichzeitige Kampf gegen den Ras- weltweit langfristig gesichert werden könnten. sismus unabdingbar. Dazu forderte Terrell ihre Ziel war es, Krieg und Gewalt langfristig zu äch- Mitstreiterinnen mit eindringlichen Worten auf: ten. 30 Ähnlich wie Wilson waren sie gegen eine „Die farbigen Mütter bitten ihre weissen Schwes- Kriegsbeute für die Siegermächte und sahen in der tern, die hohen Prinzipien der Gerechtigkeit, allgemeinen Abrüstung einen besseren Weg, um Freiheit und Gleichberechtigung nie aus den Au- künftige Kriege zu vermeiden, als in Sperrgürteln gen zu verlieren und ihre eigenen Kinder so zu er- und wirtschaftlicher Destabilisierung. Die briti- ziehen, dass sie dieselben nicht vergessen. (…) Die sche Labour-Politikerin Ethel Snowden setzte farbigen Mütter bitten ihre weissen Schwestern, noch ein moralisches Argument dazu: Man habe ihre Kinder zu lehren, dass der Mensch, wie im- den jungen Männern versprochen, für die Demo- mer auch seine Farbe sein mag, nicht nach dieser, kratie in den Krieg zu ziehen, für das Recht der sondern nach seinem inneren Werte nach beurteilt Völker, selbst zu entscheiden, in welcher Staats- werden muss und dass Rasse, Klasse, Religion und form sie leben wollten. Nur weil Kriegstreiber es alles andere bedeutungslos ist.“ 28 Menschenrech- falsch gemacht hätten, müssten die anderen Staa- te, um das berühmte Diktum der Frauenrechtlerin ten es ihnen nicht gleichtun. Nicht für einzelne Hedwig Dohm umzuformulieren, sollten Terrell Länder träten sie ein, sondern für den Frieden in zufolge auch keine Hautfarbe haben. der Welt. Die Gebietsabtretungen aber könnten Ihre Forderungen schlugen sich im Programm nur eines bedeuten: künftige Kriege. 31 Nach Pa- für die nationalen Sektionen nieder, das von der ris telegrafierte man einstimmig, mit dem Vertrag Konferenz verabschiedet wurde. Die Mitglie- von Versailles sei der Frieden nicht zu sichern: der verpflichteten sich dazu, sich für bessere Bil- „Dadurch, dass die Friedensbedingungen die dungsmöglichkeiten sowie gegen Segregation Früchte der Geheimverträge den Siegern sichern, und rassistische Benachteiligung einzusetzen. wird die Geheimdiplomatie stillschweigend gut- Im „Freibrief der Frauen“ sowie im Kommen- geheissen, das Prinzip der Selbstbestimmung ver- tar zum Völkerbund und damit in den Doku- leugnet, das Recht des Siegers auf die Kriegsbeute menten, die in Paris den Teilnehmern der Frie- anerkannt und über ganz Europa Misstimmung denskonferenz überreicht werden sollten, wurde und Feindseligkeit verbreitet, die nur zu weiteren Kriegen führen können. (…) Durch die finanziel- len und wirtschaftlichen Bedingungen wird eine 26 Internationale Frauenliga (Anm. 2), S. 212 f. 27 Vgl. Joyce Blackwell, No Peace Without Freedom. Race and the Women’s International League for Peace and Freedom, 29 Vgl. Blackwell (Anm. 27), S. 58, S. 64; Rupp (Anm. 12), S. 1579 f. 1915–1975, Carbondale 2004, S. 44 f. 30 Vgl. Vellacott (Anm. 8), S. 384. 28 Internationale Frauenliga (Anm. 2), S. 216. 31 Internationale Frauenliga (Anm. 2), S. 217–221.

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Generation von hundert Millionen Menschen im en für universale Rechte kämpften. Sie nahmen Herzen Europas zu Elend, Krankheit und Ver- vorweg, was Virginia Woolf 1938 in ihrem Essay zweiflung verdammt, was in Hass und Anarchie „Drei Guineen“ schrieb: „In Wahrheit habe ich ausarten muss.“ 32 als Frau kein Land. Als Frau will ich kein Land Gewalt aber war das, was die Kongressteil- haben. Als Frau ist mein Land die ganze Welt.“ 34 nehmerinnen unter allen Umständen vermeiden „Universal sisterhood“ war die Selbstbeschrei- wollten. Vor allem waren sie der Ansicht, einen bung der Aktivistinnen. 35 Die gemeinsame Iden- Frieden könne es ohne die Beteiligung von Frau- titätsbildung, das Überbrücken von Differenzen en nicht geben. Um ihrer Resolution Gehör zu gelang auch deshalb, weil es sich um gut gebil- verschaffen, reisten führende Mitglieder persön- dete Frauen der Mittelschicht handelte – oft wa- lich nach Paris, darunter Jane Addams, die Britin- ren sie selbst multinationaler Herkunft –, die un- nen Charlotte Despard und Chrystal Macmillan, tereinander häufig mehr verband als mit anderen die Französin Gabrielle Duchêne sowie die Itali- Frauen aus ihren Heimatländern. Das galt auch enerin Rosa Genoni – es handelte sich also aus- für die wenigen Women of Color, die seit 1915 schließlich um Frauen aus den Siegerstaaten. Eine Mitglieder in der IFFF waren und wie Terrell aus Änderung der Friedensbedingungen erreichten der gut gebildeten Mittelschicht stammten. In sie bekanntermaßen nicht. Obwohl Frauen in- der Zwischenkriegszeit wurde der Versuch un- zwischen in einer Reihe von Staaten das Wahl- ternommen, auch Frauen aus dem globalen Sü- recht besaßen und sich viele Frauenorganisa- den zu integrieren und aus der IFFF eine globa- tionen mit den in Paris behandelten Themen le Institution zu machen. „Universal sisterhood“ beschäftigten, entschieden auf der Friedenskon- war aber zugleich ein westliches Konzept, die Fe- ferenz dort 1919 ausschließlich Männer. ministinnen aus den industrialisierten Ländern nahmen sich häufig als Helfende gegenüber ih- AUSBLICK ren „rückständigen“ Schwestern wahr. Gleich- zeitig gingen sie von spezifisch weiblichen Eigen- Die IFFF bezog noch im gleichen Jahr ihr Stän- schaften aus, die sie einten, und brachten so lang diges Sekretariat im Maison Internationale in eingeübte Wahrnehmungsmuster durchaus ins Genf. Damit wurde die Organisation zum Pro- Wanken. Die Vorläuferinnen eines intersektiona- totyp einer Nichtregierungsorganisation: Sie lie- len Feminismus mussten die Gleichheit, für die ferte Beweise für Missstände, wirkte auf Reprä- sie eintraten, selbst erst einüben. Ihre gemeinsa- sentanten ein und versuchte, Entscheidungsträger me Agenda Friedenssicherung, soziale Reformen zu beeinflussen. Finanziert wurde die Organisa- und mehr Mitspracherechte für Frauen verband tion vornehmlich aus Mitgliedsbeiträgen, sodass die Aktivistinnen. 36 sie häufig unter Geldnöten zu leiden hatte. Zum Auch wenn die Teilnehmerinnen der Zürcher Agendasetting der IFFF gehörte es nicht zuletzt, Konferenz noch keinen großen Einfluss auf In- das Politikfeld des Völkerbundes um die The- stitutionen und Friedensverträge nehmen konn- men Gesundheit, Bildung und Frauenrechte zu ten, war ihre internationale Ausrichtung und ­erweitern. 33 ihre Haltung, Nationalismus zu überwinden und Ihre Mitglieder bildeten schon in der Zwi- konsequent eine globale Sichtweise einzuneh- schenkriegszeit eine Identität aus, die nicht in men, wegweisend für die Weltordnung nach dem der Nationalität, sondern in dem internationa- Zweiten Weltkrieg. Die IFFF hat heute Berater- len Netzwerk verankert war, in dem die Frau- status bei den Vereinten Nationen und einen Son- derberaterstatus bei UNICEF, Welternährungs- organisation und der IAO. 37 32 Ebd., S. 338. 33 Vgl. Vellacott (Anm. 8), S. 387 f. 34 Virginia Woolf, Ein eigenes Zimmer. Drei Guineen. Zwei Essays, Frank­furt/M. 2001, S. 129–297, hier S. 256. BIRTE FÖRSTER 35 Sandell (Anm. 1), S. 8. ist promovierte Historikerin und hat im Winter- 36 Vgl. ebd., S. 2–12; Rupp (Anm. 1), S. 211–216, S. 233; semester 2018/19 die Professur für Neuere und Imaobong D. Umoren, Race Women Internationalists. Activist- Intellectuals and Global Freedom Struggles, Oakland 2018, S. 29. Neueste Geschichte an der Universität Bremen 37 Vgl. Internationale Frauenliga, Die Liga, o. D., www.wilpf.de/ vertreten. die-liga. [email protected]

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DIE KRIEGE NACH DEM KRIEG Zum Kontinuum der Gewalt von 1917/18 bis 1923

Robert Gerwarth

Endete der Erste Weltkrieg am 11. November Ost-, Mittel- und Südosteuropas lebten, brach- 1918, als der Waffenstillstandsvertrag von Com- te der Waffenstillstand vom 11. November 1918 piègne in Kraft trat? Die Antwort auf diese Frage keinen Frieden. Streitkräfte unterschiedlicher hängt von der geografischen Perspektive ab. Für Größe und politischer Ausrichtung prallten in die Siegerstaaten des Ersten Weltkrieges, insbe- den Folgejahren an vielen Stellen Ost- und Mit- sondere für Frankreich, begann im Herbst 1918 teleuropas aufeinander, neue Regierungen kamen tatsächlich eine Zeit des Friedens, wobei selbst und gingen. Allein zwischen 1917 und 1920 gab Paris in den 1920er und 1930er Jahren regelmäßig es in Europa nicht weniger als 27 gewaltsame Re- in Kolonialkonflikte verwickelt sein sollte. Für gimewechsel, oftmals begleitet von schwelenden die Verliererstaaten hingegen ist die Frage eindeu- oder offenen Bürgerkriegen. 03 Am dramatischs- tig zu verneinen. ten war die Lage in Russland, wo Lenins bol- Zwischen 1917/18 und 1923 starben auf den schewistischer Putsch 1917 rasch einen Bürger- Territorien der besiegten und zerfallenen Land­ krieg von historisch nie dagewesenen Ausmaßen imperien Europas über vier Millionen Menschen nach sich zog. durch Gewalt – mehr als die zusammengerechne- ten Weltkriegstoten Frankreichs, Großbritanni- SIEG ODER ens und der USA. 01 Insbesondere in Russland, der NIEDERLAGE? , Finnland, den baltischen Staaten, Polen, Ungarn, Teilen Deutschlands, Italien, Anatoli- Wer am Ende des Ersten Weltkrieges zu den Ver- en und dem Kaukasus gab es ein bemerkenswer- lierern und wer zu den Gewinnern zählte, ist da- tes Kontinuum der Gewalt über 1918 hinweg. 02 bei weniger offensichtlich, als man zunächst den- Seit dem Dreißigjährigen Krieg im 17. Jahrhun- ken mag. Griechenland etwa gehörte im Herbst dert hatte Europa keine solch verheerenden und 1918 fraglos zu den Siegerstaaten. Wenige Jahre sich gegenseitig befeuernden Konflikte mehr er- später allerdings verkehrte sich dieser Sieg in eine lebt wie in dieser Zeit. Mit den Bürgerkriegen, dramatische Niederlage, als der von 1919 bis 1922 Revolutionen, Gegenrevolutionen, „ethnischen dauernde Griechisch-Türkische Krieg für Athen Säuberungen“, Pogromen und Grenzkonflikten in einer „Großen Katastrophe“ endete. Während zwischen neugegründeten Staaten ohne klar defi- Griechenland durch die gescheiterte Militärkam- nierte Grenzen oder international anerkannte Re- pagne in Kleinasien zu einem Verliererstaat wur- gierungen war Europa nach dem formellen Ende de, stieg die 1923 gegründete Türkische Repu- des Ersten Weltkrieges und bis zum Lausanner blik unter Mustafa Kemal „Atatürk“ zu einem Abkommen von 1923 die mit Abstand gewalttä- Siegerstaat der sogenannten Nachkriegszeit auf, tigste Region der Welt. dessen territorialer Anspruch auf das anatolische Auch die Periodisierung der Zwischenkriegs- Kernland nach dem Ende des Osmanischen Rei- zeit auf die Jahre 1918 bis 1939 ist somit im ches nun nicht mehr international angezweifelt Grunde nur für die primären Siegerstaaten des wurde. Ersten Weltkrieges sinnvoll, also für Großbritan- Auch in Italien sollte der militärische Sieg an nien – sieht man vom irischen Unabhängigkeits- der Isonzo-Front von 1918 schon bald einen bit- krieg ab – und für Frankreich. Für all jene aber, teren Beigeschmack bekommen. Denn viele Ita- die in Riga, Kiew, Smyrna und anderen Orten lienerinnen und Italiener gewannen angesichts

18 Pariser Friedensordnung APuZ der Pariser Friedensverhandlungen von 1919 den Schulbüchern anzutreffen sein sollte. 04 Zudem Eindruck, für den teuer erkämpften Sieg an der spiegelte sie die seit der Balkankrise der 1870er Alpenfront nicht gebührend belohnt worden zu Jahre und erst recht seit den zwei Balkankriegen sein. Der Verdruss über die vermeintlich unzu- von 1912 und 1913 verbreitete Vorstellung, Ost- reichende Wiedergutmachung für rund 600 000 europa sei im Gegensatz zum zivilisierten und Weltkriegstote, der in der verbreiteten Vorstellung friedliebenden Westen gewissermaßen „inhä- des vittoria mutilata, des „verstümmelten“ Sieges, rent“ gewalttätig. Derartige Vorurteile machten wie er von dem Dichter Gabriele d’Annunzio ge- die westliche Öffentlichkeit weitgehend blind nannt wurde, seinen Niederschlag fand, war ge- oder gleichgültig gegenüber den sich in Mittel-, waltig. Gleichzeitig erzeugten schwere Arbeits- Ost-, und Südosteuropa nach 1918 abspielenden kämpfe und gewaltsame Landnahmen bei vielen Katastrophen, selbst wenn diese Gegenden er- den Eindruck, Italien stehe kurz vor einer bol- fassten, die vor dem Weltkrieg politisch stabil, schewistischen Revolution. In mancherlei Hin- kulturell hoch entwickelt und friedlich gewesen sicht glich Italiens Nachkriegserfahrung, die 1922 waren. in der Ernennung Benito Mussolinis zum ersten faschistischen Ministerpräsidenten Europas gip- DREI felte, viel mehr jener der mittel- und osteuropä- KONFLIKTTYPEN ischen Verliererstaaten als der Frankreichs oder Großbritanniens. Das komplexe Bild Europas am Ende des Ers- Ungeachtet dessen haben die Konflikte der ten Weltkrieges, der fast zehn Millionen Tote und unmittelbaren „Nachkriegszeit“ in Westeuropa über zwanzig Millionen Verletzte allein unter den längst nicht so viel Beachtung gefunden wie das Soldaten gefordert hatte, macht die Kategorisie- Kriegsgeschehen an der Westfront in den vier rung oder Definition der darauf folgenden gewalt- Jahren davor. Zeitgenössische britische Beob- samen Erschütterungen ausgesprochen schwierig. achter wie Winston Churchill haben die Aus- Dennoch ist es möglich, zumindest drei unter- einandersetzungen nach 1918 als „Kriege der schiedliche, sich gegenseitig jedoch verstärkende Pygmäen“ abgetan – eine herablassende Bemer- und oftmals überlappende Konflikttypen inner- kung, die die orientalisierende und implizit ko- halb dieses einsetzenden ostmitteleuropäischen loniale Wahrnehmung Osteuropas offenbarte, Flächenbrandes zu identifizieren. die noch Jahrzehnte später in westeuropäischen Erstens erlebte Europa in der sogenannten Nachkriegszeit neu aufflammende Auseinander- setzungen zwischen regulären oder im Entstehen 01 Vgl. Robert Gerwarth, Die Besiegten. Das blutige Erbe des begriffenen nationalen Armeen, also zwischen- Ersten Weltkriegs, München 2017. staatliche Kriege – etwa den Polnisch-Sowje­ ­ 02 Die neuere Literatur zu einigen dieser Konflikte umfasst unter anderem Serhy Yekelchyk, Ukraine: Birth of a Modern Nation, tischen Krieg von 1919 bis 1921, den bereits er- Oxford 2007; Peter Hart, The IRA at War, 1916–1923, Oxford wähnten Griechisch-Türkischen Krieg oder den 2003; Michael Reynolds, Native Sons: Post-Imperial Politics, Islam, Einmarsch der Rumänen in Ungarn, der 1919 and Identity in the North Caucasus, 1917–1918, in: Jahrbücher zum Ende der kurzlebigen Diktatur Béla Kuns für Geschichte Osteuropas 2/2008, S. 221–247; ders., Shattering führte. Solche Konflikte spielten sich vor allem Empires: The Clash and Collapse of the Ottoman and Russian Empires, 1908–1918, Cambridge–New York 2011; Norman dort ab, wo der Zerfall der alten Großreiche die Davies, White Eagle, Red Star: The Polish-Soviet War, 1919–20, Entstehung neuer und oftmals nervös-aggressi- London 20042. Siehe auch Peter Gatrell, War after the War: ver Nationalstaaten begünstigte. Diese suchten Conflicts, 1919–23, in: John Horne (Hrsg.), A Companion to World ihre Territorien mit aller Macht und Gewalt zu War I, Oxford 2010, S. 558–575; Alexander V. Prusin, The Lands behaupten oder gar zu vergrößern. Der im Zuge Between: Conflict in the East European Borderlands, 1870–1992, Oxford 2010, S. 72 ff.; Christoph Mick, Vielerlei Kriege. Osteuropa solcher Bestrebungen ausgetragene Konflikt 1918–1921, in: Dietrich Beyrau/Michael Hochgeschwender/ zwischen Sowjetrussland und Polen hinterließ Dietrich Langewiesche (Hrsg.), Formen des Krieges: Von der Antike 250 000 Tote und Vermisste, und im militärischen bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 311–326; Piotr Wróbel, The Revival of Poland and Paramilitary Violence, 1918–1920, in: Rüdiger Bergien/Ralf Pröve (Hrsg.), Spießer, Patrioten, Revolutionä- 04 Winston Churchill, zit. nach Davies (Anm. 2), S. 21. Vgl. re. Militärische Mobilisierung und gesellschaftliche Ordnung in der Robert Gerwarth/John Horne (Hrsg.), War in Peace: Paramilitary Neuzeit, Göttingen 2010, S. 281–303. Violence after the Great War, Oxford–New York 2012; Gerwarth 03 Vgl. Peter Calvert, A Study of Revolution, Oxford 1970, S. 183 f. (Anm. 1).

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Ringen zwischen Griechen und Türken dürfte es gerichtet, wie in Russland, Ungarn oder Bulga- bis zu 200 000 Tote gegeben ­haben. 05 rien, oder es waren nationale Revolutionen auf Zweitens brachen in den wenigen Jahren zwi- den Trümmern der besiegten multiethnischen­ schen 1917 und 1923 allenthalben Bürgerkriege Reiche der Habsburger, Romanows und Os- aus – in Finnland, Ungarn, in Teilen Deutsch- manen. Inspiriert vom Diskurs über nationale lands, in Russland, aber auch in Irland. Insbe- Selbstbestimmung, wie er unter gänzlich unter- sondere auf dem Territorium des ehemaligen Za- schiedlichen Voraussetzungen sowohl von Le- renreiches, wo sich verschiedene miteinander nin als auch von US-Präsident Woodrow Wilson verwobene Konflikte überlagerten und dadurch vorangetrieben wurde, drängten verschiedenar- noch verschärften, waren reguläre zwischen- tige nationale Bewegungen auf Selbstverwirk- staatliche Kriege von Bürgerkriegen kaum noch lichung. 06 Die Gleichzeitigkeit und regelmäßi- zu unterscheiden. Die Rote Armee führte Krieg ge Überschneidung dieser zwei revolutionären gegen Polen und versuchte zugleich, die Loslö- Diskurse und Strömungen waren eine der Be- sung der abtrünnigen Republiken in den westli- sonderheiten der Jahre 1917 bis 1923. chen Grenzgebieten und dem Kaukasus mit aller Gewalt zu verhindern. Darüber hinaus befand VERROHTE VETERANEN, Lenin sich in einem erbitterten Kampf gegen sei- BRUTALISIERTE POLITIK? ne „weißen“ Widersacher und eine Reihe wei- terer realer und eingebildeter Feinde – von den Historiker verschiedener Generationen und Na- Kulaken bis zu den Anarchisten und den gemä- tionalitäten haben eine Reihe von Erklärungs- ßigten Sozialisten, die er allesamt verdächtigte, mustern geliefert, um das Kontinuum der Ge- die bolschewistische Revolution zu unterwan- walt nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zu dern. Die Einmischung externer Kräfte mach- deuten. 07 Die wohl einflussreichste Deutung die- te die Lage in Russland noch unübersichtlicher, ser Art – zumindest für den deutschen Fall – lie- egal ob es sich um die alliierte Intervention auf- ferte der Historiker George Mosse mit seiner seiten der antibolschewistischen Weißen oder „Brutalisierungsthese“, der einflussreichen, viel- um deutsche Freikorpsmilizionäre handelte, die diskutierten und in den vergangenen Jahren auch nach 1918 marodierend durch das Baltikum zo- auf andere Staaten Europas ausgeweiteten Idee, gen, wobei sie zunächst an der Seite lettischer dass die Gewalterfahrung des Ersten Weltkrie- und estnischer Nationalisten kämpften und spä- ges zu einer Verrohung der Kriegsteilnehmer ter gegen sie. führte und so eine entscheidende Voraussetzung Drittens waren diese Bürgerkriege, von de- für den Aufstieg totalitärer Bewegungen wie die nen Europa zwischen 1917 und 1923 heim- Bolschewiki in Russland, die italienischen Fa- gesucht wurde, in aller Regel die Folge sozi- schisten oder die deutschen Nationalsozialisten al und national motivierter Revolutionen, die ­darstellte. 08 diese Periode entscheidend prägten. Nachdem es in der Endphase des Krieges aufgrund von Mangelversorgung und Kriegsmüdigkeit in vie- 06 Vgl. Reynolds 2011(Anm. 2); Prusin (Anm. 2); Piotr Wró- len Ländern bereits zu Arbeitsniederlegungen bel, The Seeds of Violence: The Brutalization of an East European Region, 1917–1921, in: Journal of Modern European History und Streiks gekommen war, ging das Kriegsen- 1/2003, S. 125–149; Peter Gatrell, Wars after the War: Conflicts, de in allen europäischen Verliererstaaten mit of- 1919–1923, in: Horne (Anm. 2), S. 558–75; Richard Bessel, Re- fenen Revolutionen und gewaltsamen Macht- volution, in: Jay Winter (Hrsg.), The Cambridge History of the First wechseln einher. Diese zwischen 1917 und 1923 World War, Bd. 2, Cambridge–New York 2014, S. 126–144, hier ausbrechenden Revolutionen waren entweder S. 138. Siehe auch den Beitrag von Alan Sharp in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). sozio­ökonomischer Natur, sprich auf die Neu- 07 Siehe dazu vor allem das Themenheft „1918–19: From War verteilung von Land, Macht und Vermögen aus- to Peace“ des Journal of Contemporary History 4/1968 und die Fortsetzung der Diskussion im Sonderheft „The Limits of Demobili- zation“ des Journal of Contemporary History 1/2015. 05 Zum Polnisch-So­wje­tischen Krieg siehe neuerdings Jochen 08 Vgl. George Mosse, Fallen Soldiers: Reshaping the Memory Boehler, Civil War in Central Europe, 1918–1921, Oxford–New of the World Wars, Oxford 1990. Anwendung auf andere Staaten York 2018. Zur Gewalt gegen Zivilisten in Anatolien siehe etwa West- und Osteuropas fand Mosses Konzept in den vergangenen Ryan Gingeras, Sorrowful Shores: Violence, Ethnicity, and the End beiden Jahrzehnten, siehe etwa Enzo Traverso, Fire and Blood: The of the Ottoman Empire, 1912–1923, Oxford–New York 2011. European Civil War, 1914–1945, New York 2016.

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Obwohl sich kaum bestreiten lässt, dass die Kriegseintritt der Vereinigten Staaten – zuneh- Erfahrung des Ersten Weltkrieges das Verhältnis mend die Zerschlagung der europäischen Land­ der Kombattanten zur Anwendung von Gewalt imperien als Kriegsziel formulierten. Gerade die verändert haben dürfte, sind in den vergange- Geschehnisse in Russland wirkten sich nun dra- nen Jahren doch zwei zentrale Kritikpunkte ge- matisch aus, und zwar auf zweierlei Weise: Pe- gen die Brutalisierungsthese artikuliert worden: trograds Eingeständnis der Niederlage im März Zum einen kehrte die überwältigende Mehrheit 1918 schürte bei den Mittelmächten die Hoff- der Veteranen, die den Ersten Weltkrieg über- nung auf einen baldigen Sieg – und das nur weni- lebt hatten, im November 1918 ins Zivilleben ge Monate, bevor deren totaler Zusammenbruch zurück. 09 Ein großer Teil der Veteranenverbände im Herbst 1918 eine Suche nach den vermeint- in den meisten europäischen Staaten nach 1918 lich dafür verantwortlichen „inneren Feinden“ waren pazifistisch, nicht bellizistisch ausgerich- auslöste. Daraus erwuchsen neue Auseinander- tet. Ihre zentralen Themen waren Versorgungs- setzungen, die aufgrund ihrer Logik und Ziel- ansprüche von Kriegsversehrten oder Witwen- setzung noch weitaus mehr Zündstoff bargen als renten, nicht die Hetze für einen neuen Krieg, der Erste Weltkrieg, in dem immerhin noch ein um dessen Schrecken die Veteranen, anders als klar definiertes Ziel verfolgt wurde: den jewei- die Kriegsverherrlicher der Heimatfront, nur zu ligen Feind zur Annahme von durchaus drasti- gut wussten. schen Friedensbedingungen zu zwingen. Sobald Zum anderen hat die stärker komparativ oder der Gegner diese akzeptierte, wie das Deutsche transnational arbeitende Geschichtswissenschaft Reich die Waffenstillstandsbedingungen vom seit den 1990er Jahren angemerkt, dass sich das November 1918, wurde der Krieg beendet. Fronterlebnis britischer oder französischer Sol- Die Gewalt in den Auseinandersetzungen daten nicht fundamental von dem deutscher nach dem Ersten Weltkrieg war dagegen kaum Kriegsteilnehmer unterschieden hat. 10 Eine Er- noch beherrschbar. Zum einen maßen sich in Er- klärung dafür, warum die Politik sich in einigen mangelung funktionstüchtiger Staaten auf dem der früheren Kombattantenstaaten nach 1918 Gebiet der ehemaligen europäischen Großreiche brutalisierte, in anderen hingegen nicht, kann aus Milizen unterschiedlichster politischer Couleur rein nationalen Perspektiven nicht abgeleitet wer- die Rolle von Nationalheeren an, und die Trenn- den. Die Brutalisierungsthese erklärt auch nicht, linien zwischen Freund und Feind, Soldaten und warum es in Ländern wie Spanien oder Finnland, Zivilisten verschwammen zusehends – mit fata- die nicht am Ersten Weltkrieg teilgenommen hat- len Folgen. Zum anderen drehten sich die Kon- ten, nach 1918 ebenfalls zu einem massiven An- flikte um vermeintlich existenzielle Fragen – den stieg an politischer Gewalt kam. Fortbestand oder die „Wiederauferstehung“ der Auch wenn sich die signifikanten Gewalt- eigenen Nation beziehungsweise Klasse – oder ausbrüche der Nachkriegszeit ohne den Hin- darum, die Gegner auszulöschen, ganz gleich ob tergrund des Ersten Weltkrieges kaum erklären es sich dabei um Mitglieder einer anderen Ethnie lassen, scheint es sinnvoller, den Krieg eher als oder um „Klassenfeinde“ handelte. Diese geno- Katalysator neuer Konflikte zu deuten. Gerade zidale Logik sollte in den Jahren zwischen 1939 zum Ende hin begann der Charakter des Krie- und 1945 in Mittel- und Osteuropa schließlich ges sich zu verändern, als die Oktoberrevoluti- die Oberhand gewinnen. on von 1917 das Ausscheiden Russlands aus dem Im Gegensatz zu Mosses allumfassender, aber Völkerringen zur Folge hatte und die Westalliier- letztlich irreführender Brutalisierungsthese ließe ten – gestärkt durch den ins selbe Jahr fallenden sich somit zusammenfassend argumentieren, dass der Schlüssel zum Verständnis des weiteren ge-

09 Vgl. Richard Bessel, after the First World War, waltsamen Verlaufs der europäischen Geschich- Oxford 1993; ders., The Great War in German Memory: The Sol- te im 20. Jahrhundert – Russland und die ehemals diers of the First World War, Demobilization and Weimar Political osmanischen Länder des Nahen Ostens inbegrif- Culture, in: German History 1/1988, S. 20–34; Benjamin Ziemann, fen – nicht zwingend in den Kriegserfahrungen Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen von 1914 bis 1918 zu finden ist, sondern in der Bayern 1914–1923, Essen 1997. 10 Vgl. Bessel (Anm. 9); Benjamin Ziemann, Veteranen der Art und Weise, wie dieser Krieg für die europäi- Republik. Kriegserinnerung und demokratische Politik 1918–1933, schen Verliererstaaten zu Ende ging: mit Nieder- Bonn 2014; Horne/Gerwarth (Anm. 4). lagen und Revolutionswirren.

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ZERFALL DER konnte, die sich nach dem Krieg vielerorts Bahn GROẞREICHE brach. Als typische Beispiele für derartige Ein- flüsse können hier etwa die Tschetnik-Tradition Neben den Schrecken des Krieges und der Er- des Guerillakrieges­ auf dem Balkan und die re- fahrung der Niederlage war ein weiterer maß- volutionären Spannungen im Russland der Vor- geblicher Faktor für den Anstieg der Gewalt kriegszeit gelten oder mit Blick auf Irland die nach 1918 der plötzliche Zerfall der europäi- bereits vor 1914 existierende republikanische schen Landimperien­ und die schwierige Geburt ­Bewegung. ihrer Nachfolgestaaten. Die Pariser Friedens- Zusammengenommen waren aber Revolu- verträge wiesen Millionen von Menschen neu- tion, Niederlage und nationale „Wiedergeburt“ geschaffenen Nationalstaaten zu, die sich einem aus den Trümmern der untergegangenen Reiche fundamentalen Widerspruch gegenübersahen: Europas die entscheidenden Auslöser der länder­ Obgleich sie danach strebten, ethnisch homo- übergreifenden Welle bewaffneter Auseinander- gen zu sein, handelte es sich bei Polen, Jugos- setzungen, die sich in einigen Teilen Europas bis lawien und der Tschechoslowakei um Vielvöl- 1923 hinzogen. Einen vorläufigen Schlusspunkt kerreiche im Miniaturformat. Der wesentliche der gewaltsamen Auseinandersetzungen markier- Unterschied zwischen ihnen und ihrem Vorgän- ten das Ende des Russischen Bürgerkrieges 1922 ger, der k. u. k. Monarchie, bestand nicht in der und der Vertrag von Lausanne von 1923. Die- „ethnischen Reinheit“, sondern vielmehr darin, ser schrieb 1923 das Staatsgebiet der neuen Tür- dass die ethnischen Hierarchien sich umgekehrt kischen Republik fest und beseitigte die grie- ­hatten. chischen Gebietsansprüche in Kleinasien durch So befand sich das Epizentrum des territori- einen erzwungenen Bevölkerungsaustausch enor- alen Revisionismus in Europa in den folgenden men Ausmaßes. Jahrzehnten nicht von ungefähr auf dem Gebiet der alten multinationalen Imperien, deren Auf- LANGE LINIEN lösung neue „Grenzen der Gewalt“ schuf. Das „Heimholen“ von 1918 verlorenen Volksgrup- Nach Lausanne erfuhr Europa zwischen 1924 pen und die Rückgewinnung „historischer“ Ge- und 1929 eine kurze Phase der Stabilisierung. Mit biete spielte bis zum Ende des Zweiten Welt- der Weltwirtschaftskrise 1929 drängten jedoch krieges und zuweilen auch noch nach 1945 eine die zwischen 1917 und 1923 aufgeworfenen, aber entscheidende Rolle in der Außen- und Innenpo- nicht gelösten Probleme mit aller Macht auf die litik ostmitteleuropäischer Staaten – insbesonde- außen- und innenpolitische Agenda zurück. Irre- re in Ungarn, Bulgarien und Deutschland. Eben- dentismus, Vertragsrevision und die Anfechtung so galt das für die So­wjet­union, die nicht nur der 1918/19 gezogenen Grenzen wurden erneut kurzzeitige russische Eroberungen des Ersten zu einem zentralen Bestandteil der europäischen Weltkrieges eingebüßt hatte, sondern auch die Politik. westlichen Grenzgebiete des Zarenreiches. Mos- Während in der westeuropäischen Wahr- kaus Bemühungen um Wieder­aneignung „verlo- nehmung die Zeit des Übergangs vom Krieg rener“ Territorien und die gewaltsame Festigung zum Frieden in Europa weit weniger präsent ist seines Einflusses in Osteuropa im Allgemeinen als die des Weltkrieges selbst, prägen die bitte- sollten sich bis in die 1940er Jahre und darüber ren Jahre zwischen 1917 und 1923 das kollek- hinaus hinziehen. tive Gedächtnis Ost- und Südeuropas wie auch Die diversen Revolutionen, die Niederlage des Nahen Ostens und Irlands bis heute. 11 Diese der Mittelmächte und die territoriale Neuord- Erinnerung überlagert sogar die Geschichte des nung eines bis 1918 von imperialen Großreichen Ersten Weltkrieges, und bisweilen verdrängen beherrschten Kontinents schufen ideale Bedin- gungen für neue und anhaltende Auseinanderset- 11 Vgl. Michael Provence, Ottoman Modernity, Colonialism, and zungen. Selbstverständlich muss jede Erklärung Insurgency in the Arab Middle East, in: International Journal of für deren Eskalation auch die Bedeutung regio- Middle East Studies 2/2011, S. 205–225, hier S. 206; Dietrich Beyrau/Pavel P. Shcherbinin, Alles für die Front: Russland im Krieg naler, oft auf viel ältere Konflikte zurückgehen- 1914–1922, in: Horst Bauerkämper/Elise Julien (Hrsg.), Durchhal- der Traditionen und Umstände im Blick behal- ten! Krieg und Gesellschaft im Vergleich 1914–1918, Göttingen ten, da aus diesen ebenfalls die Gewalt erwachsen 2010, S. 151–177, hier S. 151.

22 Pariser Friedensordnung APuZ die Erzählungen von Staatsgründungen, Unab- len Kriegsende 1918 von Bürgerkriegen in Syrien hängigkeitskriegen, nationalen Befreiungsbewe- und im Irak, einer Revolution in Ägypten sowie gungen und revolutionären Umwälzungen sie gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Juden sogar. und Arabern wegen der Palästinafrage begleitet In der heutigen Ukraine ist die – ausgespro- wurden – als gelte es zu beweisen, dass einige der chen kurze – Phase staatlicher Unabhängig- damals aufgeworfenen, aber nie gelösten Streit- keit 1918 in den aktuellen politischen Debatten punkte ihre Aktualität noch immer nicht verlo- über die geopolitische Gefährdung des Lan- ren haben. des durch Russland allgegenwärtig. In Finn- Die Entwicklungen der Jahre 1917 bis 1923 land, das im Ersten Weltkrieg seine Neutralität sind deshalb nicht nur entscheidend für das Ver- wahrte, überschattet der Bürgerkrieg von 1918, ständnis jener Gewaltzyklen, die den Kontinent der in weniger als drei Monaten etwa ein Pro- in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägten, zent der Gesamtbevölkerung hinwegraffte, noch sondern auch für das Verständnis von Denkmus- heute jede politische Diskussion, während in Ir- tern und Mentalitäten, die in Teilen der Welt bis land die Allianzen und Dilemmata des Bürger- heute aktuell sind. krieges von 1922/23 das parteipolitische System bis in die Gegenwart prägen. Nur ihre Gegner- schaft während des Bürgerkrieges vermag zu er- klären, warum die zwei programmatisch nahezu identischen konservativen Volksparteien Irlands, Fianna Fáil und Fine Gael, sich bis heute strikt weigern, eine Koalition auf nationaler Ebene einzugehen. Auch im Nahen Osten ist es weniger der Ers- te Weltkrieg als vielmehr seine Folgen ab 1918, die den Diskurs bis heute bestimmen: das Ende der osmanischen Herrschaft und des Kalifats, die „Erfindung“ neuer Staaten, wie der Irak, Jor- danien oder Syrien, sowie die vom Völkerbund verhängte Mandatsverwaltung und der Beginn des Konflikts um Palästina. Dieser geht nach Ansicht vieler Araber auf die Deklaration des britischen Außenministers Lord Arthur Balfour von 1917 zurück, in der er Londons Unterstüt- zung für die „Errichtung einer nationalen Heim- stätte für das jüdische Volk in Palästina“ verkün- det ­hatte. 12 Hier, in den einstmals osmanisch beherrschten arabischen Gebieten, sollten sich die postimperi- alen Konflikte der Jahre nach 1918 als besonders dauerhaft erweisen. Seit über einem Jahrhundert kommt es in der Region mit großer Regelmäßig- keit zum Ausbruch von Gewalt – unter rhetori- schem Rückgriff auf die „ungelösten Fragen“ und Ungerechtigkeiten seit 1918. Und es darf durch- aus als bittere Ironie der Geschichte gelten, dass die hundertsten Jahrestage des Ersten Weltkrie- ges vom Kriegsausbruch 1914 bis zum offiziel- ROBERT GERWARTH ist Professor für Moderne Geschichte und leitet

12 Zum Kontext vgl. Provence (Anm. 11); Eugene Rogan, The Fall das Centre for War Studies am University College of the Ottomans: The Great War in the Middle East, 1914–1920, Dublin, Irland. London 2015. [email protected]

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KRIEG GEWONNEN, FRIEDENSSCHLUSS VERLOREN? Frankreichs und Großbritanniens Kolonialreiche nach dem Ersten Weltkrieg

James Kitchen

Die Staaten, die den Ersten Weltkrieg führten, heiten an der Westfront zu Protesten gegen die waren Imperialmächte – ausgedehnte Landim- Rekrutierung führten und Ende 1916 nur durch perien in oder am Rande Europas, wie die Ös- den Einsatz von 6000 Soldaten erstickt werden terreichisch-Ungarische Monarchie, das Rus- konnten. 01 Bereits 1914 hatte die Besetzung von sische Zarenreich und das Osmanische Reich, Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, oder transozeanische Mächte mit außereuropä- durch südafrikanische Truppen einen Aufstand ischen Hoheitsgebieten, wie das britische Em- von 11 000 mittellosen Afrikaanern zur Folge ge- pire, Frankreich, Belgien, Deutschland, Italien habt, die eine unabhängige Burenrepublik wie- und Portugal. Zum Zeitpunkt des Waffenstill- derherstellen wollten. Dieser war von den loyal stands hatten sich diese Reiche jedoch grund- zur britischen Kolonialmacht stehenden Generä- legend verändert und waren in einigen Fällen len Louis Botha und Jan Smuts niedergeschlagen sogar zerschlagen worden. Die Veränderungen worden. waren in Europa selbst wohl am größten, denn Angesichts der Bürde, die die europäischen hier zerfielen die von Wilhelm II., Kaiser Karl Mächte ihren Kolonialgebieten mit der Mobil- und Zar Nikolaus II. regierten Vielvölkerstaa- machung auferlegten, überraschen diese Unru- ten. Dies war der Moment der Entkolonialisie- hen kaum. Kolonialsoldaten waren integraler rung für die ost- und mitteleuropäischen Mäch- Bestandteil der britischen und französischen te. Wie jedoch beispielsweise der von 1917 bis Kriegsanstrengungen. 02 Während des Ersten 1922 dauernde Russische Bürgerkrieg zeigt, Weltkrieges stationierte die Entente 650 000 Sol- setzten sich die vom Ersten Weltkrieg hervor- daten aus ihren Kolonien in Europa, wobei vor gerufenen Unruhen, Flüchtlingsbewegungen, allem Frankreich auf Soldaten aus seinen afrika- interethnischen Wirren und internen Konflik- nischen Hoheitsgebieten angewiesen war. Mehr te in Europa noch lange nach dem Waffenstill- als 172 000 Algerier, 134 000 Westafrikaner und stand fort. 60 000 Tunesier kämpften für die Verteidigung In der kolonialen Welt jenseits der europä- der Dritten Republik. Aber auch Großbritan- ischen Grenzen hatte der Krieg ebenfalls tiefe nien war stark von seinen Kolonien abhängig, Brüche herbeigeführt. Die Mobilmachung in den um den Krieg führen zu können. 1914 und 1915 Kolonien zugunsten imperialer Kriegsanstren- entfiel ein Großteil der Last, die die Einsätze an gungen hatte das koloniale Regierungssystem der Westfront bedeuteten, auf die indische Ar- in seinen Grundfesten erschüttert. Denn vieler- mee, insbesondere bei der ersten Schlacht von orts trieb der Erste Weltkrieg das extraktive We- Ypern im Oktober 1914. Letztendlich stellte In- sen der Kolonialherrschaft und die damit zusam- dien zur Unterstützung der britischen Kriegs- menhängenden Missstände auf die Spitze, und anstrengungen mehr als 1,5 Millionen Kombat- es kam zu Aufständen, wie zum Beispiel 1915 tanten und Nichtkombattanten ab, und es waren im britischen Njassaland, dem heutigen Mala- indische Soldaten, die 1918 an der palästinensi- wi, unter der Führung des Baptistenpredigers schen und mesopotamischen Front die Mehr- John Chilembwe oder in Französisch-Algeri- heit bildeten. Die Kolonien stellten nicht nur en, wo schwere Verluste nordafrikanischer Ein- Soldaten für Kampfeinsätze und Militärdienst-

24 Pariser Friedensordnung APuZ leister wie Sanitäter, sondern auch Arbeitskräfte NEUE IMPERIALE ORDNUNG zur Unterstützung der industrialisierten Kriegs- IM NAHEN OSTEN wirtschaften. So wurden 50 000 Arbeiter aus In- dochina, wo heute Vietnam, Laos und Kambo- Trotz der Belastungen und Phasen antikolonialer dscha liegen, und 76 000 aus Algerien für die Unruhe überstanden die transozeanischen Ko- Arbeit in französischen Fabriken, unterstützen- lonialreiche der europäischen Siegerstaaten den de Dienstleistungen und die Aufrechterhaltung Krieg weitgehend intakt. 1918 war für die außer- der Kommunikationswege rekrutiert. Großbri- europäischen Kolonialgebiete nicht der Moment tannien verschiffte mehr als 215 000 Kolonial- großflächiger Entkolonialisierung. Tatsächlich arbeiter aus aller Welt nach Europa, um seine konnten Großbritannien und Frankreich ihre im- Kriegsmaschinerie am Laufen zu halten, darun- perialen Besitzungen sogar noch ausweiten, als ter 92 000 aus China. die deutschen Kolonien in West-, Ost- und dem Die Kolonien dienten jedoch nicht nur als südlichen Afrika besetzt und mit dem Versailler Quellen für Arbeitskräfte, sondern wurden auch Vertrag unter den Siegermächten aufgeteilt wur- selbst zu Schlachtfeldern. Ab Kriegsbeginn er- den. Im Nahen Osten eröffnete sich durch den streckten sich die Kampfhandlungen von Ki- Zusammenbruch des Osmanischen Reiches die autschou im heutigen China, das die Japaner im Möglichkeit, ein gewaltiges neues europäisches November 1914 von Deutschland eroberten, bis Kolonialgebiet aufzubauen. Dies geschah jedoch Togoland und Kamerun in Westafrika, die sich nicht ohne Widerstände. Großbritannien beziehungsweise Frankreich im Nach der Niederlage der osmanischen Armee Februar 1916 sicherten. Am heftigsten aber kol- bei Megiddo im September 1918 und ihrem Rück- lidierten die imperialen Rivalitäten in Ostafrika zug aus der Levante waren die imperialen Besit- und im Nahen Osten. zungen der Osmanen zum Zeitpunkt des Waffen- Die kolonialen Herrschaftssysteme gelangten stillstands vom 30. Oktober fest in der Hand der während des Krieges an ihre Belastungsgrenze Alliierten, vor allem von Großbritannien. Das 1916 und darüber hinaus, und die Spannungen hielten zwischen Frankreich und dem Vereinigten König- auch nach dem Friedensschluss an. Im vorliegen- reich ausgehandelte Sykes-Picot-Abkommen hatte den Beitrag soll erkundet werden, wie sich dies in eine Vision für den Nahen Osten nach dem Krieg den Jahren nach 1918 manifestierte. Dafür wer- entworfen, die anglo-französischen Interessen den zunächst die bedeutenden politischen Ver- entsprach. Zum Zeitpunkt der Beendigung der schiebungen in den Blick genommen, zu denen Feindseligkeiten hielten jedoch britisch-indische es im Nahen Osten kam – jener Region, in der Truppen von Jerusalem bis Bagdad alle größeren der Erste Weltkrieg seine stärkste und nachhal- Städte besetzt, Großbritannien war klar die do- tigste Auswirkung hatte –, bevor auf die Reform­ minierende Macht. ideen fokussiert wird, die sich vor allem im Zu- Die Debatten, die nach dem Krieg in Bezug sammenhang mit dem Völkerbund gegen Ende auf den Nahen Osten entbrannten, spielten sich des Krieges für die Umgestaltung der Kolonial- aber nicht ausschließlich zwischen Großbritan- herrschaft herauskristallisierten. Trotz aller Re- nien und Frankreich ab. Die Balfour-Deklara- formanstrengungen befand sich die Kolonial- tion der britischen Regierung vom November herrschaft in der unmittelbaren Nachkriegszeit in 1917, in der dem jüdischen Volk eine „nationale einer schweren Krise, die abschließend beleuch- Heimstätte“ zugesagt wurde, stärkte und legiti- tet werden soll, als Schlaglicht auf die längerfristi- mierte die zionistische Bewegung, die durch die gen, letztendlich zum Zusammenbruch der impe- Beteiligung der 3000 Mann starken Jüdischen rialen Ordnung führenden Legitimitätsprobleme Legion an der britischen Streitmacht in Paläs- der Kolonial­reiche. tina 1917/18 für sich beanspruchen konnte, ei- nen Beitrag zum Sieg über die Osmanen geleis- tet zu haben. Ihre Bestrebungen kollidierten 01 Vgl. Eugene Rogan, No Stake in Victory: North African unmittelbar mit jenen der von Hussein ibn Ali, Soldiers of the Great War, in: Studies in Ethnicity and Nationalism dem Großscherif von Mekka, angeführten Be- 14/2014, S. 322–333, hier S. 326. 02 Für eine Zusammenfassung der imperialen Erfahrung des wegung arabischer Nationalisten und ihrer von Ersten Weltkrieges vgl. Robert Gerwarth/Erez Manela (Hrsg.), seinem Sohn Prinz Faisal geleiteten irregulären Empires at War: 1911–1923, Oxford 2014. Armee, die sich ebenfalls auf britische Unter-

25 APuZ 15/2019 stützung berufen konnte: Großbritannien hat- eine breite nationalistische Bewegung, die der te die Arabische Revolte gegen die Osmanen ab zunehmend ineffektiven Regierung den Kampf 1916 gefördert und mehrfach versprochen, sich ansagte und sich dem griechischen Einmarsch in für die arabischen Belange einzusetzen. Um den Südanatolien entgegenstellte. Dank einer Reihe Krieg gegen die Mittelmächte gewinnen zu kön- siegreicher Schlachten konnte Kemal die Grie- nen, hatten die Briten sich genötigt gesehen, na- chen im Sommer 1922 vertreiben und Druck tionalistische Bewegungen zu unterstützen, die auf die britischen Besatzer von Konstantino- einander fundamental als Kontrahenten gegen- pel ausüben. Im Verlauf der sich anschließenden überstanden. Nun, nach Ende des Krieges, er- Chanak-Krise im September gerieten britische schwerte das den Friedensprozess. und türkische Truppen beinahe aneinander. Die Der erste Versuch, die konkurrierenden An- Briten sahen sich zum Rückzug gezwungen und sprüche auf den Nahen Osten miteinander in mussten die Kontrolle über die Meerengen abge- Einklang zu bringen, mündete im August 1920 ben. Einem an die Dominions gerichteten Ersu- in den Vertrag von Sèvres. Dieser verkörperte chen um militärische Unterstützung waren ein- eine klassische, auf militärischer Stärke, Erobe- zig Neuseeland und Neufundland gefolgt. Dass rung und Besetzung basierende Großmachtver- die Dominions London bei seinen außenpoliti- einbarung – eine Lösung aus dem 19. Jahrhun- schen Abenteuern nicht mehr automatisch un- dert für ein Problem aus dem 20. Jahrhundert: terstützten, verdeutlichte die Veränderungen in Der Vertrag zerschnitt die ehemaligen Hoheits- den imperialen Machtdynamiken Großbritanni- gebiete des Osmanischen Reiches im Nahen ens nach 1918. Osten und teilte sie als Völkerbundmandate Die türkische Nationalbewegung ging als Sie- größtenteils unter Frankreich und Großbritan- ger hervor und konnte ihre Herrschaft über Ana- nien auf. Der Libanon und Syrien fielen unter tolien sichern und die europäischen Mächte ver- französische Kontrolle, Palästina, Transjorda- treiben. Der 1923 daraus resultierende Vertrag nien, das heutige Jordanien, und der Irak unter von Lausanne, der die anglo-französische Kon- britische. Die heute türkische Region Ostthra- trolle über die Levante und den Irak festschrieb, kien und die Küstenstadt Smyrna, das heuti- formulierte elementare Bestandteile des Vertra- ge Izmir, wurden Griechenland zugesprochen. ges von Sèvres um. Von entscheidender Bedeu- Das Osmanische Reich wurde auf Anatolien tung dabei war, dass die Stimme der neuen tür- und ein europäisches Rumpfgebiet reduziert, kischen Republik nun Teil der Einigung für die das türkische Militär massiv begrenzt und die Region war – Kemals nationale Bewegung feierte Meerengen internationalisiert. Weder Türken einen Triumph. noch Haschemiten waren 1920 auf der Konfe- Häufig werden die Friedensregelungen nach renz von Sanremo vertreten, auf der der Ver- dem Ersten Weltkrieg als gescheiterte, die tat- trag ausgearbeitet wurde. Dieser konzentrier- sächlichen Gegebenheiten vor Ort ignorieren- te sich folglich mehr auf die Regulierung der de Bemühungen um eine neue Ordnung bewer- strittigen französisch-britischen Forderungen. tet – schließlich bestand der Versailler Vertrag Endgültig zunichte gemacht wurden die arabi- kaum zwei Jahrzehnte, bevor seine Bestimmun- schen Hoffnungen bei der Schlacht von Maysa- gen gewaltsam durch das nationalsozialistische lun im Juli 1920, als die französischen Truppen Deutschland revidiert wurden. Der Vertrag von ihre militärische Dominanz in Syrien festigten. Lausanne währte hingegen bemerkenswert lan- Die Söhne von Scherif Hussein, Faisal und Ab- ge. Die Landesgrenzen, die die Vereinbarungen dullah, verschwanden jedoch nicht von der po- im gesamten Nahen Osten schufen, wurden zu- litischen Bildfläche, sondern wurden Herrscher nächst von den britischen und französischen des Iraks und Transjordaniens – Repräsentati- Kolonialmächten, später aber auch von den in onsfiguren der neuen kolonialen Vereinbarung die Unabhängigkeit entlassenen Staaten der Re- für die Region. gion beibehalten und sind trotz an ihnen ent- Der Vertrag von Sèvres wurde jedoch von brannter Konflikte weitgehend so geblieben, den politischen Entwicklungen in der Türkei wie sie Anfang der 1920er Jahre gezogen wur- überholt und nie ratifiziert. Um Mustafa Kemal, den. Damit ist diese koloniale Friedensrege- der sich während des Krieges als Offizier im Mi- lung eines der wichtigsten Ergebnisse des Ers- litär einen Ruf erarbeitet hatte, sammelte sich ten Weltkrieges.

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MANDATSSYSTEM den Kolonialbesitzungen des späten 19. Jahr- IM VÖLKERBUND hunderts unterschieden. Die Mandatsgebiete der Klasse C wurden größtenteils von Japan und Die Hoheitsgebiete, die Frankreich und Groß- britischen Dominions verwaltet, die eigene neue britannien durch den Friedensschluss nach dem imperiale Identitäten entwarfen. Deutsch-Süd- Ersten Weltkrieg im Nahen Osten hinzugewon- westafrika fiel unter südafrikanische Herrschaft, nen hatten, wurden nicht auf die gleiche Wei- Deutsch-Neuguinea unter australische und die se verwaltet wie ihre vor dem Krieg eroberten deutschen Pazifikinseln nördlich des Äquators imperialen Besitzungen. Syrien, der Libanon, unter japanische. Palästina, Transjordanien und der Irak waren Die Entwicklungen in den Mandatsgebieten ihnen als Völkerbundmandate zugeteilt. Die- unterschieden sich erheblich voneinander. In se neue Form der Kolonialherrschaft ging auf Tanganjika, dem heutigen Tansania, und Trans- US-Präsident Woodrow Wilson zurück, der im jordanien leiteten die Briten Landreformen ein, Januar 1918 ein 14-Punkte-Programm für eine in Palästina kam es nach erheblichen Investiti- Nachkriegsordnung vorgestellt hatte, in dem onen in den 1920er Jahren zu Bemühungen, ei- er deutlich gemacht hatte, dass die Vereinigten nen multiethnischen und multikonfessionel- Staaten einen Annexionsfrieden, der lediglich len Staat aufzubauen, und im Irak konnten die die Farben auf der imperialen Landkarte neu ar- Briten 1932 Faisal die Herrschaft über ein neu- rangierte, nicht akzeptieren würden. Stattdessen es unabhängiges Königreich übergeben. In an- sollten die ehemaligen Kolonialgebiete der be- deren Mandatsgebieten nahm die Geschichte ei- siegten Mächte von Mandatsträgern als „heili- nen schlechteren Verlauf: Die südafrikanische ge Aufgabe der Zivilisation“ treuhänderisch im Regierung schickte weiße Siedler nach Südwest- ureigensten Sinne im Interesse ihrer jeweiligen afrika und beraubte die indigene Bevölkerung Bevölkerung verwaltet werden. Ziel war es, die ihres Landes. In Syrien kam es, ausgehend von Mandatsgebiete schrittweise an die Unabhän- der Bevölkerungsgruppe der Drusen, 1925 und gigkeit heranzuführen. 1926 im gesamten Land zu erheblichen Unru- Auf den Friedenskonferenzen wurden drei hen. Um die Ordnung wiederherzustellen, grif- verschiedene Arten von Mandaten erarbeitet, die fen die Franzosen zu militärischer Gewalt. Im die vermeintlichen Phasen politischer Entwick- Oktober 1925 bombardierten sie Damaskus und lung der jeweiligen Bevölkerung widerspiegeln töteten dabei mehr als 1000 Menschen. Auf ähn- sollte: Mandate der Klasse A umfassten die ehe- liche Weise hatten die Briten im Irak 1920 an- maligen osmanischen Gebiete im Nahen Osten, gesichts eines großflächigen Aufstands in länd- in denen Großbritannien und Frankreich Völ- lichen Gegenden ihre Herrschaft gefestigt – zur kern, die kurz vor der Unabhängigkeit standen, Niederschlagung hatten sie 60 000 Soldaten ein- administrative Orientierungshilfe geben sollten. gesetzt und ausgiebig von repressiver Gewalt Für die Verwaltung von Mandatsgebieten der Gebrauch gemacht, die auch das Niederbrennen Klasse B galten eine Reihe von Bedingungen, ganzer Dörfer umfasst hatte. Im weiteren Ver- wie die Öffnung für den Handelsverkehr und die lauf der Mandatsphase wurde die irakische Be- Gewährleistung von Sicherheit für die Bevölke- völkerung mithilfe von „Air Control“-Einsät- rung. Zu dieser Kategorie gehörten die ehema- zen ruhig gehalten. Zu dieser technologischen ligen deutschen Kolonien Togo und Kamerun, Lösung für eine ressourcenschonende Kontrolle die zwischen Großbritannien und Frankreich des Empire gehörte, dass die Royal Air Force aufgeteilt worden waren, Ruanda und Burun- Dörfer bombardierte, deren Bewohner sich der di, die unter belgischer Kontrolle standen, sowie britischen Herrschaft widersetzten. 03 Welche das nun britisch verwaltete Deutsch-Ostafri- Ziele das Mandatssystem auch immer verfol- ka. Als C-Mandate schließlich galten abgelege- gen mochte, seine Realität hatte in weiten Tei- ne, aus Sicht der europäischen Kolonialmächte len große Ähnlichkeit mit der brutalen Koloni- weniger interessante Gebiete, die vermeintlich alherrschaft des 19. Jahrhunderts. weit von einer möglichen Selbstverwaltung ent- fernt waren und daher von den Mandatsträgern 03 Vgl. Priya Satia, Spies in Arabia: The Great War and the letztendlich wie Teile ihres eigenen Hoheitsge- Cultural Foundations of Britain’s Covert Empire in the Middle East, bietes regiert wurden, sodass sie sich kaum von Oxford 2008.

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Dennoch veränderte sich nach dem Ersten schrittweise Entwicklung hin zu sich selbst ver- Weltkrieg die internationale Haltung zu impe- waltenden Institutionen und einen graduellen rialer Herrschaft grundlegend. Die Veranke- Übergang zu einer mündigen Regierung, soll- rung des Grundsatzes der Treuhänderschaft in ten aber Indien im Gefüge des britischen Em- der Charta des Völkerbundes, die Einrichtung pire belassen. Ziel war es, die nationalistische des Mandatssystems trotz des Widerstrebens der Bewegung in einen konstitutionellen Prozess siegreichen Kolonialmächte sowie die Beaufsich- einzubinden, den die Briten unter Kontrolle tigung dieser Gebiete durch die Ständige Man- behielten. Zwar wurde die Montagu-Chelms- datskommission – all das waren tief greifende ford-Reform vom Indischen Nationalkongress Neuerungen. Die Mandatskommission bot Un- abgelehnt, in der Zwischenkriegszeit diente sie tertanenbevölkerungen erstmals die Möglichkeit, jedoch als Vorbild für andere Reformvorhaben vor einem internationalen Organ ihre Stimme zu in Britisch-Indien. erheben und Missstände der Mandatsherrschaft Auch Frankreich unternahm Anstrengungen anzuprangern. In den Zwischenkriegsjahren zur Veränderung seiner Kolonialherrschaft. 1918 konnte die Kommission erheblichen und nach- wurde einigen Bewohnern des Senegal das Recht haltigen Druck auf die Mandatsmächte ausüben, auf französische Staatsbürgerschaft gewährt, etwa als sie die britische Gewaltanwendung bei und bei den Kommunal- und Bürgermeister- der Niederschlagung des Arabischen Aufstands wahlen in der unmittelbaren Nachkriegszeit im Mandatsgebiet Palästina Ende der 1930er waren die Belange der Veteranen beherrschen- Jahre untersuchte und scharf kritisierte. Zu- des Thema. In Algerien hatten die französischen gleich erkannten nationalistische Aktivisten in Behörden 1918 um mehr Rekruten geworben, den Mandatsgebieten rasch ihre Chance, durch indem sie eine Rechtsreform in Aussicht ge- die Kommission auf Versäumnisse der britischen stellt hatten. Dem folgte 1919 das „Loi Jonn- beziehungsweise französischen Verwaltung auf- art“, ein Gesetz, das mehr als 400 000 Muslimen merksam zu machen. Kolonialherrschaft unter- ein Stimmrecht bei Kommunalwahlen einräum- lag nun einer Form der internationalen Prüfung, te. Doch am Wesen der französischen Kolonial- wie es sie vor dem Ersten Weltkrieg nicht gege- herrschaft in den 1920er Jahren änderten solche ben hatte. 04 Reformen letztendlich kaum etwas. In Westaf- Die Einrichtung der Ständigen Mandats- rika wurde der neu geschaffene Generalrat, der kommission deutete auf eine mögliche Verände- bis 1919 immer stärker von gewählten Afrika- rung des Wesens der Kolonialherrschaft hin. In nern dominiert worden war, wenig später in ei- der Tat hatte der Erste Weltkrieg einen imperia- nen Kolonialrat umgewandelt. Dieser stand un- len Reformprozess eingeleitet. Dieser ergab sich ter der Kontrolle des Generalgouverneurs und zum Teil aus der Notwendigkeit einer Anpassung von zwanzig Stammesführern, die von der fran- an die politischen wie ökonomischen Ansprüche zösischen Verwaltung ausgesucht wurden und heimkehrender Kriegsteilnehmer. Größere Be- die gewählten Mitglieder überstimmen konnten. sorgnis in London und Paris löste aber die Tatsa- Auch die Bemühungen, in Westafrika gewählte che aus, dass der Krieg deutlich das Potenzial für Stadträte einzuführen, scheiterten, als deutlich antikolonialen Widerstand aufgezeigt hatte und wurde, dass sie lediglich als beratende Organe damit die Fragilität imperialer Herrschaft. Ko- für die französischen Bürgermeister fungierten. loniale Reformen stellten also nicht nur Beloh- In Algerien behielt die französische Siedlerge- nungs-, sondern auch Präventionsmaßnahmen meinschaft das Heft in der Hand, und muslimi- dar. schen Algeriern wurde eine Vertretung in Paris Um potenziellen Anfechtungen der briti- weiterhin verweigert. schen Herrschaft in Indien zuvorzukommen, Die Lebenswirklichkeiten vieler kolonia- hatten der Generalgouverneur Lord Chelms- ler Untertanen veränderten sich nach 1918 also ford und der Staatssekretär für Indien, Edwin kaum. Letztendlich symbolische Reformen ver- Montagu, bereits 1917 eine Reihe von Verwal- liehen nur einigen wenigen das Wahlrecht oder tungsreformen eingeleitet. Diese verhießen eine riefen lediglich beratende Ausschüsse ins Leben, und die meisten Menschen in Afrika und Süd- 04 Vgl. Susan Pedersen, The Guardians: The League of Nations asien blieben weiterhin europäischen kolonialen and the Crisis of Empire, Oxford 2015. Normen unterworfen.

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IMPERIALE KRISE den Gegner zu tun, dem es 1921 gelang, eine Pattsituation herbeizuführen. Zwar vermochten Die Einführung des Mandatssystems sowie die die irischen Aufständischen auf dem Schlacht- Bemühungen um eine koloniale Reform sug- feld nicht gegen die Truppen der britischen Kro- gerieren einen geregelten Übergang vom Krieg ne zu triumphieren, genauso wenig gelang es je- zum Frieden, dabei waren die Jahre unmittel- doch dem britischen Militär, die Rebellion zu bar nach dem Ersten Weltkrieg eine chaotische zerschlagen. Die einzige Möglichkeit für Lon- Zeit. Ein Großteil der Kolonialgebiete kam nicht don, einen Sieg zu erringen, bestand in der Ent- mehr aus einem Kreislauf antikolonialer Gewalt sendung so umfangreicher Truppen, dass es vor und brutaler Repression heraus. Der Historiker dem Hintergrund der wirtschaftlichen Durst- John Gallagher hat die Phase von 1919 bis 1922 strecke nach dem Krieg und des gleichzeiti- für den britischen Fall als „Crisis of Empire“ be- gen Drucks zahlreicher imperialer Krisenherde schrieben. In diese Zeit fielen der Beginn der Re- aber nicht leistbar war. Wie im Falle Ägyptens volution in Ägypten im Frühjahr 1919, anhalten- bestand die Lösung darin, einen Vertrag auszu- de Stammesunruhen im Irak über weite Teile des handeln, der im Dezember 1921 zur Geburt des Jahres 1920, Proteste und Ausschreitungen im irischen Freistaates führte. Damit war Großbri- Punjab, und Irland versank ab 1919 für drei Jah- tannien die einzige Siegermacht, die nach dem re im Chaos. 05 Ersten Weltkrieg Hoheitsgebiete verlor. Dies rief In Ägypten konnten die Briten die Kontrolle sowohl in kultureller als auch in politischer Hin- nur durch den Einsatz von 20 000 Soldaten und sicht ein großes Echo in Westminster hervor. Für eine heftige antirevolutionäre Kampagne wieder den Generalstabschef der britischen Armee, Ge- an sich reißen. Damit stellten sie zwar die Ord- neral Henry Wilson, bedeutete das eine grund- nung wieder her, dies forderte jedoch 800 Todes- sätzliche Infragestellung des britischen Status als opfer und 1500 Verletzte auf ägyptischer Seite. Großmacht. Es schien, als habe Großbritannien Eliminiert wurde der ägyptische Nationalismus zwar den Ersten Weltkrieg gewonnen, aber den dadurch nicht – die Briten waren gezwun- Friedensschluss verloren. 07 gen, eine Vereinbarung auszuhandeln, nach der Einzigartig waren die britischen Erfahrun- Ägypten 1923 ein gewisses Maß an Unabhängig- gen nicht. Auch das französische Imperium keit erlangte. Im Punjab kam es im Rahmen der wurde von einer Reihe antikolonialer Anfein- Reaktion auf die dortigen Unruhen zu einem der dungen erschüttert. In Marokko zog sich der berüchtigtsten Zwischenfälle europäischer kolo- Rif-Krieg von 1921 bis 1926, in dessen Verlauf nialer Unterdrückung: Brigadegeneral Reginald Frankreich und Spanien letztlich eine gemein- Dyer ließ bei einer politischen Kundgebung in same Truppenstärke von 120 000 Mann mobili- Amritsar am 13. April 1919 das Feuer auf eine sierten, um den Aufstand der Rifkabylen unter Menschenmenge eröffnen, wobei mindestens der Führung Mohammed Abd al-Karims nieder- 400 Menschen ihr Leben verloren. Dieser tote- zuschlagen. 1930/31 weiteten sich Unruhen in mistische Moment imperialer Gewalt wird häu- Indochina aus, als es in Annam und Tonkin im fig als Einzelfall dargestellt, spiegelte tatsächlich heutigen Vietnam zu Aufständen auf dem Land jedoch die übliche Vorgehensweise Großbritan- kam und in der heute ebenfalls vietnamesischen niens nach dem Ersten Weltkrieg, um die Kon- Stadt Yen Bay zu einer Meuterei in den Reihen trolle seines Empires aufrechtzuerhalten. Bru- der Kolonial­armee. tale, repressive und demonstrative Gewalt, um Sowohl die Franzosen als auch die Briten Untertanenbevölkerungen dazu zu zwingen, waren bis weit in die Zwischenkriegszeit mit weiterhin die britische Herrschaft zu akzeptie- kolonialen Unruhen konfrontiert – im palästi- ren, war Standard. 06 nensischen Mandatsgebiet gab es 1929 Krisen In Irland hatten es die Briten mit einem gut in Jerusalem sowie von 1936 bis 1939 Unruhen organisierten und militärisch geschickt agieren- in ländlichen Gegenden, die beträchtliche mili- tärische Gewalt nach sich zogen. Aus dem Ers- ten Weltkrieg und dessen Ende ging also nicht 05 Siehe auch den Beitrag von Alan Sharp in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). 06 Vgl. John Gallagher, Nationalisms and the Crisis of Empire, 07 Vgl. Keith Jeffery, The British Army and the Crisis of Empire, 1919–1922, in: Modern Asian Studies 15/1981, S. 355–368. 1918–22, Manchester 1984.

29 APuZ 15/2019 etwa eine freundlichere koloniale Ordnung her- Ausdehnung, vor allem dank des Zugewinns ehe- vor. Koloniale Autorität befand sich nun häufi- maliger osmanischer Gebiete im Nahen Osten ger in der Defensive, und repressive Gewalt er- sowie deutscher Gebiete in Afrika. Die durch den schien den Imperialmächten oft als das einzige Ersten Weltkrieg angestoßenen neuen Ideen un- Mittel, um den Fortbestand ihrer Herrschaft zu tergruben jedoch nach und nach die globale im- sichern. 08 periale Ordnung. Der Historiker Erez Manela argumentiert, In seiner Rede vor dem US-Kongress im Ap- dass es die durch den Ersten Weltkrieg freige- ril 1917, in der Wilson für den Kriegseintritt der setzten Vorstellungen waren, die bei der Neu- Vereinigten Staaten geworben hatte, hatte er ge- gestaltung der kolonialen Welt wirklich zählten. fordert: „Die Welt muss ein sicherer Ort werden Im Zuge des „Wilsonschen Moments“ 1919 sa- für die Demokratie.“ Spätestens in den 1930er hen sich zahlreiche nationalistische Bewegungen Jahren wurde deutlich, dass dieses hochgesteckte durch die vom US-Präsidenten propagierte Idee Ziel nicht erreicht worden war. Die Kriegsbetei- des Selbstbestimmungsrechts der Völker und die ligung der Vereinigten Staaten mit ihrer antiim- Möglichkeit der internationalen Anerkennung perialen Einstellung sowie die Herausforderung, ihrer Anliegen auf der Pariser Friedenskonferenz die das revolutionäre Russland darstellte, mach- bestärkt und forderten von Ägypten über Indi- ten die Welt der Zwischenkriegszeit für die Kolo- en und China bis Korea die jeweilige Imperial- nialreiche in hohem Maße unsicher. Eine zweite macht heraus. 09 Für die europäischen Zeitgenos- Phase der Mobilmachung, der sozialen und öko- sen insbesondere in den Kolonialverwaltungen nomischen Belastung in Kriegszeiten und von der Hauptstädte waren aber nicht nur die Ideen militärischen Niederlagen, wie Sedan 1940 für des US-Präsidenten Grund zur Sorge, sondern Frankreich und Singapur 1942 für das Vereinig- auch die bolschewistische Revolution in Russ- te Königreich, sollten sie im Zweiten Weltkrieg land, deren Ideologie dem Konzept eines Kolo- nicht überdauern. Die Saat für die Entkolonia- nialreiches diametral gegenüberstand. Doch die lisierung nach 1945 wurde im Ersten Weltkrieg Bedrohung durch diese neuen imperialismuskri- und während seines unmittelbaren Nachspiels tischen Stimmen war nur eine flüchtige. Der Wil- gelegt. sonsche Moment mochte in den Reihen vieler na- tionalistischer Eliten Gehör finden, büßte jedoch Übersetzung aus dem Englischen: Peter Beyer, Bonn. an Zugkraft ein, als die Untertanenbevölkerun- gen die harte Hand der Imperialmächte zu spüren bekamen. Die von Lenin und Wilson aufgewor- fenen Ideen klangen dennoch über 1919 hinaus nach.

SCHLUSS

Ungeachtet der Turbulenzen in den Kriegsjah- ren und den unmittelbar auf sie folgenden Krisen überdauerten die europäischen Kolonialreiche der Siegermächte den Ersten Weltkrieg weitge- hend unbeschadet und konnten sich im Fall der Entente sogar enorm ausweiten. Sowohl das bri- tische Empire als auch das französische Kolonial- reich hatten in der Zwischenkriegszeit ihre größte JAMES KITCHEN ist Senior Lecturer für War Studies an der 08 Vgl. Martin Thomas, The French Empire Between the Wars: Royal Military Academy Sandhurst, Vereinigtes Imperialism, Politics and Society, Manchester 2005; John Darwin, Königreich. Seine Forschungsschwerpunkte sind The Empire Project: The Rise and Fall of the British World-System, die globalen Dimensionen des Ersten Weltkrieges 1830–1970, Cambridge 2009. 09 Vgl. Erez Manela, The Wilsonian Moment: Self-Determination sowie Kolonialkonflikte im 19. und 20. Jahrhundert, and the International Origins of Anticolonial Nationalism, Oxford insbesondere im Nahen Osten. 2007. [email protected]

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„MIT DYNAMIT GELADEN“ Das Prinzip nationaler Selbstbestimmung und sein globales Vermächtnis

Alan Sharp

Im September 1919 machte sich US-Präsident WILSON GESTALTET Woodrow Wilson zu einer Vortragsreise durch DIE DEBATTE sein Land auf, um die Vorbehalte gegen den Versailler Vertrag abzubauen und den US-Kon- Nach einem über vier Jahre währenden Krieg, von gress durch eine entsprechende Mobilisierung dem man ursprünglich angenommen hatte, dass der öffentlichen Meinung zu einer Ratifizierung er an Weihnachten 1914 wieder vorbei sein wür- zu bewegen. Erschöpft von den anstrengen- de, versuchten die Menschen in allen kriegführen- den sechs Monaten in Paris, wo er sich mit dem den Staaten, einen Sinn für die furchtbaren Op- französischen Ministerpräsidenten Georges fer zu finden, und hofften, dass aus dem Gemetzel Clemenceau, dem britischen Premierminister eine bessere Welt entstehen könnte. Viele fühlten David Lloyd George und dem italienischen Mi- sich 1918 von Wilsons Reden inspiriert, in denen nisterpräsidenten Vittorio Orlando sowie Ver- er seine Vision einer Welt nach dem Krieg darleg- tretern weiterer Nationen von Januar bis Juni te. Am 8. Januar stellte er sein „14-Punkte-Pro- 1919 getroffen hatte, um ein Friedensabkom- gramm“ für eine Nachkriegsordnung vor, das er men auszuhandeln, erlitt er einen Schlaganfall. am 11. Februar um die „vier Prinzipien“ und am Da Wilson nicht zu Kompromissen bereit war, 4. Juli um die „vier Ziele“ sowie am 27. September zugleich aber auch nicht genügend seiner repu- um die „fünf Einzelheiten“ ergänzte. Er fasste sie blikanischen Gegner, ja nicht einmal seiner de- wie folgt zusammen: „Was wir anstreben, ist die mokratischen Verbündeten überzeugen konnte, Herrschaft des Rechts, gegründet auf der Zustim- ging die Abstimmung im Senat am 19. Novem- mung der Regierten und gestützt durch die orga- ber verloren. Es gab keine Einigung, der Ver- nisierte Meinung der Menschheit.“ 03 trag wurde vom Kongress nicht ratifiziert. Zu- Als im Oktober 1918 eine Kriegsniederlage rück blieben Großbritannien und Frankreich für das Deutsche Reich unausweichlich schien als widerstrebende Hüter eines verwaisten Völ- und sich immer mehr Verbündete abkehrten, kerbundes und als Erben eines Abkommens, wandte sich die deutsche Regierung mit der Bitte auf das sie sich ohne Wilson nicht eingelassen an Wilson, einen Waffenstillstand unter der Zusi- ­hätten. 01 cherung auszuhandeln, dass ein späteres Abkom- Die Ablehnung des Vertrages durch den US- men seine 14 Punkte widerspiegeln würde. Dies Kongress war ein bedeutender Moment in einem sagte Wilsons Außenminister Robert Lansing am Jahr, in dem ohnehin kein Mangel an solchen 5. November trotz einiger Bedenken zu. Momenten geherrscht hatte. Die bittere Bemer- Clemenceau spottete über Wilsons über­ kung des britischen Premierministers Stanley bordenden Idealismus – „Gott der Allmächtige Baldwin 1932, „von Washington bekommt man brauchte nur zehn Punkte“ 04 –, aber als der ers- nichts als Worte, große Worte, aber eben nur te US-Präsident, der im Amt ins Ausland reiste, Worte“, 02 gibt den anhaltenden Unmut wider, nach Europa kam, setzte man in ihn ähnliche Er- den man angesichts des Rückzugs der Amerika- wartungen wie in einen Heilsbringer. Noch gab es ner empfand. In den Augen der anderen hatten kein Fernsehen, das Staatschefs auf Normalgröße sie sich aus der Verantwortung gegenüber der schrumpfen ließ, und so sahen die Europäer Wilson neuen Weltordnung geschlichen, zu deren Ge- in den Wochenschauen überlebensgroß auf der Ki- staltung Wilson so viel beigetragen hatte. noleinwand, wodurch sein Image als potenzieller

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Wunderheiler einer kaputten Welt noch verstärkt grundlegende Ursache des Krieges darin, dass die- wurde. Bereits vor dem Empfang durch begeister- ses Recht einem Großteil der Menschen in Ost- te Menschenmengen in Paris, Rom und London und Mitteleuropa verwehrt worden war. Bereits befürchtete der US-Präsident, dass er übermäßige vor dem Krieg hatte es in Irland und in Öster- Hoffnungen geweckt habe und der Frieden zu „ei- reich-Ungarn Autonomiebestrebungen gegeben, ner Tragödie der Enttäuschung“ werden könnte. 05 und auch die Polen, deren Staat Ende des 18. Jahr- Später bemerkte er reumütig: „Was von mir erwar- hunderts vom Habsburgerreich, von Russland tet wird, kann nur Gott leisten.“ 06 und Preußen geschluckt worden war, hatten sich Sein Versäumnis, die an ihn gerichteten Er- als unruhige Untertanen erwiesen. Wilsons De- wartungen zu erfüllen, sorgte später dafür, dass finition, Selbstbestimmung sei kein bloßes Wort, sich seine einstigen Bewunderer mit großer Bit- sondern ein unerlässliches Prinzip des Handelns, terkeit von ihm abwandten. Ende 1918 war er es fungierte nun als zusätzlicher – unbeabsichtigter jedoch, der die Debatte prägte. Dass seine Ver- – Ansporn für den ethnischen Nationalismus, der bündeten die inspirierenden, aber vagen Ver- durch den Krieg gefördert worden war. Wilson sprechungen, die unbeabsichtigte Hoffnungen setzte Selbstbestimmung mit der Souveränität des geweckt hatten, nur gezwungenermaßen befür- Volkes gleich und betonte als Präsident eines Ein- worteten, minderte die ohnehin geringen Erfolgs- wanderungslandes den staatsbürgerlichen gegen- aussichten, die zusätzlich durch die beispiellos über dem ethnischen Nationalismus. Dieses Kon- hohen moralischen Standards beeinträchtigt wur- zept stand entgegengesetzt zur deutschen und den, die sich die Alliierten bei der Friedenskon- osteuropäischen Tradition, in der die Nationali- ferenz setzten. Die enttäuschten und benachtei- tät nicht selbstbestimmt, sondern durch Abstam- ligten Parteien konnten daher leicht eine gewisse mung, Sprache und Religion festgelegt war. Nach Heuchelei in Wilsons Rhetorik erkennen, die sich dem Krieg, in dem multinationale Reiche auf bei- deutlich von den komplexen Realitäten der Situ- den Seiten die potenziell selbstmörderische Poli- ation nach dem Krieg in Europa und der weite- tik verfolgt hatten, nationalistische Unzufrieden- ren Welt unterschied. Das galt vor allem für das heit unter ihren Gegnern zu schüren, hatte dieses Selbstbestimmungsrecht der Völker. Konzept einen schweren Stand. Selbst in Ost- und Mitteleuropa gab es, wie RECHT AUF Wilson später eingestand, weit mehr aufstreben- SELBSTBESTIMMUNG de nationale Gruppen, als er sich vorgestellt hat- te. Seine Rhetorik fand jedoch bei aufmerksamen Wilson hatte die Idee eines Selbstbestimmungs- Zuhörern weltweit großen Anklang, auch wenn rechts der Völker nicht erfunden, sah jedoch eine er das nie beabsichtigt hatte. Die vermeintliche Unterstützung durch den Führer des mächtigs-

01 Für weiterführende Literatur vgl. Seamus Dunn/​T. G. Fraser ten Landes der Welt war eine zusätzliche Ermun- (Hrsg.), Europe and Ethnicity. World War I and Contemporary terung für die antikolonialen Bewegungen, deren Ethnic Conflict, London 1996; Robert Gerwarth, Die Besiegten. Das Ambitionen bereits durch Maßnahmen in Kriegs- blutige Erbe des Ersten Weltkriegs, München 2017; Erez Manela, zeiten und verschiedene Ereignisse angestachelt The Wilsonian Moment. Self-Determination and the International worden waren. US-Außenminister Lansing, ein Origins of Anticolonial Nationalism, Oxford 1997; David Reynolds, The Long Shadow. The Great War and the Twentieth Century, erfahrener Politiker, der von der Friedenskonfe- London 2013; Alan Sharp, Versailles 1919. A Centennial Perspec- renz zunehmend frustriert war, befürchtete, dass tive, London 2018; Zara Steiner, The Lights That Failed. European Wilson die Konsequenzen seiner Rede nicht be- International History 1919–1933, Oxford 2005. dacht hatte. „Die Formulierung“, schrieb er, „ist 02 Geäußert gegenüber Thomas Jones, A Diary with Letters. schlicht mit Dynamit geladen. Sie wird Hoff- 1931–1950, London 1954, S. 30. 03 Woodrow Wilson, Rede von Mount Vernon, 4. 7. 1918, zit. nungen wecken, die niemals verwirklicht werden nach Harold Temperley (Hrsg.), A History of the Peace Conference können. Ich fürchte, sie wird Tausende das Le- of Paris, Bd. 1, Oxford 1920, S. 444. ben kosten … Was für ein Unglück, dass die For- 04 Zit. nach Margaret MacMillan, Peacemakers: The Paris Confe- mulierung je ausgesprochen wurde! Was für ein rence of 1919 and Its Attempt to End War, London 2001, S. 41. Elend sie bringen wird!“ 07 05 Zit. nach George Creel, The War, the World and Wilson, New York, 1920, S. 161 f. 06 Zit. nach Antony Lentin, Lloyd George, Woodrow Wilson and 07 Robert Lansing, The Peace Negotiations. A Personal Narrative, the Guilt of Germany, Leicester 1984, S. 138. Boston 1921, S. 97 f.

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EINE GRENZE drückt wurde, die anschließenden Hinrichtungen IN IRLAND im Schnellverfahren und den Versuch von 1918, die Wehrpflicht auf Irland auszudehnen, schmolz In Irland, wo die anhaltende Kampagne um die die Unterstützung für Redmond jedoch, während Selbstverwaltung die britische Politik seit über gleichzeitig der Zuspruch für Sinn Féin wuchs. 50 Jahren beschäftigte, weigerten sich die 73 Ab- Obwohl die unionistische 36. (Ulster) Division geordneten von Sinn Féin, der revolutionären und die nationalistische 17. (irische) Division im irisch-republikanischen Unabhängigkeitsbewe- Juni 1917 gemeinsam in der Schlacht von Messi- gung, die bei den allgemeinen Parlamentswah- nes kämpften, glaubten beide Parteien, dass nur len im Dezember 1918 ins britische Unterhaus sie durch das von ihnen vergossene Blut ein An- gewählt worden war, ihre Sitze einzunehmen. recht auf die Unterstützung der Briten bei ihren Stattdessen riefen sie am 21. Januar 1919 die iri- gegeneinander gerichteten Bestrebungen hätten, sche Republik aus und installierten ein eigenes wobei die Männer aus Ulster vor allem auf ihre Parlament in Dublin, das Dáil Éireann. Wie ihre schweren Verluste am 1. Juli 1916 an der Somme Kampfgenossen im ehemaligen Habsburger-, Za- verwiesen. ren- und Deutschen Reich gaben sie sich nicht Am selben Tag, an dem die Republik aus- länger mit der Autonomie innerhalb einer föde- gerufen wurde, wurden in Tipperary die ersten ralen Struktur zufrieden, die viele von ihnen vor Schüsse im Irischen Unabhängigkeitskrieg ab- dem Krieg angestrebt hatten. Zusammen mit an- gefeuert. Zwei Polizisten, die Sprengstoff bewa- deren aufstrebenden nationalen Gruppen sand- chen sollten, kamen dabei ums Leben. 1919 und ten sie Delegierte nach Paris, in der Hoffnung, 1920 führte die neu gegründete Irish Republi- Wilsons Unterstützung zu gewinnen und in den can Army den Aufstand gegen die Truppen der Völkerbund aufgenommen zu werden. Doch we- britischen Krone in Irland an. Eine Spirale der der Wilson noch Clemenceau wollten sie emp- Gewalt und Gegengewalt kam in Gang, mit Ter- fangen. Dennoch sah sich der britische Premier ror und Gegenterror. Im November 1920 wur- Lloyd George mit einer massiven Krise konfron- de das Kriegsrecht verhängt. Angesichts des in- tiert, die bereits vor dem Krieg existiert hatte und ternationalen Drucks und der Kritik im eigenen nur verschoben worden war, als man die Umset- Land erklärte sich Lloyd George schließlich zu zung des Irish Home Rule Act 1914 für die Dauer einem Waffenstillstand bereit und handelte den des Krieges aufgehoben hatte. anglo-irischen Friedensvertrag vom Dezember Das Gesetz war erst nach erbitterten Aus- 1921 aus. Dadurch wurde Irland in einen Frei- einandersetzungen im Parlament verabschie- staat im Süden geteilt, der mit einer eigenständi- det worden, bei denen die konservativen Gegner gen Regierung Teil des British Empire war, und der liberalen Regierung von Herbert Asquith die in ein Gebiet im Norden, das im Vereinigten Kö- Forderungen der überwiegend protestantischen nigreich blieb und sechs der neun Grafschaften Unionisten im Nordosten der Insel unterstützt der historischen Provinz Ulster umfasste. Sicher hatten, weiterhin von Westminster regiert zu muss niemand an die Bedeutung der Grenze er- werden, selbst wenn es dabei zum illegalen Ein- innert werden, die aufgrund dieses Abkommens satz von Gewalt kommen sollte. Da sich sowohl entstand, ebenso wenig wie an die problembe- die Unionisten als auch die irischen Nationalis- ladene Geschichte Irlands und Nordirlands seit ten bewaffneten, drohte ein Bürgerkrieg. Doch 1921. dann verlagerte sich der Schwerpunkt der Politik aufgrund der Julikrise in Europa, und der Füh- IMPERIALE rer der Irish Parliamentary Party, John Redmond, PROBLEME bot die volle irische Unterstützung der britischen Kriegsanstrengungen an. Redmond hoffte, dass Obwohl die Einigung mit dem Deutschen und die Opfer der Iren, Katholiken wie Protestanten, dem Osmanischen Reich das britische und fran- ein gemeinsames Band schaffen würden, durch zösische Herrschaftsgebiet enorm vergrößerte – das die Umsetzung der Home Rule nach dem eine Tatsache, die die Mandate des Völkerbundes Krieg leichter fallen würde. Durch die harsche kaum verschleierten –, gab es Anzeichen, dass dem Reaktion der Briten auf den republikanischen britischen wie französischen Kolonialreich massi- Osteraufstand 1916 in Dublin, der rasch unter- ve interne Probleme bevorstanden, auch wenn die

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äußere Bedrohung abgenommen hatte. 08 Die bri- denskonferenz reisen konnte, und erzürnt, weil tische Kriegserklärung von 1914 hatte das gesam- die indische Unterstützung im Krieg nicht genü- te Empire gebunden, doch im Laufe des Krieges gend wertgeschätzt wurde, wie sich unter ande- wuchs aufgrund der Kriegserfahrungen und Op- rem in der Verabschiedung des Rowlatt Act im fer das Selbstbewusstsein in den Dominions. Kö- März 1919 zeigte, begann der Indische National- nig George V. hätte den Versailler Vertrag 1919 kongress unter Führung eines in England ausge- einfach auf Anraten seines Parlaments in West- bildeten Juristen namens Mohandas Gandhi eine minster ratifizieren können, doch man hielt es für Widerstandskampagne, um die Briten von einem politisch klüger, vor der Unterzeichnung die Zu- Abzug aus Indien zu überzeugen. Am 13. April stimmung der jeweiligen Parlamente der Domi- 1919 mündete eine Versammlung in Amritsar in nions einzuholen. Das war noch erfolgreich, als eine Tragödie, als britische Truppen unter Gene- die Briten 1922 jedoch angesichts erneuter Feind- ral Reginald Dyer ohne Vorwarnung das Feuer seligkeiten mit der Türkei um Unterstützung aus auf Demonstranten eröffneten. Mindestens 379 dem Empire baten, reagierten nur Neuseeland Inder wurden getötet, über 1500 verwundet. Das und Neufundland – ein weiteres Anzeichen für Massaker von Amritsar wurde zu einem wichti- die gewaltigen Veränderungen seit 1914. gen Symbol und mobilisierte die Massen für die Beim Versuch, die Kontrolle zu behalten, nationalistische Bewegung, die nach dem Zweiten stützten sich die imperialen Mächte auf Zwang Weltkrieg schließlich ihr Ziel, die indische Unab- und Zugeständnisse. Bestrebungen zur gütli- hängigkeit, erreichte. chen Einigung wurden allerdings häufig durch Der „Wilsonsche Moment“ 1919 hatte welt- Zwangsmaßnahmen zunichte gemacht. In In- weit Auswirkungen. 09 Am 8. März verhafteten dien gewährten die Morley-Minto-Reform von die britischen Behörden in Ägypten Saad Zagh- 1909 und die Montagu-Chelmsford-Reform von lul und drei weitere führende Nationalisten und 1919 den Provinzregierungen ein gewisses Maß deportierten sie nach Malta. Daraufhin kam es an Selbstverwaltung. Aber nach den Ermittlun- unter der Führung der ägyptischen Nationalis- gen zu den revolutionären Verschwörungen 1915 ten, die ohnehin frustriert darüber waren, in Pa- in Bengalen und im Punjab empfahl der Vorsit- ris kein Gehör zu finden, zu einer Reihe von Un- zende des Untersuchungskomitees, Sir Sidney ruhen, die sich von Kairo rasch über das gesamte Rowlatt, die Ausweitung der Sicherheitsmaßnah- Land verbreiteten: die Revolution von 1919, die men aus Kriegszeiten gemäß dem Defence of In- zu einem Wendepunkt im Kampf um die Unab- dia Act, durch das Personen, die unter Terroris- hängigkeit wurde. Nach drei Jahren der Gewalt musverdacht standen, ohne Gerichtsverfahren gewährten die Briten eine partielle Unabhängig- inhaftiert werden konnten. Der Indische Natio- keit, bei der jedoch die Landesverteidigung und nalkongress, der 1885 ursprünglich als ein Forum die Kontrolle über den Suezkanal in britischer gegründet worden war, in dem eine gebildete in- Hand ­blieben. dische Elite in Dialog mit der britischen Regie- In Korea riefen Nationalisten am 1. März 1919 rung treten konnte, hatte sich zunehmend radika- die Unabhängigkeit aus. Die Formulierungen in lisiert, unter anderem aufgrund des unglücklichen ihrer Erklärung waren stark von Wilsons Sprache Versuchs des Vizekönigs Lord Curzon, Bengalen geprägt, allerdings bestand die japanische Herr- vor dem Krieg zu teilen. schaft noch bis 1945 weiter. In China war man Wilsons Worte gaben den indischen Bestre- enttäuscht darüber, dass die chinesische Delega- bungen Auftrieb – wie der nationalistische Un- tion es nicht geschafft hatte, die „ungleichen Ver- abhängigkeitskämpfer Lajpat Rai nicht müde träge“ mit ausländischen Mächten aufzuheben, wurde, die Leser in jeder Ausgabe seiner Zeitung die die Souveränität des Landes beschränkten. „Young India“ zu erinnern: „Europa ist nicht der Ebenso wenig hatte sie verhindern können, dass einzige Ort, wo die Demokratie gesichert werden Japan die ehemalige deutsche Kolonie Kiautschou muss.“ Frustriert darüber, dass Bal Gangadhar erhielt. Das führte am 4. Mai zu einem Studenten- Tilak, der führende Vertreter der swaraj (Selbst- protest in Beijing, der als ein Schlüsselmoment in regierung) nicht als Delegierter zur Pariser Frie- der Entwicklung des chinesischen Nationalismus gilt. China weigerte sich, den Versailler Vertrag 08 Siehe auch den Beitrag von James Kitchen in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). 09 Manela (Anm. 1).

34 Pariser Friedensordnung APuZ zu unterzeichnen, und Wilson, der einstige Held, gen zwischen Nationalisten in den aufstrebenden wurde nun geschmäht. Für einen jungen politi- baltischen Staaten, der Ukraine und dem Kauka- schen Aktivisten namens Mao Zedong war je- sus, Kosaken, verschiedenen konterrevolutionä- ner Sommer von entscheidender Bedeutung. Die ren Gruppierungen, der bolschewistischen Roten Ereignisse prägten sein Verständnis von Chinas Armee und – an den Rändern – diversen Interven- Problemen und dessen Platz in der Welt. Vor al- tionstruppen der Alliierten. Bis zum Herbst schien lem ließ er sich fortan von Wladimir Lenin und der wahrscheinlichste Ausgang der Sieg einer oder dem Bolschewismus inspirieren. mehrerer Weißer Armeen, die das bolschewisti- Das Beispiel Maos und des vietnamesischen sche Kernland bedrohten, das Lenin zu einem ho- Revolutionärs Ho Chi Minh, der sich nach dem hen territorialen und ökonomischen Preis für die erfolglosen Versuch, die nationalen Belange sei- Revolution gesichert hatte, als er im März 1918 nes Landes bei der Konferenz vorzubringen, den Friedensvertrag von Brest-Litowsk mit dem ebenfalls dem Kommunismus zuwandte, erin- Deutschen Reich unterzeichnet hatte. nern daran, dass Wilsons Version der Selbstbe- Im Mai 1919 hätte General Nikolai Judenitsch, stimmung nicht das einzige damals verfügbare der Oberbefehlshaber aller Weißen Truppen im Modell war. Nordwesten Russlands, beinahe Petrograd (Sankt Petersburg) eingenommen. Nachdem Admiral HERAUSFORDERUNG Alexander Koltschak, der selbsternannte Obers- BOLSCHEWISMUS te Regent Russlands, beeindruckende Siege in Si- birien vorweisen konnte, wurde seine Regierung Wilson hatte seine 14 Punkte auch als Entgeg- von den Alliierten de facto anerkannt, doch im nung auf die bolschewistischen Forderungen Juni wurde er vernichtend geschlagen. Den Som- nach Frieden und Selbstbestimmung formuliert, mer über erweiterte General Anton Denikin sei- die nach der Machtergreifung der Bolschewis- ne Machtbasis in der Don-Region, errang die ten im Oktober 1917 in Russland große Anzie- Kontrolle über einen Großteil der Ukraine und hungskraft entwickelten. Russland verkörperte eroberte im September Kursk und Woronesch. ein Dilemma, dem sich die Friedenskonferenz Am 14. Oktober nahm er Orjol ein, das nur in Versailles nicht ausreichend widmete. Einer- 400 Kilometer von Moskau entfernt war, wäh- seits unternahm man einen erfolglosen Versuch, rend Judenitsch erneut Petrograd bedrohte. Es alle Parteien, die um die Vorherrschaft im post- sah ganz danach aus, als ob eine der beiden Wei- revolutionären Russland kämpften, auf einer In- ßen Armeen den Wettlauf nach Moskau gewin- sel im Marmarameer zusammenzubringen, und nen würde. Aber dann zwang Leo Trotzkis Rote es gab halbherzige Bemühungen, Kontakt zu Armee Judenitsch zum Rückzug und besiegte an- Lenin und weiteren führenden Bolschewiki auf- schließend Denikin. Anfang 1920 hatten die Bol- zunehmen. Andererseits hätten einige alliierte schewiki ihre wichtigsten Gegner geschlagen. Führer, darunter der französische Befehlshaber Der Sieg war auf eine Kombination aus der der alliierten Armeen an der Westfront, Mar- wachsenden Stärke der Roten Armee und der schall Ferdinand­ Foch, und der britische Kriegs- Unfähigkeit der Weißen zurückzuführen, deren minister Winston Churchill, es gern gesehen, interne Streitereien, reaktionäre Sozialpolitik und wenn sich aus den unkoordinierten Interventi- Entfremdung potenzieller nationalistischer Ver- onen der Alliierten in Russland, mit denen man bündeter durch ihr Beharren auf der Integrität ursprünglich die Lieferung von Kriegsmateri- des Zarenreiches eine potenziell starke Position al nach Deutschland unterbinden wollte, ein ge- untergruben. Nun musste die Welt entscheiden, zielter Feldzug gegen die Bolschewisten entwi- ob sie es mit einem Staat zu tun hatte, dessen Zie- ckelt hätte. Doch man konnte sich nicht auf eine le und Politik sich an der Realpolitik orientierten, klare politische Linie einigen, sodass der Versail- oder einer tausendjährigen Einheit, die von einer ler Vertrag das größte Land der Welt in zwei kur- eschatologischen Ideologie getrieben wurde – ein zen Klauseln abhandelte. Dilemma, das schon bald noch durch das faschis- Für einen Großteil des Jahres 1919 blieb das tische Italien und später durch das nationalsozi- Schicksal Russlands und der Revolution unge- alistische Deutschland verschärft werden sollte. klärt, das Land war weiterhin gefangen in einem Allerdings sollte die Sowjet­ ­union beide überle- heillosen Durcheinander von Auseinandersetzun- ben und erst im Dezember 1991 ihr Ende ­finden.

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Wenn 1919 das Jahr war, in dem in Russland wjets nach und nach ihre Herrschaft. Allerdings nicht die Weißen siegten, dann war es auch das musste Lenin die Unabhängigkeit der baltischen Jahr, in dem sich in der übrigen Welt, vor allem Provinzen anerkennen und insgesamt eingeste- in weiten Teilen Europas, nicht die Roten durch- hen, dass die Weltrevolution zumindest vorerst setzten. Die Niederlage im Krieg, Revolutionen verschoben war. Der sowje­ ­tische Außenminis- und Auflösungserscheinungen hatten Jahrhun- ter Georgi Tschitscherin beschrieb den Friedens- derte alte politische Gebilde wie das Zarenreich, vertrag von Dorpat, mit dem die Unabhängigkeit Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich zer- Estlands anerkannt wurde, im Februar 1920 als stört. Dadurch entstand in Ost- und Mitteleu- „das erste Experiment der friedlichen Koexistenz ropa ein Machtvakuum, das, wie die Ausrichter mit bourgeoisen Staaten“. 11 der Friedenskonferenz befürchteten, vom Kom- munismus ausgefüllt werden könnte. Dadurch BLEIBENDES erhöhte sich der Druck für einen raschen Ab- VERMÄCHTNIS schluss der Verhandlungen zusätzlich. Am 4. Ap- ril notierte Lansing: „In Mitteleuropa wüten die Durch die Friedensverträge von 1919 wurde die Flammen der Anarchie; die Menschen sehen kei- Zahl der Menschen, die im ethnischen Mosaik ne Hoffnung; die Roten Armeen Russlands mar- Ost- und Mitteleuropas unter einer fremden Na- schieren westwärts. Die Revolutionäre haben tionalität lebten, von 60 Millionen auf 30 Millio- Ungarn fest im Griff; Berlin, Wien und Mün- nen reduziert. Die Vertragsmacher scheuten vor chen wenden sich den Bolschewisten zu.“ 10 Auch Zwangsumsiedlungen zurück, allerdings gab es in den erst kürzlich vom Zarenreich unabhängig brutale Ausnahmen wie den Bevölkerungsaus- gewordenen baltischen Republiken schienen die tausch zwischen Griechenland und der Türkei Bolschewisten auf dem Vormarsch. 1923 sowie die Vertreibung einiger Deutscher Am 21. März 1919 entstand mit der Ausru- aus Elsass-Lothringen. Nach 1945 hatte man we- fung der Ungarischen Räterepublik der zwei- niger Hemmungen: Millionen Deutsche wurden te kommunistische Staat weltweit, auf die am aus der Tschechoslowakei vertrieben oder muss- 7. April schon bald ein dritter folgte: die Münch- ten Polen für immer verlassen, als dessen Gren- ner Räterepublik. Entgegen Lansings Befürch- zen über 150 Kilometer nach Westen verscho- tungen bestanden sie nicht lange. Lenin konnte ben wurden. Der Holocaust hatte die jüdische angesichts der existenziellen Bedrohung seines Bevölkerung auf winzige Bruchteile reduziert – Regimes nur Ratschläge, aber wenig handfeste 0,003 Prozent in Polen und in der Tschechoslo- Unterstützung bieten. Die deutsche , wakei. In sieben osteuropäischen Ländern betrug verstärkt durch die paramilitärischen Verbände der Anteil der Minderheiten, die in den 1930er der Freikorps, stürzte die Münchner Räte nach Jahren 25 Prozent ausgemacht hatten, 1970 nur heftigen Straßenkämpfen am 1. Mai. Béla Kuns noch sieben Prozent. Staaten waren nun deutlich Regierung in Ungarn hielt sich etwas länger, „nationaler“, allerdings war das mit Methoden musste sich jedoch am 1. August, bedrängt von erreicht worden, die die Vertragsmacher von Pa- allen Seiten, einer rumänischen Invasion geschla- ris bei all ihren Fehlern streng verurteilt hätten. gen geben. Die britische Marine übernahm 1919 Wilson und Lenin gaben einem Prinzip zu- die Kontrolle über die Ostsee, doch in der Re- sätzlichen Anschub, das inmitten eines interna- gion, wo später Estland, Finnland, Lettland und tionalen, auf Staaten basierenden Systems für Litauen entstehen sollten, rangen Nationalisten, Unsicherheit sorgte. Wenn die Souveränität und Zarentreue, die Rote Armee und deutsche Frei- territoriale Integrität dieser Staaten nicht gesi- korps um die Vorherrschaft. Lenins Definition chert war, war das gesamte System in Gefahr. der Selbstbestimmung schloss Gebiete wie Geor- Aber wenn eine ausreichende Mehrheit der Ein- gien, die Ukraine, Armenien und Aserbaidschan, wohner eines Staates sich abscheiden will, hat sie die erst vor Kurzem ihre Unabhängigkeit gewon- dann auch das Recht dazu? Der ehemalige Gene- nen hatten, nicht mit ein. Dort etablierten die So- ralsekretär der Vereinten Nationen Boutros Bout- ros-Ghali schrieb in seiner 1992 veröffentlichten

10 Robert Lansing, Tagebucheintrag vom 4. 4. 1919, zit. nach David Perman, The Shaping of the Czechoslovak State, Leiden 11 Zit. nach Richard Debo, Survival and Consolidation: The For- 1962, S. 169. eign Policy of Soviet Russia 1918–1921, Montreal 1992, S. 145.

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„Agenda für den Frieden“: „Die Vereinten Nati- en direkt der Regierung in Madrid. Das katala- onen haben ihre Türen nicht verschlossen. Woll- nische Regionalparlament wurde aufgelöst, der te jedoch jede ethnische, religiöse oder sprachli- Ministerpräsident und seine Minister wurden che Gruppe Anspruch auf Staatshoheit erheben, gerichtlich verfolgt. In Ungarn verurteilen nati- käme es zu einer maßlosen Zersplitterung, und onalistische Gruppen weiterhin den Vertrag von es würde immer schwieriger, Frieden, Sicherheit Trianon und machen sich für die Interessen der und wirtschaftliches Wohlergehen für alle zu ver- drei Millionen in sieben Anliegerstaaten lebenden wirklichen.“ Allerdings hatte er keine konkreten Ungarn stark. Durch den Untergang der So­wjet­ Vorschläge, wie das von ihm angestrebte Ziel zu union sind 26 Millionen Russen in den ehema- erreichen sei: „Wir dürfen es nicht zulassen, dass ligen Sowjetrepubliken verstreut. Der russische die Souveränität, territoriale Unversehrtheit und Präsident Wladimir Putin bietet separatistischen Unabhängigkeit der Staaten innerhalb des eta- Gruppen militärische Unterstützung in der Don- blierten internationalen Systems und der Grund- bass-Region und behauptet, seine Annexion der satz der Selbstbestimmung der Völker – beides Krim sei lediglich eine Bestätigung des Rechts auf Grundsätze von großem Wert und großer Bedeu- Selbstbestimmung der Bevölkerung auf der Krim. tung – in der vor uns liegenden Zeit in ein gegen- An Minderheiten, die ein Unruhestifter für sei- sätzliches Verhältnis zueinander geraten.“ ne Zwecke missbrauchen könnte, herrscht kein Der Widerspruch zwischen diesen beiden Mangel. Grundsätzen beschäftigt uns noch heute. Mit dem Nach dem Zusammenbruch der Sowjet­ ­union, Zusammenbruch der Sowjet­ ­union und der Auf- doch noch vor den schlimmsten Gräueltaten auf lösung Jugoslawiens tauchten viele der geschei- dem Balkan schrieb Karl Meyer, Kolumnist bei terten Staaten aus ihrer scheinbaren Unabhängig- der „New York Times“, am 14. August 1991, keit unter so­wje­tischer Vorherrschaft wieder auf, Wilsons Traum von der nationalen Selbstbestim- und der Balkan war erneut in Aufruhr. Das Stre- mung sei auch Generationen nach der Pariser ben nach einem eigenständigen Kurdistan, aner- Friedenskonferenz topaktuell. „Vom Baltikum kannt in dem mit dem Osmanischen Reich aus- bis zur Adria, von der Ukraine bis zum Balkan gehandelten, jedoch nicht ratifizierten Vertrag haben die unterdrückten Völker seinem Impe- von Sèvres, doch im Vertrag von Lausanne, der rativ – und oft problematischen Prinzip – neues mit Mustafa Kemals Republik geschlossen wur- Leben eingehaucht. Gemessen an den Ergebnis- de, nicht mehr erwähnt, sorgt bis heute für Span- sen war Wilson sogar ein erfolgreicherer Revolu- nungen. Die Entscheidung der Briten für den tionär als Lenin.“ Wenn ja, dann allerdings zu ei- EU-Austritt 2016 wurde unter anderem durch nem hohen Preis. Wie Wilson dem US-Senat am den Wunsch motiviert, die nationale Souveränität 19. August 1919 sagte: „Sie kennen und können von einer als Superstaat wahrgenommenen Euro- die Befürchtungen nicht ermessen, die ich durch- päischen Union zurückzuerlangen. 2014 stimm- gemacht habe, weil durch meine Worte Millionen ten die Schotten gegen die Unabhängigkeit vom Menschen so große Hoffnungen gemacht wur- Vereinigten Königreich, doch das Thema bleibt den.“ Lansing formulierte es drastischer: „Man aufgrund der Unterstützung seitens junger Wäh- stelle sich die Gefühle des Autors vor, wenn er lerinnen und Wähler und der Bedenken hinsicht- die Toten zählen muss, nur weil er eine Formulie- lich des Brexit nach wie vor aktuell. Der Brexit rung in die Welt gesetzt hat!“ 12 hat auch die Debatte in Irland über eine mögliche neue Abstimmung zur Wiedervereinigung mit Übersetzung aus dem Englischen: Heike Schlatterer, Nordirland neu belebt. Pforzheim. 2017 ergab ein nicht genehmigtes Referendum in Katalonien bei denjenigen, die abgestimmt hat- ten, eine starke Mehrheit für die Unabhängigkeit von Spanien. Spanien weigerte sich, das Referen- dum anzuerkennen, und unterstellte Kataloni- ALAN SHARP ist emeritierter Professor für Internationale

12 Robert Lansing, Tagebucheintrag vom 30. 12. 1918, zit. nach Geschichte an der Ulster University in Coleraine, Daniel Patrick Moynihan, Pandaemonium: Ethnicity in International Nordirland. Politics, Oxford 1994, S. 83. [email protected]

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VERSAILLER VERTRAG: EIN FRIEDEN, DER KEIN FRIEDEN WAR Peter Hoeres

An Aufwand war kein Mangel: 10 000 Teilneh- Überfülle des Spiegelsaals überhaupt sahen, ist mer aus 32 Staaten aller Kontinente fanden sich freilich zweifelhaft. 05 im Januar 1919 in Paris ein. Ein Vertragswerk mit Der französische Wunsch nach Sicherheit 440 Artikeln, die in einem Taschenbuch knapp vor dem militärisch, ökonomisch und demogra- 260 Druckseiten einnehmen, wurde verabschie- fisch überlegenen „Erbfeind“, nach Entschädi- det. 01 Es sollte nichts weniger erreicht werden, gung und Genugtuung ist nur zu verständlich. als den Krieg insgesamt abzuschaffen. „The War Die Umsetzung wirkte jedoch verheerend. Denn That Will End War“ 02 – diese Sinngebung hatte der Versailler Vertrag brach mit allen Regeln des der ­Science-Fiction-Autor H. G. Wells schon zu hergebrachten Völkerrechts. Er ließ Prinzipien Beginn des Großen Krieges geprägt, und sie war erfolgreicher Friedensschlüsse außer Acht, wie unvorsichtigerweise von US-Präsident Woodrow sie in Münster und Osnabrück 1648, in Wien Wilson übernommen worden. Immanuel Kant 1815, in Paris 1856 und in Berlin 1878 prakti- hatte 1795 den ewigen Frieden noch als eine Idee ziert worden, aber auch schon in der Antike be- konstruiert, der man sich beständig annähern sol- kannt gewesen waren: Amnestie und Vergessen le, die aber nie eingeholt werden könne. 03 Nun der Gräuel des Krieges, Anerkennung des Fein- sollte der Krieg, ein Normalzustand der „großen des als Verhandlungspartner und der Wille zum Politik“, eine anthropologische Konstante, per konstruktiven Neubeginn in einer neuen Ord- Federstrich aus der Welt geschafft werden. Das nung. Auch dass die neu in einen Friedensvertrag war tatsächlich Science-Fiction, pure Utopie. aufgenommene Schuldbezichtigung in den Kolo- Diese Utopie verdeckte und bemäntelte die nialverträgen etabliert worden war, wirft ein be- realen Interessen und Ziele, die die Franzosen zeichnendes Licht auf den Versailler Vertrag und unter ihrem Ministerpräsidenten Georges Cle- den Umgang zwischen Siegern und Verlierern in menceau und Marschall Ferdinand Foch ver- Europa. 06 folgten. Immerhin war Clemenceau Vorsitzender der Konferenz, und er setzte sich zwar keines- ÄCHTUNG wegs mit all seinen Zielen durch, aber doch mit DES FEINDES den Grundintentionen Revanche, Rache und Si- cherheit – Revanche für die Niederlage gegen Zunächst muss mit dem Historiker Gerd Krum­ Deutschland 1870/71, für die Schmach der Kai- eich festgestellt werden, dass der Waffenstillstand serproklamation in Versailles am 18. Januar 1871; in Compiègne „eine kaum verschleierte Kapitu- Rache für die beiden ins eigene Land hineingetra- lation“ unter Aufrechterhaltung der Seeblocka- genen Kriege, für die Wegnahme des vom Son- de gegen Deutschland war, die dann noch ein- nenkönig Ludwig XIV. eroberten Elsass-Loth- mal 100 000 Hungertote herbeiführte, und es sich ringen, für die Verwüstungen – beim Rückzug beim Versailler Friedensschluss in der Tat um ein hatten die Deutschen verbrannte Erde hinterlas- Diktat handelte, „dessen Unterschrift wie mit sen 04 – und die Opfer, die Toten und die gueules vorgehaltener Pistole erzwungen wurde“. 07 cassées, die von Kriegsverletzungen entstellten Die Deutschen waren zu den Verhandlungen Gesichter vieler französischer Soldaten. Fünf da- nach Paris gar nicht erst eingeladen worden, ob- von hatte Clemenceau zur Vertragsunterzeich- gleich sie zwischenzeitlich einen Regimewech- nung nach Versailles bestellt, um der deutschen sel erlebt hatten und mit dem Zentrumspolitiker Delegation ihre Verbrechen vor Augen zu halten. eine Person die deutsche Waf- Ob diese die Entstellten im Gegenlicht und der fenstillstandskommission leitete, die in der zwei-

38 Pariser Friedensordnung APuZ ten Kriegshälfte gegen die deutschen Annexio- keine Strafe ohne Gesetz“) durch die „Strafbe- nisten Stellung bezogen hatte. 1815 in Wien hatte stimmungen“ übergangen. Der im niederländi- Napoleons Außenminister Charles-Maurice de schen Exil befindliche Kaiser Wilhelm II. soll- Talleyrand wie selbstverständlich wieder am Ver- te laut Artikel 227 „wegen schwerer Verletzung handlungstisch gesessen, und Napoleon hatte zu- des internationalen Sittengesetzes und der Hei- vor ganz Europa mit Kriegen überzogen. Der ligkeit der Verträge unter öffentliche Anklage“ deutschen Delegation wurde in Versailles ultima- gestellt werden. Deutsche Kriegsverbrecher – tiv ein Vertragswerk präsentiert, das sie nur noch und nur diese – sollten gemäß der Artikel 228 bis in einem Punkt abändern konnte: In Oberschle- 230 ausgeliefert und vor Militärgerichte der alli- sien sollte es eine Abstimmung über die Zugehö- ierten und assoziierten Mächte wie die USA ge- rigkeit des Gebietes zum Deutschen Reich oder stellt werden. Die übliche gegenseitige Amnestie zum wieder begründeten Polen geben. Allein, nach Kriegen, die ein Vergessen der gegenseitig dieser im März 1921 klar zugunsten Deutsch- zugefügten Gräuel implizierte und einen Neu- lands ausfallenden Abstimmung wurde von den anfang, einen Frieden ermöglichte, wurde damit Siegerstaaten keine Folge geleistet. Ansonsten ihrerseits als elementare Lehre aus den Friedens- hatten die Deutschen in kürzester Frist zu unter- schlüssen seit der Antike ignoriert. schreiben, bei Drohung der Wiederaufnahme des Reparationen und Gebietsabtretungen ge- Krieges gegen ein nun demobilisiertes und von hörten dagegen von jeher zu Friedensverträgen, inneren Unruhen erschüttertes und hungerndes schließlich wurden Kriege meist um Gebietszu- Land. 08 gewinne geführt. Im Vorfeld der Pariser Friedens- Bereits die im Notenwechsel mit der US- verhandlungen hatte US-Präsident Wilson jedoch Regierung vor dem Waffenstillstand geforder- das Selbstbestimmungsrecht der Völker prokla- te Abdankung des Kaisers und der von ame- miert, mit dem die territorialen Bestimmungen rikanischer Seite gewünschte Regimewechsel des Versailler Vertrages aber nicht vereinbar wa- waren ein Novum gewesen, das den Prinzipi- ren. Weder durfte Deutsch-Österreich dem Reich en von Souveränität und Staatengleichheit wi- beitreten noch wurde dem Selbstbestimmungs- dersprach. Darüber hinaus wurden im Versail- recht andernorts konsequent Rechnung getragen. ler Vertrag die Rechtsgrundsätze par in parem Die Deutschen empfanden die Abtrennung Ost- non habet iurisdictionem („Ein Gleicher hat un- preußens vom Reich durch den polnischen Korri- ter Gleichen keine Gerichtsgewalt“) und nullum dor als den Versuch, einen größtmöglichen „pol- crimen, nulla poena sine lege („Kein Verbrechen, nischen Pfahl“ in ihr Fleisch zu treiben. 09 Zehn bis zwölf Millionen Deutsche lebten nun außer- halb des Reiches. 10 Die ökonomische Leistungs- 01 Vgl. Der Vertrag von Versailles, München 1978, S. 118–375. fähigkeit wurde massiv eingeschränkt. Schlim- 02 Herbert George Wells, The War That Will End War, in: The Daily News and Leader, 14. 8. 1914, S. 4. mer noch war, dass die Franzosen weitgehend 03 Zu Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ und deren Aktualisie- die Rheinprovinz besetzten und Brückenköpfe in rung im Ersten Weltkrieg vgl. Peter Hoeres, Kants Friedensidee in Köln, Mainz, Koblenz und Kehl hielten, ein Ge- der deutschen Kriegsphilosophie des Ersten Weltkriegs, in: Kant- biet, das wie im Ruhrkampf 1923 flugs ausgewei- Studien 93/2002, S. 84–112. tet werden konnte. 04 Vgl. Gerd Krumeich, Der Krieg als großer Arbeitsplatz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. 3. 1998, S. VI. Die Reparationen wurden im Versailler Ver- 05 Vgl. Andreas Platthaus, Der Krieg nach dem Kriege. Deutsch- trag nicht fixiert, sondern erst 1921 von den Alli- land zwischen Revolution und Versailles 1918/19, Berlin 2018, ierten auf die astronomische Summe von 226 Mil- S. 21–38. liarden Goldmark festgelegt, die bis 1963 zu 06 Vgl. Jörg Fisch, Krieg und Frieden im Friedensvertrag. Eine zahlen sein sollte. Darüber hinaus waren jedes universalgeschichtliche Studie über Grundlagen und Formelemente des Friedensschlusses, Stuttgart 1979, S. 35–269. Siehe hierzu Jahr zwölf Prozent der deutschen Ausfuhrerlö- auch Christian Meier, Das Gebot zu Vergessen und die Unabweis- se abzugeben. Hinzu kamen umfangreiche Koh- barkeit des Erinnerns, München 2010. lelieferungen. Als Pfand galt das Vermögen von 07 Gerd Krumeich, Die unbewältigte Niederlage. Das Trauma des Ersten Weltkriegs und die Weimarer Republik, Freiburg/Br. 2018, S. 15, 143 f. 09 Reichswehrminister , zit. nach Kraus (Anm. 8), 08 Vgl. Hans-Christof Kraus, Versailles und die Folgen. Außenpo- S. 41. litik zwischen Revisionismus und Verständigung 1919–1933, Berlin 10 Vgl. Andreas Rödder, Wer hat Angst vor Deutschland? Ge- 2013, S. 25 f. schichte eines europäischen Problems, Frank­furt/M. 2018, S. 93.

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Reich und Ländern. 11 Ferner wurden Deutsch- ENTTÄUSCHTE land harte militärische Beschränkungen aufer- ERWARTUNGEN legt: Schwere Artillerie wurde ebenso wie Pan- zer, U-Boote und eine Luftwaffe verboten. Das Die Reaktion auf den Vertrag war blankes Ent- Heer war auf 100 000 Mann begrenzt, was bei setzen, das in Deutschland von der SPD bis zur 4,5 Millionen Soldaten eine gigantische Demobi- Rechten reichte, aber ebenso unter den Sieger- lisierung mit allen sozialen und mentalen Folgen mächten bis in ihre Delegationen verbreitet bedeutete. 12 war – beim britischen Ökonom John Maynard Legitimationsgrundlage für diese Bestimmun- Keynes, beim späteren US-Präsidenten Herbert gen war der berüchtigte Artikel 231 des Versail- Hoover (der Vertrag sei „von Hass und Rache ler Vertrages, der unter der Überschrift „Wie- durchsetzt“) oder beim südafrikanischen Dele- dergutmachungen“ stand und besagte: „Die gationschef und Veteranen Jan Smuts. 14 Auch alliierten und assoziierten Regierungen erklä- der linksliberale italienische Ministerpräsident ren, und Deutschland erkennt an, daß Deutsch- Francesco Nitti, der den von seinem Vorgänger land und seine Verbündeten als Urheber für alle Vittorio Orlando verhandelten Vertrag unter- Verluste und Schäden verantwortlich sind, die schrieb, übte später scharfe Kritik. Der Vertrag die alliierten und assoziierten Regierungen und sei „ein Mittel zur Fortsetzung des Krieges“ mit ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch dem Ziel, „Deutschland zu zerstückeln und sei- den Angriff Deutschlands und seiner Verbünde- ne wirtschaftliche und politische Einheit, ja sei- ten aufgezwungenen Krieges erlitten haben.“ Von ne Existenz selbst zu vernichten.“ 15 Sogar in einer Alleinschuld Deutschlands war hier nicht Frankreich protestierten nicht nur die Sozialis- direkt die Rede. Aber in einer Mantelnote der ten, sondern auch der Diplomat Alcide Ebray alliierten und assoziierten Mächte, die als Reak- gegen ein Friedenswerk, das einen neuen Krieg tion auf deutsche Einwände von Philip Kerr, dem stimuliere. 16 Privatsekretär des britischen Premierministers Das Hauptproblem des Versailler Vertrags- Lloyd George, verfasst worden war, wurde dann werkes war aber nicht seine Härte, sondern dass doch offen ausgesprochen, dass Deutschland im es ein dauerhaft diskriminierendes und willkür- Bestreben, seine „Vorherrschaft mit Gewalt zu liches Regime begründete, das mit dem Instru- begründen“, alleinschuldig am Krieg sei und sei- ment der Gewaltandrohung durch die französi- ne Bundesgenossen ermuntert habe. schen Besatzungskräfte im Westen Deutschlands Die Inhaftnahme für den Krieg war mit der operierte, und auf der Herrschaft einer interalli- Zuweisung einer singulären moralischen Schuld ierten Reparationskommission beruhte, die eben- und der Einbettung in eine lange Kontinuität ver- falls diktierte und nicht verhandelte, sowie auf bunden. Der Krieg sei „das größte Verbrechen dem von den Alliierten dominierten Völkerbund, gegen die Menschheit und gegen die Freiheit der zu dem den Verlierern der Zutritt einstweilen ver- Völker gewesen, welches eine sich für zivilisiert wehrt blieb. Dass die Vereinigten Staaten als eif- ausgebende Nation jemals mit Bewußtsein be- rigste Verfechter einer „League to enforce Peace“ gangen hat. Während langer Jahre haben die Re- dem Genfer Völkerbund fernblieben und den gierenden Deutschlands, getreu der preußischen Versailler Vertrag nicht ratifizierten, untermauer- Tradition, die Vorherrschaft in Europa ange- te die Schieflage des gesamten Systems. strebt. (…) Sie haben getrachtet, sich dazu fähig Um diese Schieflage zu verstehen, muss hier zu machen, ein unterjochtes Europa zu beherr- nochmals die französische Perspektive vergegen- schen und zu tyrannisieren, so wie sie ein unter- wärtigt werden, die von der Befürchtung geprägt jochtes Deutschland beherrschten und tyranni- war, dass der Versailler Frieden zu schwach, zu sierten.“ 13 Das war die ungebremste Fortsetzung nachgiebig gegenüber dem Koloss in der Mitte der Kriegsideologie. Europas ausfallen könnte – eine Sorge, die sich aus Sicht vieler Franzosen 1940, als die Deutschen

11 Vgl. Kraus (Anm. 8), S. 28 f., S. 41. 12 Vgl. Rödder (Anm. 10), S. 86. 14 Vgl. Platthaus (Anm. 5), S. 352. 13 Georges Clemenceau an Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau, 15 Zit. nach Eckart Conze, Die große Illusion. Versailles 1919 und 16. 6. 1919, in: Klaus Schwabe (Hrsg.), Quellen zum Friedens- die Neuordnung der Welt, München 2018, S. 479. schluss von Versailles, Darmstadt 1997, Nr. 130, S. 358. 16 Vgl. Kraus (Anm. 8), S. 32.

40 Pariser Friedensordnung APuZ erneut Belgien und Frankreich mit einem Krieg So hatten etwa die Briten in den Pariser Ver- überzogen und eroberten, als berechtigt heraus- handlungen weniger Grund für eine harte Politik stellte. Marschall Fochs ursprüngliche Forde- gegen das besiegte Deutschland. Vor dem Krieg rungen waren viel weitreichender gewesen: eine hatten sie sich eher aufgrund der Stärke Russlands vollständige, dauerhafte, jederzeit kontrollierte mit dem Zarenreich verbündet als aus Angst vor Entwaffnung, eine Annullierung der Reichsgrün- Deutschland. Großbritannien wollte im Hinblick dung von 1871, eine Auflösung des Reiches in auf das Empire an der Gestaltung der Welt nach seine Länder oder zumindest eine informelle An- einer deutschen Niederlage beteiligt sein. 20 Die gliederung des in autonome Republiken aufge- deutsche Flottenpolitik spielte dabei eine unter- teilten linksrheinischen Gebietes an Frankreich. geordnete Rolle, wie neuere Forschungen zeigen. Die Experimente mit den Separatistenbewe- Eine ernsthafte Bedrohungsperzeption und ent- gungen im Rheinland, die die Franzosen unter- sprechende Reaktionen hatte sie in Großbritan- stützten, waren allerdings nicht sehr erfolgreich. nien nicht ausgelöst. Sie war dort vor allem ein An der Einheit des Reiches hielten die Deutschen Vehikel zur Mobilisierung der Öffentlichkeit für in ihrer überwiegenden Mehrzahl fest. Gleich- den Ausgleich mit Frankreich und Russland ge- wohl ist die französische Perspektive ebenso legi- wesen. 21 Die britische Regierung versuchte in Pa- tim wie die zeitgenössisch dominante, keineswegs ris auch aus ökonomischen Gründen, die Franzo- nur deutsche, dass eine Demütigung, die von Cle- sen zu bremsen, wollte man Deutschland doch als menceau bewusst und hartnäckig symbolisch in- Handelspartner erhalten. Im Lichte des auf dem szeniert wurde, den Frieden „unauffindbar“ ma- Kontinent entrichteten Blutzolls und der Ideolo- chen würde, da er nicht auf Anerkennung des gisierung gegen die „Hunnen“ war sie jedoch ih- Feindes und Gegenseitigkeit beruhte. 17 Die Wor- rerseits einem innenpolitischen Erwartungsdruck te des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten ausgesetzt. „Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in solche Fesseln leg- IDEOLOGISCHE te?“ wurden sprichwörtlich, weil sie in einer KRIEGFÜHRUNG Zeit, in der die nationale Ehre noch eine selbst- verständliche Kategorie war, von den Deutschen Ihren Ausgang hatte die Ideologisierung des weithin geteilt wurden. 18 Krieges mit dem Propagandakrieg der Alliierten Die Empörung über die Ruhrbesetzung von genommen, der die eigene Bevölkerung und die 1923, als Frankreich und Belgien aufgrund des Neutralen für den Krieg gegen die Mittelmächte deutschen Rückstands bei den Reparationszah- mobilisieren sollte. Das war besonders in Groß- lungen ins Ruhrgebiet einmarschierten und es britannien virulent gewesen, wo es in Politik und zu Tötungen, Hinrichtungen, Geiselnahmen, Öffentlichkeit viele Stimmen gegeben hatte, die Deportationen, Fabrikbesetzungen und zahl- einen Kriegseintritt ablehnten. 22 reichen Schikanen kam, führten zur zweiten Entzündet hatte sich der Propagandakrieg großen Erbitterung in Deutschland. Dass auch 1914 am völkerrechtswidrigen deutschen Ein- die britische Regierung die Ruhrbesetzung für marsch ins neutrale Belgien. Dafür wurde Reichs- unrechtmäßig erklärte, 19 spiegelte einmal mehr kanzler Theobald von Bethmann Hollwegs die Unentschlossenheit zwischen den Zielen ei- verzweifelter Ausspruch während eines emotio- nes Straffriedens und eines neuen Machtgleich- nalen Abschiedsgesprächs gegenüber dem briti- gewichts auf dem Kontinent, zwischen Hege- schen Botschafter Edward Goschen, die Garan- monie oder Gleichberechtigung – Fragen, die tie der belgischen Neutralität stelle im Vergleich zwischen den Siegermächten nicht entschieden werden konnten. 20 Vgl. Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 20134, S. 187–194, S. 691–699. 21 Vgl. Dominik Geppert/Andreas Rose, Machtpolitik und Flotten- 17 Vgl. Julien Freund, Der unauffindbare Friede, in: Der Staat bau vor 1914. Zur Neuinterpretation britischer Außenpolitik im 3/1964, S. 159–182. Zeitalter des Hochimperialismus, in: Historische Zeitschrift 2/2011, 18 So lehnte beispielsweise auch die linksliberale Deutsche De- S. 401–437. mokratische Partei die Vertragsunterzeichnung ab. Vgl. Platthaus 22 Vgl. Clark (Anm. 20), S. 629 f.; Peter Hoeres, Der Krieg der (Anm. 5), S. 367. Philosophen. Die deutsche und die britische Philosophie im Ersten 19 Vgl. Kraus (Anm. 8), S. 59. Weltkrieg, Paderborn 2004, S. 113 f.

41 APuZ 15/2019 zum „furchtbaren Ereignis eines deutsch-eng- führte dessen Wiederaufnahme am 1. Februar lischen Krieges“ einen „Fetzen Papier“ dar, als 1917 zu einer endgültigen Verhärtung der ameri- Schlagwort für eine angebliche deutsche Dok- kanischen Haltung, dem Abbruch der diploma- trin herangezogen. 23 Das Vorgehen der in Belgi- tischen Beziehungen und zum Kriegseintritt der en einrückenden deutschen Truppen gegenüber USA gegen Deutschland am 6. April. tatsächlichen und vermeintlichen Heckenschüt- zen war in der Propaganda zu singulären Verbre- VERFEHLTE chen deutscher Bestien und Hunnen stilisiert und BEFRIEDUNG ikonografisch aufbereitet worden, ironischerwei- se mit dem Bild abgehackter Kinderhände, einer Die vier Jahre lang tobende ideologische Krieg- grausamen Strafmaßnahme, die Belgier im Kongo führung konnte in Paris nicht gestoppt werden. 26 praktiziert hatten, nicht aber die deutschen Trup- Hinzu kam, dass die USA als der größte Gläu- pen in Belgien. 24 biger der Alliierten, abgesehen von einem unila- Hinzu kam der deutsche U-Boot-Krieg. Die teral verkündeten zweijährigen Zinsmoratorium Versenkung des britischen Passagierdampfers 1918, unnachgiebig auf die Bedienung der hor- Lusitania am 7. Mai 1915 durch einen von ei- renden interalliierten Schulden bestanden und nem deutschen U-Boot abgeschossenen Torpe- eine Verrechnung mit den deutschen Reparatio- do forderte 1200 Opfer, darunter 128 amerika- nen ablehnten. Umso mehr mussten insbesonde- nische Passagiere. Dies heizte in Großbritannien re die Franzosen auf die deutsche Erfüllung der die antideutsche Stimmung auf. Auch in den Ver- Reparationszahlungen beharren, um in der neuen einigten Staaten brach Hysterie aus: Deutsches Weltfinanzordnung bestehen zu können. 27 Eigentum wurde konfisziert, an manchen Orten Vor diesem Hintergrund fällt es schwer, wurden deutsche Bücher aus Bibliotheken ent- die bisweilen in der Forschung beschworenen fernt oder gar öffentlich verbrannt. Die deut- Chancen des Vertrages für die Deutschen zu er- sche Sprache wurde geächtet. In den vergange- kennen. 28 War Deutschland wirklich vom Zwei- nen Jahren gab es immer wieder Hinweise darauf, frontendruck, Bismarcks „Albtraum der Ko- dass die Lusitania auch Munition führte, wie es alitionen“, befreit worden? 29 Der Frieden von die Deutschen einst vermutet hatten. 25 Nach der Brest-Litowsk mit Russland aus dem März 1918, Aussetzung des unbegrenzten U-Boot-Krieges ebenfalls ein Diktatfrieden mit erheblichen Ge- bietsabtretungen, allerdings ohne Reparationen, 23 Es ist nicht gesichert, ob Bethmann Hollweg überhaupt diese wurde von den Siegerstaaten aufgehoben. Der Formulierung gebrauchte. Der Wortwechsel fand in einer Situation Vertrag von Rapallo mit der Sowjet­ ­union war äußerster Erregung des Reichskanzlers in einem lautstark geführten dafür 1922 der Ersatz, aber die Verbindungen Gespräch mit Goschen statt, kurz nach der wichtigen Reichstags- zur Sowjet­ ­union blieben trotz der militärischen rede Bethmann Hollwegs. Mitnichten war es eine programmati- sche Aussage, Bethmann Hollweg bezeichnete seinen Ausspruch Zusammenarbeit allein wegen des ideologischen selbst als eine „Entgleisung“. Vgl. Thomas T. G. Otte, A „German Gegensatzes und möglicher Maßnahmen des Paperchase“: The „Scrap of Paper“ Controversy and the Problem Völkerbundes prekär. Frankreich schuf sich da- of Myth and Memory in International History, in: Diplomacy and gegen bereits 1924 mit Bündnis- und Freund- Statecraft 1/2007, S. 53–87. Umso unverständlicher ist es, dass schaftsverträgen mit Polen, der Tschechoslo- die Wendung in Fortschreibung der britischen Kriegspropagan- da noch vor wenigen Jahren zum programmatischen Titel eines wakei, Rumänien und Jugoslawien eine „Kleine Buches mit wissenschaftlichem Anspruch avanciert ist. Vgl. Isabel V. Entente“, die Deutschland umgab. Besonders Hull, A Scrap of Paper. Breaking and Making International Law mit Polen und der Tschechoslowakei befand sich During the Great War, Ithaca 2014. Anders als Hull behauptet, bezeichnet Otte Goschens Bericht auch nicht als korrekt, sondern nur als wahrscheinlich („evidence … suggests“, S. 78). Bethmann 26 Vgl. Hoeres (Anm. 22). selbst widerspricht sich: In einer zeitnäheren Aufzeichnung spricht 27 Vgl. Adam Tooze, Sintflut. Die Neuordnung der Welt er vom „Blatt Papier“, in den Erinnerungen von einem „Fetzen 1916–1931, München 2015. Patric O. Cohrs macht den britischen Papier“ und „scrap of paper“ (Otte, S. 77). Anteil an der neuen Hegemonie stärker. Vgl. Patrick O. Cohrs, 24 Zur komplexen Lage beim Vorrücken der deutschen Armee in The Unfinished Peace after World War I. America, Britain and the Belgien im August und September 1914 vgl. Ulrich Keller, Schuld- Stabilisation of Europe, 1919–1932, Cambridge–New York 2006. fragen. Belgischer Untergrundkrieg und deutsche Vergeltung im 28 So auch Krumeich (Anm. 7), S. 15. August 1914, Paderborn 2017. 29 Vgl. etwa Eberhard Kolb, Der Frieden von Versailles, München 25 Vgl. Jessica Gienow-Hecht, Kalkulierte Katastrophe?, in: Die 2005, S. 103 f.; Margaret MacMillan, Die Friedensmacher. Wie Zeit, 7. 5. 2015, S. 20. der Versailler Vertrag die Welt veränderte, Berlin 2015, S. 631.

42 Pariser Friedensordnung APuZ die Weimarer Republik in einem Konflikt wegen der Friedensnobelpreisträger von 1927, Außen- der dort lebenden deutschen Minderheiten. minister , auf die Fahnen ge- Vor allem war der Spielraum der deutschen schrieben, nur nicht wie Hitler alles gleichzeitig. Außenpolitik wegen des Reparationsregimes Vor allem sollte die Revision auf dem Verhand- und der prekären ökonomischen Lage, der un- lungsweg erfolgen. Als dieser bereits eingeschla- versöhnlichen französischen Haltung, der fran- gen war und nach der Konferenz von Lausanne zösischen Truppen im Rheinland und der mili- von 1932 das Ende der Reparationen sowie nach tärischen Beschränkung sehr begrenzt. Erst mit der Abrüstungskonferenz in Genf im selben Jahr dem Vertrag von Locarno, mit dem Deutsch- die Gleichberechtigung ebenso wie eine ökono- land, Frankreich und Belgien 1925 den Aus- mische Erholung in Sichtweite war, kam Hitler schluss einer gewaltsamen Veränderung ihrer an die Macht. Wie auf anderen Feldern auch, wa- in Versailles gezogenen Grenzen und die Auf- ren seine Ideen nicht originell, sondern schlicht nahme Deutschlands in den Völkerbund ver- radikaler formuliert. Seine „Erfolge“ waren die einbarten, sowie der ökonomischen Erholung einseitig vorgenommenen Revisionen von Ver- weitete sich der Spielraum etwas, aber eben nur sailles: die Wiedereingliederung des Saarlandes begrenzt und kurzzeitig. Der Stachel des Ver- 1935, die Remilitarisierung des Rheinlandes 1936, sailler Vertrages saß tief. die Wiederaufrüstung aller Teilstreitkräfte und Zugleich war seine Revision eben nicht aus- 1940 die De-facto-Wiederangliederung Elsass- geschlossen, sondern der einzige Grundkonsens Lothringens. Mit Hitlers Einzug in Paris war die in der polarisierten Kultur der Weimarer Repu- „Schmach von Versailles“ getilgt. blik. 30 Freilich führte dieser auch im öffentlichen Nach 1945 zogen die Alliierten ihre Lehren Leben permanent erinnerte Konsens über den so- aus den Erfahrungen mit dem Versailler Vertrag, genannten Schandfrieden nicht zu einer inneren und Deutschland wurde vollständig besetzt und Befriedung der neuen deutschen Republik, da al- geteilt. Die spätere Vereinigung der Westzonen lein die Frage nach dem Grund für die Niederlage stand unter Aufsicht, und für die Bundesrepublik („Dolchstoß“) und die Frage, ob man den Vertrag wahrten die Westmächte Vorbehaltsrechte. Die unterzeichnen solle oder notfalls die Kampf- Souveränität wurde nur begrenzt gewährt. Klü- handlungen wieder aufnehmen müsse, für einen ger als in Versailles verfuhr man mit dem Lon- Riss in Volk und Politik sorgten. 31 Im Deutschen doner Schuldenabkommen von 1953. Freilich Reich waren den Parteien der republiktreuen beglich die Bundesrepublik die letzten Zinszah- „Weimarer Koalition“ aus SPD, Zentrum und der lungen für Staatsanleihen, die zur Tilgung der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei, Reparationen noch dem Versailler Regime ent- die 1919 eine Koalitionsregierung bildeten, nach stammten, erst 2010. 33 Versailles nie mehr eine Mehrheit beschieden. Lösen wir uns erneut von der deutschen Zugleich führte die Uneinigkeit der Siegermächte Perspektive, so zeigt sich, dass auch andern- dazu, dass die Probleme des Vertrages auf Dauer orts der Friedensschluss seine Wirkung ver- gestellt wurden. fehlte. In China, wo man auf die Rückgabe des Adolf Hitler vertrat die Opposition gegen deutschen Pachtgebietes Kiautschou gesetzt hat- Versailles am radikalsten, sie war, so die These des te, gab es über die in Paris erzielten Ergebnisse Historikers Brendan Simms, die Initialzündung – Kiautschou wurde Japan zugesprochen – eben- für seine Politisierung gewesen. 32 Die Revision falls Empörung. Die Chinesen unterzeichne- in Gebietsfragen – nach Locarno galt das offizi- ten den Versailler Vertrag erst gar nicht, sondern ell nur noch für den Osten –, die Gleichberechti- schlossen 1921 mit Deutschland einen Separat- gung in Rüstungsfragen und die Beendigung der frieden. Das von den Alliierten bereits während Reparationszahlungen – all das hatte sich auch des Krieges mit Versprechungen hinsichtlich der deutschen Einflusssphäre in China gelockte und 30 Vgl. Rödder (Anm. 10), S. 90. in Versailles im Hinblick auf Kiautschou begüns- 31 Vgl. Conze (Anm. 15), S. 381, S. 464. Siehe auch die Beiträge tigte Japan fiel 1931 in die Mandschurei ein und von Eckart Conze und Susanne Brandt in dieser Ausgabe (Anm. d. gründete dort den Marionettenstaat Mandschu- Red.). 32 Vgl. Brendan Simms, Against a „World of Enemies“: The Impact of the First World War on the Development of Hitler’s 33 Vgl. Thomas Hanke, Das späte Ende des Versailler Vertrags, Ideology, in: International Affairs 90/2014, S. 317–336. 1. 10. 2010, www.handelsblatt.com/3552508.html.

43 APuZ 15/2019 kuo. 1937 begann der Zweite Japanisch-Chine- ler Vertrag schuf keinen Frieden, er befriedigte sische Krieg. Auch hier hatte der Versailler Ver- nicht die Ansprüche der Sieger und demütigte auf trag keine befriedende Wirkung erzielt, vielmehr Dauer die Verlierer. Trotz seines Umfangs ope- in China die antiwestliche Bewegung des 4. Mai rierte er mit vagen Inhalten, wie bei der Bestim- hervorgerufen. 34 mung der Reparationen, und unbestimmten Be- Auf dem afrikanischen Kontinent wurden die griffen, wie dem des „Bundes“ in der dem Vertrag ehemaligen deutschen Kolonien als Mandatsge- vorangestellten Völkerbundsatzung. Vor allem biete des Völkerbundes den Siegermächten un- brach er mit den erprobten Grundsätzen des Völ- terstellt: Frankreich erhielt Togo und Kamerun, kerrechts und der erfolgreichen Praxis von Frie- Großbritannien einen kleinen Teil Kameruns densverhandlungen und Vertragsschlüssen. Er sowie Deutsch-Ostafrika, das heutige Nami- vergaß das Vergessen und stellte damit die Feind- bia. Deutsch-Südwestafrika ging an Südafrika. schaften auf Dauer. Denn Frieden ist nur mög- Das unterschied sich bei aller Rhetorik und allen lich, wenn Schuldtilgung erfolgt und vergessen selbst auferlegten Verpflichtungen für die Bevöl- wird – oder das zumindest versucht wird –, was kerungen der ehemaligen deutschen Kolonialge- zuvor Schlimmes geschah. Aus der Verstetigung biete kaum von Annexionen und wurde in Arti- der asymmetrischen Begegnung von Siegern und kel 23 des Vertrages moralisch mit der angeblich Verlierern, Helden und Schurken in Versailles grausameren Behandlung während der deutschen konnte nur neues Unheil entstehen. Dass es so Kolonialherrschaft gerechtfertigt. Auch hier wur- schlimm kommen würde, damit hatten aber auch den Erwartungen mit Blick auf Wilsons 14 Punk- die größten Kritiker des Versailler Friedens nicht te und mehr Unabhängigkeit enttäuscht. 35 ­gerechnet. Nirgendwo war man also mit dem Versailler Was sind die Lehren für heute? In vielen Kri- Vertrag zufrieden. Er befriedigte die deutschen senherden der Welt macht der Westen überaus Erwartungen und die seiner Verbündeten, die schlechte Erfahrungen mit auferlegten Regime- sich nach dem späten Eingeständnis der militäri- wechseln und einer moralischen und rechtlichen schen Niederlage ganz auf Wilsons Versprechen Diskriminierung des Feindes, seiner Stilisierung eines „Peace without Victory“ 36 gerichtet hat- zum Verbrecher. Wenn der Sinn für Gleichbe- ten, ebenso wenig wie das französische Verlan- rechtigung und Legitimität einer internationa- gen nach Revanche und Sicherheit, nicht die chi- len Ordnung nicht mehr allseits vorhanden ist, nesischen Wünsche und nicht die der britischen dann ist keine Befriedung, keine Stabilität er- Dominions und auch nicht die der unter Völker- reicht. Wenn ein Friedensschluss keinen funda- bundverwaltung gestellten ehemaligen deutschen mental anderen Status als den Kriegszustand her- Kolonien. Die Erwartungen an den Vertrag wa- beiführt, ein Ende der Feindseligkeiten und der ren unvereinbar und hoffnungslos überfrachtet. Diskriminierung, dann ist er keiner. Weder Sank- tionsregime noch Sonderbestimmungen passen FAZIT zu einem echten Frieden. Das Mittel der ange- drohten Bestrafung, die Pönalisierung der inter- Der Versuch, die Vision eines ewigen Friedens nationalen Beziehungen, ist daher, so wünschens- bei gleichzeitiger Diskriminierung der Verlierer wert die juristische Aufarbeitung von Verbrechen zu verwirklichen, musste scheitern. Der Versail- auf übernationaler Ebene auch sein mag, in ihrer friedensstiftenden Kraft im Lichte von Versailles 34 Vgl. Jörn Leonhard, Der überforderte Frieden. Versailles und fragwürdig und scheint für die derzeitigen Kri- die Welt 1918–1923, München 2018, S. 419–423, S. 928–937, senherde, etwa für Syrien, Nordkorea oder den S. 1053–1143. Jemen, nicht erfolgreich zu sein. 37 35 Vgl. MacMillan (Anm. 29), S. 148–158. Siehe auch den Beitrag von James Kitchen in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). 36 Woodrow Wilson, Address to Congress, 2. 4. 1917, in: Arthur S. Link et al. (Hrsg.), The Papers of Woodrow Wilson, Bd. 41, Princeton 1983, S. 519–527. 37 Zur Verrechtlichung der internationalen Beziehung seit dem PETER HOERES 19. Jahrhundert und dem Glauben daran vgl. Marcus M. Payk, Frieden durch Recht? Der Aufstieg des modernen Völkerrechts ist Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte und der Friedenschluss nach dem Ersten Weltkrieg, Berlin–Boston an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. 2018. [email protected]

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VERHASSTER VERTRAG „Versailles“ als Propagandawaffe gegen die Weimarer Republik

Eckart Conze

„Nun wird – wenn die Ermattungsepoche vorbei Friedensbedingungen“ habe dem Nationalsozia- sein wird – der Friede diskreditiert sein, nicht der lismus und einem weiteren Krieg den Boden be- Krieg.“ 01 Max Weber, der Soziologe, der im Mai reitet. Der Zweite Weltkrieg sei das Ergebnis „des 1919 als Berater der deutschen Delegation eini- dummen und demütigenden Straffriedens“ gewe- ge Tage in Versailles verbrachte, sollte Recht be- sen, der Deutschland auferlegt worden sei. Der halten. Nicht nur der Versailler Vertrag, auch die britische „Economist“ urteilte in seiner Millen- Dokumente von Saint-Germain, Trianon, ­Neuilly niumsausgabe 1999/2000, das letzte Verbrechen und Sèvres galten schon den Zeitgenossen als im Ersten Weltkrieg sei der Versailler Vertrag ge- schlechte Verträge. Auch in den Siegerstaaten fan- wesen, dessen harte Bedingungen einen weiteren den sich kaum Verteidiger. Zu den profiliertesten Krieg unausweichlich gemacht hätten. Kritikern zählte der in Cambridge lehrende Öko- Das Ende der Weimarer Republik, der Aufstieg nom John Maynard Keynes, der in Paris der bri- und die Machtübernahme der Nationalsozialisten tischen Delegation angehörte und in Deutschland und schließlich der Zweite Weltkrieg haben den zum Kronzeugen all derer wurde, die den Versail- Versailler Vertrag und die Pariser Friedensordnung ler Vertrag für unvertretbar hielten. Selbst der ehe- von 1919/20 nachhaltig diskreditiert. Das Vertrags- malige italienische Ministerpräsident Francesco werk und seine Folgen wurden mit dem National- Nitti, der 1919 den Versailler Vertrag eigenhändig sozialismus und seinen Verbrechen in Verbindung unterschrieben hatte, konnte zwei Jahre später in gebracht: 1933 und 1939 bestimmten den Blick auf dem Friedensschluss nichts anderes mehr erken- den Friedensschluss, der in diesem Licht kaum eine nen als ein „Mittel zur Fortsetzung des Krieges“. 02 Chance auf unvoreingenommene Beurteilung hat- te. So wie der 9. November 1918 bis vor Kurzem DETERMINISTISCHES nicht als echte Revolution und hoffnungsvoller GESCHICHTSNARRATIV Anfang einer Demokratie wahrgenommen wurde, sondern nur als Beginn einer Entwicklung, die zur Am negativen Urteil der Zeitgenossen änderte Zerstörung der Republik und zur Machtübernah- sich auch in den folgenden Jahrzehnten wenig. me der Nationalsozialisten führte, so wurde auch Die Siegermächte, insbesondere Großbritannien, der Versailler Vertrag zum integralen Bestandteil aber auch Frankreich, reagierten zurückhaltend eines deterministischen Geschichtsnarrativs. Für auf die aggressive deutsche Außenpolitik nach die Offenheit der Zukunft, die Wahrnehmung der 1933, weil sie es für legitim hielten, dass Deutsch- Zeitgenossen von 1919, war darin wenig Platz. land sich aus den „Ketten von Versailles“ befrei- Umso mehr Raum bot diese Erzählung nach te – und verkannten, dass es Hitler nicht nur um 1945 für exkulpierende Argumente. Schon in den Versailles ging, sondern um Hegemonie und ras- 1930er Jahren hatten viele Deutsche die große senideologisch bestimmte Expansion. Zustimmung zum Nationalsozialismus mit Ver- Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich sailles erklärt. Nun begründeten ehemalige An- zwar die Bewertung der deutschen Außenpoli- hänger des Regimes, warum sie in die NSDAP tik, nicht aber das Bild von Versailles. Noch 1984 eingetreten waren: nicht aus ideologischer Über- schrieb der amerikanische Diplomat und Histori- zeugung und antisemitischem Eifer, sondern weil ker George F. Kennan in der „New York Times“, man es den Nationalsozialisten zutraute, den un- die „Rachsucht der britischen und französischen geliebten Versailler Vertrag zu überwinden.

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Aber war der Vertrag, wenn man ihn unvor- ddes konnte sich breiter Zustimmung sicher sein, eingenommen aus seiner Zeit heraus betrach- als er forderte, „die deutsche Zitrone auszupres- tet und nicht sofort in die Perspektive von Na- sen, bis ihre Kerne quietschen“. 03 tionalsozialismus und Zweitem Weltkrieg rückt, Die 132-Milliarden-Forderung von 1921 war wirklich so schlecht? Die emotional aufgeladene in der Reparationsfrage noch lange nicht das letzte Wahrnehmung hat schon in den Jahren nach 1919 Wort. Die folgenden Jahre zeigten vielmehr, dass den Blick auf die Möglichkeiten verstellt, die der es den Alliierten nicht darum ging, eine absolu- Vertrag einer friedlichen Entwicklung in Europa te Summe durchzusetzen, sondern die Lasten und eröffnete. Tatsächlich beließ er auch dem Deut- den Zahlungsmodus der deutschen Leistungsfä- schen Reich durchaus Chancen. Versailles war higkeit anzupassen und so zur wirtschaftlichen kein milder, aber auch kein „karthagischer Frie- und politischen Stabilisierung des Landes beizu- den“, wie es nach 1919 immer wieder hieß. Bei tragen. Dafür freilich mussten alle Beteiligten, vor allen Gebietsverlusten und Reparationen, allen allem Frankreich und Deutschland, ihre Politik wirtschaftlichen Schwächungen und Belastungen der Konfrontation hinter sich lassen, die 1923 mit blieb Deutschland nicht nur als Staat, sondern – der französischen und belgischen Besetzung des anders als 1945 – auch als europäische Macht, als Ruhrgebietes und der deutschen Hyperinflation potenzielle Großmacht erhalten. in die Katastrophe geführt hatte. Unter wesentlicher Beteiligung Großbritanni- KERNFRAGE ens und der Vereinigten Staaten, die Europa öko- REPARATIONEN nomisch nach 1919 keineswegs den Rücken kehr- ten, kam es 1924 zum Dawes-Plan, der zwar die Die Deutschland auferlegte Reparationslast galt und Gesamthöhe der Reparationen nicht veränderte, gilt vielen Kritikern als Beweis für den harten Straf- die jährlichen Zahlungen aber an die Wirtschafts- charakter des Versailler Vertrages. Dabei wurde in kraft Deutschlands koppelte. Fünf Jahre später Paris zwar eine deutsche Reparationsverpflichtung senkte der Young-Plan, an dessen Aushandlung festgelegt, die Höhe jedoch offengelassen. Das war die USA erneut führend beteiligt waren, die Repa- dem Zeitdruck geschuldet, unter dem die Sieger- rationssumme auf 36 Milliarden Reichsmark und mächte 1919 standen, aber auch den Meinungsun- damit auf einen Betrag deutlich unter dem von terschieden in dieser Frage: Die Alliierten konnten 1921. Im Schatten der Weltwirtschaftskrise kam sich nicht auf eine Summe einigen. Erst 1921 leg- es schließlich 1931 zu einem Zahlungsmoratorium te man die Höhe der Zahlungen auf 132 Milliarden und 1932 zum faktischen Ende der ­Reparationen. Goldmark fest – und forderte die Deutschen ulti- Die Weimarer Republik konnte von diesem mativ auf, diesen Betrag zu akzeptieren. enormen Erfolg allerdings nicht mehr profitieren. Der Aufschrei in Deutschland war gewaltig. Sie befand sich im Sommer 1932, als die Reparati- Kaum einer wollte 1921 noch wissen, dass die onen gestrichen wurden, bereits in ihrer Agonie – Deutschen zwei Jahre zuvor selbst eine (aller- bittere Ironie, weil es vor allem die Reparationen dings zinsfreie) Reparationszahlung in Höhe von waren, mit denen die rechten Republikfeinde das 100 Milliarden Goldmark vorgeschlagen hatten; Vertrauen in den demokratischen Staat und die Par- und kaum einer erinnerte sich noch daran, dass teien von Anfang an zu erschüttern versucht hatten. eine erste Gesamtforderung von britischer Seite auf 220 Milliarden Mark beziffert worden war. „VERSAILLES“ Diese Zahl kursierte im britischen Parlaments- GEGEN WEIMAR wahlkampf Ende 1918, in dem sich die Partei- en mit astronomischen Reparationssummen zu Von 1919 an war „Versailles“ eine Waffe im überbieten versuchten. „Germany must pay“, da- Kampf gegen die Republik. Vier Wochen nach rüber war man sich einig, und Minister Eric Ge- der Unterzeichnung des Friedensvertrages und zwei Wochen nach seiner Ratifizierung appel- lierte Regierungschef (SPD) an die 01 Max Weber, Politik als Beruf (1919), in: ders., Gesammelte Nationalversammlung, „die Abrechnung über die Politische Schriften, hrsg. von Johannes Winckelmann, Stuttgart 19885, S. 505–560, hier S. 551. 02 Francesco Nitti, Europa am Abgrund, Frank­furt/M. 1923, 03 Zit. nach Keith Grieves, Sir Eric Geddes. Business and Govern- S. 150. ment in War and Peace, Manchester 1989, S. 72.

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Schuld dafür, dass alles so gekommen ist“, nun eröffnete sich die Chance, den antidemokrati- beiseitezulassen und „nach vorn zu sehen und schen Nationalismus, der sich in der rechtsradi- Blick und Schritt vorwärts zu richten“. 04 Doch kalen Vaterlandspartei gesammelt hatte, nach den dieser Wunsch erfüllte sich nicht. Die Vergangen- Erschütterungen des Kriegsendes, der Revoluti- heit ruhte nicht, weder im Parlament noch in der on und der Republikgründung wieder zu stabili- deutschen Gesellschaft. sieren und ihm eine unverdächtige Stoßrichtung Bis an ihr Ende stand die Weimarer Repu- zu geben. Mit dem Kampf gegen Versailles konn- blik im Schatten des Krieges und des Kaiserrei- te man das eigentliche Ziel, die Überwindung der ches. Gerade in den permanenten Debatten um Demokratie, gut tarnen. den Versailler Vertrag und die Reparationen ging Vor diesem Hintergrund gewann auch die es nie nur um außenpolitische Fragen, das Ver- Kriegsschuldfrage, das zentrale Element des An- hältnis zu anderen Mächten und die Umsetzung ti-Versailles-Konsenses, eine Bedeutung, die weit der Friedensbestimmungen. Die Auseinanderset- über den im berühmten Artikel 231 artikulier- zung war stets auch eine innenpolitische und ge- ten Zusammenhang von deutscher Kriegsschuld sellschaftliche, in der die Republik über ihr Ver- und Reparationsverpflichtung hinausging. Für hältnis zum Kaiserreich, über dessen politische die politische Rechte war die Zurückweisung des Verfassung, seine Machtstrukturen und seine Eli- Kriegsschuldvorwurfs – den die Alliierten umso ten stritt – und damit auch über sich selbst und schärfer erhoben, je stärker die Deutschen jede die demokratisch-parlamentarische Ordnung, die Schuld von sich wiesen – ein Mittel, die politi- sich seit November 1918 zu entwickeln begann. sche und militärische Führung des Kaiserreiches Versailles war in Politik und Gesellschaft der zu entlasten, ja zu rehabilitieren. Dadurch wurde Weimarer Republik omnipräsent. Der Protest ge- von Anfang an die alte autoritäre Ordnung gegen gen den Vertrag, so hat es den Anschein, einte die die Republik in Stellung gebracht. Deutschen weit über das Jahr 1919 hinaus. Doch Nur wenige erkannten, welches antirepub- das ist ein oberflächlicher Befund, denn die ge- likanische Potenzial der von rechts angetriebe- schlossene Ablehnung des Vertrages und der Wil- nen „Schuldfragenbewegung“ innewohnte, wie le, ihn zu revidieren, trugen weder zur Über- sie der Sozialdemokrat Carlo Mierendorff nann- windung politischer und sozialer Gegensätze bei te. 1924 schrieb , sozialistisches noch zur Stabilisierung der Republik, geschweige Urgestein, an Karl Kautsky, der 1918/19 für den denn zur Akzeptanz der parlamentarischen De- Rat der Volksbeauftragten Untersuchungen zum mokratie. Der Anti-Versailles-Konsens richtete Kriegsbeginn angestellt hatte: „Von der The- die Deutschen auf ein negatives Ziel aus, er ent- se aus, dass das kaiserliche System nicht allein faltete keine konstruktive Wirkung. schuld am Kriege sei, (…) ist es leicht, den Massen Schon im Juni 1919 zeigte sich in den heftigen plausibel zu machen, dass das Kaisertum zu Un- Auseinandersetzungen über die Annahme oder recht gestürzt worden sei und die ‚Judenrepublik‘ Ablehnung der Friedensbedingungen, das Unter- und ihre Erfüllungspolitik an allem Übel schuld schreiben oder Nichtunterschreiben des Vertra- seien, unter dem Deutschland leide.“ 05 ges, die tiefe Zerrissenheit der Gesellschaft. Die Genau darum ging es. Genau dafür wurden Lager allerdings, die sich in dieser Frage gegen- Versailles und die Kriegsschuldfrage instrumentali- überstanden, in der Nationalversammlung wie in siert. Versailles war nicht die Ursache für den rech- der Öffentlichkeit, waren nicht im Dissens über ten Hass auf die Republik und ihre demokratischen die Friedensfrage entstanden. In ihnen verlänger- Repräsentanten (der von Anfang an antisemitisch ten sich die politischen Konfliktlinien des späten aufgeladen war), aber dieser Hass fand im Frie- Kaiserreiches, der Kriegsjahre und der Revoluti- densschluss neue Nahrung und in den Augen sei- onsmonate in die Republik ­hinein. ner Träger neue Bestätigung. Schon in den 1920er Versailles verschaffte den nationalistischen Jahren erkannte Adolf Hitler in jedem Versuch und antidemokratischen Kräften des späten Kai- der Weimarer Regierungen, aus der Konfrontati- serreiches eine Möglichkeit, ihren Nationalismus on mit den Kriegsgegnern heraus zu Versöhnung an ein konsensfähiges Thema zu binden. Für sie

05 Zit. nach Ulrich Heinemann, Die verdrängte Niederlage. 04 Verhandlungen des Reichstages, 64. Sitzung vom 23. 7. 1919, Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Bd. 328, S. 1843. Republik, Göttingen 1983, S. 241.

47 APuZ 15/2019 und Verständigung zu gelangen, nichts anderes Wer den Erfolg der NSDAP allein durch den als die Auslieferung des Deutschen Reiches an die Versailler Vertrag und seine Folgen erklärt, ver- „internationalen Volksausbeuter zu Versailles“. In schreibt sich in der Regel geschichtspolitischen Deutschland, so schrieb Hitler im zweiten Band Zielen und möchte Deutschland von historischer von „Mein Kampf“, wechselten „Entwaffnungs- Verantwortung freisprechen. Bisweilen arbeitet und Versklavungsedikte, politische Wehrlosma- sich eine solche Apologetik schon an der Frage chung und wirtschaftliche Ausplünderung ein- ab, wer den Ersten Weltkrieg begonnen habe und ander ab, um endlich moralisch jenen Geist zu was dies für den Friedensschluss bedeute. Be- erzeugen, der im Dawesplan ein Glück und im Ver- reits 1922 machte der nationalistische Publizist trag von Locarno einen Erfolg zu sehen vermag“. 06 Max Hildebert Boehm aus der in Versailles auf- Das war die Haltung, aus der sich 1929 die geworfenen „Kriegsschuldfrage“ die „Friedens- Kampagne gegen den Young-Plan speiste. Ob- schuldfrage“. 08 Der Vorwurf zielte gleichermaßen wohl der Young-Plan einen großen Fortschritt in auf die deutschen Demokraten wie die alliierten der Reparationsfrage darstellte, wurde er von der Mächte. Wenn das Kaiserreich nicht die alleinige Rechten unter Führung der aufstrebenden Natio- Schuld am Ersten Weltkrieg trage oder auch nur nalsozialisten radikal bekämpft. Für die NSDAP eine herausgehobene Verantwortung habe, war offenbarte der Plan, der Zahlungsverpflichtungen dann der Frieden von Versailles nicht ein falscher bis 1988 vorsah, die dauerhafte Fesselung Deutsch- Frieden? Solche Stimmen waren auch 2014 rasch lands durch den Versailler Vertrag. Zwar scheiter- zu vernehmen, als Deutschland kontrovers über te das Volksbegehren „gegen die Versklavung des Christopher Clarks Buch „Die Schlafwandler“ deutschen Volkes“, aber die Kampagne demonst- diskutierte. Sie beriefen sich nicht zuletzt auf den rierte doch die hohe Mobilisierungskraft des Anti- britischen Premier David Lloyd George, der in Versailles-Affektes in der deutschen Gesellschaft. seinen Kriegserinnerungen 1933 erklärt hatte, Eu- Einmal mehr setzte die völkische Rechte auf ihn, ropa sei 1914 in den Krieg „hinein­geschlittert“. 09 um einen Frontalangriff gegen die republik- und Tragen dann am Ende die Sieger des Weltkrie- demokratiebejahenden Kräfte zu starten. ges, die Deutschland den Friedensvertrag auf- zwangen, Verantwortung für die Dauerkrise der URSACHE DES Weimarer Republik, ja sogar für den Aufstieg NATIONALSOZIALISMUS? und die Machtübernahme der Nationalsozialis- ten? Wer heute für ein neues deutsches Selbstbe- Der Aufstieg der Nationalsozialisten und vor allem wusstsein wirbt, der macht nicht selten ein Be- ihr starkes Ergebnis bei der Reichstagswahl 1930, streben anderer Mächte aus, Deutschland durch als die NSDAP 18,3 Prozent der Stimmen erreichte das gesamte 20. Jahrhundert hindurch in einer und zweitgrößte Fraktion im Reichstag wurde, sind Position der Inferiorität zu halten. Das Kaiser- ohne den Mobilisierungseffekt der Anti-Young- reich werde, so konnte man nicht 1920, sondern Plan-Kampagne nicht zu verstehen. Darauf redu- in der Debatte von 2014 lesen, in ein schlechtes zieren jedoch lässt sich der Wahlerfolg keineswegs Licht gerückt, als autoritär und aggressiv cha- – vor allem die desaströsen Folgen der Weltwirt- rakterisiert, ihm werde noch 100 Jahre später die schaftskrise haben den Nationalsozialisten zum Kriegsschuld zugeschoben, um Deutschland da- Durchbruch verholfen. Doch selbst ein kluger Be- von abzuhalten, mit einer selbstbewussten Au- obachter wie der liberale Historiker Friedrich Mei- ßenpolitik seine legitimen Interessen in der Welt necke urteilte verkürzend, wenn er 1930 mit Blick zu vertreten. 10 auf die Kampagne gegen den Young-Plan davon sprach, dass der Versailler Frieden „die letzte und 07 08 Vgl. Max Hildebert Boehm, Die Friedensschuldfrage, in: stärkste Ursache des Nationalsozialismus“ sei. Preußische Jahrbücher 181/1922, S. 50–62. 09 David Lloyd George, War Memoirs, Bd. 1, London 1933, S. 32. 06 Adolf Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, hrsg. im 10 Siehe in diesem Sinne beispielsweise Dominik Geppert/Sönke Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte von Christian Hartmann/ Neitzel/Cora Stephan/Thomas Weber, Der Beginn vieler Schre- Thomas Vordermayer/Othmar Plöckinger/Roman Töppel, Bd. 2 cken, 3. 1. 2014, www.welt.de/article123489102; Cora Stephan, (1926), München 2016, S. 1697. Die Deutschen wollen so gern alleine schuld sein, 13. 11. 2013, 07 Friedrich Meinecke, Nationalsozialismus und Bürgertum www.welt.de/article121848478. Kritisch dazu Andreas Wirsching, (1930), in: ders., Politische Schriften und Reden, hrsg. von Georg Schlafwandler und Selbstmitleid, 27. 7. 2014, www.sueddeutsche.de/​ Kotowski, Bd. 2, Darmstadt 1958, S. 441–445, hier S. 441. politik/1.2047555.

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ALTE DÄMONEN sche Potenzial dieser Kräfte erkennen will, der ist gut beraten, sich mit dem Europa der Zwischen- In dieser Perspektive gewinnen der Versailler Ver- kriegszeit zu beschäftigen, das nicht der Versail- trag und die Versailler Ordnung bis heute enorme ler Vertrag ins Chaos und in einen weiteren Krieg geschichtspolitische Bedeutung. Umso wichtiger stürzte, sondern ein radikaler Nationalismus, der ist es, einen nüchternen Blick auf den Friedens- die Demokratien schwächte und der, wie es Max schluss zu richten und die Mythen zu dekons- Weber 1919 formulierte, den Frieden diskredi- truieren, die sich seit 1919 um ihn ranken. Nur tierte, nicht den Krieg. so werden die Potenziale erkennbar, die sich aus dem Friedensvertrag ergaben oder hätten ergeben Dieser Text ist eine um Literaturverweise erweiterte können. Fassung desselben Beitrags in: ZEIT Geschichte Warum den Versuchen, die Versailler Ord- 1/2019, S. 80–87. Alle Rechte verbleiben beim ZEIT nung konstruktiv auszugestalten, kein Erfolg Verlag. beschieden war, ist eine andere Frage. Sie zu be- antworten führt zu jenen Kräften, die der fran- zösische Staatspräsident Emmanuel Macron am ECKART CONZE 100. Jahrestag des Kriegsendes als jene „alten ist Professor für Neuere Geschichte an der Philipps- Dämonen“ bezeichnete, die Europa in der ers- Universität Marburg. 2018 veröffentlichte er „Die ten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Abgrund große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung stürzten: Nationalismus, Unilateralismus, Auto- der Welt“. ritarismus. Wer in der Gegenwart das zerstöreri- [email protected]

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„SCHMACH“ UND „SCHANDE“ Parlamentsdebatten zum Versailler Vertrag Susanne Brandt

Als der französische Staatspräsident Raymond densvertrages am 28. Juni 1919, die im Spiegelsaal Poincaré am 18. Januar 1919 die Pariser Friedens- von Versailles stattfand, begrüßte der französische konferenz eröffnete, erinnerte er in seiner Rede da- Ministerpräsident Georges Clemenceau auch fünf ran, dass an genau diesem Tag 1871 im Spiegelsaal schwerversehrte französische Veteranen, die mit des Schlosses von Versailles das Deutsche Kaiser- ihren entstellten Gesichtern als Zeugen, Kläger und reich ausgerufen worden war, das gleich als Ers- Richter der Krieges zugleich die deutschen Dele- tes zwei französische Provinzen geraubt hatte. Das gierten beschämen sollten. 04 Reich sei schlecht von seinen Ursprüngen her und Vor diesem Hintergrund und angesichts der trage aufgrund des Fehlers seiner Gründer den harten Bestimmungen des Versailler Vertrages – Keim des Todes in sich. Im Unrecht geboren, sei es das Deutsche Reich musste zahlreiche Gebiete und nun in Schande untergegangen. 01 Zwar begann die all seine Kolonien abtreten, sein Heer auf 100 000 Pariser Friedenskonferenz nicht absichtlich an ge- Mann beschränken, durfte keine schwere Artille- nau diesem Tag, sondern weil die italienischen Dele- rie, Panzer, Luftwaffe oder U-Boot-Flotte mehr gierten sich verspätet hatten, 02 doch bot das Datum unterhalten und sah umfangreichen Reparationen die Gelegenheit, die nicht anwesenden Deutschen entgegen – sowie insbesondere des Artikels 231, anzuklagen und zu demütigen. Von der Schuld des der die alleinige deutsche Kriegsschuld und die Deutschen Reiches am Krieg überzeugt, weigerten Anklage von Kriegsverbrechern festschrieb, wur- sich die Vertreter der Siegerstaaten, mündlich mit den in der Diskussion über den Versailler Vertrag den Deutschen zu verhandeln. Diese Überzeugung in Deutschland „Schmach“ und „Schande“ zu zen- sowie die Auffassung, dass der Kaiser und auch ei- tralen Begriffen. Das spiegeln auch die Debatten nige deutsche Soldaten als Kriegsverbrecher ange- in der Nationalversammlung beziehungsweise im klagt werden müssten, bildeten das schmale­ und Reichstag der Weimarer Republik wider. zerbrechliche Band, das die Siegermächte trotz al- ler Interessengegensätze zusammenhielt. UNTERZEICHNUNG Auf diesen Auftakt folgten weitere Demüti- gungen: Sowohl bei der Anreise zur Übergabe Zunächst war fraglich, ob Deutschland den Ver- des Vertrages als auch zu seiner Unterzeichnung trag überhaupt unterzeichnen würde. Republikaner wurden die deutschen Vertreter im Schritttempo und Demokraten versuchten, den Friedensschluss mit dem Zug durch die zerstörten Gebiete Frank- im Sinne eines Verständigungsfriedens positiv zu reichs gefahren. „Wir sollten auf die Büßerrolle deuten. Noch während des Krieges hatte der SPD- gedrillt werden“, erinnerte sich der sozialdemo- Politiker beklagt, dass vor allem die kratische Journalist Victor Schiff 1929. „[W]ir alle Alldeutschen eine im Juli 1917 von Sozialdemokra- [waren] besonders nach dem damaligen Stand der ten, Linksliberalen und Zentrumspolitikern vor- Geschichtsforschung noch aufrichtig davon über- gelegte Friedensresolution als Hunger-, Verzicht- zeugt, daß die größere Verantwortung am Kriegs- oder Schmachfrieden verunglimpften und an ihren ausbruch bei der Gegenseite liege.“ 03 Der Anblick Eroberungsplänen festhielten. 05 Ähnlich hatte im schockierte die Delegationsmitglieder: die ver- Februar 1918 der SPD-Abgeordnete Otto Lands- brannte, vergaste und verdorrte Landschaft, vor al- berg mit Blick auf die einen Monat zuvor von US- lem aber die zerlumpten deutschen Kriegsgefange- Präsident Woodrow Wilson vorgestellten 14 Punk- nen, die entlang der Eisenbahngleise in der Roten te für eine Nachkriegsordnung kritisiert, dass in Zone Metallreste, Schutt und nichtexplodierte Mu- der politischen Auseinandersetzung ein Verständi- nition sammelten. Zur Unterzeichnung des Frie- gungsfrieden von seinen Gegnern als Hunger- oder

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Schmachfrieden abgelehnt werde. Die Emotionen mache eine heroische Geste, wer „Ja“ sage, werde waren hochgekocht, und der Abgeordnete Conrad mit Schmach überhäuft und als Feigling bezeich- von Wangenheim von der Deutschen Vaterlands- net. 09 Letztendlich erreichten die Abgeordneten ei- partei hatte erzürnt gerufen, dass der Staatsmann, nen Kompromiss: Diejenigen, die erklärten, nicht der einen Frieden ohne Kriegsentschädigung schlie- unterschreiben zu können, billigten denjenigen, die ße, als Landesverräter erschossen werden müsse. 06 für die Unterzeichnung stimmten, zu, dies aus va- Ähnlich scharfe Töne brachte der deutschnatio- terländischen Motiven zu tun, 10 um zu verhindern, nale Abgeordnete Arthur von Posadowsky-Wehner dass die Kampfhandlungen wieder aufgenommen in die Debatte um die Unterzeichnung des Versail- und Deutschland in der Folge geteilt würde. ler Vertrages ein, als er am 12. Mai 1919 den Sieger- Einen Monat nach der Abstimmung beklagte mächten vorwarf, die deutsche Wirtschaftskraft zer- der Zentrumspolitiker , die Be- stören und Deutschland mit dem Vertrag vernichten griffe seien zu Waffen geworden: „Man hat das zu wollen. 07 Kurz vor der entscheidenden Parla- Schlagwort vom ‚Schmachfrieden‘ geprägt; wie es mentsdebatte am 23. Juni 1919 erklärte der Gene- scheint, auch nicht ohne Absicht, damit politische ralstabschef des Heeres und spätere Reichspräsident Geschäfte zu machen. (Sehr richtig! bei den Sozial- : „Wir sind bei Wiederaufnah- demokraten.) Eine ‚Schmach‘ ist dieser Friede für me der Feindseligkeiten militärisch in der Lage, im diejenigen, die ihn uns aufzwingen, (Zustimmung) Osten die Provinz Posen zurückzuerobern und un- eine ‚Schmach‘ ist dieser Friede auch für alle dieje- sere Grenzen zu halten. Im Westen können wir bei nigen, die den Krieg, dessen Folge dieser Friede ist, ernstlichem Angriff unserer Gegner angesichts der verursacht haben, (lebhafte Zustimmung im Zen- numerischen Überlegenheit der Entente und deren trum und bei den Sozialdemokraten) ob sie nun Möglichkeit, uns auf beiden Flügeln zu umfassen, im Ausland oder im Inlande sitzen. (Sehr wahr! kaum auf Erfolg rechnen. – Ein günstiger Ausgang im Zentrum und bei den Sozialdemokraten.) Eine der Gesamtoperationen ist daher sehr fraglich, aber ‚Schmach‘ wäre er auch für alle diejenigen Kreise, ich muß als Soldat den ehrenvollen Untergang ei- die nicht für eine frühere Beendigung des Krieges nem schmählichen Frieden vorziehen.“ 08 gesorgt haben, wenn eine solche Möglichkeit ir- Schon zu Beginn der Debatte um die Unter- gendwie vorlag. (Stürmische Zustimmung im Zen- zeichnung hatte Eduard David vorausgesehen, dass trum und bei den Sozialdemokraten.) Aber eine diejenigen, die für die Unterzeichnung des Frie- ‚Schmach‘ wäre dieser Friede nicht für denjenigen, densvertrages stimmen, von den politischen Geg- der versucht, nachdem nun einmal das Verhängnis nern massiv angegriffen würden. Wer „Nein“ sage, über uns gekommen ist, nunmehr wenigstens Volk und Vaterland noch am Leben zu erhalten.“ 11

01 Vgl. Le Figaro, 19. 1. 1919. VERTRAGSERFÜLLUNG 02 Vgl. Maurice Hankey, Notizen zum Treffen des Obersten Kriegs- rates vom 13. 1. 1919, in: Arthur S. Link et al. (Hrsg.), The Papers of Woodrow Wilson, Bd. 54, Princeton 1986, S. 43–50, hier S. 49. Nach der Unterzeichnung verschob sich die De- 03 Victor Schiff, So war es in Versailles …, Berlin 1929, . 28.S batte um den Versailler Vertrag auf die Frage sei- Siehe auch an seine Frau, 30. 4. 1919, in: Alma ner praktischen Umsetzung, insbesondere mit Luckau, The German Delegation at the Paris Peace Conference, Blick auf die Zahlung der Reparationen. Nach der New York 1971, S. 116. 04 Vgl. Stéphane Audoin-Rouzeau, Die Delegation der „gueules Konferenz von Spa Anfang Juli 1920, auf der über cassées“ in Versailles am 28. Juni 1919, in: Gerd Krumeich (Hrsg.), die Verteilung der Reparationen auf die Sieger- Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung, Essen 2001, mächte und die deutsche Abrüstung beraten wor- S. 208–287, hier S. 287. den war, plädierte der parteilose Jurist und Au- 05 Vgl. Verhandlungen des Reichstages, 124. Sitzung vom ßenminister Walter Simons für eine Erfüllung der 9. 10. 1917, Bd. 310, S. 3782. 06 Vgl. Verhandlungen des Reichstages, 136. Sitzung vom Vertragsbedingungen und erinnerte die Abgeord- 28. 2. 1918, Bd. 311, S. 4238. 07 Vgl. Verhandlungen des Reichstages, 40. Sitzung vom 09 Vgl. Kabinettssitzung 4. Juni 1919, einziges Thema: Unter- 12. 5. 1919, Bd. 327, S. 1120 ff. zeichnung, in: Erdmann/Mommsen (Anm. 8)., Dokument 100, 08 Aufzeichnung des Ersten Generalquartiermeisters über die S. 420. Tage in Weimar vom 18. bis zum 20. Juni 1919, in: Karl-Dietrich 10 Vgl. Verhandlungen des Reichstages, 41. Sitzung vom Erdmann/Wolfgang Mommsen (Hrsg.), Akten der Reichskanzlei. 23. 6. 1919, Bd. 327, S. 1141. Weimarer Republik. Das Kabinett Scheidemann, 13. Februar bis 11 Verhandlungen des Reichstages, 66. Sitzung vom 25. 7. 1919, 20. Juni 1919, Boppard 1971, Dokument 114, S. 477. Bd. 328, S. 1893.

51 APuZ 15/2019 neten an den Friedensvertrag von Brest-Litowsk, onale Abgeordnete Erich Wienbeck im Juni 1923 den Deutschland 1918 Russland auferlegt hatte: seine Hoffnung aus, „daß endlich ein Generalan- „Jetzt (…) hat es keinen Zweck, über Gewaltfrie- griff unseres Volks gegen diesen Schandvertrag er- den und Schmachfrieden wehe zu schreien; denn folgt. Noch sind wir nicht so weit. Ich möchte aber je mehr wir ‚Schmachfrieden‘ sagen, desto grö- wünschen, (…) daß Einigkeit in diesem Kampf ge- ßer wird der Vorwurf gegen uns selbst. (Lebhaf- gen den Friedensvertrag stark macht und die ein- te Zustimmung bei den Deutschnationalen.) Jetzt zige Waffe ist, die dauernd zum Erfolge verhilft.“ 15 heißt es, meine Damen und Herren, die Zähne zu- Kaum war im September 1923 der Widerstand sammenbeißen und nicht den Mund auftun, son- gegen die Ruhrbesetzung beendet und im Novem- dern den Arm rühren! (Lebhafte Rufe: Sehr gut!) ber die Rentenmark eingeführt worden, verschärf- Der Vorsatz zur Erfüllung des Friedensvertrages te sich die Debatte vor dem Hintergrund der Aus- bedeutet aber nicht, daß man ihm innerlich zu- arbeitung des Dawes-Plans mit den Siegermächten, stimmt. Es liegt in diesem Friedensvertrage eine durch den die Reparationszahlungen an die wirt- Anzahl von angeborenen Mängeln. Erstens: Der schaftliche Leistungsfähigkeit Deutschlands ange- Friede ist ohne jede Mitwirkung des deutschen passt werden sollten. Mehr und mehr wurde die Geistes geschlossen worden, wenn nicht etwa Diskussion von rechten und nationalsozialistischen die Anleihen als solche Mitwirkung bezeichnet Abgeordneten vereinnahmt, die die Regierung be- werden sollen, die die Verfasser des Friedensver- schuldigten, nicht entschieden genug gegen die trages bei dem so viel geschmähten Frieden von „Kriegsschuldlüge“ vorgegangen zu sein und sich Brest-Litowsk gemacht haben. Wir dagegen sind nicht ausreichend um die Auslandsdeutschen, zum der Meinung, daß wir wohl mitschuldig sind, aber Beispiel im Saarland, zu kümmern. Mit Verweis auf nicht allein schuldig. Wir erkennen unsere Gegner den Versailler Vertrag griffen sie die Autorität der als Sieger an, aber nicht als Richter. (…) Aber die demokratischen Politiker und die Republik an. Leistungen, die uns das Urteil auferlegt, wollen In der Debatte um die Annahme des Dawes- wir so gut ausführen, wie wir es irgend können.“ 12 Plans am 28. August 1924 erhob der Abgeordnete Nachdem die Höhe der Reparationen 1921 der Deutschsozialen Partei Richard Kunze schwere von den Alliierten festgelegt worden war, kriti- Anschuldigungen: „Die Herren von der Regierung, sierte der kommunistische Abgeordnete Wilhelm sowohl Herr Dr. Stresemann wie die anderen, haben Koenen, dass jetzt erkennbar werde, dass die „vol- es geduldet, daß durch den erbärmlichsten Volksbe- le Wucht der Lasten, die der Schandfrieden von trug aller Zeiten, durch den Papiergeldschwindel, alle Versailles uns brachte, auf die Schultern der Ar- Barmittel des deutschen Volks, alle Geld­reserven des beiter“ gelegt werde. 13 Zwei Monate später stellte deutschen Volks vernichtet worden sind, so daß jetzt er fest: „Daß der Staatsbankrott da ist, kann nicht derjenige Fall eingetreten ist, der zugleich der eigent- mehr bestritten werden. Die innere Schuldenlast liche Grund ist, warum dieses Gutachten [Dawes- Deutschlands beträgt bereits über 650 Milliarden Plan] durchaus angenommen werden soll: die Kre- Mark. Dazu kommen noch 6500 Milliarden Pa- ditnot, die Notwendigkeit, Geld zu bekommen.“ 16 piermark, die wir der Entente auf Grund des Ver- sailler Schandfriedens für die späteren Jahre schul- REVISION den. Das Reich ist bankrott, ganz zweifellos; man wagt es nur aus Angst vor der sozialen Revolution In den folgenden Jahren nutzten fast ausschließ- nicht, diesen Bankrott offen zu erklären.“ 14 lich NSDAP-Abgeordnete, wie Franz Stöhr, 1923 kam Deutschland mit den Reparations- Wilhelm Kube und Gregor Strasser, den Begriff zahlungen so sehr in Verzug, dass französische „Schmachfrieden“ und instrumentalisierten den und belgische Truppen das Ruhrgebiet besetzten. Versailler Vertrag, um gegen die Republik und die Vor diesem Hintergrund drückte der deutschnati- Demokraten zu agitieren. Der Sozialdemokrat Kurt Löwenstein brachte es im Juni 1925 auf den Punkt: „Die Herren von rechts (…) wollen (…) 12 Verhandlungen des Reichstages, 10. Sitzung vom 26. 7. 1920, Bd. 344, S. 257. 13 Verhandlungen des Reichstages, 161. Sitzung vom 27. 1. 1922, 15 Verhandlungen des Reichstages, 360. Sitzung vom 8. 6. 1923, Bd. 352, S. 5610. Bd. 360, S. 11238. 14 Verhandlungen des Reichstages, 190. Sitzung vom 18. 3. 1922, 16 Verhandlungen des Reichstages, 26. Sitzung vom 28. 8. 1924, Bd. 353, S. 6369. Bd. 381, S. 1054.

52 Pariser Friedensordnung APuZ auf den Krücken des ‚Schmachfriedens von Ver- kann. (Hört! Hört! bei den Nationalsozialisten. – sailles‘ die schwärmerische Jugend im Geiste der Lebhafte Rufe von den Kommunisten: Zur Sache!) Revanche erziehen und durchbilden.“ 17 Dann ging die Verelendung weiter. Es kam Strese- Als sich in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre mann, der überall Silberstreifen sah und der (…) abzeichnete, dass auch der im Dawes-Plan festge- den Locarno-Vertrag unterzeichnete. Dann folgte legte Zahlungsplan für die deutschen Reparationen der Dawes-Plan, (…) der besagt, es komme darauf nicht zu halten war, wurden die Zahlungen mit dem an, wieweit man den Lebensstandard eines Volkes Young-Plan ein weiteres Mal neu geregelt und bis verringern könne, und Deutschland müsse seine in die 1980er Jahre gestreckt. Dagegen initiierten Lebenshaltung bis zum äußersten verringern. Und die Deutschnationale Volkspartei, die Nationalso- schließlich kam der Young-Plan.“ 19 zialisten und der Wehrverband „Stahlhelm“ im De- zember 1929 einen Volksentscheid. „Bis in die drit- SCHLUSS te Generation müsst Ihr fronen“, lautete die Parole auf einem Wahlplakat. Eine differenzierte Ausein- Inwieweit der „Versailles-Komplex“ zum Aufstieg andersetzung mit den Bestimmungen war nicht ge- der Nationalsozialisten geführt hat, wurde bereits fragt, stattdessen sah das geplante „Freiheitsgesetz“ unmittelbar nach 1933 als Frage aufgeworfen und eine Revision des gesamten Versailler Vertrages vor, auch nach 1945 immer wieder diskutiert. 20 Zweifel- und die Aktivisten forderten eine Verurteilung der los stellte der Versailler Vertrag einen außerordent- Männer, die 1919 den Vertrag unterzeichnet hatten, lichen Belastungsfaktor für die Weimarer Republik wegen Landesverrats. 18 Zwar waren die republik- dar, nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund, das feindlichen Kräfte mit dem Volksentscheid nicht viele Deutsche die Kriegsniederlage nicht verstan- erfolgreich, es gelang ihnen jedoch, mit dem Narra- den hatten: Im November 1918 hatte die deutsche tiv der „Schmach von Versailles“ einen großen Teil Armee tief im besiegten Russland gestanden. Nir- der Gesellschaft zu mobilisieren. gends war es den Gegnern gelungen, auf Reichsge- Der Nationalsozialist Robert Ley fasste in einer biet vorzudringen. Die meisten Deutschen hatten Rede im Dezember 1930 zusammen, was seine Par- den Krieg nur ausschnittsweise erlebt, während ih- tei zu bekämpfen behauptete: „Diese Elendspolitik nen die Propaganda immer wieder versichert hat- hat in Versailles begonnen, damals, als wir diesen te, dass Deutschland gegen eine Welt von Feinden Schandvertrag annahmen. Es ist nicht das schwers- kämpfe, die das Reichsgebiet besetzen wollten, te Unglück für ein Volk, wenn es einen Krieg ver- aber überlegen sei. Die Besatzung nach dem Waf- liert. Die Sozialdemokratische Partei und das Zen- fenstillstand und infolge der Ruhrkrise schien diese trum halten uns dauernd entgegen: was wollt ihr Darstellung rückblickend zu bestätigen. Nationalsozialisten denn? wir haben doch den Weitaus schädlicher als der Versailler Vertrag Krieg verloren! Nun, wohl haben wir den Krieg waren für die Weimarer Demokratie die Republik- verloren und Provinzen abgeben müssen, weit feinde, die keine Gelegenheit ausließen, um sie zu schlimmer aber ist, daß wir durch den Versailler bekämpfen. Die Historikerin Margaret MacMillan Vertrag, durch die Anerkenntnis der Kriegsschuld kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: Hitler habe unsere Ehre verloren haben; das ist die Grundla- den Zweiten Weltkrieg nicht wegen des Versailler ge unseres heutigen Unglücks. (…) Von da ging es Vertrages begonnen, sondern um Polen zu zerstören, weiter. Wie sagte doch Rathenau: Es kommt nicht die Sowjet­ ­union zu erobern und die Tschechoslowa- darauf an, was ein Volk bezahlen kann, es kommt kei zu kontrollieren. Der Versailler Vertrag sei un- darauf an, wieweit man ein Volk verelenden lassen ter Propagandagesichtspunkten allerdings ein Got- tesgeschenk für Hitler gewesen. Mit einer stärkeren Demokratie in Deutschland und ohne die Verhee- 17 Verhandlungen des Reichstages, 73. und 74. Sitzung vom 15. 6. 1925, Bd. 386, S. 2312. rungen der Weltwirtschaftskrise wäre die Geschichte 21 18 Vgl. Eberhard Kolb, Der Frieden von Versailles, München möglicherweise anders verlaufen, so ihr Resümee. 2005, S. 100; Susanne Brandt, Das letzte Echo des Krieges. Der Versailler Vertrag, Ditzingen 2018, S. 171. SUSANNE BRANDT 19 Verhandlungen des Reichstages, 14. Sitzung vom 12. 12. 1930, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Bd. 444, S. 600. 20 Vgl. Kolb (Anm. 18), S. 106. Neuere Geschichte der Heinrich-Heine-Universität 21 Vgl. Margaret MacMillan, Die Friedensmacher. Wie der Ver- Düsseldorf. sailler Vertrag die Welt veränderte, Berlin 2015, S. 638 f., S. 632. [email protected]

53 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Call for Papers

ZUM THEMA „PFLEGE“

Als „sorgende Obhut“ beschreibt der Duden „das Pflegen“. „Sorgen“ bedeutet, „sich um jemandes Wohlergehen kümmern, die Pflichten auf sich nehmen, die zur Erhaltung oder zum Gedeihen einer Sache erfüllt werden müssen“; „Obhut“ steht für „fürsorglichen Schutz“. Pflegen, so lässt sich hier he- rauslesen, ist eine Tätigkeit, die zutiefst mit menschlichen Bedürfnissen und menschlichen Qualitäten verbunden ist und mit Verantwortungsübernahme und Verpflichtungen einhergeht.

Als „sorgende Obhut“ würden wohl die meisten Menschen gerne ein Angewiesensein auf Pflege ver- stehen, entsprechend anerkannt, unterstützt und vergütet. Doch stattdessen herrscht verbreitet Angst, im Alter zum „Pflegefall“ zu werden, hilfsbedürftig und abhängig, gegebenenfalls Vernachlässigung bis hin zu Gewalt ausgesetzt, zumal im Angesicht der wiederkehrenden Diskussion um einen „Pfle- genotstand“ in Deutschland. Immerhin scheint die gesellschaftspolitische Debatte nun angesichts der demografischen Entwicklung und mit dem allmählichen Eintritt der „Babyboomer“ ins Rentenalter an Fahrt aufgenommen zu haben.

Die Ausgabe 33–34/2019 widmet sich dem Thema Pflege. Dafür suchen wir Beiträge (im Umfang von ca. 27 000 Zeichen inkl. Leerzeichen und Fußnoten), die sich historisch und/oder gegenwartsbezogen und aus unterschiedlichen fachwissenschaftlichen Perspektiven mit dem Thema beschäftigen. Gefragt sind dabei unter anderem Ansätze, die „Pflege/Pflegen“ in einen breiteren gesamtgesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen Zusammenhang stellen (Stichworte „sorgende Gesellschaft/Gemein- schaft“, „Care Revolution“) und die Bedürfnisse/Erfahrungen/Erwartungen von Menschen in den Mittelpunkt stellen, die entweder gepflegt werden, selbst pflegen oder sich mit den beiden möglichen Situationen in der Zukunft intensiv auseinandersetzen.

Ein Text in der Ausgabe ist bereits vereinbart und liefert für den Einstieg das nötige Grundlagenwissen (System der Pflegeversicherung, Zahlen und Fakten, Reformen und Reformvorhaben). Daher bitten wir, von der Einsendung eines Exposés mit einem ähnlichen Zuschnitt abzusehen.

Exposés mit einem Umfang von höchstens 4000 Zeichen können bis zum 6. Mai 2019 per E-Mail an [email protected] eingereicht werden. Aus den Exposés sollen die zugrunde liegenden Leitfragen, die Struktur des Beitrags und die Vorgehensweise der Autorinnen und Autoren klar hervorgehen. Bitte fügen Sie auch einen Kurzlebenslauf bei.

Die Auswahl aus den Exposés wird von der APuZ-Redaktion vorgenommen. Die Autorinnen und Autoren haben anschließend bis zum 24. Juni 2019 Zeit, ihre Beiträge zu schreiben. Diese werden in der Print- wie auch in der Online-Ausgabe der APuZ veröffentlicht.

Bundeszentrale für politische Bildung Redaktion „Aus Politik und Zeitgeschichte“ Adenauerallee 86 53113 Bonn [email protected] www.bpb.de/apuz twitter.com/apuz_bpb Herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung Adenauerallee 86, 53113 Bonn Telefon: (0228) 9 95 15-0

Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 29. März 2019 Nächste Ausgabe REDAKTION 16–17/2019, 15. April 2019 Lorenz Abu Ayyash Anne-Sophie Friedel (verantwortlich für diese Ausgabe) GRUNDGESETZ Johannes Piepenbrink Frederik Schetter (Volontär) Anne Seibring [email protected] www.bpb.de/apuz twitter.com/APuZ_bpb

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