Godesberg Und Gabriel Zwischen Tradition Und Neuerfindung Norbert Seitz
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482_45_49_Seitz 18.12.2009 10:26 Uhr Seite 45 Die SPD Godesberg und Gabriel zwischen Tradition und Neuerfindung Norbert Seitz „Der Mensch, seine Freiheit, seine Wir- was schon seit geraumer Zeit nicht mehr kungsmöglichkeiten für die Schaffung galt. Theorie und Praxis endlich in Ein- einer vernünftigen Gesellschaft stehen klang zu bringen war ein zentrales Anlie- im Mittelpunkt unserer programmati- gen der Programmmacher. Eine System- schen Vorstellungen.“ Diese Botschaft überwindungsrhetorik sollte nicht mehr hätte auch von jeder anderen demo- der meliorativen Praxis der Partei unein- kratischen Partei stammen können. Sie holbar vorauseilen. kam aber von Erich Ollenhauer, dem So nahm sie auf ihrem Geschichte erfolglosenSPD-Vorsitzenden der1950er- machenden Kongress Abschied von eini- Jahre. Gehalten wurde die Rede in Bad gen Denktraditionen. Als Erstes spiel- Godesberg, wo die SPD am 15. November ten marxistische Vorstellungen in der 1959 mit großer Mehrheit ihr Grund- Gesellschaftsanalyse keine Rolle mehr. In satzprogramm verabschiedete, mit dem der damaligen politischen Großwetter- der Wandel der einstigen Klassenpartei lage mitten im Kalten Krieg standen zu einer Volkspartei abgeschlossen wur- Marx’sche Theorie und Sozialismus-Ide- de. ale ohnehin auf dem Index eines ebenso Bis Bad Godesberg galt noch das westorientierten wie kreuzzüglerisch ge- Heidelberger Programm aus dem Todes- stimmten Zeitgeistes. jahr Friedrich Eberts 1925. Der Text war Auch für Leo Bauer, den Chefredak- eher von hehren Vorstellungen zu Eu- teur der Theoriezeitschrift Neue Gesell- ropa und zur internationalen Politik ge- schaft, war der Abschied von Marx eher prägt und hatte gesellschaftspolitisch eine logische Konsequenz als eine herz- an die Grundsatzpositionen des Erfurter zerreißende Angelegenheit: „Ich glaube, Programms von 1891 angeknüpft. Es das Godesberger Programm ist lediglich gab folglich Ende der 1950er-Jahre er- der Abschluss einer Entwicklung inner- heblichen geistigen Revisionsbedarf. Dies halb der sozialdemokratischen Partei, die umso mehr, als die Partei mit ihren al- […] nicht erst ’45 […], sondern längst ten Botschaften und Kassandrarufen bei vorher begonnen hat – die Auseinan- den Bundestagswahlen 1957 mit 31,8 dersetzung mit dem Marxismus. Wie- Prozent eine weitere schwermütig stim- weit hat er noch die Möglichkeit, eine mende Niederlage bezogen hatte und fast Analyse der kapitalistischen Entwick- zwanzig Prozentpunkte hinter Adenau- lung, besonders in Deutschland, zu ers CDU gelandet war, die im Bund und geben?“ in Nordrhein-Westfalen mit absoluter Der „gebrannte“ Ex-Stalinist Herbert Mehrheit regierte. Wehner avancierte zum antimarxisti- Das neue Programm bündelte, was schen Kronzeugen. Hatte man am Vor- ohnehin in der Partei gedacht oder schon abend des Parteitags noch nicht gewusst, praktiziert wurde, und es entrümpelte, ob er für den Programmentwurf oder Nr. 482 · Januar 2010 Seite 45 482_45_49_Seitz 18.12.2009 10:26 Uhr Seite 46 Norbert Seitz mit der Parteilinken dagegenstimmen wahl, darum auch freie Unternehmer- würde, so kämpfte er hinterher vehement initiative und darum auch freier Wett- für das Programm, konnte Schwankende bewerb.“ umstimmen und sorgte damit für die Dies bedeutete jedoch einen Bruch mit eigentliche Sensation von Godesberg. Er der ehernen Tradition der Partei, in der war es, der den Delegierten deutlich einst Wettbewerb als Sünde wider den machte, weshalb es eine sozialdemokra- Geist des Sozialismus galt und Brüder- tisch vulgarisierte Marx’sche Theorie als lichkeit als oberstes Ziel deklariert wurde. Handlungsanleitung nicht länger geben Der linke Parteiflügel trug schwer an der konnte: „… Weil ich der Meinung bin, neokapitalistischen Wende der Partei, zu- dass der Marxismus als eine Doktrin mal dem Mittel der Vergesellschaftung weder parteibildend noch im Sinne des- keine zentrale Bedeutung mehr zukom- sen, was wir als soziale Demokratie und men sollte. als demokratischer Sozialismus wollen Zumindest gelang es der Parteilinken, müssen, fördernd sein kann.“ den schwammigen Begriff des demokra- Als stellvertretender Parteivorsitzen- tischen Sozialismus im Programm zu ret- der sollte Wehner auch ein halbes Jahr ten. Für die Verfasser des Dokuments um nach dem Programmparteitag im Juni Willi Eichler, Heinrich Deist, Adolf Arndt 1960 vor dem Deutschen Bundestag das oder Waldemar von Knoeringen jedoch außenpolitische Godesberg noch nach- spielte er aber keine herausragende Rolle reichen. Mit seinem NATO-Schwenk, der mehr. Zum einen hielt man den Begriff Bejahung des bundesdeutschen Wehr- der „sozialen Demokratie“ für ange- beitrags wie auch der angekündigten messener, weil er von der Geschichte als Unterstützung der Bundesregierung in einem offenen Prozess ausgeht und kein außenpolitischen Lebensfragen schien er utopisches Fernziel antäuscht; zweitens seiner Partei den letzten neutralistischen schien der Sozialismus-Begriff historisch Zahn gezogen zu haben. völlig entwertet durch die Praxis kom- munistischer Diktaturen und den Miss- „So viel Markt wie möglich, brauch durch die Nazis. so wenig Plan wie nötig“ Aber schließlich entschied auch ein Die wichtigste inhaltliche Weichenstel- Stück Parteitaktik über die program- lung betraf indes die Systemfrage, das matische Beibehaltung des Sozialismus- heißt die Akzeptanz des marktwirtschaft- Begriffs. Mit der Streichung hätte man lich-kapitalistischen Systems. Die Unter- nämlich den ohnehin schon so deutlich gangserwartung, Ludwig Erhards soziale unterlegenen marxistischen Gegnern eine Marktwirtschaft würde das Land in die totale Niederlage zugefügt und damit Volksarmut führen, hatte sich als giganti- womöglich eine Abspaltung riskiert. sche Fehleinschätzung herausgestellt. In Vom Sozialismus nach Godesberger Bad Godesberg wurde die Losung Pro- Lesart blieb am Ende aber nicht mehr als gramm, die Karl Schiller schon ein paar eine butterweiche Floskel für Gemein- Jahre zuvor ausgegeben hatte: „So viel sinn, die auch von anderen demokrati- Markt wie möglich, so wenig Plan wie schen Parteien hätte geteilt werden kön- nötig.“ Einer der Wortführer jenes Rich- nen. Erhard Eppler definierte einmal im tungswechsels, Heinrich Deist, hämmer- Rückblick: „Sozialismus im Sinne des te der Delegiertenschar ein: „Wir wissen, Godesberger Programms bedeutet, dass dass es Grenzen für den Eingriff des Staa- im Zweifelsfall das Interesse der Gesell- tes in die Wirtschaft gibt. Darum freie schaft, der societas, vor den Sonderinte- Konsumwahl, darum freie Arbeitsplatz- ressen Einzelner gehen muss.“ Seite 46 Nr. 482 · Januar 2010 482_45_49_Seitz 18.12.2009 10:26 Uhr Seite 47 Godesberg und Gabriel Der Delegierte Heinz Ruhnau, später guten Gründen nicht geneigt, der deut- Hamburger Innensenator, lehnte als ein- schen Nachkriegssozialdemokratie ein ziger Parteirechter das neue Programm programmatisches Korsett zu verpassen. wegen inhaltlicher Unschärfen und der Er fürchtete nämlich ideologischen Zwist Beibehaltung desSozialismus-Begriffs ab. und die unter Linken üblichen Abspal- Er war wie andere der Meinung, dass es tungen auf dem angestrebten Weg zu ei- zur Beschreibung einer „dauernden Auf- ner großen, flügelübergreifenden Volks- gabe“ oder einer „regulativen Idee“ oder partei. Darin dem CDU-Gründer Konrad eines „progressiven Prozesses“ keines Adenauer nicht unähnlich, sollte es bei semantisch überladenen „Ismus“ mehr Wahlprogrammen bleiben. Insofern war bedurft hätte. Brandt auch kein Initiator oder gar Spi- Schließlich war es Fritz Erler, der der ritus Rector des Godesberger Programms, Utopie eines erst noch zu vollendenden wie es eine zähe Legende behauptet, auch Zukunftsstaates die visionäre Spannung wenn er mit dessen zentralen Aussagen nahm: „Wir kämpfen nicht gegen den und Absichten natürlich durchaus kon- Staat, sondern um den Staat, und zwar form ging. Erst die ungeheuere refor- nicht um einen Staat in ferner Zukunft, matorische Symbolwirkung von Godes- sondern auch und gerade um den Staat in berg nach außen schien den langjähri- dieser Bundesrepublik, die wir regieren gen SPD-Vorsitzenden im Nachhinein wollen und werden.“ Für die Parteilinke von der Notwendigkeit wenigstens die- war dies zu wenig, sie strebte mehr als ses Programms überzeugt zu haben. einen verbesserten Status quo an, auch wenn dem Brustton der sozialistischen Programme ohne Außenwirkung Überzeugung längst das umstürzlerische Die maßgeblichen Godesberger Refor- Pathos abhandengekommen war. Und mer von vor fünfzig Jahren waren auf- das Ziel einer neuen, besseren Ordnung geklärte Traditionalisten, die in der Emi- entsprang nur noch einer reformistischen gration im Internationalen Sozialisti- Worthülse und nicht mehr dem klas- schen Kampfbund (ISK) entlang der sischen messianischen Versprechen von Lehre des Neukantianers Leonhard Nel- einem Himmelreich auf Erden. son zu einer verschworenen Gemein- Am Ende waren die Befürworter des schaft zusammengefunden hatten. Nach neuen Programms froh, ideologischen 1945 bestens ideologisch gewappnet, tra- „Ballast“ abgeworfen zu haben, während ten sie zum Kampf gegen das marxisti- sich die Gegner um ein Stück Tradition sche Denken in der wiedergegründeten und linke Identität gebracht sahen. Au- Partei an. Darüber hinaus wahrten sie ei- ßerdem kritisierten sie den Programm- sern ihren Traditionalismus auch gegen text als zu weich gezeichnet, unprofiliert solche Reformer und Modernisierer, die und theoretisch ohne Belang. im Geiste schon weiter waren, zum Bei- Willy Brandt, damals im zweiten Jahr spiel Willy Brandt, Helmut Schmidt oder Regierender Bürgermeister in Westber-