4–2020

Fünf Jahre Grün-Schwarz

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bbis2020_04_cover.inddis2020_04_cover.indd u1u1 330.11.200.11.20 08:5008:50 Heft 4–2020, 70. Jahrgang Thema im Folgeheft:

»Bürger & Staat« wird von der Landeszentrale Rassismus für politische Bildung Baden-Württemberg herausgegeben. Direktion der Landeszentrale Lothar Frick Sibylle Thelen Redaktion Inhaltsverzeichnis Prof. Siegfried Frech, [email protected] Redaktionsassistenz Barbara Bollinger, Siegfried Frech, Thomas Waldvogel [email protected] Rückblick und Ausblick: Anschrift der Redaktion Die Landtagswahlen 2016 und 2021 ...... 196 Lautenschlagerstraße 20, 70173 Klaus Detterbeck Telefon: 07 11/16 40 99-44 Spielräume einer Vernunftehe: Die Rahmenbedingungen Fax: 07 11/16 40 99-77 für Grün-Schwarz in Baden-Württemberg ...... 206 Herstellung Schwabenverlag AG Helmar Schöne, Stefan Immerfall, Bianca Strohmaier Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern-Ruit Grün-schwarze Bildungspolitik in Baden-Württemberg ...... 214 Telefon: 07 11/44 06-0, Fax: 07 11/44 06-1 74 Renate Allgöwer Gestaltung Titel Grün-schwarze Wissenschaftspolitik ...... 226 VH-7 Medienküche GmbH, Stuttgart Felix Hörisch Gestaltung Innenteil Die Finanz-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik Schwabenverlag Media der Schwabenverlag AG der grün-schwarzen Landesregierung ...... 232 Vertrieb Sandra Kostner Neue Süddeutsche Verlagsgsdruckerei GmbH Integrationspolitik: Folgenbewältigung statt Reformen ...... 240 Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm Telefon: 07 31/94 57-0, Fax: 07 31/94 57-2 24 Hans Gebhardt www.suedvg.de Energie und Verkehr in Baden-Württemberg ...... 248 Druck Ulrich Eith Neue Süddeutsche Verlagsgsdruckerei GmbH Baden-Württembergs Parteiensystem im Wandel ...... 261 Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm Alexander Hensel Preis der Einzelnummer 3,33 EUR. Die AfD: Parlamentarische Opposition im Stuttgarter Landtag ...... 270 Jahresabonnement 12,80 EUR Abbuchung. Bitte geben Sie bei jedem Schriftwechsel mit Catharina Vögele dem Verlag Ihre auf der Adresse aufgedruckte Debattenkultur im Landtag: Zwischen Parteidisziplin, Kundennummer an. Zwischenrufen und Eklats ...... 278 Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht Joachim Behnke unbedingt die Meinung des Herausgebers und der Redaktion wieder. Reformperspektiven für das Wahlsystem von Baden-Württemberg .....285

Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte Karl-Ulrich Templ geht in den Ruhestand ...... 291 übernimmt die Redaktion keine Haftung. Buchbesprechungen ...... 292 Nachdruck oder Vervielfältigung auf elek- tronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit Genehmigung der Redaktion.

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Auflage dieses Heftes: 14.000 Exemplare

Redaktionsschluss: 16.11.2020

ISSN 0007-3121

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bbis2020_04_cover.inddis2020_04_cover.indd u2u2 330.11.200.11.20 08:5008:50 Legislaturperioden haben ihre Dramaturgie, Politik hat ihre Zyklen und wird u. a. vom nächsten Wahltermin bestimmt. Eine Regierung braucht ein paar Monate, um sich zu finden, dann kommt der Mittelteil mit der Arbeit an den Gesetzen und in ein- zelnen Politikfeldern. Im letzten Jahr der Legislaturperiode arbeitet man vor allem an der Wiederwahl. Anstehende Land- tagswahlen sind stets ein Anlass, eine unaufgeregte Bilanz zu ziehen. picture alliance/dpa

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 193193 330.11.200.11.20 08:4308:43 FFünfünf JJahreahre GGrün-Schwarzrün-Schwarz

Legislaturperioden haben ihre Dramaturgie, Politik hat Regierungsansatz gewichen. Helmar Schöne, Stefan Im- ihre Zyklen und wird u.a. von den großen Daten bestimmt, merfall und Bianca Strohmaier skizzieren die wichtigsten also dem nächsten Wahltermin. Sie sind die Fixpunkte der Eckpunkte des bildungspolitischen Kompromisspakets, mit Politik. Eine Regierung braucht ein paar Monate, um sich dem Grün-Schwarz 2016 angetreten ist. Dabei gehen sie zu finden, dann kommt der Mittelteil mit der Arbeit an den auch auf die bildungspolitischen Hinterlassenschaften Gesetzen und in einzelnen Politikfeldern. Im letzten Jahr der grün-roten Regierungskoalition (2011–2016) ein und der Legislaturperiode arbeitet man vor allem an der Wie- zeigen, dass die Reformvorhaben Bestandsschutz beka- derwahl. Das ist der Zyklus, der von Wahlen unterbro- men. Nach der Vorstellung maßgeblicher Akteure des Po- chen wird. Anstehende Landtagswahlen sind stets ein An- litikfelds werden die Entwicklung und die aktuelle Situa- lass, eine unaufgeregte Bilanz zu ziehen. Was hat sich tion in ausgewählten bildungspolitischen „Baustellen“ seit dem Frühjahr 2016 in der Landespolitik getan? Zu wel- entlang der Struktur des baden-württembergischen Bil- chen Ergebnissen führt ein Vergleich zwischen der „Pro- dungssystems beleuchtet. Dabei werden auch bildungs- grammatik“ – wie im Koalitionsvertrag dargelegt – und politisch wichtige Ereignisse, Projekte und Maßnahmen in der tatsächlichen „Arbeits- und Reformbilanz“. Dabei den Blick genommen. Die Komplementär-Koalition gestal- lohnt es allemal, ausgewählte Politikfelder genauer in den tete Bildungspolitik in den vergangenen fünf Jahren – so Blick zu nehmen. das Fazit – auf der Grundlage des kleinsten gemeinsa- Das Wahlergebnis der Landtagswahl im Jahr 2016 war men Nenners. wiederum spektakulär. Die Grünen erzielten mit 30,3 Pro- Im Koalitionsvertrag der grün-schwarzen Landesregie- zent ihr bestes Ergebnis überhaupt. Erstmals in ihrer Ge- rung wurden die Zielsetzungen der Wissenschaftspolitik schichte wurden sie die stärkste Kraft bei einer Landtags- mit den Adjektiven „exzellent, vielfältig, verantwortlich“ wahl. CDU (27%) und SPD (12,7%) hingegen erzielten ihre charakterisiert. Die Bilanz der zweiten Amtszeit von Wis- schlechtesten Ergebnisse in Baden-Württemberg. Die AfD senschaftsministerin Theresia Bauer ist jedoch eher durch- zog aus dem Stand in den Landtag ein. Noch nie konnte wachsen. Der Erfolg in der Exzellenzinitiative steht in eine Protestpartei mit 15,1 Prozent derart viel Unterstüt- deutlichem Kontrast zu den langwierigen Auseinander- zung gewinnen. Die FDP konnte sich in ihrem Stammland setzungen um die Hochschulfinanzierung. Die Rückgabe mit 8,3 Prozent leicht verbessern. Die Linke scheiterte mit von kolonialen Kulturgütern im Februar 2019 hingegen 2,9 Prozent erneut an der Fünfprozenthürde. war eine anspruchsvolle diplomatische Leistung. Im Zuge Welche Faktoren erklären den Ausgang der Landtags- der Restitution gebrauchte die Wissenschaftsministerin wahl 2016? Und welche Schlüsse lassen sich daraus für nicht den kontrovers diskutierten Begriff Völkermord. Viel- die Wahl zum 17. Landtag von Baden-Württemberg am mehr entschuldigte sie sich für die begangenen Massa- 14. März 2021 ziehen? Der einleitende Beitrag von Sieg- ker. Überlagert wurden die Erfolge jedoch nicht nur von fried Frech und Thomas Waldvogel gibt Antworten auf den geplanten Studiengebühren für Studierende aus diese beiden Fragen. Nach einer kurzen Skizze des Wahl- Nicht-EU-Ländern und dem parteiinternen Konflikt in Fra- ergebnisses 2016 diskutieren die Autoren wichtige Bestim- gen der Gentechnik. Bauers zweite Amtszeit wurde vor mungsgrößen für den Wahlausgang. Darauf folgt eine allem von der sogenannten Zulagenaffäre um die Hoch- empirische Analyse über die Erklärungsfaktoren der indi- schule Ludwigsburg überschattet. Die Folgeschäden für viduellen Wahlabsicht zur Landtagswahl 2016. Der Arti- Theresia Bauer sind – so Renate Allgöwer in ihrem Fazit kel schließt mit einem kurzen Überblick über die Regie- – nachhaltig. rungsbildung und die sich anschließende Legislaturperi- Wie hat sich der Regierungswechsel von Grün-Rot zu ode, bevor ein knapper Ausblick auf die Landtagswahl Grün-Schwarz auf die Finanz-, Wirtschafts- und Arbeits- 2021 geworfen wird. marktpolitik ausgewirkt? Erste Rückschlüsse auf inhaltliche Bei der Regierungsbildung 2016 konnten die beiden Koa- Schwerpunkte und politische Maßnahmen sowie Reform- litionspartner auf Vorgängermodelle zurückblicken, er- aktivitäten ergeben sich aus einem Vergleich der Wahl- folgreiche wie gescheiterte Versuche der Zusammenar- programme mit dem Koalitionsvertrag. Die Aktivitäten und beit studieren. Klaus Detterbeck diskutiert die Handlungs- Reformen in den jeweiligen Politikfeldern sind maßgeblich spielräume der grün-schwarzen Koalition in Baden-Würt- von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig. temberg und erörtert die Frage, was ein derartiges Felix Hörisch erörtert das günstige wirtschaftliche Umfeld, Bündnis überhaupt erreichen kann. Die Analyse der in dem sich die Finanz-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpo- Handlungsoptionen ist eng verknüpft mit dem Blick auf litik Baden-Württembergs bis zur Corona-Pandemie voll- die stabilitätsfördernden Faktoren von Regierungskoaliti- zog und skizziert sodann die eher verhaltenen Reformakti- onen. In einem ersten Schritt wird die Geschichte der vitäten in den ersten vier Jahre der Legislaturperiode. Das grün-schwarzen Annäherung skizziert. Sodann werden letzte Jahr der Regierungskoalition stand ganz im Zeichen interne und externe Faktoren benannt, die als Rahmenbe- der Corona-Pandemie, die einen entschiedenen sozioöko- dingungen für die politische Gestaltungskraft der grün- nomischen Handlungsbedarf entstehen ließ. Aufgrund der schwarzen Landesregierung gelten können. Stabilitätsför- starken industriellen Basis und der hohen Exportorientie- dernd sind gemeinsame und konsensbasierte Vorhaben, rung ist das Wirtschaftsmodell Baden-Württembergs, das ein solides Konfliktmanagement und ein partnerschaftli- in stabilen Zeiten zu Wohlstand und Wachstum führt, in cher Stil, der durch verlässliche Strukturen und klare Spiel- Krisenzeiten verletzlich. regeln einem politischen Bündnis zuträglich ist. Die grün-rote Regierungskoalition brachte in den Jahren Die bildungspolitische Reformeuphorie der grün-roten 2011 bis 2015 eine integrationspolitische Reformagenda Vorgängerkoalition ist 2016 einem eher pragmatischen auf den Weg. Im Herbst 2015 zeichnete sich nach dem

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 194194 330.11.200.11.20 08:4308:43 „Sommer der Willkommenskultur“ jedoch ein Kurswechsel heute höchstes Landtagswahlergebnis im Westen der Re- ab. Aufgrund der großen Zahl ankommender Flüchtlinge publik erzielte. Erstmals seit den 1990er-Jahren gelang geriet die Regierung in Handlungsdruck und wechselte in damit einer rechtspopulistischen Partei der Sprung in den den Krisenbewältigungsmodus. Sandra Kostner erörtert, Stuttgarter Landtag, die dort mit 23 Abgeordneten zu- wie sich die realpolitischen Herausforderungen auf die gleich die größte Oppositionsfraktion bildete. Die derart Politikfelder Integration und Asyl ausgewirkt haben. Der brachiale Ankunft der AfD auf dem landesparlamentari- Vergleich der Regierungsprogramme orientiert sich zu- schen Parkett löste indes Aufruhr aus: Wer waren die par- nächst an der Frage, wie groß die inhaltlichen Schnitt- lamentarischen Neulinge, was wollten sie im Landtag und mengen bzw. die Differenzen zwischen Bündnis 90/Die wie würde eine rechtspopulistische Kraft die Rolle der Grünen und CDU sind. Aufgrund der programmatischen parlamentarischen Opposition wahrnehmen? Im Artikel Differenzen zeigt denn auch die gemeinsame Agenda im von Alexander Hensel sollen diese und weitere Fragen Koalitionsvertrag Kompromisse und eher formelhafte Be- rückblickend beantwortet und eine vorläufige Bilanz der kundungen. Sandra Kostner diskutiert in einem weiteren oppositionellen Entwicklung der AfD im Stuttgarter Land- Schritt die verschiedenen Maßnahmen der Folgenbewäl- tag gezogen werden. tigungspolitik. Stand zu Beginn der Legislaturperiode das Der Ton ist rauer geworden im Landtag. Neben einer ho- Thema Flüchtlingsmigration im Fokus, zeichnet sich gegen hen Zahl von Ordnungsrufen kam es in der gegenwärtigen Ende der grün-schwarzen Koalition eine Rückkehr zur In- Legislaturperiode zu vier Sitzungsausschlüssen, die sich tegrationspolitik für alle ab. auf AfD- bzw. ehemalige AfD-Parlamentarier bezogen. Im grün-schwarzen Koalitionsvertrag ist Nachhaltigkeit Das Parlament scheint für die AfD eine Art Bühne zu sein, ein zentrales politisches Leitmotiv. Das Verständnis einer um sich demonstrativ und provokativ von den etablierten nachhaltigen Politik konkretisiert sich in den Bereichen Parteien abzugrenzen. Im Gegenzug wird die AfD von den Verkehr und Energie. Vor allem die regenerativen Ener- anderen Fraktionen mit denselben rhetorischen Mitteln in gien (Wasser- und Windkraft, Solar- und Bioenergie) und parlamentarischen Debatten isoliert. Catharina Vögele der Verkehr jenseits des automobilen Individualverkehrs erörtert zentrale Ergebnisse einer Studie, die auf zwei haben hierbei eine Schlüsselfunktion. Hans Gebhardt quantitativen Inhaltsanalysen beruht. Der Fokus der Studie bilanziert die eingeschlagenen Entwicklungspfade in die- lag darauf, wie Zwischenrufe und andere Zwischenreakti- sen Bereichen. Deutlich wird, dass die verkehrsgeo- onen wie Beifall, Lachen oder Heiterkeit von den Fraktio- graphische Lage Baden-Württembergs sowie die Ent- nen im Landtag eingesetzt wurden. Die Ergebnisse der wicklungen im Mobilitätssektor und die Pfadabhängigkeit Analyse zeigen, dass die Frontenbildung zwischen der AfD lang fristiger Projekte die Steuerungsmöglichkeiten in den und den anderen Parteien zugenommen hat. Bereichen Verkehr und Energie beschränken. So ist z.B. Ausgleichsmandate sollen Proporzverzerrungen bei der die Energiewende ein Mehrebenenproblem, mit dem Nut- Mandatsverteilung korrigieren. Durch diesen Ausgleich zungs- und Interessenkonflikte einhergehen. Eine ökolo- kam es bei der Bundestagswahl 2017 zu einer merklichen gisch orientierte Politik genießt in der Bevölkerung zwar Vergrößerung des Bundestags. In der Öffentlichkeit, in Po- eine hohe Akzeptanz, gleichwohl bringen Landschafts- litik und Wissenschaft wurde eine Reform angemahnt. veränderungen, Flächenverbrauch, Fragen der standort- Was für den Bund zutrifft, gilt auch für die Länder. Bei der gerechten Planung und die soziale Konstruktion von „Hei- Landtagswahl 2016 lag das baden-württembergische mat“ Interessenkonflikte mit sich. Landesparlament mit 143 Sitzen um fast 20 Prozent über Baden-Württembergs Parteienlandschaft hat sich im letz- seiner regulären Größe. Vor der Diskussion möglicher Re- ten Jahrzehnt verändert. Umbrüche und Zäsuren prägten formen erläutert Joachim Behnke zunächst die Vorgehens- die vergangenen Legislaturperioden. Ulrich Eith zeichnet weise bei der Sitzverteilung bei Landtagswahlen in Ba- die Entwicklung des Parteiensystems in Baden-Württem- den-Württemberg anhand der Wahlergebnisse des Jah- berg mithilfe des Instrumentariums der Wahl- und Partei- res 2016. Die aktuelle Sitzverteilung belegt, dass der Anteil enforschung nach. Politische Kultur, Wählerverhalten und von Frauen im Landtag von Baden-Württemberg nur ca. 25 Parteiensystem lassen sich mit der Entwicklung der Wirt- Prozent beträgt. Starre Listen und Quotierungen scheinen schafts- und Siedlungsstrukturen aber auch mit der Kon- wenig geeignet, um dieses Problem zu lösen. Joachim fessionsstruktur des Südwestens erklären. Die Analyse Behnke erörtert abschließend den von ihm favorisierten dieser Faktoren und der Blick auf die Veränderungen der Lösungsvorschlag „BaWü-Plus“. Dieser Lösungsvorschlag Zusammenhänge zwischen Sozialstruktur und Wählerver- würde das bestehende Wahlsystem in seinen Grundzügen halten tragen wesentlich zum Verständnis des baden- beibehalten, gleichzeitig durch die Abschaffung der Di- württembergischen Parteiensystems bei. Ulrich Eith fo- rektmandate eine Vergrößerung des Landtags unterbin- kussiert mehrere Fragen: Welche Entwicklungslinien des den und zudem ein effizientes Verfahren zur Förderung der parteipolitischen Wettbewerbs lassen sich für Baden- Repräsentation von Frauen im Landtag von Baden-Würt- Württemberg identifizieren? Wie lässt sich die langjäh- temberg beinhalten. rige dominierende Stellung der CDU erklären, wie der Allen Autorinnen und Autoren, die mit ihren Beiträgen auf- Umbruch seit 2011? Wie lässt sich die aktuelle Situation schlussreiche Informationen sowie Einsichten vermittelt der Parteienlandschaft mit Blick auf die Landtagswahl haben, sei an dieser Stelle gedankt. Dank gebührt auch 2021 einschätzen? dem Schwabenverlag und den Mitarbeiterinnen und Mit- Die Landtagswahl 2016 war auch im Südwesten ein elek- arbeitern der Druckvorstufe für die stets gute und effizi- toraler Paukenschlag. Hierzu trug vor allem die Alterna- ente Zusammenarbeit. tive für Deutschland (AfD) bei, die mit 15,1 Prozent ihr bis Siegfried Frech

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 195195 330.11.200.11.20 08:4308:43 LANDTAGSWAHLEN 2016 UND 2021 Rückblick und Ausblick: Die Landtagswahlen 2016 und 2021 Siegfried Frech, Thomas Waldvogel

weniger auf Inhalten aufbaute, sondern auf das integra- Welche Faktoren erklären den Ausgang der Landtags- tiv wirkende Image von Kretschmann setzte. Aufgrund wahl 2016? Und welche Schlüsse lassen sich daraus für seiner Popularität als fast schon idealtypischer Landes- die Wahl zum 17. Landtag von Baden-Württemberg am vater konnte Kretschmann bis „tief in bürgerlich-konser- 14. März 2021 ziehen? Der einleitende Beitrag von Sieg- vative Wählerschichten hinein Zugkraft entwickeln“ fried Frech und Thomas Waldvogel gibt Antworten auf (Gabriel/Kornelius 2016: 511). So konstatierte z. B. die diese beiden Fragen. Nach einer kurzen Skizze des Forschungsgruppe Wahlen, dass nur 15 Prozent der Be- Wahlergebnisses 2016 diskutieren die Autoren wichtige fragten das gute Abschneiden der Partei zurechneten, Bestimmungsgrößen für den Wahlausgang. Darauf folgt 79 Prozent den Wahlerfolg hingegen für einen Verdienst eine empirische Analyse über die Erklärungsfaktoren der von Kretschmann hielten (vgl. Forschungsgruppe Wah- individuellen Wahlabsicht zur Landtagswahl 2016. Der len 2016a: 1). Das Ansehen des Ministerpräsidenten Artikel schließt mit einem kurzen Überblick über die Re- war im Vorfeld der Wahl in fast allen Bevölkerungsgrup- gierungsbildung 2016 und die sich anschließende Legis- pen eindeutig positiv. Dies weist darauf hin, dass einem laturperiode, bevor ein knapper Ausblick auf die Land- populären Ministerpräsidenten ein relativ unbekannter tagswahl 2021 geworfen wird. Spitzenkandidat der CDU, der amtierende Landtags- präsident Guido Wolf, gegenüberstand. Der landesvä- terliche Habitus, Kretschmanns Hang zum Bedächtig- Philosophischen fehlte seinem Konkurrenten (vgl. Hupka Die Ergebnisse der Landtagswahl 2016 2015: 258). Gegenüber der Landtagswahl im Jahr 2011 hatten sich die Imagewerte von Kretschmann deutlich Das Wahlergebnis der Landtagswahl im Jahr 2016 war verbessert. Sagten 2011 noch 37 Prozent, Kretschmann spektakulär. Die Grünen erzielten mit 30,3 Prozent ihr bes- tes Ergebnis überhaupt. Erstmals in ihrer Geschichte wur- den sie die stärkste Kraft bei einer Landtagswahl. CDU (27,0 %) und SPD (12,7 %) hingegen erzielten ihre schlech- testen Ergebnisse in Baden-Württemberg. Die CDU verlor dramatisch, selbst traditionelle CDU-Hochburgen gingen an die Grünen. Die AfD zog aus dem Stand in den Landtag ein. Noch nie konnte eine Protestpartei mit 15,1 Prozent derart viel Unterstützung gewinnen. Die FDP konnte sich in ihrem Stammland mit 8,3 Prozent leicht verbessern. Die Linke scheiterte mit 2,9 Prozent erneut an der Fünfprozent- hürde. Die Landtagswahl des Jahres 2016 kam einem „po- litischen Erdbeben“ gleich: Die Grünen gewannen 46 von 70 Erstmandaten, die CDU nur noch magere 22 und die erstmalig angetretene AfD zwei Direktmandate im Mann- heimer Norden sowie in Pforzheim. Die SPD verlor ihr letz- Regierungsbündnisse sind tes Direktmandat (Mannheim I) an die AfD (vgl. Tabelle 1). bekanntlich keine Liebesheirat. Die Wahlbeteiligung war bei den Landtagswahlen am Dass auch die grün-schwarze 13. März 2016 außergewöhnlich hoch. Von knapp 7,7 Mil- Koalition eher eine Vernunft- lionen Wahlberechtigten haben über 5,4 Millionen den ehe sein würde, machten beide Urnengang angetreten. Der Anteil von 70,4 Prozent wurde Partner bereits im März 2016 das letzte Mal in den 1980er-Jahren erreicht. deutlich. Grüne und CDU, die sich „nicht gesucht, aber gefun- Das Wahlergebnis des Jahres 2016 lässt sich wie folgt kurz den haben“ (Thomas Strobl), skizzieren: kooperierten in aller Regel l Die Grünen erzielten ihr bestes Ergebnis in der Wahlge- pragmatisch. Winfried Kretsch- schichte Baden-Württembergs und wurden zum ersten mann und Thomas Strobl Mal in einem Landesparlament die stärkste Partei. Sie bemühten sich nach außen hin steigerten sich von 24,2 Prozent im Jahr 2011 um 6,1 um demonstrative Einigkeit, Punkte auf 30,3 Prozent. Von den 47 im Landtag vertrete- wenngleich Friktionen hinter nen Abgeordneten der Grünen kamen 46 über ein Erst- den Kulissen da waren und mandat ins Landesparlament (vgl. Tabelle 1). Bemer- sind. kenswert war die Wahlkampfstrategie der Grünen, die picture alliance/dpa

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 196196 330.11.200.11.20 08:4308:43 sei sympathisch, lag der Wert 2016 bei 64 Prozent. Et- RÜCKBLICK UND AUSBLICK: was magerer sahen seine Werte bei der Sachkompe- DIE LANDTAGSWAHLEN 2016 UND 2021 tenz aus. 2016 lag dieser Wert bei moderaten 35 Pro- zent (vgl. a. a. O.). Mit ausschlaggebend für die Reputa- tion der Grünen ist offenkundig auch der ab 2011 datur Wolfs aufgr und seines geringen B ekanntheitsgra- erbrachte Nachweis von Regierungsfähigkeit. Diese des, seiner fehlenden landespolitischen Erfahrung so- Wertschätzung ging koalitionsintern jedoch zu Lasten wie seiner mangelnden Attraktivität für das urbane des Koalitionspartners SPD, der sich vom Stigma des Wählerinnen- und Wählermilieu nicht unumstritten (vgl. klassischen Juniorpartners nicht lösen konnte (vgl. Gab- Gabriel/Kornelius 2016: 500). Der inhaltliche Pendel- riel/Kornelius 2016: 508). kurs und die nicht eindeutige Positionierung des CDU- l Die CDU verlor zwölf Prozentpunkte. Ein Wählerinnen- Spitzenkandidaten Wolf zur Flüchtlingspolitik der Bun- und Wähleranteil von 27 Prozent markiert das schlech- deskanzlerin trugen ebenfalls zum Verlust von Wähle- teste Wahlergebnis der CDU in Baden-Württemberg. rinnen- und Wählerstimmen bei. Nur vier Mal erhielt die CDU Wahlergebnisse unter 40 l Die AfD erhielt 15,1 Prozent und konnte sich aus dem Prozent. Im Parlament ist sie mit 42 Abgeordneten nur Stand vor der SPD positionieren. Die vor dem Hinter- noch zweitstärkste Kraft (vgl. Tabelle 1). Die CDU verlor grund der Eurokrise gegründete Partei vereinte anfäng- 18 Mandate. Bis auf das Mandat in Pforzheim, das die lich konservative und wirtschaftsliberale Elemente, be- AfD gewann, gingen alle anderen Mandate an die Grü- diente aber immer mehr das rechtspopulistische Spekt- nen. Die CDU tat sich angesichts der hohen Zufrieden- rum. Durch die steigenden Flüchtlingszahlen im „Sommer heit mit der grün-roten Landesregierung und dem grü- der Willkommenskultur“ 2015 gewann der rechtspopu- nen Ministerpräsidenten schwer, einen landespolitisch listische Flügel an Gewicht. Als Protestpartei profitierte ausgerichteten Wahlkampf zu führen. Kretschmann ge- sie im Frühjahr 2016 von der Flüchtlingspolitik der Bun- noss in allen Parteianhängerschaften große Unterstüt- deskanzlerin sowie vom grundsätzlichen Protest gegen zung, sein Gegenkandidat Guido Wolf hingegen nur in den etablierten Politikbetrieb. Mit ihrer Rhetorik und ih- den eigenen Reihen. Und selbst in der Anhängerschaft ren Motiven hat die AfD den politischen Diskurs nach der CDU herrschte Zurückhaltung gegenüber dem eige- rechts verschoben.1 Ihre Wahlkampfstrategie war mit nen Spitzenkandidaten. So hätten sich von „den CDU- dem Schüren sozialer Ängste verbunden, bot in der Anhängern 46 Prozent für Kretschmann und 41 Prozent Summe jedoch nur unterkomplexe Lösungsperspektiven für Wolf entschieden“ (Neu 2016: 8). Mit Wolf hatte sich an (vgl. Hafeneger 2016: 126ff.). Auffallend ist, dass von die CDU in eine personalpolitisch schwierige Aus- den knapp 810.000 Stimmen laut Infratest Dimap gangslage begeben. Innerhalb der CDU war die Kandi- 209.000 Nicht-Wählerinnen und Nicht-Wähler für die AfD stimmten.2 Die AfD profitierte nicht nur von der stei- genden Zahl der Geflüchteten, sie schaffte es, „Moder- nisierungsverlierer und Wutbürger zu mobilisieren und sich erfolgreich der autoritär-nationalistischen Wähler- gruppe anzudienen“ (Gabriel/Kornelius 2016: 517). Ein Großteil der AfD-Wählerinnen und -Wähler gab an, dass ihrer Wahlentscheidung die Enttäuschung über die anderen Parteien zugrunde liege. 55 Prozent wählten die AfD, um den im Landtag vertretenen Parteien einen „Denkzettel“ zu verpassen (vgl. Forschungsgruppe Wahlen 2016b: 20). Das Wahlergebnis ist letztlich auch Ausdruck einer nachlassenden Integrationskraft der etablierten Parteien und einer Vertrauenskrise in das re- präsentative System (vgl. Hafeneger 2016: 132; Detter- beck 2020: 75ff.). Die anderen Parteien, die nicht in der Lage waren, vielen Wählerinnen und Wählern Reso- nanz zu bieten, haben „eine populistische Lektion erfah- ren“ (Hafeneger 2016: 132). l Die SPD kam auf bescheidene 12,7 Prozent und verlor mit 10,4 Prozentpunkten knapp die Hälfte ihrer Wähler- schaft. Dies war mithin das schlechteste Wahlergebnis der Partei in Baden-Württemberg, die allerdings im Süd- westen traditionell schwach verankert ist (vgl. Eith 2015; Weber 2011). Schmerzvoll war auch der Verlust des letz- ten Erstmandats in Mannheim an die AfD. Die 19 Abge- ordneten zogen allesamt als Zweitmandate in den Land- tag ein (vgl. Tabelle 1). Insgesamt konnte die SPD nicht mit einem eigenen Profil punkten, war sie doch während der gesamten Legislaturperiode als Juniorpartner allzu sehr in den Hintergrund geraten. Die grün-rote Regie- rungsarbeit wurde in sämtlichen Umfragen zwar positiv bewertet, jedoch konnte die SPD ihren Anteil daran nicht hinreichend verdeutlichen. In allen Befragungen kamen

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 197197 330.11.200.11.20 08:4308:43 Tabelle 1: Sitzverteilung im Landtag Wer hat wen warum gewählt? von Baden-Württemberg Nach dieser einführenden Skizze des Wahlausgangs und Erst - Zweit- Zusammen möglicher Begründungen wollen wir nachfolgend eine mandate mandate Analyse über die Bestimmungsfaktoren des individuellen 2) Wahlverhaltens zur Landtagswahl 2016 in Baden-Würt- CDU 22 20 42 temberg durchführen. Diese stützt sich im Wesentlichen – GRÜNE 461) 1 47 wenn nicht explizit anders gekennzeichnet – auf Daten der 3) Forschungsgruppe Wahlen (2017) die Antworten von SPD -1919 1.025 Personen enthalten, welche im Zeitraum vom 7. Mär z -124) 12 Siegfried Frech, Thomas Waldvogel FDP 2016 bis 11. März 2016 mittels einer computerunterstützten telefonischen Befragung (CATI) in einem mehrstufigen Zu- 2215) 23 AfD fallsauswahlverfahren direkt vor der Landtagswahl inter- Landtag 70 73 143 viewt wurden. Um Bestimmungsfaktoren für das individuelle Wahlverhal- 1) Darunter 8 Überhangmandate, davon 4 im Regierungsbezirk Stuttgart, 3 im Regierungsbezirk Karlsruhe und 1 im Regierungsbezirk Freiburg. ten theoriegeleitet zu analysieren, gibt es verschiedene 2) Darunter jeweils 3 Ausgleichsmandate in den Regierungsbezirken Stutt- politikwissenschaftliche Denkschulen (vgl. Falter/Schoen gart und Karlsruhe und 1 Ausgleichsmandat im Regierungsbezirk Freiburg. 3) Darunter 1 Ausgleichsmandat im Regierungsbezirk Stuttgart und 2 Aus- 2014). Der sogenannte soziologische Ansatz geht davon gleichsmandate im Regierungsbezirk Karlsruhe. aus, dass Wahlverhalten Gruppenverhalten ist (Lazarsfeld 4) Darunter 1 Ausgleichsmandat im Regierungsbezirk Stuttgart. 5) Darunter 2 Ausgleichsmandate im Regierungsbezirk Stuttgart und jeweils et al. 1944), d. h. dass die Zugehörigkeit zu sozialen Grup- 1 Ausgleichsmandat in den Regierungsbezirken Karlsruhe und Freiburg. pen und die daraus resultierenden politischen Loyalitäts- Quelle: Pressemitteilung Innenministerium/Landeswahlleiterin vom 1. April forderungen die Wahlentscheidung eines Individuums in 2016 erheblichem Maße voraussagen (vgl. Schoen 2014). Aus- schlaggebend für die Wahlentscheidung sind demnach verschiedene sozialstrukturelle Faktoren wie u. a. Alter, die Sozialdemokraten auf eher unspektakuläre Werte. Konfession, Berufsstatus, Einkommen, Bildung, Geschlecht Nicht zuletzt litt der soziale Markenkern der SPD unter sowie der Wohnort (Stadt versus Land).3 der AfD, die im Wahlkampf ökonomische Statusängste Hinsichtlich der Wahlentscheidung in den Altersgruppen und soziale Gerechtigkeitsthemen ansprach (vgl. For- barg die Landtagswahl 2016 eine kleine Sensation (vgl. schungsgruppe Wahlen 2016a: 2). In der Summe verlor Tabelle 2). die SPD in alle Richtungen Wählerinnen und Wähler: Den Grünen, die für gewöhnlich vor allem in urbanen, 157.000 wechselten zu den Grünen, 90.000 entschieden akademischen und bildungsbürgerlichen Milieus stark sich für die AfD, 35.000 für die FDP und 13.000 machten sind, erfuhren in der Generation ab 60plus einen deut- ihr Kreuz bei der CDU (vgl. Neu 2016: 12). lichen Zuwachs. Während die CDU auf 32 Prozent l Die FDP konnte sich stabilisieren und verbesserte ihr Er- kam, lagen die Grünen mit immerhin 28 Prozent nur noch gebnis um 3,0 Prozentpunkte auf 8,3 Prozent. Sie konnte knapp hinter der CDU, die „vor allem dieser beteiligungs- vor allem bei Selbstständigen punkten. Viele Wählerin- starken Altersgruppe ihre jahrzehntelange Überlegenheit nen und Wähler sahen sie als Alternative zur CDU und in Baden-Württemberg zu verdanken hatte“ (Forschungs- darüber hinaus als entschiedene und vehemente Ver- gruppe Wahlen 2016a: 2). Bei allen anderen Alterskohor- fechterin der Marktwirtschaft. Die FDP ist mit zwölf Ab- ten lassen die Grünen die CDU deutlich zurück; vor allem geordneten im Landtag von Baden-Württemberg ver- in der Gruppe der 45- bis 59-Jährigen konnten sie ihre bes- treten (vgl. Tabelle 1). ten Ergebnisse erzielen. Im Gegenzug war die CDU bei l Die Linke konnte erneut nicht über die Fünfprozenthürde dieser Altersgruppe besonders erfolglos. Die CDU verlor springen. Mit mageren 2,9 Prozent schnitt sie in etwa so aber auch bei katholischen Stammwählern sowie bei Ar- ab wie bei der Wahl im Jahr 2011 (2,8 %). Die Linke beitern, Selbstständigen und bei Landwirten (vgl. Neu konnte – wie auch ihre Vorgängerpartei PDS – noch nie 2016: 12). Die Generation 60plus war der AfD gegenüber in den Landtag von Baden-Württemberg einziehen (vgl. sehr skeptisch. Hohen Zuspruch hingegen erfuhr die AfD Neu 2016: 6). von allen anderen Altersgruppen. Ähnlich wie die CDU schnitt auch die SPD im Vergleich mit anderen Alterskohor- ten bei den älteren Wählerinnen und Wählern etwas bes-

Tabelle 2: Wahlentscheidung in den Altersgruppen

GRÜNE CDU SPD FDP AfD Sonstige Wahlergebnis 30,3 % 27 % 12,7 % 8,3 % 15,1 % 6,6 % 18–29 Jahre 27 % 25 % 12 % 7 % 16 % 14 % 30–44 Jahre 29 %27 %9 %7 %19 %9 % 45–59 Jahre 37 % 23 % 11 % 7 % 16 % 6 % ab 60 Jahre 28 % 32 % 16 % 10 % 11 % 3 % Quelle: Forschungsgruppe Wahlen 2016a: 2

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 198198 330.11.200.11.20 08:4308:43 ser ab. Für die FDP lässt sich dieser Effekt ebenfalls feststel- RÜCKBLICK UND AUSBLICK: len. DIE LANDTAGSWAHLEN 2016 UND 2021 In der Berufsgruppe der Arbeiterinnen bzw. Arbeiter er- reichte die SPD nur noch einen eher durchschnittlichen Wert. Während auch die anderen etablierten Parteien bei Dissonanzen zu einer anderen Wahlentscheidung führen dieser Gruppe wenig punkten konnten, erzielte die AfD hin- können. gegen hohe Werte. Gleiches gilt für die Gruppe der Ar- Die Daten der Vorwahlbefragung durch die Forschungs- beitslosen sowie für Männer jüngeren und mittleren Alters gruppe Wahlen e. V. zeigen, dass rund ein Viertel der Be- (vgl. Forschungsgruppe Wahlen 2016a: 2). Konnten die fragten (24 %) eine Parteiidentifikation für die Christdemo- CDU und die SPD bei den Landtagswahlen 2006 und 2011 kraten aufweist. Sie liegen damit deutlich vor den Grünen, immer noch knapp drei Viertel (69,4 %) bzw. zwei Drittel mit welchen sich 17 Prozent der Interviewten identifizieren. (62,1 %) der Wählerinnen und Wähler von sich überzeu- Während sich immerhin noch 13 Prozent mit den Sozialde- gen, nahm ihre einst zuverlässige Klientel ab. Aus dem „ori- mokraten affektiv verbunden fühlen, sind die Anhänger- ginär SPD-affinen Lager [unterstützten] doppelt so viele gruppen für die FDP (2 %) und Linke (2 %) sehr klein.4 Bürger wie 2011 die Grünen (…) und rund jeder siebte mit Bemerkenswert ist, dass mehr als ein Drittel der Befragten langfristiger CDU-Parteibindung die AfD“ (Gabriel/Korne- (35 %) keine Parteiidentifikation aufweist. Darüber hinaus lius 2016: 503). Gewinner waren letztlich die Grünen, die zeigt sich in der Detailanalyse, dass mit Ausnahme der erfolgreich die politische Mitte besetzen konnten. So er- Grünen (rund ein Fünftel) ein erheblicher Anteil der Identi- zielten die Grünen in der Gruppe der Angestellten und Be- fizierenden (je mehr als ein Drittel) eine eher schwache Bin- amten überdurchschnittliche Werte. Anzumerken bleibt, dung an die jeweilige Partei besitzt. Vor diesem Hinter- dass bei der Gruppe der Angestellten auch die AfD erfolg- grund bot der politische Wettbewerb also insgesamt ein reich war. Mithin ein ausschlaggebender Grund für die erhebliches Potenzial an Stimmenverschiebungen. Wahlentscheidung zugunsten der AfD sind latente Zu- In diesem Zusammenhang können die Kurzfristfaktoren der kunfts- und Statusängste, die sich in dieser Berufsgruppe Kandidaten- und Sachfragenorientierungen besonders vermehrt äußern (vgl. Forschungsgruppe Wahlen 2016b: wirksam sein. Auch hier lohnt sich wiederum ein Blick in die 20; Bude 2014: 60ff.). Der AfD gelang es, in ihrer Wahl- Umfragedaten. Im Vergleich der beiden aussichtsreichsten kampfrhetorik eben diese Abstiegsängste und sozialen Un- Kandidaten um das Amt des Ministerpräsidenten lässt der sicherheiten zu mobilisieren. Ein weiteres Merkmal ist der Amtsinhaber (Bündnis 90/Die Grü- Gegensatz zwischen Stadt und Land. In ländlichen Regio- nen) seinen Herausforderer Guido Wolf (CDU) deutlich nen und Kleinstädten gab es für die AfD überdurchschnittli- hinter sich. Während Letzterer in der allgemeinen Kandi- che Werte, während der Zuspruch in den Großstädten eher datenevaluation auf einer Skala von -5 bis +5 weitgehend unterdurchschnittlich war (vgl. Hafeneger 2016: 126). neutral bewertet wird (M=-0,09; SD=2,49) kann Ersterer Eine deutliche andere Perspektive zur Erklärung des in- deutlich überzeugen (M=3,01; SD=2,26). Dieser Vorteil dividuellen Wahlverhaltens nimmt der sozialpsychologi- schlägt sich auch merklich in den Präferenzen für den Mi- sche Ansatz ein, welcher die Wahlentscheidung als Folge nisterpräsidenten nieder, wobei sich rund 70 Prozent der der Wechselwirkung von langfristigen und kurzfristigen Befragten für Winfried Kretschmann, aber nur 16 Prozent Einflussfaktoren begreift (Campbell et al. 1954). Kern die- für Guido Wolf aussprechen. ses Ansatzes bildet die individuelle Parteiidentifikation, die Mit Blick auf die Problemlösungskompetenz in aktuellen als eine langfristige emotionale Bindung einer Person an Sachfragen können die Grünen ebenfalls einen Vorteil ge- eine politische Partei verstanden wird. Sie wird durch genüber der CDU verbuchen. Während rund 58 Prozent die politische Sozialisation erworben und filtert in erhebli- der Befragten ersterer Partei die Lösung aktueller Sachthe- chem Maße die politische Wahrnehmung. Neben diesem men zutrauen, liegt dieser Wert für die Christdemokraten Langfristfaktor gelten die Bewertung des politischen Perso- lediglich bei 41 Prozent. Es zeigt sich insgesamt also, dass nals und die Einstellungen zu aktuellen politischen Streitfra- die CDU kurz vor der Landtagswahl 2016 zwar deutlich gen als zwei kurzfristige Einflussgrößen, die das Wahlver- m e h r Pe r s o n e n ü b e r e i n e Pa r t e i i d e n t i f i ka t i o n a n s i c h z u b i n - halten maßgeblich bestimmen. Die individuelle Wahlent- den weiß, die Grünen aber merkliche Vorteile in den Kurz- scheidung wird letztlich als Funktion des spezifischen fristfaktoren für die Wahlentscheidung besitzen. Wechselspiels dieser drei Faktoren verstanden, in der die Schicksals-, Test- oder Denkzettelwahl? Landtagswahlen Kurzfristfaktoren die langfristig wirksame Parteiidentifika- werden in medialen Kommentaren ebenso wie in der poli- tion entweder verstärken oder aber im Falle von starken tischen Diskussion immer wieder zu kleinen Bundestags-

Tabelle 3: Wahlentscheidung in den Berufsgruppen

GRÜNE CDU SPD FDP AfD Sonstige Wahlergebnis 30,3 % 27 % 12,7 % 8,3 % 15,1 % 6,6 % Arbeiter 24 % 27 % 14 % 6 % 22 % 7 % Angestellte 36 % 25 % 13 % 7 % 13 % 6 % Beamte 33 % 32 % 15 % 9 % 8 % 4 % Selbstständige 29 % 32 % 9 % 13 % 12 % 5 % Quelle: Forschungsgruppe Wahlen 2016a: 2

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 199199 330.11.200.11.20 08:4308:43 wahlen stilisiert. Der bundespolitischen Durchdringung Landtagswahl 2016 und versuchen mittels einer binomia- von Landtagswahlen wird in diesem Sinne gemeinhin eine len logistischen Regression exemplarisch diejenigen Fak- große Prägekraft zugesprochen. In der Politikwissenschaft toren zu identifizieren, die die Wahl für die jeweilige Partei wird dieses Spannungsverhältnis zwischen bundespoliti- substanziell erklären. Unser Modell enthält dabei einer- scher Dominanz und regionaler Präzedenz insbesondere seits unabhängige Variablen nach dem soziologischen unter der Nebenwahltheorie in föderalen Mehrebenen- Ansatz: Geschlecht (binär: 0=männlich; 1=weiblich), Alter systemen kontrovers diskutiert. Die Kontroversität in der (zehn Kategorien von 18 bis über 70 Jahre), Wohnortgröße wissenschaftlichen Diskussion vollzieht sich dabei insbe- (neun Kategorien von unter 2.000 bis über 500.000 Ein- sondere entlang der Frage, ob das individuelle Wahlver- wohner) und eine kombinierte Variable aus der Zugehörig- halten bei Landtagswahlen bundespolitisch dominiert ist keit zur katholischen Kirche und der Kirchengangshäufig-

Siegfried Frech, Thomas Waldvogel oder doch vielmehr von regionalen Faktoren determiniert keit (0=nicht katholisch; 1=schwach katholisch; 2=mode- wird (Gabriel/Holtmann 2007; Völkl 2009; Völkl 2016). Die rat katholisch; 3=stark katholisch). Angelehnt an den Nebenwahltheorie knüpft dabei direkt an den sozialpsy- sozialpsychologischen Ansatz beinhaltet das Modell dar- chologischen Denkansatz an. Da das ursprüngliche Mo- über hinaus eine binäre Variable für die Parteiidentifika- dell allerdings seine drei Erklärungsgrößen nicht ebenen- tion mit der jeweiligen Partei (0=nein; 1=ja), die allge- spezifisch konzipiert, werden diese in der Literatur für die meine Kandidatenbewertung von -5 bis +5 und einen In- Analyse von landespolitischen Nebenwahlen modifiziert dex über die Problemlösungskompetenz bestehend aus (Völkl 2008). Dabei gilt die Parteiidentifikation als ein nicht sechs Themenfeldern (Wirtschaft, Bildung, Verkehr, Ener- genuin auf die Landespolitik bezogener, sondern ebenen- gie, Migration und Zukunftsfragen). Um die Nebenwahl- unspezifischer Faktor, in dem sich Einflüsse unterschiedli- annahme zu prüfen, nehmen wir darüber hinaus die Be- cher politischer Ebenen vermengen (vgl. Gabriel/Holt- wertungen von Grünen und CDU auf einer Skala von -5 bis mann 2007). Die Themen- und Kandidatenorientierungen +5 in Bund und Land in das Modell auf. werden hingegen im Kontext von Nebenwahlen ebenen- Wenden wir uns zunächst den soziologischen Erklärungs- spezifisch konzipiert (Gabriel/Holtmann 2007; Völkl 2008), faktoren zu. Weder das Alter, das Geschlecht noch die d. h. dass Problemlösungskompetenzen und insbesondere Wohnortgröße erklären in unserem Modell die Wahlab- die Kandidatenbewertungen von den Wählerinnen und sicht für die Grünen und auch nicht für die Christdemokra- Wählern der landespolitischen Ebene zugeordnet werden ten. Dies verwundert auf den ersten Blick, ist die Annahme können. Um das unterschiedliche Gewicht zu ermessen, mit doch weit verbreitet, dass Grüne vor allem von einer urba- welchem landes- und bundespolitische Bewertungen auf nen und jungen Wählerschaft getragen werden, während die individuelle Wahlentscheidung wirken, nutzen wir – die CDU insbesondere von älteren Wählerinnen und Wäh- am Beispiel von CDU und Grünen, die als am aussichts- lern in ländlichen Regionen Unterstüt zung er fähr t. Mit Blick reichsten im Wettbewerb um das Ministerpräsidentenamt auf die Landtagswahl scheinen sich diese Gewissheiten gelten dürfen – die allgemeinen Parteienbewertungen auf zwar nicht aufgelöst zu haben, sie spielen aber gegenüber den beiden politischen Ebenen als Näherungsvariable anderen Erklärungsgrößen eine nachgeordnete Rolle. Ins- (Ohr/Klein 2007). Wenn wir die Werte betrachten, sehen besondere die Grünen scheinen sich in allen Altersgruppen wir, dass die Christdemokraten im Bund (M=1,35; SD und Räumen als Wahloption etabliert zu haben. Die Varia- =2,81) auf einer Skala von –5 bis +5 etwas positiver von ble über die Kirchenzugehörigkeit und Kirchengangshäu- den Befragten bewertet werden als die Grünen (M=1,07; figkeit leistet für die Wahlabsicht zugunsten der Christde- SD =2,59), wobei die Anhänger der CDU (M=2,71; mokraten hingegen einen signifikanten Erklärungsbeitrag. SD=2,33) und der Grünen (M=2,81; SD=1,48) gleichsam So erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer Wahl der CDU der eigenen Bundespartei eine höhere Bewertung entge- bei einer starken Bindung an die katholische Kirche um rund genbringen. Mit Blick auf die Landesparteien zeigt sich, sechs Prozent (wenn alle anderen Variablen auf dem Mittel- dass die Grünen (M=2,36; SD=2,65) insgesamt merklich wert bzw. Median konstant gehalten werden) gegenüber besser bewertet werden als dies für die Landes-CDU zu- Personen, die keine Bindung aufweisen. Insgesamt leisten trifft (M=0,48; SD=2,77). Dieser Unterschied bleibt auch die Variablen, die die Bestimmungsfaktoren aus dem sozio- bestehen – wenngleich auf höherem Niveau – wenn wir logischen Ansatz repräsentieren, aber einen geringen Er- die Anhängergruppen von CDU (M=2,10; SD=2,11) und klärungsbeitrag für die Wahlabsicht. Grünen (M=4,19; SD=0,95) getrennt betrachten, wobei Deutlich größeren Einfluss nehmen die Erklärungsgrößen letztere sehr einheitlich ihre Landespartei positiv bewer- wie sie im sozialpsychologischen Modell konzipiert sind. ten. Während die CDU als Partei auf den beiden politi- Die Parteiidentifikation ist dabei sowohl für die Grünen schen Ebenen also in ähnlicher Weise bewertet wird, deu- als auch für die Christdemokraten der stärkste Prädiktor für tet sich für die Grünen ein unterschiedliches Muster für die die Wahlabsicht. So erhöht die Identifikation mit den Grü- Landes- und Bundesebene an. nen die Wahrscheinlichkeit einer Stimmabgabe um 30 Pro- zent, für die CDU um rund 25 Prozent (Referenzgruppe = keine Parteiidentifikation mit der jeweiligen Partei). Mit Was bestimmt (wirklich) die Blick auf die Kandidatenorientierung zeigt sich, dass eine individuelle Wahlentscheidung? positive Bewertung des politischen Spitzenpersonals für die Wahlabsicht beider Parteien ein wichtiger Erklärungs- Neben diesen deskriptiven Befunden lässt sich mithilfe von faktor ist, dieser aber für Kretschmann und die Grünen ge- Methoden der multivariaten Statistik die Wirkung der genüber Wolf und der CDU doppeltes Gewicht hat. Der oben beschriebenen Erklärungsgrößen in einem gemein- CDU-Spitzenmann konnte offensichtlich im Gegensatz zu samen Modell beurteilen. Wir fokussieren im Folgenden seinem grünen Kontrahenten nicht so sehr zur Wahl seiner auf die Wahlabsicht5 (0=nein,; 1=ja) für die Grünen (317 Partei mobilisieren. Auch die Problemlösungskompetenz ist Personen) und Christdemokraten (196 Personen) bei der für die Wahlabsicht der beiden Parteien im Wettbewerb

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 200200 330.11.200.11.20 08:4308:43 um das Amt des Ministerpräsidenten eine bedeutende RÜCKBLICK UND AUSBLICK: Größe, die gar noch einflussreicher ist als die Kandidaten- DIE LANDTAGSWAHLEN 2016 UND 2021 orientierung und für beide Parteien ähnliches Gewicht be- sitzt. Mit Blick auf die Parteienzufriedenheit in Land und Bund Regierungsbildung: Wer mit wem? und damit auf die Frage, inwiefern die individuellen Wahl- entscheidungen von der landes- und bundespolitischen Bereits in den ersten Tagen nach dem Wahlsonntag zeich- Ebene beeinflusst werden, ergibt sich ein interessantes neten sich Präferenzen für mögliche Koalitionen ab.6 Eine Muster, das in Abbildung 1 dargestellt ist. Die Grafik zeigt Fortsetzung der grün-roten Koalition war schon aufgrund die marginalen Effekte der Variablen über die Bewertun- der Zahl der Parlamentssitze rein rechnerisch nicht mög- gen der jeweiligen Parteien in Land und Bund auf die lich: 66 von insgesamt 143 Sitzen reichten nicht aus, um die Wahlabsicht. Zwei zentrale Befunde lassen sich aus der Koalition eine weitere Legislaturperiode fortzuführen. Abbildung herauslesen. Erstens hat die Zufriedenheit CDU und FDP verfügten mit nur 54 Mandaten nicht über mit der Partei im Bund erheblichen Einfluss auf die Wahl- die parlamentarische Mehrheit (vgl. Tabelle 1). Eine Koali- absicht für die Christdemokraten, nicht aber für die Grünen; tion mit der AfD schlossen alle anderen im Landtag vertre- die Variable bleibt im Modell insignifikant. Zweitens tenen Parteien kategorisch aus. zeigt sich, dass für beide Parteien die Zufriedenheits- Die Sondierungsgespräche begannen am Mittwoch nach werte im Land ausschlaggebender sind, wenngleich das der Wahl (16. März 2016). Winfried Kretschmann hatte sich Gewicht zwischen bundes- und landespolitischer Ebene für Gespräche mit allen demokratischen Parteien ausge- für die CDU nahezu ausgeglichen ist. Wir können also sprochen. Eine Ampel-Koalition aus Grünen, SPD und FDP festhalten, dass die Wahlabsicht für die Grünen weitge- sowie eine sogenannte Deutschland-Koalition von CDU, hend einem eigenständigen landespolitischen Muster SPD und FDP waren bald vom Tisch. Während der SPD-Lan- folgt und gegenüber bundespolitischen Entwicklungen re- desvorstand am Montag nach der Wahl einem Bündnis mit sistenter ist, während die Christdemokraten deutlich stär- Union und Liberalen – d. h. einer Deutschland-Koalition – ker von der bundespolitischen „Großwetterlage“ abhän- eine Absage erteilte, lehnte die FDP eine Koalition mit gig zu sein scheinen. Diese war für die Landes-CDU mit Grünen und SPD ab. Damit blieb Kretschmann nur die Son- ihrer inneren Zerrissenheit über die politischen Antworten dierung mit der CDU und somit die Option für eine Kiwi- auf die dominierenden Fragen der Migrations-, Asyl- und Koalition, einer grün-schwarzen Koalition, die mit 89 Land- Flüchtlingspolitik zur Landtagswahl 2016 denkbar ungüns- tagssitzen über eine stabile Mehrheit verfügen würde (vgl. tig. Tabelle 1). Die Gespräche verliefen anfangs schleppend.

Abbildung 1: Marginale Effekte der Parteienbewer- tungen auf Landes- und Bun- desebene Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage eigener Berechnungen

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 201201 330.11.200.11.20 08:4308:43 Tabelle 4: Die Landesregierung

Winfried Kretschmann Ministerpräsident Bündnis 90/Die Grünen Thomas Strobl Stellvertretender Ministerpräsident und Minister CDU für Inneres, Digitalisierung und Migration Ministerin für Finanzen Bündnis 90/Die Grünen Susanne Eisenmann Ministerin für Kultus, Jugend und Sport CDU Theresia Bauer Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst Bündnis 90/Die Grünen Minister für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft Bündnis 90/Die Grünen

Siegfried Frech, Thomas Waldvogel Nicole Hoffmeister-Kraut Ministerin für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau CDU Manfred Lucha Minister für Soziales und Integration Bündnis 90/Die Grünen Peter Hauk Minister für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz CDU Guido Wolf Minister für Justiz und Europa CDU Minister für Verkehr Bündnis 90/Die Grünen Gisela Erler Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung Bündnis 90/Die Grünen

Vor allem die CDU war gespalten, war sie doch als Junior- z. B. bei der Frage des Abstands von Windrädern durch- partner gezwungen, Kompromisse eingehen. Viele CDU- setzen. Die CDU hingegen konnte bei der inneren Sicher- Mitglieder taten sich schwer, die Rolle des Juniorpartners heit ihr Wahlversprechen behaupten, 1.500 zusätzliche überhaupt zu akzeptieren. Angesichts der zähen Verhand- Polizeistellen zu schaffen. Die von den Grünen geforderte lungen und innerparteilicher Kontroversen rief der frühere Kennzeichnungspflicht für Polizisten fand keine Mehrheit, Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) seine Partei zu der Einführung von Schulterkameras stimmten beide Seiten konstruktiven Koalitionsgesprächen mit den Grünen auf. zu. (Wenngleich die Motive durchaus verschieden waren: Mehrere Tageszeitungen im südwestdeutschen Raum zi- Die CDU sah dies als Schutzmaßnahme für Polizeikräfte tierten einen ironischen Vergleich, den Oettinger an den vor Angriffen, die Grünen eher als Instrument, Demonst- Vize-Fraktionschef der CDU adressierte: „Wer sich selbst ranten vor Übergriffen zu schützen.) Im Bereich der Digita- verwirklichen will, ist in der Politik falsch. Dann muss man lisierung präsentierten sich beide Parteien als wirtschafts- sich einen Kleingarten pachten und Radieschen pflanzen.“7 nahe Modernisierer. In der Wirtschafts- und Finanzpolitik Die inhaltlichen Verhandlungen über den Koalitionsver- bestanden ohnehin keine grundlegenden Differenzen.10 trag wurden Anfang Mai erfolgreich beendet. Nachdem So erklärt sich auch das klare Bekenntnis zur Schulden- die darauffolgenden Parteitage der Grünen (7. Mai 2016) bremse. In manchen Fällen scheiterten Wahlversprechen und der CDU (6. Mai 2016) dem Verhandlungsergebnis mit schlichtweg an der finanzpolitischen Kassenlage. Einspa- einer breiten Mehrheit – bei nur wenigen Gegenstimmen rungen trafen zunächst die Landesbeamten, deren Besol- (Grüne: 14 Nein-Stimmen; CDU: 17 Nein-Stimmen) – zuge- dungserhöhung gedeckelt wurde, und die Kommunen, de- stimmt hatten, wurde der Koalitionsvertrag am 9. Mai 2016 nen geringer ausfallende finanzielle Überweisungen in unterzeichnet. Der Landesregierung, die am 10. Mai 2016 Aussicht gestellt wurden. Der Wunsch der CDU nach Inves- von Kretschmann vorgestellt wurde, gehören neben ihm titionen in Straßen, Schienen, Hochbau und Hochschulen zehn Ministerinnen und Minister sowie eine Staatsrätin mit war durchsetzbar.11 Auch in der Bildungspolitik kamen Stimmrecht im Kabinett an. Kompromisse zustande: Konnte die CDU die Stärkung der Realschulen für sich verbuchen, setzten die Grünen die Genehmigung neuer Gemeinschaftsschulen durch. Ebenso Ein (kurzer) Blick auf die Legislaturperiode wurden die bildungspolitischen Weichenstellungen der Vorgängerkoalition beibehalten. Die seitens der CDU ge- Der knapp 140 Seiten umfassende Koalitionsvertrag – forderte Wahlfreiheit zwischen G 8 und G 9 war nicht überschrieben mit „Baden-Württemberg gestalten: ver- mehrheitsfähig, jedoch die Fortsetzung des Modellver- lässlich. nachhaltig. innovativ“ – enthält das programmati- suchs mit G 9-Schulen.12 sche Selbstverständnis der beiden Parteien, in einer soge- Regierungsbündnisse sind bekanntlich keine Liebesheirat. nannten Komplementär-Koalition zusammenarbeiten zu Dass auch die grün-schwarze Koalition eher eine Ver- wollen.8 Gemeint ist damit eine Partnerschaft, die über in- nunftehe sein würde, machten beide Partner bereits im haltliche Schnittmengen verfügt und zugleich Freiräume März 2016 vor Beginn der Koalitionsverhandlungen deut- lässt, in denen Grüne und CDU unterschiedliche Themen lich. Grüne und CDU, die sich „nicht gesucht, aber gefun- besetzen können. Inhaltlich enthält der Koalitionsvertrag den haben“ (Thomas Strobl), kooperierten in aller Regel somit Profilierungschancen für jeden Partner. Letztlich pragmatisch. Ministerpräsident Kretschmann und sein konnten beide Parteien im Rahmen der Koalitionsverhand- Vize Thomas Strobl bemühten sich nach außen hin um de- lungen ihre Markenkerne retten. Einige ausgewählte und monstrative Einigkeit, wenngleich Friktionen hinter den Ku- in den Wahlprogrammen aufgestellte Forderungen sollen lissen da waren und sind. Dementsprechend durchwach- dies verdeutlichen. Wenn auch das Wor t „Gender “ an kei- sen sah auch die Halbzeitbilanz im Jahr 2018 aus. Richtig ner Stelle auftaucht, einigten sich beide doch auf eine Re- gekracht hat es eigentlich nur einmal in zweieinhalb Jah- form des Wahlrechts, um den Frauenanteil im Landesparla- ren. Die CDU weigerte sich im April 2018, das im Koali- ment zu erhöhen.9 Die Grünen, die die ökologische Moder- tionsvertrag festgeschriebene Wahlrecht zu reformieren. nisierung auf ihre Fahnen geschrieben hatten, konnten sich Die angedachte Wahlrechtsreform sollte den Frauenanteil

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 202202 330.11.200.11.20 08:4308:43 im Landesparlament erhöhen. Die „grüne“ Retourkutsche RÜCKBLICK UND AUSBLICK: folgte sogleich. Die Grünen verweigerten der Kandidatin DIE LANDTAGSWAHLEN 2016 UND 2021 der CDU, Sabine Kurtz, bei der Wahl zur Landtagsvize- präsidentin im ersten Wahlgang die Zustimmung. Es gab bisweilen Konflikte, wenn es um ideologisch aufgeladene Vor der Corona-Pandemie stritt Grün-Schwarz über Die- Politikfelder wie Bildung, Verkehr und Migration13 ging. selfahrverbote und das Polizeigesetz, über die Photovol- Und dennoch einigten sich die Koalitionäre selbst in taikpflicht und die Landarztquote, über die ganztägige heiklen Fragen. Vor der Sommerpause 2018 wurde das Kinderbetreuung und Pflanzenschutzmittel. Kretschmann Gerichtsurteil zu möglichen Fahrverboten für Dieselfahr- kritisierte im Spätsommer 2019 noch, die CDU-Spitzenkan- zeuge in Stuttgart im Luftreinhalteplan umgesetzt. Da- didatin Susanne Eisenmann befinde sich bereits im Wahl- für gab es in der Folge monatelang Streit wegen Fahr- kampfmodus, sie könne sich auch durch gute Politik in ihrem verboten für Dieselfahrzeuge der Abgasnorm 5. Auch in Ressort profilieren.15 Der Landesvorsitzende Thomas Strobl Fragen der inneren Sicherheit gab es Differenzen. Als hatte zuvor aufgrund schlechter Umfrageergebnisse Ende Innenminister Thomas Strobl forderte, das Polizeigesetz zu Mai 2019 auf die Spitzenkandidatur verzichtet und schlug verschärfen und u. a. die Onlinedurchsuchung von Com- Susanne Eisenmann, die amtierende Kultusministerin, als putern ermöglichen wollte, lehnten die Grünen dies vehe- CDU-Spitzenkandidatin vor. Die Corona-Krise habe – so ment ab. Seitdem liegt die Reform auf Eis. In der Bildungs- Kretschmann vor der Sommerpause 2020 – die nicht immer politik profilierte sich Kultusministerin Eisenmann als Be- harmonische Koalition zusammengeschweißt. Die tages- wahrerin von Leistungsorientierung, schaffte alternative aktuelle Presse bescheinigte Kretschmann im Frühjahr Rechtschreibmethoden ab und set z te wieder auf mehr Ver- 2020 zwar keine „machtpolitisch-schillernden Facetten“ bindlichkeit bei der Grundschulempfehlung. Die Koalition (Krauss 2016: 2), wie sie Markus Söder in Bayern und Armin ging, so ein Zeitungskommentar, „ächzend in die zweite Laschet in Nordrhein-Westfalen an den Tag legten, kons- Halbzeit.“14 tatierte jedoch, dass sich die grün-schwarze Landesregie- Spannungen traten erneut im März 2019 auf. Fast drei rung mit ihrer Politik im Kampf gegen das Virus nicht verste- Jahre nach der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags cken müsse. Beide Koalitionspartner würden auf die Pan- knirschte es wegen einer Umfrage, die Strobl an CDU-ge- demie sachlich, besonnen und unaufgeregt reagieren führte Ministerien gerichtet hatte, die in der Summe ein (vgl. a. a. O.). Vor allem die CDU bekam durch das gemein- Dutzend Streitpunkte zwischen den Koalitionären auflis- same Krisenmanagement mit den Grünen Aufwind, nach- tete. Ende 2019 – noch vor der Corona-Pandemie – einig- dem sie u. a. durch die Parteiquerelen in Berlin und das po- ten sich Grüne und CDU auf einen „Doppelhaushalt mit sitive Image von Kretschmann lange Zeit im „Sinkflug“ be- vielen Wahlgeschenken“ (Wetzel 2019: 2). Mit Einnahmen griffen war. Beide Koalitionspartner hatten begriffen, dass und Ausgaben von ca. 51,7 Milliarden Euro im Jahr 2020 sie kaum profitieren, sondern an Vertrauen bei den Wähle- und 52,9 Milliarden im Jahr 2021 wurden neue Rekordmar- rinnen und Wählern verlieren, wenn sie in Krisenzeiten ei- ken gesetzt. Dem Doppelhaushalt ist anzumerken, dass er nen Profilierungszwist vom Zaun brechen. Zu Beginn der der letzte vor der Landtagswahl 2021 ist. Krise gab es eine „Art kommunikatives Aus für die Opposi- tion“ (Frank Brettschneider).16 Auch die populistischen Ver- ächter der repräsentativ-parlamentarischen Demokratie Im Wahlkampfmodus wurden kleinlauter. In Krisen erwarten die Bürgerinnen und Bürger keine Par- Legislaturperioden haben ihre eigene Dramaturgie, Politik teipolitik, vielmehr sind Problemlösungen gefragt. Die Lan- hat ihre Zyklen. Sie wird vor allem durch die Wahltermine desregierung ist hier im Vorteil, da sie agieren kann. Der bestimmt. Sie sind die Fixpunkte der Politik. Eine Regierung Opposition hingegen bleibt nur das Opponieren. Prompt braucht gemeinhin ein paar Monate, um sich zu finden, bezichtigte Hans-Ulrich Rülke, FDP-Fraktionschef und Spit- dann kommt der produktive Mittelteil mit der Regierungs- zenkandidat für die Landtagswahl 2021, Kretschmanns arbeit. Im letzten Jahr der Legislaturperiode arbeitet man Aussage, die Pandemie habe die Koalition zusammenge- vor allem an der Wiederwahl. Dieser gängige Zyklus schweißt, als „Schönrederei“.17 Corona habe vielmehr die wurde durch die Corona-Pandemie verändert. Schwächen erst offengelegt, z. B. die unzureichende Digi-

Tabelle 5: Stimmungstests und Trends

Institut Datum Grüne CDU SPD FDP AfD Linke Sonstige Forsa 04.02.2019 33 % 23 % 9 % 9 % 13 % 6 % 7 % INSA 15.02.2019 29 % 27 % 13 % 9 % 12 % 5 % 5 % Infratest dimap 28.03.2019 32 % 28 % 12 % 9 % 11 % 4 % 4 % Infratest dimap 19.09.2019 38 % 26 % 8 % 8 % 12 % 3 % 5 % INSA 30.10.2019 30 % 27 % 11 % 9 % 13 % 4 % 6 % Infratest dimap 12.03.2020 36 % 23 % 11 % 7 % 14 % 5 % 4 % INSA 22.04.2020 29 % 31 % 13 % 7 % 11 % 4 % 5 % Infratest dimap 30.04.2020 34 % 30 % 11 % 6 % 12 % 3 % 4 % Infratest dimap 15.10.2020 34 % 29 % 11 % 6 % 11 % 4 % 5 % Quelle: Eigene Darstellung (Stand: November 2020).

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 203203 330.11.200.11.20 08:4308:43 talisierung der Schulen. Zudem gelte es, an die Zukunft der durch die Krise hart getroffenen Automobil- und Zulieferin- LITERATUR dustrie zu denken und zukünftigen Generationen keine Bude, Heinz (2014): Gesellschaft der Angst. Hamburg. Campbell, Angus/Gurin, Gerald/Miller, Warren E. (1954): The Voter De- massive Verschuldung zu hinterlassen. Die oppositionelle cides. Evanston. SPD, angeführt vom Landeschef und Spitzenkandidat And- Detterbeck, Klaus (2020): Parteien im Auf und Ab. Neue Konfliktlinien und reas Stoch, ebenfalls mit dem Zustand der grün-schwarzen die populistische Herausforderung. Stuttgart. Detterbeck, Klaus (2015): Politikwechsel in Baden-Württemberg? Zum Koalition nicht zufrieden, rang sich immerhin ein Kompli- Handlungsspielraum von Landesregierungen im verflochtenen Bundes- ment zur Krisenpolitik der Landesregierung ab. Es gehört staat. In: Der Bürger im Staat, Heft 4/2015, S. 179–185. natürlich zum Geschäft, dass die Opposition das Ende der Detterbeck, Klaus (2011): Parteien und Parteiensystem. Konstanz und Mün- chen. grün-schwarzen Koalition herbeiredet. Gleichzeitig konnte Eith, Ulrich (2015): Baden-Württembergs Parteiensystem im Wandel. In:

Siegfried Frech, Thomas Waldvogel man im Sommer 2020 registrieren, dass mit Blick auf mög- Der Bürger im Staat, Heft 4/2015, S. 248–255. liche Koalitionen ein dreiviertel Jahr vor der Landtagswahl Falter, Jürgen/Schoen, Harald (Hrsg.) (2014): Handbuch Wahlforschung. Wiesbaden. bereits einige Spekulationen ins Kraut schossen. Rülke un- Forschungsgruppe Wahlen e. V. (2017): Landtagswahl in B aden-Wür t tem- terbreitete den Vorschlag für die Bildung einer Deutsch- berg 2016. GESIS Datenarchiv, Köln. ZA6907 Datenfile Version 1.0.0. land-Koalition aus CDU, SPD und FDP.18 Stoch und die Süd- URL: https://doi.org./10.4232/1.12904 [07.10.2020]. Forschungsgruppe Wahlen e. V. (2016a): Landtagswahl in Baden-Würt- west-Genossen hingegen halten eine Ampel-Koalition für temberg. Kurzanalyse vom 13. März 2016. URL: https://www.for- eine machbare Option.19 Jüngste Umfragen sprechen je- schungsgruppe.de/Wahlen/Wahlanalysen/Newsl_Bade_2016.pdf doch eine andere Sprache. Eine Deutschland-Koalition [20.08.2020]. Forschungsgruppe Wahlen e. V. (2016b): Wahl in Baden-Württemberg. hatte Ende April 2020 mit 47 Prozent keine, eine Ampel- Eine Analyse der Landtagswahl vom 13. März 2016. Mannheim. Koalition mit 51 Prozent lediglich eine hauchdünne Mehr- Frech, Siegfried/Detterbeck, Klaus: Rückblick: Der Machtwechsel 2011 heit (vgl. Tabelle 5). und die politische Bilanz von Grün-Rot. In: Der Bürger im Staat, Heft 4/2015, S. 172–178. Gabriel, Oscar W./Kornelius, Bernhard (2016): Die baden- württem ber gi- sche Landtagswahl vom 13. März 2016: Es grünt so grün. In: Zeitschrift Ausblick: Die Landtagswahl 2021 für Parlamentsfragen, Heft 3/2016, S. 497–518. Gabriel, Oscar W./Holtmann, Everhard (2007): Ober sticht Unter? Zum Einfluss der Bundespolitik auf Landtagswahlen: Kontext, theoretischer Letztlich bleiben einige Unwägbarkeiten für die Landtags- Rahmen und Analysemodelle. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft wahl 2021, wenngleich die Meinungsumfragen zum jetzi- 3/2007, S. 445–462. Hafeneger, Benno (2016): Die extreme und populistische Rechte. Kommu- gen Zeitpunkt eine deutliche Sprache sprechen (vgl. Ta- nalwahl in Hessen, Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Sachsen- belle 5). Anhalt und Rheinland-Pfalz. In: Demokratie gegen Menschenfeindlich- Bleiben die Werte der Parteien ungefähr auf diesem Ni- keit. Zeitschrift für Wissenschaft und Praxis, Heft 1/2016, S. 119–132. Hupka, Stefan (2015): Die Spitzenkandidaten der Landtagswahl 2016 und veau, ist eine Regierungsbildung nach der Landtagswahl ihre Parteien. In: Der Bürger im Staat, Heft 4/2015, S. 256–261. 2021 gegen die Grünen kaum möglich. Die hohen Beliebt- Krauss, Bärbel (2016): Lernfähig und unaufgeregt. In: Stuttgarter Nach- heitswerte für Ministerpräsident Kretschmann im Vergleich richten vom 4. April 2020, S. 2. Lazarsfeld, Paul F./Berelson, Bernard/Gaudet, Hazel (1944): The People`s zu seiner CDU-Herausforderin Eisenmann und die ausge- Choice. How the Voter Makes Up His Mind in a Presidental Campaign. prägte Zufriedenheit mit dem Corona-Krisenmanagement New York. der Landesregierung lassen – auch vor dem Hintergrund Neu, Viola (2016): Landtagswahl in Baden-Württemberg am 13. März 2016. Wahlanalyse, Amtliches Endergebnis. Berlin. URL: https://www. der obigen Analyse über das individuelle Wahlverhalten kas.de/de/web/wahlen.kas.de/landtagswahlen [03.08.2020]. in Baden-Württemberg – derzeit keine grundlegenden Pressemitteilung Innenministerium/Landeswahlleiterin vom 1. April 2016. Veränderungen dieser Konstellation erwarten.20 Aller- URL: https://www.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/ m-im/ intern/dateien/pdf/PM_Amtliches_Endergebnis_LTW_2016.pdf dings verfügt die CDU über zusätzliches Potenzial, mit ei- [11.08.2020]. ner überzeugenden Spitzenkandidatin unter den Wähle- Ohr, Dieter/Klein, Markus (2007): Landtagswahlen in Nordrhein-Westfa- rinnen und Wählern zu punkten, was ihr 2016 schlichtweg len 1990 bis 2005: keine Dominanz der Bundespolitik. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 3/2007, S. 541–549. nicht gelang. Für die Christdemokraten ist darüber hinaus Schoen, Harald (2014): Soziologische Ansätze in der empirischen Wahl- besonders relevant, wie sich die politischen Agenden und forschung. In: Falter, Jürgen/Schoen, Harald (Hrsg.): Handbuch Wahl- Stimmungen im Bund weiterentwickeln, übersetzen sich forschung. Wiesbaden, S. 168–239. Statistisches Landesamt Baden-Württemberg (2016): Wahl zum 16. Land- diese doch stark in das individuelle Wahlverhalten auf tag von Baden-Württemberg am 13. März 2016. Vorläufige Ergebnisse. Landesebene. Dies ließ sich zuletzt im Zuge der Pandemie Reihe Statistische Analysen, 1/2016. Stuttgart. URL: https://www.statis- und des Erstarkens der Bundes-CDU beobachten, welche tik-bw.de/Service/Veroeff/Statistische_Analysen/803316001.pdf [04.09.2020]. auch zu einem sprunghaften Anstieg in den Umfragewer- Steinbrecher, Markus (2020): Wahlbeteiligung. In: Faas, Thorsten/Gabri- ten der Landespartei führte. Für die Grünen scheinen die el, Oscar W./Maier, Jürgen (Hrsg.): Politikwissenschaftliche Einstel- Ungewissheiten durch eine Kombination aus einer soli- lungs- und Verhaltensforschung. Handbuch für Wissenschaft und Stu- dium. Baden-Baden, S. 327–347. den grünen Stammwählerschaft im Land, dem weiterhin Völkl, Kerstin (2016): Länder Elections in German Federalism: Does Federal beliebten Ministerpräsidenten und einer ausgeprägten or Land-Level Influence Predominate? In: German Politics, Heft 2/2016, Zuschreibung an politischer Problemlösungskompetenz S. 243–264. Völkl, Kerstin (2009): Reine Landtagswahlen oder regionale Bundestags- kalkulierbarer, insbesondere auch deshalb, weil Wahl- wahlen. Eine Untersuchung des Abstimmungsverhaltens bei Landtags- entscheidungen zu ihren Gunsten sich unabhängiger von wahlen 1990–2006. Baden-Baden. bundespolitischen Stimmungen ausgestalten, wie unsere Völkl, Kerstin (2008): Wähler und Landtagswahlen in der Bundesrepublik Deutschland. Baden-Baden. Analyse gezeigt hat. Allerdings steht ein Winter vor der Völkl, Kerstin/Heyme, Rebekka (2020): Nebenwahlen. In: Faas, Thorsten/ Tür, der von der Corona-Pandemie und den Friktionen ei- Gabriel, Oscar W./Maier, Jürgen (Hrsg.): Politikwissenschaftliche Ein- ner von Beschränkungen betroffenen Wählerschaft ge- stellungs- und Verhaltensforschung. Handbuch für Wissenschaft und Studium. Baden-Baden, S. 593–614. prägt sein könnte und deshalb Unwägbarkeiten für die Weber, Reinhold (2010): Baden-Württemberg – „Stammland des Libera- Landesregierung bereithalten dürfte, wovon unter Um- lismus“ und Hochburg der CDU. In: Kost, Andreas/Rellecke, Werner/ ständen die Oppositionsparteien AfD, SPD und FDP im po- Weber, Reinhold (Hrsg.): Parteien in den deutschen Ländern. Geschich- litischen Wettbewerb profitieren könnten. te und Gegenwart. München, S. 103–126.

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 204204 330.11.200.11.20 08:4308:43 Weber, Reinhold (2011): Parteien und Parteiensystem in Baden-Württem- berg: Funktionen – Genese – Wettbewerb. In: Frech, Siegfried/Weber, RÜCKBLICK UND AUSBLICK: Reinhold/Wehling, Hans-Georg (Hrsg.): Handbuch Landespolitik. DIE LANDTAGSWAHLEN 2016 UND 2021 Stuttgart, S. 85–117. Wehner, Michael (2012): Die historische Niederlage der CDU – Ursachen für das Scheitern. In: Der Bürger im Staat, 3/2012, S. 148–155. Wetzel, Maria (2019): Ein Doppelhaushalt mit vielen Wahlgeschenken. In: Stuttgarter Nachrichten vom 18.12.2019, S. 2.

ANMERKUNGEN UNSERE AUTOREN UNSERE 1 Vgl. die Beiträge von Catharina Vögele und Alexander Hensel in die- sem Heft. 2 URL: https://wahl.tagesschau.de/wahlen/2016–03–13-LT-DE-BW/ analyse-wanderung.shtml#18_Wanderung_NICHTW%C3 %84HLER [20.08.2020]. 3 Zu den detaillierten Ergebnissen – aufgeschlüsselt nach Sozialstruktur und Wahlkreisen – vgl. Statistisches Landesamt Baden-Württemberg (2016): Wahl zum 16. Landtag von Baden-Württemberg am 13. März 2016. Vorläufige Ergebnisse. Reihe Statistische Analysen, 1/2016. Stutt- gart. URL: https://www.statistik-bw.de/Service/Veroeff/Statistische_ Analysen/803316001.pdf [04.09.2020]. 4 Für die AfD liegen keine Daten vor. 5 Die Wahlabsicht verteilte sich unter den Befragten wie folgt: CDU 19 %, Grüne 31 %, SPD 10 %, FDP 6 %, Linke 2 %, AfD 6 %, Andere 3 %, Prof. Siegfried Frech ist Publikationsreferent bei der Landeszent- Unentschlossene 21 %. Nichtwahl <1 % (Differenz zu 100 durch fehlende rale für politische Bildung Baden-Württemberg und verantwortet Angaben). die Zeitschrift „Bürger & Staat“ und die Didaktische Reihe. Er hat 6 Die Landesverfassung von Baden-Württemberg gibt in Artikel 47 den zeitlichen Rahmen von drei Monaten vor. Die Regierung muss innerhalb einen Lehrauftrag (Didaktik politischer Bildung) am Institut für Po- von drei Monaten nach der konstituierenden Sitzung des Landtags gebil- litikwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen. det und bestätigt werden. Ist dies nicht der Fall, wird das Landesparlament aufgelöst. 7 URL: https://www.badische-zeitung.de/menschen-xzimslvix--120967586. hmtl [02.09.2020]. 8 URL: https://www.baden-wuerttember.de/de/regierung/landesre- gierung/koalitionsvertrag/ [03.09.2020]. 9 Vgl. den Beitrag von Joachim Behnke in diesem Heft. 10 Vgl. den Beitrag von Felix Hörisch in diesem Heft. 11 Vgl. den Beitrag von Hans Gebhardt in diesem Heft. 12 Vgl. den Beitrag von Stefan Immerfall, Helmar Schöne und Bianca Strohmaier in diesem Heft. 13 Vgl. den Beitrag von Sandra Kostner in diesem Heft. 14 Vgl. Stuttgarter Nachrichten vom 18.September 2018. 15 Vgl. Stuttgarter Nachrichten vom 18. August 2020. 16 Vgl. Stuttgarter Nachrichten vom 28. Mai 2019. 17 Vgl. Stuttgarter Nachrichten vom 28. Mai 2019. Thomas Waldvogel ist pädagogischer Referent bei der Landes- 18 Vgl. Stuttgarter Zeitung vom 31. Juli 2020. zentrale für politische Bildung Baden-Württemberg und Wissen- 19 Vgl. Stuttgarter Zeitung vom 31. Juli 2020. 20 URL: https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/bw-trend/ schaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Vergleichende Regie- umfrage-sonntagsfrage-infratest-dimap-corona-30–04–2020–100.html rungslehre der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. [07.10.2020].

Die Zeitschrift „Bürger & Staat“ wird herausgegeben von der LANDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Baden-Württemberg. Direktion der Landeszentrale: Lothar Frick, Sibylle Thelen Redaktion: Prof. Siegfried Frech, Lautenschlagerstraße 20, 70173 Stuttgart, Telefax (07 11) 16 40 99-77 Herstellung: Schwabenverlag AG, Senefelderstraße 12, 73760 Ost fildern (Ruit), Telefon (07 11) 44 06-0, Telefax (07 11) 44 06-174 Vertrieb: Neue Süddeutsche Verlagsgsdruckerei GmbH Ulm, Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm, Telefon (07 31) 94 57-0, Telefax (07 31) 94 57-224, E-Mail: www.suedvg.de Preis der Einzelnummer: EUR 3,33, Jahresabonnement EUR 12,80 Abbuchung. IMPRESSUM Die namentlich gezeichneten Artikel stellen nicht unbedingt die Meinung der Redaktion dar. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Nachdruck oder Ver vielfältigung auf Papier und elektronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit Genehmigung der Redaktion.

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 205205 330.11.200.11.20 08:4308:43 HANDLUNGSSPIELRÄUME VON REGIERUNGSKOALITIONEN Spielräume einer Vernunftehe: Die Rahmenbedingungen für Grün-Schwarz in Baden-Württemberg Klaus Detterbeck

Reformen in zahlreichen Politikfeldern erreicht werden Bei der Regierungsbildung 2016 konnten die beiden Ko- sollte. „Der Wechsel beginnt“, so ist der Koalitionsvertrag alitionspartner auf einige Vorgängermodelle auf kom- zwischen den Grünen und der SPD programmatisch beti- munaler und landespolitischer Ebene zurückblicken, er- telt. Auch wenn die Reformbilanz im Rückblick gemischt folgreiche und auch gescheiterte Versuche der Zusam- ausfällt, so bleibt doch festzuhalten, dass die handelnden menarbeit studieren. Klaus Detterbeck diskutiert die Akteure von dem Willen geprägt waren, Baden-Württem- Handlungsspielräume der grün-schwarzen Koalition in berg nach Jahrzehnten christdemokratischer Herrschaft Baden-Württemberg und geht dabei der Frage nach, was politisch zu erneuern (Wagschal 2013; Frech/Detterbeck ein derartiges Bündnis überhaupt erreichen kann. Die 2015; Hörisch/Wurster 2017). Analyse der Handlungsoptionen ist eng verknüpft mit Die neue Regierung stellte ihren Koalitionsvertrag 2016 un- dem Blick auf die stabilitätsfördernden Faktoren von Re- ter das Motto „Baden-Württemberg gestalten: Verlässlich. gierungskoalitionen. In einem ersten Schritt wird die Ge- Nachhaltig. Innovativ“. Bereits in der Einleitung des Vertra- schichte der schwarz-grünen Annäherung skizziert. Im ges heißt es eindeutig: „Diese Koalition war nicht unser er- Folgeschritt werden interne und externe Faktoren – u. a. klärtes Ziel. Aber die breite Mehrheit der Wählerinnen und die Ausgestaltung der Koalitionsarbeit und das föderale Wähler hat sich für GRÜNE und die CDU ausgesprochen“ Umfeld – benannt, die als Rahmenbedingungen für die (Bündnis 90/Die Grünen Baden-Württemberg/CDU-Lan- politische Gestaltungskraft der grün-schwarzen Landes- desverband Baden-Württemberg 2016a: 5). Klarer kann regierung gelten können. Stabilitätsfördernd – so die man die Gründe für das Zusammenkommen dieses Zweck- Schlussfolgerung – sind zunächst gemeinsame und kon- bündnisses nicht ausdrücken, das nach dem Wahlergebnis sensbasierte Vorhaben, sodann ein solides Konfliktma- als einzige Option auf eine Mehrheitsregierung verblieb.1 nagement und schließlich ein partnerschaftlicher Stil, der Schnell redete Ministerpräsident Kretschmann, wohl in durch verlässliche Strukturen und klare Spielregeln ei- weiser Voraussicht zukünftiger Konflikte, von einer „Kom- nem politischen Bündnis zuträglich ist.

Einleitung: Der halbe Regierungswechsel 2016

Aus der Ferne betrachtet gab es nach der baden-württem- bergischen Landtagswahl vom 13. März 2016 nur einen recht gewöhnlichen Vorgang zu beobachten: Eine siegrei- che Regierungspartei wechselte ihren Juniorpartner aus. Statt der SPD stand nun die CDU an der Seite der Grünen unter Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Aber na- Der SPD-Landesvorsitzende türlich würde eine solche Betrachtungsweise verkennen, Nils Schmid spricht am welches historisch zu nennende politische Erdbeben sich 14.03.2015 in Singen (Baden- da eigentlich ereignet hatte: Die Grünen wurden mit 30,3 Württemberg) auf dem SPD- Prozent erstmals stärkste Partei im Land und errangen da- Landesparteitag, auf dem die mit den Titel, den zuvor seit Gründung des Südweststaates personellen Weichen für die 1952 immer die CDU für sich hatte in Anspruch nehmen Landtagswahl 2016 gestellt können (Weber 2011). Für die Christdemokraten erbrach- wurden. Allerdings fand das ten die 27 Prozent, die sie bei der Wahl 2016 erzielten, „Regieren“ nach der Landtags- (eigentlich) die endgültige Bestätigung, dass der Macht- wahl ein unspektakuläres Ende. wechsel von 2011 mehr gewesen war als ein Betriebsunfall. Die Grünen wechselten ihren Die strukturelle Dominanz der CDU im Parteiensystem des Juniorpartner aus. Insgesamt Landes ist passé, der Wettbewerb mit den Grünen findet konnte die SPD nicht mit einem auf Augenhöhe statt (Eith 2015). eigenen Profil punkten, war sie Politisch stellt der halbe Regierungswechsel von 2016 eine doch während der gesamten fundamental andere Konstellation dar als die Amtsüber- Legislaturperiode als Junior- nahme der grün-roten Regierung 2011. Diese verstand den partner allzu sehr in den Hin- Machtwechsel als Auftrag der Wählerinnen und Wähler tergrund geraten. für einen Politikwechsel in Baden-Württemberg, der durch picture alliance/dpa

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 206206 330.11.200.11.20 08:4308:43 plementär-Koalition“, in der sich die unterschiedlichen SPIELRÄUME EINER VERNUNFTEHE: Sichtweisen und Traditionen der beiden Parteien verbin- DIE RAHMENBEDINGUNGEN FÜR den sollten, indem Grüne und CDU ihre jeweiligen Stärken GRÜN-SCHWARZ IN BADEN-WÜRTTEMBERG ausspielen (Kamann 2017). Und dennoch ist die Verbindung von Christdemokraten Die Annäherung von Grünen und CDU im Rückblick und Grünen mehr als nur eine pragmatische Vernunftehe in einer Ausnahmesituation. Sie schwebt nicht nur schon seit Es ist ein langer Weg, den beide Parteien in den letzten längerer Zeit durch die Köpfe baden-württembergischer Jahrzehnten zurückgelegt haben. Er hat aus ehemaligen Politiker (vgl. Schlauch 2011), sie ist auch auf kommunaler Gegnern potenzielle Regierungspartner gemacht, auch und landespolitischer Ebene in verschiedenen Bundeslän- wenn sich Schwarze und Grüne weiterhin in ihrem politi- dern seit längerer Zeit Realität (vgl. Weckenbrock 2017). schen und kulturellen Verständnis oftmals etwas fremd ge- Sie wird ebenso für den Bund als eine denkbare Zukunfts- genüberstehen. vision diskutiert, die das Potenzial zur Versöhnung von Die Veränderungen betreffen zum einen die CDU, die sich Ökologie und Ökonomie hat, kosmopolitische Offenheit unter der Parteiführung von Angela Merkel in zahlreichen mit bodenständigem Konservatismus verbinden könnte, Politikfeldern, von der Familien- und Gesellschaftspolitik und so verspricht, lagerübergreifend linke Moderne und bis hin zu Fragen von Umwelt und Energie, auf einen Mo- rechte Tradition zusammenzuführen (Reinecke 2011). dernisierungskurs begeben hat, der die Annäherung zu Ich möchte vor diesem Hintergrund in meinem Beitrag über den Grünen begünstigt hat (Weckenbrock 2017: 48–50). die Handlungsspielräume von Grün-Schwarz nachdenken In Baden-Württemberg hat die Modernisierung der Partei und der Frage nachgehen, was ein solches Bündnis errei- die Gegensätze z wischen einem liberalen, eher urban ori- chen kann. Wie sich zeigen wird, ist die Analyse der Hand- entierten Flügel und einem konservativen, eher auf den lungsoptionen eng verknüpft mit dem Blick auf die Faktoren ländlichen Raum hin orientierten Flügel stärker hervorge- der Stabilität von Regierungskoalitionen. Ich werde in ei- bracht (Weber 2010: 117–120). nem ersten Schritt kurz auf die Geschichte der schwarz- Aber die Veränderungen betreffen zum anderen in wohl grünen Annäherung eingehen, bevor ich dann in einem noch stärkerem Maße die Grünen, die sich seit ihren Ur- zweiten Schritt interne und externe Faktoren benennen sprüngen in den späten 1970ern von einer bewegungsna- möchte, die als Rahmenbedingungen für die Gestaltungs- hen Protestpartei zu einer regierungswilligen Reformpartei kraft der Regierung Kretschmann II gelten können. Wie entwickelt haben. Dabei standen programmatische Refor- sich dies dann genau in den verschiedenen Politikfeldern men neben organisatorischen Veränderungen, die eine seit 2016 entwickelt hat, darüber werden andere Beiträge stärker professionalisierte Parteiarbeit ermöglicht haben in diesem Heft genauere Analysen liefern. Mir geht es hier (Probst 2013). In Baden-Württemberg wurden die Grünen in erster Linie um eine koalitionspolitische und institu- von Beginn an stark von realpolitisch orientierten Kräften tionentheoretische Grundlegung. dominiert, sowohl in ihren universitären Hochburgen wie auch auf dem Lande, wo vielfach die „Söhne und Töchter der traditionell konservativen Milieus“ eine neue politische Hei- mat fanden (Weber 2010: 121). Der politische Pragmatismus des grünen Landesverbandes erklärt, warum man im Süd- weststaat schon früher als anderswo über eine mögliche Zu- sammenarbeit von CDU und Grünen nachdenken konnte. Die Annäherung durch gegenseitigen Wandel vollzog sich vor dem Kontext eines gesellschaftlichen Wandels in der Bundesrepublik, der von stärkerer kultureller Vielfalt, einem höher ausgeprägten Umweltbewusstsein, mehr Sensibili- tät für Fragen der Geschlechtergerechtigkeit und einer to- leranten Offenheit für unterschiedliche Lebensstile ge- prägt ist. Kurzum: Mit dieser „Ergrünung“ der Gesellschaft sind die Grünen stärker in die politische Mitte gerückt, ein Prozess, dem sich die Christdemokraten kaum mehr ent zie- hen konnten. Nach einer Phase der gegenseitigen Ablehnung, die vor allem in die 1980er zu datieren ist, kamen die Parteien sich zunächst auf kommunaler Ebene näher. Für die 1990er ha- ben hier vor allem die gegen die lokale Vorherrschaft der SPD gerichteten schwarz-grünen Bündnisse in kleineren und mittleren Städten Nordrhein-Westfalens, etwa in Mül- heim an der Ruhr, für Aufsehen gesorgt. In den 2000ern wurden dann auch deutsche Großstädte, wie Köln, Frank- furt, Saarbrücken oder Kiel, von einer schwarz-grünen Ko- alitionsmehrheit bestimmt. Mitunter entstanden hier auch erste „Jamaika-Koalitionen“, etwa in Wiesbaden, bei der auch noch die FDP ins Boot geholt wurde (vgl. Wecken- brock 2017). Auf Länderebene dauerte alles etwas länger.2 Zwar gab es auch hier bereits in den 1990ern erste Überlegungen – Ba-

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 207207 330.11.200.11.20 08:4308:43 den-Württemberg kommt dabei mit den (letztlich ergebnis- losen) Sondierungsgesprächen nach der Wahl 1992 eine Pionierrolle zu –, aber erst im Mai 2008 entstand in Ham- burg die erste schwarz-grüne Landesregierung. Diese ver- stand sich als „Koalition der […] programmatischen Ergän- Klaus Detterbeck Klaus zungen“, wie es die Landesvorsitzende der Grünen, , ganz im Einklang mit dem Koalitionsvertrag, aus- drückte (Weckenbrock 2017: 494). Komplementarität galt also schon vor Baden-Württemberg als Erfolgsidee schwarz-grüner Bündnisse. Das Modellprojekt scheiterte allerdings nach etwas mehr als zwei Jahren im November 2010. Dazu trug der Rückzug des Ersten Bürgermeisters, Ole von Beust (CDU), der als Garant des Bündnisses galt, entscheidend bei, aber auch eine Reihe koalitionsinterner Konflikte, etwa um die durch einen Volksentscheid geschei- terte Schulreform in der Hansestadt und um finanzpoliti- sche Fragen (vgl. Fegebank 2011). Auch das zweite Regierungsbündnis auf Landesebene, die „Jamaika-Koalition“ in Saarland (2009–2012), hielt nicht für eine ganze Legislaturperiode. Wie in Hamburg spielten dabei personelle Faktoren eine Rolle, vor allem der Wech- sel im Amt des Ministerpräsidenten von Peter Müller zu An- negret Kramp-Karrenbauer (beide CDU), der die einge- spielten Abläufe in der Koalition erschwerte. Aber auch innerparteiliche Konflikte in der FDP und die Unzufrieden- heit in der CDU über die öffentlichkeitswirksamen Erfolgen der Grünen in der Koalition haben das vorzeitige Ende des Dreierbündnisses beschleunigt (vgl. Weckenbrock 2017: 712–716). Eine höhere Stabilität erreichte hingegen die dritte schwarz-grüne Zusammenarbeit auf Landesebene, das Re- gierungsbündnis in Hessen, das seit Januar 2014 besteht. sie in den Grünen fanden. Solche „Kenia-Koalitionen“ sind Dies ist angesichts der traditionell hohen politischen Pola- in Sachsen-Anhalt (2016), Brandenburg (2019) und Sach- risierung in diesem Bundesland und des durchaus beacht- sen (2019) entstanden. Trotz der relativen Schwäche der lichen Konfliktpotenzials zwischen den beiden Partnern, Grünen in Ostdeutschland sind sie auf diese Weise zu ei- etwa in Bezug auf den Ausbau des Flughafens Frankfurt, nem wichtigen Bollwerk gegen Rechts geworden. Die überaus beachtlich. Das gute Koalitionsmanagement, auf Bündnisse agieren jedoch in einem komplizierten Umfeld, der Führungsebene um den Ministerpräsidenten Volker zumal es unter den Christdemokraten durchaus Gegen- Bouffier (CDU) und seinen Stellvertreter, den Wirtschafts- stimmen zum gegenwärtigen Kurs gibt (Träger 2017; Op- minister Tarek Al-Wazir (Grüne), ebenso wie auf der Ar- pelland 2019). beitsebene, ist hier von Bedeutung, aber auch eine „ge- Schwarz-grün ist somit auf Länderebene zu einer der viel- räuscharme“ Zurückhaltung bei politischen Initiativen, die fältigen Farbkombinationen geworden, die Ausdruck der Streit auslösen könnten. Der politische Gestaltungswille stärkeren Fragmentierung des Parteiensystems der Bun- wird, so könnte man bilanzieren, zugunsten harmonischer desrepublik sind. Das alte Lagerdenken von linken und bür- Beziehungen zurückgestellt (vgl. Kronenberg 2018). Nach gerlichen Parteien ist einer neuen Vielfalt bei der Regie- der Wahl im Herbst 2018 einigten sich die Partner relativ rungsbildung gewichen, die flexibler auf neue Konfliktli- problemlos auf eine Fortsetzung der Koalition, angesichts nien und populistische Herausforderungen reagieren kann des starken Resultats der Grünen mit etwas veränderten (Detterbeck 2020). Machtanteilen (Debus/Faas 2019). Dennoch hat der Rückblick deutlich werden lassen, dass Bei der Bildung der grün-schwarzen Landesregierung in die Zusammenarbeit von Grünen und CDU in Koalitionen Baden-Württemberg 2016 konnten die politischen Akteure keine einfache Aufgabe ist. Unter welchen Umständen in diesem Sinne auf einige Vorgängermodelle auf kommu- kann sie gelingen, und von welchen Faktoren hängt ab, ob naler wie landespolitischer Ebene zurückblicken, erfolg- eine solch lagerübergreifende Landesregierung politi- reiche wie gescheiterte Versuche der Zusammenarbeit stu- schen Gestaltungsraum einnehmen kann? dieren. Und dennoch war Grün-Schwarz, die sogenannte „Kiwi-Koalition“, etwas Neues, das erste Experiment einer Landeskoalition unter Führung der Grünen – und das in ei- Interne Faktoren: Ausgestaltung der Koalitionsarbeit nem Land, das jahrzehntelang von der CDU dominiert worden war. Schwarz-grüne oder grün-schwarze Bündnisse sind stär- Eine weitere Facette schwarz-grüner Kooperation ist in ker noch als Koalitionen von programmatisch nahestehen- den letzten Jahren im Osten der Republik entstanden. An- den Parteien, die sich über die gemeinsame Durchsetzung gesichts einer starken AfD konnten CDU und SPD auch ge- von Politikinhalten definieren können, auf eine sorgfältige meinsam keine Mehrheiten in den Landtagen mehr sichern Ausgestaltung der Koalitionsarbeit angewiesen (vgl. De- und benötigten die Unterstützung einer dritten Partei, die bus 2008). Bei politischen Wunschehen hängt die Stabili-

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 208208 330.11.200.11.20 08:4308:43 SPIELRÄUME EINER VERNUNFTEHE: DIE RAHMENBEDINGUNGEN FÜR GRÜN-SCHWARZ IN BADEN-WÜRTTEMBERG

der Digitalisierung beim baden-württembergischen Koali- tionsvertrag darstellte, eine Klammer darstellen, die beide Partner zusammenhält. Die Güte eines Koalitionsvertrages anhand der eben be- nannten Kriterien ist somit der erste Baustein, der den Pfad für ein Regierungsbündnis begründet. Er benennt die zent- ralen Vorhaben einer Koalition auf den verschiedenen Po- litikfeldern, er definiert die Zuständigkeiten in der Regie- rung und er etabliert Mechanismen für das Konfliktma- Zeitgleich mit dem Koalitions- nagement. vertrag wurden konkrete Wie schon bei der Bildung der ersten schwarz-grünen Lan- Regelungen in Nebenabreden desregierung in Hamburg 2008, bemühten auch in Baden- vereinbart. Die Nebenabreden Württemberg die handelnden Akteure zu Beginn der Legis- hatten den Zweck, Vorhaben laturperiode das Bild von der „Komplementär-Koalition“: zu benennen, die vorrangig Die beiden Partner sollten sich auf ihre jeweiligen Stärken finanziert werden sollten und konzentrieren, die eigenen Kernthemen bearbeiten, und daher vom Haushaltsvorbehalt der Gegenseite möglichst wenig in die Parade fahren. Spä- ausgenommen wurden. Zudem testens bei der Halbzeitbilanz der Regierung Kretschmann gab es Nebenabreden für ein- II war von dieser Idee der getrennten Sphären dann nur zelne Politikbereiche. Diese noch wenig übrig, der Streit über Sachthemen, wie der Re- Nebenabreden wurden im form des Polizeigesetzes, den Fahrverboten für Dieselfahr- Sommer 2016 öffentlich zeuge oder den Ausbau der Ganztagesschulen, erwies gemacht, nachdem die Oppo- sich als unvermeidbar (Soldt 2018; Jedicke 2019). sition sie skandalisieren wollte. Die Metapher der Komplementarität hat im Regierungs- picture alliance/dpa alltag somit nur begrenzte Wirkung. Wichtiger für die Sta- bilität eines Bündnisses sind somit die Spielregeln und Strukturen der Koalitionspolitik, die dafür sorgen sollen, tät von Regierungen an der Erreichung der gemeinsamen dass Konflikte bearbeitet und Kompromisse gefunden wer- Ziele, bei politischen Vernunftehen steht die Vermeidung den können (Kropp 2001: 146–153). Diese werden im Koa- von Konflikten und das erfolgreiche Management der Re- litionsvertrag festgelegt, müssen sich dann aber natürlich gierungstätigkeit im Zentrum. vor allem in der Praxis beweisen. In unserem Fall sind im Der erste Eckpunkt dafür sind die Koalitionsverhandlungen, Koalitionsvertrag die für Landeskoalitionen üblichen Be- bei denen neben dem Aufbau von Vertrauen zwischen den standteile einer Bundesratsklausel, die die Enthaltung des beteiligten Akteuren vor allem eine für beide Seiten akzep- Landes bei Uneinigkeit der Koalitionspartner vorsieht, der table Verteilung der Ministerien mit entsprechendem Res- Verpflichtung zu gemeinsamem Handeln im Landtag und sortzuschnitt von Bedeutung ist (Kropp 2001: 108–118). der Einsetzung eines Koalitionsauschusses unter Vorsitz Wichtig ist dabei, dass die Parteien jeweils Ämter besetzen des Ministerpräsidenten festgelegt worden (vgl. Bündnis können, die für ihre Kernthemen von besonderem Interesse 90/Die Grünen Baden-Württemberg/CDU-Landesver- sind, und die auch ihrem Umfeld vermitteln, dass mit dem band Baden-Württemberg 2016a: 133). „ungeliebten“ Regierungsbündnis wichtige politische Er- Konkretere Regelungen waren in den zunächst geheim ge- folge möglich sind. Für die bisherigen schwarz-grünen haltenen Nebenabreden zu finden, die zeitgleich mit dem Bündnisse auf Landesebene kann gesagt werden, dass die Koalitionsvertrag am 9. Mai 2016 vereinbart wurden. Dort Grünen für ihren Lagerwechsel, also die Abkehr von der werden die Größe des Koalitionsausschusses, seine Auf- SPD, vielfach einen hohen Verhandlungspreis gefordert ha- gaben, die Vertraulichkeit der Beratungen und der Ta- ben, etwa eine überproportionale Berücksichtigung bei gungsrhythmus (mindestens alle zwei Wochen) benannt, den Regierungsämtern oder bestimmte sachpolitische Zu- ebenso die Zusammenarbeit zwischen den Regierungs- geständnisse. Der Stabilität solcher Regierungen hat dies, fraktionen und den Ministerien (Bündnis 90/Die Grünen siehe Saarland, allerdings nicht immer nur gutgetan (vgl. Baden-Württemberg/CDU-Landesverband Baden-Würt- Weckenbrock 2017: 889–890). Für Baden-Württemberg temberg 2016b: 11–12).3 gilt jedoch, dass bei der Regierungsbildung 2016 eher die Das Koalitionsmanagement beruht somit zum einen auf CDU den Sprung machen musste, nicht die Grünen. strategischen Achsen, die auf der Leitungsebene zwischen Inhaltlich geht es bei den Verhandlungen darum, dass dem Ministerpräsidenten und seinem Vize, der den kleine- beide Seiten bestimmte „Bonbons“ im Koalitionsvertrag ren Koalitionspartner repräsentiert, sowie zwischen den präsentieren können, mit denen wiederum Zustimmung an beiden Fraktionsführungen etabliert werden müssen. Per- der Basis gesichert werden kann. Die Vermeidung von sonelle Kontinuität scheint hierbei ein wichtiger Schlüssel Streitthemen, bei denen keine Einigung erzielt werden für das Gelingen zu sein. Führungswechsel haben, etwa in kann, mag zur Reduktion von Konflikten beitragen, lässt Hamburg oder im Saarland, den Bestand schwarz-grüner sich aber angesichts landespolitischer Herausforderun- Regierungen gefährdet, zumal wenn die Amtsnachfolger gen nicht immer realisieren. Und schließlich kann die Be- dem Bündnis kritischer gegenüberstanden als ihre Vorgän- stimmung gemeinsamer Vorhaben, wie es etwa das Thema ger (Weckenbrock 2017: 872).

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 209209 330.11.200.11.20 08:4308:43 Zum anderen bedarf es eines komplexen Systems der Kon- von Maastricht 1992, zu einer politischen Ebene im europä- fliktbearbeitung, das für auftretende Probleme Mechanis- ischen Mehrebenensystem herangereift, in dem die meis- men der Aushandlung bereithält. Der Koalitionsauschuss ten Entscheidungen gemeinsam ausgehandelt werden. Als spielt dabei eine wichtige Rolle, die Treffen im Kabinett, Reaktion haben auch die Bundesländer mehr Gestaltungs- aber auch andere Koalitionsrunden, die etwa die Fraktio- raum gefordert, um endogene Entwicklungspotenziale zu Klaus Detterbeck Klaus nen und die Parteispitzen einbinden. Das Management ei- fördern und ihre individuellen Interessen eigenständig zu nes lagerübergreifenden Bündnisses braucht hier Flexibili- vertreten, auch in Brüssel (vgl. Große Hüttmann 2011). tät, um den Balanceakt zwischen Konflikt und Einigung Die Föderalismusreform von 2006, die unter dem Stichwort ausführen zu können. Harmonie ist dabei aber ein flüchti- der Entflechtung zu einer Stärkung der politischen Hand- ges Gut, da beide Partner immer wieder auch unter inter- lungsfähigkeit von Bund und Ländern führen sollte, kann nem Druck stehen. als Antwort auf diese Herausforderungen verstanden wer- den. Sie hat zu einem graduellen Wandel des Bundesstaa- tes geführt, vor allem durch die Rückgewinnung legislativer Externe Faktoren: Föderales Umfeld Kompetenzen seitens der Länder, etwa im Beamtenrecht, dem Strafvollzug, dem Umweltschutz oder der Hochschul- Die Spielräume der grün-schwarzen Landesregierung sind politik. Das kooperative Grundmuster des deutschen Föde- nicht alleine von der Güte des internen Konfliktmanage- ralismus ist beibehalten worden, aber die Gestaltungs- ments abhängig, sie werden auch durch das weitere insti- möglichkeiten der Bundesländer sind gewachsen. Es ist tutionelle Umfeld beeinflusst. Dabei ist in erster Linie auf mehr Raum für Unterschiedlichkeit geschaffen worden (vgl. die Rolle der Länder im deutschen Bundesstaat hinzuwei- Benz 2008).4 sen. Der deutsche Föderalismus zeichnet sich durch eine Die Amtszeit der grün-schwarzen Regierung in Stuttgart e n g e Ve r f l e c h t u n g z w i s c h e n d e n E b e n e n a u s . Ve r f a s s u n g s - fällt somit in eine Zeit, in der die Handlungschancen der politisch ist dies durch eine funktionale Arbeitsteilung an- Landespolitik größer geworden sind. Bei Amtsantritt 2016 gelegt, bei der dem Bund der Vorrang in der Gesetzge- herrschten zudem gute wirtschaftliche Bedingungen und bung zukommt, während die Länder primär für den Vollzug es gab daher gefüllte Steuertöpfe, erst mit der Corona- der Gesetze zuständig sind. Krise 2020 haben sich diese günstigen Voraussetzungen Die Länder haben nur wenige eigenständige legislative für eine erfolgreiche Politik eingetrübt. Im Kontext von Bun- Kompetenzen, etwa in der Bildungspolitik, verfügen je- desstaatsreform und europäischem Binnenmarkt gibt es doch mit dem Bundesrat über ein höchst effektives Instru- eine höhere politische Akzeptanz – zwischen den Ländern, ment der Teilhabe an der Bundespolitik. Als ausführende aber auch innerhalb der Parteien –, mit dem Verweis auf Organe sind die Landesverwaltungen zudem entschei- Landesinteressen eigene Wege zu gehen. dend für die Realisierung staatlicher Politik. Folglich ist der Mit dem jüngsten Zuwachs an legislativen Kompetenzen deutsche Bundesstaat geprägt durch ein dichtes Netz an und den bereits zuvor vorhandenen Differenzen in den lan- Aushandlungsgremien und eine intensive fachpolitische despolitischen Bedingungen und Traditionen haben die Kooperation zwischen den Exekutiven der beiden Ebenen, Bundesländer genügend Spielräume (zumindest bei haus- komplettiert durch die freiwillige Zusammenarbeit der Län- haltspolitischer Luft), um in einzelnen Politikfeldern eigen- der in den ihnen eigenständig verbliebenen Politikfeldern ständige Profile zu entwickeln. Dementsprechend lässt (Stichwort: Kultusministerkonferenz). Der deutsche Födera- sich auch das Fazit einer breit angelegten Studie zur Staat- lismus der Nachkriegszeit war somit von Beginn an weni- stätigkeit in den Bundesländern interpretieren (Wolf/ ger auf die Bewahrung regionaler Unterschiede denn auf Hildebrandt 2016). Danach nutzen die Länder die durch die Herstellung einheitlicher bzw. gleichwertiger Lebens- die Föderalismusreform neu gewonnenen Kompetenzen, verhältnisse im Bundesgebiet ausgerichtet. Politisch zeigt wenn auch in variablem Ausmaß, und setzen dabei eigen- sich in der intensiven Verflechtung zwischen Bund und Län- ständige Akzente (a. a. O.: 398). dern zugleich der Wunsch nach gegenseitiger Machtkon- Generell kann somit gesagt werden, dass der deutsche trolle, der Verhinderung einer zu dominanten Zentralge- Bundesstaat den Handlungsspielraum einzelner Regierun- walt (vgl. Lehmbruch 2002; Detterbeck et al. 2010; Laufer/ gen stark begrenzt, auch wenn der Verflechtungsgrad seit Münch 2010). den 1990ern gesunken ist. Die Länder können vieles mitbe- Seit den 1990ern sind jedoch mehrere gegenläufige stimmen, aber wenig autonom entscheiden. Föderale Trends erkennbar, die den Handlungsspielraum der Län- Machtkontrollen und Vetomöglichkeiten stellen allerdings der erhöht haben. Mit der deutschen Einheit sind die sozio- für Reformkoalitionen, wie die grün-rote Landesregierung ökonomischen und politischen Differenzen zwischen den nach 2011, ein größeres Problem dar als für Zweckbünd- Ländern gewachsen, so dass der Grundpfeiler des koope- nisse, deren Reformeifer ja schon aufgrund interner Diffe- rativen Föderalismus, der Interessenausgleich zwischen renzen gebremst ist. Man könnte sogar sagen, dass prag- den Ländern, aufgeweicht worden ist. Der langjährige matische Koalitionen ganz gut passen zum kooperativen Streit um den Finanzausgleich zwischen stärkeren und Föderalismus, dem es immer in erster Linie um Aushandlun- schwachen Ländern zeigt, wie schwierig es geworden ist, gen und Kompromisse gehen muss. die Solidarität unter den Ländern beizubehalten. Die ge- Die beiden Regierungspartner können durch ihre Ausstrah- wachsene Heterogenität hat zudem alte Steuerungs- und lung in verschiedene politische und gesellschaftliche La- Effizienzprobleme des verflochtenen Bundesstaates ver- ger eine Hebelwirkung besitzen, über die programmatisch stärkt, etwa die Gefahr der Einigung auf den kleinsten ge- geschlossenere Bündnisse nicht verfügen. Die CDU in Ba- meinsamen Nenner (Scharpf et al. 1976). den-Württemberg hat Zugang zur Bundesregierung und Schließlich hat die Vertiefung der europäischen Integration zur Parteispitze im Bund, der stellvertretende Ministerprä- die Handlungsmöglichkeiten der Regionen in der EU ver- sident und Innenminister Thomas Strobl ist einer der fünf vielfältigt. Die Regionen sind, spätestens mit dem Vertrag stellvertretenden Parteivorsitzenden der CDU. Die Landes-

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 210210 330.11.200.11.20 08:4308:43 partei ist gut vernetzt mit wirtschaftsnahen Interessen und SPIELRÄUME EINER VERNUNFTEHE: hat im ländlichen Bereich ihre traditionellen Bastionen DIE RAHMENBEDINGUNGEN FÜR (vgl. Weber 2010). GRÜN-SCHWARZ IN BADEN-WÜRTTEMBERG Die Grünen sprechen andere gesellschaftliche Gruppen an und können durch ihr umweltpolitisches Kompetenzpro- stand mächtiger Interessengruppen rechnen, sie hat fil weit ins Land hineinwirken. Ministerpräsident Winfried machtpolitisch gute Karten, und sie kann über ihre Netz- Kretschmann hat eine enorme Popularität als Landesvater werke in verschiedene gesellschaftliche Milieus wirken. Al- erworben und spricht mit seiner konservativen Grundhal- lerdings, das ist ja bereits deutlich geworden, kann davon tung auch Menschen an, die den Grünen gegenüber re- ausgegangen werden, dass interne Differenzen zu einer serviert geblieben sind. Die Grünen sind zudem durch ihre gewissen Reformscheu führen. Bevor sich das fragile Bünd- fast schon flächendeckende Vertretung in den Regierun- nis in Konflikte stürzt, wird es eher den stillen Weg der Kon- gen der Länder (Stand September 2020 sind sie an elf der tinuität bevorzugen. 16 Landesregierungen beteiligt) eine wichtige Kraft im Bundesrat. Baden-Württemberg hat hier durch die Regie- rungsführung ein besonderes Potenzial, etwa durch den Konklusion Zugang zur Ministerpräsidentenkonferenz. Diese Sonder- rolle wird allerdings von anderen grünen Landesparteien G r ü n -S chw a r z is t e i n e ko mp li z i e r te Pa r t n e r s ch a f t, me h r e i n durchaus mit Argwohn wahrgenommen (Jungjohann 2018: Zweckbündnis denn eine politische Vision. Der politische 43–46). Gestaltungswille ist daher begrenzt, die Suche nach koali- Institutionentheoretisch hat die grün-schwarze Landesre- tionsinternem Frieden steht vielfach vor dem Wunsch nach gierung somit viele Einflusskanäle. Institutionen entfalten Reform. Es stellt sich somit zunächst einmal die Frage, was ihre Wirkung allerdings erst im konkreten Handeln polit- eine solche Regierung eigentlich zusammenhält. Die bishe- scher Akteure. Es sind die Spieler, die die politische Bühne rigen Erfahrungen in den Kommunen und Ländern lassen gemäß ihren Vorstellungen bespielen. Folgt man einem drei Faktoren als zentral erscheinen für die Stabilität lager- solchen akteurszentrierten Blick, dann steht der Hand- übergreifender Bündnisse (vgl. Weckenbrock 2017). lungsspielraum von (Landes-) Regierungen in enger Ver- Da sind zunächst einmal gemeinsame Vorhaben, die die bindung mit den Qualitäten politischer Führung (Scharpf Partner zusammenführen können. In Baden-Württemberg 2000). gibt es etwa einen breiten Konsens zwischen Grünen und Dennoch gilt: Wenn sich die grün-schwarzen Koalitions- CDU, was die wichtigen Themenfelder Haushalt und Wirt- partner einig sind in ihrem Handeln und die parteipoliti- schaft angeht. Der Koalitionsvertrag sieht in der Digitali- schen Akteure ihre institutionellen Chancen nutzen, ist die sierung als „Innovations- und Nachhaltigkeitsmotor“ ein Durchsetzungschance recht groß. Die „Kiwi-Koalition“ zentrales Projekt der neuen Landesregierung (Bündnis 90/ muss weniger als ihre Vorgängerregierung mit dem Wider- Die Grünen Baden-Württemberg/CDU-Landesverband

Die politischen und sozio- ökonomischen Differenzen zwischen den Ländern sind seit der deutschen Einheit gewach- sen, so dass der Grundpfeiler des kooperativen Föderalis- mus, der Interessenausgleich zwischen den Ländern, aufge- weicht worden ist. Der langjäh- rige Streit um den Finanzaus- gleich zeigt, wie schwierig es geworden ist, die Solidarität unter den Ländern beizube- halten. picture alliance/dpa

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 211211 330.11.200.11.20 08:4308:43 Klaus Detterbeck Klaus Wenn es gelingt, die Licht- punkte der gemeinsamen Arbeit gemeinsam zu feiern, kann eine Koalition an Stärke gewinnen. Andreas Schwarz (l), Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, und Wolfgang Reinhart (r), Frakti- onsvorsitzender der CDU, hal- ten nach einer Pressekonferenz im September 2018 Geschenke in den Händen. Schwarz und Reinhart informierten u. a. über Pläne für die zweite Hälfte der Legislaturperiode und überga- ben sich gegenseitig Präsente in Form zweier Weinflaschen für die Grünen und eines Hefe- zopfs mit schwarzer Glasur und grünen Streuseln für die CDU. picture alliance/dpa

Baden-Württemberg 2016: 17). Die ökologische Moderni- vermuten lassen würde. Grün-Schwarz passt recht gut zum sierung, was immer das dann konkret bedeutet, kann als verflochtenen Bundesstaat, in dem die meisten Entschei- generelles Ziel schwarz-grüner Bündnisse in Deutschland dungen Verhandlungen und Kompromisse benötigen. Die formuliert werden, ein Ziel, das beide Parteien unterschrei- so verschiedenen Partner können in unterschiedliche poli- ben können. Im Osten Deutschlands kommt als Klammer tische und gesellschaftliche Lager hineinwirken, wenn sie der dortigen „Kenia-Koalitionen“ noch die Abwehr der AfD sich über das gemeinsame Vorgehen einig sind und ihre hinzu (Träger 2017). institutionell gegebenen Chancen auch nutzen. Die grün- Der zweite Stabilitätsanker ist ein solides Konfliktmanage- schwarze Rezeptur kann also durchaus schmackhaft sein, ment. Dies hat mit verlässlichen Strukturen und klaren wenn es gelingt, ihre toxischen Zutaten zu neutralisieren. Spielregeln im Umgang miteinander zu tun, aber eben auch mit den konkret handelnden Personen. Gegenseiti- ges Vertrauen ist ein wichtiges Gut, etwa wenn es im Koa- LITERATUR litionsausschuss um die gordischen Knoten der Regie- Benz, Arthur (2008): Föderalismusreform in der „Entflechtungsfalle“. In: rungstätigkeit geht. Es ist daher leicht nachzuvollziehen, Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hrsg.): dass personelle Kontinuität von enormer Bedeutung ist. Jahrbuch des Föderalismus 2008. Föderalismus, Subsidiarität und Regi- Wenn die Architekten des Bündnisses gehen, mag es um onen in Europa. Baden-Baden, S. 180–190. Bündnis 90/Die Grünen Baden-Württemberg/CDU-Landesverband Ba- die Tragfähigkeit des gemeinsamen Hauses schlechter be- den-Württemberg (2016a): Baden-Württemberg gestalten: Verlässlich. stellt sein als zuvor. Nachhaltig. Innovativ. Koalitionsvertrag zwischen Bündnis 90/Die Grü- Als dritter wichtiger Faktor kann von einem partnerschaftli- nen Baden-Württemberg und der CDU Baden-Württemberg 2016– 2021. Stuttgart. chen Stil geredet werden, der wohl jedem politischen Bündnis 90/Die Grünen Baden-Württemberg/CDU-Landesverband Ba- Bündnis guttut. Dabei geht es darum, dem Koalitionspart- den-Württemberg (2016b): Nebenabreden zum Koalitionsvertrag ner, der ja immer auch politischer Konkurrent bleibt, seine 2016–2021 zwischen Bündnis 90/Die Grünen und der CDU Baden- Württemberg. Stuttgart. Erfolge zu gönnen. Wenn der Partner die für ihn wichtigen Debus, Marc (2008): Parteienwettbewerb und Koalitionsbildung in den Ergebnisse des Regierungshandelns als Resultat seiner Be- deutschen Bundesländern. In: Jun, Uwe/Haas, Melanie/Niedermayer, mühungen präsentieren darf, wird die schwierige Auf- Oskar (Hrsg.): Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern. Wiesbaden, S. 57–78. gabe, Mitglieder, Wählerinnen und Wähler von den Vor- Debus, Marc/Faas, Thorsten (2019): Die hessische Landtagswahl vom zügen der Koalition zu überzeugen, leichter. Die Verschär- 28. Oktober 2018: Fortsetzung der schwarz-grünen Wunschehe mit fung des Polizeigesetzes stellt für die CDU einen solchen starken Grünen und schwacher CDU. In: Zeitschrift für Parlamentsfra- gen, Heft 2/2019, S. 245–262. Erfolg dar, der weitere Ausbau der Bürgerbeteiligung oder Detterbeck, Klaus (2015): Politikwechsel in Baden-Württemberg? Zum die Förderung der Radwege für die Grünen. Wenn es dann Handlungsspielraum von Landesregierungen im verflochtenen Bundes- noch gelingt, die Lichtpunkte der gemeinsamen Arbeit ge- staat. In: Der Bürger im Staat, Heft 4/2015, S. 179–185. Detterbeck, Klaus (2020): Parteien im Auf und Ab. Neue Konfliktlinien und meinsam zu feiern, wird das Bündnis an Stärke gewinnen. die populistische Herausforderung. Stuttgart. Der Blick auf das föderale Umfeld der Landespolitik hat uns Detterbeck, Klaus/Renzsch, Wolfgang/Schieren, Stefan (Hrsg.) (2010): gezeigt, dass die Spielräume der „Kiwi-Koalition“ größer Föderalismus in Deutschland. München. sein können als die Fragilität des Bündnisses dies zunächst

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 212212 330.11.200.11.20 08:4308:43 Eith, Ulrich (2015): Baden-Württembergs Parteiensystem im Wandel. In: Der Bürger im Staat, Heft 4/2015, S. 248–255. SPIELRÄUME EINER VERNUNFTEHE: Fegebank, Katharina (2011): Schwarz-grün in Hamburg. Ein Wagnis, das DIE RAHMENBEDINGUNGEN FÜR vorzeitig beendet wurde. In: Kronenberg, Volker/Weckenbrock, Chris- GRÜN-SCHWARZ IN BADEN-WÜRTTEMBERG toph (Hrsg.): Schwarz-Grün. Die Debatte. Wiesbaden, S. 242–255. Frech, Siegfried/Detterbeck, Klaus (2015): Rückblick: Der Machtwechsel 2011 und die politische Bilanz von Grün-Rot. In: Der Bürger im Staat, ANMERKUNGEN Heft 4/2015, S. 172–178. Große Hüttmann, Martin (2011): Die deutschen Länder als erfolgreiche 1 Rechnerisch wäre, lässt man mal die politisch ausgeschlossenen Koa- Mehrebenen-Spieler und verfassungspolitische Agenda-Setter. In: litionsoptionen mit der AfD außer Betracht, auch eine Fortsetzung von Hönnige, Christoph/Kneip, Sascha/Lorenz, Astrid (Hrsg.): Verfassungs- grün-rot unter Einbeziehung der FDP denkbar gewesen, die aber von den wandel im Mehrebenensystem. Wiesbaden, S. 207–226. Liberalen abgelehnt wurde. Ebenso zeigte sich die SPD nicht bereit, über Hörisch, Felix/Wurster, Stefan (Hrsg.) (2017): Das grün-rote Experiment in ein Bündnis mit CDU und FDP zu reden, welches ebenfalls eine Mehrheit Baden-Württemberg. Eine Bilanz der Landesregierung Kretschmann im Landtag hätte erzielen können. So blieb Grün-Schwarz als einzig rea- 2011–2016. Wiesbaden. lisierbare Mehrheitskoalition. Jedicke, Henriette (2019): Baden-Württemberg zeigt, was sich bei grüner 2 In den 1990ern gab es auch auf Bundesebene erste Annäherung zwi- Regierung ändert. In: Focus Online, 6. Juni 2019. schen den beiden Parteien, die sogenannte „Pizza-Connection“ führte Jungjohann, Arne (2018): Grün regieren. Eine Analyse der Regierungspra- junge Abgeordnete der Grünen, wie Cem Özdemir, oder An- xis von Bündnis 90/Die Grünen. Berlin. drea Fischer, und junge Abgeordnete der CDU, wie Hermann Gröhe, Ar- Kamann, Matthias (2017): Komplementär koalieren. In: Die Welt, 20. Mai min Laschet oder Norbert Röttgen, zu regelmäßigen Treffen zusammen. 2017. Während die CDU-Fraktionsführung unter Wolfgang Schäuble den Ge- Kronenberg, Volker (2018): Neue Wege gehen – Schwarz-Grün in Hessen. sprächskreis mit Interesse verfolgte, untersagte die CSU ihren Abgeord- Erwartungen, Erfahrungen, Ergebnisse. Konrad-Adenauer-Stiftung, neten die Teilnahme (Weckenbrock 2017: 57–58). Sankt Augustin/Berlin. 3 Die Nebenabreden hatten in erster Linie den Zweck, Vorhaben zu Kropp, Sabine (2001): Regieren in Koalitionen. Handlungsmuster und Ent- benennen, die vorrangig finanziert werden sollten und daher vom Haus- scheidungsfindung in deutschen Länderregierungen. Wiesbaden. haltsvorbehalt ausgenommen wurden, darunter Landesmittel für den Di- Kropp, Sabine/Behnke, Nathalie (2016): Marble cake dreaming of layer gitalisierungspakt, Investitionsvorhaben und die Wohnraumförderung. Es cake: the merits and pitfalls of disentanglement in German federalism gab jedoch auch Nebenabreden für einzelne Politikbereiche, etwa ein reform. In: Regional and Federal Studies, Volume 26, Issue 5, S. 667– Festhalten am Einstimmenwahlrecht oder eine Ablehnung einer zweiten 686. Start- und Landebahn für den Flughafen Stuttgart, sowie die erwähnten Laufer, Heinz/Münch, Ursula (2010): Das föderale System der Bundesre- Konkretisierungen für die Regeln der Zusammenarbeit in der Koalition publik Deutschland. München. (Bündnis 90/Die Grünen Baden-Württemberg/CDU-Landesverband Ba- Lehmbruch, Gerhard (2002): Der unitarische Bundesstaat in Deutschland: den-Württemberg 2016b). Die Nebenabreden wurden im Sommer 2016 Pfadabhängigkeit und Wandel. In: Benz, Arthur/Lehmbruch, Gerhard öffentlich gemacht, nachdem die Opposition sie skandalisieren wollte. Die (Hrsg.): Föderalismus. Analysen in entwicklungsgeschichtlicher und ver- Regierung verwies darauf, dass auch in anderen Fällen, etwa bei Schwarz- gleichender Perspektive. Opladen, S. 53–110. Grün in Hessen, Nebenabreden zur friedlicheren Kooperation beigetra- Oppelland, Thorsten (2019): Profilierungsdilemma einer Regierungspartei gen hätten. in einem fragmentierten Parteiensystem. Die CDU in der Regierung 4 Während die erste Föderalismusreform von 2006 normativ auf Ent- Merkel III. In: Zohlnhöfer, Reimut/Saalfeld, Thomas (Hrsg.): Zwischen flechtung setzte, diese aber nur zu einem gewissen Grad erreichte, war Stillstand, Politikwandel und Krisenmanagement. Eine Bilanz der Regie- die zweite Föderalismusreform von 2009, die im Schatten der internatio- rung Merkel. Wiesbaden, S. 63–85. nalen Finanz- und Wirtschaftskrise stand, stärker von dem Ziel gemeinsa- Probst, Lothar (2013): Bündnis 90/Die Grünen (Grüne). In: Niedermayer, mer Regelungen, etwa der Schuldenbremse, geprägt (Kropp/Behnke Oskar (Hrsg.): Handbuch Parteienforschung. Wiesbaden, S. 509–540. 2016). Auch die dritte Stufe der Reform, die Neugestaltung des Finanzaus- Reinecke, Stefan (2011): Das schwarz-grüne Versprechen. Warum die gleiches von 2017, stand nicht mehr unter dem Motto der Entflechtung. schwarz-grüne Erzählung so verheißungsvoll klingt, nebst ein paar Auffallend ist dabei jedoch, dass die schwächeren Länder, die auf Finanz- nüchternen Einwänden. In: Kronenberg, Volker/Weckenbrock, Chris- hilfen angewiesen sind, sehr viel stärker von den neu geschaffenen Durch- toph (Hrsg.): Schwarz-Grün. Die Debatte. Wiesbaden, S. 162–171. griffsrechten des Bundes betroffen sein werden als die starken Länder, wie Renzsch, Wolfgang (2017): Vom „brüderlichen“ zum „väterlichen“ Födera- etwa Baden-Württemberg (Renzsch 2017). lismus: Zur Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen ab 2020. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 4/2017, S. 764–772. Schlauch, Rezzo (2011): Wer zu spät kommt, den bestraft der Wähler. Zum Verhältnis von Schwarz und Grün in Baden-Württemberg. In: Kronen- berg, Volker/Weckenbrock, Christoph (Hrsg.): Schwarz-Grün. Die De- batte. Wiesbaden, S. 65–71. Soldt, Rüdiger (2018): Koalition in Baden-Württemberg: Warum Grün- UNSER AUTOR Schwarz in Stuttgart funktioniert – und anderswo nicht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. September 2018. Scharpf, Fritz W. (2000): Interaktionsformen. Akteurszentrierter Institutio- nalismus in der Politikforschung. Wiesbaden. Scharpf, Fritz W./Reissert, Bernd/Schnabel, Fritz (1976): Politikverflech- tung. Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundes- republik. Kronberg. Träger, Hendrik (2017): Koalitionen in Sachsen-Anhalt: ein kleines Land mit Magdeburger Modell und Kenia-Koalition als bundesweiter Trendset- ter. In: Träger, Hendrik/Priebus, Sonja (Hrsg.): Politik und Regieren in Sachsen-Anhalt. Wiesbaden, S. 165–180. Wagschal, Uwe (2013): Politikwechsel nach dem Machtwechsel: Die Re- gierungstätigkeit von Grün-Rot in Baden-Württemberg. In: Wagschal, Uwe (Hrsg.): Der historische Machtwechsel: Grün-Rot in Baden-Würt- PD Dr. Klaus Detterbeck ist Politikwissenschaftler an der Universi- temberg. Baden-Baden, S. 247–268. Weber, Reinhold (2010): Baden-Württemberg – „Stammland des Libera- tät Göttingen. Nach Studium an der Universität Heidelberg und lismus“ und Hochburg der CDU. In: Kost, Andreas/Rellecke, Werner/ am Trinity College Dublin folgte die Promotion an der Universität Weber, Reinhold (Hrsg.): Parteien in den deutschen Ländern. München, Göttingen, danach arbeitete er etliche Jahre an der Universität S. 103–126. Weber, Reinhold (2011): Parteien und Parteiensystem in Baden-Württem- Magdeburg. Er hat Professuren für Politikwissenschaft und ihre berg: Funktionen, Genese, Wettbewerb. In: Frech, Siegfried/Weber, Didaktik an den Pädagogischen Hochschulen in Karlsruhe und Reinhold/Wehling, Hans-Georg (Hrsg.): Handbuch Landespolitik. Schwäbisch Gmünd vertreten, bevor er 2018 wieder nach Göt- Stuttgart, S. 85–117. Weckenbrock, Christoph (2017): Schwarz-grüne Koalitionen in Deutsch- tingen zurückgekehrt ist. In seiner Forschung beschäftigt sich land. Erfahrungswerte aus Kommunen und Ländern und Perspektiven für Klaus Detterbeck vornehmlich mit politischen Parteien und Partei- den Bund. Baden-Baden. ensystemen, der vergleichenden Analyse von föderalen und de- Wolf, Frieder/Hildebrandt, Achim (2016): Länderpolitik revisited. Zwei Fö- deralismusreformen und ihre Folgen. In: Wolf, Frieder/Hildebrandt, zentralisierten Systemen sowie Fragen der Europäischen Inte- Achim (Hrsg.): Die Politik der Bundesländer. Zwischen Föderalismusre- gration. form und Schuldenbremse. Wiesbaden, S. 391–399.

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 213213 330.11.200.11.20 08:4308:43 KLEINSTER GEMEINSAMER BILDUNGSPOLITISCHER NENNER Grün-schwarze Bildungspolitik in Baden-Württemberg Helmar Schöne, Stefan Immerfall, Bianca Strohmaier

Überflüssig zu erwähnen, dass „Komplementär-Koalition“ Die Reformeuphorie in der Bildungspolitik der grün- vor allem ein Marketingbegriff für ein bis dato ungewöhn- roten Vorgängerkoalition ist 2016 einem eher prag- liches Bündnis war und der Koalitionsvertrag zwischen matischen Regierungsansatz gewichen. Helmar Schöne, Grünen und CDU zunächst einmal – wie alle Koalitionen Stefan Immerfall und Bianca Strohmaier skizzieren – von klassischen Kompromissen geprägt ist. Das betrifft zunächst die wichtigsten Eckpunkte des bildungspo- insbesondere die Bildungspolitik, die als Politikfeld zu be- litischen Kompromisspakets, mit dem Grün-Schwarz deutsam ist, um sie dem jeweils anderen Koalitionspartner 2016 angetreten ist. Dabei gehen sie auch auf die von als alleinige „Spielwiese“ zu überlassen. Aufgrund der ver- der grün-roten Regierungskoalition (2011–2016) ge- fassungsrechtlich festgelegten Aufgabenverteilung zwi- schaffene Ausgangslage ein und zeigen, dass die schen Bund und Ländern im deutschen Föderalismus ge- Reformvorhaben Bestandsschutz bekamen. Nach der hört die Bildungspolitik zu den wenigen, den Ländern un- Vorstellung der maßgeblichen Akteure des landes- eingeschränkt verbliebenen Kompetenzen. Hier verfügen politisch zentralen Politikfelds werden die Entwicklung die Länder über eine weitgehende Gestaltungsautonomie. und die aktuelle Situation in ausgewählten „Baustellen“ Daher stellt die Bildungspolitik für alle Landesregierungen des baden-württembergischen Schulsystems beleuchtet. ein wichtiges Kerngeschäft dar; in der Regel sind die Par- Dabei werden auch bildungspolitisch wichtige Ereig- teien bestrebt, gerade auf diesem Felde ihre eigene Hand- nisse, Projekte und Maßnahmen in den Blick genommen. schrift zu hinterlassen. Die grün-schwarze Komplementär-Koalition gestaltete Im Folgenden skizzieren wir zunächst, wie das bil dungspo- Bildungspolitik in den vergangenen fünf Jahren – so das li tische Kompromisspaket ausgesehen hat, mit dem Grün- Fazit – auf der Grundlage des kleinsten gemeinsamen Schwarz zum Beginn der Wahlperiode angetreten ist, Nenners. nicht ohne dabei kurz auf die Ausgangslage einzugehen, welche die grün-rote Vorgängerregierung hinterlassen hatte. Dann werden die für dieses zentrale landespoliti- sche Politikfeld maßgeblichen Akteure vorgestellt, um Einleitung: Von der Reformkoalition zur Komplementär-Koalition

„Der Wechsel beginnt“ hieß es im grün-roten Koalitions- vertrag von 2011 – und dieser Anspruch betraf damals ganz besonders die Bildungspolitik. Grüne und SPD starte- ten mit dem festen Vorhaben, eine Reformkoalition zu sein in die Legislaturperiode. Eine neue Bildungspolitik sollte für das baden-württembergische Schulsystem, das nach Auffassung der Koalitionäre „nicht auf der Höhe der Zeit“ Die bildungspolitische Ausein- und „sozial ungerecht“ war (Koalitionsvertrag 2011: 5), ei- andersetzung über die Einfüh- nen Paradigmenwandel einleiten. Bildungsgerechtigkeit rung der Gemeinschaftsschule wurde zum Leitthema des grün-roten Politikwechsels er- hat sich inzwischen gelegt. Der klärt. Bestand der Gemeinschafts- Ganz anders das Bild im Jahr 2016. Auf die Wunsch- schule ist gesichert, wenngleich koalition von 2011 folgte die von den Wählerinnen und die Ressourcen auf dem Status Wählern erzwungene grün-schwarze Konstellation. Ent- Quo verharren. Susanne Eisen- sprechend stand statt Reformeuphorie nun ein pragma- mann, Kultusministerin von tischer Regierungsansatz im Vordergrund. Als „Komple- Baden-Württemberg und die mentär-Koalition“ wurde das erste grün-schwarze Regie- Gründerin des Vereins „Digi- rungsbündnis in Deutschland bezeichnet. Hinter der von tale Bildung für alle“, Verena den Koalitionspartnern selbst geprägten Wortneuschöp- Pausder, stehen im Klassenzim- fung stand das Vorhaben, dass sich beide – in vielen in- mer einer 9. Klasse der haltlichen Positionen und politisch-kulturell sehr verschie- Gemeinschaftsschule Leuten- denen – Parteien einander ergänzen und ihre jeweiligen bach. Eisenmann kam einer Kompetenzen in die gemeinsame Regierung einbringen Einladung im Zuge der TV Talk- sollten. Beiden Partnern sollte es gestattet sein, ihre jewei- Show „hart aber fair“ nach und ligen „Markenkerne“ herauszustellen, den Grünen etwa besuchte die Gemeinschafts- die ökologische Modernisierung und der CDU die innere schule im Rems-Murr-Kreis. Sicherheit. picture alliance/dpa

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 214214 330.11.200.11.20 08:4308:43 schließlich die Entwicklung sowie die aktuelle Situation auf GRÜN-SCHWARZE BILDUNGSPOLITIK ausgewählten bildungspolitischen „Baustellen“ zu be- IN BADEN-WÜRTTEMBERG leuchten. Die Gliederung folgt dabei der Struktur des Bil- dungssystems, ergänzt um den Blick auf einige besonders wichtige bildungspolitische Ereignisse. Regierungspartner und vor allem des Kultusministers And- Im Vergleich zu den extrem polarisierten Debatten zwi- reas Stoch, dem heutigen SPD-Fraktions- und Landesvorsit- schen Opposition und Regierungsmehrheit über die Bil- zenden, gewichen. Trotz Gegenwind aus Teilen der Gesell- dungspolitik während der Regierungszeit von Grünen und schaft schien es Grün-Rot mit ihren Reformen zu gelingen, SPD in den Jahren 2011 bis 2016, die von großer öffentli- jene „nachholende Modernisierung“ im baden-württem- cher Resonanz begleitet wurden (Schöne/Immerfall 2015), bergischen Schulsystem einzuleiten, die von den CDU-Vor- verlief die Gestaltung dieses Politikfeldes in der zurücklie- gängerregierungen versäumt worden waren. genden Legislaturperiode vergleichsweise ruhiger und un- Im Wesentlichen wurden vier große Reformvorhaben auf aufgeregter, obgleich mit der Integration von Flüchtlings- den Weg gebracht: Die erste Neuordnung war die Ab- kindern und der Bewältigung der Folgen der Corona-Pan- schaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung und demie neue und große externe Herausforderungen zu die Stärkung entsprechender Elternrechte. Zweitens wur- bewältigen waren bzw. sind. Dies ist auch deshalb er- den die letztmalig 2004 überarbeiteten Bildungspläne re- staunlich, weil mit der AfD seit 2016 eine Partei die stärkste formiert. Sie sehen nun einen gemeinsamen, schulartüber- Oppositionsfraktion stellt, sogar in Baden-Württemberg greifenden Bildungsplan für die Sekundarstufe I vor, sind ihr bestes Wahlergebnis aller westdeutschen Länder er- noch deutlicher kompetenzorientiert, brachten Verände- zielt hatte, die für scharfen Meinungsstreit steht. Allerdings rungen auf der Fächerebene, indem z. B. die bisherigen Fä- machte sie – mit einer, unten zu behandelnden Ausnahme cherverbünde aufgelöst und ein neues Fach Wirtschaft/ – vor allem durch interne Auseinandersetzungen von sich Berufs- und Studienorientierung geschaffen wurde, und reden. haben sogenannte fächerübergreifende Leitperspektiven (Bildung für nachhaltige Entwicklung, Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt, Prävention und Gesundheits- Ausgangslage förderung) etabliert. Vor allem letztere haben die Debat- ten um den Bildungsplan geprägt, weil gegen das in einer Starteten Grüne und SPD zunächst mit bildungspolitischem Entwurfsfassung vorgesehene Bildungsziel „Akzeptanz Übermut in die Reform des baden-württembergischen sexueller Vielfalt“ von konservativen, evangelikalen und Schulwesens, so war die Euphorie am Ende der Legisla- pietistischen Gruppierungen eine öffentliche Kampagne turperiode – nach lautstarken Protesten diverser Inte- losgetreten wurde. Drittens wurden erste Schritte zur ressenverbände und der Opposition, heftigen bildungs- Verbesserung der Inklusion unternommen, um die ent- politischen Auseinandersetzungen sowie einem Ministe- sprechenden, von Deutschland eingegangenen interna- rinnenrücktritt – einem eher geräuschloseren Vorgehen der tionalen Zusagen, zu erfüllen. Mit dem Schuljahr 2015/16 wurde die Sonderschulpflicht abgeschafft: Eltern von Kindern mit Behinderungen entscheiden seitdem selbst, ob sie ihr Kind in eine allgemeine Schule oder in eine Sonder- schule schicken wollen. Die größte und ambitionierteste Reformbaustelle betraf – viertens – die Einrichtung von Gemeinschaftsschulen. Neben integrierter Schulform und Ganztagsform weist die Gemeinschaftsschule baden- würt tem bergischer Prägung mit ihrem ausdrücklichen Ver- zicht auf Leistungsgruppendifferenzierung eine bundes- deutsche Besonderheit auf (Wacker/Rohlfs 2014: 5f.; allg. Bohl/Meissner 2013). An ihre Stelle tritt das Prinzip des in- dividuellen und kooperativen Lernens. Bis zum Schuljahr 2015/16 waren 271 öffentliche (und sechs private) Ge- meinschaftsschulen entstanden. Der Tragweite der Strukturreform entsprechend, spitzte sich an der Einführung der Gemeinschaftsschule die bildungspolitische Auseinandersetzung im Lande noch einmal zu. Der Versuch der grün-roten Landesregierung, die von ihr eingeführten Reformen durch einen „Schulfrie- den“ abzusichern, scheiterte an der Absage der CDU, wel- che die Bildungspolitik nicht als ein zentrales Wahlkampf- thema aus der Hand geben wollte (Süddeutsche Zeitung, 23.03.2015). Entsprechend deutlich fiel die Positionierung der späteren Regierungspartei im Wahlkampf aus. Im CDU-Wahlprogramm hieß es, dass mit der „ideologisch geprägten, völlig übereilten und nicht durchdachten Ein- führung der Gemeinschaftsschule“ durch Rot-Grün „unser Schulsystem schwer beschädigt“ worden sei (CDU 2015: 26). Auf ihren Plakaten titelte die CDU noch deutlicher: „Qualität statt Einheitsbrei“.

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 215215 330.11.200.11.20 08:4308:43 Koalitionsvertrag

Keine leichte Aufgabe also, derart konträre Positionen zwi- schen den Grünen, die für mehr Bildungsgerechtigkeit im baden-württembergischen Schulsystem angetreten wa- ren, und der CDU, die um jeden Preis am hergebrachten gegliederten Schulwesen festhalten wollte, zusammenzu- bringen. Gelungen ist das im Koalitionsvertrag durch für politische Kompromisse typisches „Geben und Nehmen“. Beide Partner konnten ihnen jeweils wichtige Positionen durchsetzen, die CDU beispielsweise die Stärkung der Re- alschulen, die Grünen dagegen die Genehmigung neuer Gemeinschaftsschulen samt einigen Oberstufenzügen. Beide mussten aber auch auf Forderungen verzichten, die ihnen im Wahlkampf noch wichtig waren. So fehlt die von der CDU geforderte Wahlfreiheit der Gymnasien zwi- Helmar Schöne, Stefan Immerfall, Bianca Strohmaier schen acht- und neunjährigem Weg zum Abitur (G8/G9) im Koalitionsvertrag. Dafür wird aber der Modellversuch mit 44 G9-Schulen for tgesetz t, obgleich sich die Grünen in ih- rem Wahlprogramm eindeutig gegen eine „Rückkehr zum alten neunjährigen Gymnasium“ und für eine „flexible kin- der- und jugendgerechte Weiterentwicklung des G8“ aus- gesprochen hatten (Bündnis90/Die Grünen 2016: 101). Nach außen beworben wurden die notwendigen Kompro- misse als pragmatische Bildungspolitik zur Sicherung der Innovationsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Baden- Württemberg. Stand die grün-rote Bildungspolitik noch Über ihr Amt als Kultusministerin hinaus erlangte Susanne unter dem programmatischen Titel „Bessere Bildung für Eisenmann breitere öffentliche Aufmerksamkeit, als sie im alle“, erhielt das Bildungskapitel im Koalitionsvertrag von Sommer 2019 nach monatelangem, parteiinternem Macht- Grünen und CDU eine Überschrift, hinter der sich leicht die kampf zur Spitzenkandidatin der Union für die Landtagswahl unterschiedlichsten Positionen versammeln können: „Ver- 2021 bestimmt wurde. Das Nachsehen hatte ihr Kabinetts- lässlich, vielfältig, erfolgreich“. Entsprechend rechtfertigte kollege im Innenressort, der CDU-Landesvorsitzende Thomas Susanne Eisenmann, nachdem sie zur Kultusministerin er- Strobl. picture alliance/dpa nannt worden war, den bildungspolitischen Rahmen der Koalition mit folgenden Worten: „Es ist ein Fehler, in der Bildungspolitik von grün, rot oder schwarz zu sprechen. Ausdrücklich betont wird die Schaffung „leistungsdiffe- Der Koalitionsvertrag ist nicht grün, schwarz oder rot. Er ist renzierter Gruppen“ ab Klasse 7. Werkrealschulen blei- pragmatisch, realitätsnah und zukunftsorientiert. Für die ben als eigenständige Schulart erhalten. CDU bedeutet er auch einen gewissen Modernisierungs- l Für das Gymnasium wird seine Funktion als tragende schub“ (Stuttgarter Zeitung, 18.05.2016). Die letzte Äuße- Säule der Schullandschaft explizit hervorgehoben. Ins- rung zielt auf die Tatsache, dass mit dem Koalitionsvertrag besondere die individuelle Förderung wird hier in den Teile der grün-roten Schulreformen von der Union akzep- Vordergrund gestellt, u. a. durch eine Reform der Ober- tiert wurden. Zu den wichtigsten bildungspolitischen Eck- stufe. G8 bleibt die Normalform des Gymnasiums ohne punkten des Koalitionsvertrages zählen folgende Inhalte dass die G9-Modellschulen angetastet werden. (vgl. Koalitionsvertrag 2016): l Die Ganztagsschulen sollen einen Ausbau erfahren. l Im Bereich der frühkindlichen Bildung soll ein „Kinderbil- l Eine besondere Betonung erfährt das Thema Schulver- dungspass“ eingeführt werden. Er soll, ohne die Wahl- waltung und -leitung. Hier setzt der Koalitionsvertrag freiheit der Eltern zwischen der Betreuung in der Familie vorgeblich auf eine stärkere Eigenständigkeit der Schu- oder einer Kindertageseinrichtung zu beschränken, das len durch Schwerpunktsetzung, Personalauswahl und letzte Kindergartenjahr beitragsfrei stellen. Budgetverwendung. l Die Grundschule rückt in den Mittelpunkt der Bildungs- l Weitere von den Koalitionären identifizierte Arbeitsbe- politik, was sich u. a. in der Erhöhung der Stundentafel reiche betreffen den Bildungszugang für Geflüchtete, für Mathematik und Deutsch ausdrückt. Die Grundschul- die Inklusion und die Digitalisierung. Auch eine Stär- empfehlung bleibt unverbindlich, allerdings soll die Be- kung von politischer Bildung, Ethik und islamischen Reli- ratung der Eltern intensiviert werden, und die Empfeh- gionsunterricht wird angekündigt. lung ist der weiterführenden Schule vorzulegen. l Auch der Bestand der Gemeinschaftsschule wird gesi- Insgesamt sah der Koalitionsvertrag keine grundlegenden chert. Anträge auf Neueinrichtung bleiben ebenso strukturellen Vorhaben vor, sondern konzentrierte sich auf möglich wie die Einrichtung einer Oberstufe. Allerdings Ausgestaltungen und Anpassungen innerhalb der beste- verbleiben die Ressourcen auf dem Status Quo. henden Strukturen. Viele von der Vorgängerregierung auf l Die Realschulen dagegen werden gestärkt, mit so- den Weg gebrachte – und in der letzten Legislaturperiode genannten Poolstunden und mit zusätzlichen Finanz- heftig umstrittenen – Reformvorhaben erhielten damit im mitteln, um eine „gerechte Balance in der Ressourcen- Kern einen Bestandsschutz, wie in den Abschnitten zu den ausstattung“ (Koalitionsvertrag 2016: 29) herzustellen. verschiedenen Schularten genauer gezeigt wird, die unten

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 216216 330.11.200.11.20 08:4308:43 GRÜN-SCHWARZE BILDUNGSPOLITIK IN BADEN-WÜRTTEMBERG

Amtschefin bzw. des Amtschefs des Kultusministeriums im März 2019 zu einem Wechsel. Zunächst leitete Gerda Windey als Ministerialdirektorin das Haus, die aus der Ab- teilung 1 des Ministeriums an die Amtsspitze aufgestiegen war. Sie wurde von der Ministerin durch Michael Föll, ei- nem von außerhalb des Hauses kommenden, langjährigen CDU-Politiker ersetzt. Föll gehörte u. a. dem Stuttgarter Gemeinderat und dem Landtag an, ins Ministerium ge- langte er aber vor allem aufgrund seiner Expertise und Verwaltungserfahrung als Bürgermeister für Wirtschaft, Fi- nanzen und Beteiligungen Stuttgarts seit 2004. Im Januar 2017 übernahm Susanne Eisenmann als baden-württembergische Kultusministerin turnusgemäß den einjährigen Vorsitz der Kultusministerkonferenz (KMK) und erklärte die berufliche Bildung zum Schwerpunkt ihrer Präsidentschaft. Über ihr Amt als Kultusministerin hinaus erlangte Eisenmann breitere öffentliche Aufmerksamkeit, als sie im Sommer 2019 nach monatelangem, parteiinter- nem Machtkampf zur Spitzenkandidatin der Union für die Landtagswahl 2021 bestimmt wurde. Das Nachsehen hatte ihr Kabinettskollege im Innenressort, der CDU-Lan- desvorsitzende Thomas Strobl (Süddeutsche Zeitung, 27.07.2019).

auf die kurze Vorstellung der wichtigsten politischen Ak- teure im Kultusministerium folgen. Bildungspolitik in der Wahlperiode 2016 bis 2021 – Erste Bilanz

Leitungsebene des Kultusministeriums Wo die Bildungspolitik am Ende der Legislaturperiode steht, wird im Folgenden zunächst mit Blick auf die einzel- Die Leitung des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport nen Schulformen näher betrachtet. Sodann betrachten wir wurde im Koalitionsvertrag der CDU übertragen. Als Mi- ausgewählte bildungspolitische Herausforderungen, Pro- nisterin benannte die Union Susanne Eisenmann, die vor- jekte und Maßnahmen. Vor dem Versuch eines Fazits müs- malige Bildungsbürgermeisterin der Landeshauptstadt sen natürlich noch die Auswirkungen der Corona-Pande- Stuttgart. Eisenmanns politische Karriere vollzog sich, wie mie für die Bildungseinrichtungen angesprochen werden. es für die Professionalisierung politischer Führungskräfte in Deutschland typisch ist, langfristig und kontinuierlich, be- Grundschule ginnend auf der kommunalen Ebene. Bereits als Schülerin Die Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfeh- der Jungen Union beigetreten, war sie zunächst Bezirks- lung war die erste weitreichende bildungspolitische Ge- beirätin in Stuttgart-Sillenbuch und später Stadträtin im setzesinitiative der grün-roten Vorgängerregierung. Seit Gemeinderat Stuttgart, in dem sie schon als schulpoliti- dem Schuljahr 2012/13 konnten sich Eltern von Viertkläss- sche Sprecherin tätig war und zur Vorsitzenden der CDU- lerinnen und Viertklässlern frei für eine der möglichen Se- Gemeinderatsfraktion aufstieg. Auch ihre Berufstätigkeit kundarschulen entscheiden. Obgleich Verfahrensände- war von Beginn an politiknah ausgerichtet: Eisenmann lei- rungen weniger bewirken, als Befürworter wie Gegner des tete von 1991 bis 2005 das Büro des Vorsitzenden der bindenden Charakters der Übergangsempfehlung erwar- CDU-Landtagsfraktion und späteren Ministerpräsidenten ten (Immerfall/Faak 2018), stand für Kultusministerin Su- des Landes Baden-Württemberg Günther Oettinger. Von sanne Eisenmann fest: „Die Abschaffung der verbindlichen 2005 bis zu ihrem Wechsel an die Spitze des Kultusministe- Grundschulempfehlung in der vergangenen Legislaturpe- riums war die promovierte Sprachwissenschaftlerin Bür- riode war ein Fehler“ (Ministerium für Kultus, Jugend und germeisterin für Kultur, Bildung und Sport in Stuttgart. Sport 2020). Die Verbindlichkeit wurde von der grün- Zum Staatssekretär im Kultusministerium ernannte die Mi- schwarzen Landesregierung zwar nicht wiedereingeführt, nisterin Volker Schebesta. Einer breiteren Öffentlichkeit jedoch müssen Eltern seit 2018 die Grundschulempfehlung weniger bekannt, verfügt der studierte Jurist dennoch über bei der Anmeldung an der weiterführenden Schule vorle- lange politische Erfahrungen, auch in Spitzenämtern. Seit gen und eine von der Empfehlung abweichende Entschei- 2001 ist er Mitglied des Landtages und war in der CDU- dung im Gespräch mit der Schulleitung begründen. Von Landtagsfraktion als bildungspolitischer Sprecher, stell- der Bildungsgewerkschaft GEW und dem Landeseltern- vertretender Vorsitzender und parlamentarischer Ge- beirat wurde diese Neuregelung als Misstrauenserklärung schäftsführer tätig. gegenüber der Elternschaft bezeichnet (Kratzmeier 2017). Während Ministerin und Staatssekretär über die gesamte Eine weitere Neuerung in der Primarstufe betrifft die Stun- Wahlperiode im Amt waren, kam es auf der Position der dentafel. Mit Beginn des Schuljahres 2016/17 trat der neue

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 217217 330.11.200.11.20 08:4308:43 Bildungsplan in den Klassen 1 und 2 in Kraft. Die Kernfä- sondern die Kinder motiviert werden sollen, schneller und cher Mathematik und Deutsch werden um jeweils zwei spielerisch Schreiben und Lesen zu lernen. Von Verbänden, Stunden in der Kontingentstundentafel erweitert, so dass Fachvertreterinnen und Fachvertretern wurde dieses Ver- die Grundschülerinnen und Grundschüler im Schnitt eine bot als politisch motiviert und unsachlich kritisiert; die De- Stunde pro Woche mehr Unterricht haben. Gekürzt dage- batte sei vor allem polemisch geführt worden. Richtig sei gen wurde der Fremdsprachenunterricht. Er wurde zum dagegen, dass lautorientiertes Schreiben einen wichtigen Schuljahr 2018/19 nach Beschluss des Ministerrats vom Entwicklungsschritt für Kinder darstelle, um den Zusam- November 2017 auf den Beginn der Klasse 3 verschoben. menhang von Lauten und Buchstaben zu erleben und ei- Um dennoch das angestrebte Referenzniveau A1 des Ge- gene Wörter und Texte für andere lesbar aufschreiben zu meinsamen Europäischen Referenzrahmens (GER) zu errei- können (Stuttgarter Zeitung, 30.01.2018). chen, löst das Fachlehrerprinzip das bisherige Klassenleh- Ein weiterer Streitpunkt, auch zwischen den Koalitions- rerprinzip mit der Neukonzeption ab Klasse 3 ab. Durch partnern, entwickelte sich aus der Herausforderung, die qualifiziertere Fachlehrerinnen und Fachlehrer soll nun in Ganztagsbetreuung der Grundschulen auszubauen. Da- zwei Schuljahren erreicht werden, was zuvor in vier Schul- für stellt der Bund den Ländern 3,5 Milliarden Euro zur Ver- jahren geleistet wurde. „Es bleibt ihr Geheimnis, wie durch fügung; allerdings unter der Prämisse, dass die Angebote die Kürzung des Fremdsprachenunterrichts zugleich mehr unter der Aufsicht des Landes geführt werden. Diese Art Helmar Schöne, Stefan Immerfall, Bianca Strohmaier Qualität entstehen soll“, kommentierte die oppositionelle der verbindlichen Ganztagsschule nutzen in Baden-Würt- SPD in Richtung Kultusministerin (Stuttgarter Zeitung, temberg derzeit aber nur rund 20 Prozent der Ganztags- 16.08.2017). Die im Englischunterricht eingesparten Stun- schülerinnen und Ganztagsschüler. Häufiger werden hin- den werden zur Förderung und Vertiefung in den Fächern gegen außerunterrichtliche Angebote in Anspruch genom- Deutsch und Mathematik eingesetzt. Diese Stunden und men, welche unter kommunaler Aufsicht stehen, die aber die o. g. Erhöhung der Kontingentstundentafel in den ers- laut Verwaltungsvereinbarung keine Förderung erhalten ten beiden Klassen führen zu insgesamt vier Stunden mehr können. Während der grüne Ministerpräsident vorschlägt, Mathematikunterricht und vier Stunden mehr Deutschun- die Angebote der Kommunen unter Schulaufsicht zu stel- terricht während der Grundschulzeit im Gegensatz zum len, möchte die Kultusministerin die Vereinbarung ändern, Bildungsplan von 2004. weil der CDU die Wahlfreiheit der Eltern und die Vielfalt Eine in der Öffentlichkeit viel beachtete Kontroverse zur der kommunalen Angebote, die häufig von Vereinen oder Ausgestaltung des Grundschulunterrichts bezog sich auf anderen Trägern angeboten werden, wichtig ist. Damit die Frage nach der richtigen Methode des Schreibenler- blockierte die Ministerin Eisenmann auch die Förder- nens. Sie entzündete sich an einem Erlass, mit dem das Kul- zahlungen des Bundes an alle anderen Länder (Frankfurter tusministerium auf die Ergebnisse des Ländervergleichs Allgemeine Zeitung, 29.09.2020 sowie Rhein-Neckar- des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen Zeitung, 01.10.2020). (IQB) sowie auf Hinweise aus den VERA-Vergleichsarbei- ten reagierte. Bei beiden Studien hatte sich gezeigt, dass Haupt- und Werkrealschule baden-württembergische Schülerinnen und Schüler Defi- Die langfristig zu beobachtende Abkehr von der Haupt- zite beim Rechtschreiben haben. Daraufhin verordnete die schule setzte sich in der letzten Legislaturperiode nicht Kultusministerin, an den Grundschulen solle „mehr darauf weiter fort (vgl. Schaubild 1). Die Übergangsquote verharrt geachtet werden, dass die Schülerinnen und Schüler von seit einigen Jahren auf niedrigem Niveau bei knapp sechs Anfang ihrer Schulzeit an korrekt schreiben“ (Baden-Würt- Prozent. Quantitativ bedeutend ist diese Schulform noch temberg.de 2016). Konkret wurde damit die sogenannte bei Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund. Methode des „Schreibens nach Gehör“ verboten, nach In dieser Gruppe hat sie noch einen Anteil von fast 50 Pro- der korrekte Rechtschreibung zunächst weniger wichtig ist, zent. Auch der Flüchtlingszustrom ab 2015 und die Zuwan-

Schaubild 1: Übergänge von Grund- schulen in Baden-Württem- berg auf weiterführende Schulen seit 1990/91 (in %) Quelle: Statistisches Landesamt, Pressemitteilung 23/2020

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 218218 330.11.200.11.20 08:4308:43 derung aus Südosteuropa haben Haupt- und Werkreal- GRÜN-SCHWARZE BILDUNGSPOLITIK schulen neue Schülerinnen und Schüler gebracht. Die Vor- IN BADEN-WÜRTTEMBERG bereitungsklassen – die so genannten VKL-Klassen (siehe dazu unten) – wurden, neben den Grundschulen, überwie- gend an dieser Schulform eingerichtet. unter Grün-Schwarz Bestandsschutz für die bestehenden Verschiedene Reformen ab 1990 ermöglichten guten Klassen. Allerdings kann man schon an der Anzahl der Ge- Hauptschülerinnen und Hauptschülern die mittlere Reife meinschaftsschulen ablesen, dass die Unterstützung von als Perspektive. Die flächendeckende Einführung der Seiten der Landesregierung zurückging. Waren es bis zum Werk realschule 2010 war ein weiterer Versuch, die Haupt- Schuljahr 2015/16 271 neu gegründete Gemeinschafts- schule attraktiver zu gestalten, um auf die bereits seit den schulen, so stieg die Anzahl bis zum Schuljahr 2019/20 le- 1970er-Jahren sinkenden Übergangsquoten zu reagieren. diglich auf 306. Von diesen Gemeinschaftsschulen führen Die Werkrealschule umfasst sechs Schuljahre und ermög- zum Schuljahr 2019/20 nur drei eine eigene gymnasiale licht einen Hauptschulabschluss nach dem 9. und einen Oberstufe. Um eine zweite Säule neben dem Gymnasium mittleren Abschluss nach dem 10. Schuljahr, der dem Real- zu errichten, wie einst der Plan von Grün-Rot vorgesehen schulabschluss gleichwertig ist. Baden-Württemberg ist hatte, ist dies deutlich zu wenig. Die Hürden für den Aus- das einzige Bundesland, das mit dem Werkrealabschluss bau der gymnasialen Oberstufe an Gemeinschafsschulen einen zweiten mittleren Bildungsabschluss mit eigenem sind derzeit einfach zu hoch, da die meisten Gemein- Curriculum anbietet. schaftsschulen aus ehemaligen kleinen Haupt- oder Werk- So gut wie alle mindestens zweizügigen Hauptschulen ha- realschulen hervorgegangen sind (Strohmaier 2017): Für ben sich zwischenzeitlich zu Werkrealschulen entwickelt. die Einrichtung einer Oberstufe braucht es die gesetzlich Seit 2010 wird die Hauptschule nicht mehr eigens in der vorgeschriebene Mindestschülerzahl von 60 am Ende der Statistik ausgewiesen. Dennoch gibt es im ländlichen Be- Sekundarstufe I. Obwohl die Prüfungsergebnisse der mitt- reich noch einige Hauptschulen bis Klassenstufe 9, meist im leren Reife von Gemeinschaftsschulabsolventinnen und Verbund mit einer Grundschule. Hinzu kommen außerdem -absolventen ungefähr den der Realschulabsolventinnen noch einige private Hauptschulen. Mit dieser Vielfalt an bzw. -absolventen entsprechen (vgl. Immerfall/Strohmaier Schulformen dürfte Baden-Württemberg das Bundesland 2019), bleibt weiter unklar, wie die Zukunft der Sekundar- mit dem kompliziertesten Schulsystem sein! schulen in Baden-Württemberg aussieht. Dies wurde be- Aufgrund der weiterhin sinkenden Schülerzahlen kommt es reits zu Beginn der Legislaturperiode von den Jusos, der immer wieder zur Schließung von Haupt- und Werkreal- Jugendorganisation der oppositionellen SPD, moniert. schulen, die naturgemäß in den betroffenen Gemeinden „Wenn die Schulform nicht zur Restschule verkommen solle, teils heftige Reaktionen hervorrufen. Die Zahl der Stand- sei die flächendeckende Einführung von Oberstufen nötig“ orte sank seit dem Schuljahr 2011/2012 von damals 829 (Stuttgarter Nachrichten, 16.04.2016). Die Übergangsrate Standorten auf aktuell 235. Die vom Kultusministerium an- auf staatliche Gemeinschaftsschulen am Ende der Primar- gestoßene Schulgesetzänderung ermöglicht es nun, Schu- stufe pendelt sich im Land auf derzeit circa 13 Prozent ein. len selbst dann weiterzuführen, wenn die Zahl von 16 Schülerinnen und Schülern in der Eingangsklasse unter- Gymnasium schritten wird. Der Erhalt kleiner Haupt- und Werkreal- Zu umfangreichen Reformen kam es auch bei der gymnasi- schulen ist zwischen den Koalitionären umstritten (Stutt- alen Oberstufe. Bis zur Bildungsplanreform 2004 bestand garter Zeitung, 01.09.2020). die Möglichkeit, Leistungskurse zu wählen, um in den letz- ten zwei Jahren bis zum Abitur persönliche Begabungs- Realschule schwerpunkte zu setzen. Diese wurden 2004 zugunsten Realschulen gibt es in nur sechs Bundesländern. In Baden- eines höheren Bildungsniveaus in den Fächern Mathema- Württemberg hat die Realschule eine besonders lange tik, Deutsch sowie einer Fremdsprache, die von allen Schü- Tradition und ist weithin gut angesehen. Doch auch in die- lerinnen und Schülern verpflichtend mit anschließender ser Schulform wurde die Schülerschaft heterogener. Dies schriftlicher Abiturprüfung zu belegen waren, abgeschafft. hängt auch damit zusammen, dass in vielen Regionen eine Zum Schuljahr 2019/20 gibt es nun wieder – ähnlich wie Werkrealschule nicht mehr wohnortnah zu erreichen ist. vor der Reform 2004 – mehr Wahlmöglichkeiten für die Nach einer Bildungsplanreform 2016 dürfen sich Realschu- Schülerinnen und Schüler. Es müssen drei fünfstündige Fä- len nicht länger nur auf ihr angestammtes „mittleres Ni- cher (Leistungsfächer) sowie Basisfächer mit zwei oder veau“ konzentrieren. Vom Schuljahr 2017/18 an müssen drei Stunden pro Woche gewählt werden. Zwei der drei erstmals Schülerinnen und Schüler in Klassenstufe 7 so un- Leistungsfächer müssen auf Deutsch, Mathematik, eine terrichtet werden, dass die einen auf den Hauptschulab- Fremdsprache (spätestens ab Klasse 8 begonnen) oder schluss Ende Klasse 9 vorbereitet werden, die anderen eine Naturwissenschaft entfallen. Die schriftliche Abitur- weiterhin auf den Realschulabschluss in der Klasse 10. Da- prüfung erfolgt in allen Leistungsfächern; die Abiturprü- mit dürfte die Realschule verstärkt mit unterschiedlichen fung setzt sich somit aus drei schriftlichen und zwei münd- Lernvoraussetzungen konfrontiert sein, nicht immer zur lichen Prüfungen zusammen. Die bisher obligatorischen Freude von Realschullehrerinnen und -lehrern. Martin Bin- schriftlichen Prüfungen in den Fächern Mathematik und der (2017: 9) spricht davon, dass die Realschule in der ver- Deutsch können nun durch eine 20-minütige mündliche Prü- gangenen Dekade zum „Verschiebebahnhof“ für Struktur- fung ersetzt werden. Das Wahlrecht der Schülerinnen und reformen wurde. Schüler wird allerdings durch ein sehr komplexes Abrech- nungssystem eingeschränkt. Mit der Reform soll laut Kultus- Gemeinschaftsschule ministerin Eisenmann der „immer wieder geforderten äuße- Die im Schuljahr 2012/13 unter der grün-roten Landesre- ren Differenzierung in den Fächern Deutsch, Mathematik gierung neu errichtete Gemeinschaftsschule genießt auch und Fremdsprachen“ Rechnung getragen werden (Südku-

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 219219 330.11.200.11.20 08:4308:43 rier, 06.10.2017). Während es vor der Reform in der Ober- stufe zwei- und vierstündige Fächer gab, sind es nun zwei-, drei- und fünfstündige. Als Basisfächer werden die natur- wissenschaftlichen Fächer dreistündig unterrichtet, die ge- sellschaftswissenschaftlichen dagegen nur zweistündig. Die zunehmende Anzahl an unterschiedlichen Wochen- stunden in den Fächern stellt vor allem kleine Schulen vor große Herausforderungen, beispielsweise die Stunden- plangestaltung betreffend. Eine Konsequenz für die Ober- stufenschülerinnen und Oberstufenschüler ist häufigerer Nachmittagsunterricht. Zusammenfassend lässt sich fest- halten, dass einerseits die Naturwissenschaften ein stär- keres Gewicht erhalten und andererseits neue individuelle Schwerpunkte je nach Begabung der Schülerinnen und Schüler gesetzt werden können, was allerdings mit einem organisatorischen Mehraufwand für die Schulen einher- Helmar Schöne, Stefan Immerfall, Bianca Strohmaier geht.

Integration von Flüchtlingen Spätestens ab dem Schuljahr 2015/16 mussten die Schulen den Zuzug von Schutz- und Asylsuchenden mit ganz unter- schiedlichen Hintergründen innerhalb eines kurzen Zeit- raums bewältigen (Worbs 2020). Obwohl die Entwicklung seit 2014 absehbar war, reagierte die Schulverwaltung zu- nächst abwartend (Verband Bildung und Erziehung 2016). Für die zumeist engagierten, aber oft unvorbereiteten Lehr- kräfte wurden Fortbildungen zum (Zweit-)Spracherwerb und zur Zweitsprachvermittlung, zum sprachsensiblen Fachunterricht und zu Interkulturalität organisiert, doch zeigte es sich, dass diese Themen – ebenso wie das der Digitalisierung – didaktische Dauerbrenner sind, die in al- die politische Bildung zu Gunsten der ökonomischen Bil- len Phasen der Lehrerbildung berücksichtigt werden müs- dung und der Berufsorientierung geschwächt. Grün-Rot sen. Die Plätze in den Vorbereitungsklassen der allgemein- hatte – nach erfolgreicher Lobbyarbeit der Wirtschafts- bildenden Schulen (VKL) und den entsprechenden VABO- verbände – einseitig auf die Einführung eines Faches Wirt- Klassen der beruflichen Schulen wurden mehr als schaft gesetzt statt ein Integrationsfach zur Vermittlung vervierfacht (Landesinstitut für Schulentwicklung/Statisti- gesellschaftspolitischer und sozioökonomischer Kompe- sches Landesamt Baden-Württemberg 2017). Die Vorbe- tenzen zu schaffen. Entsprechend liegt Baden-Württem- reitungsklassen dienen vor allem der Deutschförderung, berg im „Ranking Politische Bildung“, das die politische Bil- während die VABO-Klassen auch den Übergang in das re- dung an allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufe I guläre berufliche Schulwesen im Blick haben. zwischen den Bundesländern vergleicht, nur im Mittelfeld (Gökbudak/Hedtke 2020). Leitfaden Demokratiebildung Allerdings ist mehr als fraglich, ob der Leitfaden ein geeig- Migration und Integration gehören – neben der Globali- netes Instrument zur Stärkung der Demokratiebildung ist. sierung, der Digitalisierung und dem Klimawandel – zu je- Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktiker haben sowohl nen Phänomenen, die nicht nur zu Umbrüchen in unserer seine inhaltliche als auch strukturelle Ausrichtung kritisiert Gesellschaft führten, sondern auch neue Herausforderun- (Fachschaft Politikwissenschaft der Pädagogischen Hoch- gen für unsere Demokratie mit sich gebracht haben. Um in schulen 2019). Sie machen darauf aufmerksam, dass gelin- der nachwachsenden Generation demokratische Haltun- gende politische Bildung entsprechend ausgebildete Lehr- gen und Werte zu stärken und rechtzeitig gegen extremis- kräfte benötigt. Statt alle Fächer in die Pflicht zu nehmen, tische Tendenzen vorzubeugen, wurde im Juli 2019 vom wäre die Stärkung des Faches Gemeinschaftskunde in der Kultusministerium der Leitfaden Demokratiebildung (Minis- Stundentafel vonnöten, welches dann die Funktion eines terium für Kultus, Jugend und Sport 2019) veröffentlicht. Leitfaches für die Demokratiebildung übernehmen könnte. Der Leitfaden ist in allen Schulen verbindlich umzusetzen. Tatsächlich ist aber das Gegenteil geschehen: Bei der Re- Er folgt einem ganzheitlichen Verständnis und betrachtet form der gymnasialen Oberstufe (siehe oben) ist wiederum Demokratiebildung als Aufgabe aller Beteiligter und aller die Fächergruppe der Naturwissenschaften privilegiert Fächer in der Schule. Dafür formuliert er Anregungen und worden und die Fächer Gemeinschaftskunde und Geogra- Impulse für die Umsetzung von Demokratiebildung in ver- phie wurden geschwächt (Lindeboom 2019). Vor diesem schiedenen Fächern und in der Schulkultur. Hintergrund muss sich der Demokratieleitfaden den Vor- Das Vorhaben der Stärkung der Demokratiebildung traf wurf gefallen lassen, nur Symbolpolitik zu sein. auf breite öffentliche Unterstützung, nicht zuletzt, weil durch das Erstarken rechtspopulistischer Parteien und Be- AfD-Meldeplattformen wegungen offensichtlich geworden war, dass Demokra- Öffentliche Aufmerksamkeit erlangte die schulische politi- tien keine Ewigkeitsgarantie besitzen. Noch in der vergan- sche Bildung nicht nur durch Regierungsinitiativen, son- genen Legislaturperiode sah das anders aus: Da wurde dern auch durch die Opposition. Im Jahr 2018 machte die

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 220220 330.11.200.11.20 08:4308:43 GRÜN-SCHWARZE BILDUNGSPOLITIK IN BADEN-WÜRTTEMBERG

Future, umgegangen werden sollte. Fridays for Future ist eine soziale Bewegung, überwiegend getragen von Schü- lerinnen, Schülern und Studierenden (vgl. Sommer et al. 2019), die in einem relativ kurzen Zeitraum ein erstaunli- ches Mobilisierungspotenzial entfalten konnte. Die Kern- 2018 macht die AfD durch idee von Fridays for Future ist einfach: Schülerinnen und sogenannte Meldeplattformen Schüler gehen immer freitags auf die Straßen und protes- von sich reden. Sie forderte tieren für schnelle und effiziente Klimaschutz-Maßnahmen, Eltern, Schülerinnen und Schü- um das auf der Weltklimakonferenz 2015 beschlossene ler auf, Lehrkräfte, die sich im 1,5-Grad-Ziel der Vereinten Nationen einhalten zu kön- Unterricht kritisch mit der Par- nen. Sollen die streikenden Schülerinnen und Schüler sank- tei befassen, auf einer Internet- tioniert werden, soll man sie gewähren lassen oder verdie- plattform bei den Schulbehör- nen sie sogar aktive Unterstützung? Wie nicht anders zu den zu melden. Die von der erwarten, genießt die Bewegung bei den Grünen viel Sym- AfD behauptete Neutralitäts- pathie: Die baden-württembergischen Landesvorsitzen- pflicht für Lehrerinnen und den der Grünen, Sandra Detzer und Oliver Hildenbrand, Lehrer gibt es überhaupt nicht. sprachen sich gegen Bußgelder aus, betonten das Recht Lehrkräfte sind gehalten, die und die Notwendigkeit, freitags auf die Straße zu gehen, freiheitlich-demokratische und plädierten für einen „pädagogischen Umgang mit den Grundordnung zu vermitteln. Streiks“ (Hildebrandt 2019). Selbst die Kultusministerin, Dazu gehört auch die Aufklä- schon von Amts wegen verpflichtet, für die Einhaltung der rung über extreme und extre- Schulpflicht zu sorgen, äußerte sich differenziert. In einem mistische Positionen. Interview mit der Tageszeitung „Die Welt“ warb sie dafür, picture alliance/dpa die Anliegen der jungen Generation ernst zu nehmen und empfahl ihrer Partei, der CDU, dialogbereiter zu sein (Die Welt, 06.08.2019). Indem sie die Schülerinnen und Schüler AfD durch so genannte Meldeplattformen von sich reden. aufforderte, ggf. auch die Konsequenzen für ihre Abwe- Darin forderte sie Eltern und Schülerinnen und Schüler auf, senheit zu tragen, schloss sie entsprechende Sanktionen Lehrkräfte, die sich im Unterricht kritisch mit der Partei be- aber auch nicht aus, ohne aktiv für eine Bestrafung zu wer- fassen, auf einer Internetplattform und bei den Schulbe- ben. Auch wenn es, wie eine Lehrerin formulierte, für die hörden zu melden. Die AfD wendete auch hier ihre Strate- Schulleitungen oft „einer Quadratur des Kreises“ glich, sich gie, durch gezielte Provokationen öffentliche Aufmerksam- im Kontext der Streiks nicht zwischen alle Stühle zu setzen keit zu erregen und ins Gespräch zu kommen, erfolgreich (Oehmichen 2019), haben in der Praxis die allermeisten an (vgl. Schroeder/Weßels/Berzel 2020). Wie so oft kons- Schulen einen pragmatischen Umgang mit den streiken- truierte sie auch in diesem Fall ihre eigene Realität, denn den Schülerinnen und Schülern gefunden. Von einer Beein- die von der AfD als Grundlage der Meldeplattformen be- trächtigung des Schulfriedens oder uneinholbaren Ver- hauptete eindimensionale Neutralitätspflicht für Lehrerin- säumnissen konnte in der Regel nicht die Rede sein. Im Ge- nen und Lehrer gibt es überhaupt nicht. Im sogenannten genteil nutzten kluge Lehrerinnen und Lehrer die Vorlage, Beutelsbacher Konsens, der beschreibt, wie Lehrkräfte mit um im Unterricht das epochaltypische Schlüsselproblem den Meinungen ihrer Schülerinnen und Schüler und ihren Umwelt (Wolfgang Klafki) zu thematisieren. eigenen Auffassungen umzugehen haben, ist von einem „Überwältigungsverbot“ und einem „Kontroversitätsge- bot“ die Rede, nicht aber davon, dass Lehrerinnen und Leh- Qualitätskonzept für das Bildungssystem Baden- rer keine eigene Meinung haben dürfen (vgl. Frech/Richter Württembergs 2017). Vor allem aber ist es Aufgabe von Lehrerinnen und Lehrern, die Wert- und Ordnungsvorstellungen der frei- Ende Oktober 2016 wurden die Ergebnisse des IQB-Bil- heitlich-demokratischen Grundordnung des Grundgeset- dungstrends 2015 veröffentlicht. Danach gab es im Ver- zes zu vermitteln. Dazu gehört auch die Aufklärung über gleich zu 2009 mehr baden-württembergische Schülerin- extreme und extremistische Positionen (vgl. GPJE/DVPB/ nen und Schüler, die den Mindeststandard in Deutsch und DVPW-Sektion 2018). beim Lesen nicht erreichten und weniger, die ihn erreichten (Stanat et al. 2016). Unvermittelt fand sich das „Muster- Fridays for Future ländle“ im Bundesländervergleich von Schulleistungen nur Die Frage, ob Lehrkräfte sich zu politischen und gesell- noch im unteren Mittelfeld wieder. Es war wohl auch diese schaftlichen Themen neutral verhalten oder Position bezie- für das südwestdeutsche Bundesland ungewohnte Position hen sollten, stellte sich in den vergangenen Jahren auch in („Wir können alles außer Hochdeutsch“), welche die Dis- einem ganz anderen Zusammenhang: In der Eltern- und kussionen im ohnehin stets strittigen Politikfeld Schulpolitik Lehrerschaft wie zwischen Vertreterinnen und Vertretern nochmals anfachten. Gegenseitige Schuldzuweisungen der Bildungspolitik und -administration wurde kontrovers machten die Runde, indem etwa die grün-roten Reformen darüber diskutiert, wie mit den Schulstreiks von Schülerin- der vorhergehenden Legislaturperiode für die Verschlech- nen und Schülern, initiiert durch die Bewegung Fridays for terungen verantwortlich gemacht wurden, obgleich doch

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 221221 330.11.200.11.20 08:4308:43 die 2015 untersuchten Neuntklässlerinnen und Neunt- Digitalisierung in Zeiten der Corona-Pandemie klässler 2012 in die 7. Klasse gekommen waren, also von Die pädagogisch wie schulorganisatorisch größte Heraus- diesen Reformen überhaupt noch nicht betroffen sein konn- forderung war (und ist) sicherlich die Corona-Pandemie. ten. Auch der Hinweis der Studienleiterin Petra Stanat, Mitte März 2020, knapp drei Monate nachdem die erste dass Strukturfragen nicht zuvorderst relevant für die Erklä- Erkrankung in Deutschland mit dem neuartigen Virus SARS- rung der schlechten Schülerleistungen seien, konnte nicht CoV-2 festgestellt worden war, wurden Schulschließungen verhindern, dass auch zwischen den beiden Koalitions- bundesweit verordnet. Geschlossen wurde auch die Kin- partnern um die richtige Reaktion auf die IQB-Ergebnisse dertagespflege. Das Heft des Handelns lag zunächst nicht gestritten wurde (Stuttgarter Zeitung, 07.01.2018). bei den zuständigen Ministerinnen, Ministern und ihrer Als eine Antwort auf die Qualitätsdefizite einigten sich Kultusministerkonferenz, sondern bei den Regierungsche- Grüne und CDU auf ein ambitioniertes Gesetzespaket un- finnen und Regierungschefs der Bundesländer und der ter der Überschrift „Qualitätskonzept für das Bildungssys- Bundesregierung (Fickermann/Edelstein 2020: 10f.). Erst tem Baden-Württembergs“, das im Februar 2019 im Land- ab Mai kam es wieder zu vorsichtigen Öffnungen, wobei tag beschlossen wurde. Tatsächlich stellt das Konzept die Schülerinnen und Schüler bevorzugt wurden, bei denen in administrativ größte Reformbaustelle des Kultusministeri- diesem oder im nächsten Jahr die Abschlussprüfungen an- ums dar; sie betrifft rund 2000 Mitarbeiterinnen und Mit- standen. Helmar Schöne, Stefan Immerfall, Bianca Strohmaier arbeiter in der Schul- und Kultusverwaltung. Während Zunächst gab es als Alternative zum Präsenzunterricht nur seine Umsetzung in der Bildungsadministration zu deutli- „Fernunterricht“, später wurde der sogenannte „Hybridun- chen Reibereien führt, scheint die Öffentlichkeit davon we- terricht“ – teils zuhause, teils in der Schule – empfohlen. nig wahrgenommen zu haben. Zentral ist die Schaffung Verständlicherweise kam es zu erheblichen Anlaufschwie- zweier neuer Institutionen, dem Zentrum für Schulqualität rigkeiten. Zu denken geben muss aber der große Quali- und Lehrerbildung (ZSL) und dem Institut für Bildungsana- tätsunterschied der (digitalen) Kommunikations- und Rück- lysen Baden-Württemberg (IBBW). meldewege zwischen den Schulen (Wacker/Unger/Rey Das IBBW soll neben bundesweiten Vergleichsarbeiten 2020), welche die bereits vor Corona strapazierte Chan- auch landeseigene Lernstandserhebungen zur Verfügung cengleichheit im Bildungsbereich weiter in Frage stellt. Bis- stellen, aus dem – so die Hoffnung – Erkenntnisse zur För- weilen wurde Unterricht weitgehend ersatzlos gestrichen, derung der Lernentwicklung individueller Schülerinnen und nicht wenige Eltern fühlten sich allein gelassen. Auch und Schüler gewonnen werden können. Ferner soll der die Schülerinnen und Schüler beklagten den Mangel an Schulleitung und der Schulaufsicht steuerungsrelevantes kommunikativen Situationen in den digitalen Verfahren Wissen in Form schulbezogener Datenblätter zur Verfü- (ebd.). gung gestellt werden. Das Kultusministerium setzte auf eine rasche Rückkehr zum Die Lehrerfort- und -weiterbildung in Baden-Württemberg „Regelbetrieb“. In den Sommerferien wurden freiwillige ist organisatorisch höchst komplex, vielfach gegliedert Lern- und Förderkurse in den letzten beiden Wochen der und weist unterschiedliche schulartspezifische Zuständig- Sommerferien („Lernbrücken“) angeboten. Der Schulbe- keiten aus. Wie in allen Bundesländern gibt es auch in Ba- trieb sollte so organisiert werden, dass sich die Schülerin- den-Württemberg für Lehrkräfte eine Pflicht zur Fortbil- nen und Schüler unterschiedlicher Klassen und Jahrgangs- dung. Sie wird aber, im Gegensatz etwa zu Bayern und stufen möglichst wenig durchmischen („Kohorten-Prinzip“). Hamburg, nicht quantifiziert. Lehrkräfte beklagen, Ange- Nebenfächer wie Sport und Musik, Arbeitsgruppen und bote seien öfters am Bedarf vorbeigeplant. Des Weiteren praktische Tätigkeiten müssen hintanstehen. sähen Schulleitungen Fortbildungen ihres Kollegiums bis- Die Corona-Krise zeigte deutliche, schon länger beste- weilen nicht gerne, da sie keine Ersatzlehrkräfte bekämen. hende Mängel des deutschen Schulsystems auf. Gemäß Ebenso gilt die Qualitätssicherung im Lehrerfortbildungs- einer Umfrage der Gewerkschaft Erziehung und Wissen- system als verbesserungswürdig (Cramer/Johannmeyer/ schaft (GEW 2020) unter Schulleitungen aller Schularten Drahmann 2019). in Baden-Württemberg wurden besonders Digitalisierung Das ZSL soll die Lehrerfortbildung als neue Landesoberbe- und Personalmangel als Problemstellen genannt. Der hörde nun zentral steuern und neue, auch digitale Bera- Nachholbedarf bei der digitalen Ausstattung der Schulen tungsangebote bereitstellen. Die Regierungspräsidien und der entsprechenden Kompetenzen der Lehrkräfte ist und Staatlichen Schulämter werden dafür nicht mehr zu- weder neu, noch auf Baden-Württemberg beschränkt. ständig sein. Dies folgt dem – an sich vernünftigen – Ge- Länder, Bund und Kommunen als Schulträger schieben sich danken, Schulaufsicht und Schulunterstützung voneinan- seit Jahren wechselseitig den schwarzen Peter zu. Hieran der zu trennen. Die Berufung von Thomas Riecke-Baulecke hat sich Baden-Württemberg eifrig beteiligt, indem es eine zum Präsidenten des ZSL stellt eine bemerkenswerte Perso- erste Bund-Länder-Vereinbarung im Bundesrat scheitern nalentscheidung dar, war er doch vorher Leiter des Pen- ließ. Grund war die Furcht, der Bund würde mit ihr zu stark dants in Schleswig-Holstein, einem Land, mit einem Sekun- in die bildungspolitischen Belange der Länder eingreifen. darschulsystem, das die Ministerin entschieden ablehnt: Bei der Verteidigung der Bildungshoheit waren sich Minis- nach der Grundschule haben die Eltern dort (nur) die Wahl terpräsident und Ministerin einig. zwischen Gymnasium und Gemeinschaftsschule. Schließlich konnten sich Bund und Länder aber doch auf Wie genau die neuen Strukturen den erkannten Mängeln einen „DigitalPakt Schule“ verständigen. Der Bund stellte in Schulentwicklung und Bildungsmonitoring werden ab- 2019 fünf Milliarden Euro bereit, wovon bislang jedoch nur helfen können, scheint noch nicht recht erkennbar; aller- wenig abgeflossen ist. In einer Zusatzvereinbarung wur- dings ist es für eine abschließende Bewertung der Schul- den als aktuelle Corona-Hilfe weitere 500 Millionen Euro verwaltungsreform natürlich zu früh. Die von Kultusministe- für Schülerendgeräte zur Verfügung gestellt, die unbüro- rin Eisenmann im Juni 2017 versprochene Kostenneutralität kratisch direkt von den Ländern an die Schulen verteilt wer- der Reform wird sich jedenfalls nicht einstellen. den sollen. In Baden-Württemberg arbeitet das Kultusmi-

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 222222 330.11.200.11.20 08:4308:43 nisterium immer noch an einer digitalen Bildungsplattform GRÜN-SCHWARZE BILDUNGSPOLITIK für Schulen, die ein Lernmanagementsystem, Internet- IN BADEN-WÜRTTEMBERG dienste und Büroanwendungen kombinieren soll. Ein erster Anlauf namens „Ella“ war an massiven technischen Proble- men gescheitert und musste mit einem teuren Vergleich be- weitere Reaktion auf das schlechte Abschneiden im Bun- endet werden; nun macht auch das Nachfolgeprojekt Pro- desländervergleich des IQB wurden 2019 zwei neue Insti- bleme (Badische Zeitung, 23.07.2020). tutionen zur Qualitätssicherung in den Schulen gegründet, das gemeinsam verabschiedete Gesetzespaket konnte aber die grundsätzlichen Differenzen zwischen den bei- Fazit den Koalitionspartnern in bildungspolitischen Fragen nur schwer verdecken. Komplementär-Koalition bedeutete in der Bildungspolitik: Dabei hatten es die Grünen aufgrund des Ressortprinzips Gestalten auf der Grundlage des kleinsten gemeinsamen schwerer, mit ihren bildungspolitischen Positionen in der Nenners. Auf Wunsch der Grünen durfte die Gemein- Öffentlichkeit durchzudringen. Die grün-schwarze Bil- schaftsschule bleiben (wenn sie auch in ihrer weiteren Ent- dungspolitik wurde wesentlich von der CDU-Ministerin be- wicklung faktisch ausgebremst wurde). Dafür erhielten – stimmt, die als Gesicht und Stimme der Bildungspolitik in den Forderungen der CDU entsprechend – die Haupt- und Baden-Württemberg wahrgenommen wurde. Naturge- Werkrealschulen Bestandsschutz und die Realschulen mäß hat sie sich dabei nicht nur Freunde gemacht; unter wurden gestärkt. Baden-Württemberg widersetzt sich da- anderem mit den gewählten Elternvertreterinnen und mit nicht nur dem bundesweiten Trend zur Zweigliedrigkeit Elternvertretern des Landes lag sie oftmals über Kreuz. im Schulsystem, sondern machte ein schon kompliziertes Sicher hat auch die Tatsache, dass die zum Beginn der Le- Schulsystem noch komplizierter. gislaturperiode zunächst als Pragmatikerin auftretenden Die gegensätzlichen Positionen in solchen Strukturfragen Kultusministerin CDU-Spitzenkandidatin für die Landtags- wollte die Koalition pragmatisch umschiffen, indem sie wahlen 2021 wurde, die Polarisierung in der Bildungspoli- stattdessen die Qualitätsentwicklung der Schulen in den tik wiederbelebt, weil sie in ihrer neuen Rolle verstärkt Mittelpunkt rückte. Schulformintern wurde auf interne Leis- Rücksicht auch auf die konservativen Strömungen in Partei tungsdifferenzierung gesetzt. Mit Ausnahme des Gymna- und Fraktion zu nehmen hat. siums nahm in allen Bildungsgängen die Binnengliederung Corona hat die Mängel der deutschen Schulsysteme wie durch niveaudifferenzierte Leistungsbewertungen zu. Als unter einem Brennglas gezeigt, die nicht nur, aber eben

Überaus kontrovers wurde dis- kutiert, wie mit den Schulstreiks von Schülerinnen und Schülern, initiiert durch die Bewegung Fridays for Future, umgegan- gen werden soll. Die Kultusmi- nisterin, schon von Amts wegen verpflichtet, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen, äußerte sich differenziert. Sie plädierte dafür, die Anliegen der jungen Generation ernst zu nehmen. Zudem forderte sie Schülerinnen und Schüler auf, ggf. auch die Konsequenzen für ihre Abwesenheit zu tra- gen. picture alliance/dpa

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 223223 330.11.200.11.20 08:4308:43 Corona hat die Mängel des deutschen Schulsystems wie unter einem Brennglas gezeigt, Helmar Schöne, Stefan Immerfall, Bianca Strohmaier die u. a. auch Baden-Württem- berg betreffen: Defizite bei der Digitalisierung der Schulen, eine knapp bemessene Perso- nalausstattung ohne Reserven für besondere Situationen und eine bauliche Ausstattung vie- ler Schulen, in der die Umset- zung von Hygienekonzepten erschwert wird. picture alliance/dpa

CDU Baden-Württemberg (2016): Gemeinsam. Zukunft. Schaffen. Das auch das wohlhabende Baden-Württemberg betreffen: Regierungsprogramm der CDU Baden-Württemberg 2016–2021. Stutt- Defizite bei der Digitalisierung der Schulen, eine knapp gart 2015. bemessene Personalausstattung ohne Reserven für beson- Cramer, Colin/Johannmeyer, Karen/Drahmann, Martin (2019): Fortbildun- gen von Lehrerinnen und Lehrern in Baden-Württemberg. Tübingen. dere Situationen und eine bauliche Ausstattung vieler Fachschaft Politikwissenschaft der Pädagogischen Hochschulen in Baden- Schulen, in der die konsequente Umsetzung von Hygiene- Württemberg (2019): Anhörungsfassung Leitfaden Demokratiebildung. Konzepten oftmals durch Raumnöte oder mangelnde Stan- Stellungnahme der Fachschaft Politikwissenschaft der Pädagogischen Hochschulen Baden-Württembergs. Schwäbisch Gmünd. dards erschwert wird. Häufig ließ sich eine fehlende Pas- Fickermann, Detlef/Edelstein, Benjamin (2020): „Langsam vermisse ich die sung zwischen den reichlichen Vorgaben der Bildungsad- Schule …“. Schule während und nach der Corona-Pandemie. In: DDS ministration sowie der Realität an den Schulen vor Ort – Die deutsche Schule, Beiheft 16, S. 9–33. Frech, Siegfried/Richter, Dagmar (Hrsg.) (2017): Der Beutelsbacher Kon- beobachten. sens. Bedeutung, Wirkung, Kontroversen. Schwalbach/Ts. Ob das „Qualitätskonzept für das Bildungssystem Baden- GEW (2020): Corona-Schuljahr 2020/21 beginnt. Von Regelbetrieb und Württembergs“ den Koalitionären als Erfolg gutgeschrie- Normalität weit entfernt. Pressemitteilung vom 07.09.2020. URL: https:// www.gew-bw.de/presse/detailseite/neuigkeiten/von-regelbetrieb- ben werden wird, ist fraglich. Die organisatorische Umge- und-normalitaet-weit-entfernt/ [08.10.2020]. staltung von Verwaltungsapparaten ist kein Thema, mit GPJE, DVPB und DVPW-Sektion (2018): Gemeinsame Stellungnahme zur dem sich in der Wählerschaft punkten lässt – zumal nicht in AfD-Meldeplattform „Neutrale Schulen“. URL: http://gpje.de/stellung- nahmen/ [08.10.2020]. den Zeiten einer Pandemie, in der Eltern ganz andere Sor- Gökbudak, Mahir/Hedtke, Reinhold (2020): Ranking Politische Bildung. gen haben und zunächst einmal an einer verlässlichen Be- Politische Bildung an allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufe I schulung ihrer Kinder interessier t sind. Somit wird auch die im Bundesländervergleich 2019. Bielefeld. Universität, Fakultät für So- ziologie. Bilanz der Bildungspolitik der vergangenen Wahlperiode Hildebrandt, Antje (2019): „Es gibt Gesetzesverstöße, bei denen man die am Ende ganz wesentlich von der Bewertung des Krisen- Augen zudrückt.“ In: Cicero. Magazin für politische Kultur, 23.07.2019. managements in der Corona-Pandemie abhängen. URL: https://www.cicero.de/innenpolitik/bussgeld-fridays-for-future- baden-wuerttemberg-susanne-eisenmann [08.10.2020]. Immerfall, Stefan/Strohmaier, Bianca (2019): Die Akzeptanz von Absol- vent/innen der neuen Gemeinschaftsschule bei Ausbildungsbetrieben in Baden-Württemberg. Eine erste vergleichende Untersuchung zur Ak- LITERATUR zeptanz von Absolvent/innen der Gemeinschaftsschule und der Real- Baden-Württemberg.de (2016): Pressemitteilung: Neue Vorgaben für die schule. In: Lehren & Lernen, Heft 12/2019, S. 31–34. Rechtschreibung, 15.12.2016. URL: https://www.baden-wuerttemberg. Immerfall, Stefan/Faak, Stefanie (2018): Reformschraube Grundschulemp- de/de/service/presse/pressemitteilung/pid/neue-vorgaben-fuer-den- fehlung: Sind veränderte Übergangsverfahren ein Hebel für mehr Bil- rechtschreibunterricht/ [08.10.2020]. dungsgerechtigkeit? In: Pädagogik, Heft 3/2018, S. 38–42. Binder, Martin (2017): Zur aktuellen Situation der Realschule in Baden- Koalitionsvertrag zwischen Bündnis90/Die Grünen Baden-Württemberg Württemberg. In: Lehren & Lernen, Heft 11/2017, Seite 4–10. und der CDU Baden-Württemberg (2016): Baden-Württemberg gestal- Bohl, Thorsten/Sibylle Meissner (Hrsg.) (2013): Expertise Gemeinschafts- ten: Verlässlich. Nachhaltig. Innovativ. Stuttgart. URL: https://www. schule. Forschungsergebnisse und Handlungsempfehlungen für Baden- baden-wuerttemberg.de/de/regierung/landesregierung/koalitions- Württemberg. Weinheim. vertrag/ [08.10.2020]. Bündnis90/Die Grünen Baden-Württemberg (2015): Grün aus Verantwor- Koalitionsvertrag zwischen Bündnis90/Die Grünen und der SPD Baden- tung für Baden-Württemberg. Wahlprogramm zur Landtagswahl 2016. Württemberg (2011): Der Wechsel beginnt. Stuttgart. URL: https:// Innovative Wirtschaft. Gesunde Natur. Starke Familien. Offene Bürger- www.lpb-bw.de/koalitionsvertrag-2011 [08.10.2020]. gesellschaft. Stuttgart. Kratzmeier, Ute (2017): Keine Vision, keine Analyse, keine Strategie. Bilanz nach einem Jahr grün-schwarzer Bildungspolitik. In: bildung & wissen-

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 224224 330.11.200.11.20 08:4308:43 schaft. Zeitschrift der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Ba- den-Württemberg, Heft 7–8/2017, S. 17–19. GRÜN-SCHWARZE BILDUNGSPOLITIK Landesinstitut für Schulentwicklung/Statistisches Landesamt Baden-Würt- IN BADEN-WÜRTTEMBERG temberg (Hrsg.) (2017): Migration und Bildung in Baden-Württemberg. Bildungsberichterstattung 2017. URL: https://www.schule-bw.de/the- men-und-impulse/migration-integration-bildung/fakten_kontakte_an- gebote.html/praxis_wissen/statistik [08.10.2020]. Lindeboom, Martin (2019): Politisch-geographische Schulbildung auf dem UNSER AUTORENTEAM Abstellgleis. In: bildung & wissenschaft. Zeitschrift der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Baden-Württemberg, Heft 4/2019, S. 30– 31. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hrsg.) (2019): Demokratiebildung. Schule für Demokratie, Demokratie für Schule. Stuttgart. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (2020): Übergangsquoten zum Schuljahr 2019/2020 bleiben stabil. Pressemit- teilung 30.01.2020. URL: https://km-bw.de/,Lde/Startseite/Service/20 20+01+30+Uebergangsquoten+zum+Schuljahr+2019_2020+bleibe n+stabil [08.10.2020]. Oehmichen, Nora (2019): Protest-Bewegung ist in der Schule angekom- men. In: bildung & wissenschaft. Zeitschrift der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Baden-Württemberg, Heft 12/2019, S. 34–35. Prof. Dr. Helmar Schöne ist Professor für Politikwissenschaft und Schöne, Helmar/Immerfall, Stefan (2015): Grün-Rote Bildungspolitik in Baden-Württemberg. In: Der Bürger im Staat, Heft 4/2015, S. 186–194. ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch- Schroeder, Wolfgang/Weßels, Bernhard/Berzel, Alexander (2020): Die Gmünd. Nach seinem Studienabschluss in Berlin hat er u. a. an AfD in den Landtagen: Bipolarität als Struktur und Strategie – zwischen den Universitäten Dresden und Leipzig gearbeitet. Lehr- und For- Parlaments- und „Bewegungs“-Orientierung. In: Bröchler, Stefan/Gla- ab, Manuela/Schöne, Helmar (Hrsg.): Kritik, Kontrolle, Alternative. Was schungsaufenthalte haben ihn an die University of Iowa und die leistet die parlamentarische Opposition? Wiesbaden, S. 247–273. Grand Valley State University in Michigan geführt. Er arbeitet Sommer, Moritz/Rucht, Dieter/Haunss, Sebastian/Zajak, Sabrina (2019): schwerpunktmäßig zum politischen System der Bundesrepublik Fridays for Future. Profil, Entstehung und Perspektiven der Protestbewe- gung in Deutschland. Working Paper des Instituts für Protest- und Be- Deutschland und zur Politischen Bildung. wegungsforschung (ipb). Berlin. Stanat, Petra/Böhme, Katrin/Schipolowski, Stefan/Haag, Nicole (Hrsg.) (2016): IQB-Bildungstrend 2015. Sprachliche Kompetenzen am Ende der 9. Jahrgangsstufe im zweiten Ländervergleich. Münster. Strohmaier, Bianca (2017): Erfolgsfaktoren der Gemeinschaftsschule Ba- den-Württemberg. Eine bildungssoziologische quantitative Analyse. Münster. Verband Bildung und Erziehung (2016): Deutsch ist eine Fremdsprache – DaF oder DaZ oder was? In: VBE Magazin, Zeitschrift des Verbandes Bildung und Erziehung – Landesverband Baden-Württemberg, Heft 11/2016, S . 14 –17. Wacker, Albrecht/Rohlfs, Carsten (2014): Gemeinschaftsschule – Gesamt- schule – Integrierte Schule? In: Lehren und Lernen, Heft 6/2014, S. 4–8. Wacker, Albrecht/Unger, Valentin/Rey, Thomas (2020: „Sind doch Coro- na-Ferien, oder nicht?“ Befunde einer Schüler*innenbefragung zum „Fernunterricht“. In: DDS – Die deutsche Schule, Beiheft 16, S. 79–94. Dr. Stefan Immerfall ist Professor für Soziologie an der Pädago- Worbs, Susanne (2020): Deutschland vier Jahre nach der „Flüchtlingskri- gischen Hochschule Schwäbisch Gmünd. Zuvor hat er an den se“: Haben wir’s geschafft? In: Immerfall, Stefan/Pugliese, R. Rossella Universitäten Passau, Mannheim und North Carolina at Chapel (Hrsg.): Integration vor Ort. Stuttgart, S. 77–90. Hill (USA) gelehrt. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Be- reich der Bildungssoziologie, Politischen Ökonomie und Euro- pasoziologie. Aktuelles Forschungsprojekt: www.heterogenität- gestalten.de; aktuelle Veröffentlichung: Soziologie Kompakt (mit Klaus Feldmann).

Dr. Bianca Strohmaier, geb.1982 in Aalen, studierte an den Uni- versitäten Stuttgart und Hohenheim Mathematik, Biologie und Sport auf höheres Lehramt. Seit 2009 ist sie im aktiven Schuldienst und promovierte von 2013 bis 2016 an der Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch Gmünd zum Thema Einführung der Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg. Dort ist sie seither mit einer Teilabordnung in der Bildungsforschung und Lehre tätig.

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 225225 330.11.200.11.20 08:4308:43 EINE DURCHWACHSENE BILANZ Grün-schwarze Wissenschaftspolitik Renate Allgöwer

Ihr novelliertes Hochschulgesetz sollte neue Maßstäbe Im Koalitionsvertrag der grün-schwarzen Landesregie- setzen bei der Wahl und Abwahl von Hochschulrektoren. rung wurden die Zielsetzungen der Wissenschaftspolitik jedoch der Verfassungsgerichtshof Baden-Württemberg mit den Adjektiven „exzellent, vielfältig, verantwortlich“ betrachtete es als in Teilen verfassungswidrig. Bauers Be- charakterisiert. Die Bilanz der zweiten Amtszeit von Wis- mühungen um eine Stärkung der verschiedenen akademi- senschaftsministerin Theresia Bauer hingegen ist eher schen Gremien scheiterten. Das Gericht verlangte eine do- durchwachsen. Der Erfolg in der Exzellenzinitiative steht minierende Rolle für die Hochschullehrer. Das Urteil, emp- in deutlichem Kontrast zu den langwierigen Auseinan- fand Bauer, atme „den Geist der 60er Jahre“. Nachbessern dersetzungen um die Hochschulfinanzierung, die letzt- musste sie trotzdem. Der Lack des als wegweisend geprie- lich unspektakulär mit einem neuen Vertrag befriedet senen Landeshochschulgesetzes war angekratzt und mit wurden. Die Rückgabe von kolonialen Kulturgütern im ihm der Glanz der Ministerin. Trotz diverser Erfolge. Februar 2019 war hingegen eine anspruchsvolle diplo- „Exzellent, vielfältig, verantwortlich in Wissenschaft, For- matische Leistung. Im Zuge der Restitution gebrauchte schung und Kunst“ wollte sich die grün-schwarze Landes- die Wissenschaftsministerin nicht den seinerzeit kontro- regierung präsentieren. So steht es im Koalitionsvertrag vers diskutierten Begriff Völkermord. Vielmehr entschul- als Überschrift für die Wissenschaftspolitik. Manches da- digte sie sich mehrfach für die begangenen Massaker. von hat sich erfüllt. Über lagert wurden die Erfolge jedoch nicht nur von den geplanten Studiengebühren für Studierende aus Nicht- EU-Ländern und dem parteiinternen Konflikt in Fragen Erfolg in der Exzellenzinitiative der Gentechnik. Bauers zweite Amtszeit wurde vor allem von der sogenannten Zulagenaffäre um die Hochschule Auch im dritten Durchgang der Exzellenzinitiative des Bun- Ludwigsburg überschattet. Die Folgeschäden für There- des haben die Universitäten Baden-Württembergs her- sia Bauer sind – so Renate Allgöwer in ihrem Fazit – ausragend abgeschnitten. Bei der Entscheidung im Juli nachhaltig. 2019 kamen vier der neun Landesuniversitäten in den Ge- nuss des Titels Exzellenzuniversität. Konstanz, Tübingen, Heidelberg und das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) sind nun in der Förderung, die der Bund insgesamt elf Achtbare Erfolge im Schatten eines Untersuchungsausschusses

Durchwachsen präsentiert sich die Bilanz von Wissen- schaftsministerin Theresia Bauer. Die langgediente Grü- nenpolitikerin blickt am Ende ihrer zweiten Amtszeit als Wissenschaftsministerin auf herausragende Erfolge zu- rück, ist aber gleichzeitig eines der am schärfsten kritisier- ten Kabinettsmitglieder der grün-schwarzen Landesregie- rung. Sie sah sich in der zu Ende gehenden Legislaturperi- ode sogar mit einem langwierigen parlamentarischen Theresia Bauer (Bündnis 90/ Untersuchungsausschuss konfrontiert. Die Grünen), Wissenschaftsmi- Theresia Bauer galt als Aktivposten der grünen Regie- nisterin von Baden-Württem- rungsseite. Lange Zeit wurde sie sogar als eine mögliche berg, nimmt an einer öffentli- Nachfolgerin für Ministerpräsident Winfried Kretschmann chen Sitzung des parlamentari- gehandelt. Doch in ihrer zweiten Amtszeit hatte sie vom schen Untersuchungsausschus- Start weg gravierende Probleme, sie hat an politischem ses zur Aufklärung der Zula- Gewicht verloren. genaffäre an der Hochschule Die Ministerin wollte von ausländischen Studierenden Ge- für öffentliche Verwaltung und bühren erheben und so die Landeskasse aufbessern, doch Finanzen Ludwigsburg teil. An der (offenbar unterschätzte) Protest dagegen hielt Monate der Hochschule hatte die Auf- lang an. Die seit Jahren schwelende Affäre um die Ver- klärung über die Rechtmäßig- gabe von Zulagen an Professoren an der Hochschule für keit von Zulagen für Professo- öffentliche Verwaltung und Finanzen in Ludwigsburg über- ren zu heftigen Turbulenzen schattete die gesamte Amtszeit, weil auch hier Theresia geführt. Der Untersuchungs- Bauer die Auswirkungen offenbar lange unterschätzte, ausschuss sollte die Vorgänge was zu Zweifeln an ihrem Krisenmanagement führte. Und rund um die Zulagen aufklä- schließlich hat die bereits dreimal als Wissenschaftsminis- ren, überschattete aber auch terin des Jahres ausgezeichnete Bauer auch noch vor dem Bauers zweite Amtszeit. Verfassungsgerichtshof eine Schlappe erlitten. picture alliance/dpa

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 226226 330.11.200.11.20 08:4308:43 deutschen Universitäten in Zukunft dauerhaft angedeihen GRÜN-SCHWARZE WISSENSCHAFTSPOLITIK lassen will. So viele Exzellenzuniversitäten kann kein anderes Bundes- land aufbieten und die Politik schmückt sich mit dem Erfolg – auch wenn stets betont wird, dass das Auswahlverfahren Von den Leuchttürmen unter den Hochschulstandorten ver- streng wissenschaftsgeleitet sei. „Das ist ein großartiger sprechen sich Politik und Wissenschaftler internationale Tag. Damit ist Baden-Württemberg Deutschlands Wissen- Strahlkraft, das Renommee soll auch dazu verhelfen, Spit- schaftsstandort Nummer eins“, sagte denn auch die Wis- zenforscher aus aller Welt in den Südwesten zu locken. Die senschaftsministerin, als die Entscheidung bekannt gege- Wissenschaftsministerin sieht den Erfolg als Verpflichtung: ben wurde. Baden-Württemberg war das mit Abstand er- „Es muss uns allen darum gehen, diesen Erfolg immer wie- folgreichste Bundesland in dem Wettbewerb. „Wir sind der zu bestätigen. Wir sind in der Spitzenforschung her- sehr stolz auf unsere Universitäten, die in einem sehr har- vorragend aufgestellt, dürfen jetzt aber nicht nachlassen“, ten Wettbewerb mehr als hervorragend abgeschnitten sagt sie. Auch erfolgreiche Forschungsstrukturen aus der haben“, freute sich Bauer. vorangegangenen Exzellenzrunde will die grün-schwarze Die vier Exzellenzuniversitäten werden jährlich mit jeweils Landesregierung erhalten. So etwa in Freiburg, das 2019 rund 15 Millionen Euro vom Bund und vom Land Baden- knapp den Titel verfehlte. Insgesamt, kann Bauer verkün- Württemberg unterstützt. Das Neue: Diese Exzellenzuni- den, stünden in Baden-Württemberg rund eine Milliarde versitäten können nun dauerhaft gefördert werden. 25 Pro- Euro zusätzlicher Mittel für die Spitzenforschung zur Verfü- zent der Förderung muss Baden-Württemberg aufbringen. gung. Drei Viertel des Geldes kommen vom Bund. Die Exzellenz- universitäten im Südwesten können mit rund 350 Millionen Euro rechnen. Die Hochschulfinanzierung Stuttgart, Ulm und Freiburg haben es zwar nicht zum Titel gebracht, aber auch sie waren mit verschiedenen For- Das Geld für die Leuchttürme der Forschung bringt die schungsclustern im Exzellenzwettbewerb erfolgreich und H o ch s ch u l e n i m A l l t a g ni cht w e i t e r. I m J a h r 2 019 s t e h e n d i e können auf die Förderung von Bund und Land zählen. Zwölf Verhandlungen über einen neuen Finanzierungsvertrag für Cluster und vier Titel bringt kein anderes Bundesland zu- sämtliche Hochschulen im Land an. Neun Universitäten, sammen, Nordrhein-Westfalen folgt mit zwei Titeln und 14 sechs Pädagogische Hochschulen, acht Kunst- und Musik- Clustern im Ländervergleich auf Platz zwei. Die Cluster, die hochschulen, 23 staatliche Fachhochschulen (Hochschu- auch Voraussetzung für die Bewerbung um den Titel Exzel- len für angewandte Wissenschaften, HAW) und die Duale lenzuniversität waren, werden sieben Jahre lang unter- Hochschule mit neun Standorten wollen mehr Geld. Der stützt, nach der Kalkulation der Wissenschaftsministerin Ton in der Auseinandersetzung ist von Anfang an scharf. mit 500 Millionen Euro von Bund und Land. Rektoren schlagen Alarm und geben sich dabei höchst selbstbewusst. Als „überaus erfolgreich und enorm leis- tungsbereit“ skizzierte etwa Bernd Eitel, der Rektor der Universität Heidelberg und damalige Vorsitzende der Uni- versitätsrektoren im Land, die Hochschulen. „Wir sind das Herzstück des Landes, kein Accessoire“, hielt er fest und verlangte, das müsse sich in der Finanzierung niederschla- gen. 1000 Euro mehr pro Studierendem, verlangen die Rektoren der Hochschulen. Dazu jährlich eine dreiprozentige Erhö- hung der Grundfinanzierung und die Überführung von be- fristeten Programmen in die Grundfinanzierung. Sollte der Zuschlag für die staatlichen Hochschulen nicht kommen, drohen sie unverhohlen mit dem Abbau von Studienplät- zen. Immer mehr Studierende habe man auf Wunsch der Politik aufgenommen, die staatliche Finanzierung habe bei weitem nicht Schritt gehalten, führen sie ins Feld. Die HAW meldeten zusammen mit der Dualen Hochschule im Jahr 2019 laut Kultusministerkonferenz rund 35.0 0 0 Stu- dienanfänger im Jahr, mehr als doppelt so viele wie die 15.000 aus dem Jahr 2007. Das Statistische Landesamt ver- zeichnete an den Universitäten eine Steigerung der Zahl der Anfänger von 6000 im Jahr 2007 auf 28.700 im Jahr 2017. Auch Wissenschaftsministerin Bauer gestand zu, dass die Hochschulen mit insgesamt 40 Prozent mehr Stu- dierenden als gut zwölf Jahre zuvor, „enorm gewachsen“ sind. Zur schieren Menge der Köpfe kommt, dass vor allem Stu- dienanfänger zunehmend Unterstützung brauchen und dass das Studienangebot immer vielfältiger geworden ist. Die Rektoren, wie Gerhard Schneider von der HAW Aalen, sehen das Ministerium in der Pflicht, „den drohenden Kol-

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 227227 330.11.200.11.20 08:4308:43 laps im System abzuwenden“. Bernd Eitel klagt, die Univer- sitäten hätten jetzt 3500 Euro weniger pro Student als vor 20 Jahren. „Es lodert an den Hochschulen“, ist seine Be- schreibung des Zustands zu Beginn der Verhandlungen über einen neuen Vertrag, den Grüne und CDU bereits Renate Allgöwer 2016 in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt haben. Wie die Finanzierungsvereinbarung aussehen soll, ist um- stritten. Obwohl die Wissenschaftsministerin frühzeitig er- klärte, „ich teile die Forderungen der Hochschulen“, machte Bastian Kaiser, der Sprecher der HAW-Rektoren „wenig B e re it schaf t in d e r Polit ik “ aus , tat s ächlich me hr G e l d in die Hand zu nehmen. Doch seien zu viele Mitarbeiter befristet angestellt, bei der Digitalisierung hinkten die Hochschulen hinterher. Die Hochschulen bekamen Schützenhilfe von der Wirt- schaft. Die Arbeitgeberverbände forderten die Regierung auf, „die Unterfinanzierung der Hochschulen zu stoppen“, der Industrie- und Handelskammertag trat ebenfalls für eine höhere Grundfinanzierung ein, die den Hochschulen mehr Verlässlichkeit bietet als befristete und gebundene Programmmittel. Am Ende einigte man sich vergleichsweise unspektakulär auf einen neuen Vertrag mit fünfjähriger Laufzeit. Offenbar konnte sich Bauer gegenüber der teilweise zurückhalten- den Finanzministerin durchsetzen. Jedes Jahr werden den Hochschulen 3,48 Milliarden Euro zugesichert, bis zum Jahr 2025 sollen sie 1,8 Milliarden Euro mehr haben als bei Abschluss des Vertrags im März 2020. Um etwa 3,5 Pro- zent im Jahr soll die Grundfinanzierung steigen. Das ent- spricht in etwa den Forderungen des Wissenschaftsrats, denen Baden-Württemberg schon beim Finanzierungsver- trag von 2015 bis 2020 gefolgt war. Die Regierung ver- spricht den Hochschulen, bis 2025 werde es keine Kürzun- terin auf dem zukunftsträchtigen Feld der Künstlichen Intel- gen geben, keine Stelleneinsparungen und keine Haus- ligenz Punkte zu machen, im Zweifel zum Nachteil Bauers. haltssperren. Das Land er wartet im Gegenzug dafür, dass In der Wissenschaftsgemeinde mag die ambitionierte Hei- keine Studienplätze gestrichen werden und die Betreu- delbergerin Bauer ihren Stellenwert haben, außerhalb ungsrelation von Studierenden pro Professor bzw. Profes- wird es eher ruhiger. Daran ändert auch nichts eine wei- sorin verbessert wird. tere Pioniertat, die die Ministerin gut 8000 Kilometer von Die Rektoren wissen die Leistung zu würdigen. Zwar ist es Stuttgart entfernt vollbrachte. nichts geworden mit den 1000 Euro mehr pro Studieren- dem – Bastian Kaiser rechnet an seiner Hochschule in Rot- tenburg mit 500 Euro pro Jahr – doch „es geht aufwärts“, Der Umgang mit kolonialen Kulturgütern bilanzierte der Rektor. Und auch Stephan Dabbert, Rektor der Uni Hohenheim, sagte für die Universitäten, es sei „ein In Namibia brachte die ehrgeizige Theresia Bauer zusam- Zeichen von Zuversicht“, dass das Land mit dem Abschluss men mit ihrer Staatssekretärin Petra Olschowski eine an- der Vereinbarung „Verlässlichkeit demonstriert“. spruchsvolle diplomatische Leistung zustande. Als erstes Da war die Corona-Krise schon im Anzug. Das ganze Aus- Bundesland hat Baden-Württemberg im Februar 2019 Kul- maß ihrer finanziellen Auswirkungen war bei Vertragsab- turgüter aus der Kolonialzeit zurückgegeben. „Das ist ein schluss nicht abzuschätzen. Auch nicht, dass die Digitali- starkes Signal für Namibia wie für ganz Afrika“, hatte etwa sierung in der Pandemie wichtiger wird als je zuvor. Das Andreas Mehler, der Direktor des Arnold-Bergstraesser- Sommersemester 2020 fand quasi virtuell statt. Doch die Instituts für kulturwissenschaftliche Forschung an der Uni- Rektoren haben schon bei Abschluss der Finanzierungsver- versität Freiburg, die Aktion gewürdigt. einbarung beklagt, dass gerade im Bereich Digitalisierung Die Bibel und die Peitsche von Hendrik Witbooi, einem An- Wünsche offengeblieben sind. führer der Nama in Namibia, hat Bauer Ende Februar, be- Der Vertrag umfasst deutlich mehr Geld als der vorausge- gleitet von einem Tross aus namhaften Wissenschaftlern gangene, doch die Ministerin kann ihn nicht in den politi- und Wissenschaftlerinnen sowie einem Vertreter des Bun- schen Erfolg ummünzen, den ihr die Vereinbarung von des, nach Namibia zurückgebracht und damit Neuland 2015 eingetragen hat. Da wurde Bauer gefeiert als Pionie- betreten. In Namibia hätte die Aufmerksamkeit kaum grö- rin, die dem Rat der Wissenschaft folgte und die Grundfi- ßer sein können. Der Pomp ist gewaltig. Mitten in der Dorn- nanzierung (und damit die Planungssicherheit) der Hoch- savanne wird ein glanzvoller Staatsakt zelebriert, der in schulen garantierte. Diesmal blieb es nicht nur wegen der ganz Namibia stundenlang im Fernsehen übertragen wird. Corona-Krise ruhig. Die Kulturgüter werden auf dem Weg von Windhuk ins 350 Bauers Standing in der Regierung ist geschwächt. Immer Kilometer entfernte Gibeon in drei Städten monstranzartig öfter versuchte beispielsweise die CDU-Wirtschaftsminis- präsentiert. Vor allem Schulklassen pilgern nach stunden-

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 228228 330.11.200.11.20 08:4308:43 GRÜN-SCHWARZE WISSENSCHAFTSPOLITIK

ihr in Namibia zukommt, sagt der Landespolitikerin sicht- lich zu, und der Staatspräsident zeigt sich geneigt. Das Die Bibel und die Peitsche von Land wartet seit Jahren auf eine deutsche Entschuldigung. Hendrik Witbooi (Die Auf- Bis dato kam kein Bemühen in Namibia positiv an. Doch zu nahme zeigt die beiden Expo- Theresia Bauer sagt Staatspräsident Hage Gottfried nate, die bis zu ihrer Rückgabe Geingob, „das ist eine echte Entschuldigung“. Die „Hei- im Stuttgarter Linden-Museum lung“ der Wunden aus der deutschen Kolonialzeit habe ausgestellt wurden). Hendrik begonnen. Witbooi kämpfte als Anführer Die Mission ist erfolgreich erfüllt. Zwei Wochen nach der der Nama in den Jahren 1904 Rückkehr der Delegation aus dem südwestlichen Afrika und 1905 gegen die deutschen werden die Kultusminister der Länder ein Eckpunktepapier Kolonialtruppen in Namibia. präsentieren, das das Vorgehen Baden-Württemberg be- Die Exponate wurden 2019 stätigt. Baden-Württemberg legt eine Namibia-Initiative von Theresia Bauer, begleitet vor. „Die deutsche Kolonialgeschichte ist eine Lücke in un- von Wissenschaftlerinnen und serem Gedächtnis“, sagt Bauer nach der Reise im Landtag. Wissenschaftlern, nach Nami- Diese zu schließen ist nun der gemeinsame Anspruch von bia zurückgebracht. Sie ent- Grünen, CDU und SPD im Landtag. schuldigte sich für die Massa- Doch der glanzvolle Auftritt in der namibischen Savanne ker an den Nama und die im hat für Bauer keine anhaltende Strahlkraft in die Landes- Kolonialkrieg begangenen politik nach Stuttgart hinein. Ungerechtigkeiten, ohne den Hier wirft die sogenannte Zulagenaffäre um die Hoch- seinerzeit im Zusammenhang schule Ludwigsburg ihre langen Schatten. Bauers Ma- mit den Kolonialkriegen kont- nagement der fragwürdigen Zulagen und ihr Umgang mit rovers diskutierten Begriff Völ- den Vorwürfen überzeugen nicht. Auch der Umgang mit kermord zu gebrauchen. den Studiengebühren und die holprige Reform des Lan- picture alliance/dpa deshochschulgesetzes schmälern das politische Gewicht der dreimaligen Wissenschaftsministerin des Jahres. Sie schaden Bauer vor allem in ihrer Partei – mehr noch als in langer Wartezeit in der drückenden Hitze an den Stücken der Koalition. vorbei. Überall spielen die Blaskapellen, ohne National- hymne geht kein Stopp zu Ende. Die Mission ist ein Wagnis. So richtig weiß niemand, ob Die unterschätzten Studiengebühren sich das Vorangehen Baden-Württembergs zuhause aus- zahlen wird und wie die Aktion überhaupt in Namibia an- Der Koalitionsvertrag von 2016 verspricht „Wir führen kommen wird. Noch am Abend vor dem Staatsakt in Gi- keine allgemeinen Studiengebühren ein“. Doch vom Win- beon müssen Bauer und einige mitreisende Experten plötz- tersemester 2017/18 an bittet das Land Studierende, die lich bei der Delegation aufgetauchte Vertreter der aus Ländern von außerhalb der europäischen Union kom- namibischen Clans, die unterschiedliche Ansprüche vor- men, mit 1500 Euro pro Semester zur Kasse. Das empört die bringen, besänftigten. Grüne Jugend besonders. Lauter Protest kommt von der Zuhause ist die Sache umstritten und der Ausgang offen. oppositionellen SPD. In der ersten Regierung Kretschmann, Sicherheitshalber zieht der Koalitionspartner CDU sein als die SPD Koalitionspartner der Grünen war, hatte Ba- gesetztes Delegationsmitglied kurz vor der Abreise zurück. den-Württemberg bereits im Jahr 2012, ein Jahr nach der Doch Bauer findet in der staubigen Savanne die richtigen Übernahme der Regierung durch Grün-Rot, die allgemei- Worte auf dem glatten diplomatischen Parkett. Sie nimmt nen Studiengebühren von 500 Euro pro Semester abge- den Begriff Völkermord nicht in den Mund, denn darüber schafft. Die Wissenschaftsministerin Bauer und auch Mi- wird auf Bundesebene im Zusammenhang mit dem Koloni- nisterpräsident Kretschmann hatten dem starken Drängen alkrieg in Namibia zu der Zeit heftig gerungen. Doch sie der SPD dabei eher zurückhaltend nachgegeben. entschuldigt sich im Beisein des namibischen Staatspräsi- Die Gebühren für internationale Studierende verteidigte denten mehrfach. Sie bedauert „das Massaker von Horn- Bauer als „moderate Eigenbeteiligung“. Darüber hinaus kranz“ ebenso wie „die Ungerechtigkeiten, die begangen seien sie „europäischer Standard“. Die Höhe der Summe wurden“. Es tut ihr „sehr leid, dass die Rückgabe der Kultur- bewege sich im internationalen Vergleich „im unteren Mit- güter so lange gedauert hat“. telfeld“. 300 der 1500 Euro seien für die bessere Betreuung Bibel und Peitsche Hendrik Witboois, der inzwischen in der Studierenden vorgesehen. Namibia zum Nationalhelden stilisiert wird, lagerten jah- Zehn Millionen Euro an Einnahmen erhofft sich Baden- relang in den Magazinen des Stuttgarter Linden-Muse- Württemberg im ersten Jahr, wenn nur die Neueingeschrie- ums. Die Anfrage Namibias nach der Rückgabe von Bibel benen zahlen. Später, im Endausbau, schwanken die Hoff- und Peitsche stammt immerhin aus dem Jahr 2013. nungen zwischen 30 und 45 Millionen, die in die Landes- Bauer macht klar, dass sie als die baden-württembergische kasse fließen sollen. So könnten laut Koalition Mittelkürzun- Wissenschaftsministerin nicht zuständig ist für die interna- gen im Hochschulbereich vermieden werden. Winfried tionalen Belange der Bundesrepublik. Aber die Rolle, die Kretschmann bezeichnete die Einführung der Gebühren

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 229229 330.11.200.11.20 08:4308:43 vieldeutig als „mutig“. Der liberale Wissenschaftspolitiker Konflikte mit der Partei Nico Weinmann dagegen spricht von einer „grünen Ab- sonderlichkeit“. Er bezweifelt auch die Höhe der von der Einen schweren Konflikt mit der Parteilinie hatte Bauer auch Koalition erhofften Einnahmen. i m S o m m e r 2 0 2 0 a u s z u t r a g e n . G e n t e c h n i k w a r d a s S c h l a g - Der Verwaltungsaufwand ist hoch. Das hat dazu geführt, wort, das die Partei umgehend auf die Palme brachte. Renate Allgöwer dass Bauers Erwartungen sich nicht erfüllten. Die Ministerin Selbst Kabinettskollegen der forschen Wissenschaftsmi- hatte Baden-Württemberg einmal mehr als Vorreiter gese- nisterin schüttelten den Kopf über die wachsende Partei- hen und war davon ausgegangen, dass andere Bundeslän- ferne Bauers und orakelten, ob die Ministerin (Jahrgang der dem Beispiel folgen würden. Bayern hat jedoch frühzei- 1965) zunehmend bei der Wissenschaftsgemeinde gut da- tig abgewinkt. Nordrhein-Westfalen hatte Bauer lange stehen wolle, weil sie eventuell über eine Karriere außer- Zeit als Nachahmerland gehandelt. In Düsseldorf hatten halb der Politik nachdenke. CDU und FDP die Absicht, die Gebühren für internationale Was die Partei so sehr empörte, war ein Forschungspro- Studierende einzuführen, immerhin in ihren Koalitionsver- gramm über den Einsatz von moderner Gentechnik inklu- trag aufgenommen. Nach zweijähriger Debatte hat das sive Freilandversuchen. b e v ö l ke r u n g s r e i c h s t e B u n d e s l a n d j e d o c h i m J a h r 2 019 e n d - Im Koalitionsvertrag bekennen sich Grüne und CDU zu gültig abgewinkt mit der Begründung, Verwaltungsaufwand gentechnikfreier Landwirtschaft: „Wir wollen, dass der und Ertrag stünden in keinem vertretbaren Verhältnis. Pflanzenanbau in Baden-Württemberg weiterhin gentech- Bauer hat das Unterfangen reichlich Ärger eingetragen. nikfrei bleibt. Den Anbau gentechnisch veränderter Pflan- Die Anmeldezahlen von Studierenden aus den Nicht-EU- zen werden wir untersagen, weil in der kleinräumigen Ag- Staaten gingen zurück. Die SPD sprach gar von einem „ge- rarstruktur Baden-Württembergs eine Koexistenz mit dem waltigen Rohrkrepierer“. Besonders der Parteinachwuchs konventionellen und ökologischen Landbau sowie mit Im- der Grünen nahm Bauer die Entscheidung übel. Ihr Rück- kern nicht gewährleistet ist“, heißt es in der Vereinbarung. halt in der Partei war so stark gesunken, dass die Heidel- Bauer hatte ein Forschungsprogramm über fünf Millionen bergerin, die seit 2001 im Landtag sitzt, im Jahr 2017 auf Euro ausloben wollen. „Genome Editing – mit Biotechnolo- eine Bewerbung für den Parteivorstand der Grünen ver- gie zu einer nachhaltigen Landwirtschaft“ lautete der Titel. zichtete. 2011, mit Eintritt in die Regierung, war sie aus dem Es sollte Fragen zur Technikfolgenabschätzung und zur Parteirat ausgeschieden. Erst 2016 kehrte sie zurück in die Ethik beleuchten. Es richtete sich neben den Hochschulen Führungsebene der Partei, mit dem Ziel, Partei und Regie- auch an Umweltverbände. Mit dem Verfahren, so erklären rungsarbeit besser zu vernetzen. Bei der Wahl erzielte sie Wissenschaftler in einem Brief an den Ministerpräsidenten jedoch ein schlechtes Ergebnis. Schon da hatten ihre Winfried Kretschmann im Sommer 2020, sollen in vorhan- Pläne, die Studiengebühren einzuführen, sich negativ auf denen Genen von Pflanzen mittels eines quasi chirurgi- ihren Rückhalt in der Partei ausgewirkt. schen Eingriffs kleine Mutationen ausgelöst werden. Diese

Ein usbekischer Student hält vor dem Verwaltungsgericht in Stuttgart den Gebührenbe- scheid der Universität Hohen- heim in seiner Hand. Der Stu- dent klagte gegen die Studiengebühren für Studie- rende aus Nicht-EU-Ländern. Die Studiengebühren führten zu lauten Protesten – nicht nur bei der Opposition, auch beim Parteinachwuchs der Grünen. Letztlich erlitt das Vorhaben Schiffbruch, da es sich abzeich- nete, dass Aufwand und Ertrag in keinem vertretbaren Ver- hältnis stehen würden. picture alliance/dpa

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 230230 330.11.200.11.20 08:4308:43 seien von natürlich auftretenden Mutationen nicht unter- GRÜN-SCHWARZE WISSENSCHAFTSPOLITIK scheidbar. Bei der „Erforschung, Freisetzung und Nutzung von mit Genome Editing erzeugten Pflanzen“ sei „kein er- höhtes Risiko für Mensch und Umwelt zu erwarten“. Für Pflanzenforschung und Pflanzenzüchtung seien jedoch dere des möglichen pflichtwidrigen Verhaltens von Minis- Freilandversuche unerlässlich, schreiben 120 deutsche terin Bauer“ war auch die Aufklärungsarbeit. Die Vorwürfe Wissenschaftler an den Biologen Winfried Kretschmann. gegen Bauer waren gravierend. Sie habe gelogen, sie Dieser hatte mit einem spektakulären Machtwort das Pro- habe zu spät eingegriffen, sie habe die Tragweite der Af- gramm Bauers „auf Eis gelegt“, nachdem die Landtagsfrak- färe nicht erkannt – die Opposition vermisste alles in allem tion der Grünen heftig gegen die Ausschreibung des For- den Aufklärungswillen der Ministerin. schungsprogramms protestiert hatte. Damit hatte der Re- Am Ende des Untersuchungsausschusses im Oktober 2019 gierungschef seiner ehemals potenziellen „Kronprinzessin“ sahen nur Bauers Grüne ihre Ministerin entlastet. Die Vor- eine schwere öffentliche Schlappe zugefügt. wür fe hät ten sich „völlig in Luf t aufgelöst“, bilanzier te Tho- Die Wissenschaft hingegen sprang „ihrer“ Ministerin bei. mas Hentschel, der Obmann der Grünen im Ausschuss. Der Die Entscheidung, das Programm zurückzunehmen, „hat Ausschuss habe „deutlich gezeigt, dass Bauer und ihr Mi- uns irritiert und besorgt“, schreiben die Wissenschaftler. nisterium versagt haben“, blieb dagegen die Position der „Sie schadet sowohl dem Wissenschaftsstandort Baden- SPD. Auch die FDP befand, die Ministerin habe sich unter Württemberg als auch Deutschland massiv“, klagten die dem „Deckmantel der Hochschulautonomie“ zu lange aus Unterzeichner eines offenen Briefes. Sie berufen sich auf der Problematik herausgehalten. die Unabhängigkeit der Wissenschaft. Diese sei „von im- In der Sache zog Bauer durchaus Konsequenzen. Selbst- menser Bedeutung, um evidenzbasierte Lösungsstrategien kritisch, aber sehr spät, räumte sie im März 2020 im Rück- für eine nachhaltige Landwirtschaft in Anbetracht globa- blick ein, „man hätte Fehler vermeiden können, hätte man ler ökologischer Krisen zu entwickeln“, argumentieren die den Umstellungsprozess enger begleitet“. Ludwigsburg Forscher. Die Biobauern im Land warfen der Wissen- sieht sie keineswegs als Einzelfall. Mindestens an jeder schaftsministerin dagegen einen „Frontalangriff“ auf den dritten Hochschule seien wohl Verfahrensfehler gemacht ökologischen Landbau vor. Die Grünenfraktion hatte die wo rd e n, s o di e M inis te r in . A ll e rdin gs e r war te t s i e, d as s di e Risiken der Gentechnik in den Vordergrund gestellt. allermeisten Fehler „heilbar“ seien. In Zukunft sollen die Hochschulen mehr Rechtssicherheit bekommen. Die 15 Jahre alte Praxis wird geändert. Zwar Der lange Schatten der Zulagenaffäre wolle das Ministerium die Entscheidung über Leistungsbe- züge in Zukunft nicht an sich ziehen, „aber enger beglei- Die schwersten Probleme ihrer zweiten Amtszeit bereitete ten, ob die Entscheidungen rechtskonform sind“, versichert der Wissenschaftsministerin jedoch der Umgang mit der Bauer. Umstellung der Professorenbesoldung auf die leistungsori- Die Folgeschäden für Bauer sind nachhaltig. Zweifel an ih- entiere sogenannte W-Besoldung. Die Änderung der Be- rem Krisenmanagement haften nach wie vor an der Minis- soldungsstruktur ist zwar eine bundesweite Reform, doch terin. Auch nach dem Abschluss des Untersuchungsaus- sie brachte die baden-württembergische Wissenschafts- schusses behielten sich die Oppositionsparteien vor, ihre ministerin in eine besondere Bredouille, die schließlich in bereits mehrfach geäußerten Rücktrittsforderungen ge- einem Untersuchungsausschuss des Landtags kulminierte gen Bauer eventuell zu wiederholen. und der Ministerin diverse Rücktrittsforderung eintrug. Die Neuregelung – Absenkung der Grundgehälter und Einführung von Leistungszulagen – war Anfang der 2000er- Jahre mit der zunehmenden Stärkung der Hochschulauto- nomie zusammengefallen. Bauer betonte, „das Ministe- rium spielte damals keine Rolle, das war nicht gewünscht“. Hochschulen in allen Bundesländern hatten Schwierigkei- ten mit der von den etablierten Professoren und Professo-

rinnen ungeliebten Reform. Doch in Baden-Württemberg UNSERE AUTORIN bekam die holprige Strukturveränderung wie Bauer selbst sagte, „eine besondere öffentliche Aufmerksamkeit“. An der Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finan- zen in Ludwigsburg hatte die Aufklärung über die Recht- mäßigkeit von Zulagen für Professoren zu besonderen Tur- bulenzen geführt, die schließlich in die Abwahl der Rekto- rin Claudia Stöckle mündeten. Theresia Bauer hatte in der jahrelangen Auseinanderset- zung und langwierigen Aufarbeitung keine überzeugende Position gefunden. Auch der Umgang mit dem zweieinhalb Jahre sich hinziehenden Untersuchungsausschuss zur Zu- Renate Allgöwer ist Redakteurin bei Stuttgarter Zeitung/Stuttgar- lagenaffäre Ludwigsburg war nicht souverän. So sperrig ter Nachrichten. Seit dem Jahr 2000 beobachtet sie die Landes- wie sein Titel „Aufklärung der Vorgänge an der Hochschule politik, ihr langjähriger Schwerpunkt ist die Bildungspolitik. Sie für öffentliche Verwaltung und Finanzen Ludwigsburg hat in Tübingen Germanistik und Anglistik studiert und in Schwä- (HVF) und der Rolle des Ministeriums für Wissenschaft, For- bisch Hall volontiert. schung und Kunst Baden-Württemberg (MWK), insbeson-

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 231231 330.11.200.11.20 08:4308:43 FINANZ-, WIRTSCHAFTS- UND ARBEITSMARKTPOLITIK Die Finanz-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der grün-schwarzen Landesregierung Felix Hörisch

tagswahl 2016 vorgenommen? Welche Schwerpunkte leg- Wie hat sich der Regierungswechsel von Grün-Rot zu ten die Grünen und die CDU im Vergleich zur vorher mit- Grün-Schwarz auf die Finanz-, Wirtschafts- und Arbeits- regierenden SPD? Und welche dieser Schwerpunktsetzun- marktpolitik ausgewirkt? Erste Rückschlüsse auf inhaltli- gen findet sich auch im gemeinsamen Koalitionsvertrag che Schwerpunkte und politische Maßnahmen sowie von Grün-Schwarz wieder? Zweitens soll ein Überblick Reformaktivitäten ergeben sich aus einem Vergleich der über die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die Wahlprogramme mit dem grün-schwarzen Koalitionsver- wesentlichen tatsächlich getätigten Reformen der zweiten trag. (Trotz klassischer Parteidifferenzen und je eigenem Landesregierung Kretschmann gegeben werden. Wie be- Markenkern reklamierten im Übrigen die Grünen, CDU einflusste die wirtschaftliche Lage und das finanzpoliti- und SPD die gute Entwicklung des Haushalts gleicherma- sche Umfeld während der Legislaturperiode die Politik des ßen für sich.) Die Aktivitäten und Reformen in den jewei- zweiten Kabinetts von Kretschmann? Wie beeinflusste die ligen Politikfeldern sind maßgeblich von den wirtschaft- Schuldenbremse, nach der alle Bundesländer spätestens lichen Rahmenbedingungen abhängig. Felix Hörisch er- 2020 einen ausgeglichenen Haushalt präsentieren müs- örtert das sehr günstige wirtschaftliche Umfeld, in dem sen, die Politik von Grün-Schwarz? Abschließend soll drit- sich die Finanz-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik tens eine Einordnung der durchgeführten Reformen vorge- Baden-Württembergs bis zur Corona-Pandemie vollzog nommen und die Finanz-, Wirtschafts- und Arbeitsmarkt- und skizziert sodann die eher verhaltenen Reformaktivi- politik der ersten grün-schwarzen Landesregierung täten in den ersten vier Jahre der Legislaturperiode. Das Deutschlands im Vergleich zum ersten Kabinett Kretsch- letzte Jahr der Regierungskoalition stand ganz im Zei- mann sowie im Bundesländervergleich bewertet werden. chen der Corona-Pandemie, die einen entschiedenen sozioökonomischen Handlungsbedarf entstehen ließ. Trotz diverser Hilfsprogramme wird deutlich, dass Ba- den-Württemberg eines der wirtschaftlich am stärksten vom Corona-Virus betroffenen Bundesländer ist. Auf- grund der starken industriellen Basis und der hohen Ex- portorientierung ist das Wirtschaftsmodell des Landes, das in stabilen Zeiten zu Wohlstand und Wachstum führt, in Krisenzeiten verletzlich.

Einleitung

Nach den Landtagswahlen im März 2016 kam in Baden- Württemberg mit der Koalition aus Grünen und der CDU zum zweiten Mal in einem deutschen Bundesland eine Ko- Baden-Württembergs Finanz- alition unter einem grünen Ministerpräsidenten zustande. ministerin Edith Sitzmann Winfried Kretschmann konnte sich erfolgreich im Amt be- (Bündnis 90/Die Grünen) haupten, statt mit der SPD ging er aufgrund der neuen spricht bei einer Sitzung zur Mehrheitsverhältnisse eine Koalition mit der CDU ein. Die Verabschiedung des Landes- Frage, die in diesem Artikel gestellt und beantwortet wer- haushalts 2018/2019 im Land- den soll, ist, wie sich dieser partielle Regierungswechsel tag in Stuttgart. In der Finanz- von Grün-Rot zu Grün-Schwarz in den genannten Politik- politik profitierte die Landesre- feldern auf die durchgesetzten Policies in Baden-Württem- gierung bis zum Ausbruch der berg ausgewirkt hat. Corona-Pandemie von der Diese Fragestellung wird dabei in drei Schritten beantwor- guten konjunkturellen Entwick- tet. Zunächst sollen erstens die Wahlprogramme von Grü- lung und konnte so in jedem nen, CDU und SPD zur Landtagswahl 2016 miteinander Jahr einen ausgeglichenen und mit dem anschließend ausgehandelten grün-schwar- Haushalt präsentieren, sogar zen Koalitionsvertrag verglichen werden. Was fällt im Ver- Überschüsse erzielen und gleich der jeweiligen Wahlprogramme untereinander auf? Schulden tilgen. Was haben sich die verschiedenen Parteien vor der Land- picture alliance/dpa

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 232232 330.11.200.11.20 08:4308:43 Die Wahlprogramme und der Koalitionsvertrag im DIE FINANZ-, WIRTSCHAFTS- UND ARBEITSMARKTPOLITIK Vergleich DER GRÜN-SCHWARZEN LANDESREGIERUNG

Vergleicht man die Wahlprogramme der Regierungspar- teien der aktuellen und der vorangegangenen Legislatur- gramm 2016). Interessant ist hierbei zum einen, dass die periode – der Grünen, der CDU und der SPD – zur Land- drei Parteien in einen regelrechten Wettstreit darum ein- tagswahl 2016 miteinander, so ergeben sich erste aussa- treten, wem die – neben einzelnen Reformen wie der gekräftige Unterschiede in der Stellung der Politikfelder in Grunderwerbssteuererhöhung 2011 hauptsächlich auf der den Wahlprogrammen sowie ihrer thematischen Einbet- starken konjunkturellen Entwicklung beruhenden (vgl. Hö- tung. So platzieren die Grünen die Wirtschaft unter dem risch 2017) – gute Entwicklung der Landeshaushalte in Ba- Motto „Unser Erfolgsrezept für Baden-Württemberg: Wirt- den-Württemberg zuzuschreiben ist. Dies reklamieren alle schaftskraft und Nachhaltigkeit“ an vorderster Stelle im drei Parteien gleichermaßen für sich: Heißt es bei den Grü- Vergleich der 14 behandelten Politikfelder, und verknüpfen nen „Die GRÜN-geführte Landesregierung hat in einem es zugleich überaus eng mit dem Nachhaltigkeitsaspekt ersten Schritt die Neuverschuldung deutlich reduziert, und (Grünes Landtagswahlprogramm 2016). An zweiter Stelle hat in vier von fünf Jahren keine neuen Schulden aufge- folgt die Finanzpolitik, die unter dem Leitmotiv „Schulden nommen. Das hat keine baden-württembergische Landes- sind von gestern: Verantwortungsbewusst mit Finanzen regierung vor uns geschafft“ (Grünes Landtagswahlpro- umgehen“ sehr stark auf Konsolidierungspolitik als Form gramm 2016: 50), so beansprucht auch die SPD diese Ent- der Generationengerechtigkeit abzielt. An vierter Stelle wicklung für sich: „Nils Schmid ist der erfolgreichste wird die Sozialpolitik behandelt, die – wenn auch nur eher Finanzminister in der Geschichte unseres Landes. Viermal knapp – auch die Arbeitsmarktpolitik umfasst. Bei der SPD innerhalb einer Legislaturperiode hat er einen Haushalt bildet das Politikfeld Wirtschaft und Arbeit den ersten von ohne neue Schulden vorgelegt – und das obwohl die Vor- 17 thematischen Schwerpunkten des Landtagswahlpro- gängerregierung ein strukturelles Defizit von 2,5 Milliar- gramms, gefolgt vom arbeitsmarktpolitischen Thema der den Euro hinterlassen hatte. (…) Wir haben gezeigt: Es Fachkräftesicherung. Die Finanzpolitik wird dagegen unter sind die Roten, die für schwarze Zahlen stehen“ (SPD Re- den Aspekten „Solide Finanzen“ und „Steuergerechtigkeit“ gierungsprogramm 2016: 73). Und auch die CDU rekla- als letztes Politikfeld behandelt (SPD-Regierungspro- miert – sowohl unter Verweis auf die Bundes- wie auch die gramm 2016). In ähnlicher Reihenfolge, jedoch etwas wei- Landespolitik – diese Politik für sich: „CDU-Politik hat die ter hinten, finden sich die Politikfelder Wirtschaft (Platz 5 Neuverschuldung beendet. (…) Wir stehen für eine solide von 20 behandelten Politikfeldern), Arbeit (6 von 20) und Finanzpolitik, die nicht zulasten künftiger Generationen Finanzen (19 von 20) bei der CDU (CDU-Regierungspro- geht. Landespolitisch waren es deshalb wir, die schon 2008 eine klare Schuldenbremse in die Landeshaushalts- ordnung aufgenommen haben und im gleichen Jahr einen Haushalt ohne neue Verschuldung erreicht und dies im Jahr 2009 ebenso fortgesetzt haben“ (CDU-Regierungs- programm 2016: 142). Zum zweiten zeigen – neben diesen Gemeinsamkeiten – die spezifischen Schwerpunktsetzun- gen in den Wahlprogrammen der Verknüpfung von Finanz- und Wirtschaftspolitik mit Nachhaltigkeitsaspekten bei den Grünen, der starken Betonung des Themas gute Arbeit und Arbeitsbedingungen bei der SPD sowie von Wirt- schaftspolitik nebst Forderung nach der (Wieder-)Einfüh- rung eines eigenen Wirtschaftsministeriums auf Landes- ebene bei der CDU klassische Parteiendifferenzen auch auf Landesebene auf, wie sie die Parteiendifferenztheorie (Hibbs 1977; Schmidt 2010; Wenzelburger 2015) auch er- warten ließ. Der Parteiendifferenztheorie zufolge beein- flussen die ideologischen Unterschiede zwischen den Par- teien in der inhaltlichen Positionierung von (Regierungs-) Parteien die inhaltlichen Schwerpunktbesetzungen sowie die durchgeführten Politiken bzw. Policies von (in diesem Fall Landes-)Regierungen in beträchtlichem Ausmaß (Wen- zelburger 2015). Auch im Koalitionsvertrag zwischen Grünen und CDU fin- den sich entsprechend der oben skizzierten Gemeinsam- keit klare Festlegungen auf ausgeglichene Haushalte: „Grüne und CDU eint auch das Bestreben, die finanziellen Gestaltungsspielräume zukünftiger Generationen zu er- halten. Eine nachhaltige Finanzpolitik hat für uns eine hohe Bedeutung. Wir wollen weder in f i n a n z i e l l e r n o ch i n ö ko l o - gischer Hinsicht auf Kosten unserer Kinder leben. Deshalb ist die Konsolidierung des Landeshaushalts und die Einhal- tung der Schuldenbremse ein zentrales Ziel unserer Koali- tion“ (Koalitionsvertrag 2016: 5) sowie „Für alle finanzwirk-

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 233233 330.11.200.11.20 08:4308:43 samen Maßnahmen gilt ein Haushaltsvorbehalt. Die Koa- Abbildung 1: lition verpflichtet sich, strukturelle Einsparungen in Höhe Die Entwicklung des Wirtschaftswachstums in von rund 1,8 Milliarden Euro in der Endstufe bis 2020 zu Baden-Württemberg

Felix Hörisch realisieren“ (Koalitionsvertrag 2016: 11). Entsprechend wurde das Ziel ausgeglichener Haushalte bis zum Aus- bruch der Corona-Pandemie auch eingehalten (siehe un- ten). Darüber hinaus finden sich im Koalitionsvertrag ne- ben zahlreichen eher vagen Absichtserklärungen, wie etwa „bürokratische Belastungen abzubauen, ist dabei ein wichtiges Ziel“, auch viele Hinweise auf Kontinuität: So sol- len die bereits vorher eingeführte „Allianz für Fachkräfte“ und „Welcome Center“ ebenso weitergeführt werden wie der eingerichtete TTIP-Beirat und das arbeitsmarktpoliti- sche Modellprojekt zum Passiv-Aktiv-Tausch (Koalitions- vertrag 2016: 16–17 sowie 91). Einer Bestandsaufnahme und (kritischen) Evaluation sollen laut grün-schwarzem Ko- alitionsvertrag dagegen die zuvor von der grün-roten Lan- Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Daten des Statistischen Landes- desregierung eingeführten Reformen im Tariftreue- und amts (2020). Mindestlohngesetz (Koalitionsvertrag 2016: 17) und zum Bildungszeitgesetz (Koalitionsvertrag 2016: 90) unterzo- gen werden. Abbildung 2: Die Entwicklung der Arbeitslosenquote in Baden-Württemberg Überblick über die Finanz-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik von Grün-Schwarz

Die Finanz- und die Wirtschaftspolitik ist zu den Politikfel- dern zu zählen, in denen der landespolitische Handlungs- spielraum als mittelgroß einzuschätzen ist (vgl. Hilde- brandt 2016; Reus; 2016; Hörisch 2017), im Bereich der Ar- beitsmarktpolitik dagegen als eher gering (vgl. Stoy 2016; Bandau 2017; Hörisch/Wurster 2019). Dies ist unter ande- rem darauf zurückzuführen, dass die meisten Steuerge- setzgebungskompetenzen nicht in der (alleinigen) Kompe- tenz der Bundesländer liegen. Jedoch gibt es auch reine Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Daten der Arbeitsmarktstatistik Landessteuern, wie insbesondere die Grunderwerbs- der Bundesagentur für Arbeit (2020). steuer, über deren Höhe die Länder unabhängig entschei- den können und deren Aufkommen auch alleine den jewei- ligen Ländern zusteht. Zu den Landessteuern, deren Ertrag Abbildung 3: gemäß Artikel 106, Absatz 2 des Grundgesetzes allein Die Entwicklung der Schuldenquote in Baden-Württemberg den jeweiligen Bundesländern zufließt, zählen zudem die Erbschaftsteuer, die Rennwett- und Lotteriesteuer, die Bier- steuer, die Feuerschutzsteuer sowie die Spielbankenab- gabe. Vor dem Hintergrund dieser mittleren Handlungs- spielräume in der Finanz- und Wirtschaftspolitik und den eher begrenzten Spielräumen in der Arbeitsmarktpolitik soll im Folgenden ein Überblick sowohl über die wirtschaft- liche Entwicklung während der grün-schwarzen Regie- rungszeit wie auch die wesentlichen tatsächlich getätigten Reformen der zweiten Landesregierung Kretschmann in diesen Politikfeldern gegeben werden.

Finanz-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik Quelle: Eigene Darstellung und Berechnung auf Basis der Daten des Ar- in Aufschwungszeiten beitskreises Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder (2020) sowie des Portals „Deutschland in Zahlen“ (2020). Betrachtet man die wirtschaftliche Entwicklung Baden- Württembergs während der Legislaturperiode 2016–2021 anhand der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts und einem sehr günstigen wirtschaftlichen Umfeld gestalten der Arbeitslosigkeit im Land (vgl. Abbildung 1 und 2), so konnte. So profitierte Baden-Württemberg als klassisches zeigt sich, dass die grün-schwarze Landesregierung zu- Industrieland mit einer hohen Exportquote (Hörisch 2015) nächst – wie auch schon die grün-rote Vorgängerregie- in der 16. Legislaturperiode des Landtags zum Teil beson- rung (vgl. Hörisch und Wurster 2017a; Hörisch/Wurster ders stark von der günstigen wirtschaftlichen Entwicklung 2017b) – Finanz-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik in in Deutschland, bis der Ausbruch der Corona-Pandemie im

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 234234 330.11.200.11.20 08:4308:43 Frühjahr 2020 für einen tiefen Wirtschaftseinbruch sorgte DIE FINANZ-, WIRTSCHAFTS- UND ARBEITSMARKTPOLITIK (siehe unten). So lag das Wirtschaftswachstum in Baden- DER GRÜN-SCHWARZEN LANDESREGIERUNG Württemberg in den Jahren 2017 und 2018 sowohl deut- lich über dem gesamtdeutschen Durchschnitt wie auch dem Mittelwert der westdeutschen Länder. In den Jahren 2018 sank, bevor sie – insbesondere auch aufgrund der 2016 (um ca. einen Prozentpunkt) und 2019 (um ca. einen Abkühlung der Konjunktur (siehe oben) im Jahr 2019 wie- halben Prozentpunkt) lag es jedoch unter den Durch- der auf 8,36 Prozent des Bruttoinlandsprodukts des „Länd- schnittswerten der anderen Bundesländer, worin sich eine les“ anstieg. größere Schwankung und Spannbreite der überproportio- nal exportabhängigen baden-württembergischen Wirt- schaft zeigt. Die Reformen der grün-schwarzen Landesregierung Auch die Entwicklung der Arbeitslosenquote, die von 3,8 im Überblick Prozent in den Jahren 2015 und 2016 auf 3,2 Prozent in 2018 und 2019 sank und damit im Laufe der gesamten Le- Wie hat die grün-schwarze Landesregierung die aus die- gislaturperiode stetig auf einem sehr niedrigen Level der sen vergleichsweise günstigen wirtschaftlichen Rahmen- Vollbeschäftigung blieb, zeigt die positive Entwicklung der bedingungen entstandenen Spielräume genutzt? Welche Wirtschaft während der grün-schwarzen Legislatur. Dies Reformen im Bereich der Finanz-, Wirtschafts- und Arbeits- zeigt auch der Vergleich mit den westdeutschen Bundes- marktpolitik wurden im Laufe der Regierungszeit des zwei- ländern, in denen die Arbeitslosigkeit (von mit ebenfalls ten Kabinetts Kretschmanns umgesetzt? 6,25 Prozent in 2016 auf 5,35 Prozent in 2019) etwas gerin- Mit dem Amtsantritt der Regierung Kretschmann wurde ger sank als im gesamten Bundesgebiet (von 6,1 Prozent gleich die erste institutionelle Neuerung im Bereich der Fi- 2016 auf 5,0 Prozent im Jahr 2019). nanz- und Wirtschaftspolitik der grün-roten Landesregie- Dementsprechend lag auch die Verschuldung weiterhin rung wirksam. Der „halbe Regierungswechsel“ von Grün- unter dem Durchschnittswert der westdeutschen Bundes- Rot zu Grün-Schwarz ging in der Finanz-, Wir tschafts- und länder (siehe Abbildung 3), wobei hierbei die Einführung Arbeitsmarktpolitik mit neuen ministeriellen Zuschnitten der Schuldenbremse für die Bundesländer ab dem Jahr einher. Lag die Verantwortung für diese Politikfelder unter 2020 (zumindest theoretisch) eine gewisse Beschränkung der grün-roten Landesregierung in allen drei Politikfeldern der Handlungsmöglichkeiten der Landesregierung im Hin- in der Hand von SPD-Landesministern, wechselte das Fi- blick auf zusätzliche Kreditaufnahmen darstellte, was je- nanzministerium im Rahmen des neuen Ressortzuschnitts doch aufgrund der guten konjunkturellen Entwicklung in nun in grüne Hand. Die Grünen-Politikerin Edith Sitzmann der Praxis keine größeren Einschränkungen für die grün- wurde Ministerin für das wieder eigenständige Finanzmi- schwarze Landesregierung implizierte. Bemerkenswert für nisterium, während die Kompetenz in der Wirtschafts- und Baden-Württemberg ist hierbei, dass die Schuldenquote Arbeitsmarktpolitik an die CDU ging. Diese nominierte mit zunächst von 8, 55 Prozent im Jahr 2016 auf 6,90 Prozent in Nicole Hoffmeister-Kraut ebenfalls eine Frau – und zudem

Tabelle 1: Vergleich der Finanz-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitiken von Grün-Rot und Grün-Schwarz

Grün-Rot Grün-Schwarz Politikfeld (Kabinett Kretschmann I, 2011–2016) (Kabinett Kretschmann II, 2016–2021) Finanz- und Wirtschaftsministerium in einer Eigenständiges Finanzministerium; Hand; Wirtschaft und Arbeit im Ministerium für Ministeriumszuschnitt Arbeitsmarktpolitik im Ministerium für Arbeit Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau und Soziales Finanzen und Wirtschaft: SPD (Nils Schmid) Finanzen: Grüne (Edith Sitzmann) Parteipolitische Arbeit und Soziales: SPD (Katrin Altpeter) Wirtschaft und Arbeit: CDU (Nicole Hoff- Zuständigkeit meister-Kraut) Grunderwerbssteuer Erhöht (von 3,5 % auf 5 %) Konstant bei 5 % expansiv wenig Reformaktivität; expansiv bis zum Steuerpolitik Einnahmen Corona-Ausbruch Steuerpolitik Ausgaben expansiv expansiv nicht in Landesverfassung verankert in Landesverfassung aufgenommen; Notsitu- Schuldenbremse ation nur mit Zweidrittelmehrheit feststellbar ausgeprägt; zahlreiche Initiativen gestartet (etwas weniger) ausgeprägt; zahlreiche Ini- Korporatismus (Allianz für Fachkräfte, TTIP-Beirat etc.) tiativen weiter geführt Außenhandel (TTIP etc.) freundlich freundlich ausgeweitet Evaluation; beibehalten, aber in der Koali- Tariftreueregelungen tion umstritten eingeführt Evaluation; beibehalten, aber in der Koali- Bildungszeitgesetz tion umstritten

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 235235 330.11.200.11.20 08:4308:43 eine neu in den Landtag gewählte und aus der Wirtschaft stammende Politikerin – als neue Ressortchefin für das neue Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungs-

Felix Hörisch bau. Betrachtet man die inhaltlichen Reformen der grün-schwar- zen Landesregierung jenseits dieser beschriebenen institu- tionellen Neuerungen, so fällt in der Gesamtschau (vgl. Tabelle 1) zunächst auf, dass die Reformintensität von Grün-Schwarz in der Finanz-, Wirtschafts- und Arbeits- marktpolitik im Vergleich zur grün-roten Vorgängerregie- rung bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie vergleichs- weise gering war. So wurden einige von der Vorgängerregierung ins Leben gerufene Initiativen wie beispielsweise die Fachkräftealli- anz (siehe unten) fortgeführt. Andere grün-rote Reformen waren in der grün-schwarzen Regierung umstritten und wurden einer (kritischen) Evaluation unterzogen. Sowohl das Bildungszeitgesetz (Heilbronner Stimme 2019) wie auch die Tariftreueregelungen (BI-Medien 2019) wurden in der ganzen Legislaturperiode in der Koalition kritisch diskutiert, da die CDU sich für liberalisierende Reformen stark machte, die Grünen jedoch den unter Grün-Rot aus- geweiteten Status quo verteidigten. Letztlich kam es (zu- mindest bis zum jetzigen Zeitpunkt) zu keinen substanziel- len Reformen, und den Grünen gelang es auch in der neuen Koalition den Status quo zu verteidigen. bremse ist aus parteiendifferenztheoeretischer Sicht über- Finanzpolitik raschend, hätte sich doch insbesondere die oppositionelle In der Finanzpolitik profitierte die grün-schwarze Landes- SPD auch an der Seite der Gewerkschaften für eine weni- regierung bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie von der ger bindende und flexiblere Fassung einsetzen können. oben dargestellten guten konjunkturellen Entwicklung und Stattdessen drängte auch gerade die SPD darauf, das konnte so bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie in je- Feststellen einer Notsituation und damit das Ermöglichen dem Jahr einen ausgeglichenen Haushalt präsentieren von zusätzlichen Schulden in Krisenzeiten an eine Zwei- und sogar Haushaltsüberschüsse erzielen und Schulden drittelmehrheit im Landtag zu koppeln (Stuttgarter Zeitung tilgen (Ministerium für Finanzen 2020b). Mit Corona gin- 2019). gen dann einbrechende Steuereinnahmen, zahlreiche be- schlossene Wirtschaftshilfen des Landes und eine Abkehr Arbeitsmarktpolitik von der schwarzen Null einher (siehe unten). Die von der grün-roten Vorgängerregierung im Dezember Während es bei den Steuersätzen der Landessteuern zu 2011 ins Leben gerufene Fachkräfteallianz wurde auch von keinen wesentlichen Reformen kam, waren die Diskussio- der grün-schwarzen Landesregierung fortgesetzt (Ministe- nen um die Implementierung der Grundsteuerreform sowie rium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Baden- der Schuldenbremse prägend für die Finanzpolitik der Le- Württemberg 2020b). Zentrales Ziel der Fachkräfteallianz gislaturperiode. Bei der – durch ein Urteil des Bundesver- ist es dabei, den insbesondere durch die demographische fassungsgerichts erforderlich gewordenen – Reform der Entwicklung stärker werdenden Fachkräftemangel zu be- Grundsteuer brachte die grün-schwarze Landesregierung kämpfen, und so den Wirtschaftsstandort Baden-Würt- dabei ein landeseigenes Modell auf den Weg, bei dem im temberg zu stärken. Um diese Ziele zu erreichen, setzt die Wesentlichen die beiden Kriterien der Grundstücksfläche Fachkräfteallianz auf ein breites Bündel an Maßnahmen und des Bodenrichtwerts miteinander multipliziert werden. (vgl. Hörisch 2017, S. 57). Hierzu zählt der Versuch, die Zahl Im Anschluss wird eine gesetzlich festgelegte Steuermess- der Fachkräfte in den technischen Berufen zu erhöhen, un- zahl angewandt, die je nach der Nutzung des Grundstücks ter anderem mit der „Landesinitiative Frauen in MINT-Beru- modifiziert wird, wobei es hierbei für überwiegend zu fen“, die Integration Geflüchteter in den Arbeitsmarkt, die Wohnzwecken genutzten Grundstücken einen Abschlag Erhöhung der Erwerbsquote von Frauen sowie die Erhö- geben soll (Der neue Kämmerer 2020). hung des Fachkräftepotenzials von langzeitarbeitslosen Bei der Verankerung der Schuldenbremse in der Landes- Menschen mittels des Landesprogramms „Neue Chancen verfassung, nach der ab dem Jahr 2020 auf Landesebene auf dem Arbeitsmarkt“. außer in Notsituationen ausgeglichene Haushalte nötig Dieses Landesarbeitsmarktprogramm „Neue Chancen auf sind, setzte die grün-schwarze Landesregierung auf einen dem Arbeitsmarkt“, mit dem von 2018 bis 2020 insbeson- überfraktionellen Antrag gemeinsam mit SPD und FDP, der dere Menschen gefördert werden sollten, die trotz der gu- eine vergleichsweise strikte Verankerung der Schulden- ten Konjunktur Schwierigkeiten haben, auf dem Arbeits- bremse in der Landesverfassung vorsieht. Diese wurde im markt Fuß zu fassen, implementierte die grün-schwarze Landtag auch von der AfD unterstützt, während es bei- Landesregierung 2018. Unterstützt wurden dabei in erster spielsweise vom DGB Kritik an der relativ restriktiven Fas- Linie Langzeitarbeitslose, junge Menschen ohne Berufs- sung der Schuldenbremse gab (Kontext Wochenzeitung ausbildung, Alleinerziehende, ältere Menschen sowie Mi- 2020). Diese konsensuale Verankerung der Schulden- grantinnen und Migranten. Für das Programm stellte die

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 236236 330.11.200.11.20 08:4308:43 DIE FINANZ-, WIRTSCHAFTS- UND ARBEITSMARKTPOLITIK DER GRÜN-SCHWARZEN LANDESREGIERUNG

vor dem 11. März 2020 entstanden sind, nicht förderfähig, um möglichst sicherzustellen, dass tatsächlich das Co- rona-Virus ursächlich für die jeweilige Unternehmenskrise Um die wirtschaftlichen Aus- war. Abgewickelt wurde das Corona-Soforthilfeprogramm wirkungen der Pandemie auf dabei durch die landeseigene L-Bank. Für das Landespro- die Unternehmen und den gramm standen insgesamt bis zu vier Milliarden Euro bereit Arbeitsmarkt abzumildern, (Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Ba- griff die grün-schwarze Lan- den-Württemberg 2020b). Nach Kritik aus Reihen der Op- desregierung zu zahlreichen positionsparteien und insbesondere der FDP sowie von Maßnahmen. So hat das Wirt- Verbänden wurde bei der Vergabe der Zuschüsse auf eine schaftsministerium am Prüfung von Privatvermögen verzichtet (SWR 2020). Aller- 25. März 2020 ein „Corona- dings wurden Hilfen des Bundes im Rahmen eines Bundes- Soforthilfeprogramm“ imple- programms zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen mentiert. Im Rahmen dieses des Corona-Virus angerechnet, eine Doppelförderung Programms konnten Unterneh- war demnach ausgeschlossen und im Zweifelsfall sollten men, die sich in einer existenz- gegebenenfalls die Bundesmittel verwendet werden (SWR bedrohenden wirtschaftlichen 2020). Lage befanden, Zuschüsse Neben dem Corona-Soforthilfeprogramm erließ die grün- bekommen. schwarze Landesregierung eine Reihe weiterer Maßnah- picture alliance/dpa men, um wirtschaftliche Härten infolge des Virus abzumil- dern. So konnten beispielsweise Mieterinnen und Mieter von landeseigenen Gebäuden auf Antrag ihre Miete spä- Landesregierung von 2018 bis 2020 insgesamt rund 19,2 ter zahlen (Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Woh- Millionen Euro zur Verfügung (Ministerium für Wirtschaft, nungsbau Baden-Württemberg 2020b). Zudem brachte Arbeit und Wohnungsbau Baden-Württemberg 2020d). das Finanzministerium steuerliche Erleichterungen für Un- ternehmen auf den Weg, die von der Ausbreitung des Co- Wirtschaftspolitik in der Corona-Krise rona-Virus betroffen sind. Hierzu zählten u. a. zinslose Im letzten Jahr der Legislaturperiode stand der Kampf ge- Stundungen, erlassene Säumniszuschläge sowie die Mög- gen die Corona-Epidemie im Mittelpunkt auch des politi- lichkeit, Sondervorauszahlungen bei der Umsatzsteuer für schen Geschehens in ganz Deutschland. Baden-Württem- das Jahr 2020 herabzusetzen (Ministerium für Finanzen berg zählte hierbei im Bundesländervergleich neben Bay- Baden-Württemberg 2020a). ern, Nordrhein-Westfalen und Hamburg – mutmaßlich Zudem einigte sich die Landesregierung im Juni 2020 auf wegen der geographischen Nähe zu den Corona-Krisen- ein rund 200 Millionen Euro umfassendes Konjunkturpaket g e b i e t e n i n I t a l i e n , Ö s t e r r e i c h u n d F r a n k r e i c h s o w i e w e g e n (Stuttgarter Zeitung 2020b). In diesem Rahmen wurde die der zeitlichen Lage der Faschings- bzw. Skiurlaubsferien – Überbrückungshilfe des Bundes mit einem fiktiven Unter- zu den am stärksten vom Virus betroffenen Bundesländern nehmerlohn in Höhe von monatlich bis zu 1.180 Euro für (Stuttgarter Zeitung 2020a). Um die wirtschaftlichen Aus- Solo-Selbstständige ergänzt. Auch Start-up-Unternehmen wirkungen des Corona-Virus auf die Unternehmen und den wurden durch die Möglichkeit, Beteiligungskapital durch Arbeitsmarkt abzumildern, griff die grün-schwarze Lan- das Land zu erhalten, unterstützt. Zudem wurden für Digi- desregierung, ähnlich wie viele andere Landesregierun- talisierungsprojekte im Mittelstand 50 Millionen Euro und gen auch, zu zahlreichen zusätzlichen landespolitischen für die Digitalisierung der Hochschulen 40 Millionen Euro Maßnahmen. So hat das Wirtschaftsministerium beispiels- bereitgestellt (Stuttgarter Zeitung 2020b). weise am 25. März 2020 ein „Corona-Soforthilfepro- Auch ein kommunaler Stabilitäts- und Zukunftspakt zur Ab- gramm“ implementiert (Ministerium für Wirtschaft, Arbeit federung der erheblichen Corona-bedingten Einnahmen- und Wohnungsbau Baden-Württemberg 2020a). Im Rah- einbrüche der Kommunen wurde im Jahr 2020 auf den men des Programms konnten einzelne Selbstständige und Weg gebracht (Baden-Wuerttemberg.de 2020). Dieser Kleinunternehmer mit bis zu fünf Mitarbeitenden einen bis umfasste 4,27 Milliarden Euro, wobei 2,88 Milliarden Euro zu 9.000 Euro hohen, nicht zurückzuzahlenden Zuschuss hiervon durch das Land getragen wurden, mit gut 1,39 Mil- erhalten. Für Unternehmen mit bis zu zehn Beschäftigten liarden Euro beteiligte sich der Bund. Mit diesen Zahlun- betrug der maximale Zuschuss 15.000 Euro, für Unterneh- gen kompensierten das Land und der Bund u. a. zumindest men mit bis zu 50 Beschäftigten höchstens 30.000 Euro. einen Teil des massiven Rückgangs der Gewerbesteuerein- Antragsberechtigt waren dabei jeweils Unternehmen, die nahmen der Kommunen, Corona-bedingte Einnahmeaus- sich unmittelbar infolge der Corona-Pandemie in einer fälle im öffentlichen Personennahverkehr, die erhöhten existenzbedrohenden wirtschaftlichen Lage befanden Aufwendungen der Krankenhäuser in kommunaler Träger- und massive Liquiditätsengpässe u. a. für laufende Be- schaft, die nicht durch die Hilfen des Bundes ausgeglichen triebskosten wie beispielsweise Mieten, Kredite für Be- werden, sowie zahlreiche weitere Maßnahmen (Baden- triebsräume, Leasingraten und Ähnliches erlitten hatten. Wuerttemberg.de 2020). Da die Weltgesundheitsorganisation WHO das Corona- Insgesamt hat die Landesregierung zur Bekämpfung der Virus am 11. März 2020 zur Pandemie erklärt hatte, waren wirtschaftlichen Folgen des Corona-Virus rund fünf Milliar- Liquiditätsengpässe oder Umsatzeinbrüche, die bereits den Euro an neuen Schulden aufgenommen (bei einem

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 237237 330.11.200.11.20 08:4308:43 Schuldenstand des Landes von insgesamt rund 50 Milliar- einige gemeinsame Schnittmengen, in denen sie nach den Euro) und damit eine klare Abkehr von der schwarzen Jahrzehnten CDU-Regierung Reformbedarf sahen und Null vorgenommen. Es ist vorgesehen, dass die neu aufge- diesen für Reformen etwa bei der Grunderwerbssteuer,

Felix Hörisch nommenen Schulden ab dem Jahr 2024 mit 500 Millionen den Tariftreueregelungen und dem Bildungszeitgesetz Euro pro Jahr zurückbezahlt werden (Heidenheimer Zei- nutzten. Dagegen waren die inhaltlichen Gemeinsamkei- tung 2020). ten in der selbst ernannten Komplementär-Koalition zwi- Trotz der zahlreichen ergriffenen Maßnahmen blieb Ba- schen Grünen und CDU deutlich geringer ausgeprägt, so den-Württemberg eines der auch wirtschaftlich am stärks- dass in dieser ersten Phase nur vergleichsweise wenig Re- ten vom Corona-Virus betroffenen Bundesländer. So wa- formaktivität zu beobachten war und im Wesentlichen der ren im Mai 2020 in Baden-Württemberg insgesamt 1,09 Status quo beibehalten wurde. Millionen oder 23 Prozent aller Arbeitnehmerinnen und Ar- Dies änderte sich jedoch im letzten Jahr der Legislaturpe- beitnehmer in Kurzarbeit, dies ist der zweithöchste Wert riode mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie ab dem eines deutschen Bundeslandes nach Bayern (mit 26 Pro- Frühjahr 2020. Aufgrund dieses ökonomisch gesehen ex- zent Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Kurzarbeit; ternen Schocks entstand großer sozioökonomischer Hand- zum Vergleich: beispielsweise in Rheinland-Pfalz waren lungsbedarf, der dazu führte, dass sich die beiden Regie- zum gleichen Zeitpunkt nur 17 Prozent in Kurzarbeit) (Zeit rungspartner wie oben beschrieben – wie die Bundesre- online 2020). Ein Hauptgrund hierfür dürfte – neben der gierung und die meisten anderen Landesregierungen auch oben beschriebenen vergleichsweise starken Verbreitung – auf substanzielle gemeinsame Antworten in Form von des Virus selbst – in der hohen Industrie- und Exportquote Soforthilfeprogrammen und einem Konjunkturprogramm Baden-Württembergs liegen. So war der Anteil an Arbeit- auf die ökonomischen Herausforderungen einigen konn- nehmerinnen und Arbeitnehmern in Kurzarbeit gerade in ten. Diese überaus rege Reformaktivität bei der Bekämp- den Ländern mit überproportional hoher Bedeutung der fung der ökonomischen Folgen des Corona-Virus lässt sich Automobil- und Zuliefererindustrie besonders hoch (Zeit wiederum gut aus funktionalistischer Sicht erklären. Der online 2020). Hier zeigt sich erneut die überdurchschnittli- Funktionalismus bzw. die sozioökonomische Theorie „be- che Angreifbarkeit des baden-württembergischen Wirt- greift in ihrem Kern Staatstätigkeit als funktionale Reaktion schaftsmodell mit einer starken industriellen Basis und ei- auf sozioökonomische Modernisierungsprozesse und da- ner hohen Exportorientierung gegenüber (externen) Krisen mit verbundene Herausforderungen und Problemlagen“ und Schocks, die sich schon infolge der Finanz- und Wirt- (Obinger 2015: 35). In Baden-Württemberg, als sowohl schaftskrise gezeigt hatte, die aber zugleich auch zu be- vom Corona-Virus selbst wie auch den ökonomischen Aus- sonders hohem Wohlstand und starken Wachstumsraten wirkungen (siehe oben) besonders betroffenen Bundes- in wirtschaftlich stabilen Zeiten führt (Hörisch 2015; Hö- land, entstand ein großer Handlungsbedarf, der den Sta- risch 2017). tus quo in kurzer Zeit von einer glänzenden Wirtschafts- lage hin zu einem tiefen – nach dem Zweiten Weltkrieg sogar beispiellosen – Wirtschaftseinbruch verschob, was Fazit: Einordnung und Bewertung der grün- ein entschlossenes gemeinsames Handeln der grün- schwarzen Reformen schwarzen Koalitionspartner einerseits notwendig machte und andererseits aber auch ermöglichte. Betrachtet man abschließend die von der grün-schwarzen Insgesamt lässt sich die Finanz- und Wirtschaftspolitik des Landesregierung durchgeführten Reformen und bewertet zweiten Kabinetts Kretschmann somit wie folgt zusammen- sie im Vergleich zur Politik der Vorgängerregierung sowie fassen: Nach der relativ hohen Reformdichte des ersten im Bundesländervergleich, so fällt zunächst auf, dass sich Kabinetts Kretschmann infolge des Regierungswechsels die 16. Legislaturperiode in zwei Phasen unterteilen lässt. kam es zu einer Phase der Konsolidierung. So wurden ei- In der ersten, zeitlich längeren Phase vor Ausbruch der Co- nige Reformen der grün-roten Landesregierung wie etwa rona-Pandemie war die grün-schwarze Regierungszeit im die Zusammenführung des Finanz- und des Wirtschaftsmi- Vergleich zu ihrer Vorgängerregierung durch eine relativ nisteriums rückabgewickelt, andere wie die Tariftreuere- geringe Reformaktivität geprägt. Dies zeigt sich beispiels- gelungen oder das Bildungszeitgesetz einer kritischen – weise daran, dass die Höhe der wesentlichen Landessteu- aber letztendlich im Wesentlichen folgenlosen – Evalua- ern wie der Grunderwerbssteuer unverändert blieb. Auch tion unterzogen. Nachdem die grün-schwarze Koalition in in anderen Bereichen, wie etwa der Arbeitsmarktpolitik, den ersten vier Jahren in den hier analysierten Politikfel- kam es lediglich zu kleineren Reformen, wie etwa der Im- dern somit in ruhigeren Fahrwassern unterwegs war, ent- plementierung der Landesinitiative „Frauen in MINT-Beru- schloss sie sich in der Corona-Krise zu einem relativ ent- fen“. Diese relative Konstanz in der Wirtschaftspolitik – bei schiedenen antizyklischen Handeln, für das sie auch zu gleichzeitig vergleichsweise guter Entwicklung der Wirt- einer Abkehr von der – zuvor von den (Regierungs-)Par- schaftsdaten – lässt sich gut aus der Kombination der bei- teien stark in den Mittelpunkt gestellten – Politik der den politikwissenschaftlichen Theorien der Parteiendiffe- schwarzen Null bereit war. renztheorie (Wenzelburger 2015) und der Vetospielerthe- orie (Ganghof/Schulze 2015), nach der die Präferenzen der Akteure, die einem Politikwechsel zustimmen müssen – LITERATUR in diesem Fall der beiden Regierungsparteien – und ihre Arbeitskreis „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder“ (2020). inhaltliche Distanz zueinander und zum Status quo ent- URL: https://www.statistik-bw.de/VGRdL/tbls/tab.jsp [02.09.2020]. scheidend für die Möglichkeit von Reformen sind, erklären. Baden-Württemberg.de (2020). URL: So lagen Grüne und SPD in der Legislaturperiode zuvor in https://www.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/pressemittei- lung/pid/kommunaler-stabilitaets-und-zukunftspakt-steht-1/?&pk_ ihren finanz-, wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Po- medium=newsletter&pk_campaign=200724_newsletter_weekly&pk_ sitionen noch relativ nah beieinander und verfügten über source=newsletter_weekly&pk_keyword=finanzhilfen [27.07.2020].

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 238238 330.11.200.11.20 08:4308:43 Bandau, Frank (2016): Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik: Begrenzte Hand- l u n g s s p i e l r ä u m e g e n u t z t? I n: H ö r i s ch , F e l i x / Wu r s t e r, S t e fa n ( H r s g .): D a s DIE FINANZ-, WIRTSCHAFTS- UND ARBEITSMARKTPOLITIK grün-rote Experiment in Baden-Württemberg. Eine Bilanz der Landes- DER GRÜN-SCHWARZEN LANDESREGIERUNG regierung Kretschmann 2011–2016. Wiesbaden, S. 69–96. BI-Medien (2019). URL: https://www.bi-medien.de/artikel-35661-ad- evaluation-LTVG-BAWUe.bi [10.09.2020]. Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Baden-Württem- Bundesagentur für Arbeit (2020): Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf: Entwick- berg (2020d). URL: https://wm.baden-wuerttemberg.de/de/arbeit/ lung der Arbeitslosenquote (Jahreszahlen). 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Ministerium für Finanzen Baden-Württemberg (2020b). URL: https:// fm.baden-wuerttemberg.de/de/haushalt-finanzen/haushalt/ Prof. Dr. Felix Hörisch ist seit Oktober 2020 Professor für Sozial- haushaltspolitik/ [10.09.2020]. Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Baden-Württem- wissenschaften, Sozial- und Bildungspolitik an der htw saar. Zu- berg (2020a). URL: https://wm.baden-wuerttemberg.de/de/service/ dem ist er Privatdozent am Institut für Politische Wissenschaft der foerderprogramme-und-aufrufe/liste-foerderprogramme/soforthilfe- Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, wo er 2017 zum Thema corona/ [31.03.2020]. Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Baden-Würt- „Fiskal- und arbeitsmarktpolitische Reaktionen auf die Finanzkrise temberg (2020b). URL: https://wm.baden-wuerttemberg.de/de/ im internationalen Vergleich“ habilitiert wurde. Seine Forschungs- ministerium/aktuelle-corona-verordnung-der-landesregierung/ schwerpunkte liegen in der Politischen Ökonomie und der inter- [31.03.2020]. Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Baden-Württem- national vergleichenden Policy-Forschung sowie der Politik der berg (2020c). URL: https://wm.baden-wuerttemberg.de/de/arbeit/ Bundesländer. fachkraeftesicherung/fachkraefteallianz/ [31.03.2020].

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 239239 330.11.200.11.20 08:4308:43 INTEGRATIONSPOLITIK Integrationspolitik: Folgenbewältigung statt Reformen Sandra Kostner

Notwendigkeit konfrontiert, vom Reform- in den Krisenbe- Die grün-rote Regierungskoalition brachte in den Jahren wältigungsmodus zu schalten. 2011 bis 2015 eine integrationspolitische Reformagenda Ministerpräsident Kretschmann prägte für die Hochphase auf den Weg. Im Herbst 2015 zeichnete sich nach dem der Asyl- und Fluchtmigration den Begriff „pragmatischer „Sommer der Willkommenskultur“ jedoch ein Kurswech- Humanismus“. Damit kennzeichnete er einen verantwor- sel ab. Aufgrund der großen Zahl ankommender Flücht- tungsethisch orientierten Politikansatz, der versucht, Hu- linge geriet die Regierung in Handlungsdruck und wech- manität und M achbarkeit in Einklang zu bringen. Auch das selte in den Krisenbewältigungsmodus. Sandra Kostner Regierungsprogramm, das Bündnis 90/Die Grünen im Vor- erörtert, wie sich die realpolitischen Herausforderungen feld der Landtagswahl im März 2016 veröffentlichten, auf die Politikfelder Integration und Asyl ausgewirkt ha- weist weniger gesinnungsethisch ausgerichtete Positionen ben. Der Vergleich der Regierungsprogramme orientiert auf als 2011. Ob nun dieser grüne „pragmatische Humanis- sich zunächst an der Frage, wie groß die inhaltlichen mus“, der mehr realpolitischen Herausforderungen als Schnittmengen bzw. die Differenzen zwischen Bündnis grundlegend geänderten Haltungen im Politikfeld Asyl ge- 90/Die Grünen und CDU sind. Aufgrund der program- schuldet ist, eine Zusammenarbeit mit dem neuen Koaliti- matischen Differenzen zeigt denn auch die gemeinsame onspartner CDU erleichtert hat, ist Gegenstand der nach- Agenda im Koalitionsvertrag Kompromisse und eher for- folgenden Ausführungen. melhafte Bekundungen. Sandra Kostner diskutiert in ei- nem weiteren Schritt die verschiedenen Maßnahmen der Folgenbewältigungspolitik. Stand zu Beginn der Legisla- Integrationspolitische Ziele: turperiode das Thema Flüchtlingsmigration im Fokus, Regierungsprogramme und Koalitionsvertrag zeichnet sich gegen Ende der grün-schwarzen Koalition eine Rückkehr zur Integrationspolitik für alle ab. Regierungsprogramme: Ziele, Gemeinsamkeiten und Differenzen Bei Bündnis 90/Die Grünen spielten Asylfragen auch in früheren Regierungsprogrammen eine gewichtige Rolle im Integrationspolitische Reformagenda 2011–2015 migrations- und integrationspolitischen Handlungsfeld. Im

Die erste von Winfried Kretschmann geführte Koalitionsre- gierung brachte vor allem in den Jahren 2011 bis 2015 eine integrationspolitische Reformagenda auf den Weg. Im Ko- alitionsvertrag 2011 kündigten Bündnis 90/Die Grünen und die SPD nicht weniger an als eine „Neuausrichtung der Integrationspolitik“. Eine fundamentale Neuausrichtung der Integrationspolitik erfolgte zwar nicht – ein so vollmun- diges Versprechen lässt sich kaum je einlösen –, aber die umgesetzten Reformen und die auf der Bundesebene ein- gebrachten Impulse belegen, dass die erste Regierung Kretschmann nicht nur mit einer Reformagenda antrat, son- dern auch deren Umsetzung zielstrebig verfolgte. Wich- tige Handlungsfelder dieser Reformpolitik waren: Einbür- Ein Flüchtling steht auf dem gerungserleichterungen (im Rahmen des landespolitischen Balkon einer Flüchtlingsunter- Gestaltungsspielraums), Verabschiedung eines Partizipa- kunft in Bad Krozingen. Mit tions- und Integrationsgesetzes und die Liberalisierung der fast 5000 neuen Flüchtlingen in Asylpolitik. Baden-Württemberg hat die Der Taktgeber für die im Koalitionsvertrag anvisierten asyl- Zahl im Juni 2015 einen Rekord politischen Reformen waren Bündnis 90/Die Grünen, und erreicht. Mit der großen Zahl damit die Partei, die auch in der Legislaturperiode 2016 bis der nach Deutschland kom- 2021 Regierungspartei ist. Dass eine Fortführung des asyl- menden Flüchtlinge sah sich politischen Reformprogramms in der laufenden Legislatur- die baden-württembergische periode trotz dieser parteipolitischen Kontinuität unwahr- Landesregierung mit der Not- scheinlich sein würde, zeichnete sich schon im Herbst 2015 wendigkeit konfrontiert, vom ab. Mit der großen Zahl der im Herbst und Winter 2015/16 Reform- in den Krisenbewälti- nach Deutschland kommenden Flüchtlinge sah sich auch gungsmodus zu schalten. die baden-württembergische Landesregierung mit der picture alliance/dpa

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 240240 330.11.200.11.20 08:4308:43 Jahr 2016 dominiert das Themenfeld eindeutig und macht INTEGRATIONSPOLITIK: elf von 15 Seiten zur Migrations- und Integrationspolitik FOLGENBEWÄLTIGUNG STATT REFORMEN aus. Die CDU hingegen hat das Thema Asyl in ihrem Regie- rungsprogramm für die Landtagswahl 2011 noch nicht ein- mal aufgegriffen. Beim Programm für die Landtagswahl durchmischten Stadtteilen. An dieser Stelle wird auch 2016 umfassen asylpolitische Themen jedoch ungefähr die betont, dass auf diese Weise die Integration gefördert Hälfte der Punkte zur Migrations- und Integrationspolitik. und soziale Brennpunkte vermieden werden sollen. Für beide Koalitionspartner steht also die Integration von l Verbesserung der Gesundheitsfürsorge durch eine Flüchtlingen im Zentrum. Die für ein gemeinsames Regieren „schnellstmögliche Einführung einer Gesundheitskarte“, entscheidende Frage ist nun: Wie groß sind die inhaltli- einem besseren Zugang von „illegalisierten Menschen“ chen Schnittmengen beziehungsweise die Differenzen zu medizinischen Behandlungen und dem Ausbau der zwischen den beiden Parteien? Auf welche gemeinsame psychosozialen Versorgung für traumatisierte Flüchtlinge. Agenda haben sie sich im Koalitionsvertrag verständigt? l Um die Integration ins Arbeitsleben zu erleichtern, wol- Beginnen wir mit den Grünen: In ihrem Regierungspro- len die Grünen „Möglichkeiten für Praktika, Ausbildun- gramm legen sie den Schwerpunkt auf die „Chancen und gen und Nachqualifizierungen“ eröffnen. Darüber hin- Potenziale – für die Menschen und für unser Land“, die sie aus versprechen sie, dass sie sich auf der Bundesebene mit der Aufnahme von Flüchtlingen verbinden. Sie wollen dafür einsetzen werden, die Vorrangprüfung abzu- diese Chancen „gezielt fördern und nutzen: Sei es im Hin- schaffen, die Anerkennung von ausländischen Berufs- blick auf den Fachkräftemangel, auf den demografischen abschlüssen zu verbessern und die sogenannte „3 plus Wandel, die Zukunft unserer Sozialsysteme oder die Krea- 2“-Regelung einzuführen, die einen Aufenthaltstitel für tivität in Zivilgesellschaft, Kultur und Wirtschaft.“1 Die Grü- (abgelehnte) Asylbewerber für die Zeit der dreijährigen nen legen die Messlatte an den integrationspolitischen Ausbildung und für zwei daran anschließende Beschäf- Erfolg in ihrem Programm hoch, wenn sie schreiben, „dass tigungsjahre vorsieht. die Menschen, die zu uns geflohen sind und bleiben wer- den, in wenigen Jahren sagen werden: Baden-Württem- Bei den Themen Familiennachzug und Umgang mit abge- berg ist meine neue Heimat.“2 Um dieses Ziel zu erreichen, lehnten Asylbewerbern gilt für die Grünen „Humanität hat wollen sie die „Infrastruktur für Integration in Baden-Würt- Vorrang“. Sie lehnen beispielsweise Beschränkungen beim temberg ausbauen und weiterentwickeln“, und dabei ins- Familiennachzug mit den Argumenten ab, dass Ehe und Fa- besondere die Bereiche Bildung, Arbeit, Wohnen und sozi- milie unter dem besonderen Schutz des Staates stehen, ale Teilhabe in den Blick nehmen.3 dass sich Frauen und Kinder, ohne die Möglichkeit des le- Die Grünen stellen die zum Ausbau der Integrationsinfra- galen Familiennachzugs, „auf lebensgefährliche Wege struktur geplanten Maßnahmen recht umfangreich dar. nach Europa“ machten, und dass durch das Auseinander- Der Fokus liegt dabei auf diesen Maßnahmen:4 reißen von Familien die Integration der Familienmitglieder, l Menschenwürdige Unterbringung, d. h. insbesondere die es nach Deutschland geschafft haben, erschwert die Unterbringung in Wohnungen anstatt in Gemein- werde.5 Im Hinblick auf abgelehnte Asylbewerber erken- schaftsunterkünften sowie die Ansiedlung in sozial nen die Grünen an, dass diese nicht bleiben können. Sie möchten dazu aber das Mittel der Abschiebung weitest- gehend vermeiden und setzen daher auf eine aktive Rück- kehrberatung sowie Reintegrationshilfen für Rückkehrer im Herkunftsland.6 Im Gegensatz zu den Grünen hat die CDU für die Land- tagswahl 2016 zum ersten Mal in Jahrzehnten ein Regie- rungsprogramm aus der Oppositionsrolle heraus verfasst. Und so ist es nun sie, die den regierenden Grünen im Wahl- kampf Überforderung und Versagen bei der Aufnahme und Integration der Flüchtlinge vorwirft. Mit diesem Vor- wurf steigt sie in das mit „Herausforderungen in der Flücht- lingspolitik“ überschriebene Kapitel ein. Dem Versagen der Grünen auf der landespolitischen Ebene hält die CDU das tatkräftige Handeln der CDU-geführten Bundesregie- rung entgegen.7 Was die CDU hierbei als tatkräftig lobt, sind allerdings alles Maßnahmen, die von den Grünen ab- gelehnt werden, allen voran die „Erweiterung des Kreises der sicheren Herkunftsstaaten, die Umstellung von Bar- geldzahlungen auf Sachleistungen für Flüchtlinge oder klare Regelungen zur Unterbringung von Menschen ohne Bleibeperspektive in den Erstaufnahmeeinrichtungen.“8 Tatkräftige Handlungsfähigkeit will die Landes-CDU da- durch demonstrieren, dass die Verfahrensdauer beschleu- nigt wird. Die Verfahrensbeschleunigung ist aus Sicht der CDU zudem der zentrale „Schlüssel zur Bewältigung der Herausforderungen in der Flüchtlingspolitik“, weil dadurch eine frühzeitige Konzentration auf die Integration derjeni- gen erfolgen könne, deren Anträge aus Asyl erfolgreich

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 241241 330.11.200.11.20 08:4308:43 sind. Erreicht werden soll dies vor allem durch die Einrich- tung von Landeskompetenzzentren, in denen die Antrag- steller bis zum Abschluss des Verfahrens bleiben, um dann entweder bei einem positiven Bescheid auf die Kommunen

Sandra Kostner Sandra verteilt zu werden oder von dort in ihre Herkunftsländer zurückzukehren beziehungsweise in diese abgeschoben zu werden.9 An dieser Stelle gibt es durchaus Übereinstim- mung mit den Zielen der Grünen, die sich in ihrem Pro- gramm dafür loben, dass sie in Heidelberg ein „bundes- weit beispielgebendes Registrierungszentrum“ eingerich- tet haben, in dem die Verfahren schnell und effektiv durchgeführt werden – offenkundig aber nicht schnell und effektiv genug für die CDU.10 Deutliche Differenzen zu den von den Grünen anvisierten Zielen legt der Punkt „Fehlanreize vermeiden“ des CDU- Programms offen. Zur Vermeidung von Fehlanreizen will die CDU insbesondere bei den Antragstellern, die keine dauerhafte Bleibeperspektive haben, das Prinzip Sach- vor Geldleistungen konsequent verankern. Damit will die CDU zu dem Prinzip zurückkehren, für dessen Abschaffung sich die Grünen in ihrer ersten Regierungszeit einsetzten (Asylkompromiss vom 19. September 2014). Ganz klar spricht sich die CDU auch gegen die von den Grünen an- gestrebte Gesundheitskarte für Asylbewerber aus, weil sie befürchtet, dass die damit einhergehende Ausweitung der gesundheitlichen Leistungen, „erneut die falschen Signale“ senden würde.11 auch im Hinblick auf Menschen mit Migrationshintergrund Noch größer sind die Differenzen beim Thema: Wie soll mit im Allgemeinen – genauer, zeigt sich, dass die beiden Par- abgelehnten Asylbewerbern umgegangen werden? Beide teien jeweils eine Seite mehr in die Pflicht nehmen als die Parteien stimmen zwar darin überein, dass diese Personen andere. Bei den Grünen ist das die Aufnahmegesellschaft, nicht im Land bleiben können. Wie aber erreicht werden bei der CDU die Zuwanderungsbevölkerung. Aus grüner soll, dass sie Deutschland wieder verlassen, daran schei- Sicht muss die Aufnahmegesellschaft in Vorleistung gehen, den sich die Geister. „Abschiebungen konsequent durch- damit sich auf der Seite der Zugewanderten überhaupt der setzen“, so lautet die programmatische Ansage der CDU. Wille zur Integration und die Offenheit für die deutsche Die dazu vorgeschlagenen Mittel stehen dem von den Gesellschaft einstellen können. Dementsprechend adres- Grünen präferierten Ansatz diametral entgegen: Die CDU sieren die skizzierten Maßnahmen die mehrheitsgesell- will Abschiebungen dadurch konsequent durchsetzen, schaftlichen Institutionen. Darunter sind insbesondere dass diese nicht mehr im Voraus angekündigt und dass „in Maßnahmen zur „interkulturellen Öffnung der Verwaltung der Landespolizei zusätzliche Stellen für die Durchführung und der öffentlichen Unternehmen“, der flächendeckende von Abschiebungen geschaffen werden“. Ferner will sie „Ausbau von Strukturen der Antidiskriminierungsarbeit“ so- „jahreszeitliche Abschiebungsaussetzungen“ abschaffen wie Sprachförderung und Kinderbetreuung zu nennen.16 und die Zahl der Abschiebehaftplätze erhöhen, sodass Überdies versprechen die Grünen, dass sie sich auf der Personen, die ihrer Ausreisepflicht nicht nachkommen, Bundesebene „für die doppelte Staatsbürgerschaft und für leichter abgeschoben werden können.12 Die Grünen hin- eine Abschaffung des Optionszwangs“ einsetzen werden.17 gegen wollen das Instrument der Abschiebehaft perspek- Die Themen Einbürgerung, interkulturelle Öffnung der Ver- tivisch abschaffen und es durch „mildere Mittel (zum Bei- waltung und Antidiskriminierung beziehungsweise Rassis- spiel Meldeauflagen)“ ersetzen.13 mus tauchen im Regierungsprogramm der CDU nicht auf. Weitgehende Übereinstimmung besteht zwischen den Re- Sie legt ihren integrationspolitischen Schwerpunkt auf das gierungsprogrammen hinsichtlich der Pläne, Ehrenamtliche Bekenntnis der Zugewanderten zur deutschen Rechts- und in der Flüchtlingsarbeit sowie die Kommunen bei der Integ- Werteordnung – ein Bekenntnis, das sie insbesondere von ration vor Ort besser zu unterstützen. Auf der deklaratori- Flüchtlingen einfordern möchte. Die CDU betont, dass es schen Ebene besteht sogar ein recht großer Konsens be- an dieser Stelle „keine Zugeständnisse geben“ kann. Als züglich dessen, dass Integration keine Einbahnstraße ist. Grundvoraussetzung dieses Bekenntnisses benennt sie Die Grünen formulieren es so: „Integration stellt Anforde- „das Erlernen der deutschen Sprache“, weshalb das Hand- rungen an beide Seiten: Wir geben einen Vertrauensvor- lungsfeld Sprachförderung besonders in den Blick genom- schuss, investieren in die Zukunft der Menschen, die zu uns men und verbessert werden muss.18 Wie allerdings über kommen und leben eine Willkommenskultur. Von den Flücht- den Spracherwerb hinaus dieses Bekenntnis gefördert lingen müssen Integrationswille, Leistungsbereitschaft und oder gar eingefordert werden soll, dazu sind keine klaren Offenheit für die neue Umgebung beigesteuert werden.“14 Hinweise zu finden. Unter dem Punkt „Unsere Werteord- Die CDU stellt unter dem Motto „Fordern und Fördern“ fest, nung als Leitkultur“ heißt es lediglich: „Wir erwarten von dass „Integration nicht nur eine Bringschuld der Gemein- jedem, der zu uns kommt, dass er unsere Normen und Ge- schaft, sondern auch eine Holschuld des Einzelnen ist.“15 pflogenheiten beachtet.“19 Betrachtet man nun die präferierten Integrationsmaßnah- Was genau unter „unsere Werteordnung als Leitkultur“ zu men – sowohl in Bezug auf Flüchtlinge im Besonderen als verstehen ist, bleibt weitgehend offen, da die CDU nur ei-

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 242242 330.11.200.11.20 08:4308:43 INTEGRATIONSPOLITIK: FOLGENBEWÄLTIGUNG STATT REFORMEN

den. Geeinigt hat man sich auf folgende asylpolitische Ziele: l Die Durchführung der Asylverfahren in den Erstaufnah- meeinrichtungen, sodass diejenigen ohne Bleibepers- Im Registrierungszentrum in pektive nicht mehr auf die Kommunen verteilt werden Heidelberg wird ein Ankunfts- und direkt aus den Erstaufnahmeeinrichtungen rückge- nachweis (Flüchtlingsausweis) führt werden können. Dieses Ziel konnte aufgrund der ausgestellt. Das Registrierungs- relativ großen programmatischen Überschneidungen zentrum gehört zu vier Pilot- ohne größere Konflikte vereinbart werden. projekten des Bundesamtes für l Anders sah es beim zweiten asylpolitischen Ziel aus, Migration und Flüchtlinge das im Koalitionsvertrag „wirkungsvolles Rückkehrma- (BAMF). Die Grünen lobten nagement“ getauft wurde. Es trägt sozusagen den er- sich in ihrem Regierungspro- rungenen Kompromiss schon im Namen: Der Begriff gramm, dass sie in Heidelberg Rückkehr verweist darauf, dass sich die Grünen erfolg- ein bundesweit beispielgeben- reich gegen den von ihnen abgelehnten Begriff der Ab- des Registrierungszentrum ein- schiebung gewehrt haben. Der Begriff „wirkungsvoll“ gerichtet haben, in dem Ver- dient der Zusicherung an die CDU, dass freiwillige Rück- fahren schnell und effektiv kehrprogramme auch dazu führen, dass Ausreisepflich- durchgeführt werden. tige das Land in der Tat verlassen. Anders gesagt: Frei- picture alliance/dpa willige Rückkehr hat Vorrang, wenn diese aber erfolglos bleibt, sind Abschiebungen weiterhin eine Option – eine Option, die vom CDU-geführten Innenministerium auch nen Aspekt herausgreift: die Vollverschleierung, die sie in genutzt wird, wie die Abschiebezahlen aus den letzten der Öffentlichkeit verbieten möchte, weil sie in dieser eine Jahren zeigen.21 Der Konfliktpunkt Abschiebehaft wurde Integrationsverweigerung und eine Abwendung von die- so gelöst, dass die Grünen auf die Forderung nach der ser Gesellschaft sieht. Das zweite unter der Rubrik Werte- Abschaffung dieses asylpolitischen Instrumentes ver- ordnung aufgegriffene Themenfeld, in dem es um den in- zichteten und die CDU auf dessen umfangreicheren Ein- terreligiösen Dialog sowie die Ausbildung von islamischen satz. So will das Land einerseits „den Bedarf weiterer Religionslehrerinnen, Religionslehrern und Imamen geht, Abschiebehaftplätze regelmäßig prüfen“, und anderer- ist in eine vage Sprache gekleidet. Den interreligiösen Di- seits in der Abschiebehaft nur eine Ultima Ratio sehen.22 alog will die CDU stärken, die Ausbildung muslimischer l Beim Konfliktpunkt Geld- oder Sachleistungen liegt die Theologinnen und Theologen will sie „weiter fördern und Zielformulierung im Koalitionsvertrag näher am CDU- fortentwickeln“.20 Aus der Formulierung, dass der „interreli- Programm. Für Personen in Erstaufnahmeeinrichtungen giöse Dialog nicht durch nationalistische oder islamisti- soll es keine Bargeldauszahlungen, sondern fortan eine sche Tendenzen belastet werden“ darf, lässt sich folgern, Sachleistungskarte geben. Zudem wollen die Koalitio- dass die CDU in der „richtigen“ Förderung des Dialogs so- näre nach einer Erprobungsphase prüfen, ob die Sach- wie in der Ausbildung muslimischer Theologinnen und leistungskarte auch in der Anschlussunterbringung in Theologen Instrumente zur Steigerung der Akzeptanz der den Stadt- und Landkreisen eine Option darstellt.23 Werteordnung unter Musliminnen und Muslimen sieht. l Die von den Grünen geplante und von der CDU abge- Wie genau sie diese Instrumente aber ausgestalten will, lehnte Gesundheitskarte findet im Koalitionsvertrag diese Antwort bleibt sie den Leserinnen und Lesern ihres keine Erwähnung, was darauf hindeutet, dass an dieser Programms schuldig. Stelle keine Kompromissformel möglich war. Das zweite für die CDU wichtige integrationspolitische Maßnahmenfeld ist der Arbeitsmarkt. Die angekündigten Die Maßnahmen zur Integration, auf die sich die Koalitio- Maßnahmen weisen eine hohe Übereinstimmung mit de- näre geeinigt haben, zielen fast ausschließlich auf die In- n e n d e r G r ü n e n au f, s o d as s b e i d e Par te i e n an d i e s e r S te ll e tegration von Flüchtlingen ab. Auffällig ist vor allem, dass keine Schwierigkeiten hatten, im Koalitionsvertrag einen die ebenfalls beachtliche Zahl an Neuzugewanderten aus gemeinsamen Nenner zu finden: Beide wollen die Aner- der EU, die in vielerlei Hinsicht einen ähnlichen Unterstüt- kennung von im Ausland erworbenen Berufsabschlüssen zungsbedarf aufweisen, keine Erwähnung im Koalitions- erleichtern sowie Förder- und Unterstützungsprogramme vertrag findet. In ihrem Fall bestand zwar ein Bedarf, aber ausbauen, um die Hürden beim Arbeitsmarktzugang so kein politischer Handlungsdruck. Letzterer war in Bezug weit als möglich abzusenken. auf Flüchtlinge enorm hoch, ging es ab dem Frühjahr 2016 doch immer mehr darum, in die Phase der politischen und Koalitionsvertrag: Kompromisse, formelhafte Bekundungen, sozialen Folgenbewältigung einzusteigen – auch mit dem Maßnahmen Ziel, die gesellschaftlichen Spannungen, die ihren Aus- Für den am 9. Mai 2016 geschlossenen Koalitionsvertrag druck politisch im Erstarken der AfD fanden, durch eine er- mussten Bündnis 90/Die Grünen und die CDU vor allem folgreiche Integration der Flüchtlinge abzubauen. in der Asylpolitik und hinsichtlich der Frage, ob die Auf- Allen voran soll ein „Pakt für Integration“ zwischen dem Land nahmegesellschaft mehr fördern muss oder ob mehr von und den Kommunen geschlossen werden, um die Integration Zugewanderten gefordert werden soll, Kompromisse fin- der Flüchtlinge vor Ort zu fördern. Dieser Pakt, der in keinem

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 243243 330.11.200.11.20 08:4308:43 der beiden Regierungsprogramme enthalten ist, deckt eine doch festgehalten werden, dass letztlich eine Maßnahme Reihe an Maßnahmen zur strukturellen Integration (Spra- ergriffen wurde, und zwar das im Juli 2020 verfügte Verbot che, Bildung, Ausbildung, Arbeit) ab, die von beiden Par- der Vollverschleierung an Schulen, das auf die Initiative von teien in ihren Programmen anvisiert worden waren.24 Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) zurückgeht, 26 Sandra Kostner Sandra Ansonsten fällt auf, dass die benannten integrationspoliti- aber auch vom Ministerpräsidenten unterstützt wurde. schen Felder einen recht starken deklaratorischen Charak- Eine weitere Maßnahme, die ergriffen wurde, um die Ak- ter aufweisen, und nur selten konkret ausgeführt wird, wie zeptanz der deutschen Rechts- und Werteordnung aufsei- das Deklarierte in praktische Politik überführt werden soll. ten der Flüchtlinge zu stärken, ist das im Mai 2017 gestar- Zugeständnisse machten beide Parteien, was schon aus tete Projekt „Richtig. Ankommen. Rechtsstaatsunterricht für der Kapitelüberschrift „Integration – heimatverbunden und Flüchtlinge“, das noch bis Ende 2021 läuft. Initiiert wurde weltoffen“ ersichtlich wird. Die zum Thema Werteordnung das Projekt vom Verein der Richter und Staatsanwälte in gefundene Kompromissformel betont einerseits, dass un- Baden-Württemberg e. V.. Die Organisation des Unter- sere „neuen Mitbürgerinnen und Mitbürger“ unsere „durch richts wurde von den Volkshochschulen als in der Fläche die Aufklärung, den Humanismus“ und „die christlich-jüdi- verankerte Einrichtungen übernommen, die aufgrund der schen Wurzeln“ geprägten Werte anzuerkennen haben; Trägerschaft für Integrationskurse über viel Erfahrung im andererseits wird, um den Grünen entgegenzukommen, be- Unterricht mit Flüchtlingen verfügen sowie einen guten Zu- tont, dass diese Werte durch die „Vielfalt der zugewander- g a n g z u d i e s e n h a b e n . D e r R e cht s s t a a t s u nt e r r i cht w i r d vo n ten Menschen“ bereichert werden. Die daraus abgeleitete Richterinnen und Richtern sowie Staatsanwältinnen und Selbstverpflichtung der Koalitionäre bleibt vage. Man Staatsanwälten angeboten. Der Unterricht besteht aus schreibt, dass die unantastbare Würde des Menschen ge- vier jeweils 45-minütigen Einheiten und ist als „frühzeitige achtet und geschützt würde, lässt aber offen, mithilfe wel- Erstorientierungshilfe“ gedacht, um allen in Baden-Würt- cher konkreten Maßnahmen dies erfolgen soll.25 temberg untergebrachten Flüchtlingen „zu einem mög- Nur an einer Stelle gibt der Koalitionsvertrag Aufschluss lichst frühen Zeitpunkt das hiesige Werte- und Ordnungs- dazu, was unter unserer Werteordnung konkret verstanden system zu vermitteln“, und um, wie es Justizminister Wolf wird. Dieser Punkt betrifft die Gleichberechtigung der Ge- formulierte, „der Justiz ein Gesicht zu geben und um Ver- schlechter. Dem Programm der CDU folgend heißt es, dass trauen in unseren Rechtsstaat und seine Institutionen zu „Vollverschleierungen, die die Identität der Frau nicht er- werben.“27 kennen lassen“, einer offenen Gesellschaft widersprechen. Das Ringen der beiden Koalitionspartner um Kompromisse „In Baden-Württemberg sollen sich alle offen ins Gesicht tritt auch beim Thema Einbürgerung klar zutage. Die Grü- sehen können“. Nur: Auch hier bleibt offen, was daraus im nen wollten ja das 2011 auf den Weg gebrachte Reform- Sinne von konkreter Politik folgen soll, was wohl so zu inter- programm weiterführen, vor allem mit dem Ziel der allge- pretieren ist, dass die Grünen der CDU die Formulierung meinen Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft und zugestanden haben, aber nicht bereit waren, auch kon- der Abschaffung der Optionspflicht. Beides ist mit dem krete Maßnahmen aufzunehmen. Rückblickend kann je- CDU-Programm unvereinbar. Da beide Aspekte in der Ge-

Eine Integrationsmanagerin der Stadt Metzingen berät in einer Flüchtlingsunterkunft. Das Herzstück des 2017 zwischen der Landesregierung und den Kommunen geschlossenen Pakts für Integration ist ein ein- zelfallbezogenes Integrations- management. Bis zum 31. Januar 2020 hatten die Integrationsmanagerinnen und -manager über 1,4 Millionen Beratungsgespräche geführt und mit den von ihnen betreu- ten Flüchtlingen ca. 60.000 Integrationspläne erarbeitet. picture alliance/dpa

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 244244 330.11.200.11.20 08:4308:43 setzgebungskompetenz des Bundes liegen und insofern INTEGRATIONSPOLITIK: der direkte Gestaltungsrahmen ohnehin eingeschränkt ist, FOLGENBEWÄLTIGUNG STATT REFORMEN gaben sich die Grünen damit zufrieden, dass der Koaliti- onsvertrag die Bedeutung der Einbürgerung herausstellt und für einen feierlichen Rahmen bei Einbürgerungsveran- xis nicht ganz so vollumfänglich zum Einsatz wie es die staltungen plädiert.28 Konzeption vorsah. Das wird schon aus der großen Diskre- Vergleicht man den von Grün-Rot 2011 geschlossenen Ko- panz zwischen Beratungsgesprächen und vereinbarten In- alitionsvertrag mit dem von Grün-Schwarz, sticht ins Auge, tegrationsplänen deutlich, auch wenn man bedenkt, dass dass 2011 ein Reformprogramm die Basis bildete, zu des- mit der Vereinbarung und Nachjustierung von Integrati- sen Umsetzung in der Regel Maßnahmen benannt wurden. onsplänen mehrere Beratungsgespräche einhergehen, 2016 spielen Reformen, die das parteipolitische Asyl- und und dass nicht jede Beratung zu einem Integrationsplan Integrationsverständnis in Politik überführen möchten, al- führt. Dass dem Integrationsplan nicht der ihm zugedachte lenfalls eine weit nachgelagerte Rolle. Im Zentrum stehen Stellenwert zukam, hat vor allem damit zu tun, dass sowohl Absichtserklärungen dazu, wie die durch die Fluchtmigrati- ein Teil der Integrationsmanagerinnen und Integrations- onspolitik 2015/16 geschaffenen Herausforderungen ge- manager als auch ein Teil der Flüchtlinge Vorbehalte ge- meistert werden können. Von der Formulierung konkreter genüber diesem Steuerungsinstrument hatten. Maßnahmen nahm man vermutlich aus zwei Gründen Ab- An dieser Stelle tritt auch eine Schwäche des ansonsten stand: (1) weil die Situation sich noch dynamisch entwi- aufgrund der intensiven Betreuung und guten Vernetzung ckelte, sodass man sich durch voreilige Festlegungen den mit den Regelstrukturen (z. B. Agentur für Arbeit, Jobcenter, Handlungsspielraum nicht verengen wollte; und (2) weil Flüchtlingssozialarbeit) als erfolgreich zu wertenden Pakts die Positionen von Bündnis 90/Die Grünen und der CDU für Integration zutage. Zwar heißt es in dessen Präambel, an vielen Punkten eine von beiden gemeinsam getragene dass Land und Kommunen „vom Leitsatz des ‚Förderns und Politik schwierig machten. Forderns‘ ausgehen“, nachfolgend ist aber weder im Pakt Da man sich am leichtesten auf Maßnahmen zur strukturel- für Integration noch in der Verwaltungsvorschrift „Integra- len Integration von Flüchtlingen einigen konnte und dieser tionsmanagement“ ein Sanktions- oder Anreizmittel ent- Aspekt ein besonders dringlicher war, wurde der Pakt für halten, um die Motivation von Flüchtlingen zu erhöhen, die Integration zum wichtigsten integrationspolitischen Instru- Angebote des Integrationsmanagements wahrzunehmen ment der Kiwi-Koalition. beziehungsweise diese Angebote in den intendierten Wir- kungen wahrzunehmen – also als Hilfe zur Selbsthilfe. D a s s m a n d a v o n a b s a h , e i n e M i twirkungspflicht der Flücht- Herzstück der Folgenbewältigungspolitik: linge zu verankern, bedeutet, dass letztendlich der Staat Pakt für Integration viel für die Förderung von Flüchtlingen tut, aber kein wirk- sames Instrument geschaffen hat, um auch et was einzufor- Nach einer längeren Verhandlungsphase schloss die Lan- dern. desregierung am 27. April 2017 mit den Kommunen den Damit hat es die Landesregierung (zusammen mit den Kom- Pakt für Integration (PIK) ab. Ursprünglich war der Pakt für munen) versäumt, beim Herzstück ihrer Integrationsmaß- Integration auf zwei Jahre angelegt, inzwischen wurde er nahmen für Flüchtlinge einzulösen, was sie im Koalitions- bis ins Jahr 2021 verlängert. Das Herzstück des Pakts ist ein vertrag mit Nachdruck ankündigte: „Wir fördern durch In- einzelfallbezogenes Integrationsmanagement. Finanziert tegrationsmaßnahmen, fordern aber auch die aktive wird es mit jährlich 58 Millionen Euro – ein Betrag, der es Beteiligung der Leistungsempfänger. Viele Maßnahmen fast allen 1.101 Kommunen ermöglichte, Integrationsmana- haben einen verpflichtenden Charakter und Versäumnisse gerinnen und Integrationsmanager für die Einzelfallbe- sind mit Konsequenzen verbunden. Diese Regelungen sind treuung von Flüchtlingen einzustellen. Bis zum 31. Januar kein Selbstzweck, sondern schaffen die Voraussetzung für 2020 hatten die Integrationsmanagerinnen und Integrati- eine erfolgreiche Integration. Wir werden darauf achten, onsmanager mehr als 1,4 Millionen Beratungsgespräche dass diese stringent durchgesetzt werden.“32 durchgeführt und mit den von ihnen betreuten Flüchtlingen Neben dem Integrationsmanagement enthält der Pakt für annähernd 60.000 Integrationspläne erarbeitet.29 Integration Maßnahmen zum Spracherwerb, zur Unter- Die im Pakt für Integration formulierte Hauptaufgabe für stützung von jungen Flüchtlingen in der Schule und beim die Integrationsmanagerinnen und Integrationsmanager Übergang von der Schule in die Ausbildung sowie zur Stär- ist es, die Selbstständigkeit und Selbstverantwortung der kung bürgerschaftlicher Strukturen und des Ehrenamts. betreuten Flüchtlinge zu stärken, um sie in die Lage zu ver- Zur Förderung des Spracherwerbs wurde bereits im März setzen, dass sie die „Angebote der Integration und Teil- 2015 die Verwaltungsvorschrift Deutsch (VwV Deutsch) ein- habe“ nicht nur kennen, sondern auch selbstständig nut- geführt, die bis heute die Grundlage der Sprachförderung zen können.30 Zudem sollen sie mit ihnen individuelle Inte- bildet. Das finanzielle Volumen wurde deutlich erhöht: von grationspläne erstellen, in denen gemeinsam Etappenziele ca. 4,6 Millionen Euro im Jahr 2015 auf gegenwärtig 10 Mil- und Maßnahmen zu deren Umsetzung vereinbart werden, lionen Euro. Die VwV Deutsch ermöglicht die Förderung des zuvorderst hinsichtlich des Sprach- und Bildungserwerbs, Spracherwerbs vor allem von Asylbewerbern mit geringer beruflicher Qualifizierungen und beruflicher Tätigkeiten Bleibeperspektive, die keinen Zugang zu den vom Bund fi- sowie dem Themenfeld Wohnen. Den Integrationsmana- nanzierten Integrationskursen haben. Dieser Personen- gerinnen und Integrationsmanagern kommt zudem die gruppe soll so, unabhängig von ihrer Bleibeperspektive, Aufgabe zu, die Flüchtlinge bei der Erreichung dieser Ziele die Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu unterstützen und auf deren Einhaltung zu achten.31 – und sei es nur temporär – eröffnet werden. Im Lauf der Le- Allerdings: Der als zentrales Instrument des Integrations- gislaturperiode wurde die VwV Deutsch zudem im Einklang managements gedachte Integrationsplan kam in der Pra- mit den im PIK genannten Zielen novelliert, um zielgruppen-

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 245245 330.11.200.11.20 08:4308:43 orientierte Angebote ausbringen zu können, insbesondere für Frauen mit Kindern sowie für Auszubildende und Berufs- tätige, für die tätigkeitsspezifische Begleitprogramme zur Sprachförderung eingerichtet wurden.33

Sandra Kostner Sandra Anfang Februar 2018 wurde das Programm „Integration durch Bürgerschaftliches Engagement und Zivilgesell- schaft“ aufgelegt, um das bürgerschaftliche Engagement von und für Migrantinnen und Migranten in den kommen- den beiden Jahren mit insgesamt 5,4 Millionen Euro zu fördern. Als Bestandteil des Pakts für Integration wurde das Programm an fast 200 Standorten, die sich über das ganze Land verteilen, durchgeführt. Es umfasst sechs För der- programme, darunter das, wie der Name schon anzeigt, bereits länger bestehende Programm „Gemeinsam in Viel- falt 3“, mit dem durch gemeinsames bürgerschaftliches En- gagement das Zusammenleben vor Ort von Zugewander- ten und Einheimischen verbessert werden soll. Inhaltlich ergänzt wird es durch das Programm „Nachbarschafts- gespräche“, das dazu beitragen soll, Zugewanderte und Einheimische, die in einem Quartier leben, zusammenzu- bringen. Einen anderen Schwerpunkt setzen die Programm- bausteine „Qualifiziert. Engagiert“ sowie „Gut beraten! In- tegration“. Diese Bausteine zielen auf die Qualifizierung von Ehrenamtlichen ab und wollen zivilgesellschaftliche In- Eine Schülerin schreibt in Schwäbisch Gmünd beim Deutsch- itiativen durch entsprechende Beratungsmöglichkeiten bei unterricht für Asylbewerber auf die Tafel. Der 2017 der Planung und Umsetzung von Integrations- und Beteili- geschlossene Pakt für Integration enthält u. a. Maßnahmen gungsprojekten für Zugewanderte unterstützen.34 zum Spracherwerb, zur Unterstützung von jungen Flüchtlin- Zur Unterstützung von jungen Flüchtlingen in der Schule gen in der Schule und beim Übergang von der Schule in die und beim Übergang in den Beruf wurden die Mittel für die Ausbildung sowie zur Stärkung des Ehrenamts. Schulsozialarbeit aufgestockt und zusätzliche Mittel für picture alliance/dpa die „Ausbildungsvorbereitung dual“ (AVdual) zur Verfü- gung gestellt, sodass mehr Stellen für AVdual-Begleiterin- nen und -Begleiter eingerichtet werden konnten. Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) vom Juni 2020 zeigte, dass keine Gruppe aufgrund der Corona-Maßnahmen mehr vom Verlust des Arbeits- Weniger Folgenbewältigung, mehr Integrationspolitik platzes betroffen war als Flüchtlinge. Dies liegt vor allem für alle daran, dass sie in besonders betroffenen Branchen und häufig als Leiharbeiter beschäftigt sind.36 Der Leiter des Zu Beginn der Legislaturperiode stand das Thema Flucht- IAB, Herbert Brücker, äußerte sich in der ZEIT vor allem migration im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit. pessimistisch zu den Arbeitsmarktchancen derjenigen, die Dementsprechend viel Raum nahm dieses Feld auch in der beruflich noch nicht Fuß gefasst hatten: „Das ist sehr Integrationspolitik ein. Gegen Ende der Legislaturperiode schlimm für die Menschen, die nun schon seit fünf Jahren in zeichnet sich eine Rückkehr zu einer Integrationspolitik für Deutschland sind und noch überhaupt nicht auf dem Ar- alle ab, also einer Politik, die auch den Bedarf anderer Mi- beitsmarkt angekommen sind. Viele mussten lange auf ei- grantinnen/Migranten und deren Nachkommen wieder nen Sprachkurs warten, da hat sich vieles verzögert, und verstärkt in den Blick nimmt. So trat im April 2019 die „Ver- nun kommt auch noch die Krise dazwischen und sie werden waltungsvorschrift Integrationsbeauftragte“ in Kraft, mit noch einmal Jahre warten müssen, bis sie eine Chance ha- der das Land nun dauerhaft und flächendeckend die Kom- ben.“37 Sollte Brücker Recht behalten, dann steht die Integ- munen finanziell bei der Beschäftigung von Integrations- rationspolitik vor der herausfordernden Aufgabe, diese beauftragten unterstützt. Im Gegensatz zu den Integrati- Personengruppe trotz düsterer Aussichten zu motivieren, onsmanagerinnen und -managern umfasst das Tätigkeits- weiter an ihren sprachlichen und beruflichen Qualifikatio- feld der Integrationsbeauftragten alle Menschen mit nen zu arbeiten, um den Eintritt in den Arbeitsmarkt zu Migrationshintergrund, sodass auf diese Weise die Be- schaffen, sobald sich dieser erholt. lange anderer Migrantengruppen wieder vermehrt aufge- Resümierend lässt sich festhalten: Im Gegensatz zum Regie- griffen werden.35 Da der Bedarf von Neuzuwanderern un- rungswechsel 2011, der mit einem von einer Reform agenda abhängig davon, ob sie als Er we r bs- ode r Fluchtmigrante n getragenen Politikwechsel im Handlungsfeld Integration kommen, im Hinblick auf Wohnen, Sprache, Bildung und einherging, ist die grün-schwarze Legislaturperiode von Arbeitsmarkt in vielerlei Hinsicht deckungsgleich ist, sollte einem offenkundigen Mangel an Reformbestrebungen ferner überlegt werden, das Angebot des Integrationsma- gekennzeichnet. Dafür zeichnen zwei Gründe verantwort- nagements für alle Neuzuwanderer zu öffnen. lich: (1) Der realpolitische Handlungsdruck, der auch für Aktuell stellt sich für die Integrationspolitik in Bezug auf die Grünen bedeutete, dass sie in den Folgenbewälti- Personen, denen ein Schutzstatus zuerkannt wurde, vor al- gungsmodus schalten und ihre programmatischen Reform- lem die Frage: Wie wird sich Corona mittel- und längerfris- orientierungen erst einmal zurückstellen mussten. (2) Pro- tig auf deren Arbeitsmarktperspektiven auswirken? Eine grammatisch liegen die Grünen und die CDU in der Asyl-

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 246246 330.11.200.11.20 08:4308:43 und Integrationspolitik an vielen Punkten recht weit INTEGRATIONSPOLITIK: auseinander. Man konnte sich zwar pragmatisch auf wich- FOLGENBEWÄLTIGUNG STATT REFORMEN tige Eckpunkte zur Folgenbewältigung einigen – wie im Pakt für Integration –, mit Blick auf Reformen streben die bei- den Parteien aber oft in unterschiedliche Richtungen. Käme 10 „Grün aus Verantwortung für Baden-Württemberg“ von Bündnis 90/ Die Grünen, S. 218. es zu einer Neuauflage der Kiwi-Koalition im Frühjahr 2021, 11 „Gemeinsam. Zukunft. Schaffen. Das Regierungsprogramm der CDU ist davon auszugehen, dass Asyl- und Integrationspolitik Baden-Württemberg“, Punkt 171. weitgehend eine Status-Quo-Politik bleiben wird. 12 Ebd., Punkt 172. 13, S. 224. 14 Ebd. S. 217. 15 „Gemeinsam. Zukunft. Schaffen. Das Regierungsprogramm der CDU Baden-Württemberg“, Punkt 177. LITERATUR 16 „Grün aus Verantwortung für Baden-Württemberg“ von Bündnis 90/ Bündnis 90/Die Grünen (2015): Grün aus Verantwortung für Baden-Würt- Die Grünen, S. 228. temberg. 17 Ebd. S. 227. Der sogenannten Optionspflicht unterliegen in Deutsch- Bündnis 90/Die Grünen und die CDU Baden-Württemberg (2016): Baden- land geborene Kinder ausländischer Eltern aus Drittstaaten. Zwischen Württemberg gestalten. Verlässlich. Nachhaltig. Innovativ. Koalitions- dem Jahr 2000 und 2014 mussten sich diese Kinder zwischen dem 18. und vertrag zwischen Bündnis 90/Die Grünen und der CDU 2016–2021, 21. Lebensjahr für die deutsche oder die ausländische Staatsangehörig- Stuttgart, 9. Mai. keit entscheiden. Seitdem gilt die Optionspflicht nicht mehr für in Deutsch- CDU Baden-Württemberg (2015): Gemeinsam. Zukunft. Schaffen. Das land aufgewachsene Kinder. Als in Deutschland aufgewachsen gilt, wer Regierungsprogramm der CDU Baden-Württemberg 2016–2021. sich acht Jahre gewöhnlich in Deutschland aufgehalten hat bzw. sechs Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (15. Juni 2020): Der wirt- Jahre in Deutschland die Schule besucht hat bzw. einen deutschen Schul- schaftliche Einbruch gefährdet den Arbeitsmarkteinstieg von Geflüch- abschluss erworben hat. Durch diese Reform ist der Kreis der Options- teten. URL: https://www.iab-forum.de/die-folgen-der-virusbekaemp- pflichtigen deutlich kleiner geworden. fung-erschweren-das-ankommen-von-gefluechteten/ [21.09.2020]. 18 „Gemeinsam. Zukunft. Schaffen. Das Regierungsprogramm der CDU Landesregierung Baden-Württemberg (2015): Partizipations- und Integra- Baden-Württemberg“, Punkt 174. tionsgesetz (PartIntG BW) vom 1. Dezember. URL: http://www.landes- 19 Ebd., Punkt 180. recht-bw.de/jportal/?quelle=jlink&query=PartIntG+BW+Inhaltsverz 20 Ebd. eichnis&psml=bsbawueprod.psml&max=true [20.09.2020]. 21 Zu den Abschiebezahlen der Bundesländer in Vergleich, siehe: htt- Landesregierung (13. September 2020): Zahlen, Daten und Fakten zur In- ps://www.bpb.de/gesellschaft/migration/flucht/zahlen-zu- tegrationspolitik. URL: https://sozialministerium.baden-wuerttemberg. asyl/265765/abschiebungen-in-deutschland [24.09.2020]. de/de/service/presse/pressemitteilung/pid/zahlen-daten-und-fakten- 22 Koalitionsvertrag, S. 64f. zur-baden-wuerttembergischen-integrationspolitik-1/ [20.09.2020]. 23 Ebd., S. 64. Ministerium für Justiz und für Europa (27. April 2017): Kooperationsverein- 24 Ebd., S. 128f. barung über Rechtsstaatsunterricht für Flüchtlinge. URL: https://www. 25 Ebd., S. 125f. justiz-bw.de/,Lde/Startseite/Service/Ministerium+der+Justiz+und+fu 26 ZEIT-Online (21. Juli 2020): Baden-Württemberg verbietet Vollver- er+Europa+und+Volkshochschulverband+schliessen+Kooperationsv schleierung an Schulen. ereinbarung+ueber+Rechtsstaatsunterricht+fuer+Fluechtlinge?LISTP 27 Ministerium für Justiz: Kooperationsvereinbarung über Rechtsstaats- AGE=1858194 [20.09.2020]. unterricht für Flüchtlinge. Ministerium für Soziales und Integration (17. April 2019): Land stärkt kom- 28 Koalitionsvertrag, S. 130. munale Integrationsbeauftragte. URL: https://www.baden-wuerttem- 29 Landesregierung: Zahlen, Daten und Fakten zur Integrationspolitik. berg.de/de/service/presse/pressemitteilung/pid/land-staerkt-kom- 30 Pakt für Integration, S. 2. munale-integrationsbeauftragte/ [20.09.2020]. 31 VwV Integrationsmanagement, S. 3ff. Ministerium für Soziales und Integration (10. April 2019): VwV Integrations- 32 Koalitionsvertrag, S. 126. beauftragte. URL: https://sozialministerium.baden-wuerttemberg.de/ 33 Landesregierung: Zahlen, Daten und Fakten, S. 2f. de/integration/foerderung-der-integration-auf-kommunaler-ebene/ 34 Ministerium für Soziales und Integration: Förderbereich „Integration vwv-integrationsbeauftragte/ [20.09.2020]. durch bürgerschaftliches Engagement“. Ministerium für Soziales und Integration (2. Februar 2018): Förderbereich 35 Ministerium für Soziales und Integration: Land stärkt kommunale Inte- „Integration durch bürgerschaftliches Engagement“. URL: https://sozi- grationsbeauftragte; Ministerium für Soziales und Integration: VwV Inte- alministerium.baden-wuerttemberg.de/de/integration/pakt-fuer-inte- grationsbeauftragte. gration/foerderbereich-buergerengagement/ [20.09.2020]. 36 IAB: Der wirtschaftliche Einbruch gefährdet den Arbeitsmarkteinstieg Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg (27. April von Geflüchteten. 2017): Pakt für Integration. URL: https://sozialministerium.baden-wuert- 37 Zitiert in Kolja Rudzio: Schlechte Aussichten für Geflüchtete. temberg.de/de/integration/pakt-fuer-integration/pakt-fuer-integrati- on/ [20.09.2020]. Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg (11. Dezem- ber 2017): VwV Integrationsmanagement. Az.: 4–5913.2–400/1. URL: UNSERE AUTORIN https://rp.baden-wuerttemberg.de/Themen/International/Fluechtlin- ge/Integration/Documents/IGM_VwV.pdf [24.09.2020]. Rudzio, Kolja (11. Juni 2020): Schlechte Aussichten für Geflüchtete, ZEIT- Online. URL: https://www.zeit.de/wirtschaft/2020–06/gefluechtete- arbeitsmarkt-corona-krise-arbeitslosigkeit [21.09.2020]. ZEIT-Online (21. Juli 2020): Baden-Württemberg verbietet Vollverschleie- rung an Schulen. URL: https://www.zeit.de/gesellschaft/schu- le/2020–07/baden-wuerttemberg-verbot-vollverschleierung-schulen- winfried-kretschmann [20. September 2020].

ANMERKUNGEN 1 Regierungsprogramm „Grün aus Verantwortung für Baden-Württem- Dr. Sandra Kostner ist seit Mai 2010 Geschäftsführerin des berg“ von Bündnis 90/Die Grünen, S. 216f. Masterstudiengangs „Interkulturalität und Integration“ an der 2 Ebd., S. 217. 3 Ebd. Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd. Ihre For- 4 Ebd. S. 221ff. schungsschwerpunkte sind vergleichende Migrations- und Integ- 5 Ebd. S. 223f. rationspolitik mit dem Fokus Deutschland, Australien und Groß- 6 Ebd., S. 224. 7 Regierungsprogramm „Gemeinsam. Zukunft. Schaffen. Das Regie- britannien sowie Prozesse der interkulturellen Öffnung und Diver- rungsprogramm der CDU Baden-Württemberg“, Punkt 167. sitätsorientierung von Hochschulen, Verwaltungen und Kulturein- 8 Ebd., Punkt 168. richtungen. 9 Ebd., Punkt 169 und Punkt 170.

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 247247 330.11.200.11.20 08:4308:43 VERKEHRS- UND ENERGIEPOLITIK Energie und Verkehr in Baden-Württemberg Hans Gebhardt

Noch in der früheren grün-roten Regierung hatte dies et- Im grün-schwarzen Koalitionsvertrag ist Nachhaltigkeit was vollmundiger geklungen: „Wir machen Baden-Würt- ein zentrales politisches Leitmotiv. Das Verständnis einer temberg zu einem Pionierland für nachhaltige Mobilität“ nachhaltigen Politik konkretisiert sich in den Bereichen hatte die Ankündigung von Verkehrsminister Winfried Her- Verkehr und Energie. Vor allem die regenerativen Ener- mann gelautet. Grün-Rot war seinerzeit ein Novum in der gien (Wasser- und Windkraft, Solar- und Bioenergie) und Politik der Bundesländer, und die Erwartungen an die der Verkehr jenseits des automobilen Individualverkehrs grün-rot geführte Landesregierung bei den Wählerinnen haben hierbei eine Schlüsselfunktion. Hans Gebhardt und Wählern waren von großen Hoffnungen ebenso wie bilanziert die eingeschlagenen Entwicklungspfade in von erheblichen Befürchtungen begleitet. Demgegenüber diesen Bereichen und erörtert zugleich das jeweils damit waren die Erwartungen nach der „schweren Geburt“ der verbundene Konfliktpotential. Deutlich wird, dass die grün-schwarzen Landesregierung weniger eindeutig. verkehrsgeographische Lage Baden-Württembergs so- Grün-Schwarz ist auch 2020 noch keine „übliche“ Partei- wie die Entwicklungen im Mobilitätssektor und letztlich enkonstellation und die Bildung der Koalition war keines- auch die Pfadabhängigkeit langfristiger Projekte die wegs eine „Herzensangelegenheit“, eher eine „Zwangs- Steuerungsmöglichkeiten in den Bereichen Verkehr und ehe“. Die Erwartungen waren damit deutlich reduziert; ob Energie beschränken. So ist z. B. die Energiewende ein sie erfüllt wurden, wird nicht zuletzt die kommende Land- Mehrebenenproblem, mit dem Nutzungs- und Interes- tagswahl 2021 zeigen. Ministerpräsident Kretschmann senkonflikte einhergehen. Eine ökologisch orientierte sieht die Regierungsarbeit der Koalition als „nüchtern be- Politik genießt in der Bevölkerung eine hohe Akzeptanz. trachtet erfolgreich“ (2018). Beide Seiten haben gelernt, Landschaftsveränderungen, Flächenverbrauch, Fragen sich mit dem Partner und dessen Ideen zu arrangieren. der standortgerechten Planung und die soziale Konstruk- Mehr Stellen, mehr Geld kleistern in manchen Politikfel- tion von „Heimat“ bringen jedoch Interessenkonflikte dern Gegensätze zu. Im Zuge der Corona-Krise 2020 sind mit sich. Themen wie Gesundheitsversorgung, Arbeitsplätze, Schu- len und Kitas in den Vordergrund getreten, und die partei- politischen Unterschiede akzentuieren sich hier nur wenig. Gleichwohl lassen sich natürlich die Entwicklungen in den Ökologisch orientierte Politik als zentrales Leitmotiv Bereichen Energie und Verkehr in den letzten Jahren mes-

Den fünf Jahren grün-rote Landesregierung (2011–2016) ist inzwischen die Legislaturperiode einer grün-schwarzen Regierung gefolgt. Damit steht die grüne Partei mit ihrem Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann seit über neun Jahren in der Regierungsverantwortung. Diese Jahre ha- ben die Parteienlandschaft im deutschen Südwesten gründlich verändert. Im Jahr 2006 hatte die CDU noch 44,2 Prozent der Stimmen erhalten und die absolute Mehr- heit war ein realistisches Ziel, während sich die Erwartun- gen heute bei deutlich unter 30 Prozent eingependelt ha- ben. Der tägliche Stau in der Lan- Der Koalitionsvertrag zwischen Grünen und CDU in Ba- deshauptstadt Stuttgart ist den-Württemberg steht unter dem Motto „verlässlich, kennzeichnend für die immer nachhaltig und innovativ“ und stellt an die Spitze das noch zunehmende Motorisie- Statement „Für GRÜNE und CDU ist Nachhaltigkeit ein rung privater Haushalte. Der zentrales politisches Leitmotiv. Damit schützen und erhal- Anteil des Pkw-Verkehrs am ten wir unsere natürlichen, wirtschaftlichen und sozialen gesamten Verkehrsaufkommen Lebensgrundlagen.“ Im Verständnis einer ökologisch ori- steigt nach wie vor. Mobilität entierten Politik dürfte sich nachhaltige Politik vor allem in ist nicht nur eine Daseinsfunk- den Bereichen Verkehr und Energie konkretisieren. Den Be- tion der nachindustriellen reichen regenerativer Energien und Verkehr jenseits des Gesellschaft geworden, son- automobilen Individualverkehrs kommt damit eine Schlüs- dern eines der zentralen Prob- selfunktion zu. leme. Die Mobilität der Zukunft So ähnlich steht es auch im Koalitionsvertrag: „Wir sorgen wird nur durch das intelligente für ein attraktiveres Angebot von Bussen und Bahnen und Zusammenspiel von Straße, bringen den Erhalt und Ausbau der Straßen voran. Ge- Schiene, Wasserstraße und nauso wichtig wie Straßen sind uns die Datenautobahnen. Luftraum in einem vernetzten Deshalb bauen wir das Breitbandnetz flächendeckend System zu bewältigen sein. aus.“ picture alliance/dpa

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 248248 330.11.200.11.20 08:4308:43 sen und beurteilen. Seinerzeit waren die Prämissen relativ ENERGIE UND VERKEHR IN BADEN-WÜRTTEMBERG klar. Ein Schwergewicht an Projekten und Entwicklungen sollte dem öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) ge- genüber dem Individualverkehr zukommen. Zugleich soll- ten Formen regenerativer Energie wie Nutzung der Was- lagen inz wischen erreichen. Gleichwohl bleibt sowohl der serkraft, Solarenergie, Windkraft und Bioenergie eine Ausbau der Verkehrsinfrastruktur als auch die Erzeugung deutlich höhere Priorität eingeräumt werden. von regenerativer Energie in der Regel mit erheblichem Flä- Dieser Entwicklungspfad wurde nicht verlassen, aber es chenverbrauch und entsprechenden Eingriffen in das entwickelt sich doch vieles langsamer und weniger ein- Landschaftsbild verbunden und stößt damit auf regionalen strängig als ursprünglich geplant. Manche Themen wie Protest. In der Landwirtschaft dominiert als Energiepflanze der Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofs sind zu regel- derzeit (noch) Mais, und es werden die landschaftlichen rechten Dauerbrennern im öffentlichen Diskurs geworden, Folgen, Monotonie und Wegfall von Wegrainen und klein- die Rolle der Regionalflughäfen in Karlsruhe, Friedrichsha- räumigen Biotopen beklagt. fen und im nahegelegenen bayerischen Ausland, in Mem- Um viele einst euphorisch diskutierte Projekte wie das eu- mingen, wird zunehmend kritisch gesehen. Die Corona- ropäische „Supergrid“, eine transnationale Zusammenar- Krise hat das Verkehrsverhalten zumindest kurzfristig dra- beit im Bereich der Nordsee mit einem Zusammenschluss matisch verändert, wovon auch auf längere Sicht vor allem von Windkraftanlagen Deutschlands, der Niederlande der Flugverkehr (und die Rolle des Stuttgarter Flughafens) und Großbritanniens, ist es inzwischen eher still gewor- betroffen sein dürfte. Im Bereich der regenerativen Ener- den. Die kontrovers geführte Diskussion um neue Strom- gien kann der zuständige Minister zwar auf Erfolge ver- trassen oder „Stromautobahnen“, welche den überwie- weisen. Im Juli 2011, als von der Bundesregierung der end- gend im Norden Deutschlands erzeugten und im Süden gültige Ausstieg aus der Kernenergie bis Ende des Jahres gebrauchten Strom aus Windenergie transportieren, ist in 2022 beschlossen worden war, erzeugte Baden-Württem- der medialen Diskussion derzeit etwas in den Hintergrund berg noch rund 50 Prozent seines Stroms aus Kernenergie. getreten, auch weil die Leitungen überwiegend unterir- Der Weg zu regenerativer Energie war und ist damit lang disch verlegt werden. Die Probleme sind aber keineswegs und beschwerlich. Strom musste nun schrittweise in ande- alle gelöst. Im Jahr 2023 soll die Stromtrasse Ultranet in ren Formen erzeugt werden. Im Jahr 2017 waren es bereits Betrieb genommen werden; weitere Stromtrassen ( Sued- nur noch 30 Prozent Kernenergie an der Stromerzeugung, Link, SüdOstLink, Ultranet und A-Nord) sollen im Jahr 2025 während der Anteil regenerativer Energieträger bei etwas ans Netz gehen1. Um die gestiegenen Anforderungen an über 25 Prozent, lag. Ursprünglich war dies schneller ge- das Stromnetz zu erfüllen, sollen insgesamt rund 5.900 Ki- plant, vor allem was den Ausbau der Windkraft anbetrifft. lometer Stromleitungen modernisiert oder neu verlegt wer- Die früher emotional geführte Diskussion um die „Verspar- den. gelung“ der Landschaft durch Windräder hat sich deutlich beruhigt, trotz der zunehmenden Größe, welche diese An- Regenerative Energien

Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima (Japan) im März 2011 wurde in Deutschland politisch der Entschluss gefasst, bis zum Jahr 2022 aus der Kernkraft als Teil der Energieversorgung auszusteigen. Zwar wurden erneuer- bare Energien wie Wasserkraft, Biomasse, Geothermie, Photovoltaik und Windkraft bereits mit dem Stromeinspei- sungsgesetz (1991) und dem Erneuerbare-Energien-Ge- setz (2000) gesetzlich gefördert, nun jedoch wurden die Zielsetzungen zur Umsetzung der „Energiewende“ deut- lich ambitionierter (siehe Kühne/Weber 2020: 917f.). Bis 2025 sollen erneuerbare Energien einen Anteil von 40 bis 4 5 Proze nt, z um Jahr 2 0 3 5 von 5 5 bis 6 0 Proze nt am B r ut to - stromverbrauch haben (BMWi 2016). In Baden- Württemberg waren dafür die Ausgangsbedin- gungen keineswegs günstig, vor allem aus zweierlei Grün- den: l Zum einen hatte das Land seit den 1970er-Jahren recht massiv auf den Ausbau von Kernenergie gesetzt. Deren Anteil an der gesamten Stromerzeugung betrug noch 2008 fast 50 Prozent, hinzu kamen weitere 27 Prozent aus Kohle. Erneuerbare Energieträger kamen auf nur 14 Prozent, und der größte Anteil entfiel auf die schon lange etablierte Wasserkraft. Der Aufholbedarf gegenüber anderen Bundesländern war und ist gewaltig. l Zum anderen ist das Bundesland landschaftsgeogra- phisch für die Erzeugung von regenerativen Energien, vor allem Windkraft, wenig begünstigt. Anders als die bevölkerungsarmen Regionen in den neuen Bundeslän-

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 249249 330.11.200.11.20 08:4308:43 Hans Gebhardt Hans

Abbildung 1: Bruttostromerzeugung Baden-Württemberg 2018 Quelle: Baden-Württemberg, Statistisches Landesamt 2020: Bruttostromerzeugung. Online verfügbar unter https://www.statistik-bw.de/Energie/ErzeugVerwend/EN-BS-LR.jsp, abgerufen am 10.10.2020.

dern (z. B. Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg) mit von 55 Prozent (2003) auf 34 Prozent (2018) gesunken ist. ihren durch die Kollektivierung der landwirtschaftlichen Kohle trägt immer noch zu fast 30 Prozent bei. Dabei ist Produktion „ausgeräumten“ Agrarlandschaften ist Ba- allerdings zu berücksichtigen, dass der Stromverbrauch den-Württemberg topographisch, siedlungs- und wirt- pro Einwohner insgesamt in Baden-Württemberg seit Jah- schaftsgeographisch sehr kleinteilig. Windkraftanla- ren sinkt, seit 2007 um rund 15 Prozent. Die noch vor eini- gen kommen vor allem in den Höhenlagen der Mittelge- gen Jahrzehnten erwarteten hohen Verbrauchszuwächse birge (Schwarzwald, Schwäbische Alb, Keuperberge) in vor allem in der Industrie sind in der damals erwarteten Frage. Aber gerade hier ist der Widerstand der lokalen Höhe nie eingetreten. Bevölkerung häufig groß und die Flächennutzungskon- kurrenzen insbesondere mit dem Fremdenverkehr sind Nachwachsende Rohstoffe und Bioenergie offenkundig. Der Anteil erneuerbarer Energieträger am Primärenergie- verbrauch nimmt im Land seit 2003 kontinuierlich zu; er er- Inzwischen ist der Anteil erneuerbarer Energien an der höhte sich von 4,4 Prozent im Jahr 2003 auf 13,0 Prozent im Bruttostromerzeugung von rund sieben Prozent im Jahr Jahr 2017. Unter den erneuerbaren Energiequellen er- 2003 auf gut 28 Prozent im Jahr 2018 gestiegen, während reichte die Biomasse mit 8,9 Prozent den mit Abstand der Anteil der Kernenergie an der Bruttostromerzeugung höchsten Anteil am Primärenergieverbrauch. An zweiter

Abbildung 2: Primärenergieverbrauch aus erneuerbaren Energie- trägern Quelle: https://www.statistik-bw.de/Presse/Pressemitteilungen/2019243 [abgerufen am 26.10.2020].

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 250250 330.11.200.11.20 08:4308:43 und dritter Position folgen die Solarenergie mit 1,7 Prozent ENERGIE UND VERKEHR IN BADEN-WÜRTTEMBERG und die Wasserkraft mit 1,1 Prozent. Als Biomasse werden Stoffe bezeichnet, die einen pflanz- lichen oder tierischen Ursprung haben, also organisch sind. Dazu zählen beispielsweise Holz und Dung, aber verfügt und keinen Ausschlusskriterien unterliegt. Dies ent- auch Pflanzenöl. Biomasse wird in fester, flüssiger und gas- spricht etwa 11,8 Prozent der Fläche Baden-Württembergs. förmiger Form zur Strom- und Wärmeerzeugung sowie zur Von dieser Gesamtfläche werden etwa 220.000 Hektar Herstellung von Biokraftstoffen genutzt. Energiepflanzen (6,2 Prozent der Landesfläche) als bezüglich Windhöffig- wie Raps, Getreide, Zuckerrüben oder Mais spielen eine keit geeignete Flächen und 199.000 Hektar (5,6 Prozent wichtige Rolle. Der sogenannte „Energiepflanzenanbau“ der Landesfläche) als bezüglich Windhöffigkeit geeignete hat, auf die Biogasproduktion bezogen, nach Schätzun- Flächen mit Flächenrestriktionen eingestuft. Nach einer gen der staatlichen Biogasberatung Baden-Württemberg Studie des Bundesverbandes WindEnergie e. V. (2011) einen Anteil an der Landwirtschaftlichen Nutzfläche (LF) über das Potential für die Windenergie in Baden-Württem- von 9,4 Prozent. Anbauentscheidungen der Landwirte wer- berg ist die Realisierung von Windenergienutzung auf den zunehmend durch die Nachfrage aus dem Energiesek- zwei Prozent der Landesfläche als ein umsetzbares Ziel tor bestimmt. Mais hat, wie das Ministerium auf eine kleine einzuschätzen. Anfrage eines CDU-Abgeordneten mitteilte2, mit 66 Pro- Im Jahr 2010 gab es in Baden-Württemberg 353 Wind- zent den größten Anteil am Substratmix, gefolgt von Gras- energieanlagen mit einer installierten Gesamtleistung von silage von Grünland mit 19 Prozent, Ganzpflanzensilage 462 Megawatt. Bis Ende 2019 erhöhte sich die Anzahl der aus Getreide mit acht Prozent und sonstigen Ackerkulturen Anlagen auf 715 und die Gesamtleistung stieg auf 1.525 mit sieben Prozent. Zwischen 1999 und 2010 hatte die Megawatt. Damit erreichte die Windkraft Ende 2019 einen Maisanbaufläche insgesamt in Baden-Württemberg um Anteil von 5,3 Prozent an der Bruttostromerzeugung. 32,1 Prozent zugenommen. Mais ist inzwischen mit einem Diese Zahlen klingen zunächst überzeugend, bei näherem Anteil von 24 Prozent an der Ackerfläche die zweitwich- Hinsehen spiegeln sie aber eine Vielzahl von Problemen. tigste Kulturart im Ackerbau. Silomais für die Tierfütterung Die grün-rote Koalition war 2011 mit erheblicher Euphorie oder Biogasmais wird für mehr als 136.200 Hektar (gut 70 Prozent der Maisfläche) angegeben. Gegenüber 2018 wurde 2019 die Silomaisfläche um über vier Prozent ausge- Abbildung 3: Windpotential Baden-Württemberg weitet, ein neuer Höchstwert. Trotz mitunter geäußerter Kritik an dieser zunehmenden Monotonisierung und damit z. B. Beeinträchtigung des Tourismus ist in den letzten Jahren die kontroverse Diskus- sion um Biogasanlagen und die Rolle des Mais etwas ab- geebbt, nicht zuletzt aufgrund gesetzlicher Bestimmungen, w e l c h e d e n M a i s a n t e i l b e g r e n z e n . A n g e s t r e b t w i r d k ü n f t i g ein höherer Anteil anderer Energiepflanzen mit geringerer Wuchshöhe und damit geringerer Beeinträchtigung des Landschaftsbildes.

Windkraft Die aktuelle öffentliche Diskussion um regenerative Ener- gien wird vor allem vom Ausbau der Windenergie geprägt, denn hier liegen die größten, vor allem lokalen Konflikt- potentiale. Mehr noch als bei monotonen Agrarlandschaf- ten bestimmt hier auch die landschaftsgeographische Dis- kussion die Debatten. Baden-Württemberg hat Anteil an sehr unterschiedlichen Naturräumen (Gebhardt 2008) mit verschiedenem Potential für die Inwertsetzung durch Windkraft. Aufgrund der Kleinkammerung des Landes kommen hierfür vor allem einige Teilräume in den Mittelge- birgsregionen des Landes in Frage (Schwarzwald, Schwä- bische Alb, Schwäbischer Wald, Teile von Hohenlohe). Diese Regionen spielen aber auch als Naherholungsorte und Naturhabitate eine wichtige Rolle. Überdies sind die Erschließungskosten in den bergigen Regionen des Landes höher als im flachen Niedersachsen oder in Schleswig- Holstein. Potentiale für die Nutzung von Windkraft bemessen sich einerseits an der „Windhöffigkeit“ der verschiedenen Regi- onen, diese werden jedoch eingeschränkt durch Flächen- restriktionen durch Siedlungen, Infrastrukturen und Schutz- gebiete. Die Potentialanalyse im Energieatlas Baden- 3 Quelle: Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg (2019): Windatlas Württemberg kommt hier auf eine Gesamtfläche von etwa Baden-Württemberg. Online verfügbar unter https://www.energieatlas- 419.000 Hektar, die über ein ausreichendes Windangebot bw.de/wind/windatlas-baden-wurttemberg, abgerufen am 12.10.2020.

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 251251 330.11.200.11.20 08:4308:43 in den Ausbau der Windenergie gestartet. 1.200 Windan- Abbildung 4: Probleme bei der Umsetzung der Energie- lagen sollten gebaut, und bis 2020 sollten mindestens zehn wende Prozent des Energiebedarfs aus heimischer Windenergie gedeckt werden. Inzwischen ist der Ausbau jedoch weit-

Hans Gebhardt Hans gehend zum Erliegen gekommen. 2019 wurden nur zwei Windkraftanlagen neu gebaut. Gründe hierfür liegen häufig im Naturschutz (Vogelschutz vor Klimaschutz), in der Geräuschentwicklung (Lautstärke und Infraschall, Schattenwurf etc.), im Preisverfall für Windstrom seit 2017 aufgrund neuer gesetzlicher Regelun- gen und in massiven Akzeptanzproblemen bei den betrof- fenen Bevölkerungen. Notwendige Abstandsregeln zu Windkraftanlagen werden diskutiert, sie liegen zwischen 700 und 1000 Meter. Bei 1000 Meter wären zahlreiche Anlagen in Baden-Württemberg nicht mehr realisierbar. Das „Vorschussmisstrauen“ der Bevölkerung gegenüber Planungen für großflächige Infrastruktureinrichtungen ist, dank der Erfahrungen mit Kernkraftwerken, Betrieben der Großchemie, Flughafen- und Autobahnausbauten, inzwi- schen verbreitet. Windparks werden dabei nicht nur als ästhetisches Problem – „Verspargelung“ der Landschaft – gesehen, sondern in Baden-Württemberg hat die Bevölke- rung wenig Erfahrung mit solchen Einrichtungen und ist da- her misstrauisch. Kurz: in der Windkraftbranche herrscht derzeit Flaute.

Photovoltaik Photovoltaikanlagen wandeln Sonnenlicht in elektrischen Strom um, welcher entweder im eigenen Haushalt ver- Statista (2020): Was sind Ihrer Meinung nach in Zukunft die größten Probleme bei der Umsetzung der Energiewende? Online verfügbar unter braucht oder ins örtliche Stromnetz eingespeist wird. Auf https://de.statista.com/statistik/daten/studie/861110/umfrage/umfrage- sie entfallen 8,7 Prozent der Bruttostromerzeugung in Ba- zu-problemen-bei-der-umsetzung-der-energiewende/, abgerufen am den-Württemberg. Die Kosten des solar erzeugten Stroms 18.10.2020. sind dabei in den vergangenen Jahren dramatisch gesun- ken, die Attraktivität für die Einrichtung solcher Anlagen Energiegenossenschaften, Anlagenhersteller und andere aufgrund politischer Entscheidungen allerdings auch. Unternehmen im Bereich der Erneuerbare-Energien-Wirt- Die früh in Deutschland aufgebaute Photovoltaikindustrie schaft, Energieagenturen, Stadtwerke, Beratungs- und For- mit eigenen Fertigungsstätten wurde durch politische Ent- schungseinrichtungen sowie eine Vielzahl individueller scheidungen mehrmals negativ beeinflusst. Ab Januar Energieproduzenten und -verbraucher. Nutzungs- und In- 2021 sollten zahlreiche Betreiber von Photovoltaikanla- teressenkonflikte sind dabei vorprogrammiert. gen, welche sich bereits vor 2001 eine Solaranlage zuge- Mit der Energiewende vollzieht sich räumlich eine deutli- legt hatten, keine Einspeisevergütung mehr für ihren Solar- che Dezentralisierung der Energieerzeugung. Aus weni- strom erhalten. Diese Entscheidung wurde inzwischen teil- gen und eher zentralen Großstromanbietern wird eine weise revidiert. Vielzahl dezentral verteilter Energieversorger (vgl. Klagge In Baden-Württemberg sollen Solaranlagen auf neuen 2013; Plankl 2013), deren Standorte häufig im ländlichen Nicht-Wohngebäuden bereits ab 2022 landesweit Vor- Raum liegen. Geschätzt mehr als die Hälfte der Photovol- schrift werden. Damit könnte das enorme Flächenpotential taik-, knapp 70 Prozent aller Biomasse-, Biogas- und leicht genutzt werden, das es u. a. auf Lager- und Produktions- über drei Viertel der Windkraftanlagen liegen im ländli- hallen oder Parkhäusern gibt. In den letzten Jahren wird chen Raum (Kühne/Weber 2020: 918). Die Energiewende auch zunehmend der Einsatz von Photovoltaik auf land- wird so in hohem Maße zu einer „Wende“ für ländliche wirtschaftlichen Flächen diskutiert, in Gemengelage mit Räume in Deutschland. landwirtschaftlicher Nutzung. Die EU-Politik für die Liberalisierung des Strommarktes hat zur Auflösung der einstigen Gebietsmonopole und der oli- Die Energiewende als Mehrebenenproblem gopolistischen Struktur der deutschen Energiewirtschaft Die Energiewende ist, wie Klaus Beckmann et al. (2013), ebenso beigetragen wie das EEG (Erneuerbare-Energien- Ludger Gailing (2015) und Britta Klagge (2013) feststellen, Gesetz). Dieses hat aus vielen privaten Stromkonsumenten eine Mehrebenen-Governance-Frage geworden. Energie- „Prosumenten“ gemacht, welche zugleich Strom konsumie- wirtschaft wurde in Deutschland lange Zeit von wenigen, ren und produzieren. darauf spezialisierten Akteuren betrieben: den großen Eine 2 0 2 0 von Statis ta publizie r te Unte rsuchung z u Proble - Energieversorgungsunternehmen und den Stadtwerken. men bei der Umsetzung der Energiewende4 kommt zu dem Dies hat sich durch die Energiewende deutlich verändert. Schluss, dass neben den Finanzierungskosten vor allem Heute verteilt sich die Aufgabe auf eine große Vielfalt an politische Uneinigkeit und Probleme mit den Netzen bei Akteuren mit sehr unterschiedlichen raumbezogenen Pers- den Befragten im Vordergrund stehen. Die Energiewende pektiven und Interessen: Landkreise, regionale Planungs- hat in Deutschland wie auch in Baden-Württemberg noch stellen, Netzbetreiber, Energieversorgungsunternehmen, ein erhebliches Stück des Weges vor sich.

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 252252 330.11.200.11.20 08:4308:43 Verkehr und räumliche Mobilität ENERGIE UND VERKEHR IN BADEN-WÜRTTEMBERG in Baden-Württemberg

Die Gestaltung von Mobilität und Verkehr geht mit einer Vielzahl von Abwägungen und Entscheidungen einher, eine zentrale verkehrsgeographische Lage geraten. Dies etwa hinsichtlich der Anbindung von Orten und Regionen, zeigt sich in einem seit Jahrzehnten überproportional zu- des Verlaufs von Verkehrswegen oder der Zumutung von nehmenden Verkehr, insbesondere des Straßenverkehrs, negativen Auswirkungen des Verkehrs. Generell bewegt und einem wachsenden Anteil am überregionalen Transit- sich Verkehrspolitik dabei im Spannungsgefüge von öko- verkehr. nomischen Zielen wie der Wahrung von Wohlstand und Kennzeichnend ist eine immer noch zunehmende Motori- Wachstum einerseits sowie der sozialen und ökologischen sierung der privaten Haushalte und damit steigende An- Verträglichkeit der Verkehrsabläufe andererseits (Lanzen- teile des Pkw-Verkehrs am gesamten Verkehrsaufkommen. dorf et al. 2020: 1019f.). Auch die Gütertransporte sind stark gewachsen. Die mo- Martin Lanzendorf u. a. (2020) nennen eine Reihe von Fel- dernen Netzwerke der stark dienstleistungsgeprägten in- dern, mit denen sich die Mobilitäts- bzw. Verkehrsfor- dustriellen Fertigung von leichten und hochwertigen Wa- schung befasst: die Rolle des Automobils für moderne Ge- ren basieren vor allem auf dem Straßengüterverkehr. Da- sellschaften, das starke Wachstum von Güterverkehr und ran angepasste Logistikkonzepte („just-in-time“) verlagern die Veränderungen in Logistikprozessen, die Frage der die Lagerhaltung ein Stück weit auf die Straße, arbeitstei- Gestaltung nachhaltiger urbaner Mobilität unter dem Vor- lige Produktionen innerhalb der EU führen zu deutlich an- zeichen des Klimawandels sowie die Analyse von techno- gestiegenen Zwischentransporten von Land zu Land. logischem Fortschritt und Veränderungen nach der sich Am Wachstum dieser Verkehre partizipieren in Deutsch- abzeichnenden Digitalisierung von Mobilität. land vor allem der Lkw, daneben das Containerschiff und Baden-Württemberg ist gegenüber anderen Bundeslän- das Flugzeug. dern durch verhältnismäßig dezentrale Raumstrukturen Erhöhte Mobilität im Alltag betrifft insbesondere den Frei- und geringere Stadt-Land-Gegensätze geprägt als an- zeitbereich. 31 Prozent der Wege werden für Freizeitfahr- de re B undeslände r (vgl. Ge bhardt 2 0 0 8). Dies f ühr t z u we - ten zurückgelegt, gefolgt vom Einkauf. Erst dann folgen Ar- niger ausgeprägten, auf wenige Zentren hin orientierten beit mit 15 Prozent und weitere Fahrten (z. B. zu Ausbil- Pendlerbeziehungen. Im polyzentrischen Verdichtungs- dungszwecken). raum Stuttgart haben sich beispielsweise deutlich anders In Baden-Württemberg hat die Verkehrsbelastung in den orientierte Pendlerströme entwickelt als in der monozentri- letzten Jahrzehnten dramatisch zugenommen. Der Güter- schen Region München. Polyzentrische Regionen haben verkehr hat sich seit 1976 nahezu vervierfacht, von rund allerdings zwar kürzere Pendlerdistanzen, zugleich aber 121 Millionen Tonnen auf über 500 Millionen 2019, wobei auch vermehrt tangentiale Verkehrsbeziehungen, welche der Zuwachs fast ausschließlich auf die Straße entfiel. für die Erschließung mit Öffentlichen Verkehrsmitteln er- Bahnverkehre haben sich einigermaßen stabilisiert (ca. hebliche Probleme bereiten und besser mit dem motorisier- 32 Millionen Tonnen pro Jahr), der Anteil der Binnenschiff- ten Individualverkehr erschließbar sind. fahrt ist seit Jahren rückläufig. Im Personenverkehr wurden Die Gebiete des heutigen Baden-Württemberg, vor dem 2018 1,2 Milliarden Fahrgäste befördert, darunter ca. Zweiten Weltkrieg eher in einer Randlage mit Grenzen zwei Millionen mit der Bahn. Ihr erwächst durch die inzwi- nach Frankreich und der Schweiz gelegen, sind heute, ins- schen zugelassenen Fernbusse eine zunehmende Konkur- besondere nach Öffnung der osteuropäischen Länder, in renz.

Abbildung 5: Anteil der verschiedenen Verkehrsträger an der Transport leistung in Deutschland Quelle: Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) (2016): Bahn, KLV und ausländische LKW: Anteile an der Gesamttransportleistung in Deutschland 2014. Online verfügbar unter http://www.bgl-ev. de/images/daten/verkehr/anteilebahn.gif, abgerufen am 18.10.2020.

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 253253 330.11.200.11.20 08:4308:43 Straßenverkehr Hand mit privaten Investoren (ÖPP). Auch für das Ober- Die Straße ist und bleibt der wichtigste Verkehrsträger im rheintal laufen mit dem Ausbau der A 5 und der Eisenbahn- Personen- wie im Güterverkehr. Straßen werden aber nicht Rheintalstrecke weitgehende Erneuerungen. ausreichen, um das zu erwartende Verkehrsaufkommen

Hans Gebhardt Hans aufzufangen. Die Mobilität der Zukunft wird nur durch das Schienenverkehr intelligente Zusammenspiel von Straße, Schiene, Wasser- Im transnationalen Schienenverkehr spielt Baden-Würt- straße und Luftraum in einem vernetzten System zu bewäl- temberg eine zunehmend wichtige Rolle. Durch Baden- tigen sein. Württemberg verlaufen zwei der bedeutendsten europäi- Das Gros des Straßenverkehrs in Baden-Württemberg schen Schienenwege. Die Nord-Süd-Transversale führt wird mit 87 Prozent vom Pkw-Verkehr erbracht, während von Rotterdam über Mannheim und Freiburg bis nach Ge- der Lkw-Verkehr (über 3,5 Tonnen) auf 13 Prozent kommt. nua. In den letzten Jahren wurde vor allem der Streckenab- Allerdings entfällt der meiste Pkw-Verkehr auf das sonstige schnitt Kehl-Appenweier ausgebaut, der sich genau am klassifizierte Straßennetz (Bundesstraßen etc.), während Schnittpunkt der zukünftig ähnlich wichtigen West-Ost- der Lkw-Verkehr sehr viel deutlicher, mit 46 Prozent, über Transversale befindet. die Bundesautobahnen rollt. Subjektiv wird die Belastung Die „Schwäbische Eisenbahn“ von Stuttgart über Ulm bis durch Lkw auf den Autobahnen wohl noch stärker wahrge- Friedrichshafen („Sturgert, Ulm und Biberach, Mecka- nommen, als es diese Zahlen deutlich machen, da die Fahr- beura, Durlesbach“) war neben der badischen Verbindung geschwindigkeiten von Pkw und Lkw nicht kompatibel sind. von Karlsruhe Richtung Basel eine der frühen Eisenbahn- Verkehrszählungen auf den Bundesfernstraßen machen verbindungen in Deutschland. In der zweiten Hälfte des deutlich, dass in Baden-Württemberg die Belastung in al- 19. Jahrhunderts wurde das Schienennetz kontinuierlich len Straßenkategorien, besonders aber auf den Autobah- ausgebaut. Um 1900 existierte ein deutlich dichteres Netz nen, ca. 20 Prozent über dem Bundesdurchschnitt liegt als heute. Insbesondere seit den 1960er-Jahren wurden (nach Angaben des Regionalverbands Heilbronn-Fran- zahlreiche „Vizinalbahnen“ im ländlichen Raum stillgelegt; ken). Betroffen ist davon neben der Region Stuttgart be- in den let z ten Jahren kam es hier teilweise zu Reaktivierun- sonders Heilbronn-Franken mit hohen Anteilen sowohl am gen. Nord-Süd- wie Ost-West-Transitverkehr. Fast 70 Jahre Im Bereich des Güterverkehrs ist es Ziel der Landesregie- nach der Gründung des Bundeslandes gibt es auf dem ba- rung, mehr Transporte auf Schiene und Binnenschiff zu ver- den-württembergischen Straßennetz drei Hauptkorridore lagern. Dazu müssen Engpässe im Schienennetz beseitigt in Nord-Süd- und zwei in West-Ost-Richtung. Der am werden, leistungsfähige Binnenschifffahrtswege weiter stärksten befahrene Nord-Süd-Korridor ist die Rheintal- ausgebaut und Standorte für Umschlaganlagen für den Autobahn A 5 (Frankfurt – Mannheim – Karlsruhe – Frei- kombinierten Verkehr eingerichtet werden. Geplant sind burg – Basel). u. a. folgende Maßnahmen: Um den Zuwächsen gerecht zu werden, wurde vor allem l durchgängiger viergleisigen Ausbau der Rheintalbahn das Straßennetz in den letzten Jahrzehnten massiv ausge- als Güterzugzulauf zu den neuen Alpentunneln in der weitet, während im Schienennetz eher ein Investitionsstau Schweiz; zu beobachten war und manche Streckenabschnitte (z. B. l Modernisierung und Verlängerung der Neckarschleu- über die Schwäbische Alb) nicht mehr den heutigen Anfor- sen; derungen entsprechen. l evtl. ein weiteres Umschlagterminal Straße-Schiene in In Baden-Württemberg verlaufen rund 1.050 Kilometer Au- der Metropolregion Stuttgart zur Stärkung des kombi- tobahn, 4.370 Kilometer Bundesstraßen und 9.900 Kilome- nierten Verkehrs. ter Landesstraßen. Schon die grün-rote Landesregierung hat hier stärker auf Erhalt gegenüber Neubau gesetzt. Fahrgast- und Transportprognosen (u. a. der PTV Planung G l e i ch w o h l w i r d d e r z e i t e i n e R e i h e vo n N e u - bz w. A u s b a u - Transport Verkehr AG mit Sitz in Karlsruhe) lassen für die projekten umgesetzt. Das sicher umfangreichste Projekt ist kommenden Jahre im Schienenverkehr einige Engpass- der durchgängig sechsspurige Ausbau der Autobahn von situationen erwarten, welche im Sinne einer nachhaltigen Karlsruhe bis Ulm (und weiter bis München). Entwicklung jenseits des Straßenverkehrs zu lösen sind. Im Bereich der Schwäbischen Alb werden und wurden in Hierzu gehört das Rheintal zwischen Mannheim und Karls- den letzten zehn Jahren sukzessive einzelne Abschnitte ruhe, der Korridor Bruchsal-Stuttgart (für den eine mehr als der 23 Kilometer langen Strecke sechsspurig fertig gestellt, Verdoppelung der Zugzahlen notwendig werden wird, parallel läuft in Form einer Trassenbündelung der Aufbau auch und gerade im Güterverkehr) und für den derzeit der ICE-Neubaustrecke von Wendlingen nach Ulm. Die in Bau befindlichen Korridor Stuttgart-Ulm, das Projekt größte Herausforderung wird die Erneuerung des Albauf- Stuttgart 21. stiegs bilden. Dieser Teil der Autobahn gehört zu den äl- testen und landschaftlich schönsten Autobahnstrecken Stuttgart 21 Deutschlands, die Trasse wurde bereits 1937 festgelegt. Stuttgart 21 ist sicher das derzeit meistdiskutierte Infrastruk- Seit dem Bau wurden außer der Substanzerhaltung keine turprojekt. In seinem Rahmen entstehen elf neue, überwie- nennenswerten Um- und Ausbauten vorgenommen. Die A 8 gend unterirdische Strecken (57 Kilometer) sowie vier neue genügt mit ihren großen Steigungen bzw. ihrem großen Personenverkehrsstationen, darunter das Megaprojekt des Gefälle, engen Kurven sowie fehlenden Standstreifen nicht Stuttgarter Hauptbahnhofs. Die dort freiwerdenden Gleis- mehr den heutigen Anforderungen. flächen sollen zur Stadtentwicklung genutzt werden; so ge- Weitere Erneuerungsprojekte finden sich im Bereich der sehen ist es nicht unbedingt (nur) ein Bahnprojekt, sondern A 6 mit dem sechsspurigen Ausbau zwischen Wiesloch und zugleich ein Immobilienentwicklungsprojekt. Zusammen mit Weinsberg. Es ist das bislang größte Straßenbauprojekt in der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm wird das Vorhaben Baden-Württemberg in Partnerschaft der öffentlichen als Bahnprojekt Stuttgart-Ulm bezeichnet.

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 254254 330.11.200.11.20 08:4308:43 Das Projekt wurde 1994 erstmals der Öffentlichkeit vorge- ENERGIE UND VERKEHR IN BADEN-WÜRTTEMBERG stellt. Die Bauarbeiten begannen am 2. Februar 2010. Die zunächst für Dezember 2019 geplante Fertigstellung des Projekts wurde mehrfach verschoben. Inzwischen soll die Eröffnung des Hauptbahnhofs im Dezember 2025 erfolgen, temberg beeinflusst. Im Frühjahr 2011 kam es zum Regie- andere Projektteile später. rungswechsel, die Grünen stellten erstmals in Baden-Würt- Die offiziellen Kostenschätzungen sind seit der Projektvor- temberg den Ministerpräsidenten. Eine von der neuen Lan- stellung 1995 mehrfach gestiegen: Von ursprünglich 2,5 desregierung initiierte Volksabstimmung ergab eine Milliarden Euro über 4,1 Milliarden Euro bei Baubeginn Zustimmung von 58,8 Prozent für Stuttgart 21, und die grün- 2010 auf 8,2 Milliarden Euro im Januar 2018. Außenste- rote Landesregierung akzeptierte das ungeliebte Projekt. hende wie der Bundesrechnungshof halten Kosten von bis zu Gleichwohl nannte Baden-Württembergs Verkehrsminister knapp zehn Milliarden Euro für möglich. Winfried Hermann noch im Juni 2018 Stuttgart 21 „die Trotz weitgehender Einigkeit der verschiedenen Interessen- größte Fehlentscheidung der Eisenbahngeschichte.“ Weiter- gruppen über die Notwendigkeit einer Modernisierung des hin sagte er: „Wir geben einen Haufen Geld aus und versen- Stuttgarter Bahnknotens ist das Projekt Stuttgart 21 in vielfa- ken einen Bahnhof und haben dadurch keinen Vorteil“5. Er cher Hinsicht umstritten. Kritiker setzten sich für Erhalt und betonte allerdings auch, dass es angesichts des damaligen Ertüchtigung des Kopfbahnhofs ein. Seit einer von massivem Baufortschritts kein Zurück mehr gebe. Polizeieinsatz begleiteten Protestaktion 2010 begleiten Pro- Weniger umstritten als der Bahnhofsbau ist die ICE-Neu- teste das Projekt; im Februar 2020 fand die 500. Montags- baustrecke parallel zur Autobahn A 8 von Wendlingen demonstration statt. Zum Teil sehr kritische Publikationen zu nach Ulm. Die Hälfte der rund 60 Kilometer langen Strecke Zukunft und Erfolg begleiten das Projekt (siehe u. a. Brett- führt durch elf Tunnel, ansonsten folgt sie in enger Bünde- schneider/Schuster 2013; Luik 2019). lung der parallelen A8. Darüber hinaus entstehen 37 Eisen- Die Auseinandersetzung um Stuttgart 21 hat wohl auch die bahn- und Straßenbrücken, darunter die mit rund 85 Meter Veränderung der politischen Verhältnisse in Baden-Würt- Höhe später dritthöchste Eisenbahnbrücke über das Filstal

Abbildung 6: Schienennetz in Baden-Württemberg und Neubaustrecken Quelle: Unveröffentlicht (2020)

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 255255 330.11.200.11.20 08:4308:43 Hans Gebhardt Hans

Abbildung 7: Stuttgart 21 Quelle: URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Stuttgart_21, abgerufen am 18.10.2020.

und die Brücken über das Neckartal bei Wendlingen. Die onen Fluggäste pro Jahr. Theoretisch könnte er künftig zu für Tempo 250 ausgelegte Infrastruktur wird die Reisezeiten einer Entlastung des Stuttgarter Flughafens beitragen; in in Baden-Württemberg wie in Deutschland verkürzen. So den letzten Jahren wurde der Badische Flughafen auch zu wird die Fahrtzeit zwischen Stuttgart und Ulm im Fernver- einer wichtigen Drehscheibe für den regionalen Güterver- kehr auf eine halbe Stunde nahezu halbiert – und auch im kehr. Das Jahr 2020 hat hier aber aufgrund der Corona- Regionalverkehr werden Reisende künftig nur noch 41 Mi- Pandemie zu massiven Einbrüchen geführ t, von denen der- nuten unterwegs sein. zeit (Oktober 2020) nicht absehbar ist, wie sich die Flug- gastzahlen künftig erholen werden. Für den ÖPNV (Öffentlichen Personennahverkehr) erge- ben sich Ansatzpunkte vor allem beim Ausbau von S-Bah- Flugverkehr in Zeiten der Corona-Pandemie und nen in den Großräumen Rhein-Neckar und Mittlerer Ne- die umstrittene Rolle der Regionalflughäfen ckar sowie beim Ausbau von Infrastruktureinrichtungen Die Corona-Pandemie des Jahres 2020 hat alle Verkehrs- einschließlich Versorgungsinfrastruktur an Knoten des „ge- träger, vor allem aber den Flugverkehr, massiv betroffen. brochenen Verkehrs“. Den 1,4 Millionen Fluggästen in Stuttgart noch im August 2019 standen nur noch 2.306 im April 2020 entgegen. Bis Flugverkehr August hatte sich die Zahl wieder auf 421.000 erhöht6. Baden-Württemberg verfügt mit Stuttgart über einen inter- Noch prekärer ist die Rolle der Regionalflughäfen. Schon nationalen Flughafen; die Flughäfen Karlsruhe/Baden-Ba- vor Corona konnten die zwei Dutzend Regionalflughäfen in den und Friedrichshafen sind die größten regionalen Ver- Deutschland ohne staatliche oder private Zuschüsse nicht kehrsflughäfen des Landes, welche vor allem von Charter- überleben. Auch die Regionalflughäfen in Baden-Württem- Fluglinien bedient werden. Kleinere Flugplätze befinden berg, Friedrichshafen und Karlsruhe/Baden-Baden waren sich in Lahr, Donaueschingen, Mannheim und Schwennin- schon 2016 in finanzielle Schieflage geraten. Die Erwartun- gen. gen waren ursprünglich groß. Prognosen gingen von immer Die Verkehrsnachfrage am Stuttgarter Flughafen hat sich weiter steigenden Fluggastzahlen aus, und Landräte und in den vergangenen Jahren sehr dynamisch entwickelt. Im Oberbürgermeister schmückten sich mit ihren Projekten. Im Jahr 2000 wurden erstmals mehr als acht Millionen Passa- Falle von Friedrichshafen sind die Fluggastzahlen aber giere auf dem Landesflughafen abgefertigt, im Jahr 2019 schon vor Corona zurückgegangen, und Flüge wurden ein- waren es 12,7 Millionen. Dabei entfallen etwa 30 Prozent gestellt. Auch der Baden-Airport musste Rückschläge hin- aller Starts in Stuttgart auf den innerdeutschen Verkehr. Im nehmen. Regionalflughäfen sind in hohem Maße abhängig Frühjahr 2004 wurde das Terminal 3 für den Flugverkehr von nur ein oder zwei Fluggesellschaften. Gerät eine Airline freigegeben. Auch der Baden Airport hat sich sehr rasch in Schieflage wie im Falle Friedrichshafen steht dem Flugha- entwickelt und kommt inzwischen (2019) auf rund 1,3 Milli- fen das Wasser bis zum Hals.

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 256256 330.11.200.11.20 08:4308:43 N a c h 20 24 w i l l d i e E u r o p ä i s c h e U n i o n s t a a t l i c h e Zu s c hü s s e ENERGIE UND VERKEHR IN BADEN-WÜRTTEMBERG nicht mehr zulassen – wegen möglicher Wettbewerbsver- zerrung. „Ohne Geld von außen wird aber kein Regional- flughafen überleben“, sagt Luftfahrtexperte Heinrich Groß- bongardt. „Die Betreiber und die Landesregierungen müs- neckaraufwärts beträgt in Heilbronn immerhin noch 5,8 sen sich fragen, was der wirkliche Bedarf ist und ihre Millionen Tonnen jährlich, der Verkehr neckarabwärts er- Flughäfen auf das Notwendigste zurückstutzen.“7 reicht weniger als die Hälfte. Die Corona-Krise hat die Flughäfen hart getroffen. Die Gäs- tezahlen sind eingebrochen, viele Mitarbeiter sind noch im- Netzinfrastruktur mer in Kurzarbeit. Eine 2020 veröffentlichte Studie des Fo- Seit über zehn Jahren wird die rasche Internetanbindung rums Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft (FÖS) untersuchte über Breitbandnetze zu einem immer wieder vorgetrage- im Auftrag des Umweltverbands BUND 14 Regionalflughä- nen Anliegen der Landespolitik, unabhängig von der je- fen auf deren Wirtschaftlichkeit, Bedeutung für die Verkehrs- weiligen politischen Ausrichtung. Web-basierte und mo- anbindung, Klimaschutz sowie die Passagierentwicklung. bile Anwendungen, Big Data und Cloud Computing erfor- Ihr zufolge erwirtschafteten zwölf der 14 Airports in Deutsch- dern schnelle Datenverbindungen. Die abrupte Zunahme land nach dem Abzug von Subventionen „anhaltend nega- von Homeoffice-Aktivitäten während der Corona-Krise tive Jahresergebnisse“. 8 liefert einen weiteren wichtigen Grund für einen raschen Ausbau eines schnellen Netzes. Wasserstraßen Räumlich gesehen wird mit einem möglichst flächende- In Baden-Württemberg existieren zwei wichtige schiffbare ckenden Ausbau schneller Netze dem Grundanliegen der Wasserstraßen: Rhein und Neckar. Unter Leitung von Jo- Raumordnung, gleichwertige Lebens- und Arbeitsbedin- hann Gottfried Tulla (1770–1828) war die Bändigung des gungen in den verschiedenen Teilräumen des Landes an- „fressenden“ Rheins, d. h. seine Begradigung und Kanali- zubieten, wenigstens ansatzweise Rechnung getragen. Es sierung, in Angriff genommen worden, bis 1876 wurde sie ist daher nicht nur für die Verdichtungsräume, sondern ge- vollendet. Damit waren die Voraussetzungen für eine rade auch für den ländlichen Raum ein zentraler Bestand- ganzjährige Schifffahrt geschaffen. Dabei ist der Fluss mit teil der Raumentwicklung. einer Länge von 1.326 Kilometer und einem Einzugsgebiet Die Finanzierungsfrage ist nach wie vor schwierig. Bisher von 2.240.000 Quadratmeter ein im weltweiten Maßstab wurden kaum Fördergelder des Bundes ausgezahlt. Aller- vergleichsweise bescheidener Fluss. dings hat hier die Landesregierung inzwischen die Initiative Er ist heute jedoch die am stärksten befahrene Binnenwas- ergriffen. 2020 hat das Land insgesamt 283 Millionen Euro serstraße der Erde. Mehr als 200.000 Binnenschiffe pas- sieren jedes Jahr die deutsch-holländische Grenze. Vom gesamten Binnenverkehr mit Schiffen in Deutschland verei- Abbildung 8: Breitbandverfügbarkeit Baden-Württemberg nigt der Rhein 85 Prozent auf sich.

Der Mannheimer Hafen Der Mannheimer Hafen wuchs zu einem der größten Bin- nenhäfen in der Bundesrepublik. Seine Geburtsstunde schlug im Jahre 1828 als Reaktion auf die am damaligen bayerischen Rheinufer angelegten Hafenanlagen beim späteren Ludwigshafen. Durch die um die Jahrhundert- wende erfolgte Erweiterung der Hafenanlagen um den In- dustriehafen und den zunächst in privater Initiative erstell- ten, auf den Umschlag von Kohle, Eisen und Stahl speziali- sierten Rheinauhafen erfuhr der Mannheimer Hafen einen weiteren Bedeutungszuwachs. Als jüngster Hafenkomplex wurde 1962 der Altrheinhafen in unmittelbarer Nähe zu der 1988 stillgelegten Raffinerie auf der Friesenheimer Insel an- gelegt. Der Mannheimer Hafen umfasst 2.679.000 Quad- ratmeter Wasserfläche sowie 8.635.000 Quadratmeter an Land. Knapp 500 Unternehmen mit 20.000 Arbeitsplätzen sind im Hafengebiet angesiedelt. Mannheim eröffnete im Jahr 1968 das erste Containerterminal in einem Binnenha- fen. Hinzu kommt eine Roll-on-Roll-off-Anlage (RoRo) und seit 1991 ein Terminal für kombinierten Verkehr (https:// de.wikipedia.org/wiki/Hafen_Mannheim).

Der Neckar wurde seit 1921 für die Schifffahrt in Wert ge- setzt. 1935 konnte die 113 Kilometer lange Teilstrecke bis Heilbronn eröffnet werden, 1958 erreichte der Ausbau Stuttgart und 1968 Plochingen. Für die Überwindung einer Quelle: Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration Baden- Höhendifferenz von 160 Meter waren auf der Gesamtstre- Württemberg (2020): Breitbandbericht. Online verfügbar unter https:// www.digital-bw.de/documents/20142/336328/Breitbandbericht. cke von 203 Kilometer 27 Schleusen erforderlich, die zu- pdf/5af329f4–0128–91ca-0539-c13e7197f052, abgerufen am gleich der Elektrizitätsgewinnung dienen. Der Umschlag 20.10.2020.

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 257257 330.11.200.11.20 08:4308:43 Fördermittel für knapp 350 Breitbandprojekte bewilligt – deutung zukommen. Die wirtschaftliche Integration der dreimal so viele Mittel wie im Jahr 2019. In dieser Legislatur- ostmittel- und südosteuropäischen Staaten, das Anwach- periode stellt die Landesregierung mehr als eine Milliarde sen komplexer Transport-Logistiksysteme innerhalb der EU Euro für die digitale Infrastruktur zur Verfügung. und die zunehmenden Raum-Zeit-Freiheitsgrade beim Ge-

Hans Gebhardt Hans stalten der privaten Mobilität (kurzfristige, aber weitrei- Verkehrsentwicklung in der Zukunft chende Städtereisen, stetig zunehmender Geschäftsreise- Ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit ist verkehr etc.) werden hierzu beitragen. das planerische Leitbild, das „masterframe“ der Verkehrs- politik. Angestrebt wird sowohl eine Reduktion des ver- kehrsbedingten Verbrauchs an fossiler Energie wie der da- Ein kurzes Fazit mit verbundenen Emissionen, ferner die Reduktion von Feinstaub (insbesondere in den Großstadtzentren), die Regenerative Energie, nachhaltiger Verkehr und andere Einhaltung besserer Lärmgrenzwerte von 55 bis 79 dB(A) Formen von „green economy“ erreichen prinzipiell eine tagsüber und 45 dB(A) nachts, schließlich eine Reduktion hohe Akzeptanz in der Bevölkerung Baden-Württembergs, des beträchtlichen „Landschaftsverbrauchs“ durch Ver- im Detail stecken in der Umsetzung aber zahlreiche Prob- kehrsinfrastruktur (Autobahnkreuze etc.). Allerdings er- leme. Sie drehen sich vor allem um zwei Problemkreise: weist sich der Verkehrsbereich als weitaus stärker verän- zum einen um Fragen von Landschaft und Landschaftsäs- derungsresistent als beispielsweise der Energie- und Ag- thetik einschließlich Flächenverbrauch, und zum anderen rarsektor (Nuhn/Hesse 2006: 322), es handelt sich um um die symbolische Aufladung von Raum, seine soziale einen eindeutig „nicht-nachhaltigen“ Wirtschaftssektor. Konstruktion als Lebensraum, als „Heimat“. Daran wird wohl auch die Zukunft wenig ändern, denn auf- Die Etablierung regenerativer Energie vollzieht sich über- grund seines vernetzten, interdependenten Charakters wiegend im ländlichen Raum (siehe oben); damit rückt des- und der häufigen Fernorientierung der Verkehrsströme ist sen Kulturlandschaftswandel in den Blick. Olaf Kühne et al. dieser strukturell komplex und schwierig zu steuern. (2019: 3 ff.) stellen fest, dass „die Befassung mit Landschaft Die künftige Entwicklung des Verkehrs in Baden-Württem- (…) sich in den vergangenen Jahren quantitativ wie quali- berg wird einer Reihe teilweise gegenläufiger Trends fol- tativ intensiviert“ hat. Kulturlandschaften und der Umgang gen und ist daher nicht einfach abzuschätzen. Höhere mit ihnen sind ein Thema, das zunehmend politisiert und mit Energiekosten, die sukzessive Überalterung der Bevölke- symbolischem Bedeutungsgehalt aufgeladen wird, sie wer- rung, eine wachsende Bedeutung von Telekommunikati- den nicht als etwas Gegebenes, sondern als das Ergebnis o n s m ö g l i ch ke i t e n s i n d F a k t o r e n , w e l ch e e h e r e i n e Ve r l a n g - individueller und gesellschaftlicher Kommunikations- und samung des Wachstums bzw. eine Stagnation erwarten Konstruktionsprozesse gesehen (Leibenath 2014). lassen. Das weitere wirtschaftliche Zusammenwachsen in- Am Beispiel der Kontroversen um Windkraftanlagen lässt nerhalb Europas und die ungebrochene Freizeit- und Ar- sich dies exemplarisch zeigen. Eine Untersuchung eines beitsmobilität weisen eher in die entgegengesetzte Rich- Konsortiums von Wissenschaftlern im Auftrag des Bundes- tung. Welche längerfristigen Folgen die Zunahme von amtes für Naturschutz zum Thema Landschaftsbild und Homeoffice und die deutliche Reduktion von Geschäftsrei- Energiewende9 hat die Argumentationsmuster von 270 sen im Kontext der Corona-Krise von 2020 haben werden, Bürgerinitiativen gegen und für Windkraftanlagen analy- lässt sich derzeit noch nicht abschätzen. sie r t. S owohl Ge gne r w ie B ef ür wor te r bezie he n sich dabei Gerade im transnationalen Verkehr Mitteleuropas wird auf die Bereiche Naturschutz, Landschaft und Heimat, Ge- Baden-Württemberg künftig eher eine noch steigende Be- sundheit sowie ökonomische Gründe.

Abbildung 9: Offene Schlüsselfragen einer nachhaltigen Mobilitätsentwicklung Quelle: Gather, Matthias/Kagermeier, Andreas/Lanzendorf, Martin (2008): Geographische Mobilitäts- und Ver- kehrsforschung. Stuttgart, S. 273.

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 258258 330.11.200.11.20 08:4308:43 Bei Ablehnung entsprechender Anlagen spielt der Natur- ENERGIE UND VERKEHR IN BADEN-WÜRTTEMBERG schutz, insbesondere die Tötung von streng geschützten Vogelarten sowie die Rodung und Bodenversiegelung eine wesentliche Rolle. Es wird eine Entwertung der Kulturland- schaft durch landschaftsfremde Bauwerke oder weiterge- Bonn, Thomas (2013): Geographien regenerativer Energieerzeugung. Do- kumentation zum Projekt „Global Change and the Energy System: As- hend der Verlust von Heimat und regionaler Identität be- sessing Options and their Impacts – the Geographical Perspective“. fürchtet. Im Bereich Gesundheit werden Schallemissionen Heidelberg (Berichte aus dem Arbeitsbereich Anthropogeographie 9). inklusive Infraschall (nicht direkt wahrnehmbare Frequen- Bosch, Stephan/Peyke, Gerd (2011): Gegenwind für die Erneuerbaren – Räumliche Neuorientierung der Wind-, Solar- und Bioenergie vor dem zen) und dadurch ausgelöste Schlafstörungen sowie De- Hintergrund einer verringerten Akzeptanz sowie zunehmender Flächen- pressionen thematisiert. Ökonomisch gesehen wird vor al- nutzungskonflikte im ländlichen Raum. In: Raumforschung und Raumord- lem auf den Wertverlust von Grundstücken und Wohnhäu- nung, Heft 2/2011, S. 105–118. Brücher, Wolfgang (2009): Energiegeographie. Wechselwirkungen zwi- sern durch die Nähe zu Windkraftanlagen hingewiesen, schen Ressourcen, Raum und Politik. Studienbücher der Geographie. und es wird ein Verlust an Attraktivität für den Tourismus Berlin, Stuttgart. befürchtet. Befürworter stellen in der Regel die Argumente Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) (2016): Bahn, KLV und ausländische LKW: Anteile an der Gesamttransportleis- der Gegner in Abrede, betonen die Subjektivität von land- tung in Deutschland 2014. URL: http://www.bgl-ev.de/images/daten/ schaftlicher Ästhetik, argumentieren, dass sich Einzelanla- verkehr/anteilebahn.gif [18.10.2020]. gen gut in die Struktur unserer Kulturlandschaften einfügen Bundesverband WindEnergie e. V. (2011): Potenzialstudie 2011 Baden- Württemberg. Berlin. lassen, stellen gesundheitliche Risiken angesichts großer Busch-Geertsema, Annika/Klinger, Thomas/Lanzendorf, Martin (2020): Abstände zu den Anlagen in Abrede und betonen in wirt- Geographien der Mobilität. In: Gebhardt, Hans et al. (Hrsg.): Geogra- schaftlicher Hinsicht die geringeren Kosten von Onshore- phie: physische Geographie und Humangeographie. Berlin, S. 1015– 1032. Anlagen gegenüber Offshore-Anlagen. Demuth, Bernd et al. (Hrsg.) (2014): Energielandschaften – Kulturland- Gemeinsam ist beiden Gruppen, dass sie sich weniger ge- schaften der Zukunft? Bundesamt für Naturschutz. Bonn, BfN-Skripten gen Windkraftanlagen generell stellen, als vielmehr kon- 364, S. 102–117. Gailing, Ludger (2015): Energiewende als Mehrebenen-Governance. In: krete Anlagen vor Ort in den Blick nehmen. Windkraft ist Nachrichten der ARL, Heft 2/2015, S. 7–10. ein typisches NIMBY-Phänomen („Not in my Backyard!“). Gailing, Ludger/Leibenath, Markus (Hrsg.) (2013): Neue Energieland- Nicht selten werden daher Argumentationsmuster strate- schaften – Neue Perspektiven der Landschaftsforschung. Wiesbaden. Gailing, Ludger/Leibenath, Markus (2015): The social construction of land- gisch eingesetzt, um eigene Interessen durchzusetzen, es scapes: Two theoretical lenses and their empirical applications. In: geht „um die materielle Manifestationsmacht eigener Inte- Landscape Research, Volume 40, Issue 2, S. 12–138. URL: http://dx.doi. ressen in einem häufig als Landschaft konstruierten Raum“ org/10.1080/01426397.2013.775233 [18.10.2020]. Gather, Matthias/Kagermeier, Andreas/Lanzendorf, Martin (2008): Geo- (Kühne/Schönwald 2014: 63). Olaf Kühne und Antje Schön- graphische Mobilitäts- und Verkehrsforschung. Stuttgart. wald (2014: 69) beschreiben hier die Zusammenhänge Gebhardt, Hans (Hrsg.) (2008): Geographie Baden-Württembergs. Stutt- zwischen Macht, Diskurs und Raum sehr anschaulich: „Art, gart. Gebhardt, Hans (2009): Verkehr in Baden-Württemberg im europäischen Ausmaß und Standort der Erzeugung erneuerbarer Ener- Kontext. In: Frech, Siegfried et al. (Hrsg.): Handbuch Europapolitik. gien sind Ergebnis einer hochkomplexen Topographie der Stuttgart, S. 112–123. Macht. Gemäß der spezifischen Kalküle der beteiligten Gebhardt, Hans (2016): Verkehr und Energie in Baden-Württemberg. In: Der Bürger im Staat, Heft 4/2016, S. 223–230. AkteurInnen und AkteurInnengruppen (InvestorInnen, Pla- GMX Energie, Strom (2020). URL: https://www.energie.gmx.net/strom/ nerInnen, PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen, BürgerIn- stromratgeber/wissen/stromtrassen [20.10.2020]. nen-Initiativen, Verbänden u. a.) (…) werden in komplexen Hildebrandt, Claudia (2014): Energielandschaften – Kulturlandschaften. In: Demuth, Bernd et al. (Hrsg.): Energielandschaften – Kulturlandschaf- Aushandlungsprozessen Entscheidungen über z. T. deutli- ten der Zukunft? Bundesamt für Naturschutz. Bonn, BfN-Skripten 364, che Veränderungen der materiellen Grundlagen von Land- S. 18–23. schaften getroffen. Diese Ergebnisse der komplexen Institut für Länderkunde (Hrsg.) (2001): Nationalatlas Bundesrepublik Deutschland, Band 9: Verkehr und Kommunikation. Heidelberg, Berlin. Machttopographie sind daher keineswegs der Ausfluss ei- Klagge, Britta (2013): Governance-Prozesse für Erneuerbare Energien – nes rein rationalen Abwägungsprozesses, sondern der Fä- Akteure, Koordinations- und Steuerungsstrukturen. In: Klagge, Britta/ higkeit, flächenspezifisch die eigenen Interessen (z. B. des Arbach, Cora (Hrsg.): Governance-Prozesse für erneuerbare Energien. Arbeitsberichte der ARL 5, Hannover, S. 7–16. Naturschutzes) gegenüber alternativen Interessen (z. B. Kühne, Olaf/Schönwald, Antje (2014): Macht – Einflussfaktor auf Entschei- von InvestorInnen) durchzusetzen.“ dungen über Art, Ausmaß und Standort erneuerbarer Energien. In: De- Bei Energieversorgung und Verkehr geht es, worauf vor al- muth, Bernd et al. (Hrsg.): Energielandschaften – Kulturlandschaften der Zukunft? Bundesamt für Naturschutz. Bonn, BfN-Skripten 364, S. 63–72. lem die Humangeographie verweist, auch immer um ein Kühne, Olaf/Weber, Florian (2020): Energiewende, ländliche Räume und Problem räumlicher Differenzierung. Was in der Region A Planung der Landschaft. In: Gebhardt, Hans et al. (Hrsg.): Geographie. möglich und sinnvoll ist, muss nicht in der Region B der Fall Physische Geographie und Humangeographie. Heidelberg/Berlin, S. 917–923. sein. Nicht überall im „Ländle“ lassen sich bestimmte Ein- Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg (2019): Windatlas Baden- richtungen und Entwicklungen in gleichem Maße „anzet- Württemberg. URL: https://www.energieatlas-bw.de/wind/windatlas- teln“. Eine räumlich dif ferenzier te Planung „mit Augenmaß“ baden-wurttemberg [12.10.2020]. Landschaftsbild und Energiewende. Ergebnisse des gleichnamigen For- ist gerade bei den sensiblen Themen Verkehr und Energie schungsvorhabens im Auftrag des Bundesamtes für Naturschutz, 2 Bän- unverzichtbar. de. URL: https://www.bfn.de/fileadmin/BfN/erneuerbareenergien/ Dokumente/LandschaftsbildundEnergiewende [18.10.2020]. Leibenath, Markus (2014): Politische Landschaften: Windenergie als Kon- fliktfall zwischen Energieversorgung und Landschaftsschutz. In: De- muth, Bernd et al. (Hrsg.) (2014): Energielandschaften – Kulturland- LITERATUR schaften der Zukunft? Bundesamt für Naturschutz. Bonn, BfN-Skripten 364, S. 122–131. Ammermann, Kathrin (2012): Landschaftsveränderungen durch die Ener- Luik, Arno (2019): Schaden in der Oberleitung. Das geplante Desaster der giewende. Einschätzung des Bundesamtes für Naturschutz. In: Demuth, deutschen Bahn. Frankfurt am Main. Bernd et al. (Hrsg.): Landschaften in Deutschland 2030: Erlittener Wan- Megerle, Heidi (2012): Landschaftsveränderungen durch Raumansprüche del – gestalteter Wandel. Bonn, BfN-Skripten 314, S. 46–56. erneuerbarer Energien – aktuelle Entwicklungen und Forschungspers- Beckmann, Klaus J. et al. (2013): Räumliche Implikationen der Energiewen- pektiven am Beispiel des Ländlichen Raumes in Baden-Württemberg. de. Positionspapier. Deutsches Institut für Urbanistik (Difu), Berlin. In: Gailing, Ludger/Leibenath, Markus (Hrsg.): Neue Energielandschaf-

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 259259 330.11.200.11.20 08:4308:43 te n . N e ue Pe r s p e k t i ve n de r Landschaf t s for schung . Wie sb ade n, S . 14 5 – Statista (2020): Was sind Ihrer Meinung nach in Zukunft die größten Pro- 164. bleme bei der Umsetzung der Energiewende? URL: https://de.statista. Megerle, Heidi (2014): Neue Landschaft(sbilder): Chancen und Risiken für com/statistik/daten/studie/861110/umfrage/umfrage-zu-problemen- Tourismus und Naherholung. In: Demuth, Bernd et al. (Hrsg.): Energie- bei-der-umsetzung-der-energiewende/ [18.10.2020]. landschaften – Kulturlandschaften der Zukunft? Bundesamt für Natur- Statistisches Landesamt Baden-Württemberg (2020): Bruttostromerzeu- schutz. Bonn, BfN-Skripten 364, S. 10–117. gung. URL: https://www.statistik-bw.de/Energie/ErzeugVerwend/EN- Hans Gebhardt Hans Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration Baden-Württem- BS-LR.jsp [10.10.2020]. berg (2020): Breitbandbericht. URL: https://www.digital-bw.de/docu- Statistisches Landesamt Baden-Württemberg (2020): Pressemitteilung ments/20142/336328/Breitbandbericht.pdf/5af329f4–0128–91ca- vom 20.09.2019: Zunehmender Einsatz erneuerbarer Energien. URL: ht- 0539-c13e7197f052 [20.10.2020]. tps://www.statistik-bw.de/Presse/Pressemitteilungen/2019243 Schmücker, Robin (2015): Raumbezogene Konflikte der Energiewende – [10.10.2020]. Eine handlungsorientierte Analyse der Auseinandersetzung um das Stuttgart 21. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Stuttgart_21 [18.10.2020]. geplante Pumpspeicherkraftwerk Atdorf. Heidelberg (Bachelorarbeit Szimba, Eckhard/Schoch, Michael (2002): Internationaler Verkehr in Ba- am Geographischen Institut der Universität Heidelberg). den-Württemberg: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In: Deutschland & Europa, Heft 43/44–2002, S. 40–43.

ANMERKUNGEN 1 URL: https://www.energie.gmx.net/strom/stromratgeber/wissen/ stromtrassen [26.10.2020]. 2 URL: https://www.landtag-bw.de/files/live/sites/LTBW/files/ dokumente/WP16/Drucksachen/4000/16_4532_D.pdf [26.10.2020]. 3 URL: https://www.energieatlas-bw.de/wind/potenzialanalyse [26.10.2020]. 4 URL: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/861110/umfrage/ umfrage-zu-problemen-bei-der-umsetzung-der-energiewende/ UNSER AUTOR UNSER [26.10.2020]. 5 URL: https://www.tagblatt.de/Nachrichten/Winfried-Hermann- nennt-Stuttgart-21-groesste-Fehlentscheidung-der-Eisenbahngeschich- te-375535.html [26.10.2020]. Prof. Dr. Hans Gebhardt war von 1996 bis 2018 Professor für 6 URL: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/456038/umfrage/ Anthropogeographie am Geographischen Institut der Universität monatliche-passagierzahlen-am-flughafen-stuttgart [26.10.2020]. Heidelberg. Zuvor war er von 1990 bis 1996 Professor für Anth- 7 URL: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/regionalflughaefen- krise-101.html [26.10.2020]. ropogeographie/Landeskunde Südwestdeutschlands am Geo- 8 URL: https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/regionalflug- graphischen Institut der Universität Tübingen. Seine Hauptar- haefen-in-der-corona-krise-es-geht-kein-flug-im-nirgendwo [26.10.2020]. beitsgebiete sind die geographische Stadtforschung und die 9 Landschaftsbild und Energiewende. Ergebnisse des gleichnamigen Forschungsvorhabens im Auftrag des Bundesamtes für Naturschutz, politische Geographie, regional neben Südwestdeutschland 2 Bände. URL: https://www.bfn.de/fileadmin/BfN/erneuerbareenergien/ auch der Nahe und Mittlere Osten und Südostasien. Dokumente/LandschaftsbildundEnergiewende [26.10.2020].

Von Hölderlin bis Jünger Von Hölderlin Zur politischen Topographie der Literatur bis Jünger im deutschen Südwesten Zur politischen Topographie der Literatur Hrsg. von Thomas Schmidt und Kristina Mateescu im deutschen Südwesten Hrsg. von Thomas Schmidt und Kristina Mateescu Das Verhältnis von Literatur und Politik gilt als schwierig. Literatur, die sich politischen Zielen verschrieb, wurde nicht selten die ästhetische Qualität abgesprochen, während jener Dichtung, die sich fern von den Aktualitäten des Alltags als Schutzraum des Schönen verstand, Folgenlosigkeit oder gar ethische Verantwortungslosigkeit vorge- worfen wurde. Diese mitunter selbst schon ideologisch gewordenen Frontlinien werden in diesem Band nicht bestärkt. Vielmehr legen die Beiträge konkrete Kontaktzonen zwischen Literatur und Politik frei und zeigen, wie eng und vielfältig die Sphären der literarischen und der politischen Kultur miteinander verknüpft sind. Sämtliche Beiträge argumentieren dabei vom Ort aus und zeigen so Baden-Württemberg als einzigartige Literatur und Kulturlandschaft.

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 260260 330.11.200.11.20 08:4308:43 BADEN-WÜRTTEMBERGS PARTEIENLANDSCHAFT Baden-Württembergs Parteiensystem im Wandel Ulrich Eith

Baden-Württemberg hat die Regierung Kretschmann in Baden-Württembergs Parteienlandschaft hat sich im dieser ersten Legislaturperiode bewiesen, dass sie das Re- letzten Jahrzehnt verändert. Umbrüche und Zäsuren gierungshandeln beherrscht. Bei der Landtagwahl am prägten die vergangenen Legislaturperioden. Ulrich Eith 13. März 2016 errangen die Grünen unter Kretschmann zeichnet die Entwicklung des Parteiensystems in Baden- 30,3 Prozent der Wählerstimmen und lagen als stärkste Württemberg mithilfe des Instrumentariums der Wahl- Partei 3,3 Prozentpunkte vor der CDU. Seitdem sind Grüne und Parteienforschung nach. Politische Kultur, Wähler- und CDU die direkten Gegenspieler in den landespoliti- verhalten und Parteiensystem lassen sich mit der Entwick- schen Auseinandersetzungen. Die SPD steht angesichts lung der Wirtschafts- und Siedlungsstrukturen aber auch dieser Polarisierung in der Gefahr, in den öffentlichen De- mit der Konfessionsstruktur des Südwestens erklären. batten nur unzureichend präsent zu sein. Als lediglich Die Analyse dieser Faktoren und der Blick auf die Ver- viertstärkste Kraft im Landtag liegt sie in den Umfragen änderungen der Zusammenhänge zwischen Sozialstruk- derzeit konstant unter 15 Prozent. tur und Wählerverhalten tragen wesentlich zum Ver- Ein weiteres kennzeichnet die veränderten Koordinaten ständnis des baden-württembergischen Parteiensystems des aktuellen politischen Wettbewerbs. Nach der NPD bei. Ulrich Eith fokussiert mehrere Fragen: Welche Ent- 1968 und den Republikanern 1992 und 1996 konnte mit der wicklungslinien des parteipolitischen Wettbewerbs las- AfD 2016 zum dritten Mal eine rechtspopulistische Partei in sen sich für Baden-Württemberg identifizieren? Wie den Stuttgarter Landtag einziehen. Mit einem Wahlergeb- lässt sich die langjährige dominierende Stellung der CDU nis von 15,1 Prozent ist die AfD zudem in Stuttgart derzeit erklären, wie der Umbruch seit 2011? Wie lässt sich die die stärkste Oppositionspartei. Im Vergleich zu den Land- aktuelle Situation der Parteienlandschaft mit Blick auf die Landtagswahl 2021 einschätzen?

Umbrüche und Zäsuren

Der Parteienwettbewerb in Baden-Württemberg hat im letzten Jahrzehnt einen zuvor kaum denkbaren strukturel- len Wandel erfahren. Über Jahrzehnte hinweg prägte die CDU maßgeblich die Politik des Landes. Mit Ausnahme des ersten Ministerpräsidenten stellten die Christdemokraten bis 2011 stets den Regierungschef, von 1972 bis 1992 so- gar aus eigener Kraft ohne Koalitionspartner. Und für die Liberalen galt der Südwesten einst als liberales Stamm- land mit zweistelligen Wahlergebnissen. Seit 2011 jedoch regiert mit Winfried Kretschmann als Ministerpräsident ein Grüner Baden-Württemberg, zunächst in Koalition mit der SPD, seit 2016 zusammen mit der CDU. Bei der Landtags- wahl 2021 stellt sich Kretschmann erneut dem Wählervo- tum und strebt, durchaus chancenreich, eine dritte Amtszeit an. Eine entscheidende Zäsur stellte die Landtagwahl vom 27. März 2011 dar. Nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit der SPD lagen die Grünen am Wahlabend erstmals knapp vor den Sozialdemokraten und errangen zusammen mit diesen zudem die Mehrheit im Stuttgarter Landtag. Die CDU musste nach 58 Jahren in der Regierungsverantwor- tung auf die Oppositionsbänke. Während manche CDU- Politiker diesen Machtwechsel noch als einen Betriebsun- fall infolge der Ereignisse von Fukushima ansahen, schaffte Sogar der Bildzeitung war das spektakuläre Wahlergebnis es der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann in vom 13. März 2016 eine Schlagzeile wert. Bei der Landtags- kurzer Zeit, sich weit über seine eigenen Wählerkreise hin- wahl errangen die Grünen unter Winfried Kretschmann 30,3 aus Respekt und Anerkennung zu erwerben. In den Augen Prozent und lagen als stärkste Partei 3,3 Prozentpunkte vor einer überwiegenden Mehrheit der Wahlberechtigten in der CDU. picture alliance/dpa

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 261261 330.11.200.11.20 08:4308:43 tagswahlen in den anderen Bundesländern hat die AfD konservativer Katholizismus geht hier einher mit einer ins- damit in Baden-Württemberg ihr bislang bestes Ergebnis gesamt barocken Liberalität der Lebensführung. in einem westdeutschen Bundesland erzielt. Und im Ge- Die pietistischen Milieus Alt-Württembergs mit ihrer Enge Ulrich Eith Ulrich gensatz zu früheren Protestparteien am rechten Rand hat und Strenge der Lebensführung stehen zudem im deutli- die AfD zudem durchaus Chancen, sich als Repräsentantin chen Gegensatz zum weitaus liberaleren Baden. Die dort einer neuen gesellschaftspolitischen Konfliktlinie mittelfris- ebenfalls vorfindbare Teilung zwischen einem mehrheit- tig zu behaupten. lich protestantischen Norden und einem eher katholischen In diesem Beitrag wird nachfolgend die Entwicklung des Süden hat in diesem Fall jedoch nicht zum Aufkommen reli- Parteiensystems in Baden-Württemberg mit dem analyti- giöser Sonderbewegungen geführt. Vielmehr ist das nach schen Instrumentarium der Wahl- und Parteienforschung fast allen Seiten offene Durchgangs- und Grenzland Ba- nachgezeichnet. Aus dieser Sicht stehen Strukturen und den entlang des Rheins für seine aufgeschlossenere Geis- Akteure gleichermaßen im Mittelpunkt. teshaltung bekannt (vgl. Bausinger 1996). Die direkt nach Zentrale Kontextfaktoren des politischen Wettbewerbs dem Zweiten Weltkrieg von den Besatzungsmächten vor- bilden zunächst die sozio-ökonomischen Strukturen. Immer genommene Aufspaltung der beiden Länder Württemberg wieder hat die Wahlforschung die Bedeutung etwa der und Baden in einen nördlichen Teil und zwei südliche Teile Wirtschafts-, Siedlungs- oder auch Konfessionsstruktur für hat alte territorial-kulturelle Gegensätze und somit das das Wählerverhalten nachweisen können. Allerdings ent- Denken in regionalen Zugehörigkeiten erneut akzentuiert, wickeln strukturelle Ausgangsbedingungen keinen Auto- am stärksten angesichts der Diskussionen im Vorfeld der matismus. Hinzu kommen ganz entscheidend die Fähigkei- Staatsgründung 1952 wohl in Südbaden. ten und das Geschick von Parteien, Kandidaten und Kandi- Die politischen Auswirkungen dieser konfessionell-regio- datinnen, durch ein entsprechendes Programmangebot nalen Gegensätze in Baden-Württemberg sind bis in die und zielgerichtetes politisches Handeln Strukturvorteile für späten 1970er-Jahre im Wählerverhalten unübersehbar sich nutzen und mögliche Nachteile ausgleichen zu kön- und verlieren auch in den folgenden Jahrzehnten nur lang- nen. Stabile Parteibindungen und konstante Wahlerfolge sam ihre Bedeutung. Zudem bestimmte ein vor allem auf sind keine Naturereignisse. Sie sind vor allem das Resultat die Region und Konfession ausgerichtetes Proporzdenken einer erfolgreichen Vertretung und Umsetzung politischer stets die Zusammensetzung der CDU-Ministerriege im Interessen. Nicht zuletzt stehen Landtagswahlen sodann Land (vgl. Eith 2001). auch unter dem Einfluss der bundespolitischen, manchmal Zu diesen Strukturmustern kommen die Effekte einer klein- sogar der internationalen Großwetterlage. Gerade die städtisch-ländlichen Siedlungsform, die durch die im Süd- baden-württembergischen Landtagswahlen lagen bis ein- westen verspätet einsetzende Industrialisierung lediglich schließlich 1980 im direkten Vorfeld von Bundestagswah- geringfügige Veränderungen erfahren hat (vgl. Mielke len und galten häufig als entsprechende Testwahlen. 1991). Nur ansatzweise hat die schnelle Ausdifferenzie- Welche Entwicklungslinien des politischen Wettbewerbs rung und Spezialisierung des produzierenden Sektors zur in Baden-Württemberg lassen sich nun aus dieser Perspek- Herausbildung einer Industriearbeiterschaft und den in tive identifizieren? Welche Erklärung findet sich für die anderen Teilen Deutschlands damit verbundenen großen langjährige dominierende Stellung der CDU in diesem städtisch-industriellen Zentren geführt. Nennenswerte In- Bundesland, welche für den Umbruch seit 2011? Die Ana- lyse der Entwicklung der letzten Jahrzehnte ermöglicht eine fundierte Einschätzung der aktuellen Situation des Parteiensystems in Baden-Württemberg und der Aus- gangslage kurz vor der Landtagswahl 2021.

Region, Konfession und Industrialisierung als sozio- ökonomische Kontexte des Parteienwettbewerbs in Baden-Württemberg

Das Königreich Württemberg und das Großherzogtum Ba- Die Heiligkreuzkapelle in den entstanden zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Zuge Amtzell in Oberschwaben. der Neuordnung Europas durch Napoleon und umfassen Der südliche Teil Baden- jeweils Gebiete ganz unterschiedlicher politisch-kulturel- Württembergs wird durch die ler Prägungen (vgl. Wehling 2006). In beiden Landesteilen katholischen Milieus Ober- existiert ein bis heute spürbarer Nord-Süd-Gegensatz. schwabens bestimmt. Ein durch Württemberg wird zudem von starken konfessionellen Ge- die Gegenreformation gefes- gensätzen bestimmt. Der nördliche Teil ist geprägt durch tigter, konservativer Katholizis- die protestantisch-pietistischen Milieus Alt-Württembergs mus geht hier einher mit einer rund um Stuttgart. Im Zusammenspiel mit der dort einstmals barocken Liberalität der geltenden erbrechtlichen Realteilung hat der rigide Pietis- Lebensführung. Die im Kultur- mus die Herausbildung solch sprichwörtlich schwäbischer kampf zusammengeschweißten Tugenden wie Fleiß, Selbstdisziplin und Erfindungsreich- katholischen Milieus bildeten tum, aber auch eine hohe soziale Kontrolle und gewisse in Oberschwaben bis in die Risikoscheue hervorgebracht. Der südliche Teil Württem- 1980er-Jahre unüberwindliche bergs wird durch die katholischen Milieus Oberschwabens Bastionen der Union. bestimmt. Ein durch die Gegenreformation gefestigter, picture alliance/dpa

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 262262 330.11.200.11.20 08:4308:43 dustrieagglomerationen finden sich in Baden-Württem- BADEN-WÜRTTEMBERGS PARTEIENSYSTEM berg bestenfalls im Mannheimer sowie im Stuttgarter IM WANDEL Raum. Die bis heute dominierende kleinstädtische Lebens- weise federte die üblichen sozialen Verwerfungen der In- dustrialisierung größtenteils ab und verhinderte weitge- Milieus Baden-Württembergs – insbesondere Ober- hend das Aufkommen eines proletarischen Klassenbe- schwabens – bildeten bis in die 1980er-Jahre unüberwind- wusstseins. Entsprechend verbreitet ist die Bereitschaft, bare Bastionen der Union. zwischen Wohn- und Arbeitsort zu pendeln. Viele Arbeiter Demgegenüber entwickelte die Sozialdemokratie letztlich konnten so in ihren traditionellen Bezügen verbleiben und weder zum liberalen noch zum pietistischen Protestantis- von Fall zu Fall sogar ihre bisherige Lebensform als nun- mus in Baden-Württemberg eine vergleichbare Nähe. mehr „Nebenerwerbs-Landwirte“ fortführen. Maßgebend für das Abschneiden der SPD war zudem we- Die politischen Wirkungen dieser spezifischen Industriali- niger der Konfessionsgegensatz als vielmehr der die Wirt- sierung sind offenkundig. Die kleinstädtisch-ländliche schafts- und Erwerbsstruktur bestimmende Gegensatz von Strukturierung hat die Chancen der Parteien der Arbeiter- Kapital versus Arbeit. Entsprechend erzielten die Sozialde- bewegung in Baden-Württemberg von Beginn an stark be- mokraten bei den ersten Landtagswahlen ihre besten Er- schränkt. Demgegenüber stellten die auch nach dem Zwei- gebnisse in den industrieller geprägten Ballungszentren ten Weltkrieg noch intakten katholischen und evangeli- des Großraums Stuttgart sowie Nord- und Mittelbadens. schen Milieus im ländlichen Südwesten eine strukturell Überdurchschnittliche Wahlergebnisse gelangen aber günstige Ausgangssituation für die politische Arbeit kon- auch im protestantisch-pietistischen Nordschwarzwald servativ-bürgerlicher Parteien – einerseits der CDU, ande- (Calw, Freudenstadt) sowie in kleineren Industriestädten rerseits der FDP – dar. mit einer überwiegend protestantischen Bevölkerung wie Lörrach, Reutlingen oder auch Mühlacker. Und dennoch war die Verankerung der SPD in der Arbeiter- Der Aufstieg der CDU zur dominierenden schaft in den 1950er- und 1960er-Jahren deutlich schwä- „Landespartei“ in den 1970er-Jahren cher ausgeprägt als etwa der Rückhalt der CDU bei den Katholiken. Bei den katholischen Arbeitern profitierten von Wie auch andernorts konnte die nach dem Zweiten Welt- dieser sozialdemokratischen Schwäche vor allem die krieg als überkonfessionell gegründete CDU zunächst an Christdemokraten, bei den protestantischen Arbeitern die durch den Katholizismus geprägten Traditionen der CDU, FDP und 1968 auch die NPD (vgl. Biege 1972). Weimarer Zentrumspartei anknüpfen. Bereits in den ersten Den konfessionellen Gegenpart zur CDU stellte vielerorts Wahlen der 1950er-Jahre kristallisierten sich die katholi- zunächst die FDP dar. In den Landtagswahlen bis 1968 er- schen Wahlkreise im Süden des Landes, in Mittelbaden zielten die Liberalen Stimmenanteile von teilweise über 30 zwischen Offenburg und Rastatt sowie diejenigen des Prozent im protestantisch geprägten Nordwürttemberg, Main-Tauber- und Ostalbkreises als verlässliche christde- ü b e rd u rchs ch ni t t l i ch e A nte i l e a b e r a u ch i n P fo r z h e i m, S i ns- mokratische Hochburgen heraus (vgl. Sepaintner 2002). heim, Calw, Freudenstadt und Reutlingen. Am erfolgreichs- Die im Kulturkampf zusammengeschweißten katholischen ten waren die Liberalen in protestantischen Wahlkreisen mit einem hohen Anteil von kleinen und mittleren Selbst- ständigen, Gewerbetreibenden oder auch Beschäftigten im öffentlichen Dienst (vgl. Adam 1979). Damit banden die Liberalen gerade im neuen Mittelstand Wählergruppen, die letztlich wiederum der SPD in der Endabrechnung zur CDU fehlten. Nur geringen Zuspruch erfuhr die FDP in ka- tholischen Gegenden sowie von der Arbeiterschaft. Mit Beginn der sozial-liberalen Ära in Bonn 1969 fiel der lan- desweite FDP-Stimmenanteil in Baden-Württemberg dann dauerhaft unter die Zehnprozentmarke. 1968 zog die rechtsextreme NPD mit einem Wahlergebnis von 9,8 Prozent für vier Jahre in den Stuttgarter Landtag ein, nachdem sie bereits zuvor in Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Bremen die Fünfpro- zenthürde hatte überspringen können. Gewählt wurde sie überdurchschnittlich von den mittleren Generationen, von Männern weitaus stärker als von Frauen. Die höchsten Stimmenanteile erzielten die Rechtsextremen wie früher bereits die Nationalsozialisten in protestantischen Wahl- kreisen Nordwürttembergs und Nordbadens. Hinzu ka- men im Süden Lörrach, Calw, Balingen und Reutlingen, die katholisch dominierten nordbadischen Wahlkreise Mos- bach und Tauberbischofsheim sowie der südbadische, ebenfalls katholische Wahlkreis Offenburg. Sozialstruktu- relle Zusammenhänge waren neben diesen konfessionell- regionalen Zuordnungen von nur nachrangiger Bedeutung (Mielke 1987), offenkundig hingegen war das Protestmo- ment gegen die große Koalition in Bonn. Nach der bundes-

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 263263 330.11.200.11.20 08:4308:43 politischen Weichenstellung zur sozial-liberalen Koalition 1969 war die Oppositionsrolle im Bundestag wieder ver- nehmbarer besetzt und die Unterstützung für die NPD fiel Ulrich Eith Ulrich rasch in sich zusammen. Der entscheidende Aufstieg der Union zur Landespartei Baden-Württembergs gelang dann zu Zeiten der sozial- liberalen Koalition in Bonn und beruhte auf organisatori- schen und wahlsoziologischen Faktoren (vgl. Eith 2001). Organisatorisch führte der seit 1966 amtierende Minister- präsident Hans Filbinger 1971 die im Land bislang aus vier unabhängigen Verbänden bestehende Union zu einem schlagkräftigen Landesverband mit strafferen Führungs- strukturen zusammen. Ab 1972 wurde das Staatsministe- rium zum Leit- und Koordinierungszentrum ausgebaut, während sich die CDU-Fraktion in den folgenden Jahren zunehmend zu einem selbstbewussten und eigenständi- gen Machtfaktor in der Landespolitik entwickelte. Als Re- gierungspartei mit absoluter Mehrheit war die Union in den 1970er-Jahren zudem in der günstigen Lage, ihren n e u e n S t a t u s a l s La n d e s p a r te i a u ch d u rch e i n e b i s h e u te z u beobachtende gezielte Personal- und Versorgungspolitik absichern zu können. Von wahlstrategischer Bedeutung für den christdemokrati- schen Aufschwung war der strikt konservative Abgren- zungskurs der Regierung Filbinger gegen die seit 1969 in Bonn regierende sozial-liberale Koalition. 1972 gelang Nach seiner Wiederwahl am 4. Juni 1980 erhielt der alte diese Polarisierung hauptsächlich durch einen Frontalan- und neue Ministerpräsident Lothar Späth von drei Abgeord- griff auf die Ost- und Gesellschaftspolitik der Regierung neten der Grünen (Elsbeth Mordo, Wolf-Dieter Hasenclever Brandt, 1976 erfolgte sie auf eher ideologisch-symboli- und Holger Reimann; von links nach rechts) einen Kaktus. scher Ebene unter dem Motto „Demokratischer Staat oder Bereits 1980 gelang den Grünen der Sprung über die Fünf- sozialistische Gesellschaft“ (vgl. Biege/Mann/Wehling prozenthürde, von 1984 bis zur Wahl 2011 stellten die Grü- 1976). Zudem setzte die CDU mit den Slogans „Mit uns für nen mit Ausnahme von 1992 (Republikaner) und 2001 (FDP) Baden-Württemberg“ und „Die liberale und soziale Volks- die drittstärkste Landtagsfraktion. partei der Mitte“ bereits 1976 erfolgreich auf die Selbstin- picture alliance/dpa szenierung als „Baden-Württemberg-Partei“. In besonderer Weise profitierten die Christdemokraten auch vom linksliberalen Schwenk der FDP im Bund 1969. wie in der Hochrhein-Bodensee-Region. Bereits 1980 ge- Das nunmehr verwaiste protestantisch-altliberale Wähler- lang der Sprung über die Fünfprozenthürde, von 1984 bis milieu Baden-Württembergs konnte durch die konservative zur Wahl 2011 stellten die Grünen mit Ausnahme von 1992 Politik Filbingers in großen Teilen für die CDU gewonnen (Republikaner) und 2001 (FDP) die drittstärkste Landtags- werden, die 1972 erstmals die absolute Mehrheit errang. fraktion. Als stabile Hochburgen haben sich bis heute im- Darüber hinaus gelangen entscheidende Stimmenge- mer wieder die Dienstleistungs- und Universitätsstädte des winne in städtischen Wahlkreisen, den bisherigen Hoch- Landes erwiesen. Die grüne – dem studentischen Dasein burgen der Sozialdemokratie. Deren Kurskorrektur in Rich- mittlerweile zumeist entwachsene – Wählerschaft weist tung alternative Themen der neuen sozialen Bewegungen die höchste formale Bildung auf, viele arbeiten in Human- unter ihrem langjährigen Landes- und Fraktionsvorsitzen- dienstleistungsberufen, häufig in gehobenen Angestell- den Erhard Eppler (vgl. Mann 1972) – vielfach übrigens in ten- oder Beamtenpositionen. Opposition zur eigenen Bundesregierung unter Helmut Der Aufschwung der Grünen verringerte nochmals die Schmidt – hat der Union in den 1970er-Jahren unverhofft Chancen der SPD auf eine eigenständige Machtperspek- neue Zuwachsmöglichkeiten sowohl unter der städtischen tive in Baden-Württemberg. Gleich von zwei Seiten gerie- Arbeiterschaft als auch im protestantischen Bürgertum er- ten die Sozialdemokraten unter Druck. Unter der Arbeiter- öffnet. Die SPD hatte es während ihrer Regierungsbeteili- schaft hatte bereits der von Erhard Eppler vollzogene post- gung 1966–1972 versäumt, ein für Volksparteien unver- materialistische Schwenk zu massiven Verlusten in den zichtbares mehrheitsfähiges politisches und personelles städtischen Ballungsgebieten geführt, deren Nutznießer Profil zu entwickeln. Selbst bei den Arbeitern wurde sie nun in erster Linie zunächst die Christdemokraten und mit Ab- von der Union überflügelt. strichen dann auch die Republikaner waren. Im neuen Mit- telstand verloren die Sozialdemokraten seit den 1980er- Jahren vor allem bei den jüngeren Generationen zuguns- Die Ausdifferenzierung des Parteiensystems seit den ten der Grünen. Über nunmehr drei Jahrzehnte hinweg hat 1980er-Jahren die SPD den Spagat zwischen der traditionellen Arbeiter- schaft und den postmaterialistischen Bildungseliten nicht In den 1980er-Jahren etablierten sich die Grünen. Die erfolgreich auflösen können. Hieran änderten auch zwi- größte Unterstützung mobilisierten sie im badischen Süd- schenzeitliche Positionsverbesserungen in ländlichen und westen rund um Freiburg, in Tübingen und Heidelberg so- katholischen Wahlkreisen kaum etwas. 1996 erzielte die

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 264264 330.11.200.11.20 08:4308:43 BADEN-WÜRTTEMBERGS PARTEIENSYSTEM IM WANDEL

gierungskurs im katholischen Oberschwaben an der Frage des Schwangerschaftsabbruchs und der als bedrohlich empfundenen Situation der Bauern. Ab 1992 konnten sich dann die rechtsextremen Republikaner für zwei Legislatur- perioden im Stuttgarter Landtag einrichten. Starke Unterstützung erfuhren die Republikaner vor allem im Nordschwarzwald und in Nordwürttemberg rund um Stuttgart. Hinzu kamen einzelne Regionen in Oberschwa- ben. Die niedrigsten rechtsextremen Stimmenanteile wa- ren hingegen in Südbaden zu verzeichnen. Überdurch- schnittliche Ergebnisse erzielten die Republikaner stets in Wahlkreisen mit einem hohen Anteil an produzierendem Gewerbe, bei Arbeitern, Gewerkschaftsmitgliedern, jün- geren Männern und Kirchenfernen. Katalysatorisch wirkte 1992 die von der Union inszenierte Asyldebatte, 1996 die von der SPD forcierte Aussiedlerdiskussion. Auffällig ist darüber hinaus, dass die republikanischen Hochburgen der 1990er-Jahre – von wenigen Ausnahmen im katholischen Oberschwaben einmal abgesehen – vor allem in protestantisch-pietistisch geprägten Wahlkreisen liegen. Dies legt die Frage nach möglichen Besonderhei- ten der dortigen regionalen politischen Kultur nahe (vgl. Eith 2008). Vieles deutet darauf hin, dass der zunächst re- SPD nach vierjähriger Regierungsbeteiligung mit ihrem ligiös begründete rigide moralische Anspruch zusammen Spitzenkandidaten, dem amtierenden Wirtschaftsminister mit der hohen sozialen Kontrolle in seiner säkularisierten und stellvertretenden Ministerpräsidenten Dieter Spöri ge- Form die Ausprägung von stark gesinnungsethischen poli- ra d e n o ch 2 5 ,1 Proze nt, 2 0 0 6 w a re n e s a us d e r O p p os i t i o n tischen Orientierungen befördert hat. Im günstigen Fall heraus ebenfalls nur 25,2 Prozent. führt dies zu politischem Engagement, im ungünstigen Fall Die FDP hat im Verlauf der 1980er-Jahre ihre ehemals ge- zu Formen ausgeprägter politischer Frustration und dicho- festigte strukturelle Verankerung in Baden-Württemberg tomen Freund-Feind-Wahrnehmungen. Letzteres bietet ge- weitgehend verloren. Der erneute Koalitionswechsel auf rade bei ungenügender (partei-)politischer Eingebunden- Bundesebene 1982 – diesmal zurück zur Union – führte in heit vielfache Anknüpfungspunkte für autoritäre Politikfor- den darauffolgenden Wahlen zu starken Verlusten nun derungen und Sündenbocktheorien. auch bei linksliberalen Wählern in den städtischen Dienst- In der Summe bleibt somit festzuhalten, dass sich die Zu- leistungszentren. Ihr früherer Alleinvertretungsanspruch sammenhänge zwischen Sozialstruktur und Wählerverhal- bürgerlich-protestantischer Interessen war somit weitge- ten in Baden-Württemberg im Verlauf der drei Jahrzehnte hend relativiert, auch wenn die liberalen Hochburgen – al- nach 198 0 schr it t weise ve rände r t haben. Im Ve r hältnis von lerdings auf inzwischen deutlich niedrigerem Niveau – Christ- und Sozialdemokraten profitierte von diesen Ent- noch immer im protestantischen Württemberg liegen. Wie wicklungen letztlich die CDU, die trotz zeitweiliger Mobili- auch in anderen Teilen der Bundesrepublik wird die FDP in sierungsschwächen in katholisch-ländlichen Wahlkreisen ihrem „Stammland“ seit den 1990er-Jahren vor allem noch und absoluten Stimmenverlusten im Land inzwischen selbst als wirtschaftsliberale Funktionspartei wahrgenommen. bei Arbeitern und kleineren Angestellten eine zunehmend Hieran konnte auch die erneute Regierungsbeteiligung klarere Vormachtstellung gegenüber der SPD behaupten 1996–2011 unter den Ministerpräsidenten Erwin Teufel, konnte. Günther Oettinger und Stefan Mappus nichts Entschei- dendes ändern. Den Wendepunkt des christdemokratischen Integrations- 2011: Eine neue Zeitrechnung beginnt prozesses markiert die Regierungsübernahme von Lothar Späth 1978. Sein wirtschaftlich durchaus erfolgreicher, al- Die Landtagwahl 2011 führte dann zum ersten vollständi- lerdings stark auf den Stuttgarter Raum konzentrierter Mo- gen Regierungswechsel in Baden-Württemberg und dernisierungskurs stellte vor allem die vermeintlich allein brachte zugleich mit Winfried Kretschmann den ersten wahlentscheidenden neuen Mittelschichten in den größe- Grünen ins Amt des Ministerpräsidenten eines Bundeslan- ren Städten in den Mittelpunkt. Die kleinstädtisch-ländliche des. Dieser Machtwechsel beruht auf kurz- und längerfris- St r uk t ur B ad e n-Wür t te mb e rgs ge r iet d amit z u se hr aus d e m tigen Ursachen (vgl. Roth 2013). Blick. Folgerichtig wurde das Image Baden-Württembergs Die Landtagswahl fand vor dem Hintergrund der Ereig- als modernes „Musterländle“ letztlich auch mit massiven nisse um Stuttgart 21 sowie der Reaktorkatastrophe in Fu- Abkopplungstendenzen unter den Traditionswählern in der kushima statt, was in beiden Fällen das sowieso schon ländlichen Peripherie und in den städtischen Problemzonen schlechte Ansehen des seit Februar 2010 amtierenden erkauft (vgl. Oberndörfer/Mielke/Eith 1992). 1988 entzün- CDU-Ministerpräsidenten Stefan Mappus verstärkte. Die dete sich der zunehmende Unmut über den Stuttgarter Re- Auseinandersetzungen um den Bahnhofsneubau in Stutt-

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 265265 330.11.200.11.20 08:4308:43 gart hatten ihren unrühmlichen Höhepunkt am 20. Septem- in bewährten sowie in neuen Formaten. Und schließlich ber 2010 durch den massiven Einsatz von Wasserwerfern konnte die Landesregierung Vorbehalte gegen grünes Re- gegen friedliche Demonstrierende. Verantwortlich ge- gierungshandeln bereits in der ersten Legislaturperiode Ulrich Eith Ulrich macht wurde dafür in der Öffentlichkeit Ministerpräsident abbauen. Aus Sicht der breiteren Öffentlichkeit zeichnete Mappus, der in den Auseinandersetzungen mit den Geg- sich Grün-Rot 2011–2016 im Großen und Ganzen durch nern des Projekts Stuttgart 21 stets eine harte Linie vertrat eine geräuschlose und kompetente Regierungsarbeit aus. und wenig Kompromissbereitschaft erkennen ließ. Über Die Landtagswahl im März 2016 wurde thematisch überla- den Jahreswechsel 2010/2011 gelang es durch die Schlich- gert durch die bundesweiten Auseinandersetzungen um tungsverhandlungen von Heiner Geißler, die Situation et- die gestiegenen Flüchtlingszahlen und die damit verbunde- was zu beruhigen. nen enormen Herausforderungen der Kommunen, zunächst Am 11. März 2011 nahm dann die Reaktorkatastrophe in Unterbringung und Versorgung sicherstellen zu müssen. Die Fukushima ihren Anfang. Nur wenige Tage später reagier- Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin polarisierte, wovon ten Bundes- und Landesregierung mit der Ankündigung vor allem Grüne und AfD profitieren konnten. Ministerpräsi- des Atomausstiegs. Insbesondere im Falle der Landesre- dent Kretschmann unterstützte mit großer Zustimmung der gierung war diese Kehrtwende des bisherigen Atombefür- Wählerinnen und Wähler in Baden-Württemberg die Kanz- worters Mappus für viele Wählerinnen und Wähler höchst lerin, während Guido Wolf als CDU-Spitzenkandidat eher unglaubwürdig. als Kritiker Merkels wahrgenommen wurde. Die Grünen ge- Hinzu kam, dass die CDU und insbesondere ihr Minister- wannen 46 von 70 Wahlkreisen, erzielten mit 30,3 Prozent präsident Mappus bereits vor diesen Ereignissen schlechte ihr bestes Ergebnis und lagen damit über drei Prozent- Umfrageergebnisse erzielten. In der CDU-Wählerschaft punkte vor der Union. Der Protest gegen die Flüchtlingspo- hatte sich den verfügbaren Umfragedaten zufolge über litik von Merkel war hierbei ein entscheidender Faktor, Jahre hinweg das Gefühl verstärkt, dass die Regierung den gleichwohl fügt sich dieser bestens ins Bild einer neuer po- Kontakt zu den eigenen Wählerinnen und Wählern immer litischen Konfliktkonstellation, kosmopolitische versus nati- stärker vermissen ließ und zunehmend selbstbezogen, ab- onale Politikgestaltung (vgl. Merkel 2017; Eith 2018). In ide- gekoppelt von ihrer Basis handelte. Insbesondere in den altypischer Zuspitzung stehen Kosmopoliten für offene größeren Städten und bei Frauen traf die CDU immer Grenzen, für gesellschaftliche Vielfalt und multilaterale Ab- weniger das vorherrschende Lebensgefühl. Stefan Map- kommen angesichts der Auswirkungen von Klimawandel pus verstärkte mit seinem brachialen Regierungsstil dieses und fortgeschrittener Globalisierung. Demgegenüber for- Unbehagen. Seit dem Herbst 2010 hatte sich eine Wech- dern nationalstaatlich Orientierte eine homogenere natio- selstimmung im Land aufgebaut, die zusammen mit den nale Kultur, das Ende von Multikulturalismus und starke Na- Auswirkungen von Stuttgart 21 und der Reaktorkatastro- phe in Fukushima letztlich dann zur Abwahl der amtieren- den Regierung führte. Nutznießer dieser Entwicklungen waren in erster Linie die Grünen, die zeitweise bereits im Verlaufe der Auseinan- dersetzungen um Stut tgar t 21 und dann ab der Reaktorka- tastrophe in den Umfragen vor den Sozialdemokraten la- gen. Unter dem Eindruck von Fukushima kam es bei der Landtagswahl zu einer Steigerung der Wahlbeteiligung von über zwölf Prozentpunkten. Die Tatsache, dass die Grünen in der Endabrechnung vor der SPD lagen und somit den Ministerpräsidenten stellen konnten, ist in hohem Maße dem zu diesem Zeitpunkt hochaktuellen Thema Atomausstieg geschuldet. Am 14. März 2016, einen Tag Der Ausgang der Landtagswahl 2016 belegt jedoch, dass nach der Landtagswahl, wird die grün-rote Regierung unter Kretschmann keineswegs ei- ein Wahlplakat des CDU-Spit- nen Betriebsunfall in der baden-württembergischen Ge- zenkandidaten Guido Wolf schichte darstellte, verursacht vor allem durch sehr spezifi- abgebaut. Innerhalb der CDU sche Umstände bei der Landtagswahl 2011. Eine solche war die Kandidatur Wolfs auf- Sicht vernachlässigt den enormen Vertrauensverlust der grund seines geringen CDU-Regierungen vor 2011 sowie den Verlauf der ersten Bekanntheitsgrades, seiner Regierungsperiode Kretschmann 2011–2016. Sehr schnell fehlenden landespolitischen ist es Ministerpräsident Kretschmann gelungen, in die Rolle Erfahrung sowie seiner man- des weithin geschätzten Landesvaters hineinzuwachsen. gelnden Attraktivität für Sein bürgerlicher Habitus, als Indizien seien sein litera- urbane Wählermilieus nicht risch-philosophischer Bildungshintergrund, seine Kirchen- unumstritten. Der inhaltliche bindung und sein Engagement in der Fastnacht genannt, Pendelkurs und die nicht ein- geht zusammen mit einer klaren, durchaus pragmatisch ge- deutige Positionierung des handhabten politischen Zielsetzung, Baden-Württembergs CDU-Spitzenkandidaten zur Stärken durch eine nachhaltige Verbindung von Ökonomie Flüchtlingspolitik der Bundes- und Ökologie auch für die Zukunft zu sichern. Hinzu kommt kanzlerin trugen ebenfalls zum ein verändertes Verhältnis von Politik und Bürgerschaft auf Verlust von Wählerinnen- und Landes- und besonders auch kommunaler Ebene durch den Wählerstimmen bei. Ausbau von Bürgerbeteiligung und Bürgermitentscheidung picture alliance/dpa

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 266266 330.11.200.11.20 08:4308:43 tionalstaaten bei der Bekämpfung globaler Herausforde- BADEN-WÜRTTEMBERGS PARTEIENSYSTEM rungen. Parteipolitisch besetzen in Deutschland am klarsten IM WANDEL Grüne und AfD die entgegengesetzten Pole. Die AfD er- zielte aus dem Stand in Mannheim und Pforzheim zwei Di- rektmandate und konnte mit 15,1 Prozent die SPD hinter sich erfolgreichen politischen Handelns in Baden-Württem- lassen. berg deutlich werden lassen. Der Erfolg der CDU gründete Die Landtagswahl 2016 bekräftigte somit die bereits 2011 zum einen auf einer sorgsam ausgewogenen Berücksichti- erkennbaren strukturellen Veränderungen des politischen gung der politischen Interessen im Koordinatensystem von Wettbewerbs in Baden-Württemberg. Somit kann die Konfessionen, sozialer Lage und territorialen Zugehörig- Landtagswahl von 2011 aus heutiger Perspektive durchaus keiten, auf einem Ausgleich zwischen Traditionsbewusst- als „critical election“, als Wahl des Umbruchs und einer sein und Modernisierungswillen. Hinzu kam zum anderen Neustrukturierung des politischen Wettbewerbs in Baden- die Notwendigkeit, die anstehenden Führungswechsel in Württemberg gelten. den politischen Spitzenpositionen des Landes mit größt- möglichem Konsens erfolgreich zu bewältigen. Als dies nicht mehr optimal klappte, erfolgte der Abschwung. Dem Fazit und Ausblick auf die Landtagswahl 2021 Verlust der Regierungsverantwortung 2011 gingen eine im- plizite Spaltung der Parteispitze in rivalisierende Lager Die in diesem Beitrag diskutierten Entwicklungslinien des und – damit verbunden – ein schleichender Prozess der politischen Wettbewerbs in Baden-Württemberg verdeut- Entfremdung der politischen Spitze von ihren Wählerinnen lichen, dass strukturelle Voraussetzungen keine Zwangs- und Wählern voraus. Ob Kultusministerin Susanne Eisen- läufigkeiten begründen. Sie stellen Entwicklungspoten- mann als CDU-Spitzenkandidatin 2021 in den nächsten tia le dar, die durch zielgerichtetes politisches Handeln ak- Monaten erfolgreich Boden zurückgewinnen und eine in- tiviert und genutzt werden müssen (Eith 2001; Weber nerparteiliche Befriedung herbeiführen kann, bleibt abzu- 2006). warten. Die CDU konnte im Verlauf der Jahrzehnte die sich ihr Der SPD ist es über Jahrzehnte hinweg nicht gelungen, die in Baden-Württemberg bietenden Strukturvorteile zu- Strukturnachteile für klassische Arbeitnehmerparteien in nächst nutzen und in den 1970er-Jahren zur beherrschen- Baden-Württemberg durch eine aktive Erschließung neuer den Landespartei aufsteigen. Die mit dem Modernisie- Wählersegmente entscheidend auszugleichen. In traditio- rungskurs unter Ministerpräsident Lothar Späth einsetzen- nelle Arbeitermilieus konnte zwischenzeitlich die Union den Wahlverluste haben allerdings auch die Bedingungen eindringen, in der Auseinandersetzung um die strategi- schen Stimmenanteile bei den neuen Mittelschichten ist den Sozialdemokraten in Gestalt der Grünen ein neuer Konkurrent erwachsen. Zudem gelang es den Sozialde- mokraten selbst in Zeiten der Regierungsverantwortung nicht, im größeren Umfang neue Wählergruppen hinzu- zugewinnen. Im politischen Wettbewerb fehlt der SPD auch bundesweit inzwischen ein prägnantes Alleinstel- lungsmerkmal. Für soziale Gerechtigkeit steht auch die Linke, für Ökologie und Umweltschutz die Grünen, für Wirtschaft die CDU. In der aktuellen baden-württember- gischen Polarisierung zwischen CDU und Grünen droht der SPD ein weiterer Bedeutungsverlust. Wenig deutet derzeit darauf hin, dass die Sozialdemokraten 2021 ge- genüber ihrem schwachen Ergebnis von 2016 entschei- dend zulegen können. Die Grünen haben sich in Baden-Württemberg als neue Milieupartei des urbanen Bildungsbürgertums mit inzwi- schen respektablen Ergebnissen auch in den ländlichen Regionen (vgl. Haas 2013) fest etabliert. Erfolgreich nutz- ten sie die Chance, durch Abwahl der CDU seit 2011 den Ministerpräsidenten stellen zu können. Mit Winfried Kretschmann an der Spitze gelangen beachtliche Ver- trauenszuwächse und der Abbau alter Vorurteile bei Wählerkreisen der politischen Konkurrenz. Dass die Grü- nen in sämtlichen Umfragen seit 2011 konstant vor der SPD und seit 2016 auf Augenhöhe zur CDU stehen, ver- deutlicht das Ausmaß dieser Veränderungen. Zudem sind Koalitionen mit allen demokratischen Parteien der politi- schen Mitte denkbar. Deutlich ist aber auch, dass der enorme Aufschwung der Grünen im letzten Jahrzehnt eng verbunden ist mit der hohen Wertschätzung von Minister- präsident Kretschmann. Der Nachweis einer strukturellen Mehrheitsfähigkeit der Grünen in Baden-Württemberg steht somit noch aus.

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 267267 330.11.200.11.20 08:4308:43 Darüber hinaus liegt es ganz entscheidend an den demo- kratischen Parteien, das rechtspopulistische Wählerpo- tential zu begrenzen. Nur durch eine verlässliche Politik Ulrich Eith Ulrich der Interessenvertretung für untere und mittlere soziale Schichten, durch regelmäßigen Dialog auf Augenhöhe und umfassende Beteiligungsanreize lassen sich die Aus- wirkungen von Bedrohungs-, Sündenbock- und Verschwö- rungsideologien reduzieren. Dringend nötig sind zudem Bildungs- und Ausbildungsprogramme, Arbeitseingliede- rungsmaßnahmen und sozialer Wohnungsbau, damit so- zial Schwächere und Flüchtlinge nicht unnötig zu Konkur- renten werden. Die in den aktuellen Umfragen zum Ausdruck kommende Zufriedenheit mit dem Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann und seiner grün-schwarzen Landesregierung ist auch wenige Monate vor der Landtagswahl ausgespro- chen hoch. Sein bedächtiger Politikstil zusammen mit seiner Fähigkeit, politisches Handeln auch nachvollziehbar zu er- klären, hat sich auch in der Corona-Krise bewährt. Im per- sönlichen Vergleich liegt Kretschmann derzeit deutlich vor seiner Herausforderin, der christdemokratischen Kultusmi- nisterin Susanne Eisenmann. Dennoch ist der Wahlausgang aus heutiger Sicht offen. Bei den letzten beiden Landtags- wahlen konnten die Grünen von der jeweils aktuellen The- Es bleibt spannend! Letztlich bleiben einige Unwägbarkeiten menagenda profitieren. Die mit der Corona-Krise ausge- für die Landtagswahl 2021, wenngleich die Meinungsumfra- sprochen hohe Wertschätzung der Arbeit der Bundesre- gen eine deutliche Sprache sprechen. Bleiben die Werte der gierung und insbesondere die hohen Popularitätswerte der Parteien auf dem aktuellen Niveau, ist eine Regierungsbil- Kanzlerin Angela Merkel sollten aktuell wohl eher der CDU dung gegen die Grünen kaum möglich. Die hohen Beliebt- zugute kommen. Es bleibt wohl spannend, zumal unter die- heitswerte für Ministerpräsident Kretschmann im Vergleich sen Umständen selbst kleinere Fehler in der Wahlkampffüh- zu seiner CDU-Herausforderin Eisenmann lassen derzeit rung letztlich wahlentscheidend sein können. wohl keine grundlegenden Veränderungen dieser Konstella- tion erwarten. picture alliance/dpa LITERATUR Adam, Uwe Dietrich (1979): Politischer Liberalismus im deutschen Südwes- Von den kleineren Parteien in Baden-Württemberg weisen ten 1944–1978. In: Rothermund, Paul/Wiehn, Erhard R. (Hrsg.): Die derzeit insbesondere FDP und Linke keine gefestigten F. D.P./DVP in Baden-Württemberg und ihre Geschichte. Stuttgart, Strukturverankerungen auf, die sie sicher über die Fünfpro- S. 220–253. Bausinger, Hermann (1996): Zur politischen Kultur Baden-Württembergs. zenthürde bringen. Wie auch bei den letzten Landtags- In: Bausinger, Hermann/Eschenburg, Theodor (Hrsg.): Baden-Württem- wahlen sind beide Parteien darauf angewiesen, von aktu- berg. Eine politische Landeskunde. 4. Auflage, Stuttgart, S. 14–42. ellen Themen zu profitieren. Den Liberalen kommt hierbei Biege, Hans-Peter (1972): Wer wählt was in Baden-Württemberg? Wähler, Wahlkampf und Wahlerfolg im Lichte der Wahlforschung. In: Der Bür- die Medienpräsenz ihres Fraktionsvorsitzenden Hans-Ul- ger im Staat, Heft 1/1972, S. 27–32. rich Rülke zugute. Biege, Hans-Peter/Mann, Hans Joachim/Wehling, Hans-Georg (1976): Bessere Chancen hat demgegenüber die rechtspopulisti- Die Landtagswahl vom 4. April 1976 in Baden-Württemberg. Bewäh- rungsprobe für die Thematik des Bundeswahlkampfes? In: Zeitschrift für sche AfD, die sich auch in Baden-Württemberg auf Wäh- Parlamentsfragen, Heft 4/1976, S. 329–352. lerkreise stützen kann, die gesellschaftliche Modernisie- Eith, Ulrich (2001): Regierungsperioden und politische Dominanz in Ba- rung und vor allem weitere Zuwanderung strikt ablehnen. den-Württemberg: Die CDU als „Landespartei“. In: Hirscher, Gerhard/ Korte, Karl-Rudolf (Hrsg.): Aufstieg und Fall von Regierungen. München, In den Umfragen erzielt sie zweistellige Ergebnisse und S. 249–277. konkurriert mit der SPD um Platz drei im Landtag. Länger- Eith, Ulrich (2001): Zur Ausprägung des politischen Wettbewerbs in ent- fristig profitiert sie in erster Linie von der Flüchtlings- und wickelten Demokratien. Zwischen gesellschaftlichen Konflikten und dem Handeln politischer Eliten. In: Eith, Ulrich/Mielke, Gerd (Hrsg.): Gesell- Integrationsthematik, wo sie als Protestpartei und Projekti- schaftliche Konflikte und Parteiensysteme. Länder und Regionalstudien. onsfläche für Fremdenängste und für Bedrohungsgefühle Opladen, S. 17–33. wahrgenommen wird (Eith 2020). Abzuwarten bleibt aller- Eith, Ulrich (2004): Wählerverhalten in Baden-Württemberg – Strukturen, Akteure, Entwicklungslinien. In: Eilfort, Michael (Hrsg.): Parteien in Ba- dings, wie sich der innerparteiliche Machtkampf zwischen den-Württemberg. Stuttgart, S. 219–229. der nationalliberal-konservativen Parteiführung unter Jörg Eith, Ulrich (2008): Das Parteiensystem Baden-Württembergs. In: Jun, Meuthen und den inzwischen offen rechtsextremen Krei- Uwe/Haas, Melanie/Niedermayer, Oskar (Hrsg.): Parteien und Partei- ensysteme in den deutschen Ländern. Opladen, S. 103–123. sen innerhalb der Partei entwickelt. Für eine längerfristige Eith, Ulrich (2018): Stabilité et changement. Portraits régionaux et socio- Etablierung zumindest in Westdeutschland muss es der structurels des élections au Bundestag 2017. In: Allemagne d´aujourd´hui AfD allen bisherigen Erfahrungen nach gelingen, zum (Aa) Nr. 223 1/2018, S. 12–21. Eith, Ulrich (2020): Regierungszufriedenheit und Protestdemos – Parteien- Rechtsextremismus eine klare Grenze zu ziehen. Solange demokratie und demokratische Stabilität nicht nur in Zeiten von Corona. also die Corona-Thematik die politische Agenda bestimmt In: Außerschulische Bildung, Heft 4/2020 (im Erscheinen). und die AfD ihr innerparteiliches Extremismusproblem nicht Haas, Stefanie (2013): Wandern ins Grüne: Veränderungen im Elektorat. In: Wagschal, Uwe/Eith, Ulrich/Wehner, Michael (Hrsg.): Der histori- lösen kann, sind ihre Aussichten auf Zugewinne eher be- sche Machtwechsel: Grün-Rot in Baden-Württemberg. Baden-Baden, scheiden. S. 43–57.

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 268268 330.11.200.11.20 08:4308:43 Mann, Hans-Joachim (1992): Die SPD in Baden-Württemberg von 1952 bis zur Gegenwart – Politik, innere Entwicklung, Organisation. In: Schadt, BADEN-WÜRTTEMBERGS PARTEIENSYSTEM Jörg/Schmierer, Wolfgang (Hrsg.): Die SPD in Baden-Württemberg und IM WANDEL ihre Geschichte. Stuttgart, S. 233–299. Merkel, Wolfgang (2017): Kosmopolitismus versus Kommunitarismus: Ein neuer Konflikt in der Demokratie. In: Harfst, Philipp et al. (Hrsg.): Parties, Governments and Elites. The Comparative Study of Democracy. Wies- baden, S. 9–23. Mielke, Gerd (1987): Sozialer Wandel und politische Dominanz in Baden- Württemberg. Eine politikwissenschaftlich-statistische Analyse des Zu- sammenhangs von Sozialstruktur und Wahlverhalten in einer ländlichen

Region. Berlin. UNSER AUTOR Mielke, Gerd (1991): Alter und neuer Regionalismus: Sozialstruktur, politi- sche Traditionen und Parteiensystem in Baden-Württemberg. In: Oberndörfer, Dieter/Schmitt, Karl (Hrsg.): Parteien und regionale poli- tische Traditionen in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin, S. 299– 313. Oberndörfer, Dieter/Mielke, Gerd/Eith, Ulrich (1992): Die These vom Denkzettelvotum greift viel zu kurz. Der Erfolg der Rechtsradikalen re- sultiert aus der Entfremdung der Traditionsparteien von der Lebenswelt ganzer Bevölkerungsschichten. Analyse der Landtagswahl in Baden- Württemberg. In: Süddeutsche Zeitung vom 11.04.1992, S. 9. Roth, Dieter (2013): Baden-Württemberg 2011: Was entschied die Wahl? In: Wagschal, Uwe/Eith, Ulrich/Wehner, Michael (Hrsg.): Der histori- sche Machtwechsel: Grün-Rot in Baden-Württemberg. Baden-Baden, S. 15–29. Sepaintner, Fred Ludwig (2002): 50 Jahre Landtagswahlen in Baden- Prof. Dr. Ulrich Eith studierte Politikwissenschaft, Mathematik und Württemberg. Grundzüge und Tendenzen. In: Der Bürger im Staat, Heft Soziologie in Freiburg. Nach Promotion und Habilitation in Poli- 1/2002, S. 79–88. tikwissenschaft lehrte er zunächst in Freiburg und Göttingen. Heu- Statistisches Landesamt Baden-Württemberg (Hrsg.): Baden-Württem- berg in Wort und Zahl, (Berichterstattung zu den Landtagswahlen). te ist er Direktor des Studienhauses Wiesneck, Institut für politische Verschiedene Jahrgänge. Stuttgart, Bildung Baden-Württemberg e. V. in Buchenbach und Professor Wagschal Uwe/Eith, Ulrich/Wehner, Michael (Hrsg.) (2013): Der histori- für Politikwissenschaft an der Universität Freiburg. Seine For- sche Machtwechsel: Grün-Rot in Baden-Württemberg. Baden-Baden. Weber, Reinhold (2006): Politische Kultur, Parteiensystem und Wählertra- schungsschwerpunkte sind insbesondere die Wahl- und Einstel- ditionen im deutschen Südwesten. In: Weber, Reinhold/Wehling, Hans- lungsforschung, die Parteienforschung und das deutsche Regie- Georg (Hrsg.): Baden-Württemberg. Gesellschaft, Geschichte, Politik. rungssystem im Systemvergleich. Darüber hinaus ist er als Fach- Stuttgart, S. 56–89. Wehling, Hans-Georg (2006): Baden-Württemberg: Zur Geschichte eines gutachter für politische Stiftungen und Fachzeitschriften sowie als jungen Bundeslandes. In: Weber, Reinhold/Wehling, Hans-Georg wissenschaftlicher Kommentator in Printmedien, Rundfunk und Wehling (Hrsg.): Baden-Württemberg. Gesellschaft, Geschichte, Poli- Fernsehen aktiv. tik. Stuttgart, S. 9–32.

Marco Brenneisen Schlussstriche Schlussstriche und lokale Erinnerungskulturen und lokale Die „zweite Geschichte“ der südwestdeutschen Erinnerungskulturen Außenlager des KZ Natzweiler seit 1945 Marco Brenneisen Die „zweite Geschichte“ der südwestdeutschen Außenlager des KZ Natzweiler seit 1945

Marco Brenneisen legt eine umfassende Darstellung der „zweiten Geschichte“ der südwestdeutschen Natzweiler-Außenlager vor, in der er den gesellschaftlichen, politischen, administrativen und historiogra- phischen Umgang mit diesen Orten des Terrors seit der Besatzungs- zeit analysiert. Er zeichnet Phasen und Zäsuren der Aufarbeitung und des Gedenkens nach und nimmt geschichts- und erinnerungspolitische Auseinandersetzungen auf lokaler und regionaler Ebene in den Blick. Aus der Zusammenschau dieser spezifisch lokalen Erinnerungskul- turen entsteht ein differenziertes Bild, das zum besseren Verständnis der heutigen Gedenkstättenlandschaft Baden-Württembergs beiträgt.

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 269269 330.11.200.11.20 08:4308:43 RECHTSPOPULISTISCHE OPPOSITION Die AfD: Parlamentarische Opposition im Stuttgarter Landtag Alexander Hensel

Baden-Württemberg sollen im Beitrag bilanziert werden. Die Landtagswahl 2016 war auch im Südwesten ein elek- Jenseits der politisch-parlamentarischen und personellen toraler Paukenschlag. Hierzu trug vor allem die Alterna- Ausgangslage werden hierzu Binnenentwicklung, parla- tive für Deutschland (AfD) bei, die mit 15,1 Prozent ihr mentarische Arbeit und oppositionelle Strategie der AfD bis heute höchstes Landtagswahlergebnis im Westen der nach ihrem ersten Parlamentseinzug in den Stuttgarter Republik erzielte. Erstmals seit den 1990er-Jahren ge- Landtag analysiert.1 lang damit einer rechtspopulistischen Partei der Sprung in den Stuttgarter Landtag, die dort mit 23 Abgeordne- ten zugleich die größte Oppositionsfraktion bildete. Die Politisch-parlamentarische Ausgangslage derart brachiale Ankunft der AfD auf dem landesparla- mentarischen Parkett löste indes Aufruhr aus: Wer waren Das eruptive Wahlergebnis der AfD bei den Landtagswah- die parlamentarischen Neulinge, was wollten sie im len 2016 trug auch in Baden-Württemberg zu einem weite- Landtag und wie würde eine rechtspopulistische Kraft ren Wandel des Parteiensystems bei,2 der eine strukturelle die Rolle der parlamentarischen Opposition wahrneh- Schwächung der parlamentarischen Opposition nach sich men? Im vorliegenden Artikel sollen diese und weitere zog (vgl. hierzu: Ismayr 2016). Fortan bildeten im Stuttgar- Fragen rückblickend beantwortet und eine vorläufige ter Landtag die beiden mandatsstärksten Fraktionen mit Bilanz der oppositionellen Entwicklung der AfD im Stutt- 89 Sitzen die regierungstragende parlamentarische Mehr- garter Landtag gezogen werden. heit. Die Zahl der Oppositionsabgeordneten dagegen sank gegenüber der 15. Legislaturperiode um dreizehn auf insgesamt noch 54 Sitze. Während die Opposition so ins- gesamt schrumpfte, verteilte sie sich durch das Hinzukom- Vorbemerkungen men der AfD nunmehr auf drei, anstatt nur auf zwei Frakti- onen. Standen der Regierung in den letzten vier Legislatur- Mit dem flächendeckenden Eintritt der AfD in deutsche perioden stets Oppositionsfraktionen mit mindestens 38 Landesparlamente entstehen fraglos neue Herausforde- Abgeordneten gegenüber, nahm nach dem herben elekto- rungen: Koalitionsbildungen werden vielfach zäher, das Regieren in neuen und unkonventionellen Konstellationen deutlich komplexer (vgl. Mielke 2016: 3–5). Radikale rechtspopulistische Positionen und Posen rufen politisch- kulturelle Abwehrreflexe hervor, wodurch sich die parla- mentarische Alltags- und Streitkultur auf mitunter prob- lematische Weise polarisiert (vgl. Vögele/Thoms 2019: 325–326; Heinze 2020: 131–132). Auch für die rechtspo- pulistischen Neuankömmlinge selbst hält der erste Parla- mentseinzug erhebliche Tücken bereit. Ohne über rele- vante Vorerfahrungen zu verfügen, müssen sie rasch an die parlamentarische Arena angepasste organisatorische Strukturen und Abläufe sowie effektive Handlungslogiken und -routinen entwickeln, die mit zuvor gepflegten außer- parlamentarischen Zielen, Stilen und Strategien leicht in Ein Wahlplakat der AfD mit Konflikt geraten (vgl. Rütters 2017: 6–7). der Aufschrift „Mehr Sicherheit Vorliegende Untersuchungen weisen auf grundlegende für unsere Frauen und Töch- Ähnlichkeiten in der landesparlamentarischen Entwicklung ter!“, aufgenommen in Göppin- der AfD hin. Zugleich werden – sowohl zwischen verschie- gen. Als Protestpartei profi- denen als auch innerhalb einzelner Fraktionen – erhebliche tierte die AfD im Frühjahr 2016 ideologisch-strategische Unterschiede konstatiert, die aus von der Flüchtlingspolitik der der Bipolarität von parlaments- und bewegungsorientier- Bundeskanzlerin. Die AFD ten Strömungen resultieren (Schroeder et al. 2017: 56–59; machte im Wahlkampf gezielt Niedermayer 2018: 901–904). Derartige, semantisch an Stimmung gegen Geflüchtete. die Parteiengeschichte der Grünen angelehnte Einordnun- Mit ihrer Rhetorik und ihren gen stellen bislang nur Momentaufnahmen der Früh- Motiven hat die AfD den politi- entwicklung der AfD als Parlamentspartei dar, die es weiter schen Diskurs nach rechts ver- zu beobachten gilt. Bereits vorliegende Erkenntnisse zur schoben. Entwicklung der parlamentarischen Opposition der AfD in picture alliance/dpa

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 270270 330.11.200.11.20 08:4308:43 ralen Absturz der SPD zunächst die AfD mit 23 Abgeordne- DIE AFD: PARLAMENTARISCHE OPPOSITION ten die Position als größte nicht-regierungstragende Frak- IM STUTTGARTER LANDTAG tion ein. Auch in den meisten anderen Fraktionen hatte es herbe Einschnitte gegeben: Die CDU verlor im Vergleich zur vor- Fraktionsmitglieder (23,8 %) lag (Rütters 2017: 14).4 Zu- herigen Legislaturperiode ein knappes Drittel ihrer Abge- gleich wurde die AfD-Fraktion von Älteren dominiert. Mehr ordneten (−18), die SPD fast die Hälfte (−16). Eine Reihe als ein Drittel der Abgeordneten war zu Beginn der Legis- von landesparlamentarischen Karrieren endete abrupt, laturperiode bereits über 60 Jahre alt, die unter 50-Jähri- was zum Teil Konflikte und Frustration erzeugte. In Kombi- gen bildeten dagegen nur knapp ein Viertel der Fraktion nation mit der enormen politischen Polarisierung, die zwi- (ebd.: 9). Das Gros der Abgeordneten hatte sich in vorhe- schen AfD und etablierten Parlamentsparteien während rigen Jahren und Jahrzehnten dem beruflichen Fortkom- des Landtagswahlkampfs 2016 entstanden war, war die men gewidmet. Nach Abitur, Studium und in neun Fällen politische Stimmung zu Beginn der 16. Legislaturperiode auch einer Promotion hatten sie vielfach betriebswirt- angespannt. Zwar kündigten die etablierten Parlaments- schaftliche, kaufmännische sowie technisch-naturwissen- parteien einen formell korrekten Umgang mit den rechtspo- schaftliche Karrieren absolviert. Im Vergleich zu den übri- pulistischen Neulingen an, ähnlich wie in anderen west- gen AfD-Landtagsfraktionen waren Selbstständige und deutschen Landesparlamenten versuchten sie aber, die Unternehmer unter ihnen besonders stark vertreten (ebd.: AfD formell und symbolisch auszugrenzen (vgl. Schroeder 16). A u ch ihr p r i vate s Prof i l t r u g s at u r i e r te Zü g e: N ach re l a- et al. 2017: 50–51).3 Derartige Abwehrreflexe riefen je- tiv hoher Mobilität in jungen Jahren hatte sich die große doch nicht nur in der medialen Öffentlichkeit ein höchst Mehrheit regional niedergelassen, war einst oder ist noch kritisches Echo hervor, sondern untermauerten auch unnö- immer verheiratet, fast sechzig Prozent waren Eltern von tig die rechtspopulistische Selbstinszenierung als Opfer zumeist mehreren Kindern (vgl. Holzapfel 2017). eines finsteren Elite-Kartells, so dass der Umgang mit der Politisch waren die meisten AfD-Abgeordneten erst spät AfD alsbald angepasst und professionalisiert wurde (vgl. aktiv geworden, womit sie dem Muster einer späten (Re-) Heinze 2020: 126–127) Politisierung rüstiger und ressourcenreicher Älterer ent- sprachen (vgl. Walter 2013: 302–306). Ähnlich wie im Stuttgarter Landtag nur im Fall der Grünen-Fraktion, domi- Die Neuen im Landtag nierten auch unter AfD-Abgeordneten die Angehörigen der Babyboomer-Generation (vgl. Holzapfel 2017: 211).5 Das Sozialprofil der neuen AfD-Fraktion bot wenig Überra- Wurden die politischen und habituell-lebensweltlichen schung: Ihre Abgeordneten waren überwiegend älter, Antagonismen dieser fraglos machtvollen und deutungs- hoch gebildet und beruflich erfolgreich. Auffällig war der starken Generation in früheren Dekaden der Bundesrepu- frappant niedrige Frauenanteil, der selbst im traditionell blik parteipolitisch vor allem durch den Gegensatz von männerlastigen Stuttgarter Landtag mit 13 Prozent deut- Union, FDP und Grünen repräsentiert, standen sich diese lich unterhalb des durchschnittlichen Anteils weiblicher oftmals schon seit Schulhofjahren in tiefer politischer Anti- pathie verbundenen Milieus nun im Stuttgarter Landtag als grün-blaue Antipoden gegenüber (vgl. Walter 2010: 123– 127). 6 Parteipolitisch aktiv waren die meisten AfD-Abge- ordneten bislang jedoch nicht gewesen. Im Landtagswahl- kampf 2016 hatten einige von ihnen zwar auf die Selbstbe- schreibung der AfD als legitime Erbin der früheren, noch prinzipienfesten und bürgerlichen CDU zurückgegriffen (vgl. Hensel et al. 2016: 16). Ehemalige Unions- oder FDP- Mitglieder waren aber rar. Nur rund 30 Prozent von ihnen waren vor ihrem Eintritt in die AfD überhaupt Mitglied einer anderen politischen Partei gewesen (vgl. Holzapfel 2017).7 Nur wenige von ihnen hatten sich längerfristig und intensiv engagiert, so dass belastbarere parteipolitische Erfah- rung überwiegend erst in der AfD gesammelt wurde. Die- ser trat die Mehrheit der Abgeordneten bereits im Grün- dungsjahr 2013 bei, wobei sie sich zunächst vor allem dem Aufbau lokaler Parteistrukturen widmeten. Knapp sechzig Prozent der Abgeordneten waren vor dem Parlamentsein- zug immerhin in AfD-Kreisvorständen aktiv, ein Engage- ment im Landesvorstand wies dagegen nur ein Drittel auf. Über parlamentarische Vorerfahrungen auf Bundes- oder Landesebene verfügte dagegen keiner der neuen Abge- ordneten. Selbst auf kommunaler Ebene hatten vor dem Landtagseinzug nur drei von ihnen ein Mandat innege- habt. Sonstige politische Orientierungen der AfD-Abgeordne- ten waren schwerer zu überblicken: Viele der späteren Landtagsabgeordneten waren während des Landtag- wahlkampfs 2016 von den als moderat, seriös oder gar

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 271271 330.11.200.11.20 08:4308:43 konziliant beschriebenen Spitzenkandidaten verdeckt worden (vgl. Hensel et al. 2016: 14–15). Nur einige waren dennoch durch radikale Ausfälle und Eskapaden aufgefal- len, wobei Posen des symbolischen Widerstands bereits auf mögliche Radikalisierungsprozesse hindeuteten. Ob-

Alexander Hensel Alexander gleich sich elf der späteren A bge ordneten im Jahr 2015 mit der Unterzeichnung der „Erfurter Resolution“ gegen den wirtschaftsliberalen Lucke-Flügel positioniert hatten, wa- ren neben einigen Anhängern christlich-fundamentaler Gruppen nur relativ wenige aktive Verbindungen zu Rechtsaußen-Netzwerken innerhalb oder im Umfeld der AfD auszumachen.

Tücken des ersten Fraktionsaufbaus

Mit dem erstmaligen Sprung ins Parlament mussten die AfD-Abgeordneten innerhalb kürzester Zeit und unter skeptischer Beobachtung von Medien, politischer Konkur- renz und eigener Partei funktionsfähige Organisations- strukturen und effektive Arbeitsabläufe der Fraktion auf- bauen. Die Voraussetzungen hierfür waren freilich durch- mischt: Wie dargestellt, fehlte es ganz überwiegend an notwendigen politorganisatorischen Wissens- und Erfah- rungsbeständen, zudem war vor allem die Personalrekru- tierung selbst im relativ großen und organisationsstarken Landesverband der AfD Baden-Württemberg schwierig (vgl. Hensel 2020b: 283–286). Viele der erfahrenen Funkti- onäre hatten die Südwest-AfD im Zuge der Parteispaltung im Sommer 2015 verlassen, nicht wenige der verbliebenen Aktivisten spekulierten bereits auf einen Einzug in den Bun- destag im Herbst 2017. Für das saturierte Milieu der Süd- ten folgte teils den beruflichen Kompetenzen und privaten west-AfD boten Anstellungen in Fraktion und Abgeordne- Interessen der Abgeordneten. In der Fraktionsführung tenbüros nur partiell attraktive Karriereoptionen, externe wurde auf eine Differenzierung in einen geschäftsführen- Profis wiederum fürchteten angesichts der scharfen politi- den und einen erweiterten Fraktionsvorstand verzichtet. schen Ausgrenzung der AfD um ihre berufliche Reputation. Bei dessen Besetzung wurden vorhandene Organisations- Der Organisationsaufbau der Fraktion vollzog sich infol- und Führungserfahrung weit weniger berücksichtigt als die gedessen teilweise zäh. Selbst einige zentrale Posten wa- damalige Strömungstektonik des Landesverbands (vgl. ren zunächst un- oder nur kurzzeitig besetzt, der Anteil Rütters 2017: 21–23). Während Jörg Meuthen als Vertreter wissenschaftlicher Fachreferenten etwa blieb relativ ge- des gemäßigten wirtschafts- und nationalliberalen Lagers ring (Schroeder et al. 2017: 32). Zum Teil wurden alterna- zum Fraktionsvorsitzenden gewählt wurde, besetzten die tive Lösungen entwickelt. Personelle Vakanzen wurden teils Vertreter der erstarkenden nationalkonservativ bis völ- ohne Skrupel mit Aktivisten aus dem rechtsradikalen Spek- kisch-nationalistisch orientierten Strömung ebenfalls Füh- trum gefüllt, was immer wieder für Turbulenzen und Kritik rungspositionen. Als vorheriger Spitzenkandidat und sorgte (vgl. Müller 2017; Ullenbruch 2018). Während der gleichzeitiger AfD-Bundessprecher besaß Meuthen zwar Aufbau klassischer, personalintensiver Wahlkreisbüro- öffentliche Popularität, innerhalb der Landespartei fehlte strukturen stockend verlief, entwickelten sich die Social- es ihm jedoch an Verankerung, Respekt und einer belast- Media-Angebote der AfD-Fraktion höchst dynamisch. Ein baren Hausmacht (vgl. Krohn 2016). knappes Jahr nach der Wahl überragten die Likes der Fa- cebook-Seiten der AfD-Fraktion (4.800 Nutzer) sowie ihres Vorsitzenden (34.000 Follower) deutlich die der anderen Eine Fraktion, viele Konflikte Landtagsfraktionen und deren Vorsitzenden (Hensel et al. 2017: 30). Auf diese Weise gelang es, auch ohne flächen- Die Rahmenbedingungen der internen Entwicklung der deckende Bürostrukturen in Wahlkreisen und unter Umge- AfD-Fraktion waren damit durchaus fragil. Ohne die Aus- hung der klassischen Massenmedien direkt mit Sympathi- gleichs- und Filterfunktion einer im Landeswahlrecht nicht santen und der Parteibasis zu kommunizieren (vgl. Schro- vorgesehenen übergreifenden Landesliste hatte sich die eder et al. 2017: 45–46). Fraktionszusammensetzung erst mit dem Vorliegen von re- Trotz derartiger Einschränkungen verlief der Aufbau parla- gionalen Wahlergebnissen finalisiert. Stärker als in ande- mentarischer Kernstrukturen rasch (vgl. Hensel 2020b: ren AfD-Landtagsfraktionen fehlte es damit an bereits ent- 283–286). Die relativ hohe Zahl an AfD-Abgeordneten er- wickelten und belastbaren Organisationsroutinen und möglichte es, klassische Probleme kleiner Fraktionen zu auch Kooperationserfahrungen, die als Grundlage von umgehen und Strukturen am Zuschnitt der Ausschüsse des Vertrauen und Geschlossenheit für effektives und arbeits- Landtags zu orientieren (vgl. Schüttemeyer 1999: 46). Die teiliges Oppositionshandeln unabdingbar gelten (vgl. interne Verteilung von Zuständigkeiten und Ausschusspos- Schüttemeyer 1999: 39). Die beschriebene Melange aus

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 272272 330.11.200.11.20 08:4308:43 DIE AFD: PARLAMENTARISCHE OPPOSITION IM STUTTGARTER LANDTAG

im Oktober 2016 schließlich die Wiedervereinigung der beiden Fraktionen. Auch wenn Meuthen abermals zum Vor- sitzenden gewählt wurde, waren seine politische Autorität beschädigt und seine Kompetenzen durch eine Satzungs- änderung merklich beschnitten worden. Die Minderheit der radikaleren Abgeordneten der ehemaligen „Rumpf-Frak- tion“ gewann zugleich an Macht im Fraktionsvorstand und forcierte in der zweiten Jahreshälfte einen deutlich konfron- tativeren Oppositionskurs (vgl. Soldt 2016b). Zentrale Konfliktfragen zwischen den ehemaligen Ange- Ein folgenreicher Konflikt hörigen der AfD-Rumpf- sowie der ABW-Fraktion blieben innerhalb der AfD-Fraktion damit ungeklärt und mündeten in neuen Auseinanderset- entbrannte um den Umgang zungen, die politische Gegensätze und persönliches Miss- mit antisemitischen Positionen trauen weiter vertieften. Ähnlich wie im Fall der frühen Grü- des AfD-Abgeordneten Wolf- nen bildeten sich so in Reaktion auf den Parlamentseintritt gang Gedeon. Während das auch in der Landtagsfraktion der Südwest-AfD zwei anta- radikalere Lager Gedeons gonistische Strömungen heraus, die sich in Ideologie, Ziel, Positionen als legitimen Aus- Strategien und politischem Stil merklich unterschieden (vgl. druck der Meinungsfreiheit Schroeder et al. 2017: 56–58; Hensel 2019). Einerseits for- bewertete, sahen die modera- mierte sich eine Gruppe von ideologisch moderateren Re- ten Abgeordneten hierin eine alpolitikern mit primär (arbeits-)parlamentarischer Orien- Gefahr für das sorgsam aufge- tierung, die eine kompetitive Oppositionsstrategie verfolg- baute Image der AfD als bür- ten, sich aber für zukünftige Koalitionsoptionen mit der gerliche Kraft. CDU zunächst prinzipiell offen zeigten. Ihnen gegenüber picture alliance/dpa gruppierten sich ideologisch radikalere Abgeordnete, die vielfach dem Rechtsaußen-Netzwerk „Der Flügel“ nahe- standen und eine offensivere Oppositionsstrategie ver- ausgeprägtem beruflichem Selbst- und politisch unbe- fochten. Sie forderten vehement Solidarität mit den vom haustem Sendungsbewusstsein, gepaart mit fehlender Verfassungsschutz ins Visier genommenen Akteuren der parlamentarischer Erfahrung, beförderte vielfältige Pers- Identitären Bewegung ein und lehnten realpolitische Zu- pektiven und Interessen innerhalb der Fraktion. Zugleich geständnisse ab, wiesen zum Teil aber durchaus ausge- fehlte eine mit Autorität und Erfahrung ausgestattete Füh- prägten parlamentarischen Eifer auf. Eine ähnliche Kon- rung, die Gegensätze hätte ausgleichen oder moderieren frontation zwischen blauen Fundis und Realos existierte können. auch in der Landespartei, spitzte sich machtpolitisch dort Vorhandene ideologische, strategische und machtpoliti- aber erst deutlich später zu (Hensel 2020a). sche sowie vielfach auch persönliche Konfliktpotenziale Infolge dieses Grundkonflikts entwickelte sich die AfD- detonierten nach dem Parlamentseintritt so rasch und hef- Fraktion instabil. Erstens fluktuierte und erodierte ihre Ab- tig (vgl. Hensel et al. 2017: 25–30). Alsbald entbrannte in- geordnetenschaft. Bis zum Herbst 2020 verließen insge- nerhalb der AfD-Fraktion ein folgenreicher Konflikt um den samt dreizehn der gewählten Abgeordneten die Fraktion. Umgang mit antisemitischen Positionen des ehemaligen In fünf Fällen kam es dabei zur Mandatsniederlegung, Maoisten, Arztes und AfD-Abgeordneten Wolfgang Ge- et wa im Zuge von Pe rsonalrochaden ins Europapar lament. deon. Während das radikalere Lager Gedeons Positionen In acht Fällen gingen durch Austritte dagegen Mandate als legitimen Ausdruck der Meinungsfreiheit bewertete,8 verloren,10 wodurch die Abgeordnetenzahl von anfangs 23 sahen die moderateren Abgeordneten hierin eine Gefahr auf mittlerweile 15 sank und die SPD-Fraktion zur größten für das sorgsam aufgebaute Image der AfD als bürgerliche Oppositionsfraktion im Stuttgarter Landtag aufrückte. Die und dezidiert nicht-extremistische Kraft. Fraktionschef skizzierten Konflikte wirkten sich zweitens negativ auf die Meuthen versuchte Gedeon auszuschließen, scheiterte je- Entwicklung der politischen Führung aus. Nach seinem doch am vehementen Widerstand einer sich zunehmend fortschreitenden Autoritätsverlust verabschiedete sich der auch gegen seine Person richtende Abgeordnetengruppe. Fraktionsvorsitzende Meuthen im Winter 2017 als Nachrü- Als Ultima Ratio verließ der Fraktionsvorsitzende schließ- cker ins Europaparlament. Ihm folgte Bernd Gögel, der lich gemeinsam mit 13 weiteren Abgeordneten die AfD – während der Spaltung zwar in der Rumpffraktion verblie- und gründete eine neue Fraktion namens Alternative für ben war, nun aber mit Meuthens Unterstützung als Schar- Baden-Württemberg (ABW). nierkandidat zwischen den Strömungen den Vorsitz über- Die Fraktionsspaltung hielt die AfD Baden-Württemberg im nahm. Wie sein Vorgänger geriet auch Gögel alsbald in S o m m e r 2 016 i n A t e m u n d l ö s t e a u ch i m S t u t t g a r t e r L a n d t a g heftige Konflikte mit ebenfalls nach der Fraktionsführung heftige Debatten aus – nutzte die AfD ihre durch die Frakti- strebenden radikalen Abgeordneten, die im Zuge weiterer onsspaltung zusätzlich erlangten Rechte doch durchaus Austritte an Einfluss gewannen und dazu beitrugen, dass findig für die Beantragung eines Untersuchungsausschus- Gögel als Landesvorsitzender der Südwest-AfD nach be- ses zum Thema Linksextremismus.9 Nach zähen Verhand- reits einem Jahr verdrängt wurde (vgl. Reiners 2019; Hensel lungen und dem Einsatz eines externen Mediators gelang 2020a).

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 273273 330.11.200.11.20 08:4308:43 Parlamentarische Aktivität Tabelle 1: Kleine Anfragen der AfD-Fraktion Baden- Württemberg Einen ersten Einblick in die Arbeitsweise der AfD-Fraktion im Stuttgarter Landtag liefert die Analyse ihrer Nutzungs- Politikfeld N % weise der parlamentarischen Instrumente, die im Vergleich Inneres 118 34 Alexander Hensel Alexander mit anderen AfD-Landtagsfraktionen ähnlichen Alters rela- Gesundheit und Soziales 64 19 tiv hoch ausfällt (vgl. Hensel et al. 2017: 31–33; Schroeder et al. 2017: 34–35). Auch für die AfD-Abgeordneten in Ba- Infrastruktur 42 12 den-Württemberg ist eine besonders intensive Nutzung Wirtschaft und Arbeit 25 7 des primär zur oppositionellen Kritik und Kontrolle einsetz- Bildung 23 7 baren Instruments der Kleinen Anfragen auffällig. Von den Landwirtschaft 16 5 insgesamt 3.102 in den ersten vier Jahren der Legislaturpe- riode gestellten Kleinen Anfragen fällt mit 1.012 etwa ein Finanzen 15 4 Drittel auf die AfD, womit sie sich von den anderen Oppo- Justiz 10 3 sitionsfraktionen (SPD: 623, FDP/DVP: 706) deutlich ab- Sonstiges 3 1 11 setzt. Spiegelbildlich hierzu fällt wiederum die Nutzung Anmerkung: Die Daten beziehen sich auf den Untersuchungszeitraum vom des aufwändigeren, stärker zur Präsentation oppositionel- 01.05.2016 bis zum 31.01.2017. Quelle: Eigene Auswertung und Berech- nung auf Grundlage des Landtagsdokumentationssystems PARLIS. ler Alternative nutzbaren Instruments des Antrags aus: Von den insgesamt 2.576 gestellten Anträgen stammen nur 414 von der AfD, während SPD (900) und FDP/DVP (742) diese wicklung und Ausstattung der Polizei im Zentrum standen. deutlich stärker nutzen. Bei den Instrumenten der Großen Durch weitere parlamentarische Initiativen und eine de- Anfrage sowie der Gesetzesinitiative zeigten sich unter monstrative PR- und Netzwerkarbeit versuchte sich die den Oppositionsfraktionen dagegen keine nennenswer- AfD-Fraktion offensiv als Standesvertretung der Polizei zu ten Differenzen. positionieren. Im Feld der Innenpolitik der AfD-Fraktion Betrachtet man die Nutzung parlamentarischer Initiativar- sind überdies die Themen Asyl und Migration zentral. Par- ten der AfD im zeitlichen Verlauf, bestätigen sich vorlie- lamentarische Initiativen kreisten hier vor allem um die Ak- gende Hinweise auf eine sukzessive Professionalisierung quise als „belastbar“ bezeichneter Zahlen zu Zuzug, Regis- (vgl. Schroeder et al. 2017: 34–35). Während die Zahl der trierung, Unterbringung und Abschiebung von Asylsuchen- Kleinen Anfragen der AfD bereits im ersten Parlamentsjahr den sowie Integrationskonflikten, wie etwa Kinder- und ihren Höhepunkt fand und sich auf hohem Niveau einpen- Mehrfachehen, Moscheenbauten und politische Einfluss- delte, erreichten komplexere Instrumente nach einer offen- nahmen des Auslands. Als Querschnittsthema tauchte die siven Erprobungsphase erst im zweiten (Große Anfragen) Migrations- und Asylpolitik insbesondere auch im Politik- bzw. dritten (Anträge) Parlamentsjahr ihren Höhepunkt. feld Gesundheit und Soziales auf. Hier wurden zumeist die Zentral für die sich hierin abzeichnenden Lernprozesse der Kosten zur Unterbringung und Versorgung von Flüchtlin- Fraktion waren zu Anfang vor allem parlamentarische Ak- gen abgefragt und sozialpolitischen Missständen gegen- tivitäten einzelner Abgeordnete (vgl Hensel et al. 2017: 31). übergestellt. Zugleich entwickelten Vertreter der radikalen Mehr als die Hälfte der Kleinen Anfragen im ersten Parla- Strömung ein „Fit4Return“ benanntes Programm, das unter mentsjahr wurden etwa von den beiden AfD-Abgeordne- dem Motto „Remigration statt Integration“ Flüchtlinge vor ten Stefan Herre und Lars Patrick Berg gestellt, die auf ihrer Abschiebung zu „Aufbauhelfer[n]“ zu qualifizieren diese Weise eine Vorreiterrolle in der parlamentarischen vorsah (AfD Landtagsfraktion Baden-Württemberg 2017). Arbeit übernahmen.12 Während die AfD-Fraktion so einerseits die verteilungspo- litische Dimension der Asylkrise zu polarisieren versuchte, stilisierte sie Asylsuchende zugleich pauschal zum Sicher- Oppositionelle Agenda und Schwerpunkte heitsrisiko.14 Auch mit Gesetzesinitiativen zum Verbot der Vollverschleierung oder einem Antrag zur Einsetzung einer Weitere Hinweise auf die Arbeitsweise der AfD-Fraktion im Enquetekommission zum Thema Islamismus versuchte sich Stuttgarter Landtag liefern inhaltliche Analysen der parla- die AfD als innenpolitische Konkurrentin zum zuständigen mentarischen Initiativen, die bislang nur für das erste Par- Minister Thomas Strobl von der CDU zu profilieren. lamentsjahr vorliegen (vgl. Hensel et al. 2017: 31–36; Zweitens versuchte die AfD-Fraktion im Stuttgarter Land- Schroeder et al. 2017: 33–40). Bezieht man ausgehend von tag ihre im Wahlkampf propagierte Rolle als „Anwalt der der quantitativen Verteilung der Kleinen Anfragen weitere Bürger“ parlamentarisch umzusetzen (vgl. Hensel et al. Initiativarten sowie öffentliche Positionierungen mit ein, 2017: 33–34). Der rechtspopulistischen Logik folgend, ar- lässt sich das parlamentarische Agenda-Setting der AfD beitete sie vielfach daran, lokalpolitische Konflikte auf die als Oppositionskraft näher nachvollziehen, wobei sich im landesparlamentarische Bühne zu heben, um sich hier als ersten Parlamentsjahr strategische Schwerpunkte zeigten Repräsentantin des (lokalen) Volks gegenüber der (landes- (vgl. Tabelle 1). parlamentarischen) Elite zu positionieren. So enthielten Erstens versuchte sich die AfD als rechte Konkurrentin ins- knapp die Hälfte der untersuchten Kleinen Anfragen der besondere der CDU zu positionieren, indem sie das Politik- AfD dezidierte kommunal- oder lokalpolitische Bezüge, die feld der Innenpolitik ins Zentrum ihrer oppositionellen Kri- vor allem in den Politikfeldern Verkehr, Umwelt, Bildung so- tik und Alternativentwicklung stellte (Hensel et al. 2017: wie Gesundheit und Soziales besonders stark ausgeprägt 33–34).13 Hierauf bezog sich rund ein Drittel ihrer bis Ende waren. Während sich etwa die AfD-Schwesterfraktion im Januar 2017 gestellten Kleinen Anfragen. Zur Hälfte wid- Mainzer Landtag auf Initiativen gegen den Bau von Mo- meten sich diese dem Bereich der Inneren Sicherheit, wo- scheen konzentrierte, präsentierte sich die baden- würt- bei allgemeine Sicherheitsbedenken, Kriminalitätsent- tem ber gische Fraktion als Bewahrerin der regionalen Na-

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 274274 330.11.200.11.20 08:4308:43 tur- und Kulturlandschaft und kritisierte vehement den Bau DIE AFD: PARLAMENTARISCHE OPPOSITION von Windkraftanlagen. Demonstrativ versuchte sie hierbei IM STUTTGARTER LANDTAG eine Mittlerposition zwischen Wahlkreis, regionaler Zivil- gesellschaft und Landesregierung zu einzunehmen. Ein ähnliches Vorgehen findet sich auch im Bereich der Ver- schen Landtagen wurde die AfD im Stuttgarter Landtag kehrspolitik, die in den parlamentarischen Initiativen der von Beginn an weithin ausgeschlossen und isoliert (vgl. AfD-Fraktion im Stuttgarter Landtag eine deutlich ausge- Schroeder et al. 2017: 52–54; Vögele/Thoms 2019: 325– prägtere Rolle spielt, als in anderen ihrer Landtagsfraktio- 326; Heinze 2020: 125–128). Eine mittelfristig greifbare nen (Schroeder et al. 2017: 39). strategische Perspektive zur Regierungsbeteiligung oder Augenfällig ist drittens die intensive Auseinandersetzung nur zur parlamentarischen Mitregierung schien allerspä- mit den Themen Links- und Rechtsextremismus, die offenbar testens mit der Wiedervereinigung der Fraktion ausge- Teil einer metapolitischen Strategie zur Diskursverschie- schlossen. Angesichts ihrer politischen Blockade setzten bung politkultureller Grenzen war (vgl. Hensel et al. 2017: die AfD-Abgeordneten ihre umfangreichen neuen Ressour- 35–36). So versuchte die AfD einerseits, mit einer Reihe cen weniger für kleinteilig-konstruktive Sacharbeit und Kleiner Anfragen das Ausmaß linker Gewalt sowie deren den Versuch fachpolitischer Einflussnahme ein (vgl. Heinze finanzielle Verflechtungen mit der teils staatlich geförder- 2020: 128–130). Vielmehr übertrug sie im Zuge ihrer durch- ten (linken) Zivilgesellschaft aufzuzeigen, wozu sie – letzt- aus umfangreichen Oppositionsarbeit die rechtspopulisti- lich erfolglos – auch die Einsetzung eines Untersuchungs- sche Grundsatzkritik auf die parlamentarische Sphäre, in- ausschusses beantragte. Andererseits versuchte sie in ei- dem sie sich selbst als einzig legitime Volksvertreterin ge- ner Reihe von parlamentarischen Anfragen die Entwicklung genüber den „Kartellparteien“ in Regierung und Opposition rechtsextremer Organisationen und Straftaten zu relativie- stilisierten (vgl. Hensel 2020b: 297–298). Mit teils radika- ren, wobei sich insbesondere die dem „Flügel“ nahe- len Positionen und Initiativen positionierte sie sich dabei stehende Abgeordnete Christina Baum intensiv darum insbesondere als rechte Alternative zur CDU. Durch per- bemühte, die im AfD-Parteivorfeld agierende Identitäre manente rhetorische Provokationen und kalkulierte Grenz- Bewegung gegen eine Beobachtung durch den Verfas- überschreitungen nutzte sie das Parlament primär als sungsschutz zu verteidigen. Diskurspolitische Einflussnah- Bühne zur Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit, wobei ihr men wurden auch im Bereich der politischen Bildung ver- die intensive Nutzung Sozialer Medien ermöglichte, die folgt. So versuchte die AfD etwa die Landeszentrale für po- litische Bildung parlamentarisch unter Druck zu setzen, indem sie Darstellungen der AfD in ihren Publikationen parlamentarisch kritisierte und im Rahmen der Haushalts- beratung einen Antrag auf massive Kürzung ihrer Mittel einbrachte. Die landeshistorische Erinnerungskultur wie- derum versuchte die AfD demonstrativ mit einem Vorstoß zur Streichung der Fördergelder für die NS-Gedenkstätte in Gurs zu beeinflussen, was heftige bundesweite Kritik auslöste.

Radikale, rechtspopulistische Opposition

Für die neue AfD-Fraktion waren die Entwicklungsbedin- gungen im Stuttgarter Landtag nach ihrem ersten Parla- mentseinzug fraglos komplex. Weithin ohne relevante Vor- erfahrungen mussten ihre Abgeordneten parlamentari- sche Strukturen, Prozesse und Handlungslogiken aufbauen. Wie für die Frühentwicklung neuer Parlamentsparteien üb- lich, kam es dabei zu heftigen internen Konfrontationen zwischen den Strömungen der (blauen) Fundis und Realos sowie ihren jeweiligen machtbewussten Führungsfiguren. Unkontrollierte Konflikteskalationen, persönlichen Intrigen und Kränkungen forcierten den Austritt von Abgeordneten aus der Fraktion, womit sie mühsam aufgebaute Ressour- cen und Kompetenzen verlor. Aufgrund permanenter Grenzüberschreitungen einzelner, teils irrlichternder Ab- Stefan Räpple (sitzend, links), AfD-Abgeordneter im Landtag geordneter15 sowie des orchestrierten Machtstrebens der von Baden-Württemberg, spricht während einer Plenarsit- radikalen Minderheit blieben die Führung und Vorsitzende zung (12.12.2018) mit Polizisten. Zuvor hatte er sich gewei- der AfD-Fraktion verhältnismäßig schwach. Ihre strukturel- gert, trotz Aufforderung der Landtagspräsidentin, den Saal len und organisatorischen Entwicklungspotenziale als zu verlassen. Infolge eines Eklats wurde er aus der Plenums- größte Oppositionsfraktion im Stuttgarter Landtag konnte sitzung ausgeschlossen. Räpple wurde inzwischen vom AfD- die AfD so nicht einlösen, bevor sie diese Position schließ- Landesschiedsgericht aus der Partei ausgeschlossen. Bei lich an die SPD verlor. einer Demonstration gegen Corona-Maßnahmen hatte er in Auch extern waren die Handlungsmöglichkeiten der AfD- Mainz im November 2020 zum gewaltsamen Umsturz der Fraktion stark begrenzt. Anders als in manchen ostdeut- Regierung aufgerufen. picture alliance/dpa

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 275275 330.11.200.11.20 08:4308:43 Alexander Hensel Alexander

Abgeordnete der AfD im baden-württembergischen Landtag. Das oppositionelle Verhalten der AfD brach mit dem Ideal eines konstruktiv- kooperativen Arbeitsparla- mentarismus. Wiederholte symbolische Grenzverletzun- gen und eine weitgehende Verweigerung zur Übernahme parlamentarischer Verantwor- tung sind kennzeichnend für die Oppositionsstrategie der AfD. picture alliance/dpa

Gatekeeper-Funktion der klassischen Massenmedien zu (Weiter-)Entwicklung der parlamentarischen Opposition umgehen (vgl. Schroeder et al. 2017: 41, 58). der AfD freilich stark vom Ausgang der aktuell umkämpften Das oppositionelle Verhalten der AfD im Stuttgarter Land- Aufstellungsversammlungen in den AfD-Kreisverbänden tag brach damit mit dem gerade auf Landesebene verbrei- und den tatsächlichen Wahlkreisergebnissen der Land- teten Ideal eines konstruktiv-kooperativen Arbeitsparla- tagswahl ab. Mit einem raschen Verschwinden der AfD im mentarismus (vgl. Patzelt 2006: 119). Trotz der wiederholten Ländle ist trotz aller Krisen und Turbulenzen indes nicht zu symbolischen Grenzverletzungen der parlamentarischen rechnen. Alltagskultur und den Aktivitäten der radikal-bewegungs- orientierten Strömung lässt sich die AfD-Fraktion im Stutt- LITERATUR garter Landtag insgesamt jedoch nicht als illoyale, system- konträr oder einddeutig antiparlamentarisch agierende AfD Landtagsfraktion Baden-Württemberg (2016): Tod der Freiburger Stu- dentin: Merkelhörige Landesregierung handelt nicht, sondern reagiert Opposition einordnen. Übereinstimmend mit der populisti- nur. Pressemitteilung vom 04.12.2016. URL: https://afd-fraktion-bw.de/ schen Grundlogik zeichnet sich ihre Oppositionsstrategie aktuelles/157/Tod+der+Freiburger+Studentin:+Merkelh%C3 %B6rig vielmehr durch eine einseitige Überbetonung der parla- e+Landesregierung+handelt+nicht,+sondern+reagiert+nur+++++ [22.02.2020]. mentarischen Expression und Repräsentation politischer AfD Landtagsfraktion Baden-Württemberg (2017): Fit4Return, Flyer, veröf- Anliegen sowie einer weitgehenden Verweigerung zur fentlicht am 19.05.2017. URL: https://afdkompakt.de/wp-content/up- Übernahme von parlamentarischer Verantwortung aus, loads/sites/75/2017/05/Fit4ReturnFlyer.pdf [22.01.2020]. Heinze, Anna-Sophie (2020): Streit um demokratischen Konsens – Heraus- wie es auch für andere rechtspopulistische Oppositions- forderungen und Grenzen beim parlamentarischen Umgang mit der parteien beschrieben wird (vgl. Louwerse/Otjes 2019: AfD. In: Bochmann, Cathleen/Döring, Helge (Hrsg.): Gesellschaftlichen 480–481). Anders als bei klassisch-kompetitiven Oppositi- Zusammenhalt gestalten. Wiesbaden, S. 121–135. Hensel, Alexander (2019): AfD Baden-Württemberg: Flattern in der Volie- onsstrategien, die trotz aller politischer Angriffslust die An- re. In: Blog des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, 13.03.2019. erkennung der eigenen Koalitionsfähigkeit durch poten- URL: http://www.demokratie-goettingen.de/blog/afd-baden-wuert- zielle Partner im Auge behält, richtet sich dieses modern- temberg-2 [20.02.2020]. Hensel, Alexander (2020a): AfD Baden-Württemberg: Mit gestutztem Flü- rechtspopulistische Oppositionsverständnis – zumindest gel. In: Blog des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, 26.02.2020. zunächst – auf die Sicherung elektoraler Stabilität durch URL: http://www.demokratie-goettingen.de/blog/analysiert/afd-mit- die offensive Repräsentation von unterrepräsentierten The- gestutztem-fluegel [30.03.2020]. Hensel, Alexander (2020b): Kritik, Kontrolle, Alternative? Die AfD als par- men, Positionen und Lebenslagen – und zehrt damit von lamentarische Opposition in den Landtagen von Baden-Württemberg, tieferliegenden Deformationen der Parteiendemokratie. Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt. In: Bröchler, Stephan/Glaab, Ma- Wie es mit der AfD im baden-württembergischen Landtag nuela/Schöne, Helmar (Hrsg.): Kritik, Kontrolle, Alternative. Was leistet die parlamentarische Opposition? Wiesbaden, S. 275–300. weitergeht, ist schwer abzusehen. War die von Fraktions- Hensel, Alexander/Finkbeiner, Florian/Dudek, Philip/Förster, Julika/Freck- chef Gögel angeführte moderate Strömung durch weitere mann, Michael/ Höhlich, Pauline (2017): Die AfD vor der Bundestags- Austritte ihrer Anhänger Anfang des Jahres unter Druck ge- wahl 2017. Vom Protest zur parlamentarischen Opposition. OBS-Ar- beitsheft 91. Otto-Brenner-Stiftung. Frankfurt am Main. raten (Reiners 2019), könnte sich nach den jüngs ten Aus tr it- Hensel, Alexander/Geiges, Lars/Pausch, Robert/Förster, Julika (2016): Die ten von Abgeordneten aus dem radikalen Lager die fragile AfD vor den Landtagswahlen 2016. Programme, Profile und Potenziale. Führung Gögels stabilisieren (vgl. Soldt 2020). Im aktuell OBS-Arbeitspapier 20. Otto-Brenner-Stiftung. Frankfurt am Main. Holzapfel, Andreas (2017): Landtag von Baden-Württemberg. 16. Wahl- aussichtsreichen Fall eines Wiedereinzugs in den Stuttgar- periode 2016–2021. Reihe: Kürschners Volkshandbuch. 1. Auflage. ter Landtag nach den Landtagswahlen 2021 hängt die Rheinbreitbach.

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 276276 330.11.200.11.20 08:4308:43 Ismayr, Wolfgang (2016): Parlamentarische Opposition in Zeiten der Gro- ßen Koalition. In: Gesellschaft. Wirtschaft. Politik (GWP), Heft 1/2016, DIE AFD: PARLAMENTARISCHE OPPOSITION S. 53–62. IM STUTTGARTER LANDTAG Krohn, Knut (2016): Die AfD will Volkspartei werden. In: Stuttgarter Zeitung, 25.04.2016, S. 5. Lebert, Stephan (2017): 1968: Ein Jahr hallt nach. In: Die Zeit, 01.06.2017. 6 So reüssiert etwa (der in Nordrhein-Westfalen aufgewachsene) Jörg Louwerse, Tom/Otjes, Simon (2019): How Populists Wage Opposition: Meuthen mit der biografischen Anekdote, er habe als Pennäler gern die Parliamentary Opposition Behaviour and Populism in Netherlands. In: CSU-Parteizeitung „Bayernkurier“ gut sichtbar auf dem Gepäckträger Political Studies, Heft 2/2019, S. 479–495. seines Mofas drapiert. Ähnlich lässt sich wohl auch seine Chiffre des Mielke, Gerd (2016): Stress und Stressreaktionen. Die Landtagswahlen „links-rot-grün-versifften 68er-Deutschland“ politbiografisch ausdeuten 2016 und das deutsche Parteiensystem. In: Theorie und Praxis der Sozi- (vgl. Lebert 2017). alen Arbeit, Heft 4/2016, S. 1–18. 7 Parteimitgliedschaften reichten hier von CDU und FDP, SPD und Grü- Müller, Andreas (2017): Trotz Hetze: Neuer Job für AfD-Mitarbeiter. In: nen über PBC, UKIP bis zu KPD/ML. Stuttgarter Zeitung, 26.10.2017, S. 5. 8 Das Beharren auf freie und unbedingte Meinungsäußerung gehört Niedermayer, Oskar (2018): Die AfD in den Parlamenten der Länder, des seit der Gründung der AfD im Jahr 2013 zu den Kernelementen der Partei- Bundes und der EU. Bipolarität im Selbstverständnis und im Verhalten. kultur und trug wesentlich dazu bei, dass das moderate Lager immer wie- In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft. 4/2018, S. 896–908. der daran scheiterte, sich von rechtsextremen Kräften innerhalb der Partei Patzelt, Werner (2006): Länderparlamentarismus. In: Schneider, Herbert/ effektiv abzugrenzen. Wehling, Hans-Georg (Hrsg.): Landespolitik in Deutschland. Grundla- 9 Dabei nutzte die AfD eine 1992 zur Stärkung der Opposition einge- gen – Strukturen – Arbeitsfelder. Wiesbaden, S. 108–129. führte Regelung, die eine Beantragung eines Untersuchungsausschusses Rebhan, Christiane (2020): Wie zwei Politiker für einen Eklat im Landtag durch z wei Fraktionen auch dann erlaubte, wenn deren Abgeordnete we- sorgten. In: Stuttgarter-Zeitung.de, 01.09.2020. URL: https://www. niger als ein Viertel der Abgeordneten des Landtags stellen. Da formal stuttgarter-zeitung.de/inhalt.grosse-skandale-in-baden-wuerttem- offenblieb, ob diese Fraktionen einer oder verschiedenen Parteien ange- berg-wie-zwei-politiker-fuer-einen-historischen-eklat-im-landtag- hören müssen, eröffneten sich der AfD durch die Spaltung neue Hand- sorgten.a3e30f7b–79ed-4ad6–8628-d6310f71692a.html lungsspielräume (vgl. Soldt 2016a). [20.09.2020]. 10 Die ehemalige AfD-Abgeordnete Martin wechselte zur CDU-Fraktion, Reiners, Willi (2019): Gögel geht auf Hardliner zu. In: Stuttgarter Zeitung, die einstigen AfD-Abgeordneten Gedeon, Fiechtner, Herre, Pfeiffer, Merz 16.12.2019, S. 5. und Räpple sind seit ihren Austritten fraktionslos. Ruf, Reiner (2018): Die Verächter des Parlaments. In: Stuttgarter Zeitung, 11 Die hier aufgeführten Zahlen wurden über das Parlamentsinformati- 19.12.2018, S. 3. onssystem PARLIS des Stuttgarter Landtags für den Zeitraum vom Rütters, Peter (2017): „Parlamentsfähig“? Die Abgeordneten der AfD in den 01.05.2016 bis zum 30.04.2020 abgerufen unter: https://parlis.landtag- Landtagen und Bürgerschaften. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, bw.de/parlis/. Nicht berücksichtigt wurden Initiativen der ABW-Fraktion Heft 1/2017, S. 3–24. und fraktionslosen Ex-AfD-Abgeordneten. Berechnet man den Durch- Schroeder, Wolfgang/Weßels, Bernhard/Neusser, Christian/Berzel, Ale- schnitt von Kleinen Anfragen pro Abgeordneten, liegt der Wert der deut- xander (2017): Parlamentarische Praxis der AfD in deutschen Landes- lich kleineren FDP/DVP-Fraktion (59) deutlich vor dem der SPD (33) und parlamenten. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, WZB- knapp vor dem der AfD-Fraktion (51), deren fluide Abgeordnetenzahl Discussion Paper, SP V 2017–102. URL: https://bibliothek.wzb.eu/ pauschal mit 20 veranschlagt wurde. pdf/2017/v17–102.pdf [05.03.2020]. 12 Ihr Austritt aus der Fraktion im vierten Parlamentsjahr mag Hinweise Schüttemeyer, Suzanne S. (1999): Fraktionen und ihre Parteien in der Bun- zur Erklärung des leichten Abfalls der Gesamtzahl der parlamentarischen desrepublik Deutschland: Veränderte Beziehungen im Zeichen profes- Initiativen der AfD in diesem Zeitraum liefern. sioneller Politik. In: Helms, Ludger (Hrsg.): Parteien und Fraktionen. Ein 13 Zu diesem Ergebnis kommt auch Analyse der Zwischenrufe der AfD internationaler Vergleich. Wiesbaden, S. 39–66. (vgl. Vögele/Thoms 2019: 325). Vgl. auch den Beitrag von Catharina Vö- Soldt, Rüdiger (2016a): Die Macht der Doppel-Fraktion. In: faz.net, gele in diesem Heft. 10.08.2016. URL: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/afd-in- 14 Dies zeigte sich etwa anhand einer Reihe von AfD-Anfragen zur Kri- baden-wuerttemberg-die-macht-der-doppel-fraktion-14381849.html minalität und Radikalisierung unter Migranten und Asylsuchenden (vgl. [20.02.2020]. Hensel et al. 2017: 34). Nach dem Mord an einer Freiburger Studentin wies Soldt, Rüdiger (2016b): Landung als Bettvorleger. In: Frankfurter Allgemei- die AfD-Fraktion Kanzlerin Merkel öffentlichkeitswirksam eine „entschei- ne Zeitung, 28.10.2016, S. 4. dende Mitverantwortung“ für die von einem Flüchtling verübten Taten zu Soldt, Rüdiger (2020): Diskussion um Räpple-Ausschluss aus der AfD-Frak- AfD (vgl. Landtagsfraktion AfD Baden-Württemberg 2016). tion. In: faz.net, 29.09.2020. URL: https://www.faz.net/aktuell/politik/ 15 Hier ist besonders auf das Verhalten des im September 2020 aus der inland/diskussion-um-raepple-ausschluss-aus-afd-fraktion-16977576. AfD-Fraktion ausgeschlossenen Abgeordneten Stefan Räpple hinzuwei- html [30.09.2020]. sen, der im Dezember 2018 infolge eines Eklats aus der Plenumssitzung Ullenbruch, Sven (2018): AfD-Mitarbeiter war Neonazi-Funktionär. In: ausgeschlossen wurde (vgl. Ruf 2018; Rebhan 2020). Stuttgarter Zeitung, 09.04.2018, S. 5. Vögele, Catharina/Thoms, Claudia (2019): Die isolierte Fraktion. Zwi- schenreaktionen, Zwischenrufe und die AfD im Baden-Württembergi- schen Landtag. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 2/2019, S. 306–326. Walter, Franz (2010): Gelb oder Grün? Kleine Parteiengeschichte der bes- serverdienenden Mitte in Deutschland. Bielefeld. Walter, Franz (2013): Bürgerlichkeit und Protest in der Misstrauensgesell- schaft. Konklusion und Ausblick. In: Marg, Stine/Walter, Franz u. a. UNSER AUTOR (Hrsg.): Die neue Macht der Bürger. Was motiviert die Protestbewegun- gen? Reinbek bei Hamburg, S. 301–343.

ANMERKUNGEN 1 Grundlage der vorliegenden Analyse bilden vom Autor mitdurchge- führte Studien zur Entwicklung der Landespartei und Landtagsfraktion der AfD Baden-Württemberg (vgl. Hensel et al 2016, 2017), Beobachtungen von AfD-Landesparteitagen (vgl. Hensel 2019, 2020a) und vorliegende Forschungsarbeiten (vgl. v. a. Schroeder et al. 2017). 2 Vgl. hierzu den Beitrag von Ulrich Eith im vorliegenden Heft. 3 Hierzu gehörten in Baden-Württemberg: die Abschaffung des Land- Alexander Hensel (M. A.) ist Politikwissenschaftler und wissen- tagsvizepräsidentenamtes, das der AfD zugefallen wäre; die Nichtwahl schaftlicher Mitarbeiter am Institut für Demokratieforschung an des AfD-Kandidaten zum Vorsitzenden des Haushaltsauschusses, der tra- ditionell von der größten Oppositionsfraktion übernommen wird; sowie der Universität Göttingen. Seine Schwerpunkte liegen in der Par- etwa die demonstrative Weigerung eines SPD-Abgeordneten, einer AfD- teien- und Bewegungsforschung. Nach Studien zu den frühen Abgeordneten die Hand zu geben (vgl. Hensel 2017: 36–37). Grünen und zur Piratenpartei untersucht er aktuell die Entwick- 4 Noch niedriger lag der Frauenanteil zu Beginn der 16. Legislaturperi- ode freilich bei den Fraktionen von SPD (10,5 %) und FDP/DVP (8,3 %). lung verschiedener Landesverbände und Landtagsfraktionen der 5 Entsprechende Geburtsjahrgänge (1956–1965) gehörten in der AfD- AfD nach ihrem ersten Parlamentseintritt. Fraktion 43 %, in der Grünen-Fraktion sogar 53 % der Abgeordneten an.

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 277277 330.11.200.11.20 08:4308:43 FRONTENBILDUNG IM LANDTAG Debattenkultur im Landtag: Zwischen Parteidisziplin, Zwischenrufen und Eklats Catharina Vögele

berg 2020: 6975). Neben der hohen Anzahl an Ordnungs- Der Ton ist rauer geworden im Landtag von Baden-Würt- rufen kam es in der aktuellen Legislaturperiode zusätzlich temberg. Neben einer hohen Zahl von Ordnungsrufen zu vier Sitzungsausschlüssen von Abgeordneten, die sich kam es in der gegenwärtigen Legislaturperiode zu vier ausschließlich auf AfD- bzw. ehemalige AfD-Parlamenta- Sitzungsausschlüssen, die sich auf AfD- bzw. ehemalige rier bezogen. Diese Ausschlüsse sorgten für große mediale AfD-Parlamentarier bezogen. Das Parlament scheint für Aufmerksamkeit, da dreimal sogar die Polizei gerufen wer- die AfD eine Art Bühne zu sein, um sich demonstrativ und den musste, da sich die entsprechenden Mitglieder des provokativ von den etablierten Parteien abzugrenzen. Parlaments weigerten, den Plenarsaal zu verlassen (Allgö- Mit Zwischenrufen und Zwischenreaktionen grenzt sich wer 2018, 2020). Diese Beispiele veranschaulichen, dass die AfD von anderen Parteien ab und wird im Gegenzug sich die Streit- und Debattenkultur im baden-württember- von den anderen Fraktionen mit denselben rhetorischen gischen Landtag in der aktuellen Legislaturperiode ge- Mitteln in parlamentarischen Debatten isoliert. Catha- wandelt hat und rauer geworden ist als in den vorherigen rina Vögele erörtert die zentralen Ergebnisse einer Stu- Perioden. die, die auf zwei quantitativen Inhaltsanalysen beruht. Durch den Einzug der AfD in den Landtag nach der Land- Der Fokus der Studie lag darauf, wie Zwischenrufe und tagswahl im März 2016 hat sich laut Aussagen von Parla- andere Zwischenreaktionen wie Beifall, Lachen oder mentarierinnen und Parlamentariern das Klima im Parla- Heiterkeit von den Fraktionen im Landtag eingesetzt wur- ment verändert. , Präsidentin des baden- den. Die Ergebnisse der Analyse zeigen, dass die Fron- württembergischen Landtags, äußerte sich im September tenbildung zwischen der AfD und den anderen Parteien 2017 beispielsweise folgendermaßen zur Streitkultur im zugenommen hat. Diese neue Konfliktlinie trägt zur Po- Parlament: „Die AfD-Fraktion bewegt sich mit ihren Debat- larisierung im Parlament und zu einer Emotionalisierung tenbeiträgen häufig an der Grenze zum Tabu. Das führt zu der Plenumsdebatten bei.

Der Ton im Landtag ist rauer geworden

20 Ordnungsrufe hat das Landtagspräsidium in der aktuel- len Legislaturperiode (LP 16) im baden-württembergischen Landtag bis Anfang Juni 2020 bereits erteilt. Das bedeutet, dass bis zu diesem Zeitpunkt bereits 20-mal einzelne Mit- glieder im Parlament durch die Sitzungsleitung aufgrund ihrer Zwischenrufe, Beleidigungen oder anderer Störun- gen verwarnt wurden. In der vorherigen Legislaturperiode Christina Baum, Abgeordnete (LP 15) gab es im Vergleich hierzu keinen einzigen Ord- der Fraktion der AfD im Land- nungsruf. Diese Entwicklung zeigt, dass sich in der aktuel- tag von Baden-Württemberg, len Legislaturperiode so einiges im Parlament in Stuttgart ruft während einer Plenarsit- verändert hat. Außer einem Ordnungsruf für einen Abge- zung dazwischen. Durch den ordneten der Grünen, gehen die restlichen 19 Verwarnun- Einzug der AfD in den Landtag gen auf das Konto von Parlamentariern der AfD oder von hat sich das Klima im Parla- Abgeordneten, die ursprünglich als Mitglieder der AfD- ment verändert. Der Ton ist Fraktion in den Landtag eingezogen sind, aber mittler- rauer geworden. Es ist eine weile fraktionslos sind. Stefan Räpple (AfD) beispielsweise Streitkultur entstanden, die der erhielt einen Ordnungsruf, da er andere Mitglieder des Würde des Parlaments nicht Landtages als „Volksverräter“ bezeichnet hatte (Landtag zuträglich ist. Neben einer von Baden-Württemberg 2016: 777). Daniel Rottmann hohen Zahl von Ordnungsru- (AfD) rief Hans-Ulrich Sckerl (Grüne) während eines Vor- fen kam es in der aktuellen trags „Sie sind ein Antisemit“ zu und bekam hierfür einen Legislaturperiode bisher zu Ordnungsruf (Landtag von Baden-Württemberg 2019: vier Sitzungsausschlüssen von 6125). Heinrich Fiechtner (fraktionslos) wurde verwarnt, da AfD-Abgeordneten bzw. ehe- er Andrea Lindlohr (Grüne) während einer Rede zurief, sie maligen AfD-Parlamentariern. rede wie Joseph Goebbels (Landtag von Baden-Wür t tem- picture alliance/dpa

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 278278 330.11.200.11.20 08:4308:43 Provokationen, und bedauerlicherweise steigen die ande- DEBATTENKULTUR IM LANDTAG: ren Fraktionen in der Regel darauf ein. Dadurch ist eine ZWISCHEN PARTEIDISZIPLIN, ZWISCHENRUFEN Streitkultur im Landtag entstanden, die der Würde des Par- UND EKLATS laments nicht förderlich ist. Ich bin unbedingt dafür, dass Debatten im Parlament lebhaft sein sollen. Kontroverse sich demonstrativ als radikale Opposition gegenüber der Diskussionen gehören selbstverständlich dazu. Aber der Landesregierung und den Parlamentsparteien zu positio- Umgang mit dem politischen Gegner muss immer von Fair- nieren“ (Hensel et al. 2017: 72). Hierbei steht für sie weni- ness und Respekt geprägt sein. Das ist eine große Heraus- ger die Kontrolle der Regierungsparteien im Fokus als viel- forderung für uns alle“ (Reiners 2017: 3, 4). Die parlamenta- mehr eine deutliche Abgrenzung von den etablierten Par- rische Geschäftsführerin der CDU-Fraktion im baden- teien, die sie durch provokante, Tabu brechende und damit württembergischen Landtag, Nicole Razavi, sagte in einer Aufmerksamkeit erzeugende Aktionen untermauert (Schro- Rede im Parlament im März 2017: „Die Debattenkultur in eder/Weßels/Berzel 2018: 99). d i e s e m H a u s – d a s b e t o n e i ch a n d i e s e r S t e l l e g a n z b e s o n - Aufgrund dieser vermuteten Veränderungen in der Diskus- ders – hat sich in den letzten Monaten bedauerlicherweise sionskultur im Landtag haben wir uns in einer Studie die grundlegend gewandelt“ (Landtag von Baden-Württem- Frage gestellt, ob der Einzug der AfD in den baden-würt- berg 2017: 1531). tembergischen Landtag zu einer beobachtbaren Verände- Diese Veränderungen sind nicht nur im Landtag in Stutt- rung des Verhaltens der Fraktionen im Plenum geführt hat gart, sondern auch in den Landesparlamenten in anderen (Vögele/Thoms 2019).1 Hierbei lag der Fokus darauf, wie Bundesländern zu beobachten. Insgesamt ist ein aggressi- Zwischenrufe und andere Zwischenreaktionen im Parla- ves und provozierendes Auftreten der AfD-Fraktionen in ment wie Beifall, Lachen oder Heiterkeit von den Fraktio- den Parlamenten zu erkennen, was sich unter anderem in nen im Stuttgarter Landtag eingesetzt wurden. Bevor wir der Anzahl der Ordnungsrufe widerspiegelt, die seit Mit- die methodische Vorgehensweise der Studie erläutern und gliedschaft der AfD in den Parlamenten angestiegen ist auf zentrale Ergebnisse eingehen, soll zunächst erklärt (Schroeder/Weßels/Berzel 2018: 99–100). Innerhalb des werden, was Zwischenrufe und andere Zwischenreaktio- baden-württembergischen Landtags ist eine Frontenbil- nen genau sind, wofür sie von Parlamentarierinnen und dung zwischen der AfD und den anderen Fraktionen zu er- Parlamentariern eingesetzt werden und wie sie die Debat- kennen. So werden Initiativen der AfD von den anderen tenkultur in einem Parlament prägen können. Fraktionen unterbunden und ihr Verhalten im Parlament scharf kritisiert. Der AfD wurde beispielsweise vorgewor- fen, durch die Spaltung ihrer Fraktion sowie das intensive Zwischenrufe und Zwischenreaktionen als Nutzen des Instruments der Kleinen Anfrage Steuermittel Debattenbeiträge im Parlament zu verschwenden (Hensel et al. 2017: 37–38). Das Parla- ment scheint folglich für die AfD eine Art Bühne zu sein, „um Politische Debatten sind öffentliche Streitgespräche. In Debatten diskutieren „mehrere Redner/innen miteinander nach festgelegten Regeln. Sie tauschen Argumente und Gegenargumente zu einer Frage oder einem bestimmten Thema aus. Und oft wird nach einer Debatte abgestimmt. Jeder Redner will die Zuhörenden von seinen Argumenten überzeugen“ (Schneider/Toyka-Seid 2020: 1). Auch in Par- lamenten, den Diskussionsforen der Repräsentantinnen und Repräsentanten der Bevölkerung, haben politische Debatten natürlich ihren Platz (Burkhardt 2004: 2). Hierbei ist jedoch besonders, dass die Frage, wer wann Rederecht hat, von der Geschäftsordnung des Parlaments sehr klar und deutlich geregelt wird: Im Normalfall darf nur derje- nige oder diejenige sprechen, der oder die von der Parla- mentspräsidentin bzw. dem Parlamentspräsidenten das Wort erteilt bekommen hat. In der parlamentarischen Pra- xis jedoch haben sich Instrumente wie Zwischenrufe und andere Zwischenreaktionen (Beifall, Lachen, Heiterkeit) entwickelt, die dafür sorgen, dass im Parlament trotz der strengen Geschäftsordnung ein Schlagabtausch zwischen unterschiedlichen Abgeordneten stattfindet. Gerade der Zwischenruf ist deshalb ein „immer schon weithin akzep- tiertes Element der parlamentarischen Debatte“ (Burkhardt 2004: 2). Bei Zwischenrufen handelt es sich um kurze Einwürfe von Abgeordneten im Plenum, die gerade kein Rederecht ha- ben, aber trotzdem eine Meinungsäußerung zum Redner oder der Rednerin, seiner oder ihrer Rede oder auch ande- ren Beteiligten abgeben wollen. Abgeordnete nutzen diese Zwischenrufe insbesondere, um Vertreterinnen und Vertre- ter konkurrierender Fraktionen zu kritisieren und aus dem Konzept zu bringen oder um Rednerinnen und Redner der

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 279279 330.11.200.11.20 08:4308:43 eigenen Fraktion zu unterstützen (Hitzler 1990). Zwischen- Hitzler 1990: 626; Kruttschnitt, 1970: 15; van der Valk rufe sind damit ein Ausdruck einer spezifisch parlamentari- 2000: 126; Zima/Brône/Feyaerts 2010: 160). Plenardebat- schen Diskussionskultur. Zu diesen finden sich allerdings ten ähneln damit sportlichen Wettkämpfen, bei denen die keine Regelungen in der Geschäftsordnung des baden- Zwischenruferinnen und Zwischenrufer Mitglieder unter- württembergischen Landtags (Landtag von Baden-Würt- schiedlicher Fankurven sind, „die ihre Mannschaft anfeu- Catharina Vögele Catharina temberg 2019a), weshalb sie folglich eigentlich nicht vorge- ern und den Gegner schmähen“ (Kipke 1995: 110). Abge- sehen sind. In den anderen Landesparlamenten ist dies ordnete können Zwischenrufe auch für ihre persönlichen ebenfalls zu beobachten (Burkhardt 2004: 17–18). In den Zwecke und ihre Selbstdarstellung nutzen. Beispielsweise Parlamenten sollte also nur die Person sprechen, die von der um sich als kompetente, schlagfertige und schnelle Zuhö- Sitzungsleitung das Rederecht erhalten hat. Somit sind Zwi- rerinnen und Zuhörer zu präsentieren, oder sich in der schenrufe eigentlich nicht erwünscht, gelten im Parlament eigenen Fraktion als geeignete Rednerin bzw. geeigneter jedoch als „gewohnheitsrechtlich zulässig“ (Hitzler 1990: Redner zu empfehlen (Hitzler 1990: 628; Kipke 1995: 110; 622). Sofern Zwischenrufe keine beleidigenden Äußerun- Zima/Brône/Feyaerts 2010: 161). Außerdem können Zwi- gen enthalten, gehen die Parlamentspräsidentinnen und schenrufe den eher monotonen Parlamentsalltag auflo- Parlamentspräsidenten nicht gegen sie vor, sie werden al- ckern und politische Debatten im Plenum emotionalisieren lerdings in die Protokolle der Plenarsitzungen aufgenom- (Burkhardt 2004: 38; Hitzler 1990: 627). men (Burkhardt 2004: 17–18). Rüdiger Kipke definiert einen Neben Zwischenrufen können Parlamentarierinnen und Zwischenruf deshalb als „durch Gewohnheit legitimierte Parlamentarier auch andere Zwischenreaktionen wie Bei- Äußerungsform im politisch-parlamentarischen Diskurs, die fall, Lachen und Heiterkeit nutzen, um andere Abgeord- eine Ausnahme zu dem Grundsatz darstellt, daß niemand nete zu unterstützen oder zu diskreditieren. Mit tels Beifalls ohne ausdrückliche Worterteilung durch den Präsidenten oder Heiterkeit kann von den Abgeordneten im Plenum Zu- im Plenum reden darf“ (Kipke 1995: 107). Dabei kann ein stimmung signalisiert werden. Mithilfe von Lachen, das die Zwischenruf ganz unterschiedliche Adressatinnen und Ad- Parlamentsstenografen bei hämischem oder abfälligem ressaten haben (Kühn 1983: 239): Entweder kann er sich auf Lachen notieren, kann dagegen Geringschätzung und Kri- den aktuellen Redner oder die aktuelle Rednerin bzw. seine tik ausgedrückt werden (Burkhardt 2004). oder ihre Fraktion und deren Anhängerinnen und Anhänger Die Reaktionen der Abgeordneten im Parlament erfüllen beziehen, oder aber die Parlamentspräsidentin oder der also unterschiedliche Funktionen. Es ist deshalb sehr wahr- Parlamentspräsident sowie andere im Landtag anwesende scheinlich, dass hinter dem Verhalten der Parlamentarierin- Abgeordnete und Fraktionen sind Ziel eines solchen Ein- nen und Parlamentarier meist eine Strategie steckt, um den wurfs. Und auch die Öffentlichkeit außerhalb des Plenar- politischen Konkurrenten zu schwächen, die eigene Fraktion saals und damit die Wählerschaft kann adressiert werden zu stärken oder auch um mediale Aufmerksamkeit zu errei- (Burkhardt 2004: 147; van der Valk 2000: 117; Zima/Brône/ chen und damit den politischen Wettbewerb zu gestalten. Feyaerts 2010: 142–143). Hintergrund der Adressierung der Für die Diskussionskultur im Parlament sind Zwischenrufe und Öffentlichkeit ist die zu beobachtende Entwicklung, dass Zwischenreaktionen deshalb hilfreiche Indikatoren. Plenardebatten wie auch andere politische Ereignisse im- mer stärker inszeniert werden, um mediale Aufmerksamkeit und Medienberichterstattung zu generieren (Burkhardt Methodische Vorgehensweise der Studie 2004: 47, 620). Da Massenmedien eine zentrale Rolle bei der Vermittlung von Politik an die Wählerinnen und Wähler Die Ergebnisse unserer Studie basieren auf zwei Inhalts- spielen, ist eine Anpassung der Abgeordneten an die Me- analysen. Zunächst untersuchten wir mithilfe einer automa- dienlogik ein erkennbares strategisches Verhalten, wes- tisierten Analyse das Vorkommen von Zwischenrufen sowie halb man von einer Mediatisierung des Auftretens und der Zwischenreaktionen Beifall, Lachen und Heiterkeit in Handelns der Parlamentarierinnen und Parlamentarier im den Plenarprotokollen des baden-württembergischen Plenum sprechen kann (Jandura 2007: 83–84). Kurz gesagt Landtags. Damit wir die Nutzung von Zwischenreaktionen wollen sie Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Hierzu sind Zwi- vor und nach Einzug der AfD vergleichen konnten, wurden schenrufe, die beliebig häufig eingesetzt werden können alle Plenarprotokolle der 15. Legislaturperiode und die bis und keiner großen Anstrengung bedürfen, gut geeignet. zum Zeitpunkt der Analyse veröffentlichten Plenarproto- Auch die im Stuttgarter Landtag beobachteten Weigerun- kolle der 16. Legislaturperiode (konkret: bis zur 68. Plenar- gen der Abgeordneten Stefan Räpple (AfD), Wolfgang Ge- sitzung) berücksichtigt. deon (fraktionslos) und Heinrich Fiechtner (fraktionslos) Zusätzlich analysierten wir eine Auswahl von wortwörtlich nach ihrem Sitzungsausschluss den Plenarsaal zu verlas- protokollierten Zwischenrufen der Fraktionen mithilfe einer sen, die zu einem Polizeieinsatz im Parlament führten, kön- manuellen quantitativen Inhaltsanalyse detaillierter (vgl. nen vor diesem Hintergrund als bewusst gewählte Strate- Rössler 2017). Auch hier verglichen wir Plenarprotokolle gie interpretiert werden, um noch mehr mediale Präsenz aus der aktuellen Legislaturperiode (LP 16) und der vorhe- und damit Berichterstattung zu generieren. rigen Legislaturperiode (LP 15). Die Wahl fiel dabei auf Zwischenrufe haben je nach Adressatin bzw. Adressat Protokolle zu aktuellen Debatten. Diese können von allen ganz unterschiedliche Funktionen. Beziehen sie sich auf die Fraktionen des Landtages beantragt werden und dienen Rednerin bzw. den Redner, dann hat dies meist das Ziel, dem Zweck, aktuelle und für die Allgemeinheit relevante diese bzw. diesen zu verunsichern und aus dem Konzept zu politische Fragen zu diskutieren. Pro Legislaturperiode bringen. Diese Taktik ist vor allem dann wahrscheinlich, wählten wir zufällig jeweils zehn solcher Diskurse aus und wenn es sich um Rednerinnen und Redner einer anderen analysierten alle 1897 Zwischenrufe, die in den Protokol- Fraktion handelt. Bei Rednerinnen und Rednern der eige- len notiert waren.2 Der Vorteil von aktuellen Debatten für nen Fraktion können diese mithilfe von Zwischenrufen be- unsere Studie ist, dass zu Beginn jeweils eine Sprecherin stärkt und unterstützt werden (Burkhardt 2004: 38, 46; bzw. ein Sprecher aller im Landtag vertretenen Fraktionen

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 280280 330.11.200.11.20 08:4308:43 zu Wort kommt und den Standpunkt der jeweiligen Frak- DEBATTENKULTUR IM LANDTAG: tion darlegt, bevor Regierungsvertreterinnen und -vertre- ZWISCHEN PARTEIDISZIPLIN, ZWISCHENRUFEN ter sich dazu erklären können. Die Redezeit aller Rednerin- UND EKLATS nen und Redner beträgt dabei nach der Geschäftsord- nung des Landtags im Normalfall fünf Minuten (Landtag unterstützen. Die Zuordnung zur Regierung oder zur Op- von Baden-Württemberg 2019a). In diesem Format stellt position ist dabei entscheidend bei der Frage, welche folglich jede Fraktion einen Redner bzw. eine Rednerin. Fraktionen kritisiert bzw. unterstützt werden. Beim Beifall, Damit können alle möglichen Parteikonstellationen von beim positiven und negativen Lachen wie auch bei den Zwischenrufen analysiert werden. Zwischenrufen kritisieren sich Oppositions- und Regie- rungsparteien jeweils in der Mehrheit gegenseitig und un- terstützen dagegen den jeweiligen Oppositions- bzw. Re- Ergebnisse der Analysen gierungspartner in den meisten Fällen (vgl. Abbildungen 1, 2 und 3). Die Oppositionsparteien setzen hierbei beson- Unsere Analysen zeigen, dass die Fraktionen im Stuttgar- ders häufig auf kritische Zwischenrufe, um ihren Wider- ter Landtag Zwischenreaktionen bewusst einsetzen, um spruch gegenüber den Regierungsparteien zum Ausdruck sich von anderen Fraktionen abzugrenzen oder diese zu zu bringen.

Abbildung 1: Urheber des Beifalls bei Rednerinnen und Rednern der jeweiligen Fraktionen im Vergleich der beiden Legislaturperioden

Die Abbildung gibt einen Überblick darüber, welche Fraktionen (x-Achse) klat- schen, wenn ein Redner bz w. eine Rednerin einer jeweiligen Fraktion (y-Achse) am Redner- pult steht. Im Kasten oben rechts beispielsweise ist an- gegeben, welche Fraktionen den Rednerinnen und Rednern der AfD Beifall gespendet ha- ben. Quelle: Eigene Darstellung, Catharina Vögele.

Abbildung 2: Heiterkeit und Lachen durch die Fraktionen bei Rednerinnen und Rednern der jeweiligen Fraktionen im Vergleich der beiden Legislaturperioden

In der Abbildung ist ange- geben, welche Fraktionen (x-Achse) bei den Rednerinnen und Rednern der jeweiligen Parteien (y-Achse) Heiterkeit ausgedrückt (dunkelgrau) bzw. hämisch und abfallend gelacht (hellgrau) haben. Im Kasten oben rechts beispiels- weise ist angegeben, wie häu- fig die Fraktionen bei Redne- rinnen und Rednern der AfD heiter bzw. hämisch gelacht haben. Quelle: Eigene Darstellung, Catharina Vögele.

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 281281 330.11.200.11.20 08:4308:43 Nicht zu diesem Muster passen jedoch das Verhalten der wie den beiden Oppositionsparteien SPD und FDP tritt AfD-Fraktion sowie das Verhalten gegenüber der AfD- folglich eine weitere Konfliktlinie auf, die alle anderen Par- Fraktion in der aktuellen Legislaturperiode. Es sind keine teien der AfD gegenüberstellt. Die Erkenntnisse unserer Allianzen anderer Parteien zur AfD zu erkennen. Stattdes- Studie weisen damit auf eine Frontenbildung z wischen der sen wird die AfD von den anderen Fraktionen mithilfe ver- AfD und den anderen Fraktionen im Stuttgarter Landtag Catharina Vögele Catharina schiedener Mittel isoliert. So spenden erstens die anderen hin, die zu einer Polarisierung im Parlament und einer Emo- Fraktionen Rednerinnen und Rednern der AfD so gut wie tionalisierung der Debatten im Plenum beiträgt. Auch die keinen Beifall (vgl. Abbildung 1). Sie reagieren zweitens in den Plenarprotokollen notierten Zwischenrufe und Zwi- eigentlich nie mit Heiterkeit auf deren Redebeiträge (vgl. schenreaktionen weisen folglich darauf hin, dass sich die Abbildung 2). Debattenkultur im Stuttgarter Landtag in der aktuellen Le- Drittens werden die Rednerinnen und Redner der AfD am gislaturperiode gewandelt hat. stärksten von allen anderen Parteien in Zwischenrufen kri- Interessant ist zusätzlich der Blick auf die Frage, bei wel- tisiert und damit angegriffen (vgl. Abbildung 3). Und vier- chen Themen die Fraktionen mit Zwischenrufen besonders tens werden die Zwischenrufe von AfD-Abgeordneten am aktiv waren. Für jede Debatte wurde das Hauptthema er- häufigsten von den anderen Fraktionen ignoriert. Die AfD fasst. Dabei konnten bis zu zwei Themen vergeben wer- nimmt im baden-württembergischen Landtag im Vergleich den. Abbildung 4 gibt einen Überblick darüber, welche zu den anderen Fraktionen folglich eine isolierte Position Fraktion bei welchem Thema die aktivsten Zwischenrufe- ein. Sie selbst wiederum verhält sich den anderen Fraktio- rinnen und Zwischenrufer gestellt hat. In der Legislaturpe- nen gegenüber meist sehr ablehnend. Dabei fällt bei- riode 15 ist die CDU insbesondere beim Thema Stuttgart spielsweise auf, dass sie mit Abstand am häufigsten das 21 und dem damit verbundenen Themenfeld Verkehr und Mittel des hämischen und abfälligen Lachens einsetzt, um Infrastruktur aktiv, ebenso bei der Sicherheitspolitik. Ge- Rednerinnen und Redner anderer Parteien lächerlich zu rade beim stark umstrittenen Thema Stuttgart 21 trat die machen (vgl. Abbildung 2). Außerdem kritisiert die AfD in CDU – damals Oppositionspartei – als Gegenspielerin Zwischenrufen die anderen Fraktionen stärker als die an- der Grünen auf. Die Sicherheitspolitik sieht die CDU hinge- deren Fraktionen sich gegenseitig kritisieren. gen als eines ihrer Kernthemen an. Diese thematische Posi- Durch den Einzug der AfD in den baden-württembergi- tionierung sowie der Fokus der SPD auf das Thema Wirt- schen Landtag hat sich das Verhalten der Fraktionen im schaft und Arbeit in Legislaturperiode 15 überraschen auf- Plenum folglich leicht verändert. Das stark abgrenzende grund der Themenorientierungen der Parteien nicht. Verhalten aller Fraktionen gegenüber einer anderen Frak- Wenig erstaunlich ist, dass die AfD beim Thema Migration tion konnte in der vorherigen Legislaturperiode, als die AfD und Integration in Legislaturperiode 16 am häufigsten da- noch nicht Mitglied des Landtags war, nicht identifiziert zwischenruft. Bei ihrem Kernthema ist die AfD besonders werden. Grüne, CDU, SPD und FDP grenzen sich durch ihr aktiv. Auch die Dominanz der AfD beim Thema Wohnungs- Verhalten im Parlament eindeutig von der AfD ab. Die AfD bau ist in diesem Kontext zu sehen, da es sich hier um eine wiederum verhält sich den anderen Fraktionen gegenüber von der AfD beantragte Debatte mit dem Titel „Defizite der ebenfalls sehr abweisend, insbesondere gegenüber den Wohnungsbaupolitik und politisches Handeln unter dem Regierungsparteien Grüne und CDU sowie der SPD. Zu- Einfluss der Masseneinwanderung und der allgemeinen sätzlich zu der immer noch existenten Konfliktlinie zwi- Wohnungsnot in Baden-Württemberg“ handelte. Drei schen den beiden Regierungsparteien Grüne und CDU so- Viertel der Zwischenrufe der AfD in diesen beiden Themen-

Abbildung 3: Tendenz der Zwischenrufe im Vergleich der Partei- konstellationen und Legis- laturperioden

Erklärung: Die Abbildung zeigt den Anteil der Zwischen- rufe, die den Redner/die Red- nerin oder seine/ihre Fraktion kritisieren, ihm/ihr zustimmen oder sich neutral zu ihm/ihr äußern. Auf der X-Achse ist die Fraktion des Zwischen- rufers abgetragen, die Käst- chen beziehen sich jeweils auf alle Zwischenrufe zum Red- ner/zur Rednerin der jeweils auf der rechten Seite angege- benen Fraktion. Das Kästchen oben rechts zeigt also bei- spielsweise, welche Tendenz (unterschiedliche Farben) die Zwischenrufe der jeweiligen Fraktionen bei Rednerinnen und Rednern der AfD haben. Quelle: Eigene Darstellung, Catharina Vögele.

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 282282 330.11.200.11.20 08:4308:43 feldern waren negativ. Die AfD zeigt in ihrem Zwischen- DEBATTENKULTUR IM LANDTAG: rufverhalten folglich einen inhaltlichen Fokus auf Migrati- ZWISCHEN PARTEIDISZIPLIN, ZWISCHENRUFEN onsfragen. Diese Schwerpunktsetzung konnten Wolfgang UND EKLATS Schroeder et al. (2017: 38) bereits für die Inhalte der von der AfD in den Landtagen gestellten Kleinen Anfragen sen zuschreiben und welcher Teil des Verhaltens im Plenum identifizieren. Hier bezogen sich 16 Prozent der Kleinen im Vorfeld in der Fraktion abgesprochen wird und damit Anfragen der AfD auf den Themenbereich Migration. Das einer strategischen Vorgehensweise folgt. Auch die Frage, Zwischenrufverhalten ist also ein weiterer Beleg für die in- wie die Abgeordneten die Veränderungen der Diskussi- haltliche Positionierung der AfD. onskultur in der aktuellen Legislaturperiode im Parlament in Stuttgart wahrnehmen, könnte mithilfe von Befragungen von Politikerinnen und Politikern beantwortet werden. Be- Ausblick züglich des kommunikativen Verhaltens von Parteien im Parlament besteht folglich noch reichlich Forschungsbe- Die in dieser Studie analysierten Zwischenrufe und Zwi- darf, auch um die Veränderung der Debattenkultur durch schenreaktionen zeigen also, dass im baden-württembergi- das Hinzukommen der AfD besser verstehen zu können. schen Landtag durch den Einzug der AfD zu der traditionel- len Konfliktlinie zwischen Regierung und Opposition eine weitere Konfliktlinie getreten ist, nämlich zwischen der AfD LITERATUR und den anderen Fraktionen. Diese Frontenbildung sorgt un- Allgöwer, Renate (2018, 18.12.): Räpple und Gedeon nach Polizeieinsatz ter anderem dafür, dass die Diskussionen im Parlament po- im Landtag. AfD-Politiker zeigen keine Einsicht. In: Stuttgarter Zeitung larisierender, hitziger und emotionaler geworden sind. [Online]. URL: https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.raepple-und- gedeon-nach-polizeieinsatz-im-landtag-afd-politiker-zeigen-keine- Diese Studie kann allerdings nicht die Frage beantworten, einsicht-kretschmann-uebt-kritik.087c7da6-c703–4b99–8869–739ae- ob die Skepsis und Abgrenzung gegenüber der AfD nur auf a9bc2ce.html [05.06.2020]. ihre inhaltliche Ausrichtung oder auch auf ihren Status als Allgöwer, Renate (2020, 29.04.): Eklat im Landtag. Polizei geleitet Heinrich Fiechtner aus dem Plenarsaal. In: Stuttgarter Zeitung [Online]. URL: ht- Parlamentsneuling zurückzuführen sind. Vergleiche mit tps://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.eklat-im-landtag-polizei-ge- den Reaktionen auf andere Neulinge in Parlamenten könn- leitet-abgeordneten-aus-dem-plenarsaal.bf7b83e2-e23c–4e39– ten hier aufschlussreich sein. Denn auch beim Einzug der 976c–061d751d2633.html [05.06.2020]. Burkhardt, Armin (2004): Zwischen Monolog und Dialog. Zur Theorie, Ty- Grünen in den Deutschen Bundestag in den 1980er-Jahren pologie und Geschichte des Zwischenrufs im deutschen Parlamentaris- oder der Republikaner in den baden-württembergischen mus. Tübingen. Landtag Anfang der 1990er-Jahre wurden Veränderungen Hensel, Alexander/Finkbeiner, Florian/Dudek, Philipp/Förster, Julika/ Freckmann, Michael/Höhlich, Pauline (2017): Die AfD vor der Bundes- in der politischen Diskussionskultur wahrgenommen. Ne- tagswahl 2017. Vom Protest zur parlamentarischen Opposition. Eine ben Analysen des Verhaltens von Abgeordneten im Parla- Studie der Otto Brenner Stiftung. URL: https://www.otto-brenner-stif- ment auf Grundlage von Plenarprotokollen wäre es außer- tung.de/fileadmin/user_data/stiftung/02_Wissenschaftsportal/03_ Publikationen/AH91_AfD_BTWahl_Goettingen_2017_07_17.pdf dem interessant, Parlamentarierinnen und Parlamentarier [22.06.2020]. zu ihrem Verhalten im Parlament zu befragen. Auf diese Hitzler, Ronald (1990): Die Politik des Zwischenrufs. Zu einer kleinen par- Weise könnte man untersuchen, welchen Stellenwert Zwi- lamentarischen Form. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 4/1990, S. 619–630. schenrufe und andere Zwischenreaktionen für die Fraktio- Jandura, Olaf (2007): Kleinparteien in der Mediendemokratie. Wiesba- nen und Abgeordneten haben, welche Funktionen sie die- den.

Abbildung 4: Partei der Zwischenrufer nach Themen der aktuellen Debatten Quelle: Eigene Darstellung, Catharina Vögele.

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 283283 330.11.200.11.20 08:4308:43 Kipke, Rüdiger (1995): Der Zwischenruf – ein Instrument politisch-parla- mentarischer Kommunikation? In: Dörner, Andreas/Vogt, Ludgera Landtag von Baden-Württemberg (2020) (Hrsg.): Plenarprotokoll (Hrsg.): Sprache des Parlaments und Semiotik der Demokratie. Studien 11.03.2020. URL: https://www.landtag-bw.de/files/live/sites/LTBW/ zur politischen Kommunikation in der Moderne. Berlin u. New York, files/dokumente/WP16/Plp/16_0113_11032020.pdf#page=6975 S. 107–112. [09.06.2020]. Kruttschnitt, Ernst Jörg (1970): Kanzler der Alliierten: Zwischenrufe und Reiners, Willi (2017, 25.09.): Muhterem Aras zur AfD im Bundestag: „Der Zwischentöne aus dem Bundestag. Baden-Baden. Ton dürfte deutlich rauer werden“. In: Stuttgarter Nachrichten [Online]. Catharina Vögele Catharina Kühn, Peter (1983): Der parlamentarische Zwischenruf als mehrfachadres- URL: https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.landtagspraesi- sierte Sprachhandlung. In: Jongen, René/de Knop, Sabine/Nelde, Pe- dentin-aras-zur-afd-im-bundestag-der-ton-duerfte-deutlich-rauer- ter/Quix, Marie-Paule (Hrsg.): Sprache. Diskurs und Text. Akten des 17. werden.883db7e7–4778–45ea-9663-f83dc7e5c128.html Linguistischen Kolloquiums Brüssel 1982. Band 1. Tübingen S. 239–251. [22.06.2020]. Landtag von Baden-Württemberg (Hrsg.) (2016): Plenarprotokoll Rössler, Patrick (2017): Inhaltsanalyse. 3. überarbeitete Auflage, Konstanz 10.11.2016. URL: https://www.landtag-bw.de/files/live/sites/LTBW/ u. München. files/dokumente/WP16/Plp/16_0017_10112016.pdf#page=777 Schneider, Gerd/Toyka-Seid, Christiane (2020): Das junge Politik-Lexikon. [09.06.2020]. Bonn. URL: https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/das-junge-poli- Landtag von Baden-Württemberg (Hrsg.) (2017): Plenarprotokoll tik-lexikon/198395/debatte [09.06.2020]. 09.03.2017. URL: https://www.landtag-bw.de/files/live/sites/LTBW/ Schroeder, Wolfgang/Weßels, Bernhard/Berzel, Alexander (2018): Die files/dokumente/WP16/Plp/16_0028_09032017.pdf [09.06.2020]. AfD in den Landtagen: Bipolarität als Struktur und Strategie – zwischen Landtag von Baden-Württemberg (Hrsg.) (2019a): Geschäftsordnung des Parlaments- und „Bewegungs“-Orientierung. In: Zeitschrift für Parla- Landtags von Baden-Württemberg. URL: https://www.landtag-bw.de/ mentsfragen, Heft 1/2018, S. 91–110. files/live/sites/LTBW/files/dokumente/rechtliche_grundlagen/ Schroeder, Wolfgang/Weßels, Bernhard/Neusser, Christian/Berzel, Ale- Gesch%c3 %a4ftsordnung%2016.%20LT.pdf [09.06.2020]. xander (2017): Parlamentarische Praxis der AfD in deutschen Landes- Landtag von Baden-Württemberg (Hrsg.) (2019b): Plenarprotokoll parlamenten. In: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung 17.10.2019. URL: https://www.landtag-bw.de/files/live/sites/LTBW/ (Hrsg.): Discussion Paper No. SP V 2017–102. Berlin, S. 3–64. URL: htt- files/dokumente/WP16/Plp/16_0101_17102019.pdf#page=6125 ps://www.econstor.eu/handle/10419/162844 [22.06.2020]. [09.06.2020]. Van der Valk, Ineke (2000): Interruptions in French Parliamentary Debates on Immigration. In: Reisigl, Martin/Wodak, Ruth (Hrsg.): The Semiotics of Racism. Approaches in Critical Discourse Analysis. Wien, S. 105–128. Vögele, Catharina/Thoms, Claudia (2019): Die isolierte Fraktion. Zwi- schenreaktionen, Zwischenrufe und die AfD im baden-Württembergi- schen Landtag. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 2/2019, S. 306–326. Zima, Elisabeth/Brône, Geert/Feyaerts, Kurt (2010): Patterns of Interaction in Austrian Parliamentary Debates. On the Pragmasemantics of Unau- thorized Interruptive Comments. In: Ilie, Cornelia (Hrsg.): European Parliaments under Scrutiny. Discourse Strategies and Interaction Practi- ces. Amsterdam u. Philadelphia, S. 135–164.

UNSERE AUTORIN UNSERE ANMERKUNGEN 1 Der Artikel basiert auf einer Studie, die ich gemeinsam mit meiner Kollegin Claudia Thoms durchgeführt habe (Vögele/Thoms 2019). Herzli- chen Dank an dieser Stelle für die tolle Zusammenarbeit. Dr. Catharina Vögele ist seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin 2 Bis zu Beginn unserer manuellen Codierung hatten in der Legislatur- am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Ho- periode 16 des baden-württembergischen Landtags 47 Plenarsitzungen henheim. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Themenbe- stattgefunden. Grundlage für die Zufallsauswahl der codierten aktuellen Debatten waren deshalb die 53 entsprechenden Diskurse in diesen 47 reichen politische Kommunikation und Sportkommunikation. Sitzungen von LP 16 sowie analog dazu die 64 Debatten in den ersten 47 Plenarsitzungen in LP 15.

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 284284 330.11.200.11.20 08:4308:43 REFORMBEDARF DES WAHLSYSTEMS Reformperspektiven für das Wahlsystem von Baden-Württemberg Joachim Behnke

schon längst verankert. Probleme, die auf der Bundes- Ausgleichsmandate sollen Proporzverzerrungen beim ebene auftreten, sind daher auch auf der Länderebene Mandatsverteilungsprozess korrigieren. Durch diesen vorhanden. Tatsächlich kam es auch hier schon immer wie- Ausgleich kam es bei der Bundestagswahl 2017 zu einer der zu teilweise genauso oder sogar noch dramatischeren merklichen Vergrößerung des Bundestags. In der Öffent- Vergrößerungen der Parlamente aufgrund von Ausgleichs- lichkeit, in Politik und Wissenschaft wurde eine Reform mandaten, die aber merkwürdigerweise ein sehr zurück- angemahnt. Was für den Bund zutrifft, gilt für die Länder haltendes Medienecho fanden. 2012 z. B. musste der Land- gleichermaßen. Bei der Landtagswahl 2016 lag das tag von Nordrhein-Westfalen wegen zahlreicher Über- baden-württembergische Landesparlament mit 143 Sit- hangmandate der SPD und der damit erforderlichen zen um fast 20 Prozent über seiner regulären Größe. Vor Ausgleichsmandate von regulär 181 auf 237 Mandate ver- der Diskussion möglicher Reformen erläutert Joachim größert werden, also um mehr als 30 Prozent. Bei der Land- Behnke zunächst die Vorgehensweise bei der Sitzvertei- tagswahl 2016 in Baden-Württemberg lag das Parlament lung bei Landtagswahlen in Baden-Württemberg anhand mit einer Endgröße von 143 Sitzen um fast 20 Prozent über der Wahlergebnisse des Jahres 2016. Die aktuelle Sitz- der regulären Größe von 120. Die relative Vergrößerung verteilung belegt, dass der Anteil von Frauen im Landtag von Baden-Württemberg nur ca. 25 Prozent beträgt. Starre Listen und Quotierungen scheinen wenig geeig- n e t , u m d i e s e s P r o b l e m z u l ö s e n . J o a c h i m B e h n k e e r ö r t e r t abschließend den von ihm favorisierten Lösungsvor- schlag „BaWü-Plus“. Dieser Lösungsvorschlag würde das bestehende Wahlsystem in seinen Grundzügen beibe- halten, gleichzeitig durch die Abschaffung der Direkt- mandate eine Vergrößerung des Landtags unterbinden und zudem ein effizientes Verfahren zur Förderung der Repräsentation von Frauen im Landtag von Baden-Würt- temberg beinhalten.

Einleitung

Mit der Verabschiedung des neuen Bundeswahlgesetzes im Jahr 20131 wurde als wesentliche Änderung eingefügt, dass Proporzverzerrungen, die im Verlauf des Mandats- verteilungsprozesses auftreten, durch Ausgleichsmandate wieder korrigiert werden. Bei der letzten Bundestagswahl 2017 kam es so durch den Ausgleich von Überhangmanda- ten zu einer Vergrößerung von 598 auf 709 Sitze. Diese Vergrößerung um mehr als ein Sechstel gegenüber der Normgröße wurde übereinstimmend in der Öffentlichkeit, Wissenschaft und Politik als nicht akzeptabel und eine diesbezügliche Reform daher als dringend notwendig an- gesehen. Das neue Wahlgesetz, das mit einer Mehrheit der Großen Koalition am 8. Oktober 2020 verabschiedet worden ist, wird nach ganz überwiegender Meinung der Experten nicht in der Lage sein, eine effektive Reduzierung des Bundestags bzw. eine Rückführung auf seine Normal- größe zu bewerkstelligen. Auch wenn die Reform auf der Bundesebene damit vorläu- Blick in den Plenarsaal des baden-württembergischen Land- fig gescheitert betrachtet werden muss, so ist diese De- tags. Bei der Landtagswahl 2016 lag das Parlament mit einer batte aber auch von großer Bedeutung für eine Diskussion Endgröße von 143 Sitzen um fast 20 Prozent über der regu- über Reformen auf der Ebene der Länderwahlsysteme. lären Größe von 120 Sitzen. Die relative Größe war damit Denn der auf Bundesebene erst 2013 eingeführte Aus- sogar etwas stärker als die 2017 auf der Ebene des Bundes. gleich für Überhangmandate ist auf der Länderebene Es besteht also dringender Reformbedarf. picture alliance/dpa

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 285285 330.11.200.11.20 08:4308:43 Tabelle 1: Gesamtstimmenzahlen der Parteien und reguläre Sitzzuteilung

Grüne CDU AfD SPD FDP Summe Stimmen 1.623.107 1.447.462 809.564 679.727 445.489 5.005.358 Joachim Behnke Joachim Anteil Stimmen 32,4 28,9 16,2 13,6 8,9 100 Sitzanzahl nach Proporz 39 35 19 16 11 120 Quelle: Eigene Darstellung, Joachim Behnke

war damit sogar etwas stärker als die 2017 auf der Ebene Wahlkreisen erzielt haben, in eine Rangfolge gebracht des Bundes. werden. Den ersten Platz auf der Liste erhält also der Ab- Auch in Ländern wie Nordrhein-Westfalen und Baden- geordnete der betreffenden Partei mit dem höchsten Württemberg besteht also dringender Reformbedarf. Ne- Stimm an teil in seinem Wahlkreis, den zweiten Sitz der mit ben der Vergrößerung der Parlamente ist dabei in den letz- dem zweithöchsten Stimmanteil usw. Die CDU erhält z. B. ten Jahren auch der Aspekt der angemessenen Repräsen- ihrem Stimmanteil entsprechend 13 Mandate im Regie- tation von Frauen in den Fokus solcher Reformdebatten rungsbezirk Stuttgart. Da sie dort 8 Direktmandate ge- gerückt. winnt, verbleiben noch 5 Mandate, die entsprechend der impliziten Liste an die fünf Kandidaten der CDU mit den relativ besten Stimmergebnissen in ihren Wahlkreisen ver- Der Mechanismus der Sitzzuteilung teilt werden. Hat eine Partei in einem Regierungsbezirk mehr Direktmandate gewonnen, als ihr dort nach ihrem Im Folgenden soll die sehr spezifische Vorgehensweise bei Stimmenanteil zustehen würden, dann kommt es zu Über- der Sitzverteilung bei Landtagswahlen in Baden-Württem- hangmandaten, da die Direktmandate den Gewinnern der berg anhand des konkreten Ergebnisses der Landtagswahl relativen Mehrheit garantiert sind. 2016 erläutert werden. Das Wahlsystem von Baden-Würt- Die Grünen erzielten z. B. 4 Überhangmandate in Stutt- temberg entspricht dem Typus der personalisierten Ver- gart, eines in Freiburg und 3 in Karlsruhe. Überhangman- hältniswahl, bei dem die Einhaltung des Interparteienpro- date werden nun auf der Ebene der Regierungsbezirke porzes strikt gewährleistet ist und die Personenwahlkom- ausgeglichen. Dazu wird die Anzahl der insgesamt im Re- ponente lediglich eine Rolle für die Besetzung der Mandate gierungsbezirk vergebenen Mandate solange sukzessive besitzt. erhöht, bis sämtliche Direktmandate der Überhangspartei Jeder Wähler/jede Wählerin hat in Baden-Württemberg durch ihren Stimmenanteil im Regierungsbezirk abgedeckt eine einzige Stimme. Diese gibt er/sie einem der Kandida- sind. Die Mandatszahl von Stuttgart z. B. wird – ausge- ten/Kandidatinnen in seinem Wahlkreis. Das Landesge- hend von der Startzahl 45 – bis auf 56 erhöht, weil dann biet ist in insgesamt 70 solcher Wahlkreise unterteilt. Für die Grünen entsprechend ihrem Stimmenanteil in Stuttgart die proportionale Sitzzuteilung werden zuerst die Stimmen dort einen Anspruch auf 18 Mandate hätten. Die Sitzzahl, aller zuteilungsberechtigten Parteien über alle 70 Wahl- die den Parteien aufgrund der erhöhten Gesamtsitzzahl kreise aufaddiert. Zuteilungsberechtigt sind all diejenigen proportional zu ihren Stimmen zusteht, ist in Tabelle 2 mit Parteien, die mindestens 5 Prozent aller abgegebenen PMnA (Proporzmandate nach Ausgleich) bezeichnet. Da- Stimmen erhalten haben. 2016 waren dies die Parteien bei fallen im Regierungsbezirk Stuttgart aufgrund der Er- GRÜNE, CDU, SPD, AfD und FDP. Die reguläre Sitzzahl des höhung der Gesamtsitzzahl 3 Ausgleichsmandate für die Landtags beträgt 120. Nach dem Verfahren Sainte-Laguё CDU, 2 für die AfD und jeweils eines für die SPD und die wird nun ermittelt, wie viele Sitze jeder Partei landesweit FDP an. Insgesamt kommt es zu 8 Überhangmandaten der – ausgehend von der Normgröße von 120 Sitzen – propor- Grünen, die durch 15 Ausgleichsmandate für die anderen tional zu ihrer Stimmenzahl zustehen würden. Mit 32,4 Pro- Parteien kompensiert werden. Mandate, die im Zuge des zent aller verrechneten Stimmen hätten z. B. die Grünen Proporzverfahrens verteilt werden, die also keine Direkt- einen Anspruch auf 39 Sitze usw. (vgl. Tabelle 1). mandate sind, werden als Zweitmandate bezeichnet. Ins- Diese Sitzkontingente der Parteien werden nun auf die Re- gesamt kommt man nach dem Ausgleich auf eine Endgröße gierungsbezirke entsprechend der dort von der jeweiligen des Landtags von 143 Mandaten. Partei erzielten Stimmen verteilt. Von den 39 Mandaten der Grünen entfallen z. B. jeweils 9 Mandate auf Freiburg und Karlsruhe, 14 auf Stuttgart und 7 auf Tübingen. Die Die Vergrößerung des Landtags als Folge der entsprechenden Zahlen für diese Proporzmandate (PM) Veränderung des Parteiensystems sind in Tabelle 2 aufgeführt. Von dem Sitzkontingent einer Partei in einem Regierungs- Wahlen sind soziale Ereignisse, die die Akkumulation vie- bezirk werden nun die von ihr errungenen Direktmandate ler einzelner, individueller Handlungen darstellen, und da- (DM) abgezogen, die in Baden-Württemberg Erstmandate her mit einem großen Maß an Unsicherheit versehen sind. genannt werden. Direktmandate werden durch eine rela- Wir können daher in der Regel nicht sagen, dass es eine tive Mehrheit in den Wahlkreisen gewonnen. Die Man- bestimmte Eigenschaft eines Wahlsystems gibt, die sich date, die einer Partei nach Abzug der Direktmandate ver- unter allen Umständen immer negativ auswirken wird, son- bleiben, werden nun entsprechend einer impliziten „Liste“ dern lediglich, dass es Eigenschaften gibt, die unter be- verteilt. Diese implizite Liste wird gebildet, indem die Kan- stimmten Umständen, die mit einer bestimmten Wahr- didaten, die nicht schon ein Direktmandat gewonnen ha- scheinlichkeit auftreten, negativ zu bewertende Konse- ben, nach dem relativen Stimmenanteil, den sie in ihren quenzen nach sich ziehen. Anstatt von Fehlern oder

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 286286 330.11.200.11.20 08:4308:43 Mängeln des Systems an sich zu sprechen, die den Ein- REFORMPERSPEKTIVEN FÜR DAS WAHLSYSTEM druck einer gewissen Unvermeidbarkeit erwecken, ist es VON BADEN-WÜRTTEMBERG daher sinnvoller, von einer Anfälligkeit des Systems für be- stimmte unerwünschte Effekte oder seine Verwundbarkeit durch bestimmte Faktoren zu sprechen. Dabei sollte die Dabei ist mit den zusätzlichen 23 Sitzen bei der Landtags- Wahrscheinlichkeit, mit der diese Verwundbarkeit zutage wahl 2016 in Baden-Württemberg das Ende der Fahnen- tritt, „realistisch“ sein, d. h. hoch genug, dass es ein Gebot stange noch keineswegs erreicht. Zu Überhangmandaten vernünftiger Klugheit ist, sich dagegen zu wappnen. Die in größerer Zahl kommt es dann, wenn die stärkste Partei Wahrscheinlichkeit, dass es auch in Zukunft aufgrund der einerseits fast alle Direktmandate gewinnt, die Direktman- Veränderungen des Parteiensystems immer öfter zu immer date aber einen deutlich größeren Anteil der Mandate mehr Überhangmandaten kommen wird, ist auf jeden Fall ausmachen als der, auf den die Partei entsprechend ihres hinreichend groß, um Untätigkeit als fahrlässig erscheinen Stimmenanteils Anspruch hätte. Genau diese Situation zu lassen. aber wird durch die langfristige Veränderung des Partei- Während beim Bundestag die Größe auch in Bezug auf ensystems immer wahrscheinlicher. Der wichtigste Trend die womöglich eingeschränkte Funktionsfähigkeit als Prob- besteht dabei im stetigen Abschmelzen der ehemaligen lem angesehen wird, ist es bei einem Landtag von der sogenannten Volksparteien über die letzten Jahrzehnte Größe wie in Baden-Württemberg vor allem die mit einer hinweg3, die von ihren früheren Ergebnissen um 50 Prozent Vergrößerung einhergehende Kostensteigerung, die als oder mehr inzwischen weit entfernt sind. Gleichzeitig höchst unerwünschter Effekt gesehen werden muss. Denn nahm die Anzahl der Parteien aufgrund des Hinzutretens ein Landtag, der einen höheren Preis beansprucht als not- neuer Parteien in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zu. wendig, um seine essentiellen Aufgaben zu 100 Prozent zu Dies ermöglicht die für das Entstehen von Überhangman- erfüllen, ist daher teurer als sich rechtfertigen lässt, und die daten kritische Konstellation, dass eine „große“ Partei, die unnötigen Zusatzkosten stellen eine Verschwendung von gar nicht mehr so groß ist, dennoch alle oder fast alle Di- Steuermitteln dar. Die Bürger und Bürgerinnen, die mit ih- rektmandate gewinnt, weil sie immer noch deutlich vor al- ren Ressourcen in Form von Steuern den Staat überhaupt len anderen Parteien liegt. Dabei gilt die Faustregel, dass erst finanzieren, müssen aber darauf vertrauen können, die stärkste Partei annähernd alle Direktmandate gewin- dass mit ihren Mitteln verantwortungsvoll umgegangen nen kann, wenn sie mindestens zehn Prozentpunkte vor den wird. Untätigkeit der Politik in dieser Frage kann daher anderen Parteien liegt4. auch die Politikverdrossenheit fördern, weil bei den Bür- Für die Abschätzung der Risiken, auf die man das System gern der Eindruck entstehen könnte, dass den Abgeordne- aufgrund der durch das Parteiensystem geprägten Um- ten „das eigene Hemd … wichtiger sei als der Gemein- stände vernünftigerweise einstellen sollte, sollte man auf wohlrock“, wie es z. B. im September 2019 von mehr als 100 „extreme“ Ergebnisse zurückgreifen. Diese sollten aber wie- Staatsrechtlern in einem offenen Brief zum Ausdruck ge- derum nicht so extrem sein, dass sie von vornherein ausge- bracht wurde2. Deren „Sorge um das Ansehen der Demo- schlossen scheinen. Solche Referenzergebnisse für die Mo- kratie“ bezog sich zwar auf die Reformdebatte zum Bun- dellierung des Wahlsystems sind also nicht unbedingt zu destagswahlrecht, das Argument gilt aber genauso für erwarten, sie sind aber so realistisch, dass man mit ihnen Landeswahlsysteme. rechnen muss bzw. rechnen sollte, wenn man vernünftig ist.

Tabelle 2: Verteilung der Sitze und Stimmen nach Parteien und Regierungsbezirken

Freiburg Karlsruhe Stuttgart Tübingen Summe Stimmen 361.087 377.566 590.131 294.323 1.623.107 PM 9 9 14 7 39 Grüne DM 10 (1 ÜM) 12 (3 ÜM) 18 (4 ÜM) 6 46 PMnA 10 12 18 7 47 Stimmen 299.631 348.271 525.399 274.161 1.447.462 PM 7 8 13 7 35 CDU DM 4 5 8 5 22 PMnA 8 (1 A) 11 (3 A ) 16 (3 A) 7 42 Stimmen 141.460 230.983 305.676 130.445 809.564 PM 3 6 7 3 19 AfD DM 0 2 0 0 2 PMnA 4 (1 A) 7 (1 A) 9 (2 A) 3 23 Stimmen 132.025 184.564 267.966 95.172 679.727 PM 3 4 7 2 16 SPD DM 0 0 0 0 0 PMnA 3 6 (2 A) 8 (1 A) 2 19 Stimmen 83.151 111.14 3 177.578 73.626 445.498 PM 2 3 4 2 11 FDP DM 0 0 0 0 0 PMnA 2 3 5 ( 1 A) 2 12 Quelle: Eigene Darstellung, Joachim Behnke

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 287287 330.11.200.11.20 08:4308:43 Nach der Bekanntgabe von Winfried Kretschmann als Spitzenkandidat für die Wahl von 2021 z. B. stiegen im September 2019 die Umfragewerte der Grünen kurzzeitig auf 38 Prozent, während die CDU weit abgeschlagen bei

Joachim Behnke Joachim 26 Prozent landete. Bei einem solchen Vorsprung ist, wie bereits erwähnt, davon auszugehen, dass die Grünen an- nähernd alle Direktmandate gewinnen würden, also bis zu 70 Mandate. Bei ca. 40 Prozent der verrechneten Stimmen (dieser Anteil liegt wegen der Stimmen für Parteien, die den Einzug nicht schaffen, immer über dem Anteil der abgege- benen Wählerstimmen) hätten die Grünen aber nur einen Sitzanspruch auf ca. 48 Sitze. Es käme zu einer Überreprä- sentation um ca. 45 Prozent und zu einer Endgröße des Par- laments aufgrund des Ausgleichs von ungefähr 175 Sitzen. Noch problematischer wäre eine Konstellation, die in ei- ner Umfrage im Februar 2019 von Forsa auftrat, nämlich 33 Prozent für die Grünen und 23 Prozent für die CDU. Unter solchen Umständen müsste der Landtag um zwei Drittel seiner Normgröße auf 200 Sitze vergrößert werden. Im Wesentlichen kommen zwei Gegenmaßnahmen in Frage, um eine solche Vergrößerung zu verhindern, näm- lich die Kappung der Direktmandate oder die Reduktion der Anzahl der Wahlkreise. Eine Kappung würde bedeu- ten, dass man maximal nur so viele Direktmandate an eine Partei vergibt, wie dieser Partei aufgrund ihrer Stimmen- zahl bei der regulären Ausgangsgröße zustehen. Dieser Weg ist in letzter Zeit z. B. für die Reform des Bundestags- wahlsystems vor allem von Hans Meyer vorgeschlagen worden5. Um die Regelgröße des Landtags durch eine Re- duktion der Wahlkreise annähernd garantieren zu können, müsste die Anzahl der Wahlkreis auf ca. 35 Prozent der Normgröße oder nur wenig mehr reduziert werden, also auf eine Größenordnung zwischen 42 und 45. Mit bisher Der wesentliche Schwachpunkt der Argumentation ist aber 70 Direktmandaten und damit mit einem Anteil von ca. 60 ein systemischer. Es ist richtig, dass Parteien wie die CDU Prozent der Regelgröße liegt der Anteil der Direktmandate in den Wahlkreisen besonders häufig Männer nominieren. hingegen sogar noch über dem üblichen von 50 Prozent, er Ein Ausbalancieren der Nominierungen ist allerdings, da ist in jedem Fall viel zu hoch. in den Wahlkreisen ja nur eine Person aufgestellt wird, gar nicht möglich. So wird in der Literatur die häufig bessere Repräsentation von Frauen in Verhältniswahlsystemen als Die Repräsentation von Frauen und das Wahlsystem in Mehrheitswahlsystemen damit erklärt6, dass Verhältnis- wahlsysteme mit Listen diese Form des „ticket-balancing“ Der Anteil von Frauen im Landtag von Baden-Württemberg eben zulassen. Die Schlussfolgerung, man könne daher nach der Wahl von 2016 beträgt lediglich ca. 25 Prozent, die Unterrepräsentation der Frauen durch Einführung von ohne Zweifel ein unrühmlicher Wert, mit dem sich Baden- Listen heilen, greift aber zu kurz, weil er die Komplexität Württemberg am Ende der diesbezüglichen Rangfolge in des Wahlsystems nicht berücksichtigt. Da z. B. die CDU üb- Deutschland befindet. Häufig wird hier ein Zusammen- licherweise einen Großteil ihrer Mandate in Form von Di- hang mit dem existierenden Wahlsystem gesehen. Insbe- rektmandaten erhält, hätte die Einführung von Listen bei ihr sondere die Grünen forcierten daher in der letzten Legisla- keinerlei Effekt auf die Unterrepräsentation von Frauen, da turperiode die Einführung von starren Listen wie beim Sys- die Listen ja gar nicht erst zum Einsatz kommen. Von den 38 tem der Bundestagswahlen. Dabei wird angenommen, CDU-Bundestagsabgeordneten aus Baden-Württemberg, dass dadurch der Frauenanteil steigen würde, weil den die alle über ein Direktmandat einzogen, sind z. B. nur vier Parteien so eine Quotierung der Listenplätze nach Ge- Frauen. Nach der Landtagswahl 2019 in Thüringen sank schlecht ermöglicht würde. dort der Frauenanteil von zuvor 42 Prozent auf 31 Prozent D as A rgume nt, das s de r F raue nante il durch s tar re Lis te n f ür unter anderem darum, weil nur noch zwei der 21 CDU- die Zuteilung der Zweitmandate erhöht werden könnte, ist Mandate von Frauen besetzt wurden. Auch hier waren alle allerdings nicht schlüssig und entspricht nicht den empiri- CDU-Mandate Direktmandate7. Will man also tatsächlich schen Beobachtungen. Tatsächlich unterscheiden sich den Frauenanteil effektiv erhöhen, muss man auch und vor nämlich die Parteien dramatisch hinsichtlich ihres Frauen- allem an den Wahlkreismandaten ansetzen bzw. dafür anteils. Während dieser bei den Grünen bei knapp unter sorgen, dass es auch hier schon zu einer Art von Quotie- 50 Prozent liegt, beträgt er bei der CDU lediglich 17 Pro- rung bei dem entscheidenden Nominierungsprozess kom- zent, bei der SPD 11 Prozent, bei der FDP 8 Prozent und bei men kann, indem man z. B. jeder Partei erlaubt, hier zwei der AfD 13 Prozent. Diese Unterschiede können logischer- Kandidaten zu nominieren. Grundsätzlich könnte man so weise nicht im Wahlsystem begründet sein, da dies für alle etwas auch gesetzlich erzwingen, allerdings ist es weiter- Parteien dasselbe ist. hin unklar, ob eine gesetzlich vorgeschriebene Quote nicht

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 288288 330.11.200.11.20 08:4308:43 REFORMPERSPEKTIVEN FÜR DAS WAHLSYSTEM VON BADEN-WÜRTTEMBERG

stimmensystem hätte in punkto Frauenrepräsentation kei- nerlei Effekt, würde aber gleichzeitig Möglichkeiten des Stimmensplittings eröffnen. Durch Stimmensplitting könn- ten womöglich sogar weitere Überhangmandate entste- hen. Ganz grundsätzlich problematisch ist überdies, dass im Zweistimmensystem der Wähler/die Wählerin mit sei- ner/ihrer Erststimme Einfluss auf die personelle Besetzung Blumen stehen am 8. März eines Wahlkreismandats auszuüben versucht, an dessen 2018 vor Abgeordneten des „Finanzierung“ durch eine entsprechende Anzahl von Landtags. Die Landtagspräsi- Zweitstimmen er/sie sich nicht beteiligt. Mit einem Zwei- dentin Muhterem Aras (Bünd- stimmensystem scheint daher nichts gewonnen und gute nis 90/Die Grünen) hat zum Gründe sprechen für die Beibehaltung des Einstimmensys- Internationalen Frauentag Blu- tems9. men an die weiblichen Abge- ordneten verteilt und einen höheren Frauenanteil im Parla- Lösungsvorschlag: BaWü-Plus ment angemahnt. Nach der Wahl von 2016 beträgt der Im Folgenden soll nun ein Lösungsvorschlag für die ge- Anteil von Frauen im Landtag nannten Probleme vorgestellt werden10. Das wichtigste Ele- lediglich knapp 25 Prozent, ein ment dieses Vorschlags ist die Abschaffung der Direktman- unrühmlicher Wert, mit dem date, d. h. der garantierten Sitze für Wahlkreiskandidaten, sich Baden-Württemberg am die eine relative Mehrheit im Wahlkreis erhalten. Tatsäch- Ende der diesbezüglichen lich ist der Mythos der Direktmandate, bei diesen handle Rangfolge in Deutschland es sich um besonders eng mit dem Wahlkreis verbundene befindet. Kandidaten, nicht aufrechtzuerhalten. Je weiter der Anteil picture alliance/dpa der Stimmen, mit denen der Wahlkreis gewonnen wird, un- ter 50 Prozent sinkt, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass der Sieger der „falsche“ Sieger ist und zwar in dem verfassungsrechtlich problematisch sein könnte, wie die Sinn, dass es eine andere Kandidatin gegeben hätte, die kürzlichen Urteile der Verfassungsgerichte von Thüringen ihm gegenüber in einer Stichwahl von einer deutlichen und Brandenburg zu einer solchen Quotierung gezeigt ha- Mehrheit vorgezogen worden wäre. Das Problem bei der ben.8 Sinnvoll ist daher vielmehr, einen Spielraum für frei- relativen Mehrheitswahl besteht nämlich darin, dass sich willige Quotierungen zu eröffnen, dessen Nichtnutzung Parteien, die sich untereinander relativ nahestehen, ge- dann einen entsprechenden Rechtfertigungsdruck eröff- genseitig die Stimmen wegnehmen. Im schlimmsten Fall ge- nen würde. Die simple Ausrede, man hätte ja nur eine Per- winnt dann sogar ein Kandidat, der in jedem paarweisen son nominieren können und diese sei halt nun zufällig ein Vergleich mit anderen Kandidaten verloren hätte. Dieser Mann, jedenfalls wäre dann nicht mehr möglich. Kandidat ist offensichtlich derjenige, der es am wenigsten Starre Listen auf der Ebene des Landes oder der Regie- verdient hät te, die Wahl zu gewinnen. Nach dem französi- rungsbezirke würden allerdings nicht nur das Problem der schen Mathematiker des 18. Jahrhunderts wird er als mangelnden Repräsentation von Frauen nicht lösen, son- „Condorcet-Verlierer“ bezeichnet11. Bei der Landtagswahl dern sie würden darüber hinaus das basisdemokratische 2016 in Baden-Württemberg zum Beispiel gewann die AfD Element des Wahlsystems von Baden-Württemberg be- zwei Direktmandate in Pforzheim und Mannheim, weil sie schädigen. Statt Nominierungen in den Wahlkreisen durch dort einen hauchdünnen Vorsprung vor den stärksten Kon- die Basis käme es zu zentralen Nominierungen bei Landes- kurrenten im Wahlkreis errang. Aber zusammen hatten parteitagen, die in der Regel sehr stark von der Parteifüh- Grüne, CDU, SPD und FDP dort das Dreifache an Stimmen rung gesteuert werden. Ein positiver Effekt von Listen be- der AfD. Es ist daher höchstwahrscheinlich, dass die AfD- steht andererseits darin, dass Parteien so sicherstellen Wahlkreisgewinner gegen jeden anderen Kandidaten können, dass wichtige Experten und Funktionsträger von verloren hätten, wenn sie gegen diesen im Duell angetre- ihnen in die Parlamente einziehen. Ein entsprechend maß- ten wären, weil zum Beispiel die SPD-Anhänger, wenn ihr voller Einsatz von Listen, der einerseits helfen würde, die eigener Kandidat nicht zur Verfügung stehen würde, in der Funktionsfähigkeit der Parteien zu gewährleisten, anderer- Regel ihre Stimme immer noch lieber einem Kandidaten der seits den basisdemokratischen Charakter der offenen, im- Grünen, der CDU oder der FDP geben würden als einem pliziten Listen nicht beschädigt, könnte daher einen guten der AfD. Es handelt sich daher bei den beiden AfD-Wahl- Mittelweg darstellen. kreisgewinnern mit höchster Wahrscheinlichkeit um Con- Listensysteme sind grundsätzlich problemlos mit Einstim- dorcet-Verlierer. menkonstruktionen kombinierbar, wie es z. B. auch 1949 Das System der relativen Mehrheit ist also höchst dysfunk- noch bei der Bundestagswahl der Fall war. Aus der Einfüh- tional, wenn es darum geht, den besten Repräsentanten rung eines (womöglich beschränkten) Listensystems zu des Wahlkreises zu finden. Auf die mit Hilfe dieses Systems schließen, dieses sei notwendig mit einem Zweistimmen- gewonnenen Direktmandate kann deshalb problemlos system verbunden, ist daher offenkundig falsch. Ein Zwei- verzichtet werden, ohne dass etwas Wichtiges verloren

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 289289 330.11.200.11.20 08:4308:43 geht. Denn wenn man gleichzeitig daran festhält, dass die ziten Liste relevante Stimmenanteil halbiert. Sogenannte Mandate in der Regel nach dem System der impliziten Liste „Platzhirsche“ können dann z. B. kein Interesse daran ha- ve rg e b e n we rd e n s o ll e n, d ann e r fo l gt d a d u rch e in e hinre i- ben zu versuchen, als einziger Kandidat von ihrer Partei chende und effektive Rückbindung der Kandidaten an ihre nominiert zu werden. Denn solange sie von ihrer Favoriten-

Joachim Behnke Joachim Wahlkreise, und das Personenwahlelement ist genauso rolle ausgehen, würde dies – im Vergleich zu einer Situa- verwirklicht wie bei der Wahl aufgrund von relativen tion, in der zwei Personen nominiert werden – ihre Chan- Mehrheiten, führt aber zu konsistenteren Ergebnissen. cen vermindern. Auch für die Partei ist es besser, zwei Kan- Als Ergänzung könnte zur Sicherung wichtiger Funktions- didaten aufzustellen, denn da sie ihre Stimmen nur über stellen für die Parteien auch vorgesehen werden, dass ein die Kandidatenstimmen sammeln kann, profitiert sie von Sechstel der Sitze, also 20 der 120, proportional zu den einer größeren Diversität bei ihren Kandidatinnen bzw. landesweiten Stimmergebnissen der Parteien auf landes- Kandidaten, da sie so für mehr Wähler und Wählerinnen weite Listen verteilt werden, die die Parteien für ihre unver- attraktiv sein kann. Insbesondere dürfte es für Parteien in zichtbaren Funktionsträger erstellen. Alle übrigen 100 der Regel vorteilhaft sein, sowohl eine Frau als auch einen Mandate aber würden nach dem demokratietheoretisch Mann aufzustellen. Würden sie auf diese Möglichkeit ver- überlegenen Verfahren der impliziten Liste vergeben. Da- zichten, entstünde darüber hinaus – wie schon erwähnt – mit käme es zu keinerlei Überhangmandaten mehr und das in jedem Fall ein starker Rechtfertigungsdruck. Problem einer eventuellen Vergrößerung aufgrund von Der präsentierte Lösungsvorschlag würde das bestehende Überhang- und Ausgleichsmandaten könnte gar nicht System in seinen Grundzügen beibehalten, gleichzeitig mehr entstehen. durch die Abschaffung der Direktmandate eine Vergröße- Um die Frauenrepräsentation zu erhöhen, sollte zusätzlich rung des Landtags über die Normgröße hinaus unterbin- vorgesehen werden, dass eine Partei in einem Wahlkreis den und zudem ein effizientes Verfahren zur Förderung der zwei Kandidatinnen bzw. Kandidaten aufstellen darf. Ob Repräsentation von Frauen im Landtag beinhalten. eine Partei davon Gebrauch machen möchte, bleibt ihr selbst überlassen, auch, ob sie diese Plätze quotiert an eine Frau und einen Mann vergeben möchte. Damit können ANMERKUNGEN sämtliche verfassungsrechtliche Bedenken von vornherein 1 Zur Entstehungsgeschichte des neuen Bundeswahlgesetzes vgl. Niels ausgehebelt werden. Es lässt sich aber dafür sorgen, dass Dehmel/Eckhard Jesse (2013): Das neue Wahlgesetz zur Bundestagswahl 2013. Eine Reform der Reform der Reform ist unvermeidlich. In: Zeitschrift sehr starke Anreize für die Parteien entstehen, als Kandi- für Parlamentsfragen, Heft 1/2013, S. 201–213; Florian Grotz (2014): Hap- daten eine Frau und einen Mann aufzustellen. Vorausset- py End oder endloses Drama? Die Reform des Bundestagswahlsystems. In: zung dafür ist, dass alle Wähler und Wählerinnen weiter- Eckhard Jesse/Roland Sturm (Hrsg.): Bilanz der Bundestagswahl 2013. Voraussetzungen, Ergebnisse, Folgen. Baden-Baden, S. 113–140. hin nur eine Stimme haben und man folgende Vorkehrung 2 URL: https://www.tagesschau.de/inland/bundestag-verkleine- trifft: Tritt in einem Wahlkreis nur eine Kandidatin bzw. nur rung-101.html [13.07.2020]. ein Kandidat an, dann wird der für die Erstellung der impli- 3 Peter Lösche (2009): Ende der Volksparteien. In: Aus Politik und Zeit- geschichte, Heft 51/2009, S. 6–12. 4 Joachim Behnke (2004): Parteienstruktur und Überhangmandate. In: Frank Brettschneider/Jan van Deth/Edeltraud Roller (Hrsg.): Die Bundes- tagswahl 2002. Wiesbaden, S. 327–352. 5 Hans Meyer (2018): Welche Medizin empfiehlt sich gegen einen adi- pösen Bundestag? In: Archiv des öffentlichen Rechts, Heft 4/2018, S. 521– 553. 6 Vgl. u. a. Pippa Norris (2006): The Impact of Electoral Reform on Women’s Representation. In: Acta Politica 41 (2006), S. 197–213. 7 URL: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/frauen-im-thuerin- ger-landtag-ein-viertel-weniger-als-vorher-a-1293778.html [02.08.2020]. 8 URL: https://rsw.beck.de/aktuell/daily/meldung/detail/lverfgh-thue- ringen-kippt-quotenregel-fuer-landtagswahlen [02.08.2020]. 9 Vgl. dazu auch Frank Decker (2017): Reformen der Stimmgebung. Rück- UNSER AUTOR UNSER kehr zum Einstimmensystem von 1949 und Einführung einer Ersatzstimme. In: Joachim Behnke/Frank Decker/Florian Grotz/Robert Vehrkamp/Philipp Weinmann (Hrsg.): Reform des Bundestagswahlsystems. Bewertungskrite- rien und Reformoptionen. Gütersloh, S. 97–136. Prof. Dr. Joachim Behnke studierte Kommunikationswissenschaft, 10 Dieser Vorschlag wurde von mir unter dem Begriff „BaWü-Plus“ in die Politikwissenschaft, Philosophie und Volkswirtschaft an der LMU Diskussion der Reform des Bundestagswahlrechts eingebracht. Vgl. Joa- chim Behnke (2019): Einfach, fair, verständlich und effizient – personali- München. Anschließend war er als wissenschaftlicher Assistent an sierte Verhältniswahl mit einer Stimme, ohne Direktmandate und einem der Universität Bamberg tätig, wo er auch seine Promotion und Bundestag der Regelgröße. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft Habilitation abschloss. Seit 2008 ist er Inhaber des Lehrstuhls für 3/2019, S. 630–654. Die Grundidee der Streichung der Direktmandate und Beschränkung des Personenwahlelements auf die implizite Liste findet Politikwissenschaft an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen. sich allerdings schon in einer früheren Diskussion zu einer Reform des Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Wahlen und Wahlsys- Wahlsystems von Baden-Württemberg. Vgl. Joachim Behnke (2013): Re- teme, moderne Politische Theorie, empirische Methoden und formperspektiven für das Wahlsystem von Baden-Württemberg. In: Uwe Wagschal/Ulrich Eith/Michael Wehner (Hrsg.): Der historische Macht- Spieltheorie. wechsel: Grün-Rot in Baden-Württemberg. Baden-Baden, S. 59–76. 11 Michael Dummett (1997): Principles of Electoral Reform. Oxford.

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 290290 330.11.200.11.20 08:4308:43 AUS UNSERER ARBEIT

Karl-Ulrich Templ geht in den Ruhestand

Die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (LpB) verabschiedete am 31. August 2020 ihren stellvertretenden Direktor. Wenn es ein Gesicht gibt, das die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (LpB) im vergangenen Vierteljahrhundert geprägt hat, dann ist es das von Karl-Ulrich Templ. 26 Jahre lang hat er als stellvertretender Direktor und Abteilungsleiter die Arbeit der LpB entschei- dend mitgestaltet. Jetzt geht er in den Ruhestand.

Kar l - U lr ich Te mp l w u rd e 1952 in Cal w ge b o re n . E r s t u di e r te G e r manis t ik , G e schichte und Pä d a go gik an d e r Universität Tübingen. Am 1. August 1994 wurde der damalige Studienrat vom Stuttgarter Hölderlin-Gymna- sium als neuer stellvertretender Direktor zur LpB versetzt. In den folgenden Jahren wurde er zunächst zum Oberstudienrat (1995), dann zum Studiendirektor (1997) und schließlich zum Leitenden Regierungsschuldi- rektor (1999) ernannt. Seit 20 05 übernimmt er nebenberuflich Lehraufträge zur „Fachdidak- tik der politischen Bildung“ am Institut für Poli- tikwissenschaft der Universität Tübingen. Als langjähriger Leiter der Abteilung „Medien und Methoden“ hat Karl-Ulrich Templ insbe- sondere programmatische Schwerpunkte im O nli n e - B e re ich g e s e t z t. B e re i t s i n d e n 19 9 0 e r Jahren baute er den Fachbereich „Medien“ auf und führte digitale Angebote der politi- schen Bildungsarbeit ein. Mit seiner innovati- ven Konzeption für E-Learning-Kurse legte er frühzeitig Grundlagen für aktuelle Bildungs- angebote der LpB. Auch die Bundesarbeits- gemeinschaft „Politische Bildung Online“, in der die Zentralen für politische Bildung in Deutschland seit dem Jahr 2000 regelmäßig zusammenkommen, geht auf die Initiative von Karl-Ulrich Templ zurück. Er prägte zahlreiche Konzeptionen und Kam- pagnen der LpB – von der Präventionsarbeit gegen Rechtsextremismus, gruppenbezo- gene Menschenfeindlichkeit und Islamismus über ein Qualifizierungsprojekt für bürger- schaftlich Engagierte in der Flüchtlingsarbeit gemeinsam mit dem Sozial- und dem Staatsministerium bis hin zur Initiative und Leitung der Erstwählerkampagne „Wählen ab 16“ zur Kommunalwahl 2014. Auch die Lan- desnetzwerke „Inklusive Politische Bildung“ und „Politische Bildung für und mit Menschen in prekären Le- benslagen“ initiierte er. „Die LpB hat Karl-Ulrich Templ viel zu verdanken. Sein Engagement für die Demokratie, seine Schaffenskraft und Innovationsfreude sind für uns beispielhaft“, sagt LpB-Direktorin Sibylle Thelen. „Karl-Ulrich Templ stand und steht mit seiner ganzen Persönlichkeit für gelebte Demokratie“, ergänzt LpB-Direktor Lothar Frick. „So konnte und kann er viele dafür begeistern, sich politisch einzubringen. Er verkörpert die Anliegen und Ziele der politischen Bildung wie nur wenige andere.“ Die Leitung der Abteilung „Medien und Methoden“ übernimmt ab 1. September der bisherige Leiter der LpB- Abteilung „Haus auf der Alb“, Professor Dr. Reinhold Weber. Heiko Buczinski

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Corona – Analysen, Skizzen und Perspektiven der Universität Ulm, fokussiert bereits in der Überschrift des Essays die Wichtigkeit des Abstandhaltens: „Abstand hal- Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Hrsg.): ten in Zeiten bedrohlicher Seuchen – Knapp 2500 Jahre Corona-Stories. Pandemische Einwürfe von Kai Brodersen u. a. alte Erkenntnis“ (S. 19ff.). Gesellschaften mit mittelalterli- Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2020. chen Weltbildern interpretierten Seuchen gänzlich anders 222 Seiten, 12,00 Euro. als säkularisierte Gesellschaften: Glaube und Bußvorstel- lungen sowie apokalyptische Deutungen dominierten. Ni- Komplexe Gesellschaften werden häufig mit (großen) Un- kolas Jaspert, Professor für Mittelalterliche Geschichte in sicherheiten konfrontiert. Diese treten aber in der Regel un- Heidelberg, beschreibt dieses Weltbild, mahnt aber an, gleichzeitig oder lokal auf und werden früher oder später dass in Wirtschaft und Politik nach der Corona-Pandemie gemeistert. Die Corona-Krise hingegen löste existenzielle – so sie denn einzudämmen ist – ein Umdenken, d. h. eine Unsicherheit global und gleichzeitig aus. moderne und abgewandelte Form der Buße geboten sei. Die Corona-Pandemie ist nicht menschengemacht – an- Pierre Monnet, Mediävist und einer der bedeutendsten ders als manche Verschwörungstheorien suggerieren. Die französischen Historiker, macht mit Blick auf die Pest 1348 rasante Ausbreitung hat mit der globalen Vernetzung zu die immense Bedeutung „systemrelevanter Personen“ deut- tun. Durch den Mythos des ungebremsten Wirtschafts- lich. Die Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts erfasste alle wachstums, durch weltweites Reisen und das immer engere sozialen Schichten und alle Altersgruppen. Manche Städte Zusammenrücken von acht Milliarden Menschen haben und Provinzen verzeichneten Todesraten von bis zu 60 Pro- wir ideale Ausbreitungsbedingungen für das Coronavirus zent. Der allergrößte Teil der Kirche stellte sich damals den geschaffen. Wir merken, wie verletzlich moderne und kom- Herausforderungen und „eine sehr große Zahl an Mön- plexe Gesellschaften doch sind. Die Folgen der Pandemie chen, Nonnen, Mendikanten [Bettelorden, die als Seelsor- schlagen auf alle Lebensbereiche durch: Was macht die ger- und Predigergemeinschaften wirkten; S. F.], Diakonen Pandemie mit uns? Wie gehen wir mit Sorgen, Isolation und und Pfarrern hat ihr Leben im Dienst der dezimierten Ge- Ungewissheit um? Welche Auswirkungen zeitigt die Pan- sellschaft gelassen“ (S. 40). Angesichts der „Gottesstrafe“ demie für unsere Gesellschaft, unsere Demokratie, Wirt- wurden die Juden als angeblich Schuldige für das Aufkom- schaft und Arbeitswelt? men der Pest zu Sündenböcken erklärt. Sie wurden ver- Zu Beginn der Pandemie dominierten Virologen den Dis- folgt, ausgegrenzt und litten unter Pogromen. Sven Felix kurs. Corona und die Folgen können jedoch nicht allein von Kellerhof, Historiker, Journalist und Redakteur, schlussfol- Medizinern und Naturwissenschaftlern diskutiert werden. gert nach einem Vergleich der Corona-Krise mit der Spani- Daher ist es verdienstvoll, dass die Wissenschaftliche schen Grippe, dass in der aktuellen Medienwelt „Panikma- Buchgesellschaft Autorinnen und Autoren, knapp 30 an che und apokalyptische Szenarien in einem erschrecken- der Zahl, während des Lockdowns gebeten hat, Essays zur den Maß“ (S. 72) dominieren. Vielmehr sei es Aufgabe der Pandemie zu verfassen. Die Essays thematisieren histori- Medien, Fakten zu liefern, Kontroversen darzustellen, da- sche, politische, kritische Perspektiven und Reaktionen auf mit sich mündige Bürgerinnen und Bürger selbstständig ein die Ausnahmesituation. Entstanden ist – so das Vorwort – Urteil bilden können. Julia Ebner spricht in ihrem Beitrag auch „kein ‚normales‘ Buch, sondern ein Buch der Solidari- über Verschwörungstheorien, die sich schneller ausbreiten tät“ (S. 11) mit einem breiten Panorama geisteswissen- als das Virus, von einer beispiellosen „Infodemie“ (S. 184). schaftlicher Gedanken, Skizzen und Szenarien. Die Essays des zweiten Teils „…und Corona heute“ fragen Die Beiträge im ersten Teil konzentrieren sich auf die Ge- nach neuen Wegen und nach nachhaltigen Kurskorrektu- schichte der Pandemien – von der Zeit des Peleponnesi- ren. Der zweite Teil versammelt unterschiedliche Einschät- schen Krieges bis zur Spanischen Grippe im 20. Jahrhun- zungen der aktuellen Situation, kritische Einwürfe und kon- dert. Im Laufe der Geschichte haben sich immer wieder struktive Ausblicke. Étienne François, der renommierte fran- Krankheiten zu Epidemien ausgeweitet. Große Mängel in zösische Historiker und Mitherausgeber der „Deutschen der Hygiene, Unwissenheit über medizinische Zusammen- Erinnerungsorte“, schlägt einleitend die Brücke zum histori- hänge und die Machtlosigkeit der Mediziner, die den Seu- schen Teil des Buches, indem er Gemeinsamkeiten und Un- chen nicht beikommen konnten, waren u. a. Gründe für die terschiede zu historischen Pandemien herausstellt, gleich- Ausbreitung der Seuchen. All dies sind immer wiederkeh- zeitig aber angesichts von Grenzschließungen das Wie- rende Umstände, die den Seuchentod in historischen Zeiten deraufleben eines unterschwelligen Nationalismus und stets gegenwärtig sein ließen. Die Essays im ersten Teil des die Wahrung nationaler Interessen konstatiert (S. 92–121). Buches zeigen Reaktionen und Möglichkeiten des Um- Kersten Knipp, Politik-Redakteur, skizziert die „Erfindung“ gangs mit Seuchen und wollen helfen, die aktuelle Situation der Subjektivität, die sich „in immer neuen Schüben neu, angemessen (und ohne Hysterie) einzuordnen. Der erste mal grellerer, mal dezenterer Akzentuierung [erfindet]“ Teil „Pandemien einst …“ verdeutlicht, dass jede Gesell- (S. 138). Die Pandemie zeigt jedoch, „dass der Mensch, so schaft anders reagierte, anders mit den Heimsuchungen wie er sich bislang verstand, mitnichten der Herr im eige- umging und je unterschiedliche Konsequenzen zog. Hans- nen Hause ist“ (S. 129). Das Virus kennt keine „feinen Unter- Joachim Gehrke, Historiker aus Freiburg, zeigt in seinem schiede“ (Pierre Bourdieu) und ignoriert gänzlich die müh- Beitrag über die Auswirkungen der bis heute rätselhaften sam gepflegte Subjektivität und Singularität. Sabine Leut- attischen Seuche, dass es trotz beträchtlicher Opferzahlen heusser-Schnarrenberger, ehemalige Bundesministerin Kraft und Durchhaltevermögen – in zeitgemäßen Worten der Justiz, erinnert u. a. mit Blick auf die autokratischen Re- „Resilienz“ – gegeben haben muss. Florian Steger, Direktor a k t i o n e n U n g a r n s bz w. V i k t o r O r b a n s d a r a n , d a s s „ G r u n d - des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin rechte keinen Ausschaltknopf in Krisenzeiten“ (S. 149) ha-

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ben. Nach der Krise müssen alle Sonder- und Ausnahmere- ter waren eher beschämend und wurden den hehren Argu- gelungen – so ihr entschiedenes Plädoyer – wieder der menten im März und April 2020 in keiner Weise gerecht!) Vergangenheit angehören. Ulrike Ackermann, Politikwis- Die im März und April 2020 geschriebenen Essays halten senschaftlerin und Soziologin, erinnert im nachfolgenden sich allesamt mit unvorsichtigen Prognosen zurück. Viel- Beitrag daran, dass gesellschaftliche Polarisierungen mehr zeigen sie das Dilemma auf, weiterhin unter Unsicher- nicht von der Krise beseitigt werden. Vielmehr sei die Aus- heit leben und handeln zu müssen. Alle Beiträge überzeu- tragung von Konflikten, die Pluralität von Meinungen, das gen durch objektive Fakten, unaufgeregte und seriöse Ein- Austarieren von Gemeinwohl und individueller Freiheit ein schätzungen. Gleichzeitig geben die Autorinnen und Kennzeichen offener und liberaler Gesellschaften. Ge- Autoren aber auch kritische Denkanstöße. Ein Zurück zu rade politische Kommunikation – so die Politikwissen- Vor-Corona-Zeiten ist wohl nur schwer vorstellbar. Die schaf tlerin Gesine Schwan – muss fundier t sein, muss „dia- „Corona-Stories“ sind eine gelungene Sammlung von klu- logisch-argumentativ verfahren und Vertrauen in die bür- gen Essays zum richtigen Zeitpunkt. gerliche Öffentlichkeit aufbringen, wenn sie freiwillige Hervorzuheben und lobenswert ist im Übrigen das solida- Zustimmung gewinnen, Misstrauen und Verschwörungs- rische Engagement der Wissenschaftlichen Buchgesell- theorien den Boden (…) entziehen will“ (S. 160). Lisa Her- schaft, von jedem verkauften Buch zwei Euro an die Initia- zog, Professorin für Politische Philosophie an der Universi- tive ArbeiterKind.de zu spenden. tät Groningen, kritisiert mit Blick auf die Arbeitswelt die Siegfried Frech neoliberale Profit- und Marktorientierung der Arbeit und zugleich die Hintanstellung des gesellschaftlichen Werts. Jürgen Habermas erinnerte in einem Interview in der Frank- Frauen an die Macht! furter Rundschau daran, dass die Anstrengungen des Staates, jedes Menschenleben zu retten, unbedingten Vor- Torsten Körner: rang vor Nützlichkeitserwägungen und unerwünschten In der Männerrepublik. Wie Frauen die Politik eroberten. ökonomischen Kosten haben müssen. Zu Beginn der Co- Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. rona-Pandemie wurden die Beiträge derjenigen geschätzt, 368 Seiten, 22 Euro. gelobt und bejubelt, „die uns buchstäblich am Leben erhal- ten“ (S. 174) haben. Zu hoffen ist, dass nach der Krise eine Würde man weder Titel noch Inhalt noch die zitierten Per- andere – auch materielle – Wertschätzung und gerechtere sonen kennen, dann käme man im Traum nicht darauf, dass Bewertung von Arbeit stattfindet. (Die im Herbst 2020 ein- die Schilderungen nicht irgendein Land, sondern exakt un- setzenden Debatten und Kontroversen über eine ange- sere Bundesrepublik Deutschland betreffen. Was sich in messene finanzielle Vergütung systemrelevant Beschäftig- den letzten siebzig Jahren in Sachen Gleichberechtigung

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von Mann und Frau entwickelt hat, recherchiert Torsten tionsübergreifend gelegentlich zum Frühstück oder in der Körner detailliert, aufrüttelnd, spannend und noch dazu Cafeteria oder im Bundestagsrestaurant tref fen, um anste- unterhaltsam in seinem Band „In der Männerrepublik. Wie hende Anliegen zu beraten und nach Unterstützungsmög- Frauen die Politik eroberten.“ lichkeiten zu suchen. Das alles schmiedet zusammen. 1948 saßen den 61 Männern des Parlamentarischen Rats Männliche MdBs zollten zunehmend Respekt, manchmal vier Frauen gegenüber. Gesprochen wurde aber nur von kam auch Furcht auf. den „Vätern des Grundgesetzes“. Noch Jahre später schrie- Im Oktober 2017 schwappt die #MeToo-Bewegung über ben Journalisten geringschätzend und spöttisch über Politi- auf die Bundesrepublik. Körner macht mit vielen Beispielen kerinnen im Allgemeinen: „Man hielt sie nicht selten für eine anschaulich, dass auch in den Anfangsjahren des Bundes- exotische Lebensform, die sich auf den falschen Kontinent tags über viele Jahre „männliche Machtkulturen und sexu- verirrt hatte“ (S. 31), lediglich ein Farbtupfer oder eine elle Gewalt korrespondieren“ (S. 134 ff.) Fast alle heraus- Blume, in der Masse aber wie Unkraut. Erst Ende der 1980er- ragenden und selbstbewussten Politikerinnen jener Zeit Jahre rückte das kämpferische Engagement dieser vier Poli- bekamen sexistische Schmähbriefe mit obszönen Sprü- tikerinnen Friederike Nadig, Elisabeth Selber t, Helene We- chen. Ein Beispiel für viele Zitate soll hier genügen: „Das ber und Helene Wessel für die eindeutige Formulierung des einzig Weibliche an der Politikerin ist die Legislaturperi- Artikel 3 Abs. 2 des Grundgesetzes wieder in den Fokus der ode“. Am Ende des Kampfes tritt am 1. September 1994 das Öffentlichkeit: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ „Gesetz zum Schutz von Beschäftigten vor sexueller Beläs- Auf den Fotos der ersten drei Kabinette Adenauer von 1949 tigung“ in Kraft. bis 1957 ist keine einzige Frau zu sehen. Elisabeth Schwarz- Kapitel 8 „Das Liebesparlament“ schildert die intensive haupt kämpfte erstmals 1961 gegen den Amtsinhaber des und emotionale Diskussion um die Paragraphen 218 (Ab- Familienministeriums (er: strammer Katholik, fünf eheliche treibung) und 177 StGB (Vergewaltigung in der Ehe). Kinder; sie: protestantisch, kinderlos, unverheiratet). Ade- Ausführlich geht Körner auf die Grande Dame der FDP, Hil- nauer merkte seinerzeit an: „Was sollen wir mit einer Frau degard Hamm-Brücher, ein. Von Jugend an führte sie ein im Kabinett? Dann können wir nicht mehr so offen reden unangepasstes Leben und lernte als „Halbjüdin“ mit sozia- (…). Kann ich mit einer Tiefkühltruhe zusammenarbeiten?“ ler Ausgrenzung zu leben. Die Jahre des Nationalsozialis- Statt Familienministerin durfte sie als Kompromiss das ei- mus lösten in ihr einen „regelrechten Emanzipationsschub“ gens geschaffene Gesundheitsministerium leiten. Sie ar- aus und führte sie 1950 in den Bayerischen Landtag (sie- beitete fortan nicht lautlos, war keine unbequeme Mitläu- ben Frauen gegen 197 Männer). Sie wurde schließlich ferin, widersprach oft auch den eigenen Leuten. „erste“ weibliche Fraktionsvorsitzende, „erste“ Staatsse- Körner verfolgt die Diskussion im Bundestag um die Ände- kretärin, später „erste Staatsministerin“ im Auswärtigen rung des Bürgerlichen Gesetzbuches (das an vielen Stellen Amt. Ihren Eigensinn und Widerspruchsgeist zeigte sie „Patriarchalisches Gesetzbuch“ heißen könnte). Noch aus schließlich bei ihrem Nein zum Konstruktiven Misstrauens- dem Kaiserreich stammend, legte Paragraph 1354 fest, votum gegen Bundeskanzler Schmidt. Sie spielte die Stö- dass der Mann in allen die Ehe betreffenden Fragen be- renfriedin der männerbetonten Parlamentsroutine und ließ stimmen und die Frau ihm gehorchen müsse. Erst seit 1957 sich 1994 zur Wahl des Bundespräsidenten aufstellen. gibt es den „Gehorsamsparagraphen“ nicht mehr. Aber die Männer mit ihrem eigenen Machtzirkel verhinder- MdB Marie-Elisabeth Lüders, geb. Klee, galt als „Scharf- ten die erfolgreiche Wahl, wozu Torsten Körner meister- schützin des Wortes“ mit zugleich hohem Unterhaltungs- haft formuliert: „Somit blieb die streitbare Hildegard faktor. Sie ließ keine Pointe aus, freute sich über Zwischen- Hamm-Brücher die beste Bundespräsidentin, die wir nie rufe, spickte ihre Vorträge mit Anspielungen und humoristi- hatten“ (S. 203). schen Versen. Ihr Thema war die Gleichberechtigung, und Eine besonders charismatische Politikerin war die impul- z war üb e rall, z . B . auch b e im unte rschie dliche n G e halt von sive „Jeanne d´Arc des Atomzeitalters“: . Über weiblichen Bundestagsbediensteten oder der ungleichen fünfzehn Seiten hinweg recherchiert Körner ihren nicht sehr Bezahlung von Kellnern und Kellnerinnen des Bundeshaus- einfachen Weg durch die turbulenten 1970er- und 1980er- restaurants. Der dritte Teil des Parlamentsneubaus, 2003 Jahre. Wir nehmen teil an den schwierigen „sündhaften“ eingeweiht, trägt ihren Namen: Marie-Elisabeth-Lüders- Lebensverhältnissen ihrer Eltern, an ihren eigenen Krank- Haus. heiten und dem frühen Krebstod ihrer Halbschwester Dem Autor gelingt es mit Beispielen bestens, den Leser/die Grace Patricia. In den USA, wohin sie dem dort stationier- Leserin mit weiteren, heute unbekannten Politikerinnen an- ten Vater folgt, macht sie sich eigene Gedanken über die hand von Anekdoten, Plenarprotokollen samt Zwischenru- Bürgerrechtsbewegung, den Vietnamkrieg und die Gefah- fen bekannt zu machen. ren des Atomzeitalters. Zurück in Deutschland engagiert Eine weitere, fast makabre Erscheinung des Machtzuwach- sie sich in zahllosen Umwelt-, Friedens-, Anti-Atomwaffen- ses von Frauen ist die „Sarghüpferin“: eine Abgeordnete, und Fraueninitiativen. In diesem langen Kapitel schildert die den Platz eines verstorbenen Mandatsträgers ein- Körner fast emotional, wie eine Politikerin ihren steinigen nimmt. Wenn eine Legislaturperiode endet, liegt der Frau- Weg geht und dabei stets wahrhaftig bleibt. Man lernt enanteil immer höher als zu Beginn. Dann rücken Frauen beim Lesen, dass man eine Politikerin nicht oberflächlich von zuvor aussichtslosen Listenplätzen nach. MdB Ursula betrachten darf, sondern sie mit dem Hintergrundwissen Männle: „Frauen werden nur was über die Leichen der ihres Lebens unter Umständen völlig neu bewerten muss. Männer.“ Natürlich lohnt es sich auch, die Kapitel über Renate Ein weiteres kleines Mosaik der weiblichen Einflussnahme Schmidt (SPD) und „Lovely Rita“ Süssmuth zu lesen, die al- ist erreicht, wenn sich frauenpolitische Sprecherinnen frak- lerlei Kämpfe um Macht und Ministerien führten. Das Buch

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endet mit Einblicken in das Leben Hannelore Kohls, die Block zum Vorbild erheben wollten. Waren die Debatten z war kein politisches M andat hat te, aber als Frau des B un- um mögliche „Dritte Wege“ in den USA weithin in gesell- deskanzlers eine eigene Rolle im Kampf um die Macht schaftlichen Nischen verhaftet, entwickelten sie im geteil- spielte, was der Autor anekdotenreich gut aufbereitet. ten Deutschland Anziehungskraft: Wäre ein „Dritter Weg“ Das Buch ist bestens gelungen und daher eine Art Grund- nicht ein hoffnungsvoller Pfad, die Teilung zu überwinden? lagenwerk: breiter Überblick über die Frauenpolitik der Frühere geopolitische Ereignisse wie die Stalin-Noten letzten 70 Jahre, kompakt und allumfassend, parteiüber- 1952 aussparend, rückt der Autor kleinere Bewegungen in greifend, erfrischend geschrieben. Sehr hilfreich für den den Vordergrund, die ab Mitte der 1950er in dieser Ge- Leser/die Leserin ist das mehrseitige Personenregister. Ein mengelange entstanden und den organisatorischen und Geschichtsbuch, welches Gesellschaft und Politik von der kulturellen Boden für die späteren 68er bereiten sollten. Frauenseite aus betrachtet, quasi als Ergänzung zur bisher Detailreich, bisweilen ausschweifend, nie aber den roten dominierenden Männersicht. Fazit: Für Männer und Frauen Faden verlierend, erläutert Frey, wie innen- und außenpoli- sehr lesenswert! tische Krisen als Triebfedern der jungen, in den USA stärker Berthold Schäffner als in Deutschland heterogenen „Frühen Neuen Linken“ w i r k t e n: D i e 195 8 i n d e r B u n d e s re p u b l i k ku r z ze i t i g a n F a h r t aufnehmende Anti-Atombewegung war zwar bereits nach Jenseits des Blockdenkens? einem knappen Jahr an der Zerreißprobe einer gemeinsa- men Position in der Deutschlandfrage gescheitert – die Frey, Michael: SPD-nahen „Bonner“ empörten sich über die ideologische Vor Achtundsechzig. Der Kalte Krieg und die Neue Linke in Nähe der Konkret-Fraktion um Klaus Rainer Röhl und Ulrike der Bundesrepublik und den USA. Meinhof zu Ost-Berlin. Aber studentischer Drang nach po- Wallstein, Göttingen 2020. litischer Agitation fand im algerischen Befreiungskampf 471 Seiten, 42 Euro. gegen die französische Kolonialmacht ein Ventil. Die durch die „58er“ geschaffenen Strukturen dienten der neuen Be- Als Michail Gorbatschow am 25. Dezember 1991 sichtlich wegung als Basis. In den USA befeuerte die Kubanische enttäuscht, aber mit fester Stimme in einer knappen Fern- Revolution studentisches Aufbegehren gegen Rassense- sehansprache seinen Rücktritt als Präsident der Sowjet- gregation, besonders in den Südstaaten. Im kolonialen Be- union verkündete, glich die einstige Supermacht einer lee- freiungskampf und dem Entdecken der „Dritten Welt“ ent- ren Hülle: Hatten die osteuropäischen Satelliten Moskau spann sich nach Frey ein transnationales Band im Geflecht bereits im Jahr 1989 den Rücken gekehrt, besiegelte Boris der „Frühen Neuen Linken“, das bis in die 68er hinein Be- Jelzin mit dem Vertrag von Minsk Anfang Dezember das stand hatte. Ende der UdSSR. Das Versprechen des Kommunismus schien Der Historiker erörtert niedrigschwellig und argumentativ ebenso verblasst wie die sozialistischen Erneuerungsversu- stringent, wie Sozialdemokratie und „Frühe Neue Linke“ che des einst dynamisch-reformerischen Gorbatschows. auseinanderdrifteten – auch weil das antikommunistische Wer den Systemwechsel mit drei Dekaden Abstand als Narrativ in letztgenannter zugunsten „Dritter Wege“ an schlichten Umbruch vom realen Sozialismus zu liberaler De- Überzeugungskraft einbüßte. Das Denken linker Intellektu- mokratie und Marktwirtschaft schildert, unterschätzt die eller, wie Simone de Beauvoirs und Jean-Paul Sartres, und Strahlkraft der sozialistischen Idee. Besonders in Deutsch- der revolutionäre Protest in den Hörsälen wurzelten laut land erhielt das Begehren des „Dritten Weges“ zwischen Autor im Ablehnen des antitotalitären Konsenses. Das Dif- Sozialismus und Kapitalismus im knappen Jahr zwischen ferenzieren in einen „guten“ Westen und einen „bösen“ Os- Mauerfall und Einheit Aufwind – unter ostdeutschen Bür- ten war jedoch in der politischen Kultur der 1950er tief ver- gerrechtlern wie westdeutschen Intellektuellen. Der Sys- wurzelt. Antikommunistische Furcht kumulierte nach Frey in temkampf des Kalten Krieges ist nicht zu denken ohne Über- den USA in der Politik der McCarthy-Ära, die (vermeintlich legungen zu möglichen Alternativen – spätestens seit Titos oder tatsächlich) kommunistische Kräfte aus dem Staatswe- Bruch mit Stalin im Jahr 1948 und das in den 1950ern seinen sen ausschloss. In Deutschland interpretiert Frey das Partei- Anfang nehmende chinesisch-sowjetische Zerwürfnis. enverbot der KPD durch das Verfassungsgericht als Ergeb- Wie sich der Gedanke des „Dritten Weges“ bereits in den nis einer antikommunistischen Fehde der Regierung. 1950ern grenzüberschreitend in der westlichen Hemi- Das KPD-Verbot zwängt der Autor dabei ins Prokrustes- sphäre ausbreitete und den Boden für die „Neue Linke“ bett. Freilich kommt dem Kalten Krieg und der Existenz ei- und ihre studentische Speerspitze bereitete, erörtert Mi- nes sozialistischen Regimes auf deutschem Boden hohe chael Frey in seiner Monographie „Vor Achtundsechzig“. Erklärkraft für den Ausschluss der KPD aus dem demo- Das Jahr 1956, so ein Ergebnis der literatur- und quellen- kratischen Meinungsstreit zu. Allerdings zielt der wehr- gesättigten Dissertation, angefertigt an der Universität hafte Charakter des Grundgesetzes nicht ausschließlich Jena, diente als Erweckungserlebnis für die Vorboten der auf den Kommunismus – bereits 1952 hatte das Bundes- „Neuen Linken“: Das blutige Niederschlagen des Ungarn- verfassungsgericht die SRP verboten, eine NSDAP-Nach- aufstandes durch die Sowjetunion führte den unbedingten folgerin. Zudem fußt das Parteienverbot in erster Linie auf Herrschaftswillen Moskaus vor Augen, die Suezkrise rüt- den Erfahrungen der labilen Weimarer Republik. Warum telte an der moralischen Überlegenheit des Westens. Zu- die kaum gefestigte Bundesrepublik und die USA als lange rück blieb ein desillusioniertes Spektrum dissidenter Intel- gereifter Verfassungsstaat ähnlich rigoros auf kommunisti- lektueller aus pazifistischen, kommunistischen und sozialis- sche Strömungen reagierten, führt der Historiker nur vage tischen Milieus, die weder den einen noch den anderen aus.

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Räumt Frey der studentischen Kritik an der Politik von USA auf dem Hohenasperg ist Schubart bekannt. Als „kraftge- und Bundesrepublik weiten Raum ein, schweift sein Blick nialischer Kerl, der von Weib und Wein allemal nicht las- nur grob über die ideologischen Versatzstücke der „Frühen sen konnte“, ist er charakterisiert worden, als „unausgegli- Neuen Linken“. Analysen des politischen Programms treten chener Charakter vom Typus des Sturm-und-Drang-Ge- hinter das Wechselspiel von internationalen politischen nies“. Eines seiner für die damalige Zeit riskanten Gedichte, Ereignissen und dem Organisationsgrad des linken Spekt- „Die Fürstengruft“ (1780), beginnt mit der Zeile: „Da liegen rums zurück. Das Verhältnis zur liberalen Demokratie bleibt sie, die stolzen Fürstentrümmer, Ehemals die Götzen dieser dabei ebenso unterbelichtet wie die konkreten Ziele der Welt“. Sein Gedicht „Die Forelle“ wurde von Franz Schu- 68er-Vorläufer. Inwiefern nicht nur die Empörungswellen bert in seinem Klavier („Forellen-“)Quintett vertont. Goethe über das System, sondern auch die Entwürfe „Dritter hielt Schubart für einen der besten Klavier- und Orgelspie- Wege“ mobilisierend wirkten, verbleibt so im Dunkeln. ler seiner Zeit. Begleiteten „Dritte Wege“ die Epoche des Kalten Krieges, Weit weniger bekannt ist Schubarts Tätigkeit als Lehrer, s c h i e n i h r e S t u n d e i n d e r Tr a n s f o r m a t i o n s p h a s e u m 19 8 9/ 9 0 Organist und Prediger in Geislingen (an der Steige). „Un- gekommen – die Aufbruchsstimmung intellektueller Zirkel gestüm, ehrgeizig, wissbegierig, hochbegabter Musiker verfing jedoch nicht in der sozialismusmüden Bevölkerung und eifriger Gelegenheitsdichter, großer Redenschwinger Ostdeutschlands. Das Einführen der D-Mark im Sommer und Prahlhans“, so sieht Leube den jungen Schubart. Das 1990 stützte sich ebenso auf breite Mehrheiten wie der Theologiestudium hatte er abgebrochen, seinem Vater, Vollzug der Einheit nach Artikel 23 des Grundgesetzes. In Pfarrvikar, Kantor und Präzeptor (studierter Lehrer) in Aa- der Praxis führen „Dritte Wege“ selbst in einem breit gefass- len ausgeholfen, war kurz als Hauslehrer tätig, hatte kom- ten Begriffsverständnis nicht auf die Erfolgsspur. In Jugosla- poniert und musiziert, volksliedartige Gedichte geschrie- wien profitierte Titos Regime vom Blockdenken, nicht aber ben, sich für Klopstocks Dichtung begeistert. Drei Jahre die autoritär beherrschte Bevölkerung. Gorbatschows Re- lang hatte er nach einer Anstellung gesucht. Eine Hilfs- formen beschleunigten den Zerfall der ohnehin angezähl- lehrerstelle, zumal in Geislingen, entsprach sicher nicht ten Sowjetunion. Chinas anders ausgerichteter „Dritter seiner Wunschvorstellung. Die kleine Stadt am Fuße der Weg“ – Kapitalismus ohne Demokratie – erweist sich zwar Schwäbischen Alb konnte, formuliert der Autor nüchtern, als profitabel, aber wenig wünschenswert. „dem hochgemuten jungen Mann außer einem bescheide- Isabelle-Christine Panreck nen Auskommen nicht viel bieten […]“. Welche literarischen Spuren hinterließ Schubart in jener Zeit? Ausgewählt und kommentiert werden Zitate und Pas- Lehrerdasein und Lehrjahre des jungen Schubart sagen aus den Schuldiktaten, aus seinem Briefwechsel mit Verwandten und Förderern, lyrische Versuche, geistliche Dietrich Leube: Lieder und satirische Prosastücke. „Schubart`s Leben und Schubart in Geislingen. Gesinnungen. Von ihm selbst, im Kerker aufgesetzt“, wird Spuren 119. Deutsche Schillergesellschaft, als Quelle herangezogen. Marbach am Neckar 2020. Die Pflichten und sonstigen Aufgaben, die in Geislingen 16 Seiten, 14 Abbildungen, 1 Beilage, geheftet. Umschlag mit mit seiner Anstellung verbunden waren, sowie eine knappe Pergamin, 4,50 Euro. Beschreibung der Stadt und ihrer Bevölkerung geben den Rahmen. Die schnell erfolgte Heirat mit der Tochter des „Lieber Bruder, Heute ists mir als wann ich Weßpen im Hin- Geislinger Oberzollbeamten war, schreibt Schubart an tern hätte. Dann denk nur! Da soll ich in der Schule sizen seine Eltern, „Ganz unvermutet“; – für Leube eine „Augen- und Feder fuxen, da doch auf dem Markte etwas lustiges blickslaune also oder der Wunsch, sesshaft zu werden?“ zu sehen ist. Es ist nehmlich ein Gaukler hier, welcher mit Schubart sah in seiner Frau „ein Weib geraden und einfäl- verbundenen Augen auf einem Saile tanzen und trummeln tigen Herzens […]“, wie in seinen Lebenserinnerungen zu kann, […] und ich soll nicht dabey seyn? […] Hat man dann lesen ist. Über das spannungsvolle Verhältnis der beiden seine Augen umsonst? Vor Ungeduld möchte ich mein Pa- Ehepartner erfahren wir: Sie sei eine „rechtschaffene, pier fressen, die Feder wie ein zorniger Hund zerbeißen fromme Frau“ gewesen, die „unter den oft schmerzhaften und meine Dinte aussaufen. […]“ Launen ihres bald jähzornigen, bald bußfertig zerknirsch- Diese Klage stammt nicht, wie man vermuten könnte, aus ten Gatten viel zu erdulden“ hatte. Eine Aufzählung der der Feder eines frustrierten Schülers. Sie findet sich in einer etwa zehn wichtigsten Ämter und Berufe in der als Ober- der Schreibübungen, die der „Schuladjunkt“ (Hilfslehrer) vogtei zur freien Reichsstadt Ulm gehörenden Stadt, die Christian Friedrich Daniel Schubart seinen Schülern wäh- damals circa 1500 Einwohner hatte, beleuchtet das enge rend seiner Zeit in Geislingen (1763 bis 1769) in Form von Umfeld, in dem der Junglehrer sechs Jahre lang wohnte Briefen in die Schulhefte diktierte. Das Sehnen des Schü- und arbeitete. Von den etwa 50 in der Stadt ausgeübten lers nach Draußen, ins Freie, ist aber auch die Hoffnung Handwerksberufen, die Schubart einmal seinen Schülern des jungen Schullehrers, Stadt und Beruf, vielleicht auch diktier t hatte, werden im Heft Elfenbeinschnitzer und Bein- familiären Zwängen, entfliehen zu können. In Auszügen zu drechsler hervorgehoben. Sie stellten die damals bekann- lesen ist das Briefdiktat im neuen Heft der Marbacher ten „Geislinger Waren“ her. Reihe SPUREN, das der Journalist, Rundfunkautor und Fern- Der pädagogisch und didaktisch nicht ausgebildete Schu- sehdokumentarist Dietrich Leube verfasst hat. bart litt, wie aus vielen, im Heft verstreuten Stellen hervor- Als Dichter, Journalist und Publizist, leidenschaftlicher Pat- geht nicht nur an der kleinen Stadt und an manch einer ih- riot, Rebell gegen Obrigkeit und Tyrannei, als Gefangener rer Autoritäten, sondern auch an seinen mannigfaltigen

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Pflichten und Aufgaben. Er hatte neun Fächer von den alten Schüler verfasst, 50 dieser „Briefe“. Mehr als zwei Jahrhun- Sprachen über Geschichte, Rechtschreibung, Musik bis zur derte später, 1993, wurden sie unter dem Titel „Geislinger körperlichen Ertüchtigung und Religion zu unterrichten, Schuldiktate“ herausgegeben. dazu die Leichenbegräbnisse musikalisch zu begleiten, Weitere Beispiele zeigen diesen anderen Schubart, so- ebenso das Kurrendesingen zur Weihnachtszeit durchzu- bald er seinen beruflichen Lasten entgehen konnte: „[…] führen. Das alles konnte zu einer von Schubarts grimmigen einen jungen Schulmeister mit poetischem Tatendrang „Jeremiaden“ führen: „Arbeite, lebe im Gestank von grindi- […]“. Er las viel, „fast blind“, machte sich Notizen, oft in gen Köpfen und viehischen Exhalationen, schluk den Gei- Briefform, über Autoren und deren Werke, vermerkte seine fer hinunter, den dir die Wuth unverständiger Eltern ins An- „Lieblinge“ (unter anderen Shakespeare), schrieb Verse, gesicht speit […].“ In einem Brief an seinen Schwager fin- versuchte sich auch in Prosastücken. Mit dem damals noch det sich das Motto dieses Heftes, wenn Schubart klagt: in Biberach lebenden Schriftsteller und Shakespeare- „Hier in Geislingen passirt nichts. Eine ewige, langweilige Übersetzer Christoph Martin Wieland, den er ebenfalls M o n o t o n i e l i e g t a u f u n s“ […] . D a n n ka r i k i e r t e r s p ö t t i s ch , j a bewunderte, korrespondierte er. Schubarts erster nen- bissig, die geistlichen und weltlichen Berufe, beschimpft nenswerter Erfolg erreichte noch im 18. Jahrhundert elf die Bürger als „Sclav“, auch „unsere Amazonen“ bekom- Ausgaben: eine umfangreiche Sammlung geistlicher Lie- men ihr Fett ab. Weitere Klagen über die Stadt, ihre Be- der, die „Todesgesänge“. So gab es während seiner Geis- wohner und besonders über sein miserables Los als Hilfs- linger Leidensjahre nach Leube auch „ausgedehnte Hö- lehrer sind in dieser literarischen Spurenfindung zu lesen henflüge über literarische Landschaften“. Und aus und komplettieren das Bild eines zu dieser Zeit wenig „Schubart‘s Leben und Gesinnungen“ gibt er dessen gemil- glücklichen Menschen. derte Sicht auf „jene Jahre des wilden Lebens als seine Doch, wie in „Schubart in Geislingen“ ebenfalls zu lesen wahren Lehrjahre“ wieder. ist, waren diese Jahre der beruflichen Fron nicht durchgän- Mit Schubarts erfolgreicher Bewerbung auf eine Stelle als gig beklagenswert und bedrückend. Die erwähnten Schü- Organist und Kapellmeister am Hof Herzog Carl Eugens in lerdiktate in Briefform, meint der Verfasser, „[…] demonst- Ludwigsburg 1769, seiner Amtsenthebung und Ausweisung rieren in ihrer Vielfalt an Formen und Themen, an satiri- aus Württemberg nach dreieinhalb Jahren („ausschwei- schen Einfällen oder auch Wortwitz der burlesken Art, wie fender Lebenswandel“ und „zügellose Lästerzunge“), mit frei und unprätentiös Schubart sich geben konnte, sobald seinem „ruhelosen Wanderleben“ über Heilbronn, Mann- er literarische Ambitionen zugunsten seiner deklamatori- heim und München nach Augsburg 1774, wo die erste schen Lust und Laune fallen ließ.“ Das eingangs zitierte Nummer seiner „Deutschen Chronik“ erschien, mit seiner Schuldiktat in seiner Gänze dient ihm dafür als gelungenes Ausweisung von dort und seiner Übersiedelung nach Ulm, Beispiel. Überliefert sind, in Reinschrift von einem seiner sowie seiner 1777 vom Herzog befohlenen Festnahme in

Die Reihe MATERIALIEN entwickelt in Zusammenarbeit mit Gedenkstätten Angebote zur Geschichtsvermittlung an außerschulischen Lernorten.

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Blaubeuren auf württembergischen Boden und seiner zehn schen Gesellschaft schwindet und man durchaus von einer Jahre dauernden Inhaftierung auf dem Hohenasperg „zerrissenen Republik“ sprechen könne. Diese Polarisie- „ohne Anklage, ohne Verhör, ohne Prozess, ohne Urteil“ rung bedrohe letztlich, so die Argumentation, auch die re- klingt „Schubart in Geislingen“ aus. präsentative Demokratie. In ausgesuchter Prosa erzählt der Autor Lehrerdasein und Das Buch gliedert sich in insgesamt sechs umfang- und ma- Lehrjahre des jungen Schubart. Da sind keine Klischees, terialreiche Kapitel. Im ersten Kapitel (S. 11f f.) werden zen- keine Redundanzen, keine Brüche. Autorentextpassagen trale Begrifflichkeiten definiert, Dimensionen und Diskurse und Schubart`sche Zitate sind geschickt gemischt. Man des Untersuchungsfeldes erörtert. Butterwegge unter- liest, so erging es dem Rezensenten, „Schubart in Geislin- scheidet dabei drei Dimensionen von Ungleichheit: wirt- gen“ in einem Zug, verzichtbar deshalb die – vermutlich schaftliche, soziale und politische Ungleichheit. Wirt- vom Lektor ausgehenden – Hervorhebungen von Wörtern schaf tliche Ungleichheit is t dann gegeben, wenn „die öko- oder Sätzen am Anfang von Textabschnitten. Erstaunlich, nomischen (Macht-)Strukturen eine Verteilungsschieflage was an Informationen und Einsichten vermittelt wird. Denn beim Einkommen und/oder Vermögen hervorbringen, die die Hefte der Reihe SPUREN, die sich viermal im Jahr auf li- bestimmte Personengruppen hinsichtlich der ihnen zur Ver- terarische Suche im deutschen Südwesten begeben, sind in fügung stehenden materiellen Ressourcen privilegiert und ihrem Druckumfang genau begrenzt, auf einen Bogen andere diskriminiert“ (S. 12). Soziale Ungleichheit liegt Druckpapier, also 16 Seiten. Das Heft enthält Abbildungen dann vor, „wenn gesellschaftliche Normen, Strukturen verschiedener Art: Personenporträts in Schwarzweiß, Ge- und/oder Institutionen bestimmte Personengruppen im bäude, in denen Schubar t wohnte oder arbeitete, die kolo- Hinblick auf die Stellung oder den Status ohne sachlichen rierte Ansicht einer Nachbargemeinde, Titelblätter von Grund benachteiligen, andere hingegen ohne sachlichen Erstdrucken, Seiten aus seinen Schuldiktaten. Diese Repro- Grund bevorzugen“ (a. a. O.). Politische Ungleichheit duktionen, keineswegs bloße Illustrationen, sind so plat- schließlich meint, dass „nicht alle Bürger/innen eines de- ziert, dass sie inhaltlich eng mit dem Text verbunden sind. mokratisch verfassten Landes über dieselben Möglichkei- So entsteht ein facettenreiches Bild von „Schubart in Geis- ten der Einflussnahme auf staatliche Entscheidungspro- lingen“. Sorgfältig gestaltet sind auch Umschlagseiten und zesse und Personalentscheidungen verfügen“ (a. a. O.). Beilage. Beide zeigen die Ortschaft von Osten um 1760/70. Entscheidender Schlüssel zur Erklärung gesellschaftlicher Vorbildlich die Seite mit Schubarts Verdikt „Hier in Geislin- Verwerfungen ist laut Butterwegge die ökonomische Un- gen passiert nichts“: Zu sehen ist ein Innenstadtplan mit Or- gleichheit. Armut und Reichtum, so die entschiedene Aus- ten, an denen Schubart sich oft aufhielt, und deren Abbil- sage, bilden die „zentrale Achse der sozioökonomischen dungen im Heft reproduziert sind, sowie ein Plan, der Geis- Ungleichheit“ (S. 18). Materielle Armut gibt es nur, weil es lingens heutige Lage zwischen Stuttgart und Ulm nördlich einen immensen (privaten) Reichtum gibt. Armut und Reich- der A8 zeigt. Die Anmerkungen und Abbildungsnachweise tum sind für Butterwegge konstitutive Merkmale kapitalisti- lassen auf sorgfältige Recherchen des Autors schließen. Ein scher Gesellschaften und einer neoliberalen Politik. Schutzumschlag aus Pergamin mit Verfasser, Hefttitel und Um die zentralen Begrifflichkeiten „Ungleichheit“, „Armut“ der farbigen Schubart-Plakette an der Fassade des Geislin- und „Reichtum“ theoretisch verorten zu können, werden im ger Schulhauses verstärken den auch optisch sehr anspre- weiteren Fortgang drei wichtige Theorien sozialer Un- chenden Eindruck dieser Veröffentlichung. gleichheit, die bis heute den Diskurs bestimmen, erörtert. Walter-Siegfried Kircher Das sind zum einen die Klassenanalyse von Karl Marx und Friedrich Engels, sodann die Typologien der Klassen und Stände nach Max Weber und schließlich die Schichtungs- Soziale Ungleichheit theorie von Theodor Geiger. Ein wesentliches Paradigma ist für Butterwegge die bis heute aktuelle Klassenanalyse Christoph Butterwegge: von Marx und Engels. Marx sei der „bis heute wichtigste Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale Theoretiker der sozialen Ungleichheit“ (S. 40). und politische Ungleichheit in Deutschland. Im zweiten Kapitel (S. 63ff.) werden Untersuchungen und Beltz Juventa, Weinheim und Basel 2020. Befunde zur westdeutschen Sozialstruktur diskutiert und 414 Seiten, 24,95 Euro. kritisch reflektiert. Butterwegge konzentriert sich hierbei auf Studien, die nach 1945 vorgelegt wurden und zu den Der Kölner Politikwissenschaftlicher Christoph Butter- Klassikern der Sozialstrukturanalyse bzw. Gesellschafts- wegge hat unlängst ein umfangreiches Buch zur wissen- analyse gehören. Eröffnet wird der Reigen mit Helmut schaftlichen und politischen Diskussion über das Thema Schelsky und seiner „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ „Soziale Ungleichheit“ vorgelegt. (Christoph Butterwegge – ein Modell der sozialen Schichtung, das zugleich den hat u. a. auch in der Zeitschrift „Der Bürger im Staat“ mit Abschied von einem „derart verrufenen Terminus wie Beiträgen über „Armut“ und „Soziale Ungleichheit“ den ‚Klasse‘“ (S. 63) markierte und an die Stelle des Schemas politikwissenschaftlichen Diskurs bereichert.) Butterwegge der sozialen Klassen das Bild einer in Teilgruppen geglie- ist einer der wenigen Politikwissenschaftler, der sich öf- derten Gesellschaft entwirft. Im Anschluss wird Ralf Dah- fentlich äußert und klar positioniert: Soziale Ungleichheit, rendorfs „industrielle Klassengesellschaft“ skizziert. Dah- Armut und Ausgrenzung sind in einem reichen Land wie der rendorf widersprach entschieden der Nivellierungsthese Bundesrepublik Deutschland ein Skandal. Butterwegge von Schelsky. In seinem 1965 erschienenen Klassiker „Ge- konstatiert, dass der (öffentlich und rhetorisch viele be- sellschaft und Demokratie in Deutschland“ bescheinigte er schworene) soziale Zusammenhalt der bundesrepublikani- Schelsky eine verengte Perspektive. Als drittes Gedanken-

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gebäude werden die Argumentationslinien von Theodor Diskussion der Überlegungen zur „neuen Unterschicht“ W. Adorno, Max Horkheimer, Jürgen Habermas, Claus und dem „abgehängten Prekariat“ (S. 178ff.) sowie zur Offe und Herbert Marcuse – allesamt der Kritischen Theo- „ E rosion d e r M it te lschicht “ (S . 18 5) schlie ßt sich e ine A use i- rie bzw. Frankfurter Schule angehörend – vorgestellt. Ul- nandersetzung mit dem französischen Wirtschaftswissen- rich Becks Entwurf der „Risikogesellschaft“, 1986 erstmalig schaftler Thomas Piketty an, der in seinem Buch „Das Kapi- aufgelegt, und dem von ihm beschriebenen „sozialen Fahr- tal im 21. Jahrhundert“ (2014) auf die periodischen Auf- stuhl-Effekt“, der alle sozialen Schichten eine Etage höher und Abschwünge der Ungleichverteilung von Einkommen gefahren habe, ist das folgende Unterkapitel gewidmet. und Vermögen hingewiesen hat. Trotz des Hypes, den das Auch der Modernisierungs- und Individualisierungstheo- Buch von Piketty ausgelöst hatte, dominiert bei „den staat- retiker Beck habe, so Butterwegge, den Klassenbegriff von lichen Behörden, den etablierten Parteien und den wich- Marx „zum alten Eisen geworfen“ (S. 103). Als Trendsetter, tigsten Massenmedien hierzulande (…) weiterhin die Hal- die die „Milieutheorie gedanklich auf die Spitze“ (S. 112) tung der Ignoranz gegenüber sozioökonomischen Spal- getrieben haben, werden die Modelle der „Erlebnisgesell- tungstendenzen“ (S. 205). Das Kapitel endet mit einer schaft“ von Gerhard Schulze sowie der „Multioptionsge- Analyse des „Tafel“-Interviews von Jens Spahn (März 2018) sellschaft“ von Peter Gross vorgestellt. Diese idealisie- und Kevin Kühnerts Sozialisierungsforderung (Mai 2019), rende Wendung zum Subjekt, die beide Modelle kenn- die in der Öffentlichkeit kontroverse und hysterische Reak- zeichnet, beinhalte eine klare Absage an „objektive tionen auslöste. Kriterien der Gesellschaftsanalyse“ (S. 116). Im gleichen Im vierten Kapitel (S. 217ff.) werden Leserinnen und Leser Kapitel wird der Soziologe Heinz Bude mit seinen Überle- mit umfangreichen Daten, Fakten und vor allem Zahlen zu gungen über die soziale Exklusion und das Prekariat, in den „Erscheinungsformen der wirtschaftlichen und sozia- den Worten von Bude die „Ausgeschlossenen“, „Überflüs- len Ungleichheit“ – so die Kapitelüberschrift – reichlich be- sigen und „Entbehrlichen“, kritisch hinterfragt. Daran dient. Die überaus materialreiche Betrachtung der ver- schließt sich die Auseinandersetzung mit zwei aktuelleren schiedenen Facetten von Ungleichheit in Deutschland Studien an: Die „Abstiegsgesellschaft“ und der „Rolltrep- nimmt eingangs die Konzentration des Privatvermögens pen-Effekt“ von Oliver Nachtwey sowie die unlängst breit und die Polarisierung der Einkommen in den Blick und erör- diskutierte „Gesellschaft der Singularitäten“ von Andreas tert, inwieweit das Bildungssystem sozioökonomische Un- Reckwitz. Die chronologisch orientierte Darstellung ist gleichheit reproduziert. Die Kardinalfrage ist hierbei, ob überaus kenntnisreich und diskutiert – so der zweite Teil „sich die Klassenspaltung der Gesellschaft tatsächlich der Kapitelüberschrift – die Seriosität der Sozialstruktur- durch mehr oder eine bessere (Schul-)Bildung für alle über- und Gesellschaftsanalysen, kritisiert jedoch auch die Be- winden bzw. bewältigen lässt“ (S. 226). Daten und Zahlen liebigkeit, mit der der Klassenbegriff verwendet wird, und zur gesundheitlichen Ungleichheit, zu Armut und Krankheit die „pure Ideologie“, die in manchen Gedankengebäuden im Alter – laut Butterwegge eine brisante Wechselbezie- zum Vorschein kommt. Viele zeitgenössische Theorien und hung – schließen das Kapitel ab. Butterwegge schafft es, Modelle blenden „die strukturellen Zusammenhänge der einen umfassenden Einblick in verschiedene Ausprägun- Klassengesellschaft“ (S. 117) aus. Gleiches gelte für die gen sozialer Ungleichheit mit aussagekräftigen Daten und Medien und die etablierten Parteien, deren „Bestreben Fakten zu verbinden. Offenkundig wird, wie verfestigt Un- darauf gerichtet ist, die bestehenden Verteilungsverhält- gleichheit inzwischen ist und wie polarisiert die bundesre- nisse und die eigene Mitverantwortung dafür zu rechtferti- publikanische Gesellschaft im Grunde ist. gen“ (S. 143). Das spannende und wohl zentrale Kapitel Das fünfte Kapitel (S. 254ff.) dreht sich um die Entstehungs- bietet einen fundierten Überblick über die wissenschaftli- ursachen und Entwicklungstendenzen der sozioökonomi- che Auseinandersetzung mit Ungleichheit und leistet zu- schen Ungleichheit, wobei die Globalisierung und die gleich die Einbettung der Diskurse in politische, gesell- neoliberale Modernisierung sowie falsche Entscheidun- schaftliche und ökonomische Strukturen (vgl. auch Kapitel gen und Weichenstellungen der politisch Verantwortli- 3). Die differenzierten Betrachtungen der einzelnen Positi- chen eine Schlüsselrolle spielen. Zentrale Begriffe sind onen sind zugleich eine Werkanalyse, die Interessierten hierbei die Prekarisierung der Lohn- und Liberalisierung einen Zugang zu den nicht immer leicht verständlichen der Leiharbeit, die Pauperisierung eines wachsenden Teils Theoriegebäuden eröffnen. der Bevölkerung und die daraus erwachsende Polarisie- Im dritten Kapitel (S. 143ff.) beschreibt Butterwegge die rung sowie eine US-Amerikanisierung des Arbeitsmarktes Sozialstrukturentwicklung und die „Diskurskonjunkturen und Wohlfahrtsstaates. Gerhard Schröders Agenda 2010 der Ungleichheit“, beginnend mit der Währungsreform, und die sogenannte Hartz-Gesetzgebung, die Riester- der Westintegration und dem erfolgreichen Narrativ des rente, ein fortwährender Abbau von Sozialleistungen, Pri- „Wirtschaftswunders“, gefolgt von Ludwig Erhards „Wohl- vatisierungen und eine ungerechte Steuerpolitik sind Aus- stand für alle“. Die Rezession in den Jahren 1966/67, die wirkungen eben dieser neoliberalen Politik. sogenannte Ölkrise (1973) und die Weltwirtschaftskrise Das sechste Kapitel (S. 325ff.) bündelt die bisherigen Argu- (1974/75) erschütterten dieses gern geglaubte und poli- mentationsstränge und vermittelt Einblicke in eine „zerris- tisch „gepflegte“ Narrativ nachhaltig und beförderten so- sene Republik“, ohne die globale Dimension der Ungleich- ziologische Forschungen und Publikationen, die eine kriti- heit aus den Augen zu verlieren. Deutschland steht – so But- sche Sicht auf die gesellschaftliche Entwicklung einnah- terwegge – vor „einer sozialen Zerreißprobe, und in fast men und – wie Urs Jaeggi in seinem Klassiker „Kapital und allen Gesellschaftsbereichen wächst die Unruhe“ und dies, Arbeit in der Bundesrepublik“ (1973) – die ungleiche Ver- „ohne dass in der Öffentlichkeit die Gründe dafür erkannt teilung der wirtschaftlichen Macht hervorhoben. An die und von den politisch Verantwortlichen die nötigen Gegen-

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maßnahmen ergriffen würden“ (S. 391). Ein Lichtblick ist im- tor für Allgemeinmedizin in Kreuzberg, im Sommer 1932 vor merhin das gestiegene Bewusstsein der Bevölkerung, die dem Hintergrund der sich zu Ende neigenden Weimarer auf die soziale Ungleichheit immer sensibler reagiert und Republik. Der Arzt betreibt eine gutgehende Praxis. Mühe den Staat in die Pflicht nehmen will, die Einkommens- und ist 34 Jahre alt und gut acht Jahre verheiratet; wenngleich Vermögensunterschiede zu begrenzen. Schenkt man den die Ehe an eine Zweckgemeinschaft erinnert. Seine Ehefrau Daten und Fakten, die kaum zu widerlegen sind, sowie den Charlotte ist nicht berufstätig. Sie liebt vielmehr das Schön- Ausführungen von Butterwegge Glauben, so kann der „ge- geistige, nimmt bei einem gescheiterten Komponisten und sellschaftliche Zusammenhang nur durch gezielte Umver- bekennenden Nazi Gesangsunterricht und hat eine Vor- teilung von oben nach unten gestärkt werden“ (S. 403), un- liebe für Oper- und Konzertbesuche. Da Mühe überdurch- geachtet harter gesellschaftlicher Auseinandersetzungen schnittlich gut verdient, kann sich das Ehepaar in den wirt- zwischen diversen Interessengruppen. Auseinandersetzun- schaftlich und politisch schwierigen Zeiten am Ende der gen, die „früher als Klassenkämpfe bezeichnet worden wä- Weimarer Republik ein sorgenfreies Leben leisten. Im Juni ren“ (a. a. O.). Als konkrete politische Maßnahmen nennt 1932, im letzten Sommer vor der „Machtergreifung“ der Butterwegge u. a. die Wiedererhebung der Vermögens- Nazis, wird Mühe zum letzten Mal gesehen, sein Wagen steuer, eine höhere Körperschaftssteuer sowie eine „vor al- verlassen am Ufer eines Sees gefunden. Naheliegend ist lem Betriebsvermögen stärker zur Finanzierung des Ge- zunächst, dass Mühe ertrunken ist. Die ermittelnden Kom- meinwesens heranziehende Erbschaftssteuer, ein progres- missare schließen ein Verbrechen, einen Unfall oder Selbst- siv verlaufender Einkommenstarif und eine auf dem mord nicht aus. Die Leiche jedoch wird, auch Wochen nach persönlichen Steuersatz basierende Kapitalertragssteuer dem Verschwinden, nicht gefunden. (Abschaffung der Abgeltungssteuer)“ (a. a. O.). Bei Recherchen zu seinem dichten und packenden Porträt Christoph Butterwegge hat ein verständlich geschriebe- „Berlin 1936. Sechzehn Tage im August“ (München 2016) nes Standard- und Grundlagenwerk zur Ungleichheitsfor- stieß Oliver Hilmes, promovierter Zeithistoriker und als Ku- schung vorgelegt. Ein Buch, das zugleich eine umfangrei- rator für die Stiftung Berliner Philharmoniker tätig, auf die che Materialsammlung darstellt. Allein schon aufgrund rund 100 Seiten umfassende Originalakte des Falls Mühe. der Materie ist das vorliegende Buch jedoch in einem eher Für sorgfältig arbeitende Historiker ist solide Archivarbeit wissenschaftlichen Stil geschrieben. Insofern ist es weni- unerlässlich. Um auch die Alltagsgeschichte thematisieren ger an politisch Interessierte gerichtet, die keine einschlä- zu können, suchte Hilmes nach Fällen, in denen es nicht um gigen Kenntnisse besitzen, sondern eher an Studierende Sport, Athleten, Hitler oder Goebbels ging. Während der der politikwissenschaftlichen, soziologischen und ökono- Arbeiten an dem Buch „Berlin 1936. Sechzehn Tage im mischen Zunft adressiert. Das Buch bietet einen fundierten August“ (vgl. auch die Rezension in der Zeitschrift Bürger & (und vor allem umfassenden) Überblick zum Thema „Sozi- Staat, Heft 1/2017) stöberte Hilmes daher im Berliner ale Ungleichheit“. Das von Butterwegge vorgelegte Buch Landesarchiv in der „Zentralkartei für Mordsachen“, um eignet sich im Übrigen auch als Nachschlagewerk, will einen spannenden Fall aus dem Jahr 1936 – das Jahr, in man einzelnen Themenaspekte, Theorien und Erklärungs- dem die Diktatur während der Olympiade für sechzehn modellen sozialer Ungleichheit gezielt nachgehen. Die Tage im „Pausenmodus“ war – zu finden. Er fand dabei politisch eindeutige Positionierung des Autors mindert die- Unterlagen zu den Suiziden von Erna Rakel sowie von sen Mehrwert keineswegs. Ob das Buch die „Grenze zur Martha Geidel, die ihre Tochter Gertrud mit in den Tod antikapitalistischen Kampfschrift“ – so der Erziehungswis- nahm (vgl. Seiten 32 und 70 des Buches „Berlin 1936“). In senschaftler Benno Hafeneger in einer Rezension – über- einem Werkstattbericht schildert Hilmes, wie er kurz einen schritten hat, müssen die Leserinnen und Leser wohl selbst Blick auf die Akte der Vermisstensache Mühe wirft. Ob- beurteilen. Lob gebührt Christoph Butterwegge allemal: wohl der Fall aus dem Frühjahr 1932 stammt und für Spricht er doch in aller Deutlichkeit die nicht zu leugnen- sein Buchprojekt vier Jahre zu früh stattfand, liest er sich den sozioökonomischen Ungleichheiten detailliert, kennt- fest und taucht in den Fall ein (vgl. URL: https://www. nis- und faktenreich an! randomhouse.de/Oliver-Hilmes_Dr-Muehe/aid86298. Siegfried Frech rhd). Bereits damals reifte die Idee, die in der Akte geschil- derten Vorgänge zu einem späteren Zeitpunkt aufzugrei- fen und literarisch zu verarbeiten. Eine (wahre) Kriminalgeschichte aus dem Berlin der Wie immer bei einer Vermisstensache befragt die Polizei Dreißigerjahre zunächst das Umfeld: Familienangehörige, Patienten und Hausangestellte, Freunde und Bekannte, Nachbarn und Oliver Hilmes: Kollegen. Die Akte Mühe besteht daher hauptsächlich aus Das Verschwinden des Dr. Mühe. Verhörprotokollen und diversen Aktennotizen. Aus diesen Eine Kriminalgeschichte aus dem Berlin der 30er Jahre. Fakten entwickelt sich die Struktur des Buches, die sich aus Penguin Verlag, München 2020. den chronologisch angeordneten Ermittlungsprotokollen 236 Seiten, 20,00 Euro ergibt. Die Schilderung des Cold Case orientiert sich an eben diesen Verhörprotokollen und Aktennotizen, die lite- rarisch bearbeitet und mit fiktiven Passagen angereichert O l i v e r H i l m e s h a t w i e d e r u m e i n f u r i o s e s B u c h v o r g e l e g t . D i e wurden. Eigene, von Hilmes sorgsam angestellte Recher- (wahre) Kriminalgeschichte aus dem Berlin der Dreißiger- chen zu Personen der Zeitgeschichte und zu lokalhistori- jahre ist Reportage und Roman in einem. Hilmes erzählt un- schen Details runden die Handlungsstränge ab. Der ermit- gemein spannend das Verschwinden des Erich Mühe, Dok- telnde Kommissar Ernst Keller und sein Assistent Schneider

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kommen bei der Vermisstensache nicht weiter. Die unter- politik bzw. den politischen Auseinandersetzungen distan- schiedlichen Zeugenaussagen, die sich zum Teil wider- zieren und das politische Tagesgeschehen eher verhalten sprechen, bringen immer neue Möglichkeiten und Motive kommentieren. Wie rasch demokratische Gepflogenhei- ins Geschehen. Der Fall wechselt ständig die Richtung, ten, Anstand und Moral zugunsten autokratischer Ent- scheinbar glaubhafte Erklärungen werden rasch obsolet, scheidungen über Bord geworfen wurden, zeigen die Pro- neue Wendungen, Spuren und Rätsel tauchen auf. Bei die- tokolle des Jahres 1935. Eine neue Nachricht bringt die sem Vexierspiel – so Oliver Hilmes in seinem Werkstattbe- Ermittlungen wieder in Gang, die jedoch durch die Nazis richt – ist nichts so, wie man zunächst glaubt. behindert werden, da ein Parteigenosse involviert ist. Ber- Ein Großteil der Protokolle datiert auf die Jahre 1932 und lins amtierender Polizeipräsident, der sich den Nazis be- 1935, nur wenige auf das Jahr 1946. Im ersten Teil des Bu- reits 1924 angeschlossen hat, droht Kommissar Keller un- ches bekommt man nicht nur Einblicke in das pulsierende verhohlen und fordert ihn auf, den „verdienten Parteige- Berlin der Dreißigerjahre: drängelnde Menschen, Tram- nossen“ nicht länger zu behelligen. Die Akte wird letztlich, bahnen, Zeitungsjungen mit schnoddrigem Jargon. Hilmes so die Anweisung des Polizeipräsidenten, geschlossen. zeigt zugleich, wie es den Nationalsozialisten immer mehr Erst als sich die Schwester des verschwundenen Arztes gelingt, die Demokratie von Weimar zu demontieren. Im 1946 erneut auf die Suche begibt, kommt ein letztes Mal Sommer 1932 wird die NSDAP bei den Reichstagswahlen Bewegung in den Fall. Die Schwester begibt sich im Okto- mit 37,3 Prozent stärkste Partei. Hitlers Anspruch auf die ber 1946 im zerstörten Berlin auf Spurensuche. Auch im Bildung einer neuen Regierung wird von Hindenburg zu- letzten Teil des Buches skizziert der Historiker Hilmes tref- nächst abgelehnt. Nach einem Misstrauensvotum gegen fend ein Bild der „Zusammenbruchsgesellschaft“ (Heinrich die Regierung Papen wird der Reichstag am 12. September August Winkler), in der die Menschen versuchten, ihr all- 1932 erneut aufgelöst. Bei der Wahl im November 1932 tägliches Leben und die elementarsten Bedürfnisse zu or- musste die NSDAP zwar Stimmenverluste hinnehmen, hin- ganisieren. Mühes Schwester bekommt nicht nur das mate- ter den Kulissen aber wurden im Umfeld des greisen Reichs- rielle Elend zu sehen, sondern wird auch Zeuge der „kalten präsidenten Hindenburg Fäden gesponnen, die der politi- Amnestie“ (Jörg Friedrich). Frühere Nationalsozialisten schen Pattsituation ein Ende bereiteten. Hindenburg machten nach 1945 erneut Karriere und integrierten sich stimmte zu, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen, ihn aber nahezu spurlos in die Nachkriegsgesellschaft. Die meisten gleichzeitig durch ein mehrheitlich konservatives Kabinett Mitläufer schwiegen und wollten mit der nationalsozialisti- einzuhegen. Dieser verhängnisvolle Handel ebnete den schen Vergangenheit nicht konfrontiert werden. Weg zur „Machtergreifung“ der Nazis. Die zeitgeschichtli- Oliver Hilmes schildert das Verschwinden des Dr. Mühe chen Ereignisse werden aus der Perspektive der ermitteln- ungemein spannend (und zudem höchst raffiniert) – ein Le- den Kommissare geschildert, die sich von jeglicher Partei- segenuss sondergleichen! Was bleibt ist natürlich die

Politische Tage Für Schülerinnen und Schüler aller weiterführenden Schularten sowie Grundschulen ab Klasse 2

Ziele Besonderheiten Ansprechpartner für Schulen

• altersgemäße Auseinander- • methodisch abwechslungs- • Außenstelle Freiburg setzung mit politischen Fragen reiche Formate (z. B. Planspiele, Regierungsbezirk Freiburg: auf Grundlage des „Beutelsba- Szenario-Workshops, Aktions- www.lpb-freiburg.de cher Konsenses“ tage, u. a.) • Außenstelle Heidelberg • Anregungen zum gesell- • Themenvielfalt: Demokratie, Regierungsbezirk Karlsruhe: schaftlichen und politischen Kommunalpolitik, Europa, Glo- www.lpb-heidelberg.de Engagement balisierung, Frieden/Sicherheit, • Fachbereich „Politische Tage“ u. a. Regierungsbezirk Stuttgart: • Erwerb methodischer Kompe- www.lpb-bw.de/politische_tage_ tenzen und Einüben sozialer • intensive thematische Auseinan- stuttgart.html Lernformen dersetzung über eine (Doppel-) • Fachbereich „Politische Tage“ • Ergänzung und Vertiefung von Schulstunde hinaus Regierungsbezirk Tübingen: Unterrichtsthemen der gesell- • Durchführung an Schulen oder www.lpb-bw.de/politische_tage_ schaftskundlichen Fächer außerschulischen Lernorten tuebingen.html

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Frage, was mit Erich Mühe tatsächlich geschah. Natürlich Veröffentlichung dieser Arbeit soll eine schändliche Tat verbietet es sich an dieser Stelle, das Ergebnis der span- von mir sein“ (S. 9). Für die einen war Albert Londres ein nenden Spurensuche offenzulegen. Eine Rezension kann ja Berichterstatter, der die Ideale der Aufklärung verteidigte. auch Lust machen, ein spannendes und zeitgeschichtlich Für seine Kritiker hingegen war er ein Nestbeschmutzer, interessantes Buch in die Hand zu nehmen. der mit seinen Reportagen dem Ansehen der französischen Siegfried Frech Nation schadete. Er wurde – so Irene Albers und Wolf- gang Struck im Nachwort des Buches – „zum Paria der ko- lonialen Presse“ (S. 361). Einblicke in die Kolonialgeschichte Frankreichs Londres bereiste mehrere Wochen im Jahr 1928 die Bau- stelle der Kongo-Ozean-Bahn, die die Hauptstadt Brazza- Albert Londres: ville mit dem Atlantik verbinden sollte. Londres unternahm Afrika, in Ketten. Reportagen aus den Kolonien. die Reise aufgrund von Gerüchten über die dortigen un- Die Andere Bibliothek, Berlin 2020. menschlichen Arbeitsbedingungen. Die Berichte erschie- 372 Seiten, 44,00 Euro. nen zunächst als Fortsetzungsreportage 1928 in „Le Petit Parisien“. Intention des französischen Starreporters war „Die Schuldigen sind im Mutterland und nicht in den Kolo- die Fürsprache für einen „humaneren“ Kolonialismus. Lond- nien zu suchen. […] Ich klage nicht bestimmte Männer an, res stellte Frankreichs Kolonialismus keineswegs infrage. sondern eine Methode“ (S. 11). Die beiden Sätze, die sich So erklären sich auch die paternalistischen Formulierun- in der Einleitung des 1929 erschienenen Buches „Schwarz gen, die das Buch durchziehen, und der Glaube an die „zi- und Weiß. Die Wahrheit über Afrika“ finden, umreißen prä- vilisatorische Mission“ Frankreichs. (Dass die Kolonialge- gnant das Anliegen von Albert Londres (1884–1932). Als schichte Frankreichs bis heute nicht aufgearbeitet wurde, Vorläufer bzw. früher Vertreter des investigativen Journa- zeigen im Übrigen Äußerungen französischer Politiker, die lismus reiste er durch die französischen Kolonien und fand noch in den 2000er-Jahren die vermeintlich positiven Sei- ein „Afrika, in Ketten“ vor. Mit seinen beiden Berichten aus ten der Kolonialisierung, d. h. die durch die Kolonialmacht Französisch-West- und Äquatorialafrika (so lautete die eingeführten zivilisatorischen Errungenschaften, vor ein französische Bezeichnung der Besitzungen) und aus den Schuldeingeständnis stellen.) Manche Passagen sind nur Straflagern in Nordafrika – im vorliegenden Band mit schwer zu ertragen, beschreibt Londres die schwarze Be- „Hätte Dante das gesehen“ überschrieben (S. 197ff.) – pro- völkerung doch als naiv, kindlich und wenig lernfähig. So vozierte er die französische Öffentlichkeit. Daher lautet beklagt er in manchen der Reportagen die Faulheit und der erste Satz des Vorworts, den Eklat vorwegnehmend, Gleichgültigkeit der Schwarzen. Seinem „Boy“ unterstellt von „Schwarz und Weiß. Die Wahrheit über Afrika“: „Die er ein ökonomisch völlig irrationales Verhalten. 29–2018 27–2017 30–2018 28–2017

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Auch die französische Kolonialpolitik wurde durch ein sozi- forderte der Bau von 150 Schienenkilometern der Kongo- aldarwinistisches Konzept untermauert. Das Sendungsbe- Ozean-Bahn 17.000 Menschenleben. Eine Reisebekannt- wusstsein und der Überlegenheitsgedanke zeigten sich in schaft von Londres kommentierte, dass er „auf der Strecke der Unterdrückung und Überformung der ursprünglichen zwischen den Schienen mehr schwarze Leichen als Quer- Lebensweise bei gleichzeitiger „Erziehung“ zum „brauch- balken zu sehen bekommen würde“ (S. 177). baren Arbeitselement“. Die Kolonisierten gaben ange- Bis in die unmittelbare Gegenwart kämpft der traumati- sichts drastischer Zwangs- und Strafmaßnahmen ihren sierte Kontinent mit den Folgen der Kolonialzeit. Die vielfäl- schon vorab diffamierten sozialen und kulturellen Habitus tigen Hypotheken Afrikas sind nur angemessen zu verste- auf. Indem sie oftmals eine Kopie oder gar Karikatur der hen, wenn man sich mit der Kolonialgeschichte des Konti- Weißen abgaben, bestätigten sie in den Augen der Kolo- nents auseinandersetzt. Die Andere Bibliothek hat mit dem nialherren das Vorurteil ihrer scheinbaren Infantilität. So vorliegenden, überaus bibliophil gestalteten Buch die bei- studiert die afrikanische Bevölkerung in Londres Berichten den Berichte aus den ehemaligen französischen Kolonien nicht zufällig Kataloge französischer Versandhäuser. Auf in einer limitierten Neuauflage einer breiteren Leserschaft dem Postweg gelangten sodann Konsumgüter und allerlei wieder zugänglich gemacht und leistet damit einen we- Tand in die Kolonien. sentlichen Beitrag zur Analyse des Postkolonialismus, d. h. Die einzelnen Reportagen aus den Kolonien beschreiben das Fortwirken der politischen und ökonomischen Domi- das menschenverachtende Sklavenhalterregime der Kolo- nanz der ehemaligen Kolonialmächte. nialherren. Der Bau von Eisenbahnstrecken forderte un- Siegfried Frech zählige Opfer, die Kolonialbeamten waren mit Allmacht ausgestattete Kleinbürger und kleingeistige Spießer, be- sessen vom Gedanken der persönlichen Bereicherung. Em- Mikro-Führung und Makro-Führung bleme ihrer unbeschränkten Macht waren Arrest und Peit- sche. Die Verwaltung der Kolonien ging zentralistisch von Martin Härter: Paris aus. In den Verwaltungsbezirken konnten die Koloni- Die Kunst gesunder Führung. Schritte zu einer albeamten wie absolute Herrscher regieren, solange sie leistungsfähigen Unternehmenskultur. die Anweisungen der Zentralverwaltung nicht allzu grob Beltz Verlag, Weinheim und Basel 2017. missachteten und die ökonomischen Interessen der Koloni- 208 Seiten, 39,95 Euro (E-Book: 36,99) alwirtschaft wahrten. Hinter all den angeblich zivilisatorischen Projekten verber- Nörgeln Sie noch oder inspirieren Sie schon? Wenn Sie gen sich jedoch Massengräber. Die spezifischen Metho- Härters Buch „Die Kunst gesunder Führung“ gelesen ha- den des französischen Kolonialismus waren ein perfides ben, zählen Sie garantiert zur zweiten Kategorie. Der Titel Zusammenspiel von zweijährigem „Arbeitsdienst“, d. h. ein legt nahe, dass das Buch Tipps für Führungskräfte enthält, System von Zwangsarbeit, einer zu erbringenden Kopf- mit denen sie die Kultur ihres Unternehmens positiv beein- steuer und erzwungenem Wehrdienst. In seinen Reporta- flussen können. Doch eigentlich handelt es sich um einen gen vermittelt Londres authentische Einblicke in das bru- Lebensratgeber für alle. Denn die zwei Kernthesen des tale System der Zwangsarbeit. Die französischen Kolonial- Buchs lauten: (1) „Jeder/jede Einzelne trägt Verantwortung herren griffen durchweg auf Zwangsarbeit oder eine Art für das Gesamte“ und (2) „Nur wenn es mir selbst gut geht, Arbeitsdienstpflicht bei öffentlichen Arbeiten, Wege- und kann ich positiv auf mein Umfeld wirken“. Oder mit Härters Eisenbahnstreckenbau zurück. Die Kopfsteuer diente nicht Worten gesagt: Makro-Führung setzt eigene Mikro-Füh- nur der Versorgung der Kolonialstaatskasse, sondern auch rung voraus. der Beschaffung von Arbeitskräften, konnte die Steuer Konsequenterweise enthält das Buch dann auch Checklis- doch durch Arbeitsleistung ersetzt werden. Das gnaden- ten für „Achtsamkeit und Aufrichtigkeit im Alltag“ oder „Lis- lose Arbeitsdienstsystem wurde von den Weißen „Bana- ten für gesunde Kultur-Gene“. Überhaupt ist es eine Stärke nen-Motoren“ genannt: Schwarze Arbeitskraft ersetzte des Buchs, im Anschluss an die gut recherchierten und ver- Maschinen! ständlich erklärten theoretischen Modelle klare Hand- Londres Afrikareportage ist längst ein Klassiker der Koloni- lungsanweisungen und konkrete Praxistipps folgen zu las- alismuskritik. Wenngleich die Rezeptionsgeschichte im sen. Diese sind durch kleine Icons markiert und dadurch deutschsprachigen Raum nicht frei von politischer Instru- schnell auffindbar. Und damit klar wird, wie die empfoh- mentalisierung war. So ließ der erste deutschsprachige lene Verhaltensweise konkret umgesetzt werden kann, ver- Verleger den Epilog des Buches, indem ein „humaner“ Ko- deutlicht der Autor dies an typischen Alltagssituationen. lonialismus propagiert wird, weg. Den Leserinnen und Le- Ein mehrseitiger Gesprächsleitfaden zeigt beispielhaft, sern sollte mit den erschütternden Reportagen die Grau- wie wir eine negative Gesprächshaltung positiv wenden samkeit der französischen Kolonialwirtschaft vor Augen können. Indem Härter immer wieder auch Szenen aus der geführt werden. Die politische Indienstnahme des Buches Literatur als Beispiele heranzieht, zeigt er ganz nebenbei, zeigte sich u. a. in der finanziellen Unterstützung durch die was wir aus Geschichten lernen können. Dritte Kommunistische Internationale und die Liga gegen Ein Lebensratgeber wird Härters Buch auch durch seine den Imperialismus und die koloniale Unterdrückung. weitgefasste Definition von Gesundheit. Beginnend mit Gleichwohl gelten die Reportagen von Albert Londres als dem Frust, der uns krank macht, zeigt er auf, dass Gesund- kanonische Texte der Kolonialismuskritik. Zahlen aus heit vor allem heißt, mit sich selbst und Anderen im Reinen „Schwarz und Weiß. Die Wahrheit über Afrika“ dienten in zu sein. Härters „Schritte für den inneren Dialog des Inne- Anklageschriften gegen den Kolonialismus als Beleg: So haltens“ geben Impulse für die Stärkung der Resilienz. Be-

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zogen auf das Unternehmen spricht er von psychosozialer sechs Stufen, mit denen der kulturelle Wandel durch einen Gesundheit in der Unternehmenskultur. Um diese zu errei- „Arbeitskreis psychosoziale Gesundheit“ angestoßen wer- chen, empfiehlt er fünf klar definierte Offensivschritte, die den kann. Sein Credo: Eine gesunde Unternehmenskultur bis ins Detail heruntergebrochen werden. Sein Modell so- ist mehr als Sport treibende Mitarbeiterinnen und Mitar- wie der daraus abgeleitete Fragenkatalog eignen sich zur beiter sowie ergonomische Schreibtische – sie ist ein konti- Leitbilderstellung einer jeden Einrichtung. Eine Umsetzung nuierlicher Organisationsentwicklungsprozess. Vor die- dieser Schritte ist außerdem die Basis für ein gelingendes sem Hintergrund wundert ein wenig, dass keine der aktuell betriebliches Gesundheitsmanagement. Die in diesem propagierten Führungskonzepte wie flache Hierarchien Kontext eingesetzten „Arbeitskreise Gesundheit“ scheitern oder agile, sich selbststeuernde Teams thematisiert wer- häufig daran, dass sie die notwendigen Veränderungspro- den. Das bleibt vielleicht einer Fortsetzung vorbehalten – zesse in der Organisation außen vor lassen. Härter stellt ich freue mich drauf! auch hier eine Best-practice-Alternative vor und definiert Sabine Keitel Ü

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bbis2020_04_inhalt.inddis2020_04_inhalt.indd 304304 330.11.200.11.20 08:4308:43 Die Zeitschriften der Landeszentrale für politische Bildung LpB-Shops/ 4-2019 3–2020 Publikationsausgaben 79–2020

Stuttgart Lautenschlagerstraße 20 70173 Stuttgart Zeitschrift für die Praxis der politischen Bildung politischen der Praxis die für Zeitschrift Telefon: 0711/164099-0 Öffnungszeiten:

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Schlussstriche und lokale Erinnerungskulturen Die „zweite Geschichte“ der südwestdeutschen Außenlager des KZ Natzweiler seit 1945 Marco Brenneisen

Marco Brenneisen legt eine umfassende Dar-

Marco Brenneisen stellung der „zweiten Geschichte“ der südwest- deutschen Natzweiler-Außenlager vor, in der Schlussstriche er den gesellschaftlichen, politischen, admini- strativen und historiographischen Umgang mit und lokale diesen Orten des Terrors seit der Besatzungs- Erinnerungskulturen zeit analysiert. Die „zweite Geschichte“ der südwestdeutschen Er zeichnet Phasen und Zäsuren der Aufar- Außenlager des KZ Natzweiler seit 1945 beitung und des Gedenkens nach und nimmt geschichts- und erinnerungspolitische Ausei- nandersetzungen auf lokaler und regionaler Ebene in den Blick. Aus der Zusammenschau dieser spezifisch lokalen Erinnerungskulturen entsteht ein diffe- renziertes Bild, das zum besseren Verständnis der heutigen Gedenkstättenlandschaft Baden- Württembergs beiträgt.

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