ISSN 0007–3121

DER BÜRGER IM STAAT

3–2012

Der Machtwechsel. Das erste Jahr Grün-Rot DER BÜRGER IM STAAT

INHALT Uwe Wagschal Einleitung: Der historische Machtwechsel. Das erste Jahr Grün-Rot 106 Dieter Roth Was entschied die Wahl? 109 Carmina Brenner Wahlverhalten der Baden-Württemberger bei der Landtagswahl 2011 117 Stefanie Haas

HEFT 3–2012 Wandern ins Grüne: Wählerbewegungen in 62. JAHRGANG Baden-Württemberg 123 ISSN 0007–3121 Joachim Behnke Das Wahlsystem von Baden-Württemberg:

„Der Bürger im Staat” wird von der Landeszentrale Analyse der Wahl von 2011 und Reformperspektiven 129 für politische Bildung Baden-Württemberg herausgegeben. Udo Zolleis/Josef Schmid/Daniel Buhr DIREKTOR DER LANDESZENTRALE Der Wahlkampf der Landesparteien 2011 135 Lothar Frick Frank Brettschneider/Marko Bachl REDAKTION Das TV-Duell vor der Landtagswahl 2011 – Siegfried Frech, [email protected] Wahrnehmungen und Wirkungen 141 REDAKTIONSASSISTENZ Michael Wehner Barbara Bollinger, [email protected] Die historische Niederlage der CDU – ANSCHRIFT DER REDAKTION Ursachen für das Scheitern 148 Staffl enbergstraße 38, 70184 Telefon 0711/164099-44, Fax 0711/164099-77 Wolfgang Jäger Verliebt in die Krise? Die Volksparteien und die deutsche HERSTELLUNG Schwabenverlag Media der Schwabenverlag AG Politikwissenschaft 156 Senefelderstraße 12, 73760 Ostfi ldern-Ruit Lothar Frick Telefon 0711/4406-0, Fax 0711/442349 Die Schlichtung zu – Vorbild für eine neue GESTALTUNG TITEL Bürgerbeteiligung? 162 Bertron.Schwarz.Frey, Gruppe für Gestaltung, Ulm Uwe Wagschal GESTALTUNG INNENTEIL Die Volksabstimmung zu Stuttgart 21: Britta Kömen, Schwabenverlag Media der Schwabenverlag AG Zwischen parteipolitischer Polarisierung und „Spätzlegraben“ 168

VERTRIEB Matthias Fatke/Markus Freitag Süddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm Die direkte Demokratie in Baden-Württemberg und Stuttgart 21 174 Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm Telefon 0731/9457-0, Fax 0731/9457224 Johannes N. Blumenberg/Thorsten Faas www.suedvg.de Abstimmung gut, alles gut? 182 Der Bürger im Staat erscheint vierteljährlich. Ulrich Eith/Gerd Mielke Preis der Einzelnummer 3,33 EUR. Volksentscheide versus Parteiendemokratie? Jahresabonnement 12,80 EUR Abbuchung. Das Lehrstück Stuttgart 21 188 Bitte geben Sie bei jedem Schriftwechsel mit dem Verlag Ihre auf der Adresse aufgedruckte Uwe Wagschal Kundennummer an. Machtwechsel oder Politikwechsel? Eine Analyse zentraler Politik- felder nach einem Jahr Grün-Rot in Baden-Württemberg 194 Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers und Buchbesprechungen 202 der Redaktion wieder.

Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. THEMA IM FOLGEHEFT Nachdruck oder Vervielfältigung auf elektronischen Daten- trägern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit Genehmigung der Redaktion. •••••••••••••••••••••••••••••••••Armut Blick in den Plenarsaal des in Stuttgart (30.6.2011). Die Abwahl der CDU-FDP-Regierungskoalition am 27. März 2011 markiert in mehrfacher Hinsicht eine historische Zäsur in der Politik des Landes Baden-Württemberg. Erstmals wurde ein Politiker der Grünen Ministerpräsident eines Bundeslandes der Bundesrepublik Deutschland. Im vorliegenden Heft wird die Landtagswahl 2011 unter politikwissenschaftlichen Gesichtspunkten aufgearbeitet und eine erste Zwischenbilanz der neuen Landesregierung vorgenom- men. picture-alliance/dpa

105 ZUM HEFT UND ZU DEN BEITRÄGEN Einleitung: Der historische Machtwechsel. Das erste Jahr Grün-Rot Uwe Wagschal

Die Abwahl der CDU-FDP-Regierungs- rückführen, welches die Themen (Stutt- cher Verzerrungseffekt, der die größte koalition am 27. März 2011 markiert in gart 21, Atomausstieg nach Fukushima) Partei bevorzugt – ein Effekt, der sich mehrfacher Hinsicht eine historische in den Mittelpunkt stellt, die Rolle der bei zunehmender Parteienzersplitte- Zäsur in der Politik und der Geschichte Kandidaten betont (schlechte Bewer- rung verstärkt. des Landes Baden-Württemberg. Erst- tung des damaligen Ministerpräsiden- Die Tübinger Politikwissenschaftler Udo mals wurde ein Politiker der Grünen Mi- ten Mappus) und auch langfristige sozi- Zolleis, Josef Schmid und Daniel Buhr nisterpräsident eines Bundeslandes der alstrukturelle Trends als Ursache aus- nehmen den Wahlkampf der Landes- Bundesrepublik Deutschland. Seit dem macht. parteien in den Blick. Sie konstatieren, 12. Mai 2011 übt Die Präsidentin des Statistischen Lan- dass programmatische Innovationen im dieses Amt aus. Damit wurde die CDU, desamtes, Carmina Brenner, wertet – im Wahlkampf vollständig ausblieben und die zwar stärkste Partei im Gegensatz zu der Studie von Dieter die Art des Wahlkampfes sehr traditio- blieb, nach über 58 Jahre durchgehen- Roth, die auf Umfragedaten der For- nell war. Dennoch zeigte sich durch der Regierungsbeteiligung und „Besitz“ schungsgruppe Wahlen e. V. basiert, – die Dominanz der beiden Themen Stutt- des Amtes des Ministerpräsidenten von die Daten der amtlichen Wahlstatistik gart 21 und Energiewende bzw. Atom- einer Koalition aus Grünen und SPD ab- aus. Ihre Darstellung des Wahlverhal- ausstieg eine starke Themenfokussie- gelöst. In keinem anderen Bundesland tens der Baden-Württemberger bei der rung im Wahlkampf, die jedoch nicht – selbst nicht in Bayern – gab es eine Landtagswahl weist zunächst auf die der Union nutzte. Die Autoren schreiben solch lange und durchgehende Domi- stark gestiegene Wahlbeteiligung hin. der CDU insgesamt eine geringe Pro- nanz einer der beiden Unionsparteien. Daneben werden – was als generelles grammkompetenz zu, was mit ursäch- Historisch war ebenfalls, dass die Grü- Muster bei fast allen Wahlen auftritt – lich für die Verluste scheint. nen erstmals die SPD überholten und ihr deutliche Unterschiede im Wahlverhal- Die Kommunikationswissenschaftler bestes Ergebnis bei einer Landtagswahl ten deutlich, wenn man auf das Alter der Frank Brettschneider und Marko Bachl erzielten, was bei den Sozialdemokra- Wählerinnen und Wähler blickt. So (Universität Hohenheim) haben das TV- ten nicht nur Freude über die Verände- wählen gerade Jüngere deutlich weni- Duell der beiden Spitzenkandidaten rung der politischen Machtverhältnisse ger als Ältere. Ferner zeigt die Analyse, Stefan Mappus (CDU) und auslöste, sondern auch Unbehagen dass Frauen in geringerem Ausmaß als (SPD) vor der Landtagswahl 2011 mit und Furcht über einen möglichen weite- Männer gewählt haben. Bemerkens- Hilfe neuer wissenschaftlicher Metho- ren Bedeutungsverlust. Denn für die SPD wert ist zudem, dass in der Alterskohor- den untersucht. Sie zeigen, dass insbe- war es der schlechteste jemals im Land te von 35 bis 59 fast jeder Dritte die sondere Stefan Mappus von dem Aufei- erreichte Stimmenanteil in einer Land- Grünen gewählt hat. nandertreffen mehr profitieren konnte tagswahl. Stefanie Haas (Infratest dimap und Uni- als Nils Schmid. Insgesamt wurde Map- Diese Ausgabe der Zeitschrift „Der Bür- versität Freiburg) beschäftigt sich in ih- pus eine höhere Kompetenz in wichti- ger im Staat“ analysiert diesen histori- rem Beitrag genau mit dieser Entwick- gen Sachbereichen (Bildung und Finan- schen Machtwechsel im „Ländle“ aus lung. Ihr Beitrag „Wandern ins Grüne: zen) zugeschrieben als seinem Heraus- verschiedenen Perspektiven. Im Zen- Wählerbewegungen in Baden-Würt- forderer Schmid. t r u m s t e h e n d a b e i v i e r v e r s c h i e d e n e B e - temberg“ zeigt auf der Basis von Umfra- Michael Wehners (Leiter der Außenstel- reiche, die jeweils mit mehreren Beiträ- gedaten, dass die Grünen vor allem bei le Freiburg der Landeszentrale für poli- gen beleuchtet werden: Nichtwählern besonders stark gewon- tische Bildung Baden-Württemberg) l Der Komplex der Wahlanalyse, des nen haben, aber auch Wählerinnen detaillierte Analyse der historischen Wahlkampfes und des Wahlsystems. und Wähler von allen anderen Parteien Niederlage der CDU beleuchtet die Ur- l Die Veränderungen der Parteien und anzogen. Außerdem gewannen die sachen für das Scheitern in der Land- der Parteienlandschaft. Grünen die meisten Erstwähler. Zudem tagswahl. Auch er identifiziert eine Rei- l Die Analyse der Volksabstimmung zu weist sie darauf hin, dass sich die Wäh- he von Gründen für die Malaise der Stuttgart 21 als das zentrale Ereignis lerinnen und Wähler immer kurzfristiger CDU. Neben dem unbeliebten Spitzen- des ersten Regierungsjahres von Grün- vor der Wahl entscheiden. kandidaten Stefan Mappus macht auch Rot. Joachim Behnke (Zeppelin-Universität er langfristige strukturelle Veränderun- l Die Analyse der Politikinhalte bezie- Friedrichshafen) weist in seinem Beitrag gen als Ursache aus. Hinzu kommt eine hungsweise der Regierungstätigkeit zum Wahlsystem von Baden-Württem- unzureichende Akzeptanz der CDU bei der neuen Landesregierung. berg darauf hin, dass gerade institutio- weiblichen Wählerinnen sowie bei Dieter Roth (Universität Heidelberg), nelle Besonderheiten wie das Wahlsys- Jungwählern. Neben Defiziten in der lo- der „Doyen“ der bundesdeutschen tem auch das Ergebnis mit beeinflussen kalen Verankerung wurde auch eine Wahlforschung, untersucht in seinem können. Durch die Trennung des Wahl- programmatische Schwäche konsta- Beitrag die zentralen Gründe für den gebietes in vier Regierungsbezirke kön- tiert. Wahlausgang. Bei seiner Antwort auf nen im Endergebnis auftretende Über- Der ehemalige Rektor der Universität die klassische Frage „Was entschied die hangmandate die Wahl beeinflussen F r e i b u r g , Wo l f g a n g J ä g e r, b e l e u c h t e t i n Wahl?“ unterscheidet er zwischen kurz- und möglicherweise sogar die Mehr- seinem Beitrag die vermeintliche Krise fristigen und langfristigen Ursachen heitsverhältnisse drehen, trotz der Aus- der Volksparteien. Dabei plädiert er für des Wahlergebnisses. So lässt sich das gleichsmandate. Gerade in Baden- eine weniger dramatisierende Darstel- Ergebnis auf einen Mix aus Faktoren zu- Württemberg besteht ein solch deutli- lung der zu beobachteten Veränderun-

106 gen im Parteiensystem. Auch die sich gart 21. Dazu werden Ergebnisse auf EINLEITUNG: DER HISTORISCHE abzeichnende weitere Ausweitung di- der Ebene der Stadt- und Landkreise so- MACHTWECHSEL. rektdemokratischer Beteiligungsformen wie Individualdaten aus einer Umfrage DAS ERSTE JAHR GRÜN-ROT steht nicht im Widerspruch zum Reprä- herangezogen. Es zeigt sich, dass es vor sentativsystem Baden-Württembergs. allem die parteipolitische Polarisierung Das prägende Ereignis des ersten Re- zwischen Grünen und CDU war, die die da die Entfernung einen dämpfenden gierungsjahres war die Volksabstim- Stimmabgabe beeinflusste. Daneben Effekt auf die Abstimmungsbeteiligung mung zu Stuttgart 21. Für die politische können markante Unterschiede zwi- aufweist. Daneben sind es verschiede- Kultur des Landes Baden-Württemberg schen den beiden Landesteilen Baden ne Ressourcen- und Mobilisierungsfak- war der Volksentscheid von zentraler und Württemberg identifiziert werden. toren (z. B. Anteil der Parteimitglieder), Bedeutung, zumal die Auseinanderset- Dieser „Spätzlegraben“ weist auf eine die eine Auswirkung auf die Höhe der zung nicht nur für die Landtagswahl mit deutlich höhere Ablehnung im badi- Abstimmungsbeteiligung besitzen. entscheidend (vor allem als Mobilisie- schen Landesteil hin. Die These der Ab- Johannes Blumenberg und Thorsten rungskatalysator), sondern auch durch lehnung von Infrastrukturprojekten in Faas (Universität Mannheim) gehen in massive – mitunter gewalttätige – De- der Nachbarschaft bzw. der Nähe des ihrem Beitrag „Abstimmung gut, alles monstrationen hoch politisiert war. Ein Wohnorts (= NIMBY-These; engl. „not gut?“ der Frage nach den Auswirkungen Schlüsselereignis war dabei die Schlich- in my back yard“) kann jedoch nicht be- der Volksabstimmung zu Stuttgart 21 tung zu Stuttgart 21 im Vorfeld der Wahl stätigt werden, da im Großraum Stutt- nach. So weisen die Autoren der Volks- im Herbst 2010. Lothar Frick, Direktor gart die Zustimmung größer war als in abstimmung eine eindeutig befrieden- der Landeszentrale für politische Bil- weiter entfernten Stimmbezirken. de Wirkung zu, zumal auch die Akzep- dung Baden-Württemberg, war seiner- Die Überlegungen von Matthias Fatke tanz des Ergebnisses – gerade auch bei zeit als Büroleiter der Schlichtungskom- und Markus Freitag (Universität Bern) den Gegnern von S21 – hoch war. In der mission und enger Mitarbeiter Heiner schließen hieran an. Die Autoren analy- Bedeutung der zentralen Probleme des Geißlers in die aktive Auseinanderset- sieren die direkte Demokratie in Baden- Landes ist S21 somit im Zeitablauf in der zung und das Schlichtungsverfahren in- Württemberg und die Stimmbeteiligung Prioritätenliste deutlich nach „hinten“ volviert. Sein Insiderbericht stellt insbe- zu Stuttgart 21. Auch sie fokussieren auf gerutscht. sondere die Frage, ob das Schlichtungs- die Ergebnisse der Stadt- und Landkrei- Die Erwartungen, die gegenwärtig in verfahren Vorbild für eine neue Form se und ziehen für ihre Analyse zahlrei- eine Ausweitung der direkten Demokra- von Bürgerbeteiligung sein kann. che sozioökonomische und soziale Indi- tie gesetzt werden, sind hoch. Am Bei- Der Beitrag von Uwe Wagschal analy- katoren heran. Sie folgern, dass die Di- spiel des Volksentscheids zu Stutt- siert die Volksabstimmung zu Stutt- stanz nach Stuttgart von Bedeutung ist, gar t 21 diskutieren Ulrich Eith und Gerd

Der Schriftzug „abwählen“ auf einem Wahlplakat der CDU mit dem Porträt von Stefan Mappus. Die Abwahl der CDU-FDP-Regierung am 27. März 2011 markiert in mehrfacher Hinsicht eine historische Zäsur in der Politik und Geschichte des Landes Baden-Württemberg. picture alliance/dpa

107 Uwe Wagschal Uwe

War mit dem Machtwechsel auch ein Politikwechsel verbunden? Während im Feld der Hochschul- und Bildungspolitik ein Politikwandel herbeigeführt wurde, ist das Ziel der Haushaltskonsolidierung fraglich. Trotz angekündigter Sparmaßnahmen ist der Landeshaushalt stark angestiegen. Ein Blick auf andere Politikfelder zeigt, dass sich nach über einem Jahr Grün-Rot nicht allzu viel dramatisch verän- dert hat. picture alliance/dpa

Mielke das Verhältnis von direkter De- zwar aktiv vertreten und jüngst auch mit gestiegen und dies bei einer sehr guten mokratie und Parteiendemokratie unter der Ankündigung des Streichens von konjunkturellen Situation im Land. den Bedingungen der vorherrschenden über 11.000 Lehrerstellen in den kom- Allerdings zeigt sich nach über einem politischen Kultur. Es geht dabei nicht menden Jahren konkret angegangen, Jahr Grün-Rot auch, dass sich nicht all- um den häufig attestierten Gegensatz doch steht dies im Gegensatz zum star- zu viel dramatisch geändert hat. Öko- zwischen einem direktdemokratischen ken Ausgabenwachstum unter Grün- nomisch zumindest ist die Situation und einem repräsentativen Demokratie- Rot. Seit Mitte der 1990er Jahre ist der weiterhin ausgezeichnet, was ältere modell. Vielmehr haben die Auseinan- Landeshaushalt nicht mehr so stark an- Thesen zu den eher geringen wirt- dersetzungen um Stuttgart 21 gezeigt, schaftlichen Auswirkungen von Macht- dass es darauf ankommt, den gewach- wechseln stützt. Die Landesregierung senen Partizipationswünschen der Bür- lebt zu einem guten Teil von der Popula-

gerinnen und Bürger institutionell Rech- AUTOR UNSER rität des Ministerpräsidenten Kretsch- nung zu tragen. Die zukünftig spannen- mann, was interne Streitigkeiten der Ko- de Frage wird sein, in welchem produk- alitionspartner überdeckt. Dagegen tiven Verhältnis Elemente aus beiden befindet sich die Opposition, insbeson- Demokratiemodellen miteinander zu dere nach den Vorgängen und staats- verbinden sind und wie sich die zur po- anwaltlichen Ermittlungen zum EnBW- litischen Legitimitätssicherung unver- Deal noch in einer „Findungsphase“. zichtbare politische Kultur in Richtung Dank gebührt allen Autorinnen und Au- auf eine Kultur der Mitentscheidung toren, die in ihren Beiträgen aufschluss- weiterentwickeln wird. reiche Informationen und Einsichten Schließlich fokussiert der Beitrag von vermitteln, die für ein besseres Ver- Uwe Wagschal auf die Regierungstä- ständnis der Thematik wichtig sind und tigkeit der neuen Landesregierung. War Prof. Dr. Uwe Wagschal ist Professor für so den wissenschaftlichen Diskurs inten- mit dem Machtwechsel auch ein Politik- Vergleichende Regierungslehre an der sivieren. Die Autorinnen und Autoren wechsel verbunden? Die Analyse der Universität Freiburg. Zuvor war er Pro- sind dem FRIAS (Freiburg Institute of Ad- zentralen Politikfelder findet einerseits fessor an den Universitäten Heidelberg vanced Studies) der Universität Frei- in einer Kontrastierung der aktuellen und München. Er hat Politikwissenschaft burg zu großem Dank verpflichtet, da Politik mit derjenigen der Vorgängerre- und Volkswirtschaftslehre studiert und das FRIAS eine zweitägige Konferenz gierung statt und andererseits mit den promovierte 1996 mit einer Arbeit zur ermöglicht hat, auf dem die Artikel die- eigenen programmatischen Ansprü- Staatsverschuldung an der Universität ses Heftes intensiv diskutiert wurden. chen. Es zeigt sich, dass vor allem im Heidelberg. Seine Schwerpunkte sind Dank gebührt nicht zuletzt der Landes- Feld der Hochschulpolitik und der Bil- die vergleichende Staatstätigkeitsfor- zentrale für politische Bildung Baden- dungspolitik besonders aktiv ein Politik- schung, Direkte Demokratie sowie das Württemberg sowie dem Schwaben- wandel herbeigeführt worden ist. Das Politische System der Bundesrepublik verlag für die gute und effiziente Zu- Ziel der Haushaltskonsolidierung wird Deutschland. sammenarbeit.

108 WAHLENTSCHEIDUNGEN SIND KOMPLEXE VORGÄNGE Was entschied die Wahl? Dieter Roth

zu den rationalen Faktoren, die langfris- Entscheidungsursachen unterstreichen Wahlentscheidungen sind reichlich kom- tigen gegenüber den kurzfristigen und könnte, gehört, dass die „alten“ Partei- plexe Vorgänge, die zahlreichen Einflüs- die strukturellen im Gegensatz zu den en CDU, SPD und FDP ihr schlechtestes sen unterliegen. Dieter Roth warnt daher konjunkturellen Einflüssen. Welche da- Ergebnis seit Bestehen des Landes hin- vor vermeintlich schnellen und zunächst von im Fall der Landtagswahl 2011 die nehmen mussten. Dies ist mit Fukushima einfachen Schlüssen. Drei Ergebnisse der entscheidenden waren, soll im Folgen- sicherlich nicht zu erklären. Das Wahl- Landtagswahl 2011 sind besonders auf- den herausgearbeitet und in eine klare ergebnis ist ja nicht ohne Vorwarnung fallend und erklärungsbedürftig: Die Rangordnung von Einflussfaktoren ge- über das Land „hereingebrochen“. Glei- dramatischen Verluste der „alten“ etab- bracht werden. ches gilt für die Grünen, die mit einem lierten Parteien CDU, SPD und FDP, die Für einige Medien und für viele Politiker Rekordgewinn ihr bestes Ergebnis bei außerordentlich hohen Gewinne der (vor allem unter den Verlierern) konnte einer Landtagswahl überhaupt erreich- Grünen und die Steigerung der Wahlbe- das Wahlergebnis vermeintlich schnell ten, zum ersten Mal in einem Land die teiligung im zweistelligen Prozentpunk- und leicht erklärt werden. Folgt man ih- Sozialdemokraten übertrumpften und te-Bereich. Wendet man sozialstrukturel- nen, so waren die schrecklichen Ereig- zur zweitstärksten politischen Kraft in le, sozialpsychologische und rationale nisse in Japan unmittelbar vor der Wahl einem strukturell konservativen Bundes- Erklärungsansätze der Wahlforschung entscheidend für die Abwahl der Regie- land wurden. Auch hier gab es Vorbo- auf die Landtagswahl 2011 an, lassen rung aus CDU und FDP und für das Er- ten – allerdings ganz anderer Art, was sich die drei auffallenden Ergebnisse der Wahl durchaus erklären. Neben struktu- starken der Grünen. Auch der abge- noch zu zeigen sein wird. rellen Veränderungen der Wählerschaft wählte Ministerpräsident hat bei seinen Eine derart starke Verschiebung politi- 2 haben kontroverse Themen im Vorfeld Erklärungen vor Parteifreunden unmit- scher Gewichte führte nicht nur zum ers- der Wahl die Wahlentscheidung und telbar nach der Wahl und auch ein Jahr ten vollständigen Regierungswechsel in Wahlbeteiligung merklich beeinflusst. danach in einer halböffentlichen Erklä- Baden-Württemberg und einer Ablö- Vor allem die kompromisslose Reaktion rung3 keine Fehler bei sich selbst oder sung der CDU aus der Landesregierung auf Stuttgart 21 und die Katastrophe in seiner Partei ausmachen können, son- nach 58 Jahren, sondern auch zu einem Japan haben die Glaubwürdigkeit der dern das Schicksal bemüht, um den Sieg neuen Koalitionsmodell und zum ersten CDU-geführten Landesregierung negativ der Grünen und die eigene Niederlage grünen Ministerpräsidenten in Deutsch- beeinflusst und die Wechselstimmung z u be gr ünde n. Demnach war eine Kata- land. Gleichzeitig stieg die Beteiligung befördert. Letztlich waren es unter dem strophe von außen, nicht vorhersehbar gegenüber der letzten Landtagswahl Gesichtspunkt rationaler Entscheidungs- oder beeinflussbar und weit weg vom (2006) um über eine Million Wähler kriterien die drei Themen Atomkraft, Südweststaat, der entscheidende Fak- oder 12,9 Prozentpunkte. Dies ist ein Stuttgart 21 sowie Schule und Bildung, tor für das Wahlergebnis. Zeichen für die starke politische Moti- die eine entsprechende Unterstützung Zwar dürfen Politiker vereinfachen und viertheit der Wähler und ein Zeichen für die einzelnen Parteien gebracht ha- Medien dürfen fokussieren. Vielleicht ist hoher Veränderungsbereitschaft.5 Au- ben. Ies sogar eine ihrer hauptsächlichen ßer bei der FDP, die fast 40 Prozent ihrer Aufgaben bei der Erklärung politischer Ausgangsstärke einbüßte, haben alle Entscheidungen für ein breiteres Publi- Parteien gegenüber der Landtagswahl kum. Wahlen und ihre Ergebnisse je- 2006 Wähler hinzugewonnen. Auch die Wahlentscheidungen sind komplexe doch eignen sich nicht für schlichte oder CDU konnte fast zweihunderttausend Vorgänge gar monokausale Erklärungen. Denn: Wähler mehr verbuchen. Allerdings war Wahlergebnisse sind das Resultat viel- bei der Mobilisierung neuer Wähler Die baden-württembergische Land- fältigster Überlegungen und Begrün- keine Partei so erfolgreich wie die Grü- tagswahl am 27. März 2011 war sicher- dungen einzelner Individuen. Sie sind nen, die auf mehr als das Anderthalb- lich der interessanteste Urnengang des viel zu wichtig für das Gemeinwesen fache ihrer Ausgangsstärke zulegen Jahres 2011 und das Ergebnis das spek- (schließlich ordnen sie die Machtvertei- konnten. Von einer Fraktionsstärke von takulärste von allen Wahlen. Die Frage lung im demokratisch verfassten Staat), 17 sind sie auf 36 Mandate angewach- „Was entschied die Wahl?“ verlangt als dass man ein offiziell ausgezähltes sen, wobei sie neun Direktmandate er- nach einer Antwort auf der Basis solide und überprüftes Wahlergebnis als ringen konnten, darunter drei von vier erhobener empirischer Daten. Diese Schicksalsschlag – zum falschen Zeit- Stuttgarter Wahlkreisen, beide Frei- sollten auf der Grundlage theoriegelei- punkt für einen unglücklich agierenden burger Wahlkreise, die Wahlkreise Tü- teter Vorüberlegungen erhoben wor- Ministerpräsidenten – banalisieren bingen, Konstanz, Heidelberg sowie den sein, denn die Überprüfung jeder könnte. Etwas mehr an Erklärung muss Mannheim II. Fragestellung verlangt nach einer wis- es schon sein. senschaftlichen Fundierung.1 Wir ken- nen eine Vielzahl von Einflussfaktoren Erklärungsansätze der Wahlforschung auf individuelle Wahlentscheidungen, Ergebnisse der Landtagswahl und die meisten von ihnen wirken simul- Die Wahlforschung hat nun nicht die ei- tan. Eine Wahlentscheidung ist ein Es scheint zunächst sinnvoll, kurzfristige ne alles erklärende Theorie zur Hand, hochkomplexer Vorgang. Die Bestim- von langfristigen Ursachen des Wahl- um Wahlen generell oder das Ergebnis mungsfaktoren dafür sind zahlreich und ergebnisses zu trennen. Zu den Ergeb- dieser einen speziellen Wahl vollstän- haben oft mehrere Dimensionen. Wir nissen der Wahl,4 deren Dramatik zu- dig erhellen zu können. Das liegt daran, kennen die emotionalen im Gegensatz mindest die Plausibilität für einzelne dass es auch nicht eine Theorie zur Er-

109 klärung menschlichen Verhaltens gibt. Die Wahlforschung bemüht sich jedoch, individuelle politische Entscheidungen,

Dieter Roth also menschliches Verhalten bei einer Wahl (auch die Wahlenthaltung), zu er- klären. Bei ihren Erklärungsversuchen kann sie auf einen recht umfassenden sozialwissenschaftlichen Instrumenten- kasten zurückgreifen. Mit ihm versucht die Sozialwissenschaft und damit auch die empirische Wahlforschung heraus- zufinden, welche Faktoren für soziales und politisches Handeln in einer spezifi- schen Situation greifen und welche nicht. Um unsere Frage zu beantworten, müs- sen wir versuchen, Entscheidungsursa- chen bei Wahlen zu ordnen und zu bün- deln. Wir müssen nicht jedes Mal von vorne beginnen, denn die akademische Übung, Wahlen zu erklären, gibt es schon seit Beginn demokratischer Ab- stimmungen Mitte des 19. Jahrhunderts. Seit unterschiedliche Formen von Demo- kratien und damit auch Wahlen die ge- samte westliche Hemisphäre kennzeich- nen, haben sich (1) der Objektivität und der Ursachenforschung verpflichtete Wissenschaftler, (2) berufsmäßig neu- gierige Medien in Erfüllung ihrer Aufga- be und (3) natürlich auch die Bürgerin- nen und Bürger des Gemeinwesens da- für interessiert, wie es zu den Resultaten bei Wahlen kommt, was die Entschei- dungen der Wählerinnen und Wähler beeinflusst, lenkt oder zumindest mit- bedürftig: (1) Die dramatischen Verluste Das Pendel zwischen den Regierungs- bestimmt. der „alten“ etablierten Parteien CDU, und Oppositionsparteien schwingt Drei theoretische Erklärungsansätze, SPD und FDP, (2) die außerordentlich nicht einfach hin- und her, sondern es die das Verhalten des Souveräns in ei- hohen Gewinne der Grünen und (3) die gewinnen die „normalerweise“ nicht an ner Demokratie nachvollziehbar ma- Steigerung der Wahlbeteiligung im der Machtverteilung beteiligten, „nicht chen sollen, haben sich – mit unter- zweistelligen Prozentpunkte-Bereich. etablierten“ Parteien. Daraus ergeben schiedlichen Schwerpunkten – seit sich völlig neue Macht- und Regierungs- Mitte des 20. Jahrhunderts herausge- konstellationen.7 bildet: Die großen Verluste der „alten“ l der sozialstrukturelle Erklärungsansatz, Parteien CDU, SPD und FDP der auf die langfristige Wirkung von Veränderte Rahmenbedingungen Einflüssen abhebt und davon ausgeht, Keine Wahl findet ohne eine Vorge- erklären die Verluste dass der einzelne Wähler bei seiner schichte statt. Vieles dieser Vorge- Entscheidung hauptsächlich von sei- schichte ist älter als eine Legislaturperi- Die Erklärung für die „Altparteien“ CDU nem sozialen Umfeld bestimmt wird; ode. Deshalb muss zur Beantwortung und SPD ist dabei eine etwas andere als l der sozialpsychologische Ansatz, der der Frage, was die Wahl entschieden die für die Verluste der FDP. Während darüber hinaus auch noch kurzfristige hat, eine kurze Beschreibung der Verän- für die Liberalen die strukturellen Anbin- Einflüsse, die in zu wählenden Per- derung der strukturellen Rahmenbedin- d un ge n an B e r u f s gr u p p e n, k irche nnahe sonen oder zu lösenden politischen gungen stehen. Diese Veränderungen oder kirchenferne Großgruppen nie ei- Problemen deutlich werden, berücksi- haben für alle Parteien Bedeutung. Zu ne große Rolle gespielt hatten, gilt für chtigt und beobachten ist allerdings, dass das die so genannten Volksparteien ande- l der rationale Ansatz, der davon aus- „demokratische Auf und Ab“ zwischen res. Hier hat sich Entscheidendes verän- geht, dass Wähler eine dominant öko- denen, die Regierung normalerweise dert. Die Veränderungen der strukturel- nomische Nutzenabwägung vorneh- tragenden „alten“ oder auch „etablier- len Rahmenbedingungen sind bekannt men und deshalb den Politiker oder die ten“ Parteien nicht mehr funktioniert. Mit und wurden häufig diskutiert.8 Trotzdem Partei wählen, die ihnen den größten anderen Worten: Nicht eine Regierung wurden deren Auswirkungen von den Vorteil bringen.6 wird abgestraft, weil sie aus der Sicht „alten“ Parteien zum Teil überhaupt Dies soll nun auf die Landtagswahl 2011 der Wähler „gefehlt“ hat, und die Op- nicht, teils verspätet zur Kenntnis ge- in Baden Württemberg angewendet position oder zumindest Teile der Op- nommen und wegen der Schwergän- werden. Dabei werden alle drei Ansät- position bekommen damit die Chance, gigkeit der Apparate sowie dem Behar- ze als potentielle Erklärungen für das eine neue und „bessere“ Regierung zu rungsvermögen der Parteiorganisatio- Wahlverhalten herangezogen. Drei Er- bilden, sondern alle „alten“ Parteien, nen bestenfalls verzögert beantwortet. gebnisse der Landtagswahl 2011 sind egal ob in der Regierungsverantwor- Dies ist teilweise dadurch zu erklären, besonders auffallend und erklärungs- tung oder in der Opposition, verlieren. dass es ihnen vor allem in Wahlkämpfen

110 Greenpeace- WAS ENTSCHIED DIE WAHL? Aktivisten vor dem Landtag (15.3.2011). In einer außerplan- mäßigen Sitzung Eine weitere wichtige strukturelle Ver- debattierte der änderung ist die stärkere Mobilität der Landtag am Gesellschaft. Im Vergleich zu den An- 15. März 2011 fangsjahren der Bundesrepublik und über Folgerungen auch noch in den 1970er Jahren ist we- aus dem Atomun- gen höherer Bildungschancen großer glück in Japan für Teile der Bevölkerung die Mobilität ge- die Energiepolitik stiegen (und zwar sowohl räumlich als in Baden-Würt- auch in Bezug auf den innergesell- temberg. Die Re- schaftlichen Status). Dies ist eine anhal- aktionen der Lan- tende Entwicklung, die zusammen mit desregierung, vor steigendem Wohlstand in wiederum allem die Kehrt- großen, wenn auch nicht allen Teilen wende des Minis- der Gesellschaft, wohl aber in Baden- terpräsidenten Württemberg, zu dem führt, was die „In- vom entschiedenen dividualisierung der Gesellschaft“ ge- Vertreter des nannt wird. „Ausstiegs vom Für die Union führt das zu einer gewis- Ausstieg“ zum sen Heimatlosigkeit ihrer konservativen Geläuterten waren Wähler, zu einem Verlust der alten Iden- für die Wähler- tität mit der Union, ihrer Werte und Ori- schaft höchst un- entierung.11 Dies gilt ebenfalls für den glaubwürdig. „alten“ Teil der FDP-Anhängerschaft. Für picture alliance/dpa die Wähler der SPD in Baden Württem- berg, über Jahrzehnte hauptsächlich zwischen einem Drittel, später eher ei- nem Viertel der abgegebenen Stimmen liegend, führte diese strukturelle Ent- wicklung gleichfalls zu einem steigen- den Verlust des Zugehörigkeitsgefühls immer wieder gelingt, die Ursachen der Mitgliedschaft“ in einer Partei darstellt. zur mitbestimmenden politischen und Risse im Gebälk zu übertünchen. Dies betrifft die SPD wiederum stärker sozialen Gruppe dieses Landes, was sie Die strukturellen Veränderungen seien als die Unionsparteien. ja in der Vergangenheit durchaus war. hier in aller Kürze skizziert: l Die Kernmilieus der beiden großen Bis in die späten 1980er Jahre deckten l Die gravierenden und anhaltenden Parteien zerfallen. Die ehemals sta- die beiden großen Parteien in Baden Veränderungen der Berufsstruktur ha- bilen Fundamente der beiden Volks- Württemberg mehr als 80 Prozent der ben dazu geführt, dass die alten ge- parteien, auf denen sich sympathisie- Wähler ab. Erst 1992 sank diese Zahl sellschaftlichen Konfliktlinien (cleava- rende Gruppen aufbauen ließen, wa- unter 70 Prozent und liegt 2011 schließ- ges), die Ausgangspunkt von Interes- ren für die Union die häufigen Kirch- lich bei 62 Prozent. senformierungen und ihrer politischen gänger, insbesondere die der katholi- Verstärkt wird dieser Entfremdungspro- Durchsetzung durch große Parteien schen Kirche, und für die SPD die zess der SPD-nahen Wähler durch die waren, nicht mehr die gleiche Bedeu- gewerkschaftlich gebundenen Arbei- Aufteilung des linken Lagers nach 1980 tung haben können wie in den 1950er ter. Diese Kerngruppen sind sehr stark sowie mit den Erfolgen der WASG Jahren.9 geschmolzen. Sie machen nur noch (Wahlalternative Arbeit und Soziale l Die Vorfeldorganisationen der großen einen Bruchteil der Wählerschaft der Gerechtigkeit) 2006 und der Linken Parteien, die Kirchen für die Union und beiden Volksparteien aus (neun Pro- 2011. Hinzu kommt eine weitere „Be- die Gewerkschaften für die SPD, sind zent bei der SPD bzw. zehn Prozent bei triebsstörung“ unter jungen, eher links geschrumpft und haben an Bedeutung der Union).10 Trotzdem ist das Image orientierten Wählern durch die Piraten- verloren. Kirchen und Gewerkschaften der jeweiligen Partei in der Öffent- partei. Das linke Parteienlager gibt es verlieren an Rückhalt in der Gesell- lichkeit durchaus noch von diesen nicht mehr bzw. es ist mehrfach zersplit- schaft, weil sie sowohl stetig an Mit- Gruppen geprägt. Allerdings in einem tert. Eine stabile Orientierung zu einer gliedern verlieren, aber auch weil Ausmaß, das in keinem Verhältnis zu dominanten Partei links von der Mitte, gleichzeitig die Intensität der Bindung den tatsächlichen Gegebenheiten als Alternative zur beherrschenden kon- der Verbleibenden an die Organisati- steht. Deshalb verweisen auch in servativen Union Baden Württembergs, on sinkt. Dies führt zu einem Bedeu- Wahlkämpfen die beiden großen Par- ist kaum noch möglich. tungsverlust dieser Großorganisatio- teien gerne auf die „Wurzeln“ der nen in gesellschaftlichen Auseinander- Partei, um dieses Image zu bedienen. setzungen. Innerhalb der Kerngruppen ist zwar Kontroverse Themen im Vorfeld der l Die Bindekraft der Volksparteien ist die „Treuequote“ für Union und SPD Wahl stark rückläufig. Die Volksparteien ver- nach wie vor hoch (in Baden-Württem- lieren dramatisch an Mitgliedern, die berg 70 Prozent bzw. 38 Prozent), aber Die Veränderungen der strukturellen SPD noch stärker als die Union. Vor rein quantitativ spielen diese Kern- Rahmenbedingungen sind ein stetiger allem aber nimmt die Parteiidentifikati- milieus inzwischen eine vernachlässig- Prozess, dessen Ende nicht absehbar ist. on ab, die eine Art „psychologischer bare Rolle. Die Folgen für die politischen Akteure,

111 insbesondere für die Parteien, sind je- wegen der Wahl geändert habe.13 Und aktoren, deren Sicherheit just ein paar doch nicht unbedingt stetig. Bei be- warum sollten sie ihre schlechte Mei- Monate zuvor offiziell festgestellt wor- stimmten politischen Ereignissen oder nung von der Landesregierung und ih- den war. Mit dieser Überprüfung wurde

Dieter Roth deren Folgen gibt es Veränderungs- rem führenden Kopf am Wahltag än- im Übrigen seinerzeit eine Laufzeitver- schübe, zum Beispiel bei der Auseinan- dern? längerung begründet. Diese Ad-hoc- dersetzung mit eher kontroversen ge- Maßnahmen konnten das bereits durch sellschaftlichen Themen. Die Kernkraft Stuttgart 21 erschütterte Vertrauen in ist eines dieser Themen, das die Gesell- Katastrophen und die die Regierung nicht wieder herstellen. schaft bereits seit den 1970er Jahren Glaubwürdigkeit der Politik Die Maßnahmen wurden vielmehr als bewegt. eher kopflose und unglaubwürdige Für Baden-Württemberg gab es im Vor- Katastrophen im Vorfeld von Wahlen Wahlkampfaktivitäten betrachtet, denn feld der Wahl jedoch keineswegs nur sind grundsätzlich eine gute Gelegen- die Grundhaltung der unionsgeführten dieses eine kontroverse Thema, das heit für die Exekutive, Problemlösungs- Regierung und ihres Ministerpräsiden- dann durch die Katastrophe in Japan fähigkeit und damit Regierungsfähig- ten war ja bekannt. Die Union und Map- eine nicht vorhersehbare Zuspitzung er- keit unter Beweis zu stellen. Als ein- pus befanden sich in einer offensichtli- fuhr. Die Protestbewegung Stuttgart 21, drucksvolles Beispiel wird hier in der chen Glaubwürdigkeitsfalle. deren bürgerliche Verwurzelung von Regel auf die Reaktion von Bundeskanz- Insgesamt gilt jedoch, dass die schlech- der Landesregierung, der sie tragenden ler Gerhard Schröder beim Jahrhun- te Beurteilung der CDU als Partei und Parteien und dem Ministerpräsidenten derthochwasser an der Elbe im August die niedrige Leistungsbewertung als offensichtlich falsch eingeschätzt wur- 2002 verwiesen. Diese wies ihn als Ma- Regierungskraft bereits ein halbes Jahr de, ist ein weiteres relevantes Thema. cher und kompetenten Problemlöser aus vor der Wahl bestand. Diese Bewertun- Und schließlich gab es noch den zwei- und brachte ihm und der SPD mögli- gen haben sich kaum verändert. Glei- felhaften Rückkauf eines großen Aktien- cherweise entscheidende Unterstüt- ches gilt für den Ministerpräsidenten. anteils des staatlichen Energieversor- zung bei der Bundestagswahl 2002. Nicht ohne Grund wurde bereits im gers EnBW für fast fünf Milliarden Euro Allerdings ist es sinnvoll, hier genau die Herbst über den Fortbestand der alten am Parlament vorbei. Ministerpräsident Mechanismen und die Wirkungswei- Regierung spekuliert. Aber die andere Stefan Mappus wollte hier ökonomi- sen, die solche außerordentlichen Er- sches Geschick zugunsten des Landes eignisse auf die Wahlentscheidungen demonstrieren. Dies misslang gehörig Einzelner haben, zu untersuchen. Vor und wurde später als verfassungswidri- allem gilt es, nicht alle Katastrophen ges Verfahren gerügt. gleichzusetzen.14 Insbesondere die Proteste um Stutt- Es ist in der Regel nicht die Katastrophe gart 21 und die zunächst kompromisslo- selbst, die das Verhalten der Wähler se Reaktion der Verantwortlichen ha- beeinflusst, sondern die Reaktion der ben das Bild der Landesregierung und Verantwortlichen darauf bzw. der Um- das ihres Ministerpräsidenten stark ne- gang der Regierung mit der neuen Situ- gativ und dauerhaft geprägt. Dies bele- ation. Dabei ist zu unterscheiden, ob gen Meinungsumfragen bereits im Som- die Katastrophe lediglich einer unum- mer und Herbst 2010 und erneut kurz strittenen Bewältigung bedarf (Valenz- vor der Wahl.12 Ihren Höhepunkt hatte Issue) oder eine grundlegende politi- die kritische Haltung gegenüber den schen Positionierung (Position-Issue) politisch Handelnden in der Landesre- betrifft. Handelt es sich um ein Va- gierung nach dem „Schwarzen Don- lenzthema (jede „normale“ Naturkatas- nerstag“ Ende September 2010 in Stutt- trophe ist ein solches leistungsbezoge- gart, an dem dramatische Bilder über nes Thema), so hat die Regierung eine die Fernsehschirme liefen. Auch der hohe Chance, bei schneller und positi- Wandel des Hardliners Mappus zum ver Reaktion, also leistungsgerechtem Moderator in Sachen Stuttgart 21, der Handeln, belohnt zu werden. Handelt schließlich einer Schlichtung durch Hei- e s s i ch hi n g e g e n u m e i n T h e m a, b e i d e m Mit der Kundge- ner Geißler zustimmte, erschien großen es um eine im Vorfeld kontroverse und bung unter dem Teilen der Bevölkerung nicht überzeu- eher grundsätzliche Auseinanderset- Motto „Schwarzer gend. Hier war bereits viel Glaubwür- zung geht, bei der sich Ziele und Vorge- Donnerstag: Wir digkeit verspielt worden. hensweisen der politischen Gegner klagen an!“ wollen Ohne Zweifel war jedoch die Aktuali- konträr gegenüberstehen (wie z. B. bei die Demonstranten sierung des Themas Kernkraft, die Reak- der Atomkraft), so haben nur Beteiligte, an den gewaltsa- tion der Landes- und der Bundesregie- die bisher eine klare Haltung zur Prob- men Polizeieinsatz rung darauf, aber auch hier wiederum lemlösung vertreten haben, eine Chan- vom 30. Septem- die öffentliche Darstellung und Begrün- ce, aus der Situation Gewinn zu ziehen. ber 2010 erinnern. dung des Vorgehens, vor allem aber die Für die CDU in Baden-Württemberg Insbesondere die Kehrtwende des Ministerpräsidenten war die bundespolitische Kurskorrektur zunächst kompro- vom entschiedensten Vertreter des in Sachen Kernkraft unmittelbar nach misslose Reaktion „Ausstiegs vom Ausstieg“ zum Geläu- der Katastrophe in Japan nur vorder- der Verantwortli- terten, die in der Selbstbeschreibung gründig eine Chance, verlorenes Ter- chen hat das Bild „Ich war nie Atomideologe“ gipfelte, rain zurückzugewinnen. So reagierte der Landesregie- war für die konservative Wählerschaft die Landesregierung zunächst mit hekti- rung und des Mi- Baden-Württembergs höchst unglaub- scher Aktivität, nämlich dem sofortigen nisterpräsidenten würdig. Zwei Drittel der Wahlberech- Abschalten von zwei der vier Atommei- negativ und dau- tigten gaben zu Protokoll, dass M appus ler im Lande und mit der Ankündigung erhaft geprägt. seine Haltung zum Thema Atomkraft nur einer Sicherheitsüberprüfung aller Re- picture alliance/dpa

112 vormals große Partei, die SPD, hat dar- FDP überall und damit auch in Baden- WAS ENTSCHIED DIE WAHL? aus keinen politischen Gewinn ziehen Württemberg mehr als jede andere können. Sie wurde nicht als Alternative Partei konjunkturellen Pendelschlägen. gesehen, zumindest nicht für die anste- Maßgeblich für die Halbierung ihres henden Probleme. Ihr großes Problem Prozentanteils bei der Wahl 2011 war bestand darin, dass die Hälfte der Ba- wohl aus der Sicht der Wahlberechtig- nahme Hamburgs überall verloren und den-Württemberger nicht genau wuss- ten die überaus schlechte Leistungsbi- ist folglich aus vier Landesparlamenten te, wofür die SPD steht.15 Bei Stuttgart 21 lanz der Liberalen als Regierungspar- ausgeschieden. Konjunkturelle Fakto- war die Haltung der SPD weitgehend tei, aber auch ihre unzureichende Prä- ren spielten hier also die größere Rolle unklar. Die eindeutigen Positionen wur- senz als politische Kraft im Lande. Sie als längerfristige Einflüsse. den von der Union einerseits und den hatte kein eigenes Profil gegenüber der Grünen andererseits vertreten. Für das hochkritisierten Regierungspartei CDU nächstwichtige Thema des Landes, entwickelt. Im Gegenteil: Bei allen strit- Außerordentliche Gewinne der Schule und Bildung, war zwar die klare- tigen Probleme lief sie im Windschatten Grünen re Gegenposition zur Union die der SPD der Union. Hinzu kam, dass das Anse- – die aber nicht unbedingt mehrheitsfä- hen der Partei zum Zeitpunkt der Land- Wenn man Verluste der „alten“ Parteien hig war. tagswahl bundesweit auf einem Tief- erklärt, so hat man in der Regel das Zur Erklärung der Verluste der FDP kann punkt war, was für eine hochindividuali- meiste geleistet, weil „Gewinne“, insbe- ein struktureller Ansatz wenig beitra- sierte und stark stimmungsabhängige sondere bei Wahlen zweiter Ordnung gen. Zwar haben wir es in Baden-Würt- Wählerschaft wie die der FDP von gro- (und das sind die Landtagswahlen), als temberg mit einem liberalen Stammland ßer Bedeutung ist. Enttäuschungen über Resultante dieser Verluste auftreten und zu tun, zumindest müsste für die FDP also das Handlungspotential der FDP be- nicht „aus eigener Kraft“ zustande kom- ein gewisser „Treuefaktor“ auftauchen. standen deshalb nicht nur auf Landes- men. Es handelt sich bekanntlich um ein Sie war ununterbrochen im Landtag ver- ebene, sondern sehr viel deutlicher auf Nullsummenspiel. Die Ergebnisse der treten und saß seit 1996 mit am Kabi- Bundesebene. Schließlich hat die FDP Wah l i n B a d e n -Wü r t te mb e r g ze i g e n j e - nettstisch. Andererseits unterliegt die bei den Landtagswahlen 2011 mit Aus- doch, dass die Anwendung der Regel

113 „Landtagswahlen werden in erster Linie Württemberger nannten Atomkraft als sind eindeutig die Grünen mit den The- verloren“ zumindest für diese Wahl kei- das ihrer Meinung nach wichtigste Pro- men vor dieser Wahl die erfolgreichs- ne hinreichende Erklärung liefert. Dies blem, 29 Prozent sagten das von Stutt- ten.17 Und dies gilt keinesfalls nur für

Dieter Roth wird dadurch deutlich, dass es zu einer gart 21 und für 22 Prozent waren Schule das Thema Atompolitik. In dieser Frage erheblichen Steigerung der Wahlbetei- und Bildung am wichtigsten. Dies sind steht die zugeschriebene Zuständigkeit ligung kam, d. h. wir haben es mit vielen Antworten auf eine offene Frage nach der Grünen außer Frage. (Aber das war neuen Wählerinnen und Wählern zu dem wichtigsten Problem aus der Sicht lange zuvor bereits der Fall!) Deshalb ist tun. Im Vergleich zur Landtagswahl der Befragten (also ohne Antwortvor- es keineswegs überraschend, dass sich 2006 gingen eine Million Baden-Würt- gaben): Die Antworten spiegeln das wi- die mittels Umfragen gemessenen „Er- temberger mehr an die Urnen (+12,9 der, was die Menschen tatsächlich be- folgsziffern“ für die Grünen vor und Prozentpunkte). Besonders in Stuttgart wegt hat. Und jedes einzelne Thema nach der Katastrophe in Japan prak- stieg die Wahlbeteiligung (+16,1); und war für die Wähler der Grünen ungleich tisch nicht unterscheiden. Es war eben nicht ganz überraschend haben die wichtiger als zum Beispiel für diejeni- nicht nur Fukushima, das den Sieg der Grünen dort eine besonders hohe Zu- gen der CDU. Grünen gesichert hat, sondern die Poli- wachsrate (+17,8). Trotzdem ist – nicht überraschend – das tik und Haltung der Grünen bei allen Die Grünen hatten im gesamten Land Bild differenziert, wenn es an die Lösun- anderen Fragen im Vorfeld der Wahl. aus der Vorwahl eine Ausgangsbasis gen der wahrgenommenen Probleme Zwar ist der Personenfaktor insbeson- von knapp 463.000 Wählern, gewan- geht. Beim Thema Atomkraft sagen 53 dere für die Wähler der Grünen in der nen aber über 742.000 Wähler hinzu. Prozent der Baden-Württemberger, die Regel von geringerer Bedeutung als für Wie die Daten aus der Befragung der Grünen würden am ehesten ihre Mei- die Anhänger und insbesondere die Forschungsgruppe Wahlen am Wahl- nung vertreten (auch 28 Prozent der „Stammwähler“ der großen Parteien. tag (exit poll) zeigen, waren es über- CDU-Wähler sagen das und 63 Prozent Ein Versuch der Forschungsgruppe durchschnittlich viele neue Wähler aus der SPD-Wähler). Bei Stuttgart 21 mei- Wahlen, den Effekt der Kandidatenprä- der Altersgruppe der 45- bis unter nen 33 Prozent der Wahlberechtigten ferenz auf die Wahlentscheidung bei 60-Jährigen (ein Plus von 17 Prozent- im Lande, die CDU vertrete am ehesten der Wahl in Baden-Württemberg zu punkten, und zwar etwas mehr Männer ihre Meinung, 28 Prozent sagen das von messen18, hat zum interessanten Ergeb- als Frauen). Dies deutet also nicht auf den Grünen und zwölf Prozent meinen, nis geführt, dass der Wunsch, Winfried besonders viele „jugendliche Protest- die SPD-Haltung sei diejenige, die der Kretschmann als zukünftigen Minister- ler“ bei der Unterstützung der Grünen eigenen am ehesten entspreche. Und präsidenten des Landes zu haben, die hin, sondern auf gewaltige Gewinne bei der Kompetenz zur Lösung der Wahlentscheidung zugunsten der Grü- bei den mitten im Leben und im Beruf Schul- und Bildungsfragen meinen 32 nen mit 22 Prozent wahrscheinlicher ge- stehenden Menschen. Insgesamt sind Prozent, diese liege bei der SPD, 27 Pro- macht hat. Dies ist der höchste Wert al- die Zuwächse der Grünen unter den zent nennen die CDU als diejenige Par- ler drei Kandidaten. Kretschmann war Frauen (+14) etwas größer als bei den tei, die eine Schul- und Bildungspolitik also ein Zugpferd für die Wähler der Männern (+11). Den größten Unter- in ihrem Sinne macht und zwölf Prozent Grünen. Nicht überraschend ist dabei, schied gibt es bei den unter 30-Jähri- sagen das von den Grünen. dass er im Land insgesamt als deutlich gen (Frauen +16, Männer +9).16 Gewichtet man die innere Übereinstim- sympathischer, als glaubwürdiger und Es waren die Themen der Wahl, also mung der Wähler mit ihren Parteien, mehr Bürgernähe verkörpernd angese- durchaus rationale Entscheidungskrite- d. h. mit den Parteien, die sie zu wählen hen wurde als Amtsinhaber Mappus. rien, die entsprechende Unterstützung beabsichtigen, über die drei wichtigs- Bei vielen zurückliegenden Wahlen war für die einzelnen Parteien gebracht ha- ten Probleme (gemessen als vergebe- die gute wirtschaftliche Lage Ba den- ben: Atomkraft, Stuttgart 21 sowie Schu- nen Kompetenzwert) mit der einge- Württembergs ein mitentscheidender le und Bildung. 41 Prozent aller Baden- schätzten Wichtigkeit der Probleme, so Einflussfaktor für die Erfolge der lang- jährigen Regierungspartei CDU. Der Union wird weiterhin Kompetenz in öko- Abbildung 1: Fukushima und die „Atomwende“ nomischen Fragen zuerkannt, die Wirt- schaftslage des Landes wird sehr posi- tiv gesehen, die relative Position des Fukushima und die „Atomwende“: Landes im Vergleich zu anderen Län- dern ist nach wie vor sehr gut, die per- Die Grünen danach und davor sönliche Zufriedenheit mit der eigenen Wirtschaftslage ist höher als anders- wo. Die Erwartungen für die Zukunft sind optimistisch. Warum also hat die CDU diese Wahl trotzdem verloren und sogar die Regierungsbeteiligung einge- büßt? Die erste Antwort lautet: Die wirtschaft- 24,2 25 25 26 liche Lage ist nicht mehr das erste und wichtigste Thema aus Sicht der Wähler, vor allem nicht bei einer Landtagswahl und speziell nicht in Baden Württem- berg. Was als gegeben und gesichert angenommen werden kann, muss nicht mehr erkämpft werden. Außerdem se- 27. März 18. Mrz 11. März 04. Feb 26. Nov hen 30 Prozent der Baden-Württember- (Wahl) (Japan) ger sowieso bei keiner Partei eine Kom- petenz, die wirtschaftlichen Probleme Forschungsgruppe Wahlen: Politbarometer-EXTRA/Umfrage vor der Wahl BK des Landes zu lösen. Arbeitslosigkeit

114 WAS ENTSCHIED DIE WAHL?

te Wählermassen mobilisieren. Gerade letzteres aber scheint bei dieser außer- ordentlichen Wahl in Baden-Württem- berg eingetreten zu sein. Wir haben es ohne Zweifel mit einer Steigerung der Wahlbeteiligung zu tun, die gegen den elektoralen Trend verläuft und die des- halb einer besonderen Erklärung be- darf. Die Situation vor der Wahl war – wie beschrieben – durch mehrere heftig um- strittene Themen gekennzeichnet und durch einen stark polarisierenden Mi- Aktenordner mit der Aufschrift „EnBW-Deal“ im Plenarsaal des Landtags in Stuttgart. nisterpräsidenten. Diese Mischung, die Was von Stefan Mappus als ökonomischer Überraschungscoup geplant war, schlug sich Wahlkampfstrategen der Opposi- plötzlich als parlamentarisch nicht legitimierter, möglicherweise illegaler Akt unvorher- tionsparteien nicht besser hätten aus- gesehen zurück. Aufgrund der Vorwürfe wurde das Image des Ministerpräsidenten im denken können, wurde nach einer kur- Vorfeld der Wahl erneut schwer beschädigt. picture alliance/dpa zen Beruhigung während der Schlich- tung bei Stuttgart 21 und über die Feier- tage zu Beginn des Jahres durch neue war als viertwichtigstes Thema (elf Pro- fluss auf das Abschneiden der Parteien. Vorwürfe gegen den Ministerpräsiden- zent der Nennungen) nicht ohne Rele- Schwankungen der Wahlbeteiligung ten wegen des Rückkaufs von EnBW-An- vanz, aber deutlich hinter den bereits sind ein wichtiges Kennzeichen größe- teilen erneut angeheizt. Was als ökono- genannten Hauptthemen. Andere Wirt- rer Flexibilität der Wähler, die bei Wah- mischer Überraschungscoup geplant schaftsthemen spielten keine besonde- len zweiter Ordnung noch stärker zur war, schlug plötzlich als parlamenta- re Rolle. Geltung kommt als bei Bundestagswah- risch nicht legitimierter, möglicherweise Die zweite Antwort ist wohl: Bei Wahlen len. Allerdings galt in der Vergangen- illegaler Akt unvorhergesehen zurück. bekunden die Bürger nicht hauptsäch- heit die Regel, dass vor allem ein Rück- Hinzu kamen die Veröffentlichungen lich Dank für die in der Vergangenheit gang der Wahlbeteiligung Chancen für von Umfrageergebnissen, die erneut geleistete politische Arbeit der Partei- die Oppositionsparteien bietet, Anteile die Chance eines Machtwechsels – wie en, sondern sie versuchen mit ihrer Stim- zu gewinnen und die Regierung in Be- bereits nach dem „heißen“ Herbst 2010 me auch ihre Erwartungen für die Lö- drängnis zu bringen. Ein Teil der Unzu- – im strukturkonservativen Baden-Würt- sung anstehender oder zukünftiger Pro- friedenheit mit den Regierenden drückt temberg möglich erscheinen ließen. bleme auszudrücken. Diese lagen nicht sich dann dadurch aus, dass der kleine- Die Oppositionsparteien erahnten die im klassischen Bereich der Wirtschaft. re Schritt der Bestrafung gewählt wird, Möglichkeit eines Machtwechsels, den Zumindest hat die Mehrheit der Wähler nämlich nicht zur Wahl zu gehen, im sie aber nur über eine besondere Mobi- (57 Prozent) keine Gefährdung der wirt- Gegensatz zum großen Schritt, ganz lisierung ihrer Anhängerschaft und dar- schaftlichen Stärke Baden-Württem- die Seiten zu wechseln. über hinaus der sichtlich unzufriedenen, bergs in einer möglichen Landesregie- Des Weiteren galt bisher, dass die oben nicht gebundenen Wahlberechtigten rung aus Grünen und SPD gesehen – beschriebenen strukturellen Verände- erreichen konnten. Die Wechselstimm- wohl zu Recht, wie sich ein Jahr nach rungen der Gesellschaft – gipfelnd in mung im Lande war überaus hoch.19 In der Wahl zeigt. der stärkeren Individualisierung und diese bereits vorhandene vorwahltypi- dem Rückgang der Wahlnorm – die sche Aufgeregtheit der Parteien und ih- Wahlbeteiligung mittel- und langfristig rer Vertreter platzte die Katastrophe Der Anstieg der Wahlbeteiligung eher negativ beeinflusst haben und von Fukushima, die ohne Zweifel zusätz- auch weiterhin beeinflussen werden, lich mobilisiert hat. Große Teile der Veränderungen der Wahlbeteiligung solange es nicht zu dramatischen Zu- Wahlberechtigten sahen sich deshalb haben bei Landtagswahlen großen Ein- spitzungen in der Politik kommt, die brei- gezwungen, ihre Haltung zu den Prob- IMPRESSUM Die Zeitschrift „Der Bürger im Staat“ wird herausgegeben von der LANDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Baden-Württemberg. Direktor der Landeszentrale: Lothar Frick Redaktion: Siegfried Frech, Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart, Telefax (07 11) 16 40 99–77 Herstellung: Schwabenverlag Media der Schwabenverlag AG, Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern (Ruit), Telefon (07 11) 44 06–0, Telefax (07 11) 44 23 49 Vertrieb: Süddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm, Nicolaus-Otto-Straße 14, 89079 Ulm, Telefon (07 31) 94 57-0, Telefax (07 31) 94 57-224, www.suedvg.de Preis der Einzelnummer: EUR 3,33, Jahresabonnement EUR 12,80 Abbuchung. Die namentlich gezeichneten Artikel stellen nicht unbedingt die Meinung der Redaktion dar. Für unaufgefordert eingesandte Manuskrip- te übernimmt die Redaktion keine Haftung. Nachdruck oder Vervielfältigung auf Papier und elektronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit Genehmigung der Redaktion.

115 lemen und den Lösungsangeboten klar Wahl zeigt nicht nur die Folgen lang- gehörige 34,2 Prozent; 2005 (in der gleichen Reihenfolge): 31,0 Prozent, 57,3 Prozent, 11,7 Pro- kenntlich zu machen und auch ihr Urteil fristiger Trends auf, sondern auch in be- zent. Quellen: Volkszählung 1950; Gemeinde- über das Angebot beim Spitzenperso- sonderem Maße die hohe Flexibilität und Kreisstatistik Baden Württemberg 1950; Mik-

Dieter Roth nal dieser Wahl abzugeben und vor al- der Wählerschaft in eher konservativ rozensus 2005; Statistisches Jahrbuch für die lem zur Wahl zu gehen. geprägten Teilen der Bundesrepublik. Bundesrepublik Deutschland 2006, S. 83. 10 Dies sind Zahlen aus der Befragung am In der Vergangenheit hat sich Baden- Die Lebendigkeit unserer Demokratie Wahltag in Baden-Württemberg durch die For- Württemberg keinesfalls durch hohe wird durch Wahlen dieser Art ein- schungsgruppe Wahlen e. V. (2011): Wahl in Ba- Wahlbeteiligungen hervorgetan. Dies drucksvoll unter Beweis gestellt. Viel den-Württemnberg. Eine Analyse der Landtags- hätte auch überrascht, gehört das Land mehr kann man von einer Landtagswahl wahl vom 27. März 2011. Bericht der Forschungs- doch zu denjenigen Bundesländern, nicht erwarten. gruppe Wahlen e. V., Nr. 144. Mannheim, S. 87 und 89. deren hohe ökonomische Prosperität zu 11 Kurt Kister (2011): Heimatlose Bürger. In: Süd- größerer Zufriedenheit mit den politi- ANMERKUNGEN deutsche Zeitung vom 31.12.2011, S. 4. schen Verhältnissen und deshalb auch 12 Forschungsgruppe Wahlen e. V. (2011): Wahl zu geringerer Wahlbeteiligung Anlass 1 Ich beziehe mich in der Regel auf Daten, die in Baden-Württemberg. Eine Analyse der Land- von der Forschungsgruppe Wahlen e. V. in Mann- tagswahl vom 27. März 2011. Bericht der For- gab. Die Wahlbeteiligung in Baden- heim erhoben wurden und die über das Zentral- schungsgruppe Wahlen e. V., Nr. 144. Mannheim, Württemberg lag in den Jahren 1980 archiv für Empirische Sozialforschung an der S. 23. Vgl. die dort genannten Zahlen sowie die bis 2006 bei durchschnittlich 67 Pro- Universität zu Köln bezogen werden können. Umfrage der Forschungsgruppe vom November zent, in Bayern – ökonomisch auch be- 2 Erste Sitzung der CDU-Fraktion nach der 2010, die sowohl die Leistung der Regierung als sonders erfolgreich – von 1982 bis 2008 Wahl in Stuttgart; lt. der Süddeutschen Zeitung. auch die Bewertung des Ministerpräsidenten 3 Süddeutsche Zeitung vom 23.1.2012; Lauda- Mappus im Negativbereich ausweist. bei 66,7 Prozent. In Rheinland-Pfalz tio bei einer Faschingsveranstaltung in Freiburg. 13 Siehe oben S. 16. betrug sie in den Jahren 1979 bis 2006 4 Diese werden an anderer Stelle des Heftes 14 Das Thema wurde vor kurzem in einer bemer- dagegen 73,4 Prozent, in Hessen zwi- ausführlich dargestellt. kenswerten Magisterarbeit am Institut für Politi- schen 1983 und 2009 70,7 Prozent. 5 Siehe auch Bernhard Kornelius/Dieter Roth sche Wissenschaft der Universität Heidelberg (2004): Politische Partizipation in Deutschland. aufgegriffen: siehe Julia Stehlin (2012): Warum Es bedurfte also besonderer Themen Gütersloh 2004. Fukushima nicht zur „Stunde der Exekutive“ wer- und Ereignisse und einer besonderen 6 Ausführlich bei: Roth, Dieter (2008): Empiri- den konnte. Heidelberg (unveröffentlicht). Unzufriedenheit mit der Landesregie- sche Wahlforschung. Ursprung, Theorien, Instru- 15 Repräsentative Umfrage der Forschungs- rung und/oder ihren Repräsentanten, mente und Methoden. Wiesbaden. gruppe Wahlen in der Woche vor der Wahl 2011. um die Wahlbeteiligung in Baden- 7 Siehe als Beispiel Sachsen-Anhalt am 16 Ausführliche Zahlen in: Forschungsgruppe 20.3.2011: CDU und FDP verlieren, die SPD bleibt Wahlen (2011): Wahl in Baden-Württemberg. Ei- Württemberg in die Höhe zu treiben. konstant, die Grünen und sonstige kleine Partei- ne Analyse der Landtagswahl vom 27. März 2011. Dies war auch in der Vergangenheit en gewinnen; auch bei der Wahl in vom Bericht der Forschungsgruppe Wahlen e. V., schon einmal der Fall, als bei einer an- 18. September 2011 gewinnen die Grünen und Nr. 144). Mannheim, S. 84ff. deren Wahl niederer Ordnung die die sonstigen Parteien, die Piraten allein 8,9 Pro- 17 Zunächst wird die relative Wichtigkeit der zent, es verlieren die FDP und die SPD. drei Probleme nach deren Nennung durch die Wahlbeteiligung in Baden-Württem- 8 Dieter Roth/Andreas M.Wüst (2011): Die Ab- Wahlberechtigten insgesamt errechnet (Atompo- berg gegen den Trend außerordentlich lösung der Großen Koalition. Volksparteien im litik: 0,45; Stuttgart 21: 0,32; Schule/Bildung: stieg: den Wahlen zum Europäischen Tief oder: wechselt ihren Koaliti- 0,24). Dieser Faktor wird mit der Kompetenzzu- Parlament im Jahr 1989. Insbesondere onspartner. In: Heinrich Oberreuter (Hrsg.): Am weisung der Wähler der jeweiligen Partei für je- in den ländlichen Gebieten Baden- Ende der Gewissheiten. Wähler, Parteien und des Problem multipliziert und über alle Probleme Koalitionen in Bewegung. München. für jede Partei summiert. Die sich ergebenden Württembergs stieg damals wegen der 9 1950: Arbeiteranteil in Baden-Württemberg: Werte sind für die Grünen: 72, für die CDU 57, und Kritik an der Landwirtschaftspolitik der 47,2 Prozent, Angestellte und Beamte: 18,6 Pro- die SPD 38. EG die Wahlbeteiligung zweistellig. zent, selbstständige und mithelfende Familienan- 18 Forschungsgruppe Wahlen e. V. (2011): Wahl Gleichzeitig stieg auch der Anteil der in Baden-Württemberg. Eine Analyse der Land- tagswahl vom 27. März 2011. Bericht der For- Republikaner, denen es nicht zuletzt schungsgruppe Wahlen e. V., Nr. 144. Mannheim,

deshalb damals gelang, ins Europäi- AUTOR UNSER S. 41 sche Parlament einzuziehen.20 19 Siehe hierzu Oscar W. Gabriel/Bernhard Mobilisierungen vor einer Wahl be- Kornelius (2011): Die baden-württembergische günstigen in seltenen Fällen eine einzel- Landtagswahl am 27. März 2011: Zäsur und Zei- tenwende?. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, ne Partei, weil die Mobilisierung der An- Heft 4/2011, S. 784 ff. hängerschaft in der Regel auch die An- 20 Bericht der Forschungsgruppe Wahlen Nr. 54 hänger des politischen Gegners stärker zur Europawahl 1989 am 18.6.1989. motivieren, zur Wahl zu gehen. Es gibt 21 Bericht der Forschungsgruppe Wahlen Nr. 88 zur Landtagswahl in Niedersachsen am 1.3.1998. davon einige Ausnahmen, die in der Li- Zu diesem Zeitpunkt wurde auch über die Nomi- teratur festgehalten wurden, wie z. B. nierung des Kanzlerkandidaten der SPD (Ger- die Landtagswahl in Niedersachsen hard Schröder oder Oskar Lafontaine) entschie- 1998, die zu einer einseitigen Mobilisie- den, was zu der einseitigen Mobilisierung der rung der SPD-Anhängerschaft führte.21 Prof. Dr. Dieter Roth ist Honorarprofes- SPD-Anhänger führte. 22 Bericht der Forschungsgruppe Wahlen Nr. 93 Ein weiteres Beispiel ist die erste Wahl sor am Institut für Politische Wissenschaft zur Landtagswahl in Hessen am 7.2.1999. Aus Um- Roland Kochs in Hessen 1999, verknüpft der Universität Heidelberg und Mitbe- fragen ging hervor, dass ein Großteil der SPD- mit einer Unterschriftenkampagne ge- gründer der Forschungsgruppe Wahlen Wähler die doppelte Staatsbürgerschaft eben- gen die doppelte Staatsbürgerschaft.22 e. V. in Mannheim, deren Vorstand er bis falls ablehnte. Die Steigerung der Wahlbeteiligung 2003 war. Er hat in Heidelberg, Frank- 2011 in Baden-Württemberg kam in furt, Cornell und Mannheim Volkswirt- überproportionalem Maße den Grünen schaft, Politik und Soziologie studiert zugute. Es kam auch hier auf die Themen und über das Demokratieverständnis an, die zur Entscheidung anstanden. von Eliten in der Bundesrepublik promo- Insgesamt ist die Landtagswahl 2011 in viert. Neben zahlreichen anderen Pub- Baden-Württemberg eine besonders likationen hat Dieter Roth ein Lehrbuch interessante Wahl für politische Analy- über empirische Wahlforschung ge- tiker (für Wahlforscher sowieso, weil sie schrieben, das 2008 in aktualisierter ja jede Wahl interessant finden). Die Auflage erschienen ist.

116 ERGEBNISSE DER REPRÄSENTATIVEN WAHLSTATISTIK Wahlverhalten der Baden-Württemberger bei der Landtagswahl 2011 Carmina Brenner

Wahlberechtigten reduziert, sondern eine mit zunehmendem Alter steigende Nach jeder Wahl steht neben den eigent- auch durch die vergleichsweise niedri- Wahlbeteiligung festgestellt werden lichen Wahlergebnissen auch das Wahl- ge Wahlbeteiligung der jungen Gene- (vgl. Schaubild 2). Die niedrigste Wahl- verhalten der Wählerinnen und Wähler ration. So blieb die Wahlbeteiligung2 beteiligung war bei der Landtagswahl im Mittelpunkt des Interesses. Wie unter- der jüngeren Wahlberechtigten bei der 2011 bei den 25- bis 29-Jährigen zu be- scheiden sich Jung und Alt in Sachen Landtagswahl 2011 deutlich unter dem obachten. Von dieser Altersgruppe be- Wahlbeteiligung, wen haben Männer Gesamtdurchschnitt von 66,3 Prozent teiligten sich nur 46,5 Prozent am Ur- und Frauen gewählt und wie setzt sich die (hier: Wahlbeteiligung aller Wahlbe- nengang, womit die Wahlbeteiligung Wählerschaft der Parteien demografisch rechtigten). Lediglich 49,1 Prozent der dieser Gruppe um nahezu 20 Prozent- zusammen? Daten über die Wahlberech- unter 35-jährigen Wahlberechtigten punkte unter dem Landesschnitt lag. tigten, die Wahlbeteiligung, die Stimm- machten von ihrem Wahlrecht Ge- Demgegenüber fiel die Wahlbeteili- abgabe sowie über die Zusammenset- brauch, von den 60-Jährigen und Älte- gung der Jungwähler von 18 bis 20 Jah- zung der Wählerschaft nach Geschlecht ren gingen dagegen 69,9 Prozent zur ren mit 56,4 Prozent fast zehn Prozent- und Altersgruppen liefert die Repräsen- tative Wahlstatistik, die – im Unterschied Wahl. Somit war bei der Landtagswahl punkte höher aus. Von den Wahlbe- zu den Befragungen der Wahlforschungs- 2011 ein gutes Drittel der Wählerschaft rechtigten zwischen 30 und 34 Jahren institute – nicht das erfragte, sondern das (35,6%) 60 Jahre oder älter, nur 18,1 Pro- ging jeder Zweite zur Wahl (50,0%), bei tatsächliche Wahlverhalten widerspie- zent waren unter 35 Jahre alt. den 50- bis 59-Jährigen lag die Teilnah- gelt. Carmina Brenner, Präsidentin des mequote mit 67,3 Prozent bereits über Statistischen Landesamtes Baden-Würt- dem Landeswert. Die höchste Wahlbe- temberg, analysiert im Folgenden das Je älter die Baden-Württemberger, teiligung hatten – wie auch bei früheren Wahlverhalten der Baden-Württember- desto höher die Wahlbeteiligung Wahlen – die 60- bis 69-Jährigen mit ger bei der Landtagswahl 2011. I 74,1 Prozent. Bei den 70-jährigen und Wie bei vorangegangenen Parlaments- älteren Wahlberechtigten hingegen wahlen auch, kann für die Wahl zum ging der Wahleifer wieder deutlich zu- 15. Landtag von Baden-Württemberg rück (67,3%). Weniger jungen Wahlberechtigten steht eine zunehmende Zahl älterer gegenüber Schaubild 1: Wahlberechtigte und Wählerschaft*) bei den Landtagswahlen 2011 und 1980 in Baden-Württemberg nach Altersgruppen Durch die demografische Alterung hat sich die Altersstruktur der Wahlberech- % 1 tigten in Baden-Württemberg seit 1980 100 Alter von … erheblich verschoben (vgl. Schaubild bis … Jahren 1): Bei der Landtagswahl 1980 war noch knapp jeder dritte Wahlberechtigte un- 90 25,5 27,3 ter 35 Jahre alt (30,0%) und jeder vierte 31,8 35,6 Wahlberechtigte 60 Jahre oder älter 80 60 und mehr (25,5%). Bei der Landtagswahl 2011 war bereits fast jeder dritte Wahlbe- 70 rechtigte im Seniorenalter (31,8%), nicht einmal mehr jeder Vierte war jünger als 60 35 Jahre (23,1%). Das politische Ein- flusspotential der älteren Wahlberech- 44,4 tigten hat sich demnach gegenüber 50 47,3 1980 rein quantitativ betrachtet spür- 45,1 bar erhöht, das der jungen Generation 40 46,2 35–59 entsprechend reduziert.

30 Die jungen Baden-Württemberger „verschenken“ durch geringere 20 Wahlbeteiligung politisches 30,0 23,1 25,425,4 Einflusspotential 10 18,1 18–34

Die Möglichkeiten der jüngeren Baden- 0 Württemberger, durch Teilnahme an 1980 2011 1980 2011 Wahlen Einfluss auf das politische Ge- Wahlberechtigte Wählerschaft schehen zu nehmen, sind nicht nur durch die abnehmende Zahl der jüngeren *) Wahlberechtigte bzw. Wähler ohne Wahlschein. – Ergebnisse der Repräsentativen Wahlstatistik.

117 Männer nach wie vor mit höherer Jahren 60,1 Prozent zur Wahl, bei den die mit Abstand höchste Wahlbeteili- Wahlbeteiligung als Frauen Männern waren es nur 59,3 Prozent. gung aus. Am stärksten zugelegt haben Insgesamt lag die Wahlbeteiligung der die Jungwählerinnen zwischen 18 und Die Wahlbeteiligung der Frauen lag – Frauen bei 61,4 Prozent, die der Männer 20 Jahren: Ihre Teilnahmequote an der wie bei allen bisherigen Landtagswah- bei 63,7 Prozent. Damit hat sich der ge- Landtagswahl 2011 fiel um 16,3 Pro- Carmina Brenner len in Baden-Württemberg – auch bei schlechterspezifische Unterschied in zentpunkte höher aus als noch vor fünf der Landtagswahl 2011 unter der der der Wahlbeteiligung bereits zum vier- Jahren. Männer (vgl. Schaubild 2). Dies resul- ten Mal in Folge bei Landtagswahlen in tiert daraus, dass die unter 30-jährigen Baden-Württemberg auf nun 2,3 Pro- und die 50-jährigen und älteren Frauen zentpunkte verringert. Bei der Land- CDU mit Stimmenverlusten in allen seltener wählen gehen als die Männer tagswahl 1992 fiel die Wahlbeteiligung Altersgruppen dieser Altersgruppen. Ein besonders der Wähler um gut vier Prozentpunkte großer Vorsprung der Männer war bei höher aus als die der Wählerinnen, bei Die Stimmenverluste der CDU bei der den 70-Jährigen und Älteren zu beob- der Landtagswahl 2006 waren es noch Landtagswahl 2011 beruhen ganz be- achten, von denen 74,4 Prozent der knapp drei Prozentpunkte. sonders auf der Wahlentscheidung der Wähler, aber nur 62,3 Prozent der Wäh- 18- bis 24-jährigen sowie der 45- bis lerinnen von ihrem Wahlrecht Ge- 59-jährigen Wähler3: In diesen beiden brauch machten. Als Gründe hierfür Steigende Wahlbeteiligung in allen Altersgruppen hatten die Christdemo- nennt die Wahlforschung zunehmende Bevölkerungsgruppen kraten prozentual betrachtet über- Gebrechlichkeit hochbetagter Frauen durchschnittlich hohe Stimmenrückgän- und das damit einhergehende zurück- Der starke Anstieg der Wahlbeteiligung ge (–5,8 bzw. –6,6 Prozentpunkte) zu gehende Interesse an Politik. Da es von 53,4 Prozent bei der Landtagswahl verkraften (vgl. die Schaubilder 3 und deutlich mehr hochbetagte Frauen als 2006 auf 66,3 Prozent bei der Land- 4). Am wenigsten verloren haben die Männer gibt, schlägt sich dies bei den tagswahl 2011 ist bei Männern und Christdemokraten bei den 35- bis Frauen zahlenmäßig dementsprechend Frauen zu beobachten und spiegelt sich 44-jährigen Wählern (–3,3 Prozent- stärker nieder. Bemerkenswert bei der in allen Altersklassen wider (vgl. Schau- punkte). Wie bereits bei der Landtags- Landtagswahl 2011 ist jedoch, dass bild 2). Bei den unter 25-Jährigen war wahl 2006 war die CDU auch am Frauen ihre männlichen Altersgenossen allerdings ein besonders hoher Anstieg 27. März 2011 bei den Senioren beson- in Sachen Wahlbeteiligung in sämtli- von 15,4 Prozentpunkten zu verzeich- ders erfolgreich: Knapp die Hälfte chen Altersgruppen zwischen 30 und nen. Bei den 45- bis 59-Jährigen lag die (49,8%) der 60-Jährigen und Älteren 49 Jahren mittlerweile überholt haben, Zunahme mit 13,6 Prozentpunkten eben- machten ihr Kreuz bei den Christdemo- wenn auch der Abstand teilweise ge- falls spürbar über dem landesweiten kraten, die 70 Jahre und Älteren sogar ring ist. Noch bei der Landtagswahl Plus von 12,9 Prozentpunkten. Am ge- zu 54,6 Prozent. In allen anderen 2006 lagen die Frauen lediglich in der ringsten (9,6 Prozentpunkte) fiel der An- Altersgruppen, also bei den Wählern Gruppe der 35- bis 39-Jährigen knapp stieg bei den 60 Jahre und älteren unter 60 Jahren, blieb die CDU bis- vorne. Am 27. März 2011 gingen von Wählern aus – allerdings zeichnet sich weilen deutlich unter ihrem Landes- den Wählerinnen zwischen 30 und 49 diese Gruppe traditionell auch durch durchschnitt. Der geringste Rückhalt für

Schaubild 2: Wahlbeteiligung der Wahlberechtigten ohne Wahlschein bei der Landtagswahl 2011 bzw. Veränderung der Wahlbeteilung gegenüber der Landtagswahl 2006 in Baden-Württemberg nach Geschlecht und Altersgruppen – Ergebnisse der Repräsentativen Wahlstatistik

Wahlbeteiligung in % Veränderung gg. 2006 in Prozentpunkten 80 Veränderung gegenüber 2006 (Männer) + 18,0 Veränderung gegenüber 2006 (Frauen) Wahlbeteiligung Männer 2011 + 17,0 75 Wahlbeteiligung Frauen 2011

+ 16,0 70 + 15,0

65 + 14,0

60 + 13,0

+ 1212,0,0 55

+ 11,0 50 + 10,0

45 + 9,0

40 + 8,0 18 – 20 21 – 24 25 – 29 30 – 34 35 – 39 40 – 44 45 – 49 50 – 59 60 – 69 70 und mehr

118 Schaubild 3: Stimmenanteile*) ausgewählter Parteien WAHLVERHALTEN DER BADEN- bei der Landtagswahl 2011 in Baden-Württemberg nach WÜRTTEMBERGER Altersgruppen der Wähler BEI DER LANDTAGSWAHL 2011

CDU SPD

% 49,8 % 50 50

45 45 39,0 40 40 35,0 35 33,8 35 31,7 30,5 30 30 26,0 25 25 23,1 23,8 23,0 19,6 20 20 18,6

15 15

10 10

5 5

0 0 Insgesamt 18–24 25–34 35–44 45–59 60 und mehr Insgesamt 18–24 25–34 35–44 45–59 60 und mehr

GRÜNE FDP

% % 50 50

45 45

40 40

35 32,7 35 31,5

30 27,4 27,2 30 24,2 25 25

20 20

15 13,5 15

10 10 5,3 5,5 5,9 4,2 5,0 4,9 5 5

0 0 Insgesamt 18–24 25–34 35–44 45–59 60 und mehr Insgesamt 18–24 25–34 35–44 45–59 60 und mehr

Wähler im Alter von… bis … Jahren Wähler im Alter von… bis … Jahren

*) Inklusive Briefwählern – Ergebnisse der Repräsentativen Wahlstatistik.

die Union konnte mit nur 30,5 Prozent bei den 35- bis 59-Jährigen: Von allen kere Einbußen in der Wählergunst als bei den 18- bis 24-jährigen Jungwäh- Wählern dieser Altersgruppe entschie- bei den Männern: Am stärksten bei den lern festgestellt werden. Wie bereits bei den sich 31,9 Prozent für die Grünen, un- 35- bis 44-Jährigen. In dieser Wähler- der Landtagswahl 2006 wurde die CDU ter den Wählerinnen waren es noch gruppe wurde mit einem Minus von 10,2 etwas häufiger von Frauen (39,3%) als mehr: Mehr als jede dritte Baden-Würt- Prozentpunkten der höchste Stimmen- von Männern (38,7%) gewählt, wenn- tembergerin zwischen 35 und 59 Jahren rückgang für die Sozialdemokraten ge- gleich die Union ihre stärksten Verluste (34,5%) hat die Grünen gewählt. Am messen. Bei den Wählerinnen im Alter bei Frauen zwischen 45 und 59 Jahren wenigsten Erfolg war ihnen hingegen von 35 bis 44 Jahren hatte die SPD mit hinzunehmen hatte (–7,5 Prozentpunk- bei den 70-jährigen und älteren Baden- lediglich 18,2 Prozent auch insgesamt te). Württembergern beschieden. Von den den geringsten Rückhalt. Die größte Un- Männern dieses Alters wählten nur terstützung für die Sozialdemokraten neun Prozent die Grünen. Wie bereits kam mit einem Stimmenanteil von 26,8 Fast jeder Dritte in Baden- bei der Landtagswahl 2006 schnitten Prozent aus dem Lager der 70-jährigen Württemberg zwischen 35 und 59 die Grünen auch bei der Landtagswahl und älteren männlichen Baden-Würt- Jahren wählte die Grünen 2011 bei Frauen (26,1%) besser ab als temberger. Insgesamt wurde die SPD bei Männern (22,2%). etwas häufiger von Männern (23,4%) Die Grünen verzeichneten bei der Land- als von Frauen (22,9%) gewählt. tagswahl 2011 als einzige im Landtag vertretene Partei prozentuale Stimmen- SPD erlebt stärkste Einbußen bei den gewinne. Sie konnten – mit Ausnahme 35- bis 44-jährigen Wählerinnen FDP verliert besonders stark bei der 60 Jahre und älteren Wähler – in 25- bis 34-jährigen Männern allen Altersgruppen im zweistelligen Die Sozialdemokraten mussten bei al- Bereich zulegen. Die höchsten Stim- len Wählern unter 60 Jahren überdurch- Die Stimmenverluste der FDP bei der mengewinne verbuchten die Grünen schnittliche Stimmenrückgänge hinneh- Landtagswahl 2011 sind auf die Wahl- bei den 45- bis 59-jährigen Wählern mit men. Nur bei den Seniorinnen und Seni- entscheidung der Wählerinnen und einem Plus von 18,5 Prozentpunkten. In oren im Alter von 60 und mehr Jahren Wähler aller Altersklassen zurückzufüh- allen Altersgruppen unter 60 Jahren er- konnte die SPD leichte Stimmengewinne ren. Besonders hoch fallen die Verluste zielten sie überdurchschnittliche Ergeb- von 0,6 Prozentpunkten verbuchen. Bei bei den 25- bis 34-jährigen Wählern nisse. Besonders stark war der Rückhalt den Frauen verzeichnete die SPD stär- aus (–7,0 Prozentpunkte). Betrachtet

119 Schaubild 4: Stimmengewinne- bzw. -verluste*) ausgewählter Parteien bei der Landtagswahl 2011 im Vergleich zur Landtagswahl 2006 in Baden-Württemberg nach Altersgruppen der Wähler

CDU SPD

Carmina Brenner + 2 Prozentpunkte + 2 Prozentpunkte + 0,6 0 0

–2 –2 –2,1 –4 –4 –3,3 –3,6 –4,4 –6 –5,2 –4,9 –6 –5,1 –5,8 –5,7 –6,6 –8 –8 –7,6 – 10 – 10

– 12 – 12

– 14 – 14

– 16 – 16

– 18 – 18

– 20 – 20 Insgesamt 18–24 25–34 35–44 45–59 60 und mehr Insgesamt 18–24 25–34 35–44 45–59 60 und mehr

GRÜNE FDP

+ 20 Prozentpunkte + 2 Prozentpunkte + 18,5 + 18 0 + 15,8 + 16 –22 + 13,7 + 14 –4 + 12,5 + 12,3 –4,5 + 12 –6 –5,4 –5,3 –6,1 –5,9 + 10 + 9,4 –8 –7,0

+ 8 – 10

+ 6 – 12

+ 4 – 14

+ 2 – 16

0 – 18

–2 – 20 Insgesamt 18–24 25–34 35–44 45–59 60 und mehr Insgesamt 18–24 25–34 35–44 45–59 60 und mehr

Wähler im Alter von… bis … Jahren Wähler im Alter von… bis … Jahren

*)*) Inklusive2006 ohne Briefwählern. Briefwähler, – Ergebnisse 2011 der inklusive Repräsentativen Briefwählern. Wahlstatistik. – Ergebnisse der Repräsentativen Wahlstatistik.

Schaubild 5: Wählerschaft*) ausgewählter Parteien bei der Landtagswahl 2011 in Baden-Württemberg nach Altersgruppen

Insgesamt CDU SPD GRÜNE FDP 100% Wählerschaft im Alter von ... bis 9,4 ... Jahren

22,3 24,7 23,9 31,0 11,3 70 und mehr 80%

15,0 17,1 17,6 60 – 69 60% 16,4 39,0

30,0 29,8 27,627,6 40% 24,4 45 – 59

19,9

14,7 13,9 12,8 11,8 35 – 44 20% 12,0 10,6 9,0 9,5 11,0 25 – 34

7,4 5,8 7,7 8,5 5,9 18 – 24 0%

*)*) Inklusive Briefwählern.Briefwählern. –– Ergebnisse Ergebnisse der der RepräsentativenRepräsentativen Wahlstatistik.Wahlstatistik.

120 man nur die Männer dieser Gruppe, so gebnisse von über zwei Prozent für sich WAHLVERHALTEN DER BADEN- liegt der Rückgang in der Wählergunst verbuchen. Dabei war die Linke bei WÜRTTEMBERGER sogar bei 7,9 Prozentpunkten. Dies ist Männern (3,4%) erfolgreicher als bei BEI DER LANDTAGSWAHL 2011 gleichzeitig die Wählergruppe, bei der Frauen (2,3%). Die größte Unterstüt- die FDP bei der Wahl vor fünf Jahren mit zung kam aus der Gruppe der Männer einem Plus von fünf Prozentpunkten am im Alter von 60 bis 69 Jahren (4,5%), lern (2,5%) als bei den Wählerinnen stärksten hatte zulegen können. Insge- während die Frauen im Alter über (1,4%). samt schnitt die FDP bei Frauen (4,8%) 70 Jahren am seltensten ihr Kreuz bei schlechter ab als bei Männern (5,8%). der Linken machten (1,2%). In keiner So ist es auch eine weibliche Wähler- Wählergruppe kam die Linke auf fünf Nahezu jeder zweite CDU-Wähler ist gruppe, in der die Liberalen ihren ge- Prozent oder darüber hinaus. Wären 60 Jahre oder älter ringsten Rückhalt fanden. Nur 3,8 Pro- am Wahlsonntag nur die Baden-Würt- zent der Wählerinnen unter 25 Jahren temberger im Alter von 18 bis 34 Jah- Abschließend wird der Frage nachge- gaben der FDP ihre Stimme. Am besten ren wahlberechtigt gewesen, wäre gangen, wie die demografische Zusam- konnte die FDP dagegen bei den 60- bis den Piraten der Einzug ins Landes- mensetzung der Wählerschaft der Par- 69-jährigen Männern punkten, von de- parlament gelungen. Mit 6,2 Prozent teien bei der Landtagswahl 2011 aus- nen sich 6,9 Prozent für die Liberalen bei den 18- bis 24-jährigen und fünf sah (vgl. Schaubild 5). entschieden. Prozent bei den 25- bis 34-jährigen Demnach hat die CDU von allen im Wählern konnten die Piraten jeweils Landtag von Baden-Württemberg ver- Ergebnisse über der Fünf-Prozent- tretenen Parteien den höchsten Anteil Wer hat die Linke und die Piraten Hürde erzielen. Bei den Männern die- an älteren Wählern. Bei der Landtags- gewählt? ser Altersgruppen lagen sie sogar wahl 2011 waren gut 37 Prozent der bei 7,9 bzw. 6,9 Prozent. Auch ins- Wähler im Land 60 Jahre oder älter. Von den sonstigen Parteien konnten so- gesamt hatten die Piraten einen spür- Unter den CDU-Wählern war sogar na- wohl die Linke als auch die Piraten Er- bar stärkeren Rückhalt bei den Wäh- hezu jeder zweite im Seniorenalter

Welche Informationen bietet die festgestellt wie in allen anderen Wahl- 3. Ergebnisse für einzelne Wahlbezir- Repräsentative Wahlstatistik? bezirken auch, jedoch mit dem Unter- ke dürfen nicht bekannt gegeben schied, dass die Stimmzettel mit einem werden. Die Repräsentative Wahlstatistik ist ei- Aufdruck nach Geschlecht und sechs ne Stichprobenerhebung, die seit Altersgruppen versehen sind. Bei der Methodische Veränderungen 1964 bei Landtagswahlen in Baden- Auszählung wird festgestellt, wie viele gegenüber 2006 Württemberg durchgeführt wird. Sie Frauen und Männer welcher Alters- bietet zuverlässige Informationen gruppen eine bestimmte Partei ge- Für die Erhebung bzw. Darstellung der über die Wahlberechtigten, die Wahl- wählt haben. Darüber hinaus werden Stimmabgabe nach Geschlecht und beteiligung und die Stimmabgabe die Wählerverzeichnisse in den Stich- Altersgruppen wurden zur Landtags- nach Geschlecht und Altersgruppen. probenurnenwahlbezirken nach Ge- wahl 2011 erstmals auch ausgewählte Darüber hinaus stellt die Repräsentati- schlecht und zehn Altersgruppen aus- Briefwahlbezirke einbezogen (bis zur ve Wahlstatistik Informationen über gezählt, um Informationen über die Landtagswahl 2006 ausschließlich Ur- die demografische Zusammensetzung Wahlberechtigten, die Wähler und nenwahlbezirke). Zudem wurden erst- der Wählerschaft der Parteien nach die Wahlbeteiligung nach Geschlecht mals sechs statt bisher fünf Geburts- Geschlecht und Altersgruppen bereit. und Altersgruppen zu erhalten. jahresgruppen je Geschlecht gebil- Sie spiegelt – anders als die Wahl- Oberster Grundsatz jeglicher Wahl- det. Diese Änderung betraf die Alters- analysen der Forschungsinstitute – statistik ist die Wahrung des Wahlge- gruppe der 60 Jahre und älteren nicht das erfragte, sondern das tat- heimnisses. Das Wahlgeheimnis und Wählerinnen und Wähler, die in die sächliche Wahlverhalten wider. der Datenschutz bleiben bei der Re- Altersgruppen der 60- bis 69-jährigen präsentativen Wahlstatistik gewahrt, sowie der 70 Jahre und älteren Wäh- Stichprobenauswahl da folgende Maßnahmen getroffen lerinnen und Wähler aufgeteilt wurde. werden: Ferner wurde das Hochrechnungsver- Die Repräsentative Wahlstatistik wird fahren auf das bei Bundestags- und in Wahlbezirken durchgeführt, die 1. Die ausgewählten Urnenwahlbe- Europawahlen übliche Verfahren um- nach dem Zufallsprinzip ausgewählt zirke müssen mindestens 500 Wahl- gestellt. werden. Bei der Landtagswahl 2011 berechtigte, die Briefwahlbezirke wurden 186 Stichprobenwahlbezirke mindestens 500 Wähler aufweisen. Rechtsgrundlagen der Repräsentativen (163 Urnenwahlbezirke und 23 Brief- Da somit zu jeder Altersgruppe der Landtagswahlstatistik 2011 wahlbezirke) der insgesamt rund Männer und Frauen zahlreiche Per- 10.500 Wahlbezirke in die Erhebung sonen gehören, können daraus kei- Rechtsgrundlagen sind § 37 Abs. 1 aufgenommen. Insgesamt waren etwa nerlei Rückschlüsse über die Stimm- Satz 2, § 38 Abs. 1 Satz 3 und § 60 des 160.000 Wahlberechtigte (rund 2%) abgabe von Einzelpersonen ge- Landtagswahlgeset zes in der Fassung in die Stichprobe einbezogen. wonnen werden. vom 15. April 2005 (GBl. S. 384), zu- 2. Die Auswertung der Stimmzettel er- letzt geändert durch Gesetz vom Wahlgeheimnis und Datenschutz folgt nicht in den Wahllokalen oder 29. Juli 2010 (GBl. S. 574). Gemeinden, sondern örtlich und In den ausgewählten Wahlbezirken zeitlich davon getrennt im Statisti- wird gewählt und das Wahlergebnis schen Landesamt.

121 Carmina Brenner

Sieben Landtagswahlen machten das Jahr 2011 zu einem Superwahljahr. Inzwischen ste- hen bei allen die endgültigen Wahlergebnisse fest. Im Spätherbst 2011 wurde im Stadt- staat Berlin die große Koalition aus SPD und CDU als Regierung besiegelt mit Klaus Wo- wereit (SPD) als neuem und altem Bürgermeister. Damit wurde seine vorherige Koalition aus SPD und Linken abgelöst. Zum ersten Mal in einem Landesparlament sind die Piraten vertreten, die in Berlin 8,9 Prozent der Zweitstimmen bekamen. In Baden-Württemberg gab es 2011 einen historischen Wechsel: Die CDU blieb zwar stärkste Kraft, konnte aber keine mehrheitsfähige Regierung bilden. Die Partei mit den zweitmeisten Stimmen wur- den die Grünen, die zusammen mit der SPD eine Regierung formten. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik wurde ein Angehöriger der Grünen Ministerpräsi- dent eines Bundeslandes. picture alliance/dpa

(47,5%). Beinahe ein Drittel der Unions- te Wählerschaft auf: 40,3 Prozent der UNSERE AUTORIN Wählerschaft war sogar 70 Jahre oder Grünen-Wähler waren unter 45 Jahre älter (31,0%). Die unter 60-Jährigen alt. Bei der Landtagswahl 2006 waren waren innerhalb der Wählerschaft der es allerdings noch weit über 50 Prozent, CDU hingegen in sämtlichen Alters- sodass auch innerhalb der Wähler- gruppen unterrepräsentiert. Auch unter schaft der Grünen ein deutlicher Alte- den SPD- und FDP-Wählern lag der Se- rungsprozess festzustellen ist. niorenanteil mit 41,7 bzw. 41,5 Prozent spürbar über dem Durchschnitt aller ANMERKUNGEN Wählerinnen und Wähler im Land, wo- mit die Senioren jeweils die mit Abstand 1 Wahlberechtigte ohne Wahlschein. 2 Hier und im Folgenden: Wahlbeteiligung der größte Wählergruppe der Sozialdemo- Wahlberechtigten ohne Wahlschein. kraten und der Liberalen stellten. Bei 3 Für die Erhebung und Darstellung der Stimm- Dr. Carmina Brenner ist seit September der Landtagswahl 2006 waren die abgabe nach Geschlecht und Altersgruppen sind 2007 Präsidentin des Statistischen Lan- Seniorinnen und Senioren innerhalb zur Landtagswahl 2011 methodische Änderungen desamtes Baden-Württemberg. Zuvor eingeführt worden (siehe Infokasten auf Sei- der Wählerschaft der beiden Parteien t e 121) . war sie seit April 1996 Abgeordnete noch leicht unterrepräsentiert gewesen. der CDU im Landtag von Baden-Würt- Anders als bei CDU, SPD und FDP waren temberg für den Wahlkreis Freuden- die Senioren in der Wählerschaft der stadt und war Wirtschaftssprecherin der Grünen stark unterrepräsentiert, wäh- CDU-Landtagsfraktion sowie Expertin rend alle Altersgruppen unter 60 Jahren für Energiepolitik. Vor ihrer Tätigkeit als überproportional vertreten waren. So Abgeordnete arbeitete sie acht Jahre waren – wie bereits erwähnt – bei der als Referentin für Europapolitik im Wirt- Landtagswahl 2011 gut 37 Prozent der schaftsministerium von Baden-Württem- Wählerinnen und Wähler 60 Jahre oder berg. Carmina Brenner wurde in Horb älter. Von den Wählern der Grünen ge- geboren, ist katholisch und verheiratet. hörte nur etwa jeder Fünfte zur Alters- Sie hat Betriebswirtschaft, Volkswirt- gruppe der 60-jährigen und Älteren schaft und Germanistik in Tübingen und (20,7%). Auch insgesamt betrachtet den USA studiert. weisen die Grünen weiterhin die jüngs-

122 WECHSELWÄHLER Wandern ins Grüne: Wählerbewegungen in Baden-Württemberg Stefanie Haas

dern auch generell bei Wahlen zu ei- do rund 900.000 Wähler hinzu, die bei Wählerinnen und Wähler sind wähleri- nem Landesparlament feiern konnte. allen relevanten Parteien zu einem Stim- scher geworden! Mit einem knappen Nie zuvor verbuchte eine Partei in Ba- menzuwachs führten. Betrachtet man Drittel erreichte der Anteil der Wechsel- den-Württemberg einen derart hohen zum anderen nur die Wähler, die an wähler bei der Landtagswahl 2011 einen Gewinn wie die Grünen 2011. Zugleich beiden Wahlen teilgenommen haben, neuen Höchstwert. Die Wanderungsbe- werden sie im Bundeslandvergleich so gaben gute zwei Drittel (68 Prozent) wegungen waren stärker als bei früheren erstmals zweitstärkste Kraft und schnei- ihre Stimme 2011 erneut an die Partei, Urnengängen in Baden-Württemberg. den besser ab als die SPD (Infratest di- für die sie schon 2006 votiert hatten. Im Stefanie Haas lenkt den Blick zunächst map 2011a, S. 5 f. sowie S. 59–66). Vergleich zu den beiden Wahlen zuvor auf den Umfang und die Richtungen der Wenngleich das Ergebnis der Wahl des ist die Haltequote, d. h. der Anteil derje- Wechselbewegungen. Die erläuterten Jahres 2011 in gewisser Weise Entwick- nigen Wähler, die bei einem Wahlgang und zueinander in Bezug gesetzten Da- lungen fortschreibt, die sich bereits bei und dem davor für dieselbe Partei ten werden in einem weiteren Schritt auf den vorangegangenen Urnengängen stimmten, jedoch gesunken. Blieben ihre soziodemografische Struktur hin un- tersucht. Nimmt man noch die Analyse andeuteten, und gleichzeitig Manifest 2001 noch 72 Prozent ihrer Partei treu, der relevanten Themenfelder hinzu, wer- dessen ist, was demoskopische Stim- waren es 2006 sogar drei Viertel der den die letztlich ausschlaggebenden mungsmessungen im Vorfeld der Wahl Wähler (75 Prozent). Mit einem knap- Motive für die oft kurzfristig getroffene vorwegnahmen, überraschte die Di- pen Drittel der Wähler (32 Prozent) er- Wahlentscheidung offenkundig. Vor dem mension der elektoralen Wechselbe- reichte der Anteil der Parteiwechsler in Hintergrund steigender Parteiwechsler- wegungen und resultierend der verän- Baden-Württemberg 2011 einen neuen raten sind Wechselwähler eine wachsen- derten parteipolitischen Kräfteverhält- Höchstwert (Infratest dimap 2001, de Gruppe des Elektorats und ein ent- nisse. S. 18; Infratest dimap 2006, S. 33; Infra- scheidender Faktor für den Ausgang Die im Vergleich zur vorangegangenen test dimap 2011a, S. 10). Im Folgenden einer Wahl. ILandtagswahl deutlichen Verschiebun- werden nur Salden der Austauschbe- gen sowie die unabhängig von der po- wegungen dargestellt. litischen Ebene zunehmende Tendenz Unumstrittener Sieger der Landtags- zu wechselndem Stimmverhalten an wahl waren die Grünen. Prozentual be- Einleitung den Urnen lenken den Blick auf die trachtet konnten sie ihren Anteil durch Quantität und die Richtung der Wech- Zugewinne von 12,5 Prozentpunkten auf Die baden-württembergische Land- selbewegungen sowie auf die Struktur 24,2 Prozent mehr als verdoppeln. Ge- tagswahl 2011 war eine von wahlstatis- und Motive des Parteiwechsels. Einbli- messen in den absoluten Stimmen über- tischen Extremen gekennzeichnete Ab- cke in die verschiedenen Dimensionen zeugten die Grünen mit 743.293 zusätz- stimmung. Bei keiner der 14 Landtags- des Wechsels ermöglicht das Wähler- lichen Stimmen sogar mehr als zweiein- wahlen zuvor stieg die Wahlbeteili- wanderungsmodell von Infratest dimap halb Mal so viele Wähler wie noch gung stärker an (+12,9 Prozentpunkte). (ausführlich dargestellt bei Hilmer/Ku- 2006. Die Grünen profitierten dabei Über eine Million Bürger mehr als noch nert 2005). Die anhand des Ansatzes von einem Wählerzulauf aus allen 2006 machten von ihrem Wahlrecht gewonnenen Ergebnisse der Wähler- denkbaren Richtungen (vgl. Abbildung Gebrauch. Die CDU musste nach deutli- bewegungen bei der Landtagswahl in 1). Der größte Zustrom resultierte aus chen Verlusten ihr schlechtestes Ergeb- Baden-Württemberg 2011 werden er- der erfolgreichen Mobilisierung von im nis in Baden-Württemberg seit 1952 läutert und zueinander in Bezug ge- Saldo 266.000 ehemaligen Nichtwäh- hinnehmen. Nachdem die Christdemo- setzt. Unter Rückgriff auf die Wahltags- lern. Zum Vergleich: Allein dieser Zu- kraten mehr als ein halbes Jahrhundert befragung von Infratest dimap (exit poll) gang aus der Gruppe der Nichtwähler gleichsam als parteipolitischer Hege- werden zudem die wichtigsten Wech- ist größer als der gesamte Stimmenum- mon die Regierungsbildung im Südwes- selgruppen auf ihre soziodemografi- fang der FDP (262.784). Die sprunghaft ten bestimmten, blieb ihnen diesmal nur sche Struktur hin untersucht sowie dieje- gestiegene Wahlbeteiligung in Baden- der ungeliebte wie ungewohnte Gang nigen Themenfelder aufgedeckt, die für Württemberg kam damit unter allen in die Opposition. Die FDP halbierte die Parteiwechsler wahlentscheiden- Parteien am stärksten den Grünen zu den Stimmenanteil in ihrem Stammland den Charakter hatten. Gute. Im Verhältnis zu den politischen und erzielte das schlechteste Ergebnis Wettbewerbern profitierten die Grü- ihrer Landtagswahlgeschichte. Die Ver- nen besonders vom Austausch mit der luste der SPD gestalteten sich ver- Umfang und Richtung der SPD, der einen Nettostrom von 140.000 gleichsweise moderat. Dennoch bedeu- Wechselbewegungen Wählern umfasste – dies war bei wei- tete ihr Abschneiden einen Negativ- tem der größte Wählerstrom im Wech- rekord im Land, wodurch sie erstmals Die Wanderungsbewegungen waren sel der Parteien. Die Zugewinne der auf den dritten Rang im Parteiengefüge bei der Landtagswahl 2011 stärker als Grünen beschränkten sich aber nicht Baden-Württembergs abrutschte. Dem bei früheren Urnengängen in Baden- auf das linke Spektrum des Parteiensys- gegenüber stand der bemerkenswerte Württemberg. Das betrifft zum einen tems, sondern gingen über Lagergren- Zugewinn der Grünen von 12,5 Punkten, den Austausch zwischen Wählern und zen hinweg: Neben ehemaligen Links- durch den die Partei nicht nur ihr bestes Nichtwählerlager: Aufgrund der gestie- partei-Wählern (+33.000) gewann die Ergebnis in Baden-Württemberg, son- genen Wahlbeteiligung kamen im Sal- Ökopartei per Saldo ebenso ehemali-

123 Abbildung 1: Infratest dimap-Wählerwanderung zwischen den Auch die SPD büßte Stimmenanteile ein Landtagswahlen 2011 und 2006 in Baden-Württemberg (Wichtigste Ströme (-2,0 Punkte auf 23,1 Prozent), gewann per Saldo) absolut aber Stimmen hinzu. Der SPD gelang wie Grünen und CDU die Stefanie Haas Stefanie erfolgreiche Mobilisierung einer gro- ßen Zahl ehemaliger Nichtwähler (+162.000), wenn auch der Nettostrom FDP kleiner war als bei den genannten Mit- bewerbern. Zu diesem Zulauf addierten 66.000 26.000 sich jeweils positive Salden im Aus- tausch mit den bürgerlichen Parteien 61.000 (CDU: +39.000; FDP: +26.000). Ähnlich wie bei der CDU ist das Wählerstrom- 39.000 konto der Sozialdemokraten jedoch ge- spalten. Aufgrund des großen lagerin- CDU SPD 87.000 140.000 ternen Abstroms zu den Grünen ist die gesamte Gewinn-Verlust-Rechnung im Grüne Austausch mit den Parteien für die SPD negativ (-77.000). Im Ergebnis entschie- den sich diesmal 156.387 Wähler mehr als 2006 für die SPD. 266.000 Der große Wahlverlierer war die FDP. 55.000 162.000 Als einzige der etablierten Parteien ver- loren die Liberalen sowohl prozentual 68.000 (-5,4) als auch absolut (-159.210) an 221.000 Wählerrückhalt. Im Gegensatz zu den anderen Parteien konnte die FDP kaum Nutzen aus der stark gestiegenen Generations- Nicht- Wahlbeteiligung ziehen. Zwar fiel die wechsel wähler Bilanz hinsichtlich des Austauschs mit den Nichtwählern auch bei der FDP po- sitiv aus (+15.000), der Umfang ihrer Aufgenommen sind alle Wählerströme größer als 20.000. Nicht dargestellt sind die Mobilisierung verblieb aber auf niedri- Wählerströme zu den sonstigen Parteien, darunter die Linke, und der Austausch durch gem Niveau und weit hinter dem der an- Wohnortswechsel. Quelle: Infratest dimap 2011a, S. 9–13. deren Parteien zurück. Dramatisch da- gegen und bereits als Einzelströme do- kumentiert war der Austausch mit den ge CDU- (+87.000) und ehemalige fuhr (vgl. auch den Beitrag von Udo politischen Wettbewerbern, in dessen FDP-Wähler (+61.000) sowie ehemali- Zolleis, Josef Schmid und Daniel Buhr in Folge die Liberalen Netto-Wählerab- ge Wähler sonstiger Kleinparteien diesem Heft), scheint in gewisser Weise gänge an alle Parteien von insgesamt (+25.000) für sich. Die Netto-Abströme doch aufgegangen zu sein – auch wenn 164.000 Stimmen verkraften mussten. der Parteien an die Grünen sind – mit der Faktor Mappus selbst eher demobi- Unter den nicht im baden-württember- Ausnahme der FDP, deren Wählerab- lisierend wirkte (Infratest dimap 2011a, gischen Landtag vertretenen Parteien fluss zur CDU noch etwas umfangrei- S. 18). Der starken Mobilisierung ehe- schnitt die Linke mit 2,8 Prozent am bes- cher war – jeweils die größten, die die maliger Nichtwähler standen Netto- ten ab. Im Vergleich zu 2006 verlor sie Parteien zu verkraften hatten. Auf ihre Verluste an die anderen Parteien und in 0,3 Punkte, gewann aber aufgrund der bekannte Stärke bei der Ansprache von Folge des Generationenwechsels ge- gestiegenen Wahlbeteiligung 17.947 Erstwählern konnten die Grünen auch genüber. In der Summe der Nettoströ- Stimmen hinzu. Die Linke konnte saldiert 2011 vertrauen und strahlten auf diese me verloren die Christdemokraten 25.000 ehemalige Nichtwähler zur Gruppe die größte Mobilisierungskraft 71.000 Wähler an die politischen Stimmabgabe bewegen. Gleichzeitig von allen Parteien aus (+68.000). Wettbe werber, lediglich im lagerinter- litt die Linke unter dem aus ihrer Sicht Die CDU verlor zwar 5,1 Punkte auf nun- nen Austausch mit der FDP konnte die ungünstigen Wähleraustausch mit den mehr 39,0 Prozent, verbesserte sich ab- Union per Saldo Wähler hinzugewin- anderen Parteien, insbesondere mit den solut aber um 195.146 Stimmen. Aus- nen. Wie schon bei den beiden voran- Grünen, bei dem ihr summiert 27.000 schlaggebend für diese Konstellation gegangenen Landtagswahlen in Ba- Wähler abhanden kamen. Die sonsti- war in erster Linie die hohe Wahlbetei- den-Württemberg litt die CDU unter gen Kleinparteien legten um 0,3 Punkte ligung, die den Christdemokraten sal- den Folgen des Generationenaus- zu. Unabhängig von umfangreicher Ab- diert 221.000 neue Wähler aus dem La- tauschs, mit dem die Union auch auf wanderung zu den Grünen speist sich ger der Nichtwähler bescherte. Nach- Bundesebene zu kämpfen hat (Hofrich- dieser Erfolg zum einen aus der Anspra- dem die Union sowohl 2001 als auch ter/Kunert 2009, S. 232 f. sowie Merz/ che ehemaliger Nichtwähler (+49.000 2006 mit einem Mobilisierungsproblem Hofrichter 2012). Zwar schnitten die per Saldo), zum anderen aus der Mobi- zu kämpfen hatte und jeweils Wähler Christdemokraten in der Wählergrup- lisierung von Erstwählern (+20.000 per an die Gruppe der Nichtwähler verlor, pe der über 60-Jährigen erneut weit Saldo). Damit entwickelten die sonsti- konnte sie diesen Trend nun umkehren überdurchschnittlich ab, konnten das gen Kleinparteien die zweitstärkste und die Abströme der beiden vergan- Ausscheiden verstorbener Wähler je- Zugkraft auf erstmalig Stimmberechtig- genen Wahlen mehr als kompensieren. doch nicht durch die Ansprache von te nach den Grünen. Nennenswerten Die Polarisierungsstrategie, die die Erstwählern ausgleichen. Im Generati- Anteil daran hat die Piratenpartei, die CDU im Wahlkampf in Person von Ste- onenaustausch verlor die CDU 55.000 bei ihrer ersten Teilnahme an einer fan Mappus gegen das rot-grüne Lager Stimmen. Landtagswahl in Baden-Württemberg

124 103.618 Wähler binden konnte, im Ge- dokumentiert die Sozialstruktur der WANDERN INS GRÜNE: samtelektorat einen Anteil von 2,1 Pro- beiden Wechselgruppen zu den Grü- WÄHLERBEWEGUNGEN zent erzielte und unter Erstwählern nen und stellt sie zur Einordnung allen IN BADEN-WÜRTTEMBERG 9,1 Prozent der Stimmen (Infratest dimap Wählern, allen Wählern der Grünen 2011b auf sich vereinigte. sowie allen neuen Wählern der Grünen gegenüber. Um zudem Aussagen über ren Durchschnittsalter und dem Rück- diejenigen Wähler treffen zu können, gang des Bildungsniveaus der Wähler- Struktur und Motive des Wechsels die sich noch 2006 für CDU, SPD oder schaft tragen insbesondere diejenigen FDP entschieden, 2011 aber für jeweils Grünen-Wähler bei, die bei der letzten Wechselbewegungen bei Wahlen las- andere Parteien stimmten und so zu Wahl noch für die CDU votierten. sen sich nicht nur in Umfang und Rich- deren Verlusten beitrugen, sind auch Das Profil sämtlicher CDU-Abwanderer tung charakterisieren. Mittels der Infra- die Soziodemografien dieser Abwan- fällt durch deren Erwerbstätigkeits- und test dimap-Wahltagsbefragung ist es derer aufgenommen und gegenüber Altersstruktur auf. Denn es sind speziell darüber hinaus möglich, Aussagen gestellt. Berufstätige sowie entsprechend die über das sozialstrukturelle Profil der Der große Zustrom zu den Grünen hat mitten im Berufsleben stehende Kohorte Parteiwechsler und ihre Themenagenda die Sozialstruktur ihrer Wählerschaft, von 35 bis 59 Jahren, die den Christde- zu treffen. Den numerisch größten Ge- die üblicherweise weiblicher, jünger mokraten überdurchschnittlich den Rü- samtwählerstrom bei der Landtagswahl und höher gebildet ist als die Anhän- cken kehr ten. Daz u wendeten sich über- 2011 weisen im Saldo die Grünen auf gerschaften der anderen Parteien, den- proportional oft Wähler mit einem hö- (+744.000), worunter sich auch die bei- jenigen der Wettbewerber in der Ten- heren Bildungsstand von der CDU ab, den größten Per-Saldo-Einzelströme – denz angeglichen. Unter den Wechs- die bei der Union ohnehin unterreprä- es wanderten 140.000 Wähler von der lern zu den Grünen sind im Vergleich sentiert sind. Das sozialstrukturelle Pro- SPD und 87.000 Wähler von der CDU zu zur grünen Gesamtwählerschaft Män- fil ehemaliger SPD-Wähler entspricht den Grünen – subsumieren. Nur die ner, Wähler über 60 Jahre und in dieser dem der CDU-Abwanderer und wird Ströme von den Nichtwählern an die Folge auch Rentner sowie Personen mit noch ergänzt durch einen hohen Anteil drei großen Parteien Baden-Würt tem- eher niedrigem Bildungsgrad überpro- von Mitgliedern anderer Konfessionen bergs waren umfangreicher. Tabelle 1 portional häufig vertreten. Zum höhe- als der katholischen oder evangeli-

Tabelle 1: Sozialstruktur ausgewählter Wähler- und Wechslergruppen

alle alle neue CDU SPD alle ehem. alle ehem. alle ehem. Wähler GRÜ GRÜ zu zu CDU CDU SPD SPD FDP FDP GRÜ GRÜ N* 37.483 9.957 702 213 330 14.083 549 8.961 473 1.736 273 Männlich 47,8 43,2 46,4 46,2 45,3 47,5 49,6 48,2 50,5 52,2 49,8 Weiblich 46,7 52,0 50,2 51,9 49,8 46,8 46,7 46,0 45,4 40,6 46,1 18–34 Jahre 16,3 17,8 9,7 9,6 9,6 13,6 12,9 14,6 11,9 15,5 11,5 35–59 Jahre 43,7 57,5 56,5 55,4 57,1 36,2 47,6 41,2 50,7 41,0 47,6 60+ Jahre 35,2 20,6 30,8 32,7 30,0 45,4 36,1 39,2 34,5 37,1 37,3 N* 5.791 1.705 702 213 330 2.004 549 1.336 473 294 273 Bildung: niedrig 28,0 15,0 22,1 26,8 23,0 34,5 29,9 28,7 28,6 31,5 21,4 mittel 31,7 29,9 31,2 31,2 28,0 32,1 32,5 34,5 27,7 24,2 36,9 hoch 39,0 54,4 46,0 40,2 48,6 31,3 37,0 35,9 43,4 42,6 41,7 Berufstätige 57,5 66,9 66,5 59,1 69,5 52,1 58,8 52,9 65,8 58,7 61,1 Rentner 30,0 19,4 25,3 29,6 24,2 37,2 32,1 34,9 27,0 31,1 29,6 Beruf: Arbeiter 14,2 8,7 10,3 7,7 12,0 15,1 11,7 15,0 14,1 11,2 9,5 Angestellte 53,4 57,5 62,0 63,0 62,6 51,1 61,2 55,7 61,0 44,8 60,6 Selbst./Freib. 13,0 14,2 13,1 12,9 9,0 15,4 12,9 6,6 9,1 24,5 22,7 Katholisch 38,8 33,1 36,0 47,7 32,2 48,2 46,6 32,7 31,9 36,3 35,0 Evangelisch 40,9 39,6 38,7 36,7 39,1 38,9 38,2 45,6 39,3 48,5 41,2 andere/keine 18,7 26,2 24,6 14,5 28,4 11,0 14,1 19,9 28,4 14,2 23,3

* Im Rahmen der Wahltagsbefragung wurden bei 37.483 Wählern die aktuelle Wahlentscheidung, Alter und Geschlecht erhoben, darunter bei 5.791 Wählern weitere sozialstrukturelle Merkmale, Wahlmotive und die Wahlentscheidung von 2006. Dargestellt sind Spaltenprozente. Komplementärgruppen (z. B. Beam- te) ohne Trennschärfe sind aus Platzgründen ausgenommen. Quelle: Infratest dimap 2011a, S. 41–43; Infratest dimap 2011b.

125 schen bzw. von Konfessionslosen. Unter überregionaler Färbung. Im Fokus der Verkehr und Bildung waren, setzten den von der FDP abgewanderten Wäh- umwelt- und energiepolitischen Motive Wechsler von der CDU Verkehrspolitik lern sind Frauen, Personen mit einem stand zweifelsohne die Nuklearkatast- vor Bildungspolitik und Gerechtigkeit. mittleren Bildungsniveau sowie Ange- rophe von Fukushima, ebenso gewiss Ohne die wichtigsten Wahlthemen als Stefanie Haas Stefanie stellte überrepräsentiert, dazu eben- zählte der umstrittene Kauf von Anteilen Motive des Wechsels missdeuten zu falls der mittleren Alterskohorte Zuge- des Energieversorgers EnBW durch die wollen, fühlten sich offenbar gerade hörige und Konfessionslose. baden-württembergische Landesregie- ehemalige CDU-Wähler beim Thema rung dazu. Auf der Agenda der wahl- Stuttgart 21 von den Landesgrünen poli- Thematisch wurden Grünen-Wähler – entscheidenden Themen in der gesam- tisch besser vertreten als von den Christ- sowohl in ihrer Gesamtheit als auch die ten grünen Wählerschaft folgen mit be- demokraten. Letztlich taxierten zuge- neu gewonnenen Stimmgeber, unab- trächtlichem Abstand Fragen der sozia- wanderte Grünen-Wähler weder um- hängig der Richtung ihrer Zuwande- len Gerechtigkeit, der Verkehrspolitik welt- oder energiepolitische Fragen rung – in erster Linie durch das Feld der samt expliziter Nennung des Baupro- noch die von Stuttgart 21 dominierten Umwelt- und Energiepolitik zur Stimm- jekts Stuttgart 21 und der Bildungspoli- Verkehrsthemen höher als alle Grünen- abgabe für ihre Partei motiviert (vgl. Ta- tik. Auch die Motivlage neuer Grünen- Wähler. belle 2). Unter den Schlagworten ver- Wähler umfasst diese Themen, jedoch Für die Abwanderer von CDU, SPD und sammelt sich je nach Wahrnehmung in anderer Reihenfolge. Während für FDP waren übereinstimmend die Um- des Wählers eine Gemengelage zahl- Wechsler von der SPD Gerechtigkeits- welt- und Energiepolitik das wahlent- reicher Materien landespolitischer und fragen entscheidungsrelevanter als scheidende Motiv. Der Themenkomplex

Tabelle 2: Wahlmotive ausgewählter Wähler- und Wechslergruppen

Alle alle neue CDU SPD zu alle ehem. alle ehem. alle ehem. Wähler GRÜ GRÜ zu GRÜ CDU CDU SPD SPD FDP FDP GRÜ N 5.791 1.705 702 213 330 2.004 549 1.336 473 294 273

Wahlentscheidende Themen

Umweltpolitik/ 44,8 85,9 85,2 84,5 87,5 19,0 57,5 55,3 65,5 25,4 47,7 Energiepolitik

Wirtschaftspolitik 34,0 10,4 11,7 10,1 12,1 57,3 25,9 21,4 21,7 55,1 38,2

Soziale Gerechtigkeit 23,2 25,0 24,8 17,4 30,7 11,8 19,8 36,0 31,8 15,4 20,6

Bildungspolitik 22,3 22,3 19,3 20,2 16,8 20,0 21,0 26,7 21,2 25,3 22,3

Arbeitsmarktpolitik 16,2 6,1 5,6 4,8 6,9 21,3 13,1 16,7 9,9 21,3 13,9

Stuttgart 21/ 15,4 24,3 25,1 24,5 22,1 13,2 16,7 13,3 20,2 11,9 17,1 Verkehrspolitik

Familienpolitik 10,5 11,0 10,5 8,7 11,8 9,9 11,0 10,9 11,3 7,1 8,1

Innere Sicherheit 9,6 2,4 2,3 2,7 1,6 14,8 7,6 7,0 6,4 11,0 9,3

Finanzpolitik 8,2 5,6 6,2 4,9 5,0 10,0 8,7 6,9 5,7 14,1 14,2

Integrationspolitik 7,7 5,4 4,7 4,9 3,9 7,1 9,1 6,3 6,1 5,8 5,1

Steuerpolitik 7,0 3,2 3,3 1,8 2,0 7,5 6,8 6,6 3,8 22,1 5,9

Zeitpunkt der Wahlentscheidung

heute am Wahltag 15,2 10,1 12,7 15,2 10,5 17,0 22,1 14,0 14,9 17,4 18,3

in den letzten Tagen 17,8 15,2 22,1 30,6 18,6 16,3 29,9 19,5 21,8 26,1 28,3

in den letzten Wochen 19,5 26,2 34,7 34,2 34,2 13,7 29,6 22,4 29,0 21,2 23,2

vor längerer Zeit 30,3 38,6 29,4 19,6 35,4 27,5 17,6 28,1 33,5 24,3 30,1

wähle immer 15,08,50,30,00,322,60,313,70,29,20,0 dieselbe Partei

Themen: Mehrfachnennungen möglich. Dargestellt sind Spaltenprozente. Quelle: Infratest dimap 2011a, S 45–47; Infratest dimap 2011b.

126 lag in allen drei Wechslergruppen klar tativen Vorsicht scheint aber vor allem WANDERN INS GRÜNE: vor anderen Beweggründen der Stimm- bei früheren CDU-Wählern die Verunsi- WÄHLERBEWEGUNGEN abgabe und außerdem bei Christde- cherung über den atompolitischen Kurs IN BADEN-WÜRTTEMBERG mokraten sowie Liberalen deutlich, bei der Mappus-CDU nach dem Super- Sozialdemokraten etwas über der Rele- GAU in Fukushima und kurz vor der vanz, die das Politikfeld bei den jeweils Wahl groß genug gewesen zu sein, um cheren Hafen der Grünen anzulaufen. verbliebenen Wählern einnahm. Gera- nicht erneut für die Christdemokraten zu Im Vergleich der Bundesländer liegt Ba- de auf Seiten der CDU ist die Umwelt- votieren, sondern den hinsichtlich ihrer den-Württemberg mit einem Anteil an und Energiepolitik die zentrale Schei- Umwelt- und Energieprogrammatik si- Spätentscheidern von 33 Prozent je- delinie zwischen Bestandswählern und Abwanderern. Der zaudernde Kurs der baden-württembergischen CDU unter Atomkraft-Befürworter Stefan Mappus nach dem Reaktorunglück in Japan und die Abwicklung des Rückkaufs der En- BW-Aktien durch den früheren Minister- präsidenten am Parlament vorbei stell- ten für knapp sechs von zehn CDU-Ab- gängern das zentrale Wahlmotiv dar, während umwelt- und energiepolitische Fragen nur für jeden fünften verbliebe- nen CDU-Wähler wahlentscheidend waren. Diese Differenz war bei SPD und FDP auch deswegen kleiner, weil deren Abwanderer weitere Themen von Wahl- relevanz ausmachten – für ein knappes Drittel der ehemaligen SPD-Wähler wa- ren Gerechtigkeitsfragen ebenso wahl- entscheidend, für knapp vier von zehn ehemaligen FDP-Wählern die Wirt- schaftspolitik –, wohingegen CDU-Ab- wanderer anderen Beweggründen ver- gleichsweise geringeren Stellenwert zumaßen: Wirtschaft als ihre zweithäu- figste Nennung bei den zentralen Wahlthemen führte nur jeder vierte ehe- malige CDU-Wähler an. Aufschlussreich ist abschließend die zeitliche Relation zwischen Wahlent- scheidungsmoment am 27. März und der am 11. März beginnenden Reaktor- katastrophe in Fukushima. Zu den Grü- nen gewechselte Wähler entschlossen sich im Vergleich zu allen Grünen-Wäh- lern spät zu ihrer Wahlentscheidung: Während sich über ein Drittel der Neu- Grünen in den letzten Tagen vor der Wahl oder erst am Wahltag selbst und damit in unmittelbarer zeitlichen Nähe zu den Ereignissen in Japan auf ihre Partei festlegte, fiel bei allen Grünen- Wählern nur bei jedem vierten die Ent- scheidung im gleichen Zeitraum. Den Grünen-Zugängen von Seiten der CDU fiel der Wechselentschluss besonders schwer: Fast jeder zweite der christde- mokratischen Wähler von 2006 ent- schied sich erst kurz vor dem Wahltag für die Grünen. Die Entscheidung zö- gerte sich auch bei der Hälfte aller CDU-Abwanderer bis in die letzten Ta- ge vor der Wahl hinaus, der Anteil der Spätentscheider unter früheren SPD- Wählern lag deutlich niedriger. Ur- sächlich für diese Differenz könnte sein, dass eine Wechselentscheidung über Lagergrenzen hinweg schwerer fällt als Viele Wähler sind auch mit nahendem Wahltag noch unentschlossen, legen sich erst die parteipolitische Umorientierung in- kurzfristig auf eine Partei fest und sind entsprechend offen für die gezielte Ansprache nerhalb eines Lagers. Bei aller interpre- durch die Parteien gerade in der letzten Wahlkampfphase. picture alliance/dpa

127 doch keineswegs über dem Schnitt. Der shima auf das Wahlergebnis nicht über- Infratest dimap (2011b): Wahltagsbefragung Landtagswahl Baden-Württemberg 2011. Berlin Einfluss von Fukushima zumindest auf bewertet werden. Die japanische Reak- (unveröffentlichter Tabellenband). den Zeitpunkt der Wahlentscheidung torkatastrophe darf aber auch keines- Merz, Stefan/Hofrichter, Jürgen (2012): Wähler des Gesamtelektorats wird damit relati- falls unterschätzt werden. Noch bis in auf der Flucht: Die Wählerwanderung zur Bun- Stefanie Haas Stefanie viert. die Tage des Unglücks wiesen verschie- destagswahl 2009. In: Weßels, Bernhard/Gabri- el, Oscar W./Schoen, Harald (Hrsg.): Wahlen dene Umfrageinstitute ein Kopf-an- und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundes- Kopf-Rennen von CDU/FDP und SPD/ tagswahl 2009. Wiesbaden. (im Erscheinen) Fazit Grünen aus, bei dem teilweise Schwarz- Gelb vorne lag und die Grünen hinter ANMERKUNGEN Viele Wähler sind auch mit nahendem der SPD zurückblieben.1 Fukushima Wahltag noch unentschlossen, legen kann das Wahlergebnis gewiss nicht 1 Umfrageergebnisse verschiedener Institute für Baden-Württemberg sind ab 1999 dokumen- sich erst kurzfristig auf eine Partei fest erschöpfend erklären. Aber ohne Fuku- tiert unter http://www.wahlrecht.de/umfragen/ und sind entsprechend offen für die ge- shima würde die Landesregierung heu- landtage/baden-wuerttemberg.htm. zielte Ansprache durch die Parteien ge- te möglicherweise von der SPD unter rade in der letzten Wahlkampfphase. Nils Schmid statt von den Grünen unter Wechselndes Wahlverhalten wird da- Winfried Kretschmann geführt oder die durch zwar keinesfalls zwangsläufig. CDU gar weiterhin den Ministerpräsi- Vor dem Hintergrund steigender Partei- denten stellen. Es bleibt abzuwarten, zu wechslerraten sowohl bei Bundestags- welchen erneuten Veränderungen im als auch in der Tendenz bei Landtags- Elektorat und gerade unter den Wäh- wahlen sind Wechselwähler jedoch ei- lern der Grünen die nächste Landtags- ne wachsende Gruppe des Elektorats wahl führt, die mutmaßlich von anderen und damit ein entscheidender Faktor thematischen Herausforderungen als sowohl für den Ausgang einer Wahl als Fukushima und Stuttgart 21 geprägt sein auch für die Wahlkampfstrategien der wird. Parteien, dessen Untersuchung lohnt. Die Landtagswahl in Baden-Württem- LITERATUR berg war gleichsam eine Wanderung ins parteiliche Grüne. Einem Gravitati- Hilmer, Richard/Kunert, Michael (2005): Wähler- wanderung: Das Modell von Infratest dimap. In: onszentrum gleich zogen die Grünen Falter, Jürgen W./Gabriel, Oscar W./Weßels, Wählerstimmen über Lagergrenzen hin- Bernhard (Hrsg.): Wahlen und Wähler. Analysen weg von allen politischen Wettbe- aus Anlass der Bundestagswahl 2002. Wiesba- werbern ab, mobilisierten die meisten den, S. 134–156. Hofrichter, Jürgen/Kunert, Michael (2009): Wäh- Erstwähler und profitierten durch die lerwanderung bei der Bundestagswahl 2005: erfolgreiche Ansprache ehemaliger Umfang, Struktur und Motive des Wechsels. In: Nichtwähler auch am stärksten von der Gabriel, Oscar W./Weßels, Bernhard/Falter, Jür- gestiegenen Wahlbeteiligung. Der gro- gen W. (Hrsg.): Wahlen und Wähler. Analysen ße Zustrom zu den Grünen ließ ihre aus Anlass der Bundestagswahl 2005. Wiesba- den, S. 228–250. Wählerschaft im Vergleich zu 2006 äl- Infratest dimap (2001): Wahlreport. Landtags- ter und männlicher werden und führte wahl in Baden-Württemberg 25. März 2001. Ber- zu einer Reduzierung des durchschnittli- lin. chen Bildungsniveaus der Grünen- Infratest dimap (2006): Wahlreport. Landtags- wahl in Baden-Württemberg 26. März 2006. Ber- Wähler. Dazu trug insbesondere das lin. Wahlverhalten ehemaliger CDU-Wäh- Infratest dimap (2011a): Wahlreport Landtags- ler bei. Die Umwelt- und Energiepolitik, wahl Baden-Württemberg 2011. Berlin. darunter die Nuklearkatastrophe von Fukushima und der umstrittene EnBW- Rückkauf, war das thematisch entschei- dende Politikfeld der Wahl. Die Grünen UNSERE AUTORIN profitierten dergestalt von der Themen- agenda, dass die ihnen zugewander- ten Wähler ihre Wahlentscheidung au- ßerordentlich häufig von umwelt- und energiepolitischen Fragen abhängig machten. Gleichzeitig erwiesen sich die Verkehrspolitik im Allgemeinen bzw. Stuttgart 21 im Besonderen – wenn schon nicht als wahlentscheidendes Thema bei allen Wählern und außer- halb der Landeshauptstadt – als Stim- Stefanie Haas, M.A., ist Projektleiterin menfänger für die Grünen. bei Infratest dimap, Gesellschaft für Die Wählerschaft Baden-Württembergs Trend- und Wahlforschung mbH in Ber- traf ihre Wahlentscheidung 2011 nicht lin, und dort in der Meinungs- und nennenswert später als aus anderen Wahlforschung sowie der Wahlbericht- Abstimmungen bekannt. Weil die Wahl erstattung tätig. Sie hat an der Universi- gleichsam Kumulationspunkt einer seit tät Freiburg Politikwissenschaft, Wirt- 2006 zu beobachtenden Entwicklung schaftspolitik und Betriebswirtschafts- der politischen Stimmung zugunsten der lehre mit dem Schwerpunkt der empiri- G r ü n e n war, s o llte d e r Einf l us s vo n F u ku - schen Sozialforschung studiert.

128 BADEN-WÜRTTEMBERGS WAHLSYSTEM Das Wahlsystem von Baden-Württemberg: Analyse der Wahl von 2011 und Reformperspektiven Joachim Behnke

sonalisierten Verhältniswahlsystemen Der Mechanismus der Sitzzuteilung Das Wahlsystem von Baden-Württem- ist Baden-Württemberg das einzige, berg ist dem Typus der personalisierten das so vorgeht. Lediglich noch im Saar- Im Folgenden werde ich den Mechanis- Verhältniswahl zuzuordnen. Im Gegen- land gibt es ansonsten nur eine einzi- mus der Sitzverteilung anhand des kon- satz zu Bundestagswahlen jedoch, bei ge Stimme, allerdings dort für eine Lan- kreten Ergebnisses vom 27. März 2011 denen der Wähler über zwei Stimmen verfügen kann, haben die Wählerinnen desliste. In Baden-Württemberg hinge- näher erläutern. Wie erwähnt hat jeder und Wähler bei den Wahlen zum Land- gen ist die Wählerstimme eine Stimme Wähler in Baden-Württemberg nur eine tag von Baden-Württemberg nur eine für einen Direktkandidaten im Wahl- einzige Stimme. Diese gibt er einem der ein zige Stimme für einen Direktkandi- kreis. Dennoch ist das Wahlsystem ein Direktkandidaten in einem der insge- daten im Wahlkreis. Damit der Landtag Verhältniswahlsystem, denn für die Sitz- samt 70 Wahlkreise. Für die proportio- die Mehrheitsverhältnisse tatsächlich verteilung im Ganzen ist der Anteil der nale Sitzzuteilung werden zuerst die widerspiegelt, wird der Proporz durch Stimmen, den die Parteien über alle Stimmen aller zuteilungsberechtigten eine – die Regierungsbezirke berück- Wahlkreise hinweg gesammelt haben, Pa r t e i e n ü b e r a l l e 70 Wa h l k r e i s e a u f a d - sichtigende – Zweitauszählung herge- ausschlaggebend. Damit entspricht diert. Zuteilungsberechtigt sind all die- stellt, wonach diejenigen Kandidaten in das Wahlsystem weitgehend dem jenigen Parteien, die mindestens fünf den Landtag aufrücken, die innerhalb Typus des bundesdeutschen Wahl- Prozent aller abgegebenen Stimmen er- ihrer Partei das beste Wahlergebnis er- systems von 1949 (vgl. Nohlen 2009, halten haben. 2011 waren dies die Par- zielt haben. Überhangmandate werden S. 326ff.). teien CDU, Bündnis 90/Die Grünen, durch Ausgleichsmandate ausgeglichen. Die zweite Besonderheit des baden- SPD und FDP. Die jeweiligen Gesamt- Joachim Behnke zeigt die Mechanismen württembergischen Systems ist gewis- stimmenzahlen der Parteien sind in Ta- der Sitzzuteilung anhand des Wahler- sermaßen eine Konsequenz aus der ers- belle 1 abgebildet. gebnisses vom 27. März 2011 Schritt für ten. Um eine angemessene Repräsen- Der Landtag besteht aus mindestens Schritt auf. Im Weiteren werden die Vor- tation der einzelnen Regionen bzw. 120 Abgeordneten. Dies ist die reguläre teile dieses Wahlsystems (z. B. die star- Regierungsbezirke im Parlament zu ge- Sitzzahl, die erreicht wird, wenn keine ke Personenwahlkomponente) den ne- währleisten, erfolgt das Verfahren der Überhangmandate und Ausgleichs- gativen Folgen von Überhangmandaten Sitzverteilung zweistufig: im ersten mandate anfallen. Die Sitzzuteilung er- gegenübergestellt. Abschließend unter- breitete Reformvorschläge zeigen We- Schritt auf der Ebene des Landes, im folgt nach dem Verfahren Sainte-Laguё, ge, wie zukünftig einer unnötigen zweiten auf der der Regierungsbezirke. das auch beim Bundestagswahlsystem Vergrößerung des Parlaments entge- Dies hat dann wiederum konkrete Fol- angewandt wird und das eine sehr gute gengewirkt werden kann. Igen für die Entstehung von Überhang- Annäherung an das Ideal der Proporti- mandaten, anfallende Ausgleichsman- onalität erreicht. Alle vier zuteilungs- date und vor allem für einen damit ver- berechtigte Parteien haben in der Sum- bundenen, nicht unerheblichen, syste- me 4.565.472 Stimmen erhalten, mit matischen Bias zugunsten von Parteien, 1.943.912 erhielt beispielsweise die die Überhangmandate erzielen. CDU 42,6 Prozent aller Stimmen. Nach Einleitung

Wie die meisten Wahlsysteme der Bun- Tabelle 1: Gesamtstimmenzahlen der Parteien und reguläre Sitzzuteilung desländer und das Bundestagswahl- system selbst ist das Wahlsystem von Baden-Württemberg dem Typus der CDU SPD GRÜNE FDP Gesamt personalisierten Verhältniswahl zuzu- Stimmen 1.943.912 1.152.594 1.206.182 262.784 4.565.472 ordnen. Artikel 28 Abs. 1 der Landesver- absolut fassung spezifiziert dies folgenderma- ßen: „Die Abgeordneten werden nach Stimmen 42,6 25,2 26,4 5,8 100 einem Verfahren gewählt, das die Per- in Prozent sönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet.“ Dabei Sitze absolut 51 30 32 7 120 gibt es allerdings einige Besonderhei- Sitze 42,5 25,0 26,7 5,8 100 ten des baden-württembergischen in Prozent Wahlgesetzes, das dieses von den übri- gen abhebt. Direktmanda- 60 1 9 0 70 Die wichtigste dieser besonderen Ei- te absolut genschaften ist der Umstand, dass der Wähler in Baden-Württemberg nur eine Direktmanda- 85,7 1,4 12,9 0 100 Stimme zu vergeben hat. Unter den per- te in Prozent

129 dem Sainte-Laguё-Verfahren erhält sie also mindestens 50 hinzu, die keine impliziten Listung innerhalb der Regie- bei der landesweiten Verteilung der re- Wahlkreissieger sind. rungsbezirke vergeben. gulären Sitze 51 der 120 zu verteilen- Da es aber wegen des Einstimmensys- Bei der Verteilung der 51 Sitze der CDU den Sitze, also einen Anteil von 42,5 tems keine Listen von Abgeordneten entfallen – wiederum nach dem Sainte- Prozent der Sitze. Auch bei den anderen gibt, nach denen diese Sitze in den Par- Laguё-Verfahren – auf die Regierungs- Joachim Behnke Parteien entspricht der Sitzanteil ziem- teien verteilt werden können, müssen bezirke entsprechend den dort insge- lich präzise dem Anteil der Stimmen. diese Listen implizit aus den Stimmer- samt erzielten Stimmen zehn Sitze auf Analog dazu, wie es beim Bundeswahl- gebnissen in den Wahlkreisen erstellt den Regierungsbezirk Freiburg, zwölf gesetz üblicherweise gemacht wird, werden. Diese implizite Listung erfolgt auf Karlsruhe, 19 auf Stuttgart und zehn kann man diese Verteilung der Sitze auf entsprechend des relativen Stimmenan- auf Tübingen. In allen Regierungsbezir- die Parteien auch als Oberverteilung teils, den die Kandidaten in ihren Wahl- ken bis auf Tübingen hat die CDU aller- bezeichnen. kreisen erzielt haben. Den ersten Platz dings mehr Direktmandate gewonnen, Etwas komplizierter wird es, wenn die auf der Liste erhält also der Abgeordne- als ihr dort nach dem Proporz zuste- Sitze nun konkreten Personen zugeteilt te mit dem höchsten Stimmanteil in sei- hen würden. Von diesen so genannten werden müssen. Die Kandidaten, die ih- nem Wahlkreis, den zweiten Sitz der mit Überhangmandaten fallen in Freiburg ren Wahlkreis gewonnen haben, sind dem zweithöchsten Stimmanteil usw. eines und in Karlsruhe und in Stuttgart garantiert im Parlament. Die Wahlkreis- Würde man die implizite Listung lan- jeweils vier an. sieger werden dabei nach dem Prinzip desweit vornehmen, würde dies bei ei- Es ist üblich, zwischen so genannten ex- der relativen Mehrheit ermittelt. Doch nigen Parteien zu einer beachtlichen ternen und internen Überhangmanda- im Parlament sitzen nicht nur die Wahl- regionalen Verzerrung führen. Fünf der ten zu unterscheiden. Externe Über- kreisgewinner, denn so ließe sich keine sieben Sitze der FDP würden dann z. B. hangmandate sind solche, die schon im proportionale Verteilung der Sitze er- in den Regierungsbezirk Stuttgart fal- Rahmen der Oberverteilung entstehen, zielen, da der Anteil der Wahlkreissie- len, jeweils einer nach Karlsruhe und Tü- interne entstehen erst innerhalb des ger einer Partei ja nicht dem Anteil ihrer bingen. Um auch innerhalb der Parteien Rahmens der Unterverteilung. Da alle Stimmen entspricht. So konnte z. B. die eine angemessene regionale Repräsen- neun Überhangmandate der CDU aber CDU in 60 der 70 Wahlkreise gewinnen tation zu erreichen, findet die implizite schon auf der Ebene der Obervertei- und stellt damit einen Anteil von 85,7 Listung gewissermaßen „quotiert“ statt. lung angefallen wären, sind sie dem- Prozent der Wahlkreissieger, obwohl Es werden dafür die auf das Land ent- nach externe Überhangmandate. Es ist sie nur 42,6 Prozent der verrechneten fallenden Sitze einer Partei entspre- aber durchaus sehr gut vorstellbar, dass Stimmen erhielt. Um nun auch das in der chend den Stimmen in den Regierungs- die CDU landesweit nicht mehr Direkt- Verfassung verankerte Erfordernis der bezirken proportional auf diese verteilt. mandate erhält als ihr aufgrund ihres Verhältniswahl zu erfüllen, wird der Dies stellt dann die so genannte Unter- Anteils an Stimmen zustehen würde, Kreis der Abgeordneten also solange verteilung der Sitze dar. Von diesem sehr wohl aber innerhalb eines Regie- um weitere Abgeordnete erhöht, bis das Sitzkontingent einer Partei in einem Re- rungsbezirks. Es gäbe dann zwar keine Kriterium der Proportionalität erfüllt ist. gierungsbezirk wird dann die Anzahl externe Überhangmandate, aber sehr Die Mindestzahl der Abgeordneten ist der dort von der Partei errungenen Di- wohl interne Überhangmandate. Die dabei auf 120 festgelegt. Zu den 70 di- rektmandate abgezogen, die restlichen zweistufige Verteilung der Sitze erhöht rekt gewählten Abgeordneten kommen Sitze werden dann entsprechend der also das Potential für die Entstehung von Überhangmandaten grundsätzlich, auch wenn es sich dieses Mal nicht so ausgewirkt hat. Tabelle 2a: Regionale Stimmen- und Sitzverteilung In allen Bundesländern, in denen Über- hangmandate anfallen können, werden diese – im Gegensatz zur Bundesebene CDU SPD – durch zusätzliche Mandate für die an- Stimmen Sitze Direkt- Stimmen Sitze Direkt- deren Parteien ausgeglichen, so dass mandate mandate der Proporz wieder hergestellt wird. Der Ausgleich erfolgt in Baden-Würt- Freiburg 373.606 10 11 228.321 6 0 temberg auf der Ebene der Regierungs- bezirke. Die Anzahl der für den Regie- Karlsruhe 471.459 12 16 307.034 8 1 rungsbezirk zu vergebenden Sitze wird Stuttgart 730.294 19 23 443.585 11 0 also so lange sukzessive erhöht, bis die Zahl der Direktmandate der Partei, die Tübingen 368.553 10 10 173.654 5 0 Überhangmandate erzielte, durch den Proporz abgedeckt ist. Ausgehend z. B. von den 24 Sitzen, die nach der erfolg- Tabelle 2b: Regionale Stimmen- und Sitzverteilung ten Unterverteilung insgesamt auf Frei- burg entfallen, wird die Anzahl der Sit- Bündnis 90/Die Grünen FDP ze so lange erhöht, bis die CDU nach dem Proporzprinzip elf Sitze erhält, wo- Stimmen Sitze Direkt- Stimmen Sitze Direkt- mit das Überhangmandat durch den mandate mandate Proporz abgedeckt wäre. Wie in Tabel- le 3 zu sehen ist, wird das eine Über- Freiburg 269.8247350.31610 hangmandat in Freiburg durch ein Aus- Karlsruhe 283.8088262.85120gleichsmandat der Grünen kompen- siert, die vier Überhangmandate der Stuttgart 454.795 12 3 107.012 3 0 CDU in Karlsruhe durch zwei Aus- gleichsmandate der SPD und einem der Tübingen 197.7555142.60510 Grünen und die vier Überhangmandate

130 in Stuttgart durch drei Ausgleichsman- dann hätte die CDU 54 Sitze erhalten, DAS WAHLSYSTEM VON BADEN- date für die SPD und zwei für die Grü- die SPD 32, die Grünen 33 und die FDP WÜRTTEMBERG: nen. Die FDP profitiert als einzige Partei sieben Sitze und der Vorsprung von ANALYSE DER WAHL VON 2011 UND weder von Überhangmandaten noch Grün-Rot von vier Sitzen wäre zumin- REFORMPERSPEKTIVEN von Ausgleichsmandaten. Nach dem dest erhalten geblieben. Der auf der Re- Ausgleich hat sich ihr Anteil der Sitze gionalebene stattfindende Ausgleich ponsivität der Zusammensetzung des daher von 5,8 Prozent auf 5,1 Prozent re- wirkt sich in unserem fiktiven Beispiel, Parlaments auf den Wählerwillen ga- duziert, während der Sitzanteil der das ja aber sehr realitätsnah ist, also zu rantiert. Demokratietheoretisch ist eine CDU von 42,5 auf 43,5 gestiegen ist. Gunsten von Schwarz-Gelb aus, vor al- solch hohe Responsivität sicherlich als Hatte die grün-rote Koalition in Bezug lem zu Gunsten der CDU. Tatsächlich ist positiv zu bewerten. auf die Verteilung der 120 regulären dies kein Zufall, sondern ein im Wahl- Der zweite wesentliche Vorteil des Sitze eine Mehrheit von 62 zu 58 Sitzen, system eingebauter Bias zu Gunsten Wahlsystems kann darin gesehen wer- so beträgt diese Mehrheit nach der Ein- der Partei, die Überhangmandate er- den, dass es nur eine Stimme gibt und beziehung von Überhang- und Aus- zielt. Auf die genauen Gründe werde somit komplexe Stimmmuster, bei denen gleichsmandaten 71 zu 67. Obwohl der ich weiter unten eingehen. die Wähler dem Abgeordneten der ei- Landtag um 18 Sitze zunimmt, d. h. um nen Partei die eine Stimme und der Liste 15 Prozent der ursprünglichen Größe, einer anderen Partei die andere geben, ändert sich an der absoluten Differenz Vorteile des Wahlsystems vermieden werden. Die problematischs- zwischen Gewinner- und Verliererkoali- te Folge dieses so genannten Stimmen- tion nichts. Dies wäre auch der Fall ge- Das baden-württembergische Wahl- splittings besteht in der Möglichkeit sei- wesen, wenn wir von Anfang an 138 Sit- system besitzt eine sehr starke Perso- ner strategischen Nutzung. Besitzen die ze anhand der Stimmenzahlen auf die nalwahlkomponente. Nicht nur werden Wähler wie bei der Bundestagswahl vier Parteien verteilt hätten. Allerdings die Wahlkreiskandidaten, wie es an- sowohl eine Erststimme für die Wahl der hätte die FDP dann acht Sitze und die sonsten auch in den meisten anderen Wahlkreiskandidaten als auch eine CDU nur noch 59 Sitze erhalten, wäh- Bundesländern und auf der Bundesebe- Zweitstimme für die Wahl einer Partei- rend die Grünen in diesem Fall eben- ne der Fall ist, direkt gewählt, auch die liste, so können sie gezielt die Erststim- falls 36 Sitze und die SPD 35 Sitze erhal- übrigen Mandate, die die Erreichung me einer Partei geben, die vermutlich ten hätten. des Proporzes gewährleisten, werden viele Direktmandate erhält, und die In Prozent ausgedrückt reduziert sich den Personen zugeteilt, die den stärks- Zweitstimme einer mit dieser Partei be- durch Überhang- und Ausgleichsman- ten Zuspruch innerhalb ihrer Wahlkrei- freundeten kleinen Partei, die keine rea- date der Sitzanteil der grün-roten Ge- se erhalten haben. Formal gesehen listischen Chancen auf den Gewinn von winnerkoalition lediglich geringfügig werden Personen und nicht die Parteien Direktmandaten hat. Damit kann be- von 51,7 Prozent auf 51,5 Prozent. Es gewählt, auch wenn die Kandidaten wusst auf die Schaffung von Überhang- hätte aber auch leicht schlimmer kom- natürlich als die Kandidaten der Partei- mandaten abgezielt werden, weil die men können für Grün-Rot. Hätte die en antreten und ihre Stimmen den Par- der kleinen befreundeten Partei über- CDU tatsächlich bei ansonsten glei- teien zur Ermittlung der Sitzkontingente lassenen Zweitstimmen nicht zur De- chen Gesamtstimmenzahlen in den Re- zugerechnet werden. D.h. die „erfolglo- ckung der gewonnen Direktmandate gierungsbezirken zwei Überhangman- sen“ Kandidaten, die selbst nicht in den herangezogen werden können. Genau date in Freiburg und in Karlsruhe nur ein Landtag einziehen, helfen mit ihren diese Deckung der Direktmandate Überhangmandat erhalten, dann hätte Stimmen, den Anspruch der Kandidaten durch die Stimmen für die Partei ist aber sich der Vorsprung der Gewinnerkoali- abzudecken, die im Rahmen des Pro- der ursprüngliche Sinn des sogenann- tion zur Verliererkoalition von vier Sit- porzverfahrens schließlich zum Zug ten Verhältnisausgleichs, also der Er- zen auf einen äußerst instabilen Vor- kommen. Der Erfolg der Partei wird nur gänzung der Direktmandate durch Pro- sprung von zwei Sitzen vermindert. durch die Erfolge ihrer Kandidaten ge- porzmandate, um die Verhältnisse zwi- Denn die zwei Überhangmandate der währleistet. Die Parteien besitzen also schen den Sitzzahlen der Parteien den CDU in Freiburg wären jeweils durch ein starke Anreize, für die Wähler attraktive Verhältnissen zwischen den Stimmen- Ausgleichsmandat von SPD, Grünen Kandidaten aufzustellen. Insgesamt ist zahlen anzupassen. Ein Einstimmensys- und FDP kompensiert worden und das auf diese Weise eine – zumindest im tem, das Stimmensplitting unmöglich eine Überhangmandat in Karlsruhe Vergleich zu anderen Wahlsystemen – macht, reduziert entsprechend die An- überhaupt nicht. Wären hingegen von starke Verankerung der Abgeordneten fälligkeit des Wahlsystems für die Ent- vornherein 126 Sitze verteilt worden, in der Bevölkerung und eine hohe Res- stehung von Überhangmandaten.

Tabelle 3: Anfangsverteilung und Endverteilung nach Proporz

Anfangsverteilung nach Proporz Endverteilung nach Proporz CDU SPD GRÜNE FDP CDU SPD GRÜNE FDP Freiburg 10 6 7 1 11 (1Ü) 6 8 (1A)1 Karlsruhe 12 8 8 2 16 (4Ü) 10 (2A) 9 (1A) 2 Stuttgart 19 11 12 3 23 (4Ü) 14 (3A) 14 (2A) 3 Tübingen 10 5 5 1 10 5 5 1 Gesamt 51 30 32 7 60 35 36 7 Anteil in Prozent 42,5 25,0 26,7 5,8 43,5 25,4 26,1 5,1

131 Probleme des Wahlsystems die Direktmandate an den regulären sungsgerichts von Schleswig-Holstein Mandaten ausmachen. vom 30. August 20102, das den nicht A u ch w e n n d a s E i n s t i m m e n s y s t e m Ü b e r- Überhangmandate stellen allerdings vollständigen Ausgleich von Überhang- hangmandate weniger wahrscheinlich nicht nur ein Kostenproblem dar. Wie mandaten durch Ausgleichsmandate, macht, so macht es sie, wie ja die Erfah- schon erwähnt, werden Überhangman- die so genannte Deckelung der Aus- Joachim Behnke rung eben zeigt, keineswegs unmöglich. date in den meisten Fällen dahinge- gleichsmandate, wegen der Verletzung Überhangmandate sind aber grund- hend diskutiert, inwieweit durch sie das der Erfolgswertgleichheit als verfas- sätzlich als nicht erwünschter Effekt ei- Prinzip der Verhältniswahl verletzt wird. sungswidrig ansah. nes Wahlsystems zu betrachten. Wer- Wie strikt die Einhaltung des Proporz- Wenn man davon ausgeht, dass die Lo- den Überhangmandate – wie es auf der prinzips gewährleistet sein muss, hängt gik der Ausgleichsmandate darin be- Bundesebene der Fall ist – nicht ausge- vor allem von der Interpretation der Be- steht, den Proporz auf die bestmögliche glichen, unterminieren sie im schlimms- deutung des so genannten Erfolgswerts Weise wieder herzustellen, dann darf ten Fall unmittelbar den Charakter der ab, der angibt, wie viele Sitze pro Stim- nach dem Ausgleich keine systemati- Verhältniswahl. Doch selbst wenn es me errungen werden, oder – im Sinne sche Bevorzugung der Partei, für die wie in Baden-Württemberg und in al- des Kehrwerts – den „Preis in Stimmen“, Überhangmandate angefallen sind, len Bundesländern Ausgleichsmandate der für die Erlangung eines Sitzes er- mehr vorhanden sein. Denn Überhang- gibt, bleiben bestimmte negative Fol- richtet werden muss (vgl. Pukelsheim mandate an sich sind nicht als Über- gen von Überhangmandaten bestehen. 2000; Behnke 2007, S. 158ff.). Die Be- hangmandate in besonderer Weise le- Durch Ausgleichsmandate wird ledig- deutung des Erfolgswerts ist in den letz- gitimiert (vgl. Behnke 2011a, S. 18f.), sie lich die schwerwiegendste negative ten Jahren in mehreren Gerichtsent- dürfen daher nicht gegenüber anderen Folge von Überhangmandaten, die der scheiden zunehmend betont worden, so Mandaten bevorzugt werden, in dem Veränderung der Sitz- und womöglich im Urteil des Bundesverfassungsge- Sinn, dass sie zu einem „billigeren Preis“ sogar der Mehrheitsverhältnisse, neut- richts zum so genannten negativen in Stimmen entrichtet werden können. ralisiert. Allerdings ist hierfür ein Preis Stimmgewicht vom 3. Juli 20081, aber Es existieren mehrere mögliche Vertei- zu zahlen, nämlich der der Vergröße- vor allem auch im Urteil des Verfas- lungen nach dem Sainte-Laguë-Verfah- rung, um nicht zu sagen Aufblähung, des Parlaments, was entsprechende Kosten nach sich zieht. Bei den letzten beiden Wahlen lag die Vergrößerung des Parlaments in Baden-Württemberg im Bereich von ca. zehn Prozent zusätz- licher Sitze. Die Landtagswahl von Nordrhein-Westfalen vom 13. Mai 2012 hat jedoch drastisch vor Augen geführt, welche Größenordnungen auch mög- lich sind. Dort hat sich der Landtag durch Überhang- und Ausgleichsman- date von 181 auf 237, also fast um ein Drittel der regulären Sitze, vergrößert. Es gibt eine klare Tendenz zur Entste- hung von Überhangmandaten in immer größerer Zahl, die in der grundlegen- den strukturellen Veränderung des Par- teiensystems begründet ist. Eine Partei, die ungefähr mit einem Abstand von zehn Prozent vor der zweitstärksten Par- tei liegt, wird um die 90 Prozent oder mehr der Direktmandate gewinnen (vgl. Behnke 2004). Wenn ihr dies mit einem Stimmenanteil von 40 Prozent gelingt, fallen mehr Überhangmandate an, als wenn sie dies mit 45 Prozent der Stim- men erreichen würde, da ihr ja propor- tional weniger zustehen würden. Da die Volksparteien immer kleiner werden, die so genannten „kleinen“ Parteien ten- denziell größer und deren Anzahl zu- dem ebenfalls zunimmt, ist daher sehr leicht ein Szenario vorstellbar, bei dem eine Partei mit nur etwas mehr als einem Drittel der Stimmen in Baden-Württem- berg annähernd alle Direktmandate gewinnen könnte. Die besondere Anfäl- ligkeit von Ländern wie Nordrhein- Westfalen und Baden-Württemberg für Überhangmandate liegt zusätzlich an dem relativ großen Anteil von ca. 70 Prozent in Nordrhein-Westfalen und ca. 60 Prozent in Baden-Württemberg, den

132 ren, bei denen die erzielte Sitzzahl für Dieser systematische Bias aber wider- DAS WAHLSYSTEM VON BADEN- die Partei, die ursprünglich Überhang- spricht damit offensichtlich der Intenti- WÜRTTEMBERG: mandate erhalten hat, der Anzahl ihrer on des Gesetzgebers, durch die Aus- ANALYSE DER WAHL VON 2011 UND Direktmandate entspricht. Das übli- gleichsmandate den Vorteil von REFORMPERSPEKTIVEN cherweise praktizierte Ausgleichsver- Überhangmandaten zu neutralisieren fahren, das den letzten zu vergebenden und die Chancengleichheit der Parteien mandate zumindest die schlimmsten Sitz auf die Überhangspartei verteilt, wiederherzustellen bzw. umzusetzen. Konsequenzen abgemildert werden, „fischt“ damit aus dieser Menge von auf keinen Fall sind Überhangmandate möglichen Verteilungen gezielt diejeni- ein zu begrüßendes Phänomen. ge heraus, die die Überhangpartei be- Reformvorschläge Man kann das Problem der systemati- vorzugt. Diese systematische Bevorzu- schen Verzerrung der Sitzverteilung zu gung addiert sich in Baden-Württem- Das größte Problem des derzeitigen Gunsten der Partei mit Überhangman- berg dann über alle Regierungsbezirke Wahlsystems von Baden-Württemberg daten zum einen dadurch lösen, dass auf, da ja für jeden Regierungsbezirk stellen die Überhangmandate dar, die man die Symptome bekämpft. Ein bias- ein separater Ausgleich vorgenommen bei den letzten Wahlen in ansehnlicher freies Ausgleichsverfahren könnte z. B. wird. Erhält die CDU in allen vier Regie- Anzahl angefallen sind – Prognose stei- so gestaltet werden, dass die Unter- rungsbezirken Überhangmandate, so gend aufgrund des sich wandelnden schiede der Erfolgswertgleichheit mini- ergibt sich daraus für sie ein Gesamt- Parteiensystems. Die Überhangmanda- miert werden oder indem man die Quo- vorteil von im Schnitt ca. zwei zusätzli- te sind einerseits teuer, andererseits be- ta so bestimmt, dass der exakte Sitz- chen Sitzen gegenüber der Sitzzahl, die sitzen sie das Potential, Mehrheiten zu anspruch und nicht der aufgerundete sie erhalten würde, wenn sie für jeden verändern und somit die demokratische Sitzanspruch der Überhangpartei der Sitz den vollen Preis in Stimmen entrich- Legitimation einer Regierungskoalition Anzahl ihrer Direktmandate entspricht ten müsste. Zwei Sitze mehr oder weni- zu unterminieren. In jedem Fall sind (vgl. Behnke 2011b). Dies würde verhin- ger können aber gerade bei Landtags- Überhangmandate ein Übel, bei dem dern, dass aus der Menge der mögli- wahlen sehr schnell entscheidend sein. im besten Falle z. B. durch Ausgleichs- chen Verteilungen, die alle die Bedin- gung erfüllen würden, dass alle Direkt- mandate in der Proporzverteilung auf- gehen, diejenige herausgefischt wird, die die Überhangpartei bevorzugt. Noch besser wäre es allerdings, an der Ursache und nicht nur am Symptom an- zusetzen, indem man die Entstehung von Überhangmandaten von vornher- ein ausschließt oder erschwert. Hierzu könnte man den Anteil der Direktman- date an den regulären Mandaten ver- ringern oder – besser noch – Zweiper- sonenwahlkreise einrichten (vgl. Behnke 2010). In diesen würden dann die zwei Kandidaten mit den höchsten Stimmen- zahlen gewählt. Die CDU hätte dann vermutlich nur ungefähr 35 Direktman- date gewonnen, die durch ihre Proporz- mandate vollständig aufgefangen wor- den wären. Ein Wahlschein Der radikalste Vorschlag bestünde in ei- hängt in einem ner vollkommenen Abschaffung der Di- Wahlurnenlager in rektmandate, allerdings nicht durch die Stuttgart an einem Einführung einer reinen Listenwahl wie Regal: Das Wahl- im Saarland. Vielmehr könnte man die system von Baden- Sitzverteilung im Sinne der impliziten Württemberg ist Liste, die durch die Wahlkreisergebnis- dem Typus der se erstellt wird, beibehalten. Dadurch personalisierten würden weiterhin eine hohe Responsivi- Verhältniswahl zu- tät und auch eine direkte Verankerung zuordnen. Im Ge- der gewählten Abgeordneten in ihren gensatz zu Bun- Wahlkreisen erhalten bleiben. destagswahlen Im Durchschnitt erzielten die 60 CDU- aber, bei denen Wahlkreisgewinner gerade mal 40 Pro- die Wähler über zent der Stimmen, zehn von ihnen hat- zwei Stimmen ver- ten sogar weniger als 35 Prozent der fügen, haben die Stimmen und konnten dennoch ihren Wählerinnen und Wahlkreis gewinnen. Der „billigste“ Wähler zum Land- Wahlkreis der CDU, Karlsruhe II, wurde tag von Baden- mit gerade mal 30,2 Prozent der Stim- Württemberg men gewonnen. Es ist offensichtlich nur eine einzige fragwürdig, ob man diejenigen, die ei- Stimme. ne solche niedrige und meist zudem picture alliance/dpa noch knappe relative Mehrheit erhal-

133 ten, tatsächlich noch als „Wahlkreissie- mensystem wird z. B. in Australien ange- Behnke, Joachim (2011a): Grundsätzliches zur Wahlreformdebatte. In: Aus Politik und Zeitge- ger“ bezeichnen kann. Denn die grund- wandt und bei der Oberbürgermeister- schichte, 4/2011, S. 14–21. legende Idee der Direktwahl besteht ja wahl in London. Behnke, Joachim (2011b): Überhangmandate darin, als „Sieger“ den bestmöglichen Ein anderes System, das ebenfalls ver- und Ausgleichsmandate bei der Landtagswahl in Repräsentanten für den Wahlkreis als hindern würde, dass der von einer ab- Baden-Württemberg 2011: eine Simulation. Gut- Joachim Behnke achten für die Fraktion B90/Die Grünen im Land- Ganzes und für alle seine Wähler zu ge- soluten Mehrheit abgelehnte Kandidat tag von Baden-Württemberg. Unter: http://www. nerieren. Man kann in Baden-Württem- gewinnen könnte, ist das sogenannt bawue.gruene-fraktion.de/cms/default/dok- berg davon ausgehen, dass es zwei La- „Approval Voting“ (vgl. Brams/Fishburn bin/375/375277.ueberhangmandate_und_ ger gibt, Bündnis 90/Die Grünen und 1983), auch Zustimmungswahl genannt. ausgleichsmandate_b.pdf SPD einerseits und CDU und FDP ande- Beim Approval Voting kann man so vie- Brams, Steven J./Peter C. Fishburn (1983): Appro- val voting. Boston. rerseits. Einem Anhänger der Grünen ist len Kandidaten wie man möchte eine Nohlen, Dieter (2009): Wahlrecht und Parteien- es zwar lieber, wenn sein Kandidat ge- Stimme geben, d. h. man gibt allen Kan- system. Opladen. winnt als der der SPD, aber er würde didaten eine Stimme, die man grund- Pukelsheim, Friedrich (2000): Mandatszuteilun- vermutlich den Gewinn des SPD-Kandi- sätzlich für würdig befindet, gewählt zu gen bei Verhältniswahlen: Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen. In: Allgemeines Statistisches daten wiederum dem des CDU-Kandi- werden. Gewinner ist derjenige, der am Archiv, 84/2000, S. 447–459. daten vorziehen. Zählt man nun die La- meisten Stimmen erhält. ger zusammen und unterstellt, die jewei- Sowohl das Alternativstimmensystem ANMERKUNGEN ligen Lager hätten sich immer auf einen als auch die Zustimmungswahl wären Kandidaten geeinigt, dann wären nur beide in der Lage, die „unverdienten“ 1 Vgl. BVerfG, 2 BvC 1/07. 2 vgl. LVerfG 3/09. 30 der Wahlkreise an den gemeinsa- Wahlkreissieger zu verhindern. Sie stel- men Kandidaten von CDU und FDP ge- len aber keineswegs eine sichere Vor- fallen, die anderen 40 Wahlkreise hät- kehrung gegen die Entstehung von ten die gemeinsamen Kandidaten von Überhangmandaten dar. Ideal wäre SPD und Grünen gewonnen. Anders daher eine Kombination von Regelun- ausgedrückt: 30 der 60 Wahlkreisge- gen, die die Überhangmandate verhin- winner der CDU waren vermutlich aus dern würden, wie z. B. die Einführung Sicht einer absoluten Mehrheit schlech- von Zweipersonenwahlkreisen, mit der ter als die jeweiligen Kandidaten von Einführung von Approval Voting oder SPD oder Bündnis 90/Die Grünen. Wä- Alternativstimmgebung. ren nur der CDU-Kandidat und einer der beiden Kandidaten von SPD oder LITERATUR Grünen in einem direkten Duell ange- treten, dann hätte der CDU-Kandidat in Behnke, Joachim (2004): Überhangmandate und Parteienstruktur. In: Brettschneider, Frank/van diesen 30 Wahlkreisen verloren. Ähn- Deth, Jan/Roller, Edeltraud (Hrsg.): Die Bundes- lich würde es ausgehen, wenn man eine tagswahl 2002. Wiesbaden, S. 327–352. zweite Runde, d. h. eine Stichwahl zwi- Behnke, Joachim (2007): Das Wahlsystem der schen den beiden besten Kandidaten Bundesrepublik Deutschland. Logik, Technik und Praxis der Verhältniswahl. Baden-Baden. der ersten Runde durchführen würde. Behnke, Joachim (2010): Überhangmandate und Die Stichwahlregelung, die z. B. bei der negatives Stimmgewicht: Zweimannwahlkreise französischen Präsidentschaftswahl gilt und andere Lösungsvorschläge. In: Zeitschrift für und in vielen Bundesländern bei der Parlamentsfragen, 2/2010, S. 247–260. Bürgermeisterwahl, ist genau dazu ge- dacht zu verhindern, dass ein Kandidat gewinnt, der womöglich aus Sicht der UNSER AUTOR UNSER Mehrheit der schlechteste Kandidat von allen ist oder dem gegenüber von einer Mehrheit mindestens ein anderer Kan- didat vorgezogen worden wäre. Eine Möglichkeit, die Effekte einer Stichwahl innerhalb eines einzigen Durchgangs zu realisieren, stellt das sogenannte Al- ternativstimmensystem dar. Jeder Wäh- ler gibt hier neben seiner Erstpräferenz für einen Kandidaten auch noch eine Zweitpräferenz an, also etwa zuerst den FDP-Kandidaten, dann den CDU- Prof. Dr. Joachim Behnke studierte Kom- Kandidaten. Wenn es in der ersten Run- munikationswissenschaft, Politikwissen- de keine absolute Mehrheit von Erstprä- schaft, Philosophie und Volkswirtschaft ferenzen für einen Kandidaten gibt, an der LMU München. Anschließend dann wird der Kandidat mit den we- war er als wissenschaftlicher Assistent nigsten Erstpräferenzen aus dem Ren- an der Universität Bamberg tätig, wo er nen genommen und dessen Stimmen auch seine Promotion und Habilitation werden den Kandidaten zugeordnet, abschloss. Seit 2008 ist er Inhaber des die auf den entsprechenden Stimmzet- Lehrstuhls für Politikwissenschaft an der teln als Zweitpräferenz genannt wor- Zeppelin-Universität Friedrichshafen. den sind. Für die Ermittlung der propor- Seine Forschungsschwerpunkte umfas- tionalen Sitzverteilung wird natürlich sen Wahlen und Wahlsysteme, moderne ausschließlich auf die Erstpräferenzen Politische Theorie, empirische Metho- zurückgegriffen. Das Alternativstim- den und Spieltheorie.

134 KONZEPTE UND STRATEGIEN IM WAHLKAMPF Der Wahlkampf der Landesparteien 2011 Udo Zolleis/Josef Schmid/Daniel Buhr

ten Wirtschaftslage des Landes ziehen, Bundestagswahlkampfs. Anstatt einer Die endgültige Wahlentscheidung wird und den beiden Koalitionsparteien sanften Orchestrierung von Regional- von vielen Faktoren beeinflusst. Einer da- CDU und FDP wurden vom Wähler in bewusstsein, persönlichen Sympathie- von ist mit Sicherheit der Wahlkampf. Der wichtigen Themenfeldern erhebliche bekundungen, landespolitischen Zu- Landtagswahlkampf 2011 unterschied Kompetenzschwächen attestiert. Ver- kunftsvorstellungen sowie parteipoliti- sich von allen bisherigen Wahlkämpfen stärkt wurde diese Stimmung durch ei- schen Grundüberzeugungen standen durch eine hoch emotionalisierte Ausei- nen fehlenden Amtsbonus. Sowohl Nils nun eine polarisierte Zuspitzung, ein nandersetzung. War er doch von einer Schmid von der oppositionellen SPD als monatelanger Vorwahlkampf um Stutt- polarisierten Zuspitzung und einem lan- auch der Grünen-Politiker Winfried gart 21, persönliche Dämonisierung, ein gen „Vorwahlkampf“ um das Bahnpro- Kretschmann führten in der direkten scharfes Agenda Setting und – trotz jekt Stuttgart 21 gekennzeichnet. Das Auseinandersetzung deutlich gegen- oder gerade wegen Fukushima – lan- politische Klima war reichlich aufgeheizt. über dem Amtsinhaber Stefan Mappus, despolitische Entscheidungen, wie der Die Spitzenkandidaten schenkten sich in dem 46 Prozent aller Baden-Württem- Rückkauf von Aktien des Energieversor- der Frage über den „richtigen“ politi- berger in einer Umfrage im März 2011 gers EnBW, im Vordergrund. Das nötige schen Führungsstil nichts. Anstatt sanfter einen schlechten Job bescheinigten.2 Salz in der Wahlkampfsuppe lieferten Töne dominierten verbale Attacken. Die Aber wie konnte es zu dieser in Baden- eben nicht einige bundespolitische eher beschauliche Landespolitik hatte Württemberg noch nie dagewesenen Streitfragen, sondern die Landespolitik sich in ein „elektorales Schlachtfeld“ ver- Wechselstimmung kommen? „Ein Macht- selbst: „Nicht nur Bahnhof“ – so hat die wandelt. Udo Zolleis, Josef Schmid und wechsel schwäbelt nicht“, so hieß der Wochenzeitung Die Zeit5den Landtags- Daniel Buhr skizzieren die parteipoliti- Grundsatz bei nahezu allen Wahlana- wahlkampf knapp zusammengefasst. schen Programme, die Strategien sowie lysen in den vergangenen Jahrzehnten. Nicht allein in der Schul- und Hoch- Wahlkampfkonzepte und nicht zuletzt Aber auf einmal schon!3 Warum? Für schulpolitik standen sich unterschiedli- die mehr oder weniger gekonnte Insze- nierung der drei Spitzenkandidaten. Des den Wahlentscheid sind unterschiedli- che Konzepte gegenüber. Auch über Weiteren werden die landespolitischen che Faktoren ausschlaggebend. Einer die zukünftige Energieversorgung, über Rahmenbedingungen und Kontroversen davon ist der Wahlkampf. Auf diesen die Notwendigkeit wirtschaftlichen erörtert, die in Baden-Württemberg zu werden wir uns im Folgenden konzent- Wachstums und die dafür notwendigen einer bis dahin nicht gekannten „Wech- rieren und fragen, ob für dieses beson- Voraussetzungen, ja sogar über die Zu- selstimmung“ führten. Idere Wahlergebnis nicht zuletzt auch kunft des ländlichen Raums stritten die ein ganz untypischer Landtagswahl- Parteien. Am schärfsten wurde jedoch kampf ursächlich war? auf der personalen Ebene der jeweilige politische Führungsstil verunglimpft. Die beschauliche baden-württembergische Vorbemerkungen Landtagswahlkampf 2011 – ganz Landespolitik hatte sich in ein elektora- grundsätzlich les Schlachtfeld verwandelt. Das hatten Mindestens ebenso außergewöhnlich die Bürger und Bürgerinnen im deut- wie das Ergebnis war der Wahlkampf Landtagswahlen sind im Vergleich zu schen Südwesten in den vergangenen zur Landtagswahl 2011 in Baden-Würt- Bundestagswahlen meist zeitlich kurz, dreißig Jahren noch nicht erlebt. temberg.1 Nicht die CDU als „Baden- wenig polarisierend und arm an konkre- Württemberg-Partei“ dominierte diesen ten landesspezifischen Themen. In der alles andere als beschaulichen Wahl- Regel steht ein präsidial wirkender Die geschlagene„Baden- kampf, sondern eine Melange aus Amtsinhaber im Fokus der Medienbe- Württemberg-Partei“: „Wutbürgern“, Neugier auf einen sich richterstattung, dem bei einem ordentli- Der CDU-Landtagswahlkampf ankündigenden Machtwechsel und ei- chen Ergebnis auch höhere Weihen auf ner ungeheuren Polarisierung. Dies al- Bundesebene in Aussicht gestellt wer- Die Wucht der Wahlauseinanderset- les schuf eine hoch emotionalisierte den.4 Das alles traf auf den vergange- zung überraschte nicht nur die CDU, sie Wahlauseinandersetzung. Am Ende nen Landtagswahlkampf in Baden- aber besonders. Ihr Wahlprogramm konnte die von der CDU geführte Lan- Württemberg nicht zu. Seine Mechanis- war noch in der Philosophie aus der Zeit desregierung kaum Nutzen aus der gu- men funktionierten eher wie die eines von Erwin Teufel und Günther H. Oettin-

Tabelle 1: Elemente eines Landtagswahlwahlkampfs und der Sonderfall 2011

Politisches Klima Bundespolitische Landespolitische Rolle der Zufriedenheit mit Themen Themen Personen der Regierung ausgleichend, wichtige nur vereinzelt Dominanz eines mittel bis gut Landtagswahl- 6 zentriert Streitfragen (Bildungspolitik) präsidialen kampf allgemein strittige Themen Amtsinhabers aufgeheizt, stehen im Vielzahl strittiger Konkurrenz dreier gering Landtagswahl- polarisiert Hintergrund Themen dominie- Spitzenleute kampf 2011 ren Quelle: Eigene Darstellung

135 ger nach dem Grundsatz „Heimat und Hightech“ konzipiert. Sowohl in der To- nalität wie auch in der Themensetzung glich sie ihren Vorgängerprogrammen. Thematisch versuchte sich die CDU als Garant der wirtschaftlichen und gesell- schaftlichen Stabilität zu präsentieren; dazu gehörten neben der Wachstums- orientierung vor allem Investitionen in Bildung und Hochschulen sowie in die öffentliche Sicherheit. Diesmal fehlte

Udo Zolleis/Josef Schmid/Daniel Buhr Udo Zolleis/Josef aber eine neue, zündende Idee. Ge- lang Günther H. Oettinger 2006 mit dem „Kinderland Baden-Württemberg“ eine geschickte Inszenierung als poli- tischer Erneuerer, konnte sich Stefan Mappus in seinem ersten Amtsjahr durch kein eigenes Thema profilieren. Vielmehr erbte er eher unpopuläre lan- despolitische Projekte, wie Stuttgart 21 oder die Dienstrechtsreform. Hier zeigte sich die erste Schwäche des CDU-Wahlkampfs. Die Christdemokra- ten und mit ihr der Spitzenkandidat be- saßen nur eine geringe Programmkom- petenz. Dies war aber weniger die Schuld eines vermeintlich blutleeren Wahlprogramms. Vielmehr fehlten poli- tische Vorzeigeprojekte und damit Er- folge der auslaufenden sowie Visionen für die neue Legislaturperiode. Zudem war der einzige Kassenschlager aus der Ministerpräsidentschaft von Günther H. Oettinger – der ausgeglichene Haus- halt – durch die Finanz- und Wirt- schaftskrise deutlich in Mitleidenschaft gezogen worden. In seinen ersten Mo- naten gelang es Stefan Mappus nicht, dieses Defizit abzustellen und sich the- matisch als Ministerpräsident neu zu definieren. Seine Regierungserklärung zur Wirtschaftspolitik, die Innovationen in den Bereichen Gesundheit, Mobilität, Informations- und Kommunikationstech- nologie und Energie anschieben wollte, können. Diese Leere erhöhte letztlich Auch Stuttgart 21 oder die Laufzeitver- verpuffte schlichtweg. Sie war Akzent, die Attraktivität Winfried Kretschmanns längerung für Kernkraftwerke waren für nicht Linie der neuen Regierungspolitik. für christlich-bürgerliche Wähler. eine klare Polarisierung zugunsten der Es fehlte ihr das einprägsame Projekt, Anstatt auf Programmkompetenz setzte Regierung und Emotionalisierung der das pars pro toto einen neuen Zukunfts- Mappus auf Handlungskompetenz. CDU-Wählerschaft nicht geeignet. Die- entwurf für Baden-Württemberg ein- Mappus bekannte sich zu Stuttgart 21 se Themen waren in der Bevölkerung prägsam vor Augen geführt hätte. In an- und inszenierte sich durch den ebenso wesentlich umstrittener als die Ableh- deren Worten: Es wurde in der Wirt- überraschenden wie auch spektaku- nung einer Kriegsteilnahme und weit schaftspolitik zuviel McKinsey und zu lären Rückkauf der EnBW-Aktien und weniger einseitig emotional aufgela- wenig Mappus sichtbar. Als Folge wur- durch eine Laufzeitverlängerung der den. Die Konsequenz war, dass Stefan de im Wahlkampf die eigentliche Kern- Kernkraftwerke als harter „Entschei- Mappus mit seinen Entscheidungen ei- kompetenz der CDU – die Wirtschafts- der“. Damit erfüllte er nicht die Rolle des nerseits seine Gegner mobilisierte und politik – und der Regierung merklich ge- Moderators oder die des Visionärs, andererseits von der Bevölkerung nicht schwächt. Andere Politikbereiche, wie sondern er entschied sich für die Rolle mit Gewinnerthemen konnotiert wurde. die Bildungs- oder Integrationspolitik, des „Entscheiders“. Dass diese Strate- Wer nur eine dieser drei einschneiden- wurden kaum bespielt, obwohl Mappus gie aufgehen kann, hat der Bundes- den Entscheidungen ablehnte, fand für dieses Themenfeld eigens eine tagswahlkampf 2002 gezeigt, in dem sich schnell im „Anti-Mappus-Lager“ Staatsrätin für interkulturellen und inter- Gerhard Schröder einer Beteiligung am wieder. Eine behutsam aufbauende religiösen Dialog sowie gesellschaftli- Irakkrieg ein klares „Nein“ entgegen- Sympathiekampagne hätte anders aus- che Werteentwicklung installiert hatte. hielt; aber auch die Flutkatastrophe sehen müssen. Als Folge dessen bewer- Mit diesem Thema hätte er als neuer Mi- wusste der damalige Kanzler zur Profil- tete ein großer Teil der Bevölkerung die nisterpräsident eigene Schwerpunkte ierung seines Managerimages zu nut- Entscheidungskompetenz von Mappus setzen, aber auch seinen Aktionsrah- zen. Aber der Rückkauf der Aktien der negativ. Dies kostete der CDU gerade men erweitern und damit gerade auch EnBW war eben keine Frage von Krieg in Regionen mit einem hohen Anteil an die urbanen Mittelschichten ansprechen oder Frieden, wie der Irakkrieg 2002. volatilen Wählergruppen viel Sympa-

136 Im Gegensatz zu den DER WAHLKAMPF DER biederen Wahlplaka- LANDESPARTEIEN 2011 ten war der Wahl- kampf reichlich auf- geheizt. Die Spitzen- kandidaten schenkten im Rheintal versuchte die Landesregie- sich nichts. Anstatt rung zu dämpfen, indem sie das Regie- sanfter Töne domi- rungspräsidium Freiburg die Pläne für nierten verbale Atta- Offenburg stoppen ließ.8 cken. Die eher be- Im Ergebnis hatte die CDU im Hinblick schauliche Landespo- auf die drei skizzierten Wahlkampffak- litik hatte sich in ein toren9 einer Regierungspartei in der „elektorales Schlacht- eher konsensual orientierten politi- feld“ verwandelt. schen Kultur Baden-Württembergs10 picture alliance/dpa dem abwägenden Wechselwähler we- nig anzubieten. So zielte die Wahl- kampfstrategie vor allem auf die länd- lichen Regionen Oberschwabens und Südbadens, dem traditionell konser- vativen Wählerreservoir der CDU. Folglich brachte der Wahlkampf der CDU die eigene Stammwählerklientel an die Urnen, mobilisierte jedoch auch erheblich ihre Gegner. Vor allem große Teile der ansteigenden Zahl an Wech- selwählern konnten die Christdemo- kraten nicht erreichen, geschweige denn überzeugen. Damit ging summa summarum ihre Wahlkampfrechnung nicht auf.

Das nicht gebrauchte Korrektiv: Der Landtagswahlkampf der FDP

Die starke Polarisierung und die unge- wöhnliche Themenlage schlugen auch der FDP-Wahlkampfführung ihre traditi- onellen Wahlkampfinstrumente aus der Hand. In der aufgeheizten „Entweder- oder-Stimmung“ war das „Korrektiv“ ei- ner von der CDU geführten Regierung nur wenig gefragt. Traditionell setzte sich die FDP von ihrem Koalitionspart- thien und letztlich entscheidende Wahl- Streit mit Bundesumweltminister Nor- ner ab, indem sie sich in wirtschaftspoli- kreise. bert Röttgen über die Laufzeitverlänge- tischer Hinsicht marktwirtschaftlicher Mit dieser Inszenierung als kraftvoller rung bereitete ihm nicht erst seit Fukushi- und soziokulturell liberaler zeigte. Bei- „Entscheider“ unterminierte Mappus ma Kopfzerbrechen. Er wurde schon in de Themen spielten bei der Wahlausei- aber auch den dritten Faktor, der im den ersten Amtsmonaten weniger als nandersetzung diesmal jedoch nur eine Landtagswahlkampf für eine Regie- erster Repräsentant Baden-Württem- untergeordnete Rolle. Diese Themenar- rungspartei zentral ist: die Darstellung bergs, sondern als konservativer CDU- mut traf die FDP schwer. Aufgrund des als präsidialer Amtsinhaber. In der Lo- Politiker wahrgenommen. Im Gegensatz wesentlich geringeren Bekanntheits- gik von Landtagswahlkämpfen gleicht zu Franz Josef Strauß und Erwin Teufel grades der Landesminister im Vergleich die Personalisierung eines Ministerprä- galt er folglich zuerst als konservativ zum Ministerpräsidenten war der Wahl- sidenten eher der eines Oberbürger- und erst dann als Landesvater. So konn- kampfmix der FDP stets wesentlich stär- meisters als eines Bundeskanzlers. Sei- te er sein entscheidendes Alleinstel- ker auf ihre Kernthemen fokussiert. In ne Rolle entspricht der eines „Platzhir- lungsmerkmal – das des über dem klein- dieser spezifischen Wahlkampfthemen- sches“7, dem die mediale Aufmerksam- lichen Parteiengezänk stehenden und konstellation konnte ihr Spitzenkandi- keit sicher ist, der viele repräsentative nur am Landeswohl orientierten Lan- daten Ulrich Goll mit seinem Amt als Termine wahrnimmt und der aufgrund desvaters – gegenüber seinen Gegen- Justizminister jedoch nur gering punk- der Kompetenzverteilung zwischen kandidaten nicht ausspielen. Das so ten. Er konnte – da er justizpolitisch Bund und Ländern sich mit wenigen kon- entstandene Image ließ auch Wohlta- nicht gefordert wurde – seine Hand- troversen Themen befassen muss. Map- ten verpuffen, die zu einem gütigen Lan- lungskompetenz nicht ausspielen. Zu- pus, zum Zeitpunkt seiner Amtsübernah- desvater durchaus passten: Den Beam- dem wurde Stuttgart 21 nicht in erster me im Land nur gering bekannt, baute ten gestand er beispielsweise eine Ge- Linie als wirtschaftspolitisches Thema sich aber kein landesväterliches Image haltserhöhung zu, auf eine verpflichten- verstanden und damit auch nicht mit auf, sondern fokussierte sich in den Me- de Verlängerung der Arbeitszeiten dem zweiten FDP-Ressort verbunden. dien auf die Rolle als strammer Partei- verzichtete er. Auch den Konflikt über Als mobilisierendes Moment blieb den politiker. Sein öffentlich ausgetragener den Ausbau der Güterverkehrsstrecke Liberalen schließlich nur, die Regie-

137 rungserfolge zu präsentieren und die tive Campaigning, weil sie sich in einem de auch im traditionell starken FDP-Land Angst vor der Wende zu schüren. In der polarisierten Lagerwahlkampf schlecht Baden-Württemberg einfach nicht mehr Wirtschaft – so wurde Ulrich Goll zi- von der CDU absetzen konnten. Ihre gebraucht. tiert, „stehen wir einmalig da“.11 Bei der Korrektivrolle wurde damit noch unbe- Bildung sei der Südwesten bundesweit deutender, zumal sie aufgrund der The- spitze. So warnte die FDP-Kampagne menlage ihre eigenen programmati- Die nicht ganz so erfolgreiche allgemein vor einem Sozialismus in der schen Kompetenzen kaum in die politi- Alternative: Der Landtagswahlkampf Bildungspolitik und sprach sich konkret sche Waagschale werfen konnte. Ihr der SPD gegen das Modell der zehnjährigen Wahlergebnis war damit mehr den all- Gemeinschaftsschule aus.12 gemeinen Rahmenbedingungen als ei- Die ungewohnte Schwäche der beiden Die Liberalen setzten daher in ihrer ner falschen Strategie geschuldet. Das Regierungsparteien war eine unerwar-

Udo Zolleis/Josef Schmid/Daniel Buhr Udo Zolleis/Josef schwierigen Lage auf ein hartes Nega- lange Zeit gern gesehene Korrektiv wur- tete Chance für eine verunsicherte Süd- west-SPD. Nachdem die SPD auch in Baden-Württemberg mit den Folgen der rot-grünen Reformen der Ära Schrö- der zu kämpfen hatte, galt die Wahl von Nils Schmid zum Spitzenkandidat als Versuch der Stabilisierung. In einem eher typischen Oppositionswahlkampf setzten die Sozialdemokraten auf Pro- grammkompetenz. Dabei vollführten sie kein „programmatisches Bad Godes- berg“, um et wa von Stefan Mappus ent- täuschte christlich-bürgerliche Wähler anzusprechen. Vielmehr boten sie den Wählern einen traditionellen sozialde- mokratischen Themenmix an. Ein bei- tragsfreies Kindergartenjahr und die Abschaffung der Studiengebühren wur- den ebenso gefordert wie der Elternwil- le bei der Schulwahl. Auch eine zehn- jährige Gemeinschaftsschule wurde in Aussicht gestellt. Indirekte Forderungen nach höheren Steuern und mehr öffent- liche Mittel für eine „soziale Stadt“ soll- ten ihr Selbstverständnis als sozialer Anwalt unterstreichen. Damit wieder- holten die Sozialdemokraten ihre in- haltlichen Forderungen der auslaufen- den Legislaturperiode und setzten auf programmatische Kontinuität. Das Leit- bild einer sozialen und ökologischen Marktwirtschaft sowie eine industrie- und bildungspolitische Komponente zielten erkennbar auf die klassische Kli- entel der Sozialdemokratie. Wesentlich innovativer als sein Pro- gramm war der Versuch von Nils Schmid, neben der Programmkompetenz auch seine personelle Kompetenz herauszu- stellen. Anders als seine Vorgängerin versuchte der etablierte Fi- nanzpolitiker, nicht allein einen sympa- thischen Politiker zu verkörpern, der für ein „modernes“ Baden-Württemberg stand. Er inszenierte sich vielmehr als Gegenfigur zu Mappus und als der ei- gentliche „Staatsmann“ im Land.13 Fol- gerichtig zeichnete Schmid von sich das Bild eines soliden Haushalts- und Fi- nanzpolitikers. Und er wollte in der po- larisierten Stimmung einen dritten Weg einschlagen, um aus der Not der SPD eine Tugend zu machen. Ulrich Goll, Spitzenkandidat der FDP für die Landtagswahl in Baden-Württemberg, bei Beim Thema Stuttgart 21 waren die Sozi- einer Wahlkampfveranstaltung in Mannheim. Im Wahlkampf konnte Ulrich Goll mit sei- aldemokraten tief gespalten. Beherzt nem Amt als Justizminister nur gering punkten. Letztlich wurde aber das lange Zeit gern griff Schmid Erhard Epplers Vorschlag gesehene Korrektiv der FDP im traditionellen Stammland Baden-Württemberg einfach eines Volksentscheids für eine Befrie- nicht mehr gebraucht. picture alliance/dpa dung des Konflikts um und den weiteren

138 Umgang mit Stuttgart 21 auf. In seinen unter Beweis stellen. Folglich war das im DER WAHLKAMPF DER persönlichen Umfragewerten ging die- Vergleich zu den Sozialdemokraten er- LANDESPARTEIEN 2011 se versöhnliche Strategie auf. Trotz aller folgreichere Wahlergebnis der Grünen medialen Kretschmann-Euphorie führte bereits im Wahlkampf angelegt. Nils Schmid am Ende des Wahlkampfs Nicht ein integrativer Volksparteien- das Kandidatentrio an – weder Stefan wahlkampf, sondern ein „Doppelde- In Umfragen sahen daher mehr als zwei Mappus noch Winfried Kretschmann cker-Wahlkampf“ bescherte den Grü- Drittel der Wähler eine Regierungsbe- erreichten im direkten Vergleich seine nen ihr bestes Ergebnis aller Zeiten. Ihre teiligung der Grünen als unproblema- Zustimmungswerte. Programmkompetenz richtete sich an tisch an. Die Hälfte fand einen grünen Nur auf die Partei selbst färbte sich der die grüne Kernklientel, während ihr po- Ministerpräsidenten sogar gut. Mit ihm Zuspruch zum Spitzenkandidaten nicht pulärer Spitzenkandidat viele heimat- konnten die Grünen ihr relativ grünes ab. Die moderierende Position – so sym- los gewordene christlich-bürgerliche Wahlkampfprogramm für weitere Wäh- pathisch sie auch persönlich sein moch- Wähler aufzusammeln wusste. Zudem lergruppen nachjustieren. te – wurde als politisch unentschieden half die Mobilisierung durch den Stutt- Folglich war der grüne Landtagswahl- und als nicht eindeutig genug goutiert. gart 21-Konflikt, die emotionale Betrof- kampf sicherlich der am meisten durch Zudem fiel es den Sozialdemokraten – fenheit durch den Reaktorunfall in Fuku- die Rahmenbedingungen begünstigte. ebenso wie den Liberalen – schwer, im shima und die generell aufgeheizte Der Erfolg fiel aber den Grünen nicht zuspitzenden Gegensatz zwischen der Stimmung, grüne Wählergruppen, die einfach in den Schoß. Natürlich war das CDU und den Grünen medial adäquat 2001 und 2006 schwer zu mobilisieren Thema Atomkraft ein Glücksfall für die aufzutreten. Da Nils Schmid kein waren, aus dem Lager der Nichtwähler Grünen. Ihre strategische Leistung be- Sprachrohr einer der beiden polarisie- an die Wahlurnen zu bewegen. stand jedoch darin, dieses Thema best- renden Standpunkte war, verstummte Programmatisch bestachen die Grünen möglich für die eigene Profilierung ge- seine mediale Stimme mit dem Fort- nicht durch Innovationen. Vielmehr tra- nutzt und es mit den anderen grünen schreiten des Wahlkampfs. Auch der fen ihre Kernkompetenzen, vor allem ih- Themen verbunden zu haben – und klassische sozialdemokratische The- re konsequente Anti-Atomkrafthaltung, nicht in fruchtlose Krisenwarnungen menmix konnte mit der schnellen Land- den Nerv der Zeit in geradezu idealty- verfallen zu sein. Sie nutzten geschickt tagswahlagenda aus Stuttgart 21 und pischer Weise. Die politische Agenda, die Gunst der Stunde durch eine hohe der Energiewende nur bedingt mithal- nicht programmatische Innovationen, Kampagnendisziplin, eine authentische ten und entsprach auch nicht dem The- machten die Grünen für breitere Wäh- Tonalität und vor allem durch eine klare menportfolio des Finanzexperten. Viel- lerschichten attraktiv, ohne die Kernan- Arbeitsteilung zwischen Spitzenkandi- mehr standen die geforderten öffentli- hängerschaft zu enttäuschen oder gar dat und Partei. Aber das wirklich Beson- chen Mehrausgaben des Wahlpro- zu verprellen. Daneben verloren auf- dere an diesem Wahlkampf bestand gramms sogar in einem gewissen grund der guten Wirtschaftslage die darin, dass der authentische Minister- Widerspruch zu Nils Schmids Selbst- bekannten Forderungen, wie die ökolo- präsidentenkandidat ein grüner Oppo- inszenierung als finanzpolitischer gische Umgestaltung des Industrie- sitionspolitiker war und die Grünen da- „Staatsmann“. standortes Baden-Württemberg, ihr mit gut leben konnten. Im Hinblick auf Stimmenmaximierung Abschreckungspotenzial für bürgerli- war der SPD-Wahlkampf eine Enttäu- che Wähler. In ihrer erweiterten Kern- schung. Die Sozialdemokraten erhiel- kompetenz im Hinblick auf einen nach- Der Landtagswahlkampf 2011 – ten ihre niedrigste Zustimmungsrate in haltigen Staat warben die Grünen mit prägend oder einfach nur besonders? der baden-württembergischen Wahl- der Sanierung des Landeshaushaltes geschichte. Trotz allem eröffnete sich und mit der Anpassung der Beamten- Der Landtagswahl 2011 war ein beson- ihnen erstmals seit 1996 wieder eine pensionen an die gesetzliche Renten- derer für Baden-Württemberg. Die per- konkrete Machtperspektive. Das Ergeb- versicherung. Ihre konsequente Haltung sonelle Konstellation zwischen den ent- nis jedoch war für die SPD nur Platz zwei gegen Stuttgart 21 machte sie für alle scheidenden Spitzenkandidaten war und nicht, wie erhofft, der Sieg. Gegner dieses Infrastrukturvorhabens genauso singulär wie die Rahmenbe- attraktiv und verlieh den Grünen ein un- dingungen, die den Grünen in die Hän- umstößliches landespolitisches Allein- de spielten. Allerdings dürfte das politi- Die bürgerlich-alternativen stellungsmerkmal. Das fehlte den Sozi- sche Klima im kommenden Wahlkampf Gewinner: Der Landtagswahlkampf aldemokraten. wieder wesentlich moderater ausfallen. der Grünen Der eigentliche Wahlkampfschlager für Bereits der Volksentscheid zu Stutt- neue Wählergruppen war aber nicht ihr gart 21 hat die politische Stimmung im Die klaren Gewinner der baden-würt- Programm. Attraktiv war für christlich- Land wieder deutlich beruhigt. Und es tembergischen Landtagswahl waren bürgerliche Wählerschichten vor allem ist nicht anzunehmen, dass ein anderes die Grünen. Ihr Wahlkampf war nicht Winfried Kretschmann. Der engagierte Thema – beispielsweise in der Bildungs- revolutionär, aber doch anders. Er setz- Laienkatholik, der in früheren Zeiten politik – die gleiche Polarisierungswir- te auf programmatische Eindeutigkeit auch schon mit schwarz-grünen Ge- kung entfalten wird. Der Landtagswahl- und personelle Verbindlichkeit. Damit dankenspielen liebäugelte, galt „als kampf des Jahres 2011 wird aber auch war er das genaue Gegenteil zum CDU- durchdacht, fundiert und von argumen- keine reine Ausnahmeerscheinung blei- Wahlkampf. Mit diesen beiden Kompe- tativer Klarheit. Der scharfzüngige, ben. Er besitzt durchaus Prägekraft für tenzebenen gelang es den Grünen, je- wertkonservative Redner ergreift gerne die kommenden Kampagnen. Durch ihn weils unterschiedliche Wählergruppen bei Grundsatzfragen das Wort (…). Die wurden die politischen Karten im Land anzusprechen. Im Gegensatz zu den CDU und Regierungschef Mappus se- neu gemischt. So erhalten die Grünen Sozialdemokraten konnten sie aufgrund hen in Kretschmann einen gefährlichen auch ein Jahr nach der Wahl gleichblei- des Stuttgart 21-Konflikts für eine Op- Gegner und haben ihn auch persönlich bend gute Umfragewerte im Land. Eine positionspartei vollkommen untypisch bei ihren Attacken ins Visier genommen. andere Großwetterlage im Wahlkampf sogar eine gewisse Handlungskompe- Denn er genießt Sympathie und Ver- 2016 bedeutet folglich nicht zwangs- tenz – oder zumindest in einer abgemil- trauen bis tief in bürgerliche Kreise hin- läufig die Wiederherstellung der „alten derten Form, eine Aktionskompetenz – ein.“14 Verhältnisse“. Winfried Kretschmann

139 Tabelle 2: Kompetenzebenen der Landtagswahlkämpfe der Parteien 2011 Siegfried/Weber, Reinhold/Wehling, Hans-Ge- org (Hrsg.): Handbuch Landespolitik. Stuttgart, S. 142–162. Programmkompetenz Handlungskompetenz Personalkompetenz 5 Vgl. http://www.zeit.de/politik/deutsch- land/ 2011-03/baden-wuerttemberg-wahl- traditioneller Entscheidungen Klarer, unbeugsamer kampf-themen. CDU Themenmix zu EnBW und „Entscheider“ 6 „Landtagswahlkampf allgemein“ bezieht sich auf die vergangenen fünf Landtagswahlkämpfe Stuttgart 21 in Baden-Württemberg und auf eine allgemeine traditioneller –Finanzpolitischer Wahlkampfbetrachtung in den Ländern der Bun- SPD Themenmix „Staatsmann“ desrepublik Deutschland. Ausnahmenfälle, wie die hessischen Landtagswahlkämpfe, werden traditioneller –Rechtspolitische hier nicht berücksichtigt. FDP Themenmix Personalisierung 7 Mielke, Gerd (2003): Platzhirsche in der Pro-

Udo Zolleis/Josef Schmid/Daniel Buhr Udo Zolleis/Josef vinz. Anmerkungen zur politischen Kommunikati- traditioneller Gegner des Ansprechpartner für on und Beratung aus landespolitischer Sicht. In: Grüne Themenmix Infrastrukturprojekts parteiferne Wähler- Sarcinelli, Ulrich/Tenscher, Jens: (Hrsg.): Macht- Stuttgart 21 segmente darstellung und Darstellungsmacht. Beiträge zu Theorie und Praxis moderner Politikvermittlung. Quelle: eigene Überlegungen Baden-Baden, S. 87–103. 8 Vgl. www.faz.net/aktuell/politik/inland/ 2.1660/landtagswahl-baden-wuerttemberg- und kein CDU-Kandidat wird zudem in den-fehdehandschuh-eingepackt- 1593478. html. ANMERKUNGEN 9 Vgl. zur Programm-, Handlungs- und perso- rund vier Jahren den Amtsbonus eines nalen Kompetenz: Zolleis, Udo/Weilmann, Den- 1 Vgl. Mielke, Gerd (1987): Sozialer Wandel Ministerpräsidenten ausspielen kön- nis (2004): Moderner Themenwahlkampf. In: und politische Dominanz in Baden-Württemberg. Karp, Markus/Zolleis, Udo (Hrsg.): Politisches nen. In einem Punkt war der Landtags- Eine politikwissenschaftlich-statistische Analyse Marketing. Eine Einführung in das Politische Mar- wahlkampf 2011 allerdings weder prä- des Zusammenhangs von Sozialstruktur und keting mit aktuellen Bezügen aus Wissenschaft Wahlverhalten in einer ländlichen Region. Berlin, gend noch besonders. Programmati- und Praxis. Münster, S. 29–50. S. 12; Schmid, Josef/Zolleis, Udo (2002): Die Ent- sche Innovationen blieben vollständig Vgl. zur politischen Kultur Baden-Würt tem- wicklung zur Baden-Württemberg Partei. Die 10 bergs: Weber, Reinhold (2006): Politische Kultur, aus. Die Wucht der politischen Ereignis- CDU zwischen Heimat und High-Tech. In: Schmid, Parteiensystem und Wählertraditionen im deut- se hat 2011 – wie in keiner anderen Zeit Josef/Griese, Honza (Hrsg.): Wahlkampf in Ba- schen Südwesten. In: Weber, Reinhold/Wehling, in der Geschichte d es Landes Baden- den-Württemberg. Organisationsformen und Er- Hans-Georg (Hrsg.): Baden-Württemberg. Ge- gebnisse der Landtagswahl vom 25. Mai 2001. Württemberg – so viele ungebundene sellschaft, Geschichte und Politik. Stuttgart, Opladen, S. 79–97. Wähler zurückgelassen. Sie program- S. 56–89. 2 Vgl. www.forschungsgruppe.de/Wahlen/ Vgl. www.handelsblatt.com/politik/deutsch- matisch an eine Partei zu binden, wird Wahlanalysen/News/_BaW11.pdf 11 land/wahlkampf-suedwest-fdp-stemmt-sich-ge- die große Herausforderung des kom- 3 Siehe zur Kontinuität des baden-württember- gen-das-desaster-seite-2/3987284-2.html. gischen Parteiensystem: Eilfort, Michael (2008): menden Wahlkampfs sein. Hier sind die Vgl. www.handelsblatt.com/politik/deutsch- Die Baden-Württemberg-Partei(en). In: Lange- 12 Programmangebote aller vier Parteien land/wahlkampf-suedwest-fdp-stemmt-sich-ge- wiesche, Dieter/Steinbach, Peter u. a. (Hrsg.): Der gen-das-desaster-seite-2/3987284-2.html. bisher sehr defensiv geblieben. Die deutsche Südwesten. Regionale Traditionen und Vgl. www.abendblatt.de/politik/article überzeugendere Programmkompetenz historische Identitäten. Stuttgart, S. 105 –122. 13 1832083/ Was-man-zur-Wahl-in-Baden-Wuert- könnte 2016 letztlich die Wahl entschei- 4 Vgl. dazu ausführlicher: Zolleis, Udo/Schmid, temberg-wissen-muss.html. Josef/Buhr, Daniel (2011): Wahlkämpfe in Baden- den und damit wiederum prägend wer- Vgl. www.abendblatt.de/politik/article Württemberg: analytische Konzepte, politische 14 den. 1832083/Was-man-zur-Wahl-in-Baden-Wuert- Strategien, regionale Besonderheiten. In: Frech, temberg-wissen-muss.html. UNSER AUTOR UNSER AUTOR UNSER AUTOR UNSER

Prof. Dr. Daniel Buhr, Professor für Policy Prof. Dr. Josef Schmid, Professor am Ins- Prof. Dr. Udo Zolleis ist Honorarprofes- Analyse und Politische Wirtschaftslehre titut für Politikwissenschaft der Eberhard sor für Politikwissenschaft am Institut für am Institut für Politikwissenschaft der Karls Universität Tübingen; seit Oktober Politikwissenschaft der Eberhard Karls Eberhard Karls Universität Tübingen. Er 2010 (bis September 2016) hauptamtli- Universität Tübingen. Seine wissen- forscht und lehrt an der Schnittstelle von cher Dekan der Wirtschafts- und Sozial- schaftlichen Schwerpunkte sind Partei- Politik und Wirtschaft, vor allem in den wissenschaftlichen Fakultät. Seine For- en- und Wahlforschung sowie verglei- Bereichen Arbeitsmarkt-, Gesundheits- schungsschwerpunkte sind: Sozial- und chende Landespolitik. Hauptberuflich und Innovationspolitik. Wirtschaftspolitik, Wohlfahrtsstaatsver- leitet er den Planungsstab der CSU- gleiche und politische Organisationen. Fraktion im Bayerischen Landtag.

140 DAS TV-DUELL ZWISCHEN STEFAN MAPPUS UND NILS SCHMID Das TV-Duell vor der Landtagswahl 2011 – Wahrnehmungen und Wirkungen Frank Brettschneider/Marko Bachl

Wahlkampf vermitteln kann und wie in- chen Diskussion den größten Raum ein- TV-Debatten gehören zu den wichtigsten tensiv die für eine Partei zentralen The- nehmen. Dominieren dort wirtschafts- Ereignissen in modernen Medienwahl- men in die Wahlkampfkommunikation politische Themen, dann bewerten die kämpfen. Nicht nur vor Bundestagswah- gelangen. Hinzu treten Aspekte wie das Wähler die Kandidaten vor allem unter len, auch vor Landtagswahlen haben sich geschlossene Auftreten der Partei und dem Gesichtspunkt ihrer wahrgenom- TV-Duelle zwischen den Spitzenkandi- ihre Unterscheidbarkeit vom Hauptkon- menen wirtschaftspolitischen Kompe- daten etabliert und erreichen zahlreiche kurrenten. tenz. Dominieren hingegen sozialpoliti- Wählerinnen und Wähler. Frank Brett- Zweitens müssen die parteipolitisch un- sche Themen, werden die Kandidaten schneider und Marko Bachl untersuchen gebundenen oder prinzipiell wechsel- eher unter dem Gesichtspunkt ihrer so- anhand einer Studie die Auswirkungen bereiten Wähler überzeugt werden. Ihr zialpolitischen Kompetenz beurteilt des am 16. März 2011 ausgestrahlten Anteil wächst stetig. Mittlerweile ent- (vgl. Iyengar 1992). TV-Duells auf die Wählerinnen und Wäh- scheiden sich 30 bis 40 Prozent der Für Parteien und Kandidaten ist es da- ler. Die TV-Debatte zwischen Stefan Wähler erst in den letzten beiden Wo- Mappus (CDU) und Nils Schmid (SPD) her wichtig, dass „ihre“ Themen in der vor der Landtagswahl 2011 in Baden- chen vor der Wahl, wem sie ihre Stimme öffentlichen Diskussion prominent ver- Württemberg wurde mit Spannung er- geben. Verfügen diese Personen über treten sind. Das sind jene Themen, bei wartet, denn sowohl Stuttgart 21 als eine hohe formale Bildung und ein aus- denen sie von der Bevölkerung im Ver- auch die Folgen der Reaktorkatastrophe geprägtes politisches Interesse, so ge- gleich zu den Kontrahenten als kompe- in Japan haben dem Wahlkampf eine be- lingt die Überzeugung in erster Linie tenter angesehen werden. Diese The- sondere Dynamik verliehen. Zwar hatten mittels der im Wahlkampf dominanten men auf die Tagesordnung der politi- beide Kandidaten in dem TV-Duell starke Themen und der den Parteien sowie ih- schen Diskussion zu setzen, ist eine zen- Phasen, dennoch konnte Stefan Mappus ren Kandidaten bei diesen Themen zu- trale Aufgabe der Wahlkampfführung von dem Aufeinandertreffen mehr profi- geschriebenen Sachkompetenz. Die un- (Agenda-Setting). Es gilt aber auch, je- tieren als Nils Schmid. Zudem konnte die gebundenen Wähler mit einer niedri- ne Aspekte zu dethematisieren, bei de- CDU bei der Wahlabsicht stärker zule- gen formalen Bildung und einem gerin- nen der politische Gegner als kompe- gen als die SPD. Auch erhöhte sich die gen politischen Interesse orientieren tenter angesehen wird (Agenda-Cut- Sicherheit der Wahlentscheidung der sich hingegen eher an Einzelthemen, ting). Darüber hinaus sind im Wahl- CDU-Anhänger. Als problematisch er- die sie unmittelbar betreffen, oder an kampf jene Themen zu nutzen, die ohne wies sich das Fehlen des Spitzenkandi- Stimmungen direkt vor der Wahl. eigenes Zutun im Mittelpunkt der Dis- daten der Grünen Winfried Kretsch- Den Themen kommt also für die Wahl- kussion stehen (Agenda-Surfing). mann. Seine Partei verlor durch die entscheidung eine herausragende Be- Für die Kommunikation mit den Wählern Debatte zumindest kurzfristig Stimmen. deutung zu. Und die Themen werden in stehen grundsätzlich zwei Wege zur Ierster Linie von den Spitzenkandidaten Verfügung, die im Idealfall von den kommuniziert. Sie verleihen dem Pro- Wahlkämpfern aufeinander abge- gramm einer Partei „Gesicht und Stim- stimmt eingesetzt werden: zum einen me“. Dies gilt in besonderem Maße für der direkte Kontakt, etwa bei Wahl- Spitzenkandidaten, Themen und die Landespolitik, denn auf Landesebe- kundgebungen auf Marktplätzen, an Wahlerfolg ne sind die Spitzenkandidaten der Par- Infoständen in der Fußgängerzone, teien oft die einzigen Politiker, die ei- durch Direktmarketing, Wahlplakate Um eine Wahl zu gewinnen, muss der nem größeren Anteil der Bevölkerung und das Internet. Das Internet kann ei- Wahlkampf einer Partei und ihres Spit- bekannt sind. nerseits als Informationskanal genutzt zenkandidaten vor allem zwei Ziele er- Auch die Gesamtbewertung von Spit- werden, in dem man die eigenen The- reichen: Erstens sind die eigenen An- zenpolitikern beruht vor allem auf ihrer men und Sichtweisen Interessierten zur hänger zu mobilisieren. Zwar sinkt der wahrgenommenen Themenkompetenz. Verfügung stellt – etwa auf der klassi- Anteil der Stammwähler an allen Wahl- Etwa genauso wichtig ist ihre wahrge- schen Homepage. Andererseits eignet berechtigten von Jahr zu Jahr. Dennoch nommene Integrität. Hinzu kommen die es sich als Dialogkanal. Zum anderen sind sie für eine Partei von größter Be- Leadership-Qualitäten: Führungsstär- prägt die Berichterstattung der Mas- deutung. Mobilisierte Stammwähler re- ke, Entscheidungsfreude, Tatkraft. Aller- senmedien die wahlrelevanten Eindrü- den mit Nachbarn und mit Bekannten. dings bewerten Wähler die Kandidaten cke des Großteils der Wähler (vgl. u. a. Schon Paul F. Lazarsfeld, Bernard Berel- in der Regel nicht, indem sie diese Punkt den Überblick in Brettschneider 2005). son und Hazel Gaudet (1968, S. 158) für Punkt miteinander vergleichen und Vor allem die Fernsehnachrichten wer- stellten in ihrem Klassiker zum Wahl- am Ende einen Saldo aus Vor- und den auch von jenen wahrgenommen, kampf fest: „More than anyhing else Nachteilen bilden. Dieses Verfahren die sich nicht besonders stark für Politik people can move people.“ Das direkte wäre viel zu aufwändig. Stattdessen interessieren. Die Thematisierungsfunk- Gespräch gilt nach wie vor als glaub- werden die Kandidaten anhand derje- tion der Massenmedien ist die bedeu- würdigste und wirkungsvollste Form der nigen Informationen beurteilt, die gera- tendste Wirkung: Vereinfacht gesagt Kommunikation. Für die Mobilisierung de „top-of-the-head“ sind, die also oh- erachten Menschen vor allem jene The- der eigenen Anhänger ist es entschei- ne großen Aufwand gedanklich verfüg- men als wichtig und als lösungsbedürf- dend, wie stark eine Partei ihre Grund- bar sind (vgl. Zaller 1992). Und das sind tig, über die die Massenmedien häufig überzeugungen und ihre Wertebasis im genau die Themen, die in der öffentli- und gut platziert berichten. Themen, die

141 in der Medienberichterstattung unter u. a. Zubayr/Geese/Gerhard 2009). Das TV-Duell vor der Landtagswahl den Tisch fallen, spielen auch aus Sicht Auch die Debatten vor Landtagswahlen 2011 der meisten Wähler keine besondere erreichen regelmäßig einen bedeutsa- Rolle. men Anteil der wahlberechtigten Bevöl- Auch das TV-Duell zwischen dem da- kerung, wenngleich sie nicht ganz an maligen Amtsinhaber Stefan Mappus die Spitzenwerte der Kanzlerduelle he- (CDU) und seinem Herausforderer Nils TV-Duelle als Medienereignis rankommen. Bereits 1997 fand vor der Schmid (SPD) stieß auf große Aufmerk- Bürgerschaftswahl in Hamburg das ers- samkeit. Knapp 500.000 Wählerinnen Neben der tagesaktuellen Medienbe- te TV-Duell zwischen Henning Voscher- und Wähler verfolgten das am 16. März richterstattung kommt den TV-Debatten au und Ole von Beust statt. In Baden- 2011 vom SWR-Fernsehen ausgestrahl-

Frank Brettschneider/Marko Bachl eine besondere Bedeutung zu. Sie sind Württemberg erreichten die Duelle zwi- te Duell. Ihm waren Diskussionen über eine zentrales, wenn nicht sogar das schen Herausforderin Ute Vogt und den die Frage vorausgegangen, wer über- zentrale Medienereignis in Landtags- Amtsinhabern Erwin Teufel (2000) bzw. haupt miteinander diskutieren sollte. wahlkämpfen. In ihnen präsentieren Günther H. Oettinger (2006) jeweils et- Angesichts ihrer hervorragenden Um- sich die Spitzenkandidaten einer brei- wa eine halbe Million Zuschauer. fragewerte forderten die Grünen in ei- ten Öffentlichkeit. Vor allem für den He- Doch das Wirkungspotential der TV- nem offenen Brief an den SWR eine rausforderer bieten TV-Duelle eine Duelle liegt nicht nur in ihrer schieren Beteiligung ihres Spitzenkandidaten, Chance, sich gegenüber dem meist be- Reichweite, sondern auch in der beson- Winfried Kretschmann. Das Angebot kannteren Amtsinhaber zu profilieren. deren Zuschauerstruktur begründet. der CDU, zwei Duelle auszurichten – ei- Die TV-Duelle können als „Wahlkämpfe Neben den politisch Interessierten und nes zwischen Mappus und Schmid, ei- im Miniaturformat“ (Faas/Maier 2004, den Parteianhängern werden die De- nes zwischen Mappus und Kretschmann S. 56) betrachtet werden, in deren Ver- batten auch von Wählerinnen und –, wurde vom SWR abgelehnt, da dies lauf die wichtigsten Akteure ihre Argu- Wählern verfolgt, die über geringeres den Wettbewerb zugunsten von Map- mente zu den zentralen Fragen des politisches Interesse und Wissen verfü- pus verzerren würde. Der SWR nannte Wahlkampfs austauschen. gen und die sich seltener aus anderen als Kriterium für die Auswahl der Duell- Die Bedeutung der TV-Duelle für den Quellen über Politik informieren (vgl. teilnehmer die Stimmenzahl bei der Wahlkampf ergibt sich aus ihrer einzig- Maier/Faas 2005; Maurer/Reinemann letzten Landtagswahl (vgl. Vögele artigen Reichweite. Seit der Einführung 2003). Diese Wähler sind anfälliger für 2013). der TV-Duelle vor den Bundestagswah- Medienwirkungen, da sie über weniger Um die Wahrnehmungen der Zuschauer len 2002 waren die Sendungen stets stark ausgeprägte politische Vorein- und die Auswirkungen des TV-Duells auf das mit Abstand reichweitenstärkste stellungen verfügen. die Wähler zu untersuchen, haben wir Medienereignis des Wahlkampfs (vgl. eine Studie mit 200 Personen durchge-

Abbildung 1: Die Bewertung der Kandidaten-Aussagen während des TV-Duells 2011 RTR-Bewertung durch 120 Zuschauer in Hohenheim 50 z- z- el em

ung gung

lt t n g d m

40 15) Steuern 12) Schulsys 16) Länderfina ausgleich stitionen in Bil 0) Schulsyste 7) Bürgerbeteili ) Staatshausha chkräftemangel Fachkräfteman ppus e 1 1 4 a a 1 30 4) 3) F 8) Inv

20 eil Stefan M

Vort 10

0

-10 id

-20 rten il Nils Schm W . G8/G9 . G8/G9 gie gie -30 setz rgarten hren/ a r e B e w Vort 2) En CDU/FDP (n = 50) -40 9) Kinde 7) Kinderg SPD/Grüne (n = 91) 11) Wahl z 1) Atomene 6) Tariftreueg 3) Studiengebü Steuer-CDs ) Leiharbeit 1 5 Unentschiedene (n = 42) -50 0:00 0:05 0:10 0:15 0:20 0:25 0:30 0:35 0:40 0:45 0:50 0:55 1:00 1:05

142 führt.1 Die Erhebung fand live während die Einstellungen der Befragten zu den DAS TV-DUELL VOR DER LANDTAGSWAHL der Ausstrahlung des TV-Duells an zwei Parteien, den Kandidaten und den 2011 – WAHRNEHMUNGEN Standorten statt: in Stuttgart (Universi- Wahlkampfthemen, die Wahlabsicht UND WIRKUNGEN tät Hohenheim, 119 Personen) und in Ra- und deren Sicherheit. Aus den individu- vensburg (DHBW Ravensburg, 81 Per- ellen Differenzen zwischen der Vorher- sonen). Die Studienteilnehmer sind und der Nachher-Befragung lassen sich deckt sich mit Ergebnissen zu den Kanz- zwar nicht repräsentativ für die Bevöl- Rückschlüsse auf unmittelbare Wirkun- lerduellen auf Bundesebene: Zuschauer kerung in Baden-Württemberg, aber ei- gen des TV-Duells ziehen. sehen TV-Duelle „durch ihre parteipoli- ne Quotierung nach Alter, Geschlecht, tische Brille“ (Maurer/Reinemann 2007, Bildung, politischem Interesse und Par- S. 232). Auch beim TV-Duell in Baden- teiidentifikation sorgte näherungsweise Wahrnehmungen der Kandidaten Württemberg bewerteten Anhänger für ein Abbild der Gesamtbevölkerung.2 durch die Zuschauer der damaligen Regierungsparteien fast In der Studie wurden verschiedene Me- durchgängig Stefan Mappus besser. thoden kombiniert. Die unmittelbare Mit Hilfe der Drehregler lässt sich fest- Zuschauer, die SPD oder Grüne präfe- Wahrnehmung des TV-Duells wurde stellen, welche Passagen während des rierten, stimmten den Aussagen von Nils mittels einer RTR-Messung erfasst TV-Duells gut angekommen sind und Schmid stärker zu. Beide Kandidaten (Real-Time-Response-Measurement): welche nicht. Diese Live-Bewertungen haben damit eine Grundlage für die Alle Teilnehmer waren mit einem Dreh- werden in Abbildung 1 für drei Grup- Mobilisierung ihrer Anhänger geschaf- regler ausgestattet, mit dem sie live und pen dargestellt: CDU-/FDP-Anhänger fen. sekundengenau die Aussagen von Ste- (schwarze Linie), SPD-/Grünen-Anhän- Bezogen auf die breite Bevölkerung – fan Mappus und von Nils Schmid be- ger (rote Linie) sowie die parteipolitisch also auch auf die Unentschiedenen so- werten konnten. Um die Wirkungen die- Ungebundenen (blaue Linie).3 Je stärker wie die Anhänger des jeweils „gegneri- ser Wahrnehmungen zu erfassen, wur- die Ausschläge sind, desto größer ist schen“ Lagers – hatten beide Spitzen- den alle Teilnehmer direkt vor dem TV- die Zustimmung zu Stefan Mappus kandidaten erfolgreiche und weniger Duell und direkt nach dem TV-Duell (nach oben) bzw. Nils Schmid (nach un- erfolgreiche Phasen. Nils Schmid hatte schriftlich befragt. Erfragt wurden u. a. ten). Wenn die Linien bei einer Aussage sein erstes sehr erfolgreiches Statement weit auseinander liegen, handelt es gl e ich z u B e gi nn d e s D u e ll s b e im T h e m a sich um eine polarisierende Passage; Atomkraft, als er den rot-grünen Atom- Die Erhebung fand live während der Aus- liegen sie dicht beieinander, sind sich konsens mit der Laufzeitverlängerung strahlung des TV-Duells an zwei Standor- die verschiedenen Bevölkerungsgrup- durch die aktuelle Bundesregierung ten statt: in Stuttgart (Universität Hohen- pen einig. kontrastierte (Peak 1 in Abb. 1). Auch mit heim) und in Ravensburg (DHBW Ravens- Zunächst fällt auf, dass die Bewertun- seiner Forderung, die EnBW zu einem burg). Die unmittelbare Wahrnehmung gen der Kandidaten während des Du- „Erneuerbare-Energien-Konzern“ umzu- des TV-Duells wurde mit einem Drehregler ells stark von den politischen Voreinstel- bauen, konnte er in der frühen Phase sekundengenau erfasst. lungen der Zuschauer abhängen. Dies des Duells punkten (2). Es folgte seine © Universität Hohenheim/Oskar Eyb

143 Abbildung 2: Die Bewertung der Kandidaten vor und nach dem TV-Duell 2011

„Was halten Sie ganz allgemein von Stefan Mappus und Nils Schmid?“

Stefan Mappus Nils Schmid Sehr viel 11 10 Frank Brettschneider/Marko Bachl 9 SPD (n=33) Grüne (n=57) 8 CDU & FDP (n=51) 7 unentsch. (n=42) CDU & FDP (n=50) 6 unentsch. (n=42) 5 4 SPD (n=32) 3 2 Grüne (n=58) Überhaupt nichts 1 vor dem Duell nach dem Duell vor dem Duell nach dem Duell

erfolgreichste Aussage: darin kritisierte quent zu verfolgen und dazu auch Steu- Fachkräftemangels sowie mit „Aufstieg e r L e i h a r b e i t u n d D u m p i n g l ö h n e ( 5 ). D a - erdaten-CDs anzukaufen, um damit un- durch Bildung“ (3, 4). Auch als die Bil- nach trafen Schmids Aussagen zur Kos- ter anderem die Abschaffung von dung selbst Thema der Debatte war, tenbefreiung und Weiterentwicklung Studiengebühren zu finanzieren (13). konnte Mappus das breite Publikum des Kindergartens auf die Zustimmung Stefan Mappus hat te sein erstes er folg- mehrfach überzeugen: mehr Investitio- des Publikums (7, 9). Die letzte Aussage, reiches Statement, bei dem ihm auch nen in Bildung (8) sowie Beibehaltung für die Schmid sehr gute Bewertungen SPD-/Grünen-Anhänger und Ungebun- des dreigliedrigen Schulsystems (12). aller Teilnehmer erhielt, fiel bereits kurz dene zustimmten, nach einer Viertel- Die nächsten drei Statements, in denen nach der Hälfte der Debatte: seine For- stunde: Er befasste sich mit der Bedeu- Mappus vom gesamten Publikum sehr derung, Steuerhinterziehung konse- tung der Bildung für die Beseitigung des gut bewertet wurde, lagen alle im The-

Abbildung 3: Die Bewertung der Bildungspolitik von Mappus und Schmid vor und nach dem TV-Duell 2011

„Geben Sie bitte an, in welchem Maße die verschiedenen Aussagen Ihrer Meinung nach auf Stefan Mappus / Nils Schmid zutreffen: Er hat ein gutes Konzept zur Bildungspolitik.“

Stefan Mappus Nils Schmid Trifft voll 5 und ganz zu

4 CDU & FDP (n=51) SPD (n=32)

unentsch. (n=42) Grüne (n=58) 3 unentsch. (n=39)

Grüne (n=58)

SPD (n=32) CDU & FDP (n=48) 2

Trifft über- haupt nicht zu 1 vor dem Duell nach dem Duell vor dem Duell nach dem Duell

144 menfeld Finanz- und Steuerpolitik: Er mochte es Schmid nicht, die für Mappus DAS TV-DUELL VOR DER LANDTAGSWAHL stellte die Ausgabenplanung Schmids sehr kritische energiepolitische Diskus- 2011 – WAHRNEHMUNGEN als unsolide dar (14), sprach sich gegen sion so deutlich zu gewinnen, dass die- UND WIRKUNGEN Steuererhöhungen aus (15) und kritisier- ser angeschlagen in die anschließen- te den Länderfinanzausgleich als unge- den Themenblöcke hätte gehen müs- recht (16). Schließlich erhielt Mappus sen. Stattdessen gelang es Mappus, genen Anhänger besser mobilisieren Zustimmung zu seinem Bekenntnis zur nach diesem schweren Auftakt zurück- als dies Schmid bei seinen Anhängern Bürgerbeteiligung (17). Das brisante zukommen und ihn durch ein gutes Ab- gelang. Und er konnte bei den Unent- Thema Stuttgart 21 spielte im TV-Duell schneiden in späteren Phasen wieder schiedenen einen wesentlich größeren weder bei der Bewertung von Mappus auszugleichen. Alles in allem konnte Zustimmungsgewinn verbuchen als Nils noch bei der Bewertung von Schmid ei- Stefan Mappus damit größere Vorteile Schmid. Selbst die vor dem Duell sehr ne wichtige Rolle. erzielen als Nils Schmid. deutliche Ablehnung bei den Grünen- Wie eingangs erläutert, kommt es für Wählern konnte er durch seinen Auftritt die Spitzenkandidaten nicht darauf an, dämpfen. in allen Themenfeldern zu punkten. Ent- Wirkungen des TV-Duells Schmid wurde vor dem Duell besser be- scheidend ist vielmehr, dass sie in den wertet als Mappus; nicht einmal die An- Themenfeldern auf Zustimmung stoßen, Dass Stefan Mappus von dem TV-Duell hänger von CDU und FDP bewerteten die von der Bevölkerung als besonders mehr profitieren konnte als Nils Schmid, ihn schlechter als „neutral“. Da sich sei- wichtig angesehen werden. Vor dem zeigt auch der Vergleich der Antworten ne Bewertung durch das TV-Duell aber TV-Duell in Baden-Württemberg waren in den Vorher- und Nachher-Befragun- weniger stark verbesserte, büßte er sei- dies – einer repräsentativen Bevölke- gen. Die Gesamtbewertung von Map- nen Vorsprung vor Mappus ein. Beson- rungsbefragung durch Infratest dimap pus hat sich durch das TV-Duell in fast ders deutlich ist dies bei den Unent- (2011) zufolge – die Themen Schul- und allen Wählergruppen deutlich verbes- schiedenen, die ihn vor dem TV-Duell Bildungspolitik, Energie- und Umwelt- sert – wenn auch bei SPD- und Grünen- noch wesentlich positiver bewerteten politik sowie Wirtschaftspolitik. Sowohl Anhängern von einem sehr niedrigen als seinen Kontrahenten. bei der Wirtschafts- und Finanzpolitik Ausgangsniveau aus (vgl. Abbildung 2). In der Gesamtbewertung der beiden als auch bei der Schul- und Bildungspo- Vor dem Duell wurde Mappus von den Spitzenkandidaten schlagen sich zahl- litik wurde Stefan Mappus von den Zu- CDU- und den FDP-Anhängern zwar reiche Eindrücke nieder: wahrgenom- schauern eindeutig positiver bewertet besser beurteilt als Schmid. Aber die mene Führungsqualitäten, wahrgenom- als Nils Schmid – und dies nicht nur von Unterstützung für Mappus war im eige- mene Integrität und wahrgenommene den eigenen Anhängern, sondern in er- nen Lager geringer als die Unterstüt- Themenkompetenzen. Und unter den heblichem Umfang auch von den par- zung für Schmid im SPD-Lager. Und bei Themen sind jene für die Gesamtbewer- teipolitisch ungebundenen Wählern. den Unentschiedenen lag Mappus vor tung der Spitzenkandidaten besonders Sogar bei den Anhängern von SPD und dem Duell klar hinter Schmid. Durch das relevant, die bereits vor dem TV-Duell Grünen konnte er in diesen Bereichen TV-Duell konnte er bezüglich beider als wichtig angesehen wurden und die einige Punkte sammeln. Zudem ver- Vergleiche aufholen: Er konnte seine ei- auch im TV-Duell einen breiten Raum

Abbildung 4: Die Wahlabsicht vor und nach dem TV-Duell 2011

ƒ Frage: Wenn am Sonntag Landtags- CDU wahl wäre – welcher Partei würden Sie dann Ihre Stimme geben? N = 150 ƒ Die Größe der Blasen repräsentiert die 31 Anzahl der Teilnehmer, die eine Partei vor und nach dem Duell wählen würden. ƒ Auf den Pfeilen sind die Wanderungs- Bündnis 90 / bewegungen verzeichnet, die nach dem 13 Die Grünen Duell stattfanden. ƒ Teilnehmer, die ihre Stimme bereits vor dem Duell per Briefwahl abgegeben 5 hatten, wurden aus der Analyse unentschieden 22 43 ausgeschlossen. 1 6 Saldi 1 ƒCDU: +14 2 ƒFDP: +/-0 ƒSPDSPD: +7 7 ƒGrüne: -7 26 ƒLinke: +/-0 ƒUnentsch.:-14 SPD

145 eingenommen haben. Beim TV-Duell vor lung der Wirtschaftskompetenz von für die hier untersuchte Debatte können der Landtagswahl in Baden-Württem- Mappus und Schmid – wenn auch nicht wir diesen Verdacht nicht ausräumen. berg war dies vor allem das Thema in dem gleichen Ausmaß wie bei der Bil- Neben den Wanderungsbewegungen Schul- und Bildungspolitik. Bei der Bil- dungspolitik. ist noch eine weitere Wirkung des TV- dungspolitik setzte Mappus auf Kritik Dies alles schlug sich auch erkennbar in Duells zu beobachten: Die Sicherheit, an Schmid und war damit im eigenen der Wahlabsicht der Zuschauer unmit- mit der die CDU-Anhänger ihre Stimme Lager sehr er folgreich. Er konnte zudem telbar nach dem TV-Duell nieder. Zwar tatsächlich auch der CDU geben woll- auch die Unentschiedenen überzeu- blieb die Wahlabsicht der meisten Teil- ten, war nach dem TV-Duell größer als gen. Selbst bei den Anhängern der SPD nehmer stabil. Auf die Sonntagsfrage – vorher. Bei den SPD-Anhängern hat sich und der Grünen erfuhr er leichte Zustim- „Wenn am Sonntag Landtagswahl wäre die Sicherheit der Wahlentscheidung

Frank Brettschneider/Marko Bachl mung – beispielsweise in der 35. Minu- – welcher Partei würden Sie dann Ihre durch das TV-Duell hingegen nicht ge- te, als er ausführte: „Das Ganze aufge- Stimme geben?“ – antworteten aber ändert. Anders formuliert: Stefan Map- ben und die besten Bildungsergebnis- nach dem TV-Duell mehr Befragte mit pus konnte die eigenen Anhänger bes- se, die in Bayern und Baden-Württem- CDU als vor dem TV-Duell. Die größten ser mobilisieren als Nils Schmid (vgl. berg mit unserem Schulsystem voran Zuwächse erfuhr die CDU dabei aus Abbildung 5). gebracht werden, einfach wegschie- der Gruppe der Unentschiedenen (vgl. ben, das kann doch nicht wahr sein. Da Abbildung 4). Zwar gewann auch die können Sie mal nach Nordrhein-West- SPD aus dieser Gruppe einige Stimmen Fazit falen gehen, Herr Schmid, dann sehen dazu, doch waren die Zuwächse nur Sie, was mit genau dieser Politik ange- knapp halb so groß wie die der CDU. Unsere Ergebnisse lassen sich wie folgt richtet wird. Ich möchte das jetzige Zudem fällt auf, dass die Grünen unmit- zusammenfassen: Schulsystem weiterentwickeln“. telbar nach dem TV-Duell einige Perso- l Der Duell-Erfolg der beiden Spitzen- Das Bildungsthema hat durch das TV- nen, die ihnen noch vor dem TV-Duell kandidaten hängt vor allem davon ab, Duell für die Gesamtbewertung von ihre Stimme geben wollten, an das La- wie sie ihre eigenen Anhänger mobili- Stefan Mappus deutlich an Bedeutung ger der Unentschiedenen verloren ha- sieren können. Zudem müssen sie ver- gewonnen. Und die Bewertung der The- ben. Dies dürfte ein direkter Effekt der suchen, die Unentschiedenen zu über- menkompetenz von Mappus in der Bil- Tatsache sein, dass Winfried Kretsch- zeugen. dungs- und Schulpolitik hat sich durch mann nicht an dem TV-Duell teilnehmen l Es kommt nicht darauf an, bei mög- die Aussagen im TV-Duell ebenfalls dur f te. Dieser E f fekt ist auch schon beim lichst vielen Themen zu punkten, son- deutlich verbessert. Während Mappus Kanzlerduell 2005 beobachtet worden dern bei Themen, die aus Sicht der nach dem TV-Duell von Anhängern der (vgl. M. Maier 2007): Fernseh-Duelle Wählerinnen und Wähler besonders Regierungsparteien, der Unentschiede- stehen in dem Verdacht, dass sie – ge- wichtig sind. Vor dem TV-Duell waren nen und sogar der Grünen im Bereich messen an den Befragungen direkt dies die Themen Bildung, Wirtschaft Bildungs- und Schulpolitik als kompe- nach der Sendung – zu Lasten der nicht und Finanzen sowie Atom- bzw. Ener- tenter eingeschätzt wurde als vor dem teilnehmenden Parteien gehen. Zwar giepolitik. TV-Duell, hat sich die Bewertung der kann sich dies bis zum Wahltag auch l Gemessen an den unmittelbaren Reak- Themenkompetenz von Schmid in drei wieder ändern, aber je näher das TV- tionen der Zuschauer hatten beide von vier Wählergruppen verschlechtert Duell zeitlich am Wahltag liegt, desto Kandidaten starke Phasen. Alles in al- (vgl. Abbildung 3). Ähnliche Verände- eher ist ein Nachteil für die ausge- lem konnte aber Stefan Mappus von rungen gab es hinsichtlich der Beurtei- schlossenen Parteien zu erwarten. Auch dem TV-Duell mehr profitieren als Nils

Abbildung 5: Die Sicherheit der Wahlentscheidung vor und nach dem TV-Duell 2011

„Welcher Partei werden Sie bei der Landtagswahl am 27. März Ihre Stimme geben?“ – „Wie sicher sind Sie sich dieser Wahlentscheidung?“ sehr 4 sicher CDU (n = 31)

3 SPD (n = 26)

2

sehr unsicher 1 vor dem Duell nach dem Duell

146 Schmid. Das liegt vor allem daran, kandidaten während der Debatte ver- DAS TV-DUELL VOR DER LANDTAGSWAHL dass er bei den wichtigen Themen Bil- ändern sich die Maßstäbe, anhand de- 2011 – WAHRNEHMUNGEN dung und Finanzen/Länderfinanzaus- rer die Kandidaten beurteilt werden. UND WIRKUNGEN gleich besser abschnitt als Schmid. Zudem wird – zumindest kurzfristig – l Bei der Bildungspolitik verbesserte sich die Kandidatenorientierung für die Er- Maier, Jürgen/Faas, Thorsten (2005): Schröder die Bewertung von Mappus. Sie schlug klärung der Wahlabsicht wichtiger. Die gegen Stoiber: Verfolgung, Verarbeitung und sich auch stärker in seiner Gesamtbe- Stärke der Effekte und deren Relevanz Wirkung der Fernsehdebatten im Bundestags- wertung nieder, die ebenfalls besser für den Wahlausgang hängen natürlich wahlkampf 2002. In: Falter, Jürgen W./Gabriel, Oscar W./Weßels, Bernhard (Hrsg.): Wahlen wurde. Bei der Wahlabsicht konnte die von der Ausgangslage vor dem TV-Du- und Wähler: Analysen aus Anlass der Bundes- CDU stärker zulegen als die SPD. Auch ell und von dessen Verlauf ab. Die Er- tagswahl 2002. Wiesbaden, S. 77–101. erhöhte sich die Sicherheit der Wahl- fahrungen vergangener Debatten ha- Maier, Michaela (2007): Verstärkung, Mobilisie- entscheidung der CDU-Anhänger. Zu- ben jedoch gezeigt, dass bei einem rung, Konversion. In: Maurer, Marcus/Reine- dem finden wir Indizien dafür, dass die knappen Wahlausgang durchaus ein mann, Carsten/Maier, Jürgen/Maier, Michaela (Hrsg.): Schröder gegen Merkel. Wiesbaden, Grünen durch die Nicht-Berücksichti- wahlentscheidendes Potential besteht S. 145–166. gung ihres Spitzenkandidaten zumin- (vgl. Maurer/Reinemann 2007). Für die Maurer, Markus/Reinemann, Carsten (2003): dest einen kurzfristigen Nachteil erlit- nicht an einem TV-Duell teilnehmenden Schröder gegen Stoiber: Nutzung, Wahrneh- ten haben. Parteien kann dies von Nachteil sein. mung und Wirkung der TV-Duelle. Wiesbaden. Maurer, Markus/Reinemann, Carsten (2007): Warum TV-Duelle Wahlen entscheiden können. Die Analyse des TV-Duells vor der Land- LITERATUR In: Maurer, Marcus/Reinemann, Carsten/Maier, tagswahl in Baden-Württemberg be- Jürgen/Maier, Michaela (Hrsg.): Schröder gegen stätigt wesentliche Forschungsergeb- Brettschneider, Frank (2002): Spitzenkandidaten Merkel. Wiesbaden, S. 229–246. und Wahlerfolg. Personalisierung – Kompetenz nisse zu TV-Duellen vor Bundestags- Vögele, Catharina (2013): Das TV-Duell Mappus – Parteien. Ein internationaler Vergleich. Wiesba- gegen Schmid im Kontext des Landtagswahl- wahlen: TV-Debatten können die Urtei- den. kampfs 2011 in Baden-Württemberg. In: Bachl, le und Einstellungen der Zuschauer Brettschneider, Frank (2005): Massenmedien und Marko/Brettschneider, Frank/Ottler, Simon beeinflussen. Die Zuschauer verarbei- Wählerverhalten. In: Falter, Jürgen W./Schoen, (Hrsg.): Das TV-Duell in Baden-Württemberg ten die Debatteninhalte aktiv und las- Harald (Hrsg.): Handbuch Wahlforschung. 2011. Inhalte, Wahrnehmungen und Wirkungen. Wiesbaden, S. 473–500. Wiesbaden (im Erscheinen). sen sich in ihren abschließenden Urtei- Faas, Thorsten/Maier, Jürgen (2004): Mobilisie- Zaller, John R. (1992): The Nature and Origins of len nicht nur von ihren Voreinstellungen rung, Verstärkung, Konversion? Ergebnisse eines Mass Opinion. Cambridge. leiten, sondern auch von den Eindrü- Experiments zur Wahrnehmung der Fernsehduel- Zubayr, Camille/Geese, Stefan/Gerhard, Heinz cken, die sie während des TV-Duells le im Vorfeld der Bundestagswahl 2002. In: Politi- (2009): Berichterstattung zur Bundestagswahl sche Vierteljahresschrift, Heft 1/2004, S. 55–72. hatten (vgl. Maurer/Reinemann 2003; 2009 aus Sicht der Zuschauer. In: Media Perspek- Infratest dimap (2011): LänderTREND Baden- tiven, Heft 12/2009, S. 637–650. J. Maier 2007). Darüber hinaus verän- Württemberg 2011. Abgerufen unter: http:// dern TV-Duelle auch die politischen Ko- www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/ ANMERKUNGEN gnitionen, Einstellungen und Verhal- bundeslaender/baden-wuerttemberg/laender- tensabsichten einiger Zuschauer. Die trend/2011/maerz/ 1 Die Studie wurde von der Fritz Thyssen-Stif- Iyengar, Shanto (1992): Wie Fernsehnachrichten tung finanziell gefördert. Dafür möchten wir uns stärksten Wirkungen zeigen sich – wie die Wähler beeinflussen: Von der Themensetzung bei der Fritz Thyssen-Stiftung bedanken. Die de- nach der Rezeption eines Aufeinander- zur Herausbildung von Bewertungsmaßstäben. taillierten Ergebnisse werden in einem Sammel- treffens der Spitzenkandidaten zu er- In: Wilke, Jürgen (Hrsg.): Öffentliche Meinung. band veröffentlich: Bachl, Marko/Brettschneider, warten – bei den Kandidatenimages Theorie, Methoden, Befunde. Freiburg, München, Frank/Ottler, Simon (Hrsg.): Das TV-Duell in Ba- S. 123–142. den-Württemberg 2011. Inhalte, Wahrnehmun- und bei der Kandidatenpräferenz. Da Lazarsfeld, Paul F./Berelson, Bernard/Gaudet, gen und Wirkungen. Wiesbaden (im Erscheinen). die Bewertung der Spitzenkandidaten Hazel (1968, 1944): The People’s Choice. How the 2 51 Prozent Frauen, 49 Prozent Männer. Durch- eine wichtige Bestimmungsgröße des Voter Makes Up his Mind in a Presidential Cam- schnittsalter: 40,5 Jahre. Die formal höher Gebil- Wählerverhaltens ist, können über eine paign. 3. Auflage, New York, London. deten sind im Vergleich zur Gesamtbevölkerung Veränderung der Kandidatenwahrneh- Maier, Jürgen (2007): Erfolgreiche Überzeu- überrepräsentiert: 40 Prozent der Teilnehmer ha- gungsarbeit. Urteile über den Debattensieger ben eine formale Bildung bis zum Realschulab- mung auch die Parteipräferenz und das und die Veränderung der Kanzlerpräferenz. In: schluss, 59 Prozent haben mindestens ein Fach- Wählerverhalten beeinflusst werden Maurer, Marcus/Reinemann, Carsten/Maier, Jür- abitur. Damit ist auch das politische Interesse (vgl. Brettschneider 2002). Durch die in- gen/Maier, Michaela (Hrsg.): Schröder gegen überdurchschnittlich groß. Es sind sämtliche Par- tensive Beschäftigung mit den Spitzen- Merkel. Wiesbaden, S. 90–109. teianhängerschaften vertreten, die Anhänger von Bündnis 90/Die Grünen sind jedoch überdurch- schnittlich stark unter den Teilnehmern repräsen- tiert. 3 Als Anhänger einer Partei fassen wir die Teil- UNSER AUTOR UNSER AUTOR UNSER nehmerinnen und Teilnehmer auf, die in der Be- Marko Bachl ist wissenschaftlicher fragung vor dem Duell angaben, diese Partei wählen zu wollen. Mitarbeiter am Institut für Kommuni- kationswissenschaft der Universität Hohenheim. Er hat an der Universität Augsburg und am Institut für Journa- listik und Kommunikationsforschung der Hochschule für Musik, Theater und Medien Kommunikationswissen- schaft studiert. Seine Forschungs- schwerpunkte liegen in den Berei- Prof. Dr. Frank Brettschneider ist Inhaber chen Politische Kommunikationsfor- des Lehrstuhls für Kommunikationswis- schung, Medienwirkungsforschung senschaft an der Universität Hohen- sowie quantitative Methoden und heim. In seiner Forschung beschäftigt er Statistik in der Kommunikationsfor- sich u. a. mit Wählerverhalten, Medien- schung. wirkungen, Wahlkampagnen und The- menmanagement.

147 DIE ABWAHL DER „BADEN-WÜRTTEMBERG-PARTEI“ Die historische Niederlage der CDU – Ursachen für das Scheitern Michael Wehner

der Landespolitik dauerhaft verändert wirtschaftliche Lage als gut oder sehr Die Abwahl der (selbst ernannten) „Ba- hat. gut. Sie glaubten, dass es konjunkturell den-Württemberg-Partei“ hatte vielfäl- In keinem anderen deutschen Flächen- weiter aufwärts geht und empfanden, tige Gründe. Das En gagement von staat hat eine Partei länger regiert und dass ihr Bundesland gut auf die Zukunft Stefan Mappus für eine Laufzeitverlänge- seit 1953 in Folge sieben Ministerpräsi- vorbereitet sei. rung der Kernkraft werke und seine ein- denten gestellt. Insofern ist die Ablö- Der Atomunfall in Japan und seine poli- deutige Festlegung auf die FDP als sung der (selbst ernannten) „Baden- tischen Erschütterungen unmittelbar vor Koali tionspartner im Vorfeld der Wahl Württemberg-Partei“ von der Regie- der Abstimmung haben dann aber zu waren strategische Fehler. Hinzu kam rung als historisch zu bezeichnen. Die diesen erheblichen Verwerfungen im der Atomunfall in Japan, der alle ande- Abwahl eines nie vom Volk in einer Wahlergebnis geführt. Die Landtags- ren Themen, mit denen sich die CDU Landtagswahl bestätigten Amtsinha- wahl 2011 wurde zu einer Protestwahl bisher profilieren konnte, in den Hinter- bers und die Wahl des ersten grünen der Umweltbesorgten. Die um 12,9 Pro- grund drängte. Die Wechselstimmung in Ministerpräsidenten in der Bundesre- zent gestiegene Wahlbeteiligung, ein Baden-Württemberg hatte sich bereits 3 mittelfristig aufgebaut und lässt sich mit- publik sind ein Novum. Stimmenmehr von ca. 750.000 oder hin auf eine breite Unzufriedenheit mit Von einem politischen Erdbeben kann 160,4 Prozent für die Grünen rechtfer- der Regierungsleistung und einer unzu- nach genauerer Betrachtung des CDU- tigt sicherlich die Verwendung des reichenden Partei-Performance – so Mi- Wahlergebnisses allerdings nicht ge- chael Wehner – zurückführen. Zum Mi- sprochen werden. Bereits 1952, 1960 nisterpräsidenten-Malus gesellte sich und 1992 musste sich die CDU mit einem die wahlsoziologische Problematik hin- Wahlergebnis von unter 40 Prozent zu- zu: Die CDU hatte bei jungen Wählern frieden geben. und bei Frauen eine nur unzureichende Ohne Fukushima und die schlechte Per- Akzeptanz. Für großstädtische und formance des Koalitionspartners, der akademische Milieus war die Union FDP, wäre die Wahlkampfstrategie der nicht attraktiv genug. Die bittere Lehre, CDU möglicherweise sogar aufgegan- dass Wahlsiege keine Automatismen gen. Mit einem polarisierenden Lager- sind, sollte für die CDU Anlass sein, an wahlkampf für den ländlichen Raum, einer programmatischen Wandlung zu „einem Kante zeigenden“ Ministerpräsi- arbeiten und bis 2016 einen Spitzen- denten gelang auch der Union eine ein- kandidaten aufzubauen, der glaubhaft zigartige Mobilisierung von Wählerin- für diesen Neuanfang steht. Inen und Wählern (ein Stimmenmehr von 195.146 im Vergleich zu 2006). Nach dem GAU in Japan und ohne Ko- alitionsoption für die Grünen saß Minis- terpräsident Mappus allerdings in der Die „Baden-Württemberg-Partei“ „Atom- und FDP-Falle“. Das energische wird abgewählt Engagement des Ministerpräsidenten für eine Laufzeitverlängerung deutscher „Lieber 15 Monate Ministerpräsident Kernkraftwerke und die eindeutige Fest- als gar nie MP.“ legung auf die Liberalen als Regie- Stefan Mappus1 rungspartner waren die größten strate- gischen Politikfehler der CDU. Darüber Das politische System Baden-Würt tem- hinaus lassen sich aber weitere Ursa- bergs – die Besonderheiten der Grün- chen ermitteln, warum die Union bei dungsjahre 1952/1953 ausgenommen dieser Landtagswahl neben der FDP – ist geprägt von der Dominanz der und der SPD, die ihre schlechtesten Er- Christlich Demokratischen Union. Eine gebnisse seit der Gründung des Landes die CDU begünstigende politische Kul- erzielt haben, zu den Wahlverlierern zu tur und damit einhergehende Wähler- zählen ist. präferenz gibt es seit dem 25. April 1952, dem Gründungstag dieses Bun- deslandes. Ob diese Hegemonie und Atom-Angst schlägt Arbeitsplätze- strukturelle Unionsmehrheit mit der letz- Argument ten Landtagswahl endete, bleibt offen. Die Wählerinnen und Wähler werden Die ökonomischen Voraussetzungen für 2016 entscheiden, ob die grün-rote Re- einen Wahlsieg der CDU waren gut. Im gierung eine „Fußnote in der Landesge- Unterschied zu 2006 bewerteten 81 schichte“2 sein wird oder ob der Regie- Prozent der Baden-Württembergerin- rungswechsel das Koordinatensystem nen und Baden-Württemberger die

148 Wortes „Erdrutschsieg“ und dokumen- zu, dass z. B. auch katholisch geprägte DIE HISTORISCHE NIEDERLAGE DER tiert das Einzigartige und Besondere Stammwähler dem Kurs ihres Minister- CDU – URSACHEN FÜR DAS SCHEITERN der Wahl von 2011, macht andererseits präsidenten nicht mehr folgen wollten aber auch deutlich, welche hohen (und (Wehling 2011, S. 7). überzogenen) Erwartungen an die Pro- blemlösefähigkeit der neuen Regierung vor den Ereignissen in Japan zeigt, dass gestellt sind, Baden-Württemberg zu Wechselstimmung, Unzufriedenheit sich die Wechselstimmung in Baden- einem Musterland erneuerbarer Energi- mit der Regierungsleistung und Württemberg mittelfristig aufgebaut en zu machen. Partei-Performance hat. Das Ansehen der Regierungsver- Mit den Ereignissen von Fukushima wur- antwortlichen verschlechterte sich unter de klar: die schwarz-gelbe Koalition „Eine Gattin legt man nicht einfach ab, Stefan Mappus, bis auf ein kurzes Zwi- der „Laufzeitverlängerer“ in Bund und selbst wenn man 57 Jahre mit ihr schenhoch unmittelbar nach Amtsan- Land war auf dem politischen Holzweg verheiratet ist.“ tritt, allerdings noch einmal erheblich.5 und hatte sich schlichtweg verspeku- Stefan Mappus4 Hinzu kam seit 2009 die Unzufrieden- liert. Ministerpräsident Mappus bekam heit der Bürgerinnen und Bürger mit der ein persönliches Glaubwürdigkeitspro- 2006 war die Zufriedenheit mit den Pro- Arbeit der schwarz-gelben Koalition blem. Seine Positionierung als Atomlob- blemlösungsangeboten der Parteien in auf Bundesebene. byist und die Diskreditierung des eige- Baden-Württemberg recht groß, der Die von vielen mit Stuttgart 21 zunächst nen Parteifreundes, Bundesumweltmi- Ausgang der Wahl vorhersehbar. Das verbundene Dialogunfähigkeit einer als nister Norbert Röttgen, im Vorfeld der Ergebnis war eine geringe Wahlbeteili- abgehoben wahrgenommenen Landes- Laufzeitverlängerung wurden zum Bu- gung (53,4 Prozent), eine nicht vorhan- regierung bekam mit der Kernenergie- merang. Der energiepolitische Kurs- dene Wechselstimmung und einmal Kehrtwende eine für CDU und FDP pro- wechsel wurde von den Wählern als mehr die Bestätigung einer CDU-ge- blematische Weiterung. taktisches Manöver bewertet. Das in- führten Regierung. In dem für ökologische Themen beson- nerparteilich ebenfalls kontrovers dis- 2011 war dies völlig anders. Die schlech- ders sensibilisierten Baden-Württem- kutierte Thema Kernenergie führte da- te Bewertung der Regierungsarbeit weit berg war es 2011 eben nicht mehr aus-

Während seiner Amtszeit konnte Stefan Mappus das Image eines taktierenden Machtpolitikers zugunsten eines versöhnenden Landesvaters nicht ablegen. Insofern wirkten die Wahl- plakate fast schon ironisch, wenn auf ihnen zu lesen war: „Vertrauen, Verantwortung, Verlässlichkeit“. picture alliance/dpa

149 Abbildung 1: Landtagswahl 2011: Ergebnis landesweit und im heren Kompetenz- oder Sympathiewer- Regierungsbezirk Freiburg ten bei den Wählerinnen und Wählern. So war Stefan M appus nach dem glück- "'&* ;9::5%"& "&*'("!%("&,% %(% losen und gescheiterten Hamburger Kurzzeitbürgermeister Christoph Ahl- Michael Wehner haus erst der zweite Ministerpräsident

         "  "  %'" %'" bzw. Erste Bürgermeister im Querver- gleich mit negativen Bewertungen. Die Wechselstimmung in Baden-Württem- berg war also auch deutlich bei der Fra- 2,12,8282 8 5,3533 ge nach der geeigneten Person für das 2 101000 2,8282 8 Amt des Ministerpräsidenten erkenn- 5 23,1 bar. 75 Die öffentlich einzig wahrnehmbare und in den Umfragen für die CDU spür- 24,2 27 bare Leistung, die Stefan Mappus zuge- 50 schrieben werden kann, ist es, den 22,8 Schlichtungsprozess zu Stuttgart 21 in 39 Gang gebracht zu haben. Doch bei nä- 25 herer Betrachtung erwies sich Mappus – wie später bei seiner Atom-Abkehr ""70%''!% 37,4 0 oder in der Frage der Tariferhöhung für

%("&,% %(% Beamte – als „Flip-Flopper“ oder „Um- faller“, der einmal getroffene Entschei- dungen zurücknehmen musste. Noch am 18. September 2010 betonte der Mi-

( 5''&'&& "&!'"70%''!%5 ,(!:>6 "')#""70%''!%!;@6 -%,;9::4'(''%';9::6 nisterpräsident, dass es keinen Bau- stopp gebe, solange er Regierungschef sei: „Mir ist der Fehdehandschuh hinge- worfen worden, ich nehme ihn auf.“8 reichend, die ökonomische Themen- „Geschlossenheit“ gefragt gewesen, Keine zwei Wochen später kam es zum führerschaft und Kompetenz inne zu das innerparteiliche Streiten um die Sa- „Schwarzen Donnerstag“, dem harten haben. Die Renaissance des Nukle- che habe man darüber verlernt; Kritik Polizeieinsatz gegen die Protestieren- arthemas und des Mythos’ vom Wider- an der eigenen Regierung sei ein Tabu den, bei dem sechs Beamte und rund stand („Nai hämmer gsait!“) reaktivierte geworden, meinte der Parteivorsitzen- 130 Demonstrierende verletzt wurden. uralte, in der politischen Kultur aber de in seiner (wohl an sich Erst daraufhin kam die von Mappus ini- präsente politische Reflexe, die vor al- selbst gerichteten) Kritik.7 Trug er doch tiierte Schlichtung durch Heiner Geiß- lem in Südbaden latent im kulturellen von 2005 bis 2011 als CDU-General- ler. Gedächtnis vorhanden und mit den Na- sekretär maßgeblich die Verantwor- Letzten Endes wussten laut Infratest men Wyhl und Fessenheim verbunden tung für die parteipolitische Aufstellung dimap 62 Prozent der Wahlberechtig- sind. So ist es auch nicht weiter verwun- und Spielweise der Landes-CDU. ten nicht mehr genau, für welche poli- derlich, dass die CDU in Baden mit ei- In Kombination mit der fast sechs tischen Überzeugungen Stefan Map- nem Stimmenanteil von 37,9 Prozent um Jahrzehnte dauernden Regierungszeit pus eigentlich steht. Das ist besonders zwei Prozentpunkte schlechter ab- der CDU entstand so die Wahrneh- tragisch und verheerend für einen Politi- schnitt als in Württemberg und im Re- mung einer „sich selbst bedienenden ker, der sich selbst immer als einen ent- gie r ungs b ez ir k F re ib urg mit 37, 4 Proze nt Staatspartei“ und nicht mehr die einer scheidungsfreudigen, berechenbaren das schlechteste Ergebnis einfahren „dienenden Baden-Württemberg-Par- und verlässlichen Ministerpräsidenten konnte (vgl. Abbildung 1).6 tei“. Es rächte sich, dass die Partei sich sah.9 Schließlich ließ die Kampagnenführung zu sehr auf das Regieren und zu wenig Schließlich scheute Mappus nicht ein- der CDU zu wünschen übrig. Die Wahl- auf das Kommunizieren konzentriert mal vor einem Verfassungsbruch zurück. kampagne war ein Abbild des gesam- hatte. Beim Rückkauf von Aktien des Energie- ten CDU-Problems von 2011: Amtsträ- unternehmens EnBW in einem Umfang ger und Parteifunktionäre hatten sich von 4,7 Milliarden Euro (immerhin einem allzu sehr vom Lebensgefühl vor allem Der Ministerpräsidenten-Malus knappen Siebtel des Landeshaushalts!) der urban geprägten Wähler entfernt. durch das Land überging der ehemali- Es reichte zur Gewinnung einer bür- Einher mit der schlechten Bewertung ge Ministerpräsident das Parlament, gerlichen, ökologisch sensibilisierten schwarz-gelber Koalitionen auf Bun- sein eigenes Kabinett und zwang sei- Mehrheit nicht mehr aus, die alte Platte des- und Landesebene ging die negati- nen Finanzminister10 zur Anwendung von der „Nr. 1“ zu spielen. Die Wahl- ve Wahrnehmung der Person des CDU- des Notbewilligungsrechtes nach Arti- kampfmelodie der CDU, sie blieb zu Spitzenkandidaten. Ministerpräsident kel 81 der Landesverfassung: „Über- selbstreferenziell, selbstverliebt und Stefan Mappus ist es in seiner einjähri- und außerplanmäßige Ausgaben be- selbstgerecht. gen Amtszeit nicht gelungen, sich einen dürfen der Zustimmung des Finanz- Der Vertrauensverlust machte nicht ein- Amtsbonus zu erarbeiten. Die Absicht, ministers. Sie darf nur im Falle eines un- mal vor den Parteimitgliedern halt. Die sich mit einem deutlichen und lautstar- vorhergesehenen und unabweisbaren CDU habe „das Zuhören verlernt“, sie ken Bekenntnis zur Kernenergie bun- Bedürfnisses erteilt werden.“ habe sich zu sehr „als unentbehrlich für desweit bekannt zu machen, wurde Der Staatsgerichtshof Baden-Württem- das Funktionieren des Landes“ angese- zwar erreicht. Sein Bekanntheitsgrad berg hat am 6. Oktober 2011 in seiner hen und darüber den Kontakt zu Teilen und seine polarisierenden Politikansich- Entscheidung festgehalten, dass die der Bevölkerung verloren. Zu oft sei ten verhalfen ihm allerdings nicht zu hö- geltende Verfassung es weder aus

150 Gründen der Geheimhaltung noch im allen Altersgruppen Stimmenverluste DIE HISTORISCHE NIEDERLAGE DER Hinblick auf Bedingungen eines Ver- hinnehmen musste. Vor allem in der Al- CDU – URSACHEN FÜR DAS SCHEITERN handlungspartners zulässt, „dass die tersgruppe der 45- bis 59-jährigen „Ent- Landesregierung Budgetmaßnahmen, scheider“ (beruflich Arrivierte, Funkti- die dem Parlament vorbehalten sind, – onseliten) verlor die Union überdurch- vorübergehend – selbst trifft. Wegen schnittlich Stimmen (-6,6 Prozent), wäh- gen in ihrem Sinne und gemäß ihren In- der herausragenden Bedeutung des rend die Grünen mit 18,5 Prozent hier teressen zu beeinflussen, nicht in dem Budgetrechts in der parlamentarischen ihre größten Stimmengewinne erzielen Umfang wahrnehmen, wie sie könnten Demokratie und des daraus folgenden konnten (vgl. Abbildung 2). und wohl auch müssten. uneingeschränkten Vorrangs des Parla- Nach wie vor ist die CDU mit einem An- Nicht nur bei jungen Wählern, sondern ments in Haushaltsfragen kommt nach teil von 60:40 die Partei mit den meisten auch bei Frauen hatte die CDU bei die- der Überzeugung des erkennenden Stamm- und wenigsten Wechselwäh- ser Landtagswahl ein Akzeptanzprob- Staatsgerichtshofs eine (…) erweitern- lern. Ohne ihren „bluechip“ in Gestalt lem. Das mag auch daran gelegen ha- de Auslegung des Art. 81 LV, der ledig- der „einfach Gebildeten“ und der älte- ben, dass Frauen ganz besonders die lich Fälle zeitlicher Dringlichkeit regeln ren Generation lässt sich das verhält- Kernkraft als Energielieferant ablehnen. will, nicht in Betracht.“11 nismäßig gute CDU-Ergebnis nicht er- Der mangelnde Rückhalt bei Frauen ist An kaum einem Tag seiner Amtszeit klären. Fast jeder zweite wahlberech- vor allem in den Großstädten beson- konnte Mappus das Image eines taktie- tigte Hauptschulabsolvent (47 Prozent) ders ausgeprägt. So haben z. B. in Frei- renden und konfrontativen Machtpoliti- hat für die Union gestimmt. burg nahezu unvorstellbare 61,4 Pro- kers zugunsten eines versöhnenden Nahezu jeder zweite CDU-Wähler ist zent der 35- bis 44-jährigen Frauen ihre Landesvaters ablegen. Insofern wirkten älter als 60 Jahre (49 Prozent). Noch et- Stimme für die Grünen abgegeben. die Plakate mit dem Spitzenkandidaten was drastischer ausgedrückt: Beinahe Der Prototyp des CDU-Wählers in Ba- fast schon ironisch, wenn auf ihnen zu ein knappes Drittel der Unions-Wähler- den-Württemberg ist demzufolge der lesen war: „Vertrauen. Verantwortung. schaft war sogar 70 Jahre oder älter auf dem Land lebende 70-jährige Rent- Verlässlichkeit.“ Und sie bekommen eine (31,0 Prozent).13 Hingegen sind 40 Pro- ner mit Volksschulabschluss und katholi- ganz besondere Note, wenn zugleich in zent der Grünen-Wähler jünger als 45 schem Glauben, der jeden Sonntag zur der Stuttgarter Zeitung ein CDU-Frakti- Jahre. Aber auch bei den über 60-Jähri- Kirche geht. Hingegen ist unter den onskollege mit den Worten zitiert wird, gen konnten die Grünen dreimal so vie- CDU-Wählern kaum die 40-jährige Mappus „erscheine ihm als ausreichend le Stimmen einfahren wie 2006 oder gar konfessionslose, in einer Großstadt le- robust, auch ein Land irgendwo in Zent- fünfmal so viele wie 2001. In Anbetracht bende, verbeamtete Akademikerin an- ralasien zu regieren.“12 der Affinität der Älteren zur CDU muss zutreffen. Diese klischeehafte Über- So gelten die Landtagswahlen in Ba- man auf Unionsseite froh sein, dass 74,1 zeichnung verdeutlicht sinnbildlich die den-Württemberg 2011 wie bereits die Prozent der 60- bis 69-Jährigen ihr wahlsoziologische Problematik der Uni- in Bayern und Nordrhein-Westfalen als Wahlrecht in Anspruch nahmen, wäh- on. Beispiele für die plötzliche Risikoanfäl- rend nicht einmal jeder zweite Wahlbe- Besorgniserregend für die CDU muss ligkeit von Landesparteien mit „klassi- rechtigte unter 35 Jahren seine Stimme auch sein, dass ihr viele Beamte und schen Parteihegemonien, die ohne den abgegeben hat. Angesichts des demo- Selbstständige an die Grünen verloren zentralen Bonus einer fest etablierten grafischen Wandels14 und der höheren gingen. Ein weiteres Indiz dafür, dass und auf Kontinuität angelegten Minis- Verinnerlichung der Norm „Wählen ge- sich die Grünen als „programmatischer terpräsidentendemokratie“ (vgl. Mielke hen“ bei älteren Stimmberechtigten Vollsortimenter“ zu einer ernst zu neh- 2011, S. 63) auskommen mussten. bleibt unabhängig vom CDU-Ergebnis menden Alternative zur CDU entwickelt Angesichts der Unbeliebtheit von Ste- festzuhalten, dass junge Menschen ihre haben und von den Wählern als Volks- fan Mappus und seines nicht mehrheits- Möglichkeiten, politische Entscheidun- partei anerkannt werden. fähigen Politikstils wird man es – hypo- thetisch betrachtet – im Rückblick be- dauern, dass es die erfahrenen Partei- Abbildung 2: Stimmengewinne bzw. -verluste von CDU und Grünen bei der größen Willi Stächele und Heribert Landtagswahl 2011 im Vergleich zur Landtagswahl 2006 in Baden- Rech nicht gewagt haben, ihn 2009 he- Württemberg nach Altersgruppen der Wähler rauszufordern. Ihre versöhnlichere, em- phatischere und landesväterlichere Art in Kombination mit einem Offenhalten der Koalitionsoption hätte wohl dazu geführt, dass 2011 eine andere Landes- geschichte geschrieben worden wäre. CDU Verluste GRÜNE Gewinne Zudem wäre ihre Verweildauer im Amt vermutlich überschaubar gewesen. Als „Übergangs-Ministerpräsidenten“ hät- 2020 18,5 ten sie Mappus die eigenen Karriere- 12,5 13,7 15,8 chancen nicht einmal zwangsläufig ver- 12,3 15 baut und wären für die älteren Wähler 1100 der Union mindestens auf eine ähnliche -5,2 9,4 Akzeptanz gestoßen. -5,8 5 -4,9 -3,3 Insgesamt 0 18-24 -6,6 Gesucht: weibliche, akademische, 25-34 -4,4 (5) urbane CDU-Wähler 35-44 45-59 (10)(10) Eine Analyse der repräsentativen Wahl- 60 und mehr statistik verdeutlicht, dass die CDU in  "(&5***6&''&' 6"7*(%''!%68%#1"' 8 #"'&'8;9::9?#"'6&$4'>:

151 Der Stadt-Land-Gegensatz von der CDU weglaufen und machten dung von Konservatismus und Ökologie die Universitätsstädte bzw. einzelne zahlte sich bei der „Fukushima-Wahl Ein Blick auf die politische Landkarte Stadtteile für die CDU zu „No-Go- 2011“ ganz besonders aus. macht schnell deutlich, dass die neun Areas“. So erreichte z. B. die grün-rote Der bislang vielfach beschriebene Ge- Direktmandate der Grünen und das ei- Koalition im Freiburger Stadtteil Vau- gensatz zwischen urbanen, liberalen, Michael Wehner ne der SPD in großen Universitätsstäd- ban, der sich durch einen hohen Akade- großstädtischen und traditionalisti- ten in Baden-Württemberg (Freiburg, mikeranteil auszeichnet, 85,3 Prozent schen, konservativen, ländlichen CDU- Mannheim, Stuttgart, Tübingen und der Stimmen. Die CDU wurde in diesem Wählern scheint sich zwar angesichts Konstanz) gewonnen wurden. Sie ver- Stadtteil mit 3,8 Prozent zu einer Split- der Angleichung pluralistischer und deutlichen damit signifikant das Prob- terpartei. Mit 22,3 Prozent der Stimmen postmaterialistischer Wertorientierun- lem der CDU, für großstädtische und in der Gesamtstadt Freiburg landete sie gen und Lebensstile aufzuweichen, akademische Personengruppen attrak- nach den Grünen (42,0 Prozent) und der dennoch ist auffällig, wie wenig an- tiv und wählbar zu sein. Besonders in SPD (23,7 Prozent) nur auf Platz 3. schlussfähig die CDU bislang an die Le- diesen Milieus wurde der Traditionalist Vor allem dank ihres Spitzenkandidaten benswelten von Wählerinnen und Wäh- Stefan Mappus zur symbolischen Reiz- Winfried Kretschmann (vgl. Abbildung lern in Städten über 50 0 0 0 Einwohnern figur. Der bewusst kalkulierte Lager- 3) ist es den Grünen auch gelungen, war (vgl. Abbildung 4). wahlkampf und die Ansprache der sich in ländlichen Wählermilieus zu eta- Stamm- vor der Laufkundschaft ließ die blieren. Ihre realpolitische Ausrichtung Wähler im wahrsten Sinne des Wortes seit den 1980-er Jahren, die Verbin- Fazit und Ausblick

„An 28 Tagen hat die Regierung die Deutungshoheit über die Landespolitik, Abbildung 3: Wer ist … an zwei Tagen hat sie sie nicht.“ Günther H. Oettinger15

%&'666 Ein Jahr nach dem Verlust der Regie- rungsverantwortung ist die CDU noch %'&!"" $$(& nicht in der Opposition angekommen. Viele ehemalige Funktionsträger und Teile der Parteielite haben den Bedeu- tungsverlust in der Öffentlichkeit und das Arbeiten für den Papierkorb noch nicht ver wunden. Opposition „ist vor al- 38 lem deshalb Mist“, um ein Wort von 37 404040 Franz Müntefering zu gebrauchen, weil 36 die tägliche Abgeordnetenarbeit so gut 3030 wie keine Chance hat, in Gesetzestexte 19 23 27 überführt und/oder medial gewürdigt 2200 zu werden. 15 Die Landes-CDU hat immer noch kein 15 nach außen erkennbares Gravitations-  (*0%% 10 &+!$'&% zentrum, geschweige denn ein oder 0%%"-% zwei Köpfe, die die neue Union reprä- 0 )%&'" sentieren. Die meisten Personen aus der #%&("&%($$ "665 ""70%''!%6"" +&% "'&* )#!;@6 -%,;9::4 %6:==4 ""!;9::4<; Führungsreserve wie der stellvertreten- de Landesvorsitzende Winfried Mack oder der stellvertretende Fraktions- Abbildung 4: Ergebnis der Landtagswahl am 27. März 2011 in Baden- vorsitzende Volker Schebesta gelten Württemberg nach Gemeindegrößenklassen für CDU und Grüne aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Mappus-Lager als angeschlagen, die beiden stellvertretenden Landesvorsit- zenden Thorsten Frei und die Bundes- tagsabgeordnete Annette Widmann- CDU GRÜNE Mauz als (noch) zu wenig profiliert. Die jungen Hoffnungsträger in Person der

21,1 Bezirksvorsitzenden und 70 23,1 sind als Mandatsträger 27,4 auf Bundesebene engagiert und gelten 31,4 43,5 52,552,5 nach dem Scheitern der FDP-Boygroup 39,4 derzeit als zu „leichtmatrosenhaft“. We- der der Landesvorsitzende Thomas 35,2 3535 Strobl noch Fraktionsvorsitzender Peter 30,9 Hauk selbst sind als entscheidungsstar- Gemeinden unter 10 000 unter … Einwohnern 17,5 ke und charismatische Führungsfiguren unter 50 000 bekannt. unter 100 00 Der Ausgang der Volksabstimmung zu 0 > 100 000 Stuttgart 21 hat aber auch den Grünen deutlich gemacht, dass ihre Bäume nicht ''&'&& "&!'"70%''!%5 ,(!:>6 "')#""70%''!%!;@6 -%,;9::4'(''%';9::4?< in den Himmel wachsen und Baden-

152 Württemberg nach wie vor eine die wünschen übrig. Will man die Medien- DIE HISTORISCHE NIEDERLAGE DER CDU begünstigende politische Kultur präsenz sowie die Kampagnen- und CDU – URSACHEN FÜR DAS SCHEITERN und damit einhergehende Wählertradi- Wahlkampffähigkeit verbessern, muss tion aufweist. Die „Verlegenheits-Volks- hier deutlich in Personen und Infrastruk- abstimmung“ zu Stuttgart 2116 war er- tur investiert werden. freulicherweise eindeutig und hat wohl Für die weitere Entwicklung der politi- zu nutzen, Grabenkämpfe zu been- das Land und die Regierungskoalition in schen Kultur des Landes war der Macht- den, innerparteiliche Erneuerungs- und dieser Sachfrage befriedet. Ob sie eine wechsel ein notwendiges Gebot der Modernisierungsprozesse anzustoßen, Initialzündung für mehr Bürgerbeteili- Stunde. Demokratie ist Herrschaft auf neues (vor allem gesellschafts- und wirt- gung auf Landesebene war, ist zu be- Zeit. Der politische Wettbewerb funkti- schaftspolitisches) Profil zu gewinnen, zweifeln. Es bleibt abzuwarten, ob die oniert, der Souverän hat die politische programmatische und personelle Alter- plebiszitären Verfahren – mit einem Veränderung herbeigeführt. Das Auf- nativen anzubieten und damit erneut ih- Quorum von 20 Prozent (wie derzeit dis- brechen verkrusteter Strukturen in Mi- re Wählbarkeit und Regierungsfähig- kutiert) oder einem Drittel (wie derzeit nisterien und der ganzen Landesver- keit unter Beweis zu stellen. Nur dann noch in der Verfassung stehend) – tat- waltung, die Einführung eines anderen kann sie das mehrdeutige Image einer sächlich eine bessere Alternative zum Politikstils sowie Personalrochaden „verspäteten Landespartei“, die in wei- traditionellen Königsrecht der Demo- werden dem Land gut tun. Für die CDU ten Teilen ihrer Ausrichtung der gesell- kratie in Form von Wahlen darstellen. ist deutlich geworden: Wahlsiege un- schaftlichen Entwicklung hinterherhinkt, Schließlich gibt es genügend Hinweise terliegen keinen Automatismen, sie sind wieder loswerden. Dabei sollte die Uni- darauf, dass Volksbegehren und Volks- keine Selbstverständlichkeit. Nun gilt es on sich durchaus auf ihre Geschichte entscheide die Partizipationskluft wei- für die Union, die Zeit in der Opposition besinnen und wieder verstärkt dezent- ter nach der einfachen Gleichung vertiefen: Je gebildeter und je reicher, desto höher die Abstimmungs- und Wahlbeteiligung. So muss es in demo- kratietheoretischer Hinsicht zu denken geben, wenn sich im akademisch ge- prägten Freiburger Stadtteil Vauban 62,3 Prozent der wahlberechtigten Be- völkerung an der Abstimmung zu Stutt- gart 21 beteiligt haben, während in Frei- burg-Weingarten, einem Stadtteil mit relativ hoher Arbeitslosigkeit und Mig- rantenanteil, nur 21,4 Prozent ihre Ja- oder Neinstimme abgaben. Trotz des Regierungswechsels im Land stellt die CDU nach wie vor mit 60 Man- daten die weitaus stärkste Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg. 335 Bürger- und Oberbürgermeister, 18 von 35 Landräten und 4.752 von 21.298 Gemeinde- und Kreisräten haben ein CDU-Parteibuch. Nach wie vor ist die CDU die größte und am besten ausge- stattete Partei in Baden-Württemberg. 72.000 Mitglieder, 11.600 Jungunionis- ten und Vereinigungen wie die Frauen- Union oder die Mittelstands- und Wirt- schaftsvereinigung der CDU sind auf- gefordert, ihren Beitrag zu leisten, die im Windschatten der Medienaufmerk- samkeit segelnde Oppositionspartei zu erneuern. Dennoch bereitet die Mitgliederstruktur allen Parteien und nicht nur der CDU Probleme. Der Anteil von Jugendlichen im Alter von 16 bis 29 Jahren beträgt bei der CDU gerade einmal 4,9 Prozent. Über die Hälfte (53,3 Prozent) ihrer Mit- glieder sind 60 Jahre und älter. Das Durchschnittsalter eines CDU-Mitglieds beträgt 57 Jahre. Der CDU muss es in Zukunft in besonderem Maße darum gehen, Frauen und junge Menschen für die Parteiarbeit zu gewinnen. Ein Frau- enanteil von ca. 22 Prozent bei den Mit- Winfried Kretschmann schwört am 12. Mai 2011 im Landtag in Stuttgart seinen Amtseid gliedern spricht Bände. nach seiner Wahl zum Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Trotz des Regie- Die Professionalität vor allem der Lan- rungswechsels stellt die CDU nach wie vor mit 60 Mandaten die stärkste Fraktion im desgeschäftsstelle lässt deutlich zu Landtag. picture alliance/dpa

153 Atomkraftgegner demonstrieren am 16. März 2011 während einer Wahl- kampfveranstaltung Michael Wehner der CDU in Waldshut-Tiengen. Mit den Ereignissen von Fukushima war klar: die schwarz-gel- be Koalition der „Laufzeitverlängerer“ in Bund und Land war auf dem politi- schen Holzweg. picture alliance/dpa

rale und regionale Profilbildung zulas- eine ähnliche integrierende Kraft zu von anderen aufgegriffene Programm- sen. Insofern bekäme der Begriff der entfalten wie sie sie bis 2011 hatte, ist debatte über das „C“ im Parteinamen „verspäteten Partei“ wieder seine ur- jedoch fraglich. Es wird sich zeigen, ob kann nicht darüber hinwegtäuschen, sprüngliche Bedeutung. Schließlich war das „catch all-Konzept“ der Volkspartei dass vor allem in den konservativen und ist der Plural die Stärke dieser „regi- in Baden-Württemberg ausgedient, die Bundesländern der Spagat zwischen onalisierten Patchwork-Partei“. Mit ih- strukturelle Mehrheit der CDU sich ver- Stammwählern und Wechselwählern rem Markenkern der Sozialen Markt- flüchtigt hat. größer ist als beispielsweise in Thürin- wirtschaft ist es der CDU – mit Ausnah- „In der Opposition wird es für die Partei gen oder Sachsen-Anhalt. Dieser Kon- me der Ausnahmewahl 201117 – ganz schwieriger, ihren Charakter als Volks- flikt verschärft sich zusätzlich durch gut gelungen, katholisches und protes- partei zu wahren, ihren Einsatz für die die überalterte Wähler- und Mitglie- tantisches Bürgertum ebenso zu verei- unterschiedlichen, teils in Spannung be- derschaft der CDU mit ihrer höheren nen wie Facharbeiter und Unternehmer, findlichen Strömungen nachzuweisen Kirchenbindung und Orientierung an Bauern und Städter, Sozialethiker und und sie so zusammenzuhalten“ (Jäger traditionellen Werten, die nicht mit Wirtschaftsliberale. 2011). den Vorstellungen und Lebenswelten Inwieweit es der CDU nach ihrer Erneu- Die von Altministerpräsident Erwin Teu- jüngerer Menschen kompatibel sind. erung in der Opposition gelingen kann, fel neu im Sommer 2011 entfachte und

154 Nicht nur in einer zunehmend säkulari- ber, Reinhold/Wehling, Hans-Georg (Hrsg.): Handbuch Landespolitik. Stuttgart 2011, S. 34– DIE HISTORISCHE NIEDERLAGE DER sierten Welt wird es immer schwieriger 64. CDU – URSACHEN FÜR DAS SCHEITERN zu vermitteln, „was an der neuen Atom- Stadt , Amt für Bürgerservice politik, an der Erhöhung der Hartz-IV- und Informationsverarbeitung (2011) (Hrsg.): Sätze oder den Plänen zu neuen Steuer- Wahl der Abgeordneten zum 15. Landtag von Baden-Württemberg am 27. März 2011 – Ergeb- temberg und beachtliche 15 Jahre Landtagsprä- erleichterungen christlich oder unchrist- nisse und Analyse der Landtagswahl in Freiburg. sident, ließ am Ende seiner Amtszeit jegliches di- 18 lich ist.“ Freiburg. plomatisches Gespür vermissen, als er sich in der Teufels Nachfolger als Ministerpräsi- Statistisches Landesamt Baden-Württemberg Öffentlichkeit gegen die von CDU, SPD und FDP (2011): Wahl zum 15. Landtag von Baden-Würt- gemeinsam getragene Parlamentsreform und da- dent, der jetzige EU-Kommissar Gün- mit verbundene Neuregelung der Altersvorsorge ther H. Oettinger warnt zu Recht vor ei- temberg am 27. März 2011. Stuttgart. Teufel, Erwin (2011): Wohin treibt die CDU? In: für Abgeordnete stellte und partout einen Porsche ner rückwärts gewandten, falsch ver- Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom Panamera als Dienstwagen haben wollte. Ein sol- standenen Re-Christianisierung der 31.7.2011. ches Verhalten oberster Funktionsträger hat zwei- Partei: „Die CDU wird nicht mehrheits- Wehling, Hans-Georg (2002): Ein halbes Jahr- fellos dem Ansehen der Partei geschadet. 6 Von einem „Baden-Ergebnis“ zu sprechen, ist fähig bleiben, wenn sie den Rückwärts- hundert Regierungsverantwortung. In: Staatsan- zeiger Baden-Württemberg vom 6.10.2002. historisch betrachtet allerdings fragwürdig. Die gang einlegt. (…) Eine Rückkehr zu den Wehling, Hans-Georg (2011): Konstanz und Grenzen der heutigen Regierungsbezirke Frei- Programmen der achtziger und neunzi- Wandel der politischen Kultur in Baden-Württem- burg und Karlsruhe sind nicht identisch mit dem ger Jahre würde die CDU viele Wähler- berg im Blick auf die Landtagswahl vom 27.3.2011. alten Land Baden. Abgerufen unter: www.landtagswahl-bw.de/ 7 Vgl. Stuttgarter Zeitung vom 25. Juni 2011. stimmen kosten. (…) Einige in unserer 8 Vgl. Stuttgarter Zeitung vom 20. September Partei sollten erkennen: Die Bonner Re- fileadmin/landtagswahl-bw/pdf/wehling_land- tagswahl11.pdf [14.5.2012]. 2010 und www.faz.net/artikel/C30923/stuttgart- publik ist Geschichte.“19 21-mappus-ich-nehme-den-fehdehandschuh- Wenn nicht alles trügt, werden die Grü- auf-30308511.html [14.5.2012]. nen und nicht die SPD 2016 Hauptgeg- 9 Vorwahlerhebung von Infratest dimap; vgl. ANMERKUNGEN Infratest dimap (2011): Baden-Württemberg 2011. ner – und damit wohl kaum Koalitio ns- WahlREPORT. Berlin, S. 27. partner – der Union im politischen 1 Zitiert in: Stuttgarter Zeitung vom 10. Oktober 2011. 10 Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit beim Kauf der Aktien der EnBW durch den Staats- Wettbewerb sein. Angesichts des der- 2 So Thomas Strobl in seiner Rede zur Inthroni- zeitigen Zustandes der FDP kann die sierung als neuer CDU-Landesvorsitzender in der gerichtshof wurde dem damaligen Finanzminister Stuttgarter Zeitung vom 23. Juli 2011. Willi Stächele zum politischen Verhängnis. Er CDU dabei nicht auf den bürgerlichen musste von seinem neuen Amt des Landtagsprä- Bündnispartner bauen und ist gut bera- 3 Außergewöhnlich aber nicht neu ist, dass die Grünen mit einem Stimmenanteil von 24 Prozent sidenten zurücktreten. Der Öffentlichkeit wäre ten, ein eigenes wirtschaftsliberales den Regierungschef stellen können. Reinhold kaum zu vermitteln gewesen, dass ein ehemaliger Profil zu entwickeln, voreilige Koaliti- Maier wurde 1952 zum ersten baden-württem- Minister, der antiparlamentarisch und verfas- onsaussagen zu vermeiden und die al- bergischen Ministerpräsidenten gewählt, ob- sungswidrig gehandelt hat, weiterhin oberster wohl die FDP/DVP mit einem Stimmenanteil von Hüter der Parlamentsrechte sein soll. ten Grabenkämpfe zwischen Traditio- 11 Vgl.: www.baden-wuerttemberg.de/sixcms/ nalisten und Modernisierern durch ein 18 Prozent nach der SPD nur die zweitstärkste Partei in einer Dreiparteien-Koalition mit dem Ge- media.php/602/111006_GR_2_11_Urteil_ versöhnliches „Amalgam-Konzept“ mit samtdeutschen Block/Bund der Heimatvertriebe- Staatsgerichtshof.pdf [14.5.2012]. Dennoch geht Bindekraft zu überwinden. Die größte nen und Entrechteten (BHE) war. So konnte ein der Staatsgerichtshof von einer zukünftigen Re- Herausforderung wird sein, die „gesell- CDU-Ministerpräsident Gebhard Müller verhin- gelungsbedürftigkeit für den Landtag aus: dert werden. „Gleichwohl kann es auch in einer parlamentari- schaftspolitische Wandlung“ der Partei schen Demokratie aus Gründen des Staatswohls 4 Zitiert in: Stuttgarter Zeitung vom 22. März hinzubekommen und bis 2016 einen 2011. unvermeidlich sein, geheimhaltungsbedürftige Haushaltsansätze aus der öffentlichen Befassung Spitzenkandidaten aufzubauen, der 5 Die Zustimmung zur Regierung Mappus/Goll oder die glaubwürdig für diesen Neu- sinkt im Lauf der Legislaturperiode auf den fernzuhalten. In solchen Fällen kann das Parla- schlechtesten Wert bei Vorwahlumfragen seit ment geeignete Verfahren wählen, die den beste- anfang steht. Wahrlich eine Herkules- henden Geheimschutzinteressen und zugleich aufgabe! 1980; vgl. Infratest dimap (2011): Baden-Württem- berg 2011. WahlREPORT. Berlin. Auch Peter den Grundsätzen der parlamentarischen Demo- Straub, immerhin die Nummer 2 in Baden-Würt- kratie und dem Budgetbewilligungsrecht des Par- laments hinreichend Rechnung tragen.“ LITERATUR 12 Stuttgarter Zeitung vom 11. März 2011. Eith, Ulrich (2008): Das Parteiensystem Baden- 13 Vgl.: www.statistik-bw.de/Veroeffentl/Mo- Württembergs. In: Jun, Uwe/Haas, Melanie/ natshefte/PDF/Beitrag11_06_09.pdf [14.5.2012]. 14 Bei der Landtagswahl 1980 war noch knapp Niedermayer, Oskar (Hrsg.): Parteien und Partei- AUTOR UNSER ensysteme in den deutschen Ländern. Wiesba- jeder dritte Wahlberechtigte unter 35 Jahre alt den, S. 103–124. (30,0 Prozent) und jeder vierte Wahlberechtigte Forschungsgruppe Wahlen e. V. (2011): Wahl in 60 Jahre oder älter (25,5 Prozent). Zur Landtags- Baden-Württemberg. Eine Analyse der Landtags- wahl 2011 befand sich bereits fast jeder dritte wahl vom 27. März 2011. Bericht der Forschungs- Wahlberechtigte im Seniorenalter (31,8 Prozent), gruppe Nr. 144. Mannheim. nicht einmal mehr jeder Vierte war jünger als 35 Infratest dimap (2011): Baden-Württemberg 2011. Jahre (23,1 Prozent). WahlREPORT. Berlin. 15 Zitiert in: Staatsanzeiger für Baden-Württem- Jäger, Wolfgang: Die CDU leidet an Personal- berg vom 13. Mai 2011. auszehrung. In: Badische Zeitung vom 10.9.2011. 16 Vgl. Leicht (2011). Abgerufen unter: www.zeit. Konrad Adenauer Stiftung (2011): Landtags- de/2011/48/Plebiszit [24.5.2012]. wahl in Baden-Württemberg am 27. März 2011. 17 Den Charakter einer Ausnahmewahl mit einer Online-Dokumentation. Abgerufen unter: www. Beteiligung von 80 Prozent kann auch der Land- tagswahl 1972 zugeschrieben werden, die ganz kas.de/ wf/doc/kas_22380-544-1-30.pdf? Dr. Michael Wehner ist Leiter der Außen- 110419160240 [14.5.2012]. im Zeichen der Ostverträge stand und bei der die Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt stelle Freiburg der Landeszentrale für CDU erstmals die absolute Mehrheit erringen (2011) (Hrsg.): Die Landtagswahl am 27. März politische Bildung Baden-Württemberg konnte. 2011 in Stuttgart. Eine Analyse des Wahlverhal- und Lehrbeauftragter am Seminar für 18 Ulrich Schmid in der Neuen Zürcher Zeitung tens in räumlicher und sozialstruktureller Differen- vom 5. August 2011. wissenschaftliche Politik der Universität 19 Vgl.: www.badische-zeitung.de/deutsch- zierung. Stuttgart. Freiburg. Er studierte in Freiburg Politik- Leicht, Robert (2011): Basisdemokratische Mogel- land-1/cdu-politiker-staerken-merkel-in-partei- packung. Volksbegehren, Plebiszite und Referen- wissenschaft und Geschichte und pro- debatte-den-ruecken--48300005.html den sind kein Allheilmittel gegen Bürgerwut. In: movierte über die Auswirkungen des [14.5.2012]. Die Zeit vom 24.11.2011. veränderten Medien- und Kommunika- Mielke, Gerd (2011): Landtag, Ministerpräsident tionsverhaltens auf die politische Bil- und Landesregierung: das Regierungssystem Baden-Württembergs. In: Frech, Siegfried/We- dung.

155 PARTEIEN IM WANDEL Verliebt in die Krise? Die Volksparteien und die deutsche Politikwissenschaft Wolfgang Jäger

rückführt.3 Die Kartellpartei wird als fessionen gemeinsam ist. Die Gegner Die Landtagswahl 2011 ist zum Symbol Nachfolgerin der catch all party oder waren jene politischen Kräfte, die den für den Wandel des Parteiensystems ge- der Volkspartei gesehen. Atheismus und Materialismus in Form to- worden: In einem klassischen CDU-Land Auch der Begriff der Volkspartei ist wis- talitärer Ideologien predigten: der im wird ein Politiker einer Nicht-Volkspartei senschaftlich nicht präzise formuliert. Er Weltkrieg eben niedergerungene Nati- Ministerpräsident und eine bisherige hat politische, nicht wissenschaftliche onalsozialismus und der durch die Sow- Volkspartei wird nicht Juniorpartner ei- Wurzeln. Er entstand im 19. Jahrhundert jetunion siegreiche Kommunismus. ner anderen Volkspartei, sondern einer als legitimatorische und kämpferische Der deutsch-amerikanische Politikwis- Nicht-Volkspartei. Ist das baden-würt- Selbstetikettierung vor allem liberaler senschaftler Otto Kirchheimer zeichne- tembergische Wahlergebnis ein Menete- Parteien. Der Begriff sollte zweierlei te in einem einflussreichen Beitrag von kel für das viel beschworene „Ende der zum Ausdruck bringen: einmal eine 1965 den Weg von der „Masseninteg- Volksparteien“? Nach jeder Wahl wird in Stoßrichtung gegen nicht-demokrati- rationspartei, die in einer Zeit schärfe- Deutschland die Frage nach dem Zu- sche bzw. feudalistische politische Kräf- rer Klassenunterschiede und deutlich stand der politischen Parteien und des Parteiensystems neu gestellt, zumeist un- te und zum anderen den Anspruch, nicht erkennbarer Konfessionsstrukturen ent- ter dem Verdacht, es mit einer Krise zu einzelne Interessen, Schichten oder standen war, zu einer Allerweltspartei tun zu haben. Diese Beobachtung gilt für Klassen zu vertreten, sondern das Wohl (catch all party), zu einer echten Volks- die gesamte Geschichte der Bundesre- des ganzen Volkes. partei“. Sie „gibt die Versuche auf, sich publik Deutschland. Nichts ist so bestän- die Massen geistig und moralisch ein- dig in der Entwicklung der deutschen zugliedern, und lenkt ihr Augenmerk in Demokratie wie die sie begleitende Kri- CDU und SPD – die ersten sendiagnose. IVolksparteien der Bundesrepublik

Die Gründung der Christlich-Demokra- tischen Union, der ersten Volkspartei in Begriff und Wandel der Volksparteien der Bundesrepublik Deutschland, konn- te an solche Traditionen anknüpfen, un- Die Parteienforschung war und ist theo- terschied sich aber konzeptionell deut- retisch recht anspruchslos.1 Am häufigs- lich von allen bisherigen Volkspartei- ten werden Funktionenkataloge formu- Bündelungsversuchen. Ihre Modernität liert und Typologien gebildet. In einem ergab sich aus der Überwindung der idealtypisch verstandenen Begriff wer- alten Konfliktlinien des Parteiensystems, den die wesentlichen Charakteristika die sich wesentlich aus den Spannun- der dominanten Parteien gebündelt, gen im Industrialismus und Konfessiona- von der programmatischen Ausrichtung lismus nährten. Die Union sollte sowohl über die Mitglieder- und Wählerstruk- sozialstrukturell wie konfessionell als tur bis zu den Funktionen im politischen Klammer wirken, ohne ganz auf ihre System. Der Idealtypus wird nach einer spezifischen Milieus zu verzichten. mehr oder weniger systematisch vorge- Konrad Adenauer definierte dieses nommenen Beschreibung der Parteien Konzept im ersten Band seiner Erinne- g e b i l d e t, u m d a n n e i n e D i s ku s s i o n d a r ü - rungen:4 Die Union als „christliche ber auszulösen, wie exakt das Phäno- Volkspartei“ sollte sich nicht nur auf das men „politische Parteien“ mit dem Be- Interesse von einzelnen Schichten und griff getroffen wird. Ein Beispiel ist der Klassen stützen, sondern auf alle Volks- von Richard S. Katz und Peter Mair vor- schichten. Sie hatte ihr Fundament in geschlagene Begriff der Kartellpartei- der christlichen Ethik, die beiden Kon- en.2 Darunter werden Parteien verstan- den, deren professionalisierte Spitzen durch das gemeinsame Interesse der Staatsfinanzierung verbunden und von Konrad Adenauer (1876–1967) definierte der Parteimitgliedschaft und der Wäh- das Konzept der Volkspartei: Die Union lerschaft aber weitgehend abgekop- als „christliche Volkspartei“ sollte sich nicht pelt sind. Die Parteien sind ein Teil des nur auf das Interesse von einzelnen Staates; ihr Ziel ist vor allem die Selbst- Schichten und Klassen stützen, sondern erhaltung und die Verhinderung von auf alle Volksschichten. Sie hatte ihr Fun- konkurrierenden Parteineugründungen. dament in der christlichen Ethik. Gegner Natürlich löst eine solche Zuspitzung waren jene politischen Kräfte, die den von Thesen – die ein Idealtypus ja an- Atheismus und Materialismus in Form to- strebt – Kritik aus, die im Wesentlichen talitärer Ideologien predigten. den Idealtypus auf einen Realtypus zu- picture alliance/dpa

156 stärkerem Maße auf die Wählerschaft dings nur zum Teil auf dem Fundament VERLIEBT IN DIE KRISE? DIE 5 (…)“. einer Stammwählerschaft von 20 bis 25 VOLKSPARTEIEN UND Kirchheimer nennt als Beispiel die CDU, Prozent.6 DIE DEUTSCHE POLITIKWISSENSCHAFT deren Ideologie „von Anfang an nur ein Es ist nicht schwierig, schon aus der Be- allgemeiner Hintergrund“ gewesen sei, stimmung der Indikatoren abzuleiten, „eine gewisse Atmosphäre, allumfas- dass die Volksparteien Union und SPD pus zu erklären. Die Volkspartei der da- send und vage genug, um Anhänger im Niedergang sind oder gar schon ih- maligen Zeit ist ein historischer Realty- unter Katholiken und Protestanten zu ren Charakter als Volkspartei verloren pus, der sich in dieser Ära entwickelte finden“. Auch die SPD sah er auf dem haben. Sowohl der Anteil der Wähler und zur Blüte gelangte. Weg zur Allerweltspartei – ein Phäno- wie der Mitglieder schwindet oder sta- men des Wettbewerbs. In der Tat: Die gniert auf niedrigem Niveau. Das Par- SPD wurde mit der Wende von Bad teiensystem hat sich von einem Zweiein- Parteien und gesellschaftlicher Godesberg 1959 zur zweiten erfolgrei- halbparteiensystem zu einem Fünfpar- Wandel chen Volkspartei der Bundesrepublik teiensystem verfestigt; neue Parteien Deutschland im Sinne Kirchheimers. wie die Piraten stehen zumindest demo- Parteien verändern sich mit dem gesell- Peter Lösche schlug 2009 in einer Analy- skopisch vor den Türen des Bundesta- schaftlichen Wandel. Da sie in einer se, die das „Ende der Volksparteien“ an- ges. Die Landtagswahl in Baden-Würt- Demokratie immer das Bindeglied zwi- kündigte, vier Indikatoren für die Defini- temberg ist zum Symbol geworden: In schen der Gesellschaft und dem Staat tion der Volkspartei vor: erstens eine einem klassischen CDU-Land wird ein bilden, spiegeln sie die gesellschaftli- Schichten und Klassen übergreifende Nicht-Volkspartei-Politiker Ministerprä- che Entwicklung wider. Das Einmalige Sozialstruktur der Mitglieder und Wäh- sident, und eine bisherige Volkspartei der Hochzeit der Volksparteien war die ler, jedoch ohne gänzliche Aufgabe ei- wird nicht Juniorpartnerin einer ande- spezifische Kombination einer substan- nes „spezifische[n] soziale[n] Profil[s]“, ren Volkspartei, sondern einer Nicht- ziellen Bindung an die Stammwähler- zweitens auf Dauer ein Wahlerfolg von Volkspartei. schaft durch die Fortexistenz starker 35 Prozent der Wähler, drittens die Fä- Die These und die Analyse des „Endes sozialmoralischer Milieus einerseits, higkeit, allein oder in Koalition mit an- der Volksparteien“ machen deutlich, jedoch einer durch diese nicht verhin- deren Parteien die Regierungsverant- dass es wenig Sinn ergibt, die Volkspar- derten Offenheit gegenüber Wechsel- wortung zu übernehmen und schließlich teien der ersten Jahrzehnte bundesre- wählern der politischen Mitte anderer- der Charakter der Milieu-Partei, aller- publikanischer Geschichte zum Idealty- seits. Diese Situation entwickelte sich

157 im ersten Jahrzehnt der Bundesrepub- Der SPD-Vorsitzende Ernst Ollenhauer lik. Immerhin vereinigten die Unions- spricht auf dem außerordentlichen SPD- parteien und die SPD bei der ersten Parteitag 1959 in Bonn-Bad Godesberg. Bundestagswahl 1949 nur 60,2 Prozent Auf dem Parteitag, der vom 13. bis der Zweitstimmen auf sich, also wenig 15. November 1959 tagte, wurde das Wolfgang Jäger Wolfgang me hr als im J ahr 2 0 0 9 mit 5 6 , 8 Proze nt. 7 neue Grundsatzprogramm – das „Godes- Der gesellschaftliche Wandel, der den berger Programm“ – der SPD beschlossen. uns vertrauten Volkspartei-Typus ge- Im „Godesberger Programm“ verabschie- fährdete, indem er die Stammwähler- dete sich die SPD von marxistischen Ziel- schaft schrumpfen ließ, ist vielfach be- setzungen und vollzog den Wandel zur schrieben worden. Stichworte sind modernen Volkspartei. Wertewandel, Differenzierung, Frag- picture alliance/dpa mentierung, Pluralisierung der Lebens- stile und Individualisierung.8 Hinzu kam der Wegfall der durch den Ost-West- Konflikt bedingten Polarisierung des Parteiensystems. Mehr als meist zur Mehr als jemals zuvor müssen die Par- Kenntnis genommen wird, war nämlich teien ständig nach Themen suchen, die der Parteienwettbewerb bis Ende der den alltäglichen Kosmos von Interessen, 1980er Jahre nicht nur in der Außen- Bedürfnissen und Meinungen der Mit- und Sicherheitspolitik, sondern auch in glieder und Wähler überlagern und das der Innen-, Wirtschafts- und Gesell- Profil der Partei nach innen und außen schaftspolitik im Koordinatensystem der bestimmen. Das Profil der Partei ergibt Ost-West-Spannung bzw. des Gegen- sich immer weniger aus einer sozial- satzes von Kapitalismus und Sozialis- strukturellen oder sozialkulturellen To- mus angesiedelt. pographie, sondern muss kontinuierlich Die Schlussfolgerung aus dem Wandel von den Parteien selbst erarbeitet wer- der Gesellschaft muss aber trotz der den. Ein größeres Gewicht als in der Veränderungen des Parteiensystems Vergangenheit wird deshalb auch einer nicht das Ende der bisherigen Volkspar- geschickten symbolischen Politik zu- teien sein. Denn immer noch gilt trotz kommen. In einem Gutachten über die des Bedeutungsverlustes der Stamm- CDU im Ruhrgebiet schrieb Karl Rohe wählerschaft und des Abschmelzens schon vor einigen Jahren: „Der Zwang der sozialmoralischen Milieus, dass ka- zur symbolischen Politik (…) ergibt sich tholische Kirchgänger mehrheitlich die vor allem aus einem doppelten Sach- Union und gewerkschaftlich organisier- verhalt: einmal aus der Komplexität und te Arbeiter mehrheitlich die SPD wäh- Undurchsichtigkeit moderner Politik, die len. Eine Kernstammwählerschaft ist al- es kaum noch erlaubt, im alltäglichen so noch vorhanden. Viola Neu schreibt Vollzug von Politik Prinzipielles zu ver- zu recht, dass man trotz des substan- deutlichen; zum anderen aus dem (…) ziellen Rückgangs der Stimmen für die Verlust des im Zeitalter der Milieupar- Volksparteien festhalten müsse, dass teien noch vorhandenen Grundeinver- „nach den Kriterien der Sozialstruktur, ständnisses von Wählerschaft und Par- der programmatischen Ausrichtung und tei, der es erforderlich macht, die ‚Philo- dem Aktivitätsniveau der Parteiorgani- sophie‘ der Partei von Zeit zu Zeit sin- sationen“ Union und SPD „nach wie vor nenfällig zu machen“.10 als Volksparteien klassifiziert werden Ebenso große Bedeutung wie der sym- können“.9 bolischen Politik kommt den Führungs- Die Volatilität der Wählerschaft aller- persönlichkeiten zu. Mehr als jemals ler und Staatsrechtslehrer mit den Par- dings und damit der Zwang der Volks- zuvor bedürfen die Volksparteien als teien vornehmlich unter den Gesichts- parteien, auf diese Wählerschaft aktiv Magnete der heterogenen und indivi- punkten der Selbstvergewisserung und zuzugehen, um sie zu gewinnen, haben dualistischen Wählerschaft der charis- der Pädagogik. Den Staatsrechtsleh- sich vergrößert. Geht man vom selbst matischen Führungsfiguren. Man denke rern ging es um die Deutung von Artikel gesetzten Anspruch der Volksparteien an die Wirkung des früheren CSU-Mi- 21 GG. Mit deutscher Gelehrtengründ- oder vom Indikator aus, dass Volkspar- nisters Karl-Theodor zu Guttenberg. Al- lichkeit ging man dem „Begriff der Par- teien ein möglichst breites Spektrum der lerdings besteht unter diesen Bedingun- tei“ nach und suchte nach rechtlich zu Bedürfnisse und Interessen der Gesell- gen immer auch die Gefahr der Entste- fassenden „Funktionen“ der Parteien im schaft vereinen, dann hat der gesell- hung von populistischen Strömungen.11 Verfassungssystem. Die Politikwissen- schaftliche Wandel dafür eigentlich die Umso wichtiger ist die Fortexistenz der schaft focht als Demokratiewissen- Grundbedingung verbessert: nämlich bewährten Volksparteien. schaft gegen den überkommenen deut- eine noch weniger von klassischen Kon- schen Antiparteienaffekt an und wies flikten konfessioneller, ökonomischer, nach, dass eine moderne Demokratie ideologischer, regionaler oder gar eth- Exkurs: Die deutsche ohne die politischen Parteien nicht funk- nischer Art gespaltene, sondern eine Politikwissenschaft und der tionieren könne. Das sich entwickelnde homogenere Gesellschaft. Die Wieder- Parteienstaat Parteiensystem beurteilte man positiv, vereinigung hat diese Bedingung weiter wenn man als Maßstab die Überwin- akzentuiert, gab es doch in den neuen Im ers ten Jahr zehnt nach Gr ündung der dung des Weimarer Parteiensystems Bundesländern die traditionellen Wäh- Bundesrepublik Deutschland befassten mi t s e i n e n za h l re i ch e n, d a r u nt e r s t a r ke n lermilieus gar nicht mehr. sich die deutschen Sozialwissenschaft- extremistischen Parteien wählte. Die

158 VERLIEBT IN DIE KRISE? DIE VOLKSPARTEIEN UND DIE DEUTSCHE POLITIKWISSENSCHAFT

ebnete und dem parlamentarischen Re- gierungssystem die Normalität des Re- gierungswechsels eröffnete, stürzte die Parteienforschung allerdings in erhebli- che Irritationen. Am deutlichsten und als erster gab dem der Berliner Politologe Ekkehart Krip- pendorff Ausdruck in der viel gelesenen Zeitschrift „Der Monat“ im Januar 1962.14 Der Aufsatz hieß „Das Ende des Parteienstaates?“. Darin wurde die The- se aufgestellt, dass das Ende des Partei- enstaates kommt, „wenn die Oppositi- onspartei das jeweilige gesellschaftli- che und politische System nicht mehr prinzipiell in Frage zu stellen gewillt oder in der Lage ist“. Pessimistisch ende- te diese Argumentation damals freilich noch nicht. „Das Ende des Parteien- staats muss jedoch nicht notwendig das Ende politischer Freiheit überhaupt be- deuten, nur verlagert sich dann die po- litische Kontrolle in den Rahmen der re- gierenden Partei selbst.“ Die „große Ko- alition“ sei „im Grunde nichts anderes als eine Vorform des Einpartei-Staates“. Damit ist das zentrale Thema der deut- schen Parteienforschung der sechziger Jahre angesprochen: „Die Chance der Freiheit in einem nicht mehr in Frage ge- stellten Gesellschaftssystem liegt dann in der effektiven Verwirklichung inner- parteilicher Demokratie“.

Innerparteiliche Demokratie

Unabhängig von Krippendorffs Frage nach der Zukunft des Parteienstaats durch die Konzentration der Parteien in der Mitte, entwickelte sich das Thema der innerparteilichen Demokratie zum zentralen Gegenstand nicht nur der Orientierung der Parteien an der frei- blik einen rapiden Rückgang der Mit- Parteienforschung, sondern auch der heitlich-demokratisch verfassten Grund- gliederzahl verzeichnete. Die CDU war Parteien selbst, dies freilich mit Durch- ordnung und die Konzentration sowie eine Wählerpartei, aber keine Mitglie- schlagskraft erst im Gefolge der Bewe- Stabilität des Parteiensystems waren je- derpartei wie die SPD. gung von 1968. Aufbauen konnten die ne Faktoren, die am sichtbarsten die Damit hing ein weiterer Vorwurf eng zu- Vertreter der innerparteilichen Demo- These unterstrichen, dass Bonn nicht sammen, der gerade von bürgerlicher kratisierung auf der Parteienstaatstheo- Weimar sei.12 Seite gemacht wurde und den rie von Gerhard Leibholz, die dieser Politikwissenschaftliche Kritik richtete „Volkspartei“-Charakter der Union stark schon in den 1950er Jahren entwickelte sich auf linker Seite gegen die Domi- belastete. Was Konrad Adenauer als und als Bundesverfassungsrichter in die nanz der Christdemokraten, gegen die das ethische Band der CDU kennzeich- Rechtsprechung des Bundesverfas- Zementierung des Verhältnisses von Re- nete, wurde als kaum noch wirksam er- sungsgerichts einfließen lassen konnte. gierung und Opposition, die man für ei- kannt. So schreibt Paul Noack (1960): Danach war der moderne Parteienstaat nen sogenannten „restaurativ-großbür- „Das Ergebnis der schwachen Bindung „ein Surrogat der direkten Demokratie gerlichen Charakter Westdeutsch- an die Partei ist eine Stärkung der Inter- im modernen Flächenstaat“.15 Die Mit- lands“ verantwortlich machte. essenverbände (…)“– der „Verbände- wirkung der Aktivbürger sollte über die Allgemein kritisiert wurde die politische staat“.13 innerparteiliche Demokratie erfolgen. Lethargie der Deutschen, ihre Abnei- In den 1960er Jahren sah sich die Par- 1968 schieden sich die Geister. Die Re- gung, sich in Parteien zu engagieren. teienforschung in Deutschland mit dem Ideologisierung deutschen politischen Ganz besonders litt darunter die sich Wandel der SPD zur Volkspartei kon- Denkens, vor allem bei der studenti- als Volkspartei verstehende CDU, die ja frontiert. Die Godesberger Wende, die schen Jugend durch die Renaissance in den Anfangsjahren der Bundesrepu- der SPD den Weg zur Regierungspartei des Marxismus, setzte das gesamte Par-

159 teiensystem, wie es sich bislang entwi- schen der SPD und dem von ihr gestell- teien erneut bröckelte, beispielsweise ckelt hatte, auf den Prüfstand. Das, was ten Bundeskanzler bei. Für die CDU durch die zeitweisen Erfolge der Repub- sich die Union als neuartige Leistung hieß Demokratisierung zunächst Auf- likaner auf Länderebene. Eine gewisse der Nachkriegszeit anrechnete, näm- bau einer zur eigenen Willensbildung autoritativ-staatliche Weihe verlieh lich ihren Volksparteicharakter, und fähigen Parteistruktur. Dies geschah un- Bundespräsident Richard von Weizsä- Wolfgang Jäger Wolfgang was die SPD mühsam nachgeholt hatte, ter dem Parteivorsitz von Helmut Kohl cker der Kritik an den Volksparteien geriet jetzt allseits unter Beschuss. seit 1973.20 Die Demokratisierungsbe- durch seine Schelte in dem von Gunter Auf linker, neomarxistischer Seite lag mühungen innerhalb der SPD erschie- Hoffmann und Werner Perger heraus- der Schlüssel in einer Neuinterpretation nen in der Öffentlichkeit dagegen weit- gegebenen Interview-Band des Jahres der Gesellschaft. Die Klassenanalyse gehend als Rückfall in die Zeit vor dem 1992.23 offenbarte eine tiefe Kluft zwischen der Godesberger Programm, also in die Die Parteien ließen es an politischer „eigentlichen“ kapitalistischen Struktur Vor-Volkspartei-Zeit. Die Demokratisie- Führung fehlen. In den Worten Weizsä- der Gesellschaft und ihrer verschleiern- rungsanstrengungen der Union dage- ckers: Sie seien „machtversessen“ auf den Repräsentation auf der politischen gen präsentierten sich als Modernisie- den Wahlsieg und „machtvergessen Ebene durch die etablierten Parteien. rung einer Volkspartei. bei der Wahrnehmung der inhaltlichen Abhilfe aus dieser Sicht konnte nur eine und konzeptionellen politischen Füh- außerparlamentarische Systemopposi- rungsaufgabe“. Und: Die Parteien hät- tion schaffen, allenfalls eine als Hefe Die 1970er Jahre: Erfolg und ten ihre Einflussbereiche sowohl in die wirkende innerparteiliche Opposition Veränderungen institutionalisierte Staatlichkeit wie in der SPD, die sich des Instruments der auch in die Gesellschaft hinein weit innerparteilichen Demokratie bediente. Interessant sind die 1970er Jahre auch über ihre im Grundgesetz formulierten Die These von der Legitimationskrise aus einer anderen Perspektive. Das von Aufgaben hinaus ausgedehnt. des Parteiensystems hatte Hochkon- zwei Volksparteien und der FDP getra- Die Parteienforschung konnte den kriti- junktur.16 gene Parteiensystem erlebte nämlich sierten Wandel der Volkspartei mit dem Auch von konservativer und liberaler den Höhepunkt seines Erfolgs und zu- Begriff der „Kartellpartei“ (Katz/Mair) Seite ernteten die Volksparteien Kritik. gleich den Beginn seiner Veränderung. oder „Partei der Berufspolitiker“ bzw. Dass Kirchheimers Analyse der Volks- Die Bundestagswahl 1976 brachte nicht „Professionalisierte Wählerpartei“ (von partei als „Allerweltspartei“ im prinzipi- nur mit 90,7 Prozent eine fast so hohe Beyme) auf einen Nenner bringen.24 enverliebten Deutschland Beifall finden Wahlbeteiligung wie 1972, sondern Gemeinsam ist diesen Typen ein Defizit würde, war kaum zu erwarten. Zwar vereinigte 99,1 Prozent der Zweitstim- der Repräsentationsfunktion, dem vor wollte man nicht zu der Weimarer Welt- men auf die Bundestagsparteien CDU/ allem durch die demoskopische Sensi- anschauungspartei zurück, aber ohne CSU, SPD und FDP, davon 91,2 Prozent bilität der parteipolitischen Elite be- „große ideelle Maximen und Prinzipien auf die Volksparteien Union und SPD.21 gegnet wird. der Parteien“17 fühlte man sich auch Im Jahr darauf aber trat eine neue Par- nicht wohl. Nun liefen die Parteien Ge- tei ihren erfolgreichen Weg an, der sie fahr, „zu bloßen Syndikaten einer klein- schon 1980 in einem Flächenland (Ba- Unterschiedliche Bewertungen: lich pragmatischen Interessenvertre- den-Württemberg) in das Parlament zwischen Krise und Normalisierung tung zu werden“18 – so Wilhelm Hennis. führte mit 5,3 Prozent und 1983 in den Auf die Frage nach daraus zu ziehen- mit 5,6 Prozent der Stimmen: Demokratietheoretisch wird der Wan- den Schlussfolgerungen hatte Hennis Die Grünen. del der Parteien unterschiedlich bewer- keine Antwort, wenn man davon ab- Die Grünen gingen aus der seit Ende tet. Die Spanne reicht von heftiger Kritik sieht, dass die Parteien ihren Einfluss der 1960er Jahre aus dem Boden sprie- und Krisenalarm bis zur unaufgeregten beschränken sollten auf „den engeren ßenden Bürgerinitiativbewegung her- Einordnung in den Wandel der Partei- Bereich der staatlichen Herrschaftsor- vor, die von den Sozialwissenschaften funktionen. ganisation“ und darauf verzichten soll- wesentlich als Krise der etablierten Par- Ernst Fraenkel hatte schon Ende der ten, ihren Einfluss „in immer weitere Be- teien gedeutet wurde. So wird in einer 1950er Jahre in seiner berühmten Ab- reiche der Gesellschaft hinein“ zu er- politologischen Analyse von 1978 die handlung „Die repräsentative und die strecken. „grundsätzliche ideologische Konflikt- plebiszitäre Komponente im demokrati- Karl-Dietrich Bracher warnte in einer Bi- unfähigkeit der Parteien im Zeichen der schen Verfassungsstaat“ dargelegt, lanz des Parteiensystems 1970 eben- Volksparteiendemokratie“ an den Pran- dass der Bestand der Demokratie im falls vor einem „Maß an Institutionali- ger gestellt. Es gebe „immer weniger Staat von der „Pflege der Demokratie in sierung und Verstaatlichung der Partei- Unterscheidungs- und Wahlmöglichkei- den Parteien abhänge“.25 en (…), das dem Wesen und der Funkti- ten für den Bürger“. „Mit dem Auftreten Jene, die die Erosion der Volksparteien on der Partei als einem beweglich der Apo, mit den ersten breiten außer- mit Bedauern beobachten, versuchen offenen, freien Gebilde zwischen Staat parlamentarischen und außerparteili- denn auch, durch Parteireformen die in- und Gesellschaft widerspricht und den chen Regungen und Wallungen eines nerparteiliche Demokratie wiederzube- traditionellen Antiparteienaffekt wie- Teils der öffentlichen Meinung wurden leben und die Responsivität der Partei- derbelebt“. Bracher forderte, die Bin- auch die Zweifel lauter, ob der demons- eliten gegenüber den Wählern zu ver- nenstrukturen der Parteien stärker zu trative Ideologieverzicht, ob die wahl- bessern.26 demokratisieren.19 kosmetisch sorgsam gepflegte pro- Andere konstatieren zwar die Kartelli- Demokratisierung blieb ein wichtiges grammatische ‚Unzurechnungsfähig- sierung der politischen Eliten, sehen Stichwort für die 1970er Jahre. Die nicht keit‘ und die sozialstrukturelle Nicht-Fi- aber nach wie vor einen Wettbewerb nur theoretische, sondern auch prakti- xiertheit wirklich der Funktionslogik des innerhalb der politischen Klasse, der sche Kontroverse über das freie oder im- Parlamentarismus gemäße Tugenden die Repräsentationsfähigkeit der Partei- perative Mandat der Abgeordneten seien.“22 en erhält. Die Schöpfer des Begriffs der bzw. Parlamentsfraktionen beschäftig- Diese Kritik wurde in den folgenden Kartellparteien setzten auf die Selbst- te jahrelang die Politikwissenschaft und Jahren in immer neuen Variationen wie- erneuerungskräfte des Parteiensystems. unter den Parteien vor allem die SPD. derholt – insbesondere dann, wenn es Trotz der Abschottungsversuche und Sie trug wesentlich zur Spannung zwi- an den Rändern der großen Volkspar- Selbstbedienung der Kartellparteien

160 auf der staatlichen Ebene gelinge es ANMERKUNGEN VERLIEBT IN DIE KRISE? DIE neuen gesellschaftlichen Kräften, sich 1 Vgl. von Beyme, Klaus (2002): Funktionswan- VOLKSPARTEIEN UND als Parteien zu formieren, das Parteien- del der Parteien in der Entwicklung von der Mas- DIE DEUTSCHE POLITIKWISSENSCHAFT system neu zu gestalten und die Reprä- senmitgliederpartei zur Partei der Berufspolitiker. sentationsfunktion der Parteien wieder In: Gabriel, Oscar W./Niedermayer, Oskar/ Stöss, Richard (Hrsg.): Parteiendemokratie in 14 Krippendorff, Ekkehart (1960): Das Ende des neu zu beleben. Beispiele waren die Deutschland. 2. Aufl., Wiesbaden, S. 315–339 , Parteienstaates? In: Der Monat, Nr. 160/1960, Grünen und sind derzeit die Piraten.27 hier S. 315. S. 64–70. Die schärfsten Kritiker des derzeitigen 2 Katz, Richard S./Mair, Peter (1995): Changing 15 Zit. aus: Leibholz, Günter (1969): Repräsenta- Parteienstaats, die das Volk durch die Models of Party Organization and Party Demo- tiver Parlamentarismus und parteienstaatliche cracy. The Emergence of the Cartel Party. In: Par- Demokratie. In: Kluxen, Kurt (Hrsg.): Parlamenta- politische Klasse regelrecht entmündigt ty Politics, 1/1995, S. 5–28. rismus. Köln und Berlin, 2. Auflage, S. 348–360, sehen, fordern institutionelle Reformen 3 Vgl. Helms, Ludger (2001): Die „Kartellpartei“- S. 353ff. (Texte von 1951 bis 1965). wie die Änderung des Wahlrechtes, These und ihre Kritiker. In: Politische Vierteljahres- 16 Siehe etwa Ebbighausen, Rolf (1973): Legiti- plebiszitäre Verfahren, wie die Direkt- schrift, 4/2001, S. 698–708. mationskrise der Parteiendemokratie und For- schungssituation der Parteiensoziologie. In: Ditt- wahl des Bundespräsidenten oder der 4 Adenauer, Konrad (1965): Erinnerungen, Band 1: 1945–53. Stuttgart, S. 50ff. berner, Jürgen (Hrsg.): Parteiensystem in der Le- Ministerpräsidenten und die Einrich- 5 Kirchheimer, Otto (1965): Der Wandel des gitimationskrise. Studien und Materialien zur tung von Volksbegehren und Volksent- westeuropäischen Parteiensystems. In: Politische Soziologie der Parteien in der Bundesrepublik scheiden. Zudem bauen sie auf die Kon- Vierteljahresschrift, 1/1965, S. 20–41, hier S. 27. Deutschland. Opladen, S. 13–34. trollfunktion des Bundesverfassungsge- 6 Lösche, Peter (2009): Ende der Volksparteien. 17 Hennis, Wilhelm (1973): Aufgaben und Gren- In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 51/2009, zen der Parteien. In: Hennis, Wilhelm (Hrsg.): Die richts, obgleich dessen parteipolitische S. 6–11, hier S. 6f. missverstandene Demokratie. Demokratie – Ver- Besetzung ebenfalls misstrauisch be- 7 Jung, Helmut (2011): Die Volkspartei als Aus- fassung – Parlament. Studien zu deutschen Prob- äugt wird.28 laufmodell? Eine Analyse der Bundestagswahl lemen. Freiburg, S. 135–143, hier S. 141. Zusammenfassend lässt sich festhalten, 2009 in Deutschland und Bayern. In: Oberreuter, 18 Ebd. 19 Bracher, Karl Dieter (1970): Das Bonner Par- dass sich die deutsche Parteienfor- Heinrich (Hrsg.): Am Ende der Gewissheiten. Wähler, Parteien und Koalitionen in Bewegung. teiensystem. In: Bracher, Karl Dieter (Hrsg.): Nach schung im Verhältnis zur internationa- München, S. 325–348. 25 Jahren. Eine Deutschland-Bilanz. München, len Politikwissenschaft – von wenigen 8 Vgl. etwa Lösche (2009), S. 9f. S. 274f. Ausnahmen abgesehen – „normalisiert“ 9 Neu, Viola (2011): Perspektiven des Parteien- 20 Kleinmann, Hans-Otto (1993): Geschichte systems. In: Oberreuter, op. cit., S. 369–389, hier der CDU: 1945–1982. Stuttgart, S. 353–364. hat. Die „deutschen Vorbelastungen“ 21 Jäger, Wolfgang (1987): Die Innenpolitik der und der „Antiparteienaffekt“ sind weni- S. 380. 10 Manuskript o. J. sozial-liberalen Koalition 1974–1982. In: Jäger, ger spürbar. Die Parteien werden nicht 11 Vgl. dazu Deckert, Frank (2012): Populismus Wolfgang/Link, Werner (Hrsg.): Republik im nur in ihrer Interessenartikulations- und und der Gestaltwandel des Parteienwettbe- Wandel 1974–1982. Die Ära Schmidt, Geschichte Aggregationsfunktion oder gar als Bitt- werbs. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 2/2012, der Bundesrepublik Deutschland Band 5/2, her- ausgegeben von Bracher, Karl Dietrich et. al. steller der Gesellschaft vor den Toren S. 10–15. 12 Siehe hierzu Jäger, Wolfgang (Hrsg.) (1973): Stuttgart und Mannheim, S. 7–272, hier S. 49. des Staates gesehen, sondern auch in Partei und System. Eine kritische Einführung in die 22 Guggenberger, Bernd/Kempf, Udo (Hrsg.) ihrer Regierungsfunktion (party govern- Parteienforschung. Stuttgart, Berlin, u. a. (1978): Bürgerinitiativen und repräsentatives Sys- ment), also mit der Aufgabe, selbst die 13 Noack, Paul (1960): Deutschland von 1945 bis tem. Opladen, S. 12f. Führung des Staates in die Hand zu neh- 1960. Ein Abriss der Innen- und Außenpolitik. 23 Von Weizsäcker, Richard/Hofmann, Gunter/ München, S. 100f. Perger, Werner A. (1992): Richard von Weizsäcker men. Der Verfassungsrechtler Konrad im Gespräch mit Gunter Hofmann und Werner A. Hesse definierte schon 1959 in einer Perger. Frankfurt/M., S. 137ff. Zur Diskussion siehe Abhandlung über „die verfassungs- auch Hofmann, Gunter/Perger, Werner A. (Hrsg.) UNSER AUTOR UNSER rechtliche Stellung der politischen Par- (1992): Die Kontroverse. Weizsäckers Parteienkri- tik in der Diskussion. Frankfurt/M. teien“ ihre aktive Rolle, als Regierungs- 24 Katz/Mair (1995), zit. in Endnote 2; von Beyme partei oder Oppositionspartei „die auf (2002), zit. in Endnote 1. die politische Macht und ihre Ausübung 25 In: Fraenkel, Ernst (1964): Deutschland und gerichteten Meinungen, Interessen und die westlichen Demokratien. Stuttgart, S. 71–109, hier S. 108f. Bestrebungen hervorzubringen (…) 26 Vgl. etwa Mielke, Gerd (2009): Parteienkrise 29 (!)“. Erst recht gilt dies heute, da sich durch Parteieliten? Anmerkungen zur Diskussion die Volksparteien nicht mehr als Akti- über den Niedergang der deutschen Parteien. In: onsausschüsse von Sozialmilieus verste- Kaspar, Hanna/Schoen, Harald/Schumann, hen können. Eine solche Sicht setzt vor- Siegfried/Winkler, Jürgen R. (Hrsg.): Politik – Wis- senschaft – Medien. Festschrift für Jürgen W. Fal- aus, dass das Zweieinhalbparteien- ter zum 65. Geburtstag. Wiesbaden, S. 377–390. system nicht mehr gleichsam mit Verfas- Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Jä- 27 Katz/Mair (1995), zit. in Endnote 2, S. 23f. sungsrang versehen und sein Schwinden ger, geb. 1940, seit 1974 Professor für 28 Vgl. etwa von Arnim, Hans Herbert (2009): als Krise gedeutet wird. Die Etikettie- Wissenschaftliche Politik an der Univer- Volksparteien ohne Volk. Das Versagen der Poli- tik. München. Vgl. auch von Arnim, Hans Her- rung der aktuellen Situation als „fluides sität Freiburg. Rufe nach Köln, Tübingen bert/Heiny, Regina/Ittner, Steffan (2006): Politik Fünfparteiensystem“ bringt dies treffend und Mainz abgelehnt. Schwerpunkte in zwischen Norm und Wirklichkeit. Systemmängel zum Ausdruck.30 Auch die von Fraenkel Forschung und Lehre: Vergleichende im deutschen Parteienstaat aus demokratietheo- angesprochene thematische Debatte Regierungslehre, Parteienforschung, retischer Perspektive. Deutsches Forschungsinsti- über ein angemessenes Verhältnis von Medien und Politik, Geschichte und po- tut für öffentliche Verwaltung. Speyer. 29 Hesse, Konrad (1959): Die verfassungsrechtli- repräsentativen und plebiszitären Kom- litisches System der Bundesrepublik che Stellung der politischen Parteien. In: Ziebura, ponenten des demokratischen Regie- Deutschland, politisches System der Gilbert (1969): Beiträge zur allgemeinen Parteien- rungssystems sollte selbstverständlich USA. Regelmäßige publizistische Tätig- lehre. Zur Theorie, Typologie und Vergleichung sein, ja ist Teil des politischen Prozesses, keit. 1995 bis 2008 Rektor der Univer- politischer Parteien. Darmstadt, S. 124–173, hier S. 141. gleichsam Ausdruck einer nie endenden sität Freiburg. Seit 1988 Mitglied des 30 Niedermayer, Oskar (2011): Das deutsche Dynamik von checks and balances. Staatsgerichtshofs Baden-Württem- Parteiensystem nach der Bundestagswahl 2009. berg. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. In: Niedermayer, Oskar (Hrsg.): Die Parteien Verdienstmedaille des Landes Baden- nach der Bundestagswahl 2009. Wiesbaden, Württemberg, Bundesverdienstkreuz S. 7–35, hier S. 34. Erster Klasse und Ehrenbürgerschaft der Stadt Freiburg.

161 DIE SCHLICHTUNG AUS INSIDERSICHT Die Schlichtung zu Stuttgart 21 – Vorbild für eine neue Bürgerbeteiligung? Lothar Frick

sis herzustellen. Das ist zumindest für „Pendeldiplomatie“ und führt zunächst Vorrangiges Ziel der Schlichtung zu den unmittelbaren Nachgang des so getrennte Gespräche. Nach stunden- Stuttgart 21 war es, zwischen Befürwor- genannten „Schwarzen Donnerstags“ langen schwierigen Verhandlungen tern und Gegnern von S21 nach der Es- weitgehend gelungen. Der Konflikt um steht die so genannte „Friedenspflicht“: kalation im September 2010 wieder eine das Großprojekt war aber erst mit der Sämtliche Bauarbeiten werden ab Be- Gesprächsbasis herzustellen. Ziel der landesweiten Volksabstimmung im No- ginn der Schlichtungsgespräche am Schlichtung war kein Kompromiss zwi- vember 2011 entschieden. 22. Oktober 2010 eingestellt. Einzige schen Gegnern und Befürwortern. Viel- Meine Antwort lautet deshalb nein, weil Ausnahmen hiervon sind die Arbeiten mehr ging es um einen Abgleich der die Schlichtungsgespräche sehr viel am Gleisvorfeld des Hauptbahnhofs Fakten und zugleich um die sachliche stärker ein Bürgerinformationsprojekt und die Arbeiten am so genannten Information der Bürgerinnen und Bürger. als ein Bürgerbeteiligungsprojekt wa- „Grundwassermanagement“ zur Ver- Lothar Frick schildert aus der Sicht des ren. Beleg für diese Aussage ist die Tat- hinderung eines Vermischens des Insiders die unter immensem Zeitdruck sache, dass es im Rahmen der Schlich- Grundwassers mit dem Mineralwasser ablaufende Organisation des gesamten Verfahrens, die Rahmenbedingungen so- tung nichts zu entscheiden gab, auch unter Stuttgart, dem zweitgrößten Heil- wie den spannenden Verlauf und die den kein Kompromiss zu schließen war und wasseraufkommen in Europa. Schlichtungsgesprächen innewohnende sowohl auf Seiten der Befürworter als Weitere Bedingungen für die Schlich- Dynamik. Die Auseinandersetzung um auch der Gegner von S21 an der tungsgespräche werden zudem verein- das politisch brisante Thema Stuttgart 21 Schlichtung vor allem Parlamentarier bart, zum Teil von einer Arbeitsgruppe, verlief überaus sachlich und mündete oder in der Gremienarbeit sehr erfahre- die am Montag, 18. Oktober 2010, tagt: letztlich in einen von beiden Seiten ak- ne Persönlichkeiten vertreten waren und l Erste Bedingung: Parität. Beide Seiten zeptierten Schlichterspruch. Obwohl die eben nicht Bürgerinnen und Bürger als werden mit jeweils sieben Vertreterin- Schlichtung kein Vorbild für eine neue solche. nen und Vertretern an den Schlich- Form der Bürgerbeteiligung sein kann, Dennoch kann man aus den Erfahrun- tungsgesprächen teilnehmen. Jeder lassen sich dennoch Schlüsse aus dem gen der Schlichtung heraus einiges Seite ist es erlaubt, zu den Beratungen Verfahren ziehen. Die Schlichtung kann ableiten, wie Bürgerbeteiligung künftig bis zu sieben Expertinnen und Experten durchaus als Modell gesehen werden für besser gelingen kann. sowie bis zu drei Mitarbeiterinnen und die Versachlichung von (Groß-)Konflik- Mitarbeiter hinzuzuziehen. ten und für eine gelingende Bürgerbetei- l Zweite Bedingung: Dialog auf Augen- ligung, die den „Dialog auf Augenhöhe“ Ein Rückblick auf den Beginn der höhe, nach dem Motto „alle an einen in einem ergebnisoffenen Prozess ernst Schlichtungsgespräche Tisch, alles auf den Tisch“. Die Projekt- nimmt. I gegner erhalten die Zusage, auf Kos- Am Freitag, 15. Oktober 2010, findet die ten des Landes in Abstimmung mit dem alles entscheidende Gesprächsrunde Schlichter kleinere Gutachten und Ex- zwischen je sieben Vertretern der Geg- pertisen anfertigen zu lassen. Zudem Vorbild für eine neue ner und der Befürworter von Stuttgart 21 wird ihnen umfassender Zugang zu al- Bürgerbeteiligung? statt. Der Erwartungsdruck und das Me- len Projektunterlagen zugebilligt, so- dieninteresse sind immens, die Erfolgs- fern diese nicht Geschäftsgeheimnisse War die Schlichtung zu Stuttgart 21 Vor- aussichten werden nach wie vor eher der Bahn AG enthalten. Mit der Prü- bild für eine neue Bürgerbeteiligung? skeptisch eingeschätzt. fung der Kostenrechnung der Bahn AG Meine Antwort darauf lautet: Nein. Mit Abstand heikelstes Thema des Ge- soll eine unabhängige Wirtschaftsprü- Sie lautet deshalb nein, weil die Stutt- sprächs ist die Forderung der Projekt- fungsgesellschaft beauftragt werden. garter Schlichtungsgespräche vor al- gegner nach einem vollständigen und l Dritte Bedingung: Öffentlichkeit und lem eine Feuerwehraktion waren, nach- sofortigen Baustopp; für Landesregie- Transparenz. Sämtliche Gesprächs- dem bei der Demonstration am 30. Sep- rung und Bahn ist diese Forderung nicht runden sollen im Fernsehen und im In- tember 2010 die Gewalt eskaliert war akzeptabel. Es besteht zwar auf beiden ternet live übertragen werden, zudem und erstmals in der Stuttgarter Ge- Seiten Interesse am Zustandekommen soll auf eine für jedermann zugängli- schichte Wasserwerfer zum Einsatz ge- der Schlichtung, da eine weitere Eskala- che Großleinwand übertragen wer- kommen waren. Es gab über 140 ver- tion der Auseinandersetzungen um den den. Von allen Sitzungen sollen steno- letzte Demonstranten und einige Dut- Bahnhof beiderseits als politisch schäd- graphische Protokolle angefertigt wer- zend verletzte Polizisten. Das Bild des lich angesehen wird. Aber ein Kompro- den. Jede Sitzung soll ein Thema be- schwer an den Augen verletzten Diet- miss zeichnet sich zunächst nicht ab. handeln. Der Ablauf wird von einer rich Wagner ging um die ganze Welt. Immer wieder macht Heiner Geißler kleinen Arbeitsgruppe unter Leitung Die politische Atmosphäre in der Stadt Vorschläge, immer wieder muss Bahn- des Schlichters festgelegt, bei der bei- war ex t rem polar isie r t, ge radez u ve rgif- vorstand Volker Kefer mit seinem Pro- de Seiten paritätisch vertreten sein tet. Die Schlichtung hatte vor diesem jektleiter Hany Azer telefonieren, um müssen. Der Ablauf der Schlichtung ist Hintergrund vorrangig die Aufgabe, die abzuklären, welche Forderungen erfüllt im Internet vollständig dokumentiert Situation zu beruhigen und zwischen werden können. (Schlichtung-S21.de). den Befürwortern und Gegnern von Beide Seiten ziehen sich zu getrennten l Vierte Bedingung: Fixe Dauer. Die Stuttgart 21 wieder eine Gesprächsba- Beratungen zurück. Geißler übt sich in Schlichtungsgespräche beginnen am

162 22. Oktober und müssen bis Ende No- Am Dienstag erhalten wir im Laufe des DIE SCHLICHTUNG ZU STUTTGART 21 – vember abgeschlossen sein. Dann en- Tages PCs und spätnachmittags ein VORBILD FÜR EINE NEUE det auch die Friedenspflicht. Faxgerät. Wir müssen uns im Schnell- BÜRGERBETEILIGUNG? l Fünfte Bedingung: „Faktencheck“ – Ziel gang an alles gewöhnen: neue Soft- der Schlichtung ist kein Kompromiss ware, andere Geräte und Bedienungs- zwischen Gegnern und Befürwortern, anleitungen, Ansprechpartner im Land- an, die Schlichtung live zu übertragen. sondern ein Abgleich der Fakten. Am tag und so weiter. Ein geordnetes und Aufwändiges Herumtelefonieren wird Ende der Schlichtung sollen Empfeh- strukturiertes Arbeiten ist zunächst völ- damit unnötig, es muss nur noch geklärt lungen des Schlichters stehen, in wel- lig unmöglich, da wir hunderte Anrufe werden, wer die Federführung über- cher Form ist lange unklar. von Journalisten erhalten, die wissen nimmt. wollen, wie die weitere Planung für die Was sind unsere wichtigsten Aufgaben, Schlichtungsgespräche ist. Richtig ar- vor allem in den ersten Tagen? Die ersten Tage im Schlichterbüro beitsfähig sind wir erst ab dem späten l Die Organisation der Termine inklusive Dienstagnachmittag. Wir haben netto der Räume, Sitzordnungen, Namens- Das eiligst eingerichtete Schlichterbüro weniger als zweieinhalb Tage Zeit, das schilder, Aufgabenverteilung zwischen besteht aus Heiner Geißler, seiner per- erste Schlichtungsgespräch zu organi- Stadt und Schlichterbüro und anderem sönlichen Mitarbeiterin Rita Pudelko, sieren – Ablauf, Fernsehübertragung, mehr. mir als Büroleiter und meiner Mitarbei- Presseinformation, Ausstattung der Ta- l Die ständige Kommunikation mit den terin Ulrike Hirsch aus der Landeszent- gungssäle, Versorgung, Technik. Ein Live-Übertragungsmedien. Was ge- rale für politische Bildung Baden-Würt- schier unmögliches Unterfangen. schieht wann? Wann geht es los? Wer temberg im Sekretariat. Unsere Räum- Aber wir haben Glück: Der Stuttgarter nimmt teil? Wo sollen die Ü-Wagen lichkeiten befinden sich im Verwal- Oberbürgermeister stehen? tungstrakt im Haus der Abgeordneten hat das Rathaus als Tagungsort für die l Die Gewinnung der Stenographen. des Landtags von Baden-Württemberg. gesamten Schlichtungsgespräche an- Dazu muss man wissen: In Deutschland Wir beginnen am Montag, 18. Oktober geboten. Obwohl er S21-Befürworter gibt es nur 150 professionelle Steno- 2010, mit unserer Arbeit. An diesem ist, gilt das Rathaus als „neutraler graphen, davon sind 120 beim Bundes- Montag haben wir außer Telefonen und Grund“. Etwas Besseres hätte uns nicht tag und in den Landtagen beschäftigt; der notwendigsten Büroausstattung passieren können, denn im innen neu re- 30 arbeiten freiberuflich und sind be- nichts an Arbeitsmitteln zur Verfügung. novierten Rathaus ist alles Notwendige stens ausgelastet. Ohne den Chef des in modernster Ausführung vorhanden. Stenographischen Protokolls im Land- Und vor allem: Ohne die professionelle tag, Herrn Grünert, der in dieser beruf- Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitar- lichen Szene bestens vernetzt ist, wäre Heiner Geißler (CDU), der Vermittler im beiter der Stadtverwaltung und des es niemals gelungen, für jedes Schlich- Streit zwischen den Gegnern und Befür- Landtags wäre die Schlichtung organi- tungsgespräch ganz kurzfristig zwei wortern des umstrittenen Bahnprojekts satorisch nicht zu bewältigen gewesen. Profis zu gewinnen. Stuttgart 21, verkündet im Rathaus von Und wir haben nochmals Glück: Die l Die Organisation unseres Büros, der Stuttgart den Beginn von Schlichtungsge- Fernsehsender Phoenix und SWR bieten Aufgabenverteilung und eines Bud- sprächen. picture alliance/dpa

163 gets. Letzteres war von Ministerpräsi- l Die ständige Kommunikation zu allen fürworter haben sich geeinigt, dass der dent Stefan Mappus zugesagt, der Einzelfragen mit Projektgegnern und Ministerialdirektor des Landesumwelt- Landtag muss es beantragen, das Fi- Projektbefürwortern ist der Hauptin- ministeriums, Bernhard Bauer, die Koor-

Lothar Frick Lothar nanzministerium muss es bewilligen. halt unserer Arbeit. Dazu gehören dinierung der S21-Befürworter über- Wir fangen mit 100 Euro aus meinem auch die Kontrolle, soweit möglich, der nehmen soll. Auf Seiten der S21-Gegner Geldbeutel an, die ich dem Land ge- Einhaltung der vereinbarten Spielre- sollen Werner Wölfle und die Landes- liehen habe, damit wir Briefmarken geln, und im Bedarfsfall deren Ände- vorsitzende des BUND, Brigitte Dahl- und ein paar Büromaterialien kaufen rung und Weiterentwicklung. bender, im Wechsel die Koordinie- können. Das Land Baden-Württem- Ich habe am Freitagabend des 22. Ok- rungsfunktion ausüben. berg hat selbstverständlich alles bis tober 2010 die anstrengendste Arbeits- Der erste Schlichtungstermin ist etwas auf den letzten Cent zurückbezahlt. woche meines Lebens hinter mir. Alles, holprig gelaufen. Aller Anfang ist l Die Information der Presse. Unsere In- aber auch wirklich alles, wird erst auf schwer! Ich einige mich mit meinen bei- formationen kommen zwar in der Re- den allerletzten Drücker fertig. Am An- den Ansprechpartnern auf erste Korrek- gel sehr spät, aber sie sind zu 100 Pro- fang hatten wir gar nichts: Keinen Plan, turen im Ablauf und Prozedere. Werner zent korrekt – auf uns muss absoluter keine Organisation, keine Struktur in Wölfle und sein Mitarbeiter Gerd Hick- Verlass sein. Das ist strikte Geschäfts- den Abläufen und der Zusammenarbeit mann arbeiten ein Papier mit einigen politik, von der nicht abgewichen wird. im Schlichterbüro, kein Budget, keinen Vorschlägen zur Struktur der Schlich- l Die Sicherstellung des Unterlagenaus- Internetauftritt. Alles musste sprichwört- tungsgespräche aus, das von den tauschs. Dazu gab es immer wieder lich und ad hoc der Reihe nach aus dem S 21-Befürwortern ebenfalls akzeptiert Meinungsverschiedenheiten, die in Boden gestampft werden. Das Vorran- wird. Wichtigste Änderung ist die Ver- der Regel vom Schlichter zugunsten gige und Nachrangige hat sich ange- einbarung, jeder Seite eine feste Rede- der S21-Gegner entschieden wurden. sichts der knappen Zeit von selbst ge- zeit für Vorträge und Präsentationen l Das Ausfindigmachen geeigneter ordnet. zuzugestehen, 20 Minuten zu Haupt- Wirtschaftsprüfungsgesellschaften. themen, zehn Minuten zu Nebenthe- Dies sollten zunächst die Befürworter men. Nicht immer haben sich alle daran und Gegner übernehmen, aber es gab Erste Korrekturen – und endlich eine gehalten. Grundsätzlich sollen vor al- keine Einigung. Am Schluss wurden es Struktur len Diskussionen Einführungsvorträge auf dem Weg des Kompromisses dann stehen, auch zum Nutzen der Verständ- drei Prüfungsgesellschaften. Ein paar Tage nach dem ersten Schlich- lichkeit für die Zuschauer. Heiner Geiß- l Die Organisation eines Internetauf- tungsgespräch haben wir endlich auf ler vereinbart zudem mit beiden Partei- tritts zur Schlichtung. beiden Seiten Ansprechpartner: Die Be- en, dass die hinzugezogenen Experten

Die Befürworter haben sich geei- nigt, dass der Mi- nisterialdirektor des Landesum- weltministeriums, Bernhard Bauer (rechts), die Koor- dinierung der S21-Befürworter übernehmen soll. Auf Seiten der S21-Gegner sol- len Werner Wölf- le (links) und die Landesvorsitzen- de des BUND, Brigitte Dahlben- der, im Wechsel die Koordinie- rungsfunktion ausüben. picture alliance/dpa

164 kein eigenes Wortmeldungsrecht mehr sierten Bürgerbewegung ohne feste DIE SCHLICHTUNG ZU STUTTGART 21 – haben sollen, sondern von den Ge- Führung und hierarchisch aufgebauten VORBILD FÜR EINE NEUE sprächsleitern der jeweiligen Seite auf- Institutionen der Politik und der Wirt- BÜRGERBETEILIGUNG? gerufen werden müssen. Endlich haben schaft mit festgefügten Abläufen, klar wir eine Struktur. geordneten Zuständigkeiten und Che- Die Arbeitsteilung im Büro habe ich finnen und Chefs mit unumstrittenem aber im weiteren Verlauf der Schlich- schon in den Tagen zuvor mit Heiner Entscheidungsrecht. Nicht, dass das tungsgespräche geändert. Geißler vereinbaren können. Medien- neu wäre – das hautnahe Erlebnis die- Die vermeintlichen Vorteile der großen anfragen laufen grundsätzlich und aus- ser Auseinandersetzung im Rahmen ei- Apparate gegenüber dem teilweise eh- schließlich über Rita Pudelko, seine nes vorher nicht dagewesenen Prozes- renamtlich arbeitenden bürgerschaftli- langjährige Mitarbeiterin, abgesehen ses war das Entscheidende. Ich denke chen Netzwerk waren keine. Die S21- von Anfragen zur Organisation der auch, dass dies der wichtigste Grund Gegner haben übersehen, dass die Schlichtung. Mein Job ist die organisa- für das unglaublich große öffentliche großen Apparate schon mit den laufen- torische und, so weit es geht, inhaltliche Interesse, auch für das Medieninteresse den Aufgaben, die erledigt werden Vorbereitung der Sitzungen sowie der gewesen ist. müssen, gut ausgelastet sind; unsere ständige Kontakt und Informationsaus- Die S21-Gegner haben den Schlich- Ministerien und Verwaltungen sind tausch mit den Schlichtungsparteien. tungsprozess von Anfang an positiv auf- nach jahrelangem Personalabbau in- Frau Hirsch unterstützt mich dabei und genommen und als Chance verstanden, zwischen so knapp besetzt, dass nur macht zudem Telefondienst. aus der „Protestler-Ecke“ herauszukom- ganz geringe Reservekapazitäten, zu- Es folgen sechs lange und überaus hek- men und ihre Positionen für eine breite mal für einen aufwändigen Prozess wie tische Arbeitswochen, auf die hier nicht Öffentlichkeit nachvollziehbar darzu- die Schlichtung um Stuttgart 21, beste- näher eingegangen werden soll. Neun stellen. Sie hatten zwar die ganze Zeit hen. Bei der Bahn AG mag es anders Sitzungen, fast 90 Stunden Live-Über- die Befürchtung, gegenüber den gro- sein, das weiß ich nicht. Aber ich habe tragung. ßen Apparaten der S21-Befürworter als es den Kolleginnen und Kollegen von Am Dienstag, 30. November 2010, fin- in vielen Fällen ehrenamtlich Arbeiten- der „Arbeitsebene“ häufig anmerken det die letzte Schlichtungsrunde statt. de im Nachteil zu sein, aber das war können, dass sie am Rand ihrer Leis- Die beiden Parteien erklären und be- meiner Meinung nach ein Trugschluss. tungsfähigkeit waren. Die Bemerkung gründen in Schlussplädoyers nochmals Die S21-Gegner waren für die Schlich- „Ich habe auch noch anderes zu tun“ ihre Position. Danach sollten halbstün- tung mindestens so gut organisiert und habe ich nicht nur einmal gehört. Die dige Gespräche mit beiden Seiten zum aufgestellt wie die S21-Befürworter. Sie Geschwindigkeit, die im Rahmen der Schlichterspruch erfolgen. Aber es ent- waren immer gut vorbereitet und haben Vorbereitung der Schlichtungsgesprä- wickelt sich wie bei der Sondierung am sich bei den jeweiligen Schlichtungsge- che gefordert war, hat den Apparaten 15. Oktober nochmals eine hoch span- sprächen auf die Hauptbotschaften auch aufgezeigt, dass in höchst eiligen nende Debatte hinter den Kulissen. konzentriert, die sie unter die Leute brin- Prozessen der Dienstweg vom Referent Geißlers „Pendeldiplomatie“ ist einmal gen wollten. über den Referatsleiter, den Abteilungs- mehr gefragt. Am Ende setzt sich der Sie haben ebenso eine professionelle leiter und den Amtschef, vielleicht noch Vorschlag Boris Palmers durch, S21 ei- Medienarbeit gemacht, was sich zum den Staatssekretär hinauf zur Ministerin nem „Stresstest“ zu unterziehen: Die Beispiel darin zeigte, dass sie zu Beginn nicht die angemessene Vorgehenswei- Bahn muss nachvollziehbar nachwei- der Schlichtungsrunden – ab etwa der se ist. sen, dass der geplante Tiefbahnhof im dritten oder vierten Sitzung – den an- Man darf meiner Meinung nach im Vergleich zum heutigen Kopfbahnhof in wesenden Journalisten jeweils USB- Nachgang der Schlichtung nicht der den Verkehrsspitzenzeiten mindestens Sticks mit allen Vorträgen des Tages Versuchung erliegen, es habe sich hier 30 Prozent mehr Kapazität hat. Das hät- und weiteren Informationen zur Verfü- um einen Konflikt zwischen der reprä- te eigentlich von uns kommen müssen. gung gestellt haben. Im hinteren Be- sentativen und parlamentarischen De- Aber wir waren zu wenig Leute: Wir hät- reich des Sitzungssaals hatten sie Be- mokratie und einer bürgerschaftlichen ten gut noch jemanden brauchen kön- obachter und Mitarbeiter, die in die Ge- Bewegung aus der vielbeschworenen nen, der sich stärker um das Inhaltliche spräche hinein Rückmeldungen gaben, Zivilgesellschaft gehandelt. Das wäre kümmert. Hinweise darauf, wie es aus ihrer Sicht zu einfach. In der Hektik passiert noch eine Panne, läuft, die zudem Argumente für die Dis- Zunächst einmal muss dazu festgestellt der Text des Schlichterspruchs wird kussionen von außen geliefert haben. werden, dass es sich bei den S21-Geg- „verrissen“; wahrscheinlich ist der USB- Einige der Experten und Mitarbeiter nern um alles andere als eine fest ge- Stick mit dem Text zu schnell aus dem PC waren dauernd im Internet und am fügte Gemeinschaft mit klaren gemein- gezogen worden. Es fehlen auch mehre- Schreiben und Empfangen von Mails. samen Zielen handelt. Das einzige wirk- re Sätze, die Frau Pudelko, ich habe es Das Wichtigste an Erkenntnissen wurde lich einende Band ist die gemeinsame mit eigenen Augen gesehen, eingetippt aus der hinteren Reihe dann an die Gegnerschaft zum Bahnhofsprojekt hatte. Keiner hat’s gemerkt, Gott sei Wortführer in der vorderen Reihe wei- Stuttgart 21. Darüber hinaus gibt es kei- Dank. tergegeben. Zudem konnten sie auf den ne Verbindlichkeit der Positionen und Sachverstand der im Hintergrund agie- der Verantwortlichkeiten, die personel- renden Netzwerke und ehrenamtlich le Bandbreite nur der Schlichtungsteil- Vernetzte Bürgerbewegung versus engagierten Fachleute zurückgreifen. nehmer reichte vom früheren PDS-Lan- hierarchische Institutionen Die vermeintlichen oder tatsächlichen desgeschäftsführer Gangolf Stocker bis Vorteile der großen Apparate haben sie zum überzeugten Katholiken, lang- Die für mich mit Abstand interessanteste dadurch ausgleichen können. jährigen Parlamentarier und damaligen Erfahrung – in politischer Hinsicht und Die S21-Befürworter haben sich mit dem Ministerpräsidentenkandidaten Win- mit Blick auf die politische Bildung – war Schlichtungsprozess zunächst schwer- fried Kretschmann, der inzwischen die hautnahe Beobachtung einer wich- getan und ihre Schwierigkeiten damit baden-württembergischer Regierungs- tigen Auseinandersetzung um ein poli- gehabt, in zuvor nicht gekannter Weise chef ist. tisch hochbrisantes Thema zwischen ei- für Positionen und Entscheidungen auf Zudem fällt auf, dass die Vertreterinnen ner in vielfältigen Netzwerken organi- dem Prüfstand zu stehen. Das hat sich und Vertreter der S21-Gegner und des

165 dahinter stehenden bürgerschaftlichen an den Übertragungstagen einen bis zu kaufen oder senden wir unsere Bot- Netzwerks erfahrene Leute in Sachen vierfach höheren Marktanteil. Wir be- schaft am besten oder erfolgverspre- parlamentarische Demokratie und Gre- kamen als Schlichterbüro mehr Medien- chendsten?“ auszubauen. Dieses Zeit-

Lothar Frick Lothar mienarbeit sind. Winfried Kretschmann anfragen als wir überhaupt beantwor- alter ist vorbei. Bürgerrechtsbewegun- und Werner Wölfle sind Landtagsab- ten konnten. gen, gesellschaftliche Gruppen und geordnete, war im Landtag Es gibt eine bundesweite Riesendiskus- viele Einzelbürger haben sich in dieser und ist Oberbürgermeister von Tübin- sion um das Thema Bürgerbeteiligung, Hinsicht emanzipiert und sind dafür gen, Peter Conradi war lange Jahre die im Nachgang der Schlichtung noch nicht mehr empfänglich. Sie verlan- SPD-Bundestagsabgeordneter, Gan- weiter angeschwollen ist. Auch das gen, einbezogen und gefragt zu wer- golf Stocker und Hannes Rockenbauch wissenschaftliche Interesse an den The- den. Dafür müssen geeignete Verfah- sind Stadträte der SÖS (Stuttgart Öko- men Bürgerbeteiligung, Stuttgart 21 und ren entwickelt werden. Der Versuch, logisch Sozial – Parteifreies Bündnis) in Schlichtung ist sehr groß. Die Forschung Medien und Stimmungen zentral zu Stuttgart, Brigitte Dahlbender als Lan- wird sicher neue, interessante Resultate steuern, ist in der Regel zum Scheitern desvorsitzende des BUND und Klaus bringen. Mit Gisela Erler ist inzwischen verurteilt. Es wird wichtiger, Stimmun- Arnoldi als stellvertretender Bundesvor- sogar eine ehrenamtliche Staatsrätin gen und Meinungen aufzunehmen und sitzender der Verkehrsclubs Deutsch- für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteili- Transparenz der Entscheidungen her- land sind aus zahlreichen Anhörungen gung mit Stimmrecht im Landeskabinett. zustellen. Wer dies versäumt, läuft gro- und Gesprächen mit Abgeordneten vie- ße Gefahr, dass die Transparenz von ler Parlamente gremienerfahren und anderer Seite hergestellt wird, im kennen die politischen Entscheidungs- Was man aus dem schlimmsten Fall über „Wikileaks“. abläufe in Deutschland und Baden- Schlichtungsverfahren und dem l Die Politik (das gilt auch für Interessen- Württemberg aus dem Effeff. Die Ver- Konflikt um Stuttgart 21 lernen kann verbände und Bürgerinitiativen) nimmt treter der Zivilgesellschaft sind wie die sich zu wenig Zeit zum Nachdenken Schlichtungsteilnehmer der Pro-Stutt- Was kann man aus dem Schlichtungs- und Planen. Heraus kommen zu oft we- gart 21-Seite allesamt politische Profis verfahren zu Stuttgart 21 lernen? Hierzu nig stringente Entscheidungen, die im – ein Zufall ist das wohl nicht. möchte ich einige Thesen in den Raum Einzelfall berechtigt sein mögen, aber Vor dem Hintergrund der Tatsache, stellen. Sie sind rein subjektiv. in der Gesamtschau und -bewertung dass sowohl Schlichtung wie auch l Die Bedeutung des Internets, der neu- nicht mehr zusammenpassen. Refor- Schlichterspruch keinerlei rechtliche en sozialen Medien und anderer neu- men werden so zu bloßen Änderun- Bindungskraft hatten und haben, halte er, schneller Kommunikationsformen gen, die die Menschen nicht mehr ein- ich im Übrigen die These, mit der für die Planung, Kommunikation, Ent- ordnen können und deshalb eher als Schlichtung seien vorausgegangene scheidungsverfahren und Ergebnisse lästig denn als vorteilhaft empfinden. parlamentarische Verfahren entwertet von Politik und (politischer) Bildung Die Politik wird in einem solchen Rah- oder relativiert worden, für unzutref- muss als sehr hoch eingeschätzt wer- men auch viel anfälliger für Lobbyis- fend und falsch. den und dabei in wesentlich höherem mus und Klienteldenken. Generalisten Die Schlichtung war vielmehr sichtbare Maße einbezogen werden. Die sollten gegenüber den Fachpolitikern Folge dessen, was in den bisher gelten- Schlichtung war ein Beispiel dafür, wie wieder mehr Einfluss bekommen. Es ist den Verfahren an Defiziten vorhanden es gehen könnte, aber zu einem viel zu wichtiger, den ganzen Wald im Zu- ist: Sie dauern zu lange, die Informatio- späten Zeitpunkt. sammenhang zu kennen als nur einzel- nen fließen auf veralteten Kanälen, die l Deshalb kann die Stuttgarter Schlich- ne Bäume ganz besonders gut. Bürgerbeteiligung ist unzureichend und tung zwar als Prototyp für künftige Ver- l Die Parteien und etablierten politi- kommt zu spät. Insbesondere auf kom- fahren angesehen werden, aber sie ist schen Institutionen werden über eine munaler Ebene gibt es viele Beispiele keine Blaupause. Vielleicht war sie so- Veränderung ihrer Strukturen und Ent- dafür, wie man es besser und bürger- gar ein einmaliges Unternehmen, aus scheidungsabläufe nachdenken müs- freundlicher machen kann. dem aber Konsequenzen dafür abge- sen. Das ist nicht allein ein Ergebnis leitet werden können, wie große ge- des Schlichtungsprozesses, sondern sellschaftliche Konflikte künftig früher des leider beobachtbaren Auseinan- Die Auswirkungen der Schlichtung in friedlichere Bahnen gelenkt werden derdriftens zwischen Zivilgesellschaft können. und parlamentarischer Demokratie. Die Schlichtung hat insgesamt zu einer l Die Bedeutung von Beschleunigung, Regionalproporz, Ortsvereine oder Versachlichung der Debatte um Stutt- Schnelllebigkeit, Kurzfristigkeit und Stadtverbände als erster Ansprech- gart 21 beigetragen; dies wird nahezu Last-Minute-Entscheidungen für politi- partner der Bürgerinnen und Bürger übereinstimmend festgestellt. Den Kon- sche Prozesse wird weithin unter- auch abseits der Kommunalpolitik, Ver- flikt hat sie aber nicht entscheiden kön- schätzt. Die Fehlerfreundlichkeit politi- einigungen für gesellschaftliche Ziel- nen, dies gelang erst mit der Volksab- scher Entscheidungen wird davon gruppen, die es so gar nicht mehr gibt, stimmung im November 2011. nicht unterstützt. Die Politik muss auch Internetbeauftragte zur Pflege der ei- Zu einer Mäßigung der radikalen Pro- Verfahren entwickeln, die wieder mehr genen Homepage und für sonst nichts jektgegner hat die Schlichtung nicht ge- Planbarkeit ermöglichen, auch wenn – das ist zunehmend anachronistisch. führt, aber dies war realistischerweise dies zum Teil in bewusstem Gegensatz Die Stichworte für die Zukunft lauten: auch nicht zu erwarten. Allerdings wer- zu den eben erwähnten Phänomenen kleine Steuerungsgruppe für Grund- den die gemäßigten S21-Gegner nicht geschehen muss. Die Kommunikations- satzbeschlüsse, Kompetenzteams für mehr vorwiegend als „Protestler“ wahr- und vor allem Planungsebenen in den Organisation, Veranstaltungen, Finan- genommen, und etliche von ihnen tra- Ministerien, Parteizentralen und sons- zen, Kommunikation, und klare Aufga- gen inzwischen sogar Regierungsver- tigen wichtigen Einrichtungen sollten benverteilung. antwortung in Baden-Württemberg. wieder gestärkt werden. l Die Bedeutung der Finanzkrise auf die Das öffentliche Interesse an der Schlich- l Es wäre aber ein grundlegendes Miss- politischen Einstellungen der Men- tung war unerwartet groß. Phoenix er- verständnis, dies zu tun, um die immer schen wird meiner Ansicht nach nicht zielte mit seinen Live-Übertragungen noch gepflegte Einbahnstraßenkom- nur hier bei uns, sondern weltweit ge- zum Teil Rekordquoten, der SWR hatte munikation nach dem Motto „Wie ver- waltig unterschätzt. Ihr Veränderungs-

166 potential ist höher als das der Terror- nisationen, wenn überhaupt, nicht DIE SCHLICHTUNG ZU STUTTGART 21 – anschläge des 11. September 2001. mehr viel nachstehen. VORBILD FÜR EINE NEUE Das Misstrauen in die so genannte l Das Riesenproblem der unglaublichen BÜRGERBETEILIGUNG? „politische Klasse“ ist seit längerem Kurzfristigkeit, unter dem die Schlich- groß, und das Misstrauen in die wirt- tung stattfinden musste, ist vor allem schaftlichen Eliten ist dramatisch ge- aus diesem Grund nicht zum Nachteil Bürgerbeteiligung und die Information stiegen. Das Vertrauen in die Markt- geworden. Es gab nie Berichte über der Bevölkerung einzuplanen. Kommu- wirtschaft ist seit der Banken- und Fi- „Pleiten, Pech und Pannen“; das hätte nikation kostet Geld, gerade auch vor nanzkrise fast ganz weg. Auch diese ich so in der Geschwindigkeit des ge- dem Hintergrund der immer weiter zu- Faktoren haben in Stuttgart eine nicht samten Prozesses für nicht möglich ge- nehmenden Medienvielfalt, und sie zu unterschätzende Rolle gespielt, halten. Allerdings muss ich hinzufügen, bedarf einer sorgfältigen Planung, Stichwort „Lügenpack“. Dieser Ruf ist dass es bei vielen Beteiligten dafür mehr denn je. eine unzulässige und falsche Verallge- notwendig war, an die Grenzen des l Der meines Erachtens wichtigste Faktor meinerung, gibt aber die Stimmung technisch, körperlich und psychisch für gelingende Bürgerbeteiligung ist vieler Menschen wieder. Machbaren zu gehen. der frühzeitige „Dialog auf Augenhö- l Ich bin im Verlauf der Schlichtungswo- l Es braucht nicht immer einen Medien- he“ in einem ergebnisoffenen Prozess. chen von hunderten Menschen an- profi wie Heiner Geißler mit immenser Die Menschen sind auch im Zuge der gesprochen worden. Viele dieser Men- politischer Erfahrung. Aber wenn in Auseinandersetzungen um Stuttgart 21 schen haben zu mir gesagt: „Das ge- Bürgerbeteiligungsprojekten ein Mo- sensibler dafür geworden, ob sie ernst fällt mir, dass da endlich mal einer den derator, ein Mediator oder ein Schlich- genommen werden oder nicht. Es gibt Leuten im Fernsehen sagt, das sie so ter gefragt ist, dann sollte es jemand Amtsträger, die mit Bürgerbeteiligung reden sollen, dass ich es auch verste- sein, der sein Metier beherrscht, reden ihre Probleme haben, und auch dafür he“. Heiner Geißler hatte während kann, vermitteln kann und vor allem gibt es Gründe. Bürgerbeteiligung ist der Schlichtungsrunden darauf be- glaubwürdig ist. Das darf man sich nicht einfach, und oft spielen sich Men- standen, dass verständliches Deutsch auch Geld kosten lassen, denn nicht schen in den Vordergrund, denen es gesprochen wird. Warum – wie in der jeder arbeitet wie Heiner Geißler bei vorrangig um eigene Interessen oder Schlichtung geschehen – von „Über- der Schlichtung rein ehrenamtlich. ihre Selbstdarstellung geht. Wer mit werfungsbauwerken“ reden, wenn l Kein Großprojekt sollte künftig ange- Bürgerbeteiligung grundsätzliche Pro- man schlicht und einfach „Brücke“ sa- gangen werden, ohne in dessen Finan- bleme hat, der sollte seine Finger da- gen kann? Fachchinesisch ist von zierung ausreichende Mittel für die von lassen. Gute Zusammenarbeit zum gestern, Fremdworte werden meist Beispiel mit einem Gemeinderatsgre- nicht verstanden, Kunstbegriffe wie mium tut es sehr oft auch, zumindest, „Hartz IV“ oder „Europäische Finanz- wenn man sie richtig und für die Men-

stabilisierungs-Fazilität“ verwirren nur. AUTOR UNSER schen nachvollziehbar kommuniziert. Und Denglisch oder Anglizismen sind Im Großen und Ganzen funktioniert völlig daneben. 50 Prozent der deut- unsere parlamentarische Demokratie schen Bevölkerung, das ist belegt, ver- trotz verschiedener Defizite und stehen so gut wie kein Wort Englisch. mancherlei Skandalen gar nicht so Aber sie werden überfrachtet mit Ang- schlecht. lizismen vom „Coffee to go“ am Bahn- l Bürgerbeteiligung setzt den sachlich hof bis hin zu Slogans wie „A better und politisch informierten Menschen way to fly“, was von der Hälfte der voraus, den „mündigen Bürger“, wie Leute als „Abetterwaitoflie“ gelesen man mittlerweile etwas altmodisch ge- wird. Das ist im Übrigen auch eine worden sagt. Hier kommt die politische Form der Ausgrenzung, die unsere Ge- Bildung ins Spiel. Deren „Kerngeschäft“ sellschaft zusätzlich und vollkommen Lothar Frick ist seit 2004 Direktor der ist nichts anderes, als die Menschen für unnötig spaltet. Landesszentrale für politische Bildung Beteiligung zu qualifizieren – und zwar l Es ist fraglich, ob unsere komplexen Baden-Württemberg. Von Mitte Okto- sowohl in methodischer wie in inhaltli- Verfahren zur Entscheidungsfindung, ber bis Mitte Dezember 2010 leitete er cher Hinsicht. Sie müssen wissen, wor- unsere vielen Regelungen und der gro- im Rahmen einer Abordnung zum Land- um es bei einer Sache geht, wie Politik ße Mediendruck überhaupt noch men- tag von Baden-Württemberg das Büro und Beteiligung funktionieren und wie schengemäß sind. Es gibt sicher leis- des Schlichters zu Stuttgart 21, Dr. Hei- sie sich sinnvoll und im Interesse des tungsfähige und weniger leistungsfä- ner Geißler, und war in diesem Zusam- Gemeinwesens einbringen können. hige Menschen, aber Übermenschen menhang vor allem mit der Organisati- Deshalb bieten sich Einrichtungen der gibt es nicht, nirgends. Jetzt kommt das on der Schlichtungsgespräche befasst. politischen Bildung als Partner für Bür- Aber: Es war für mich eine der interes- Lothar Frick hatte bereits in den Jahren gerbeteiligungsprojekte geradezu an. santesten Beobachtungen in dem 1988 bis 1995 in verschiedenen Funk- Staatlich finanzierte politische Bil- Schlichtungsprozess, wie hochprofes- tionen für Heiner Geißler gearbeitet, dungseinrichtungen sind zudem der sionell die beteiligten Einrichtungen, u. a. als Leiter seines Büros als stellver- Überparteilichkeit verpflichtet und ha- Organisationen und Institutionen ge- tretender Vorsitzender der CDU/CSU- ben die Aufgabe, das, was in der Ge- arbeitet und zusammengearbeitet ha- Bundestagsfraktion. 1995 bis 2004 sellschaft kontrovers diskutiert wird, ben, insbesondere unter dem vorhan- war er im Staatsministerium Baden- auch so darzustellen. Es bleibt zu hof- denen immensen Zeitdruck und der Württemberg in der Abteilung Grund- fen, dass mit dem gestiegenen Wunsch permanenten Beobachtung. Das gilt satz und Planung tätig. Lothar Frick hat nach mehr Beteiligung auch die politi- für Medien, Politik, Ehrenamtliche und an der Universität Heidelberg und sche Bildung auf der Prioritätenskala Verwaltungen gleichermaßen. Die Effi- der University of Southern California der politischen Entscheidungsträger zienz, die öffentliche Einrichtungen in- in Los Angeles Politische Wissenschaft, wieder weiter nach oben rutscht. zwischen erreicht haben, dürfte der Soziologie und Volkswirtschaftslehre von privaten Unternehmen und Orga- studiert.

167 WELCHE FAKTOREN BESTIMMTEN DAS ABSTIMMUNGSVERHALTEN? Die Volksabstimmung zu Stuttgart 21: Zwischen parteipolitischer Polarisierung und „Spätzlegraben“ Uwe Wagschal auch ein Katalysator für den Macht- ten für mehr Volksentscheide ausspra- Die politisch und juristisch umstrittene wechsel hin zu einer grün-roten Landes- chen. Das Abebben der Proteste nach Volksabstimmung über Stuttgart 21 war regierung 2011. der Volksabstimmung, bei der immerhin eine wichtige Weichenstellung. Uwe Der Wahlerfolg der Grünen und der 58,9 Prozent der Abstimmungsberech- Wagschal skizziert eingangs die jahr- Machtwechsel 2011 sind vor allem der tigten gegen den Ausstieg des Landes zehntelange Vorgeschichte des Infra- Mobilisierung um das Projekt Stutt- aus der Finanzierung für Stuttgart 21 vo- strukturprojekts und geht sodann der gart 21 sowie der Reaktion der Bevölke- tierten, zeigt außerdem deutlich die Frage nach, welche Bevölkerungsgrup- rung auf die Atomkatastrophe von Fuku- Ventilfunktion dieses Instrumentes. pen für Stuttgart 21 votierten und welche shima zuzuschreiben. Hinzu kamen die Das Infrastrukturprojekt Stuttgart 21 be- dagegen. Der Vergleich der 44 Stimm- Vorgänge um den Rückkauf von Aktien sitzt eine jahrzehntelange Vorgeschich- kreise sowie die Analyse der individuel- des Energieversorgers EnBW sowie ei- te (vgl. Tabelle 1), war jedoch bis 2010 len Präferenzen zeigen, dass die partei- ne bis dahin in Umfragen nie gemesse- ein regionales Projekt ohne große über- politische Differenz der entscheidende ne Unbeliebtheit eines amtierenden Mi- regionale Aufmerksamkeit, bevor es im Erklärungsfaktor ist. Die CDU und ihre nisterpräsidenten. Entsprechend des Gefolge gewalttätiger Proteste, harter Wähler sind die wichtige Gruppe der Koalitionsvertrages, in dem sich die Polizeieinsätze und Massendemonstra- Befürworter, die Grünen und deren Wäh- neue Landesregierung für mehr direkte tionen sogar international große Auf- ler hingegen machen den Kern der Op- Demokratie und Bürgerbeteiligung aus- merksamkeit fand. In Deutschland wur- position zu Stuttgart 21 aus. Die Wahl- präferenz für die SPD zeigt dagegen gesprochen hatte, wurde das Projekt de im Zuge der Stuttgart 21-Demonstra- keinen Einfluss. Des Weiteren ist die Stuttgart 21 im November 2011 dem tionen sogar ein neuer „homo politicus“ räumliche Distanz eine bedeutende Vari- Volk zur Abstimmung vorgelegt. Mit identifiziert: der Wutbürger. Dirk Kurb- able: Mithin lässt sich ein „Spätzle- dem Mehr an direkter Demokratie ent- juweit, der Wortschöpfer, definiert die- graben“ zwischen Baden und Württem- sprach die Regierung den Wünschen sen folgendermaßen: „Der Wutbürger berg ausmachen. Badener lehnten der Bevölkerung. Dieses verstärkte Be- buht, schreit, hasst. Er ist konservativ, Stuttgart 21 in besonderem Maße ab. dürfnis zeigt sich in einer repräsentati- wohlhabend und nicht mehr jung. Frü- Die Volksabstimmung spiegelt im Übri- ven Umfrage der Universität Freiburg her war er staatstragend, jetzt ist er zu- gen einen generellen Trend wider: Rund (Wagschal/Finkbeiner 2011), in der sich tiefst empört über die Politiker. Er zeigt 77 Prozent aller Baden-Württemberger 2011 77,7 Prozent aller Wahlberechtig- sich bei Veranstaltungen mit Thilo Sar- wünschen sich – quer durch alle Parteien – mehr direktdemokratische Mitsprache. ITabelle 1: Die Entwicklung des Verkehrsprojektes Stuttgart 21 im Zeitablauf

Jahr Ereignis Verschiedene Vorschläge zur Umgestaltung des Stuttgarter Haupt- Die lange Vorgeschichte von 1985 ff. Stuttgart 21 bahnhofs werden evaluiert und öffentlich diskutiert 1994 Vorstellung des Projektes in Grundzügen Die Geschichte Baden-Württembergs ist ohne Volksabstimmungen nicht denk- 1995 Machbarkeitsstudie (18 Bände) bar. Eine erstaunliche Aussage – sind doch die Bundesländer in Deutschland 1999 Das Projekt gerät wegen Finanzierungsfragen ins Stocken weitestgehend als parlamentarisch-re- Der Aufsichtsrat der Deutschen Bahn genehmigt das Projekt und die präsentative Systeme verfasst, ganz im 2001 Eröffnung des Planfeststellungsverfahrens Gegensatz etwa zu den Schweizer Kantonen, in welchen zentrale Fragen 2006 Der Landtag nimmt den Antrag zur Realisierung von S21 an durch direktdemokratische Verfahren 2007 Ablehnung eines kommunalen Bürgerbegehrens in Stuttgart zu S21 geregelt werden. Dennoch trifft der ein- gangs formulierte Satz insofern zu, als 2009 Finale Finanzierungsvereinbarung zwischen den Projektbeteiligten zwei der wichtigsten Weichenstellun- gen in der baden-württembergischen 2010 Baubeginn des Bahnhofs Geschichte durch Volksabstimmungen 2010 Schlichtungsgespräche unter der Leitung Heiner Geißlers entschieden wurden: Die Gründung des Der Landtag lehnt einen Antrag der SPD für eine Volksabstimmung „Südweststaates“ aus den drei Bundes- 2010 ländern Baden, Württemberg-Hohen- über S21 ab zollern sowie Württemberg-Baden als Volksabstimmung nach Artikel 60 (3) über den Ausstieg des Landes auch die Volksabstimmung über das 2011 abgelehnt Bahnprojekt Stuttgart 21, das nicht nur Inbetriebnahme des neuen Bahnhofs geplant ein Infrastrukturprojekt war, sondern 2020

168 razin und bei Demonstrationen gegen Der Weg zu dieser Volksabstimmung DIE VOLKSABSTIMMUNG ZU das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21“ (Kur- war politisch und juristisch hoch umstrit- STUTTGART 21: ZWISCHEN bjuweit 2010, S. 26). Die empirische So- ten. Die politische Konfliktlinie verlief PARTEIPOLITISCHER POLARISIERUNG zialforschung hat jedoch in Befragun- dabei nicht nur zwischen grün-roter Re- UND „SPÄTZLEGRABEN“ gen der S21-Demonstranten schnell mit gierung und Opposition, sondern sorg- diesem Mythos aufgeräumt: Lediglich te ebenfalls für Spaltungen innerhalb neun Prozent wählten bei der letzten der Regierung. Führende Protagonisten die jeweilige andere Position und sind Bundestagswahl die CDU, 49 Prozent der S21-Gegner kamen etwa aus Rei- sich einig im Bestreben, den Streit um stimmten hingegen für die Grünen und hen der SPD, wie etwa die BUND-Vor- Stuttgart 21 zu befrieden und die Spal- bei der kommenden Wahl würden so- sitzende Brigitte Dahlbender. So hieß tung in der Gesellschaft zu überwin- gar 75 Prozent die Grünen wählen es im Koalitionsver trag (Bündnis 90/Die den. Dazu befürworten beide Parteien (Baumgarten 2011, S. 2). Die Sozial- Grünen; SPD 2011): „Die Auseinander- die Durchführung einer Volksabstim- struktur der Demonstranten ist mitnich- setzung um Stuttgart 21 spaltet unser mung: Die Bürgerinnen und Bürger sol- ten vom konservativen Milieu geprägt, Land. Auch beide Koalitionsparteien len entscheiden.“ sondern vielmehr von Aktivisten ge- vertreten unterschiedliche Meinungen Die juristische Auseinandersetzung kennzeichnet, die mit hohem Bildungs- zu diesem Projekt. Bündnis 90/Die Grü- wurde in verschiedenen Gutachten abschluss bereits zahlreiche Protester- nen lehnen Stuttgart 21 ab, die SPD will deutlich, die sich für (Hermes/Wieland fahrungen in der Vergangenheit haben es realisieren. Die neue Landesregie- 2010) oder gegen die Möglichkeit einer (Rucht u. a. 2010). Die Frage, die dieser rung steht trotz des Dissenses über Volksabstimmung aussprachen (Dolde/ Beitrag beantworten möchte, ist daher, Stuttgart 21 zur Neubaustrecke Wend- Porsch 2010; Kirchhof 2010). Zwar be- welche Bevölkerungsgruppen für Stutt- lingen-Ulm. Beide Parteien respektieren trafen die Gutachten, die die Verfas- gart 21 votierten und welche dagegen.

Abbildung 1: Ergebnisse der Volksabstimmung zum Ausstiegsgesetz am Die Volksabstimmung über 27. November 2011 Stuttgart 21 Endgültige Ergebnisse der Volksabstimmung am 27.11.2011*) Entgegen der Auffassung der meisten Anteil der Ja-Stimmen an den gültigen Stimmen Abstimmenden war die Volksabstim- in den Stadt- und Landkreisen Baden-Württembergs mung am 27. November 2011 keine Stimmenanteile in % Entscheidung über die Beendigung des unter 35,0 Infrastrukturprojektes Stuttgart 21. Ge- 35,0 bis unter 41,0 naugenommen wurde lediglich über 41,0 bis unter 50,0 Main- 50,0 und mehr Tauber- den Ausstieg des Landes Baden-Würt- Mann- Neckar- Kreis heim Odenwald- temberg aus der Finanzierung des Pro- Heidel- Kreis jektes abgestimmt, was in dem (schwer Land: 41,1 berg Rhein- verständlichen) Fragetext deutlich wur- Neckar- Kreis LKR Hohenlohekreis de: „Stimmen Sie der Gesetzesvorlage Heilbronn ‚Gesetz über die Ausübung von Kündi- LKR Heil- gungsrechten bei den vertraglichen Ver- Karlsruhe bronn Schwäbisch Hall einbarungen für das Bahnprojekt Stutt- Karlsruhe gart 21 (S 21-Kündigungsgesetz)‘ zu?“ Enzkreis Ludwigsburg Ein „Ja“ zu dieser Frage bedeutete ein Pforz- Rems-Murr- Rastatt Ostalbkreis Votum gegen das Bahnprojekt, während heim Kreis ein „Nein“ die Zustimmung bedeutete. Baden- Stuttgart Diese „Drehung“ des Bedeutungsinhal- Baden Calw tes der Frage sorgte für Verwirrung wäh- Böblingen Esslingen Göppingen Heidenheim rend des Abstimmungskampfes und er- forderte von Seiten der Gegner und Be- Freudenstadt Tübingen fürworter erhebliche Aufklärungsarbeit. Ortenaukreis Alb- Reutlingen Donau- Das Ausstiegsgesetz betraf den Finan- Kreis Ulm zierungsanteil des Landes, der bei 930 Millionen Euro bei einem Gesamtvolu- Rottweil Zollernalbkreis men von 4,5 Milliarden Euro lag. Ein we- Emmendingen sentlicher Streitpunkt in der Auseinan- Biberach Schwarzwald- Sigmaringen dersetzung lag zudem bei den Aus- Freiburg Baar- Tuttlingen stiegskosten, die in der Informations- i. Br. Kreis broschüre des Landes von den Gegnern Breisgau-Hochschwarzwald mit 350 Millionen Euro und von den Be- Ravensburg fürwortern mit 1,522 Milliarden Euro Konstanz Lörrach Bodensee- beziffert wurden. Nicht einberechnet in Waldshut kreis diese Kosten waren jedoch weitere po- Bo de ns sitive und negative Opportunitätskos- ee ten des Projektes, wie etwa mehr Ar- beitsplätze, mehr Wohnraum in den neu *) Volksabstimmung über die Gesetzesvorlage »Gesetz über die Ausübung von Kündigungsrechten bei den vertraglichen Vereinbarungen für das Bahnprojekt Stuttgart 21 (S 21-Kündigungsgesetz)«. gewonnenen Flächen in Stuttgart, weni- ger Verkehr auf den Straßen, schnellere © Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, Stuttgart 2012 Vervielfältigung und Verbreitung mit Quellenangabe gestattet. 24-24-12-08A Kommerzielle Nutzung bzw. Verbreitung über elektronische © Kartengrundlage GfK GeoMarketing GmbH Verbindungen, aber auch ein höheres Systeme bedarf vorheriger Zustimmung. Karte erstellt mit RegioGraph Risiko für das Grundwasser.

169 sungsmäßigkeit der Initiative der SPD stimmenden sprachen sich für die Ge- le Verkehrsanbindung, positiv ist. Im für eine Volksabstimmung über Stutt- setzesvorlage und damit für den Aus- Hinblick auf die Raumvariablen und das gart 21 überprüfen sollten, noch einen stieg aus Stuttgart 21 aus. Lediglich in NIMBY-Phänomen können unterschied- SPD-Antrag aus der vorangegangenen sieben von 44 Stimmkreisen (= Stadt- liche Hypothesen formuliert werden: Da

Uwe Wagschal Uwe Legislaturperiode, doch wurde auch und Landkreise) des Landes erhielten der Nutzen im Großraum Stuttgart be- bereits in diesen Gutachten der 2011 die Gegner von Stuttgart 21 eine Mehr- sonders hoch ist (u. a. auch durch lang- gewählte Weg über Artikel 60 (3) der heit und diese lagen alle im badischen fristig mehr Wohnraum und vermehrter Landesverfassung dort diskutiert. Die- Landesteil (vgl. Abbildung 1): die Stadt- Parkfläche), wird die Zustimmung zu S21 ser Artikel („Wenn ein Drittel der Mit- kreise Freiburg, Heidelberg, Mannheim, in diesen Bezirken höher sein. Gilt das glieder des Landtags es beantragt, Karlsruhe sowie die Landkreise Emmen- NIMBY-Phänomen, dann müsste die Ab- kann die Regierung eine von ihr einge- dingen, Lörrach sowie Breisgau-Hoch- lehnung in Stuttgart dagegen beson- brachte, aber vom Landtag abgelehnte schwarzwald. Dadurch verfehlten die ders hoch sein. Zudem könnte die alte Gesetzesvorlage zur Volksabstimmung S21-Gegner nicht nur die Mehrheit, son- landsmannschaftliche Konkurrenz eine bringen.“) sah vor, dass bei einem Dis- dern auch das zur Verabschiedung der R o l l e g e s p i e l t h a b e n, s o d a s s d i e A b l e h - sens zwischen Landesregierung und Gesetzesvorlage in der Landesverfas- nung in Baden ausgeprägter wäre als in Parlament die finale Entscheidung über sung vorgesehene Quorum von mindes- Württemberg. So war ein wichtiges Ar- ein Gesetz beim Volk liegen kann. Die tens einem Drittel der Stimmberechtig- gument die Finanzierungskonkurrenz Position der SPD, die sich selbst als ver- ten auf Landesebene (insgesamt nur zwischen der Rheintalbahn in Baden mittelnder Akteur verstand, wird in der 19,8 Prozent der Stimmberechtigten). und S21. Begründung für den Antrag der SPD- Insgesamt wurde jedoch in beiden Lan- Die Daten stützen die Ergebnisse für die Fraktion des Landtags an die Landesre- desteilen eine Mehrheit zugunsten von Distanz, also die Zurückweisung der gierung zur Vorlage eines Gesetzent- Stuttgart 21 erzielt. NIMBY-These: Insgesamt besteht eine wurfes zu einer Volksabstimmung vom mittelstarke statistische Beziehung (die 8. September 2010 deutlich (Landtags- Korrelation beträgt r = 0,37) zwischen drucksache 14/6896, S. 2): „[D]ie Be- Parteipräferenz und „Spätzlegraben“ der Entfernung des Stimmkreises nach schlüsse und die Verträge sowie die be- als wichtigste Erklärungsfaktoren Stuttgart und dem Ja-Stimmenanteil, gonnenen Arbeiten sind nach bestem d. h. je weiter entfernt von Stuttgart, Wissen und Gewissen mit den notwen- Im Folgenden sollen zunächst in einem desto größer die Ablehnung von Stutt- digen Mehrheiten gefasst worden und Vergleich der 44 Stimmkreise die Fakto- gart 21. Das gilt auch, wenn man sich somit ausreichend demokratisch legiti- ren identifiziert werden, die einen signi- nur die durchschnittlichen Ja-Stimmen- miert. Gleichwohl muss festgestellt wer- fikanten Einfluss auf die Höhe des Ja- anteile im Großraum Stuttgart betrach- den, dass die bisherige Legitimations- Stimmenanteils für das Ausstiegsgesetz tet: Diese liegen rund zweieinhalb Pro- grundlage nicht ausreicht, um die zu- gehabt haben. Hierzu wurden politi- zentpunkte unter denen anderer Stimm- nehmende Zahl der Kritiker zu überzeu- sche, ökonomische, gesellschaftliche kreise, d. h. die Zustimmung zu Stutt- gen.” und raumgeographische Faktoren erho- gart 21 war gerade im Großraum Die Kritiker einer Volksabstimmung ben, deren statistischer Zusammenhang Stuttgart größer. Auch besteht ein star- (Dolde/Porsch 2010; Kirchhof 2010; vgl. mit dem Ja-Stimmenanteil zum Aus- ker statistischer Zusammenhang zwi- auch Landtagsdrucksache 14/6896, stiegsgesetz (= „Nein“ zu Stuttgart 21) schen einem Stimmkreis in Baden (ge- S. 4ff.) führten vor allem folgende Grün- untersucht werden, wobei die Theorien messen über die historische Zugehörig- de ins Feld: der Wahlforschung als auch Hypothe- keit zum Großherzogtum Baden) und l Eine mangelnde gesetzgeberische sen aus der polit-ökonomischen Direkt- dem Ja-Stimmenanteil (rpbis = 0,68). Kompetenz des Landes im Bereich der demokratieforschung das Analyseras- Auch liegt hier der Ja-Stimmenanteil Bahn. ter vorgeben. knapp 13 Prozentpunkte höher als im l Die in Artikel 60 Absatz 3 der Landes- Da die Analyseeinheit der Kreise relativ (alt-)württembergischen Teil des Lan- verfassung von Baden-Württemberg hoch aggregiert ist, sind etwa räumli- des. Dies spricht für die Existenz eines formulierten Voraussetzungen, also che Variablen, wie die Distanz, die Zu- „Spätzlegrabens“, der eine deutliche die Konfliktlage zwischen Landtags- gehörigkeit zum Großraum Stuttgart und markante Unterschiedlichkeit im mehrheit und Landesregierung, liege oder zu Baden bzw. Württemberg ver- Stimmverhalten beider Landesteile mar- nicht vor. gleichsweise grobe Messungen. Hinter kiert: Badener lehnten in besonderem l Es gelte der Haushaltsvorbehalt für diesen Variablen steht die Vorstellung, Maße Stuttgart 21 ab. Ähnliche regio- Volksabstimmungen gemäß Artikel 60 dass die Kosten und Nutzen für Infra- nale Unterschiede sind auch aus der Absatz 6 der Landesverfassung von strukturprojekte unterschiedlich ausfal- Schweiz zwischen den französisch Baden-Württemberg. len. So ist die Vermutung plausibel, dass sprechenden Westschweizern sowie l Ein Vertrag der Exekutive kann nicht regionale Vorhaben mit (vermeintlich) den Deutschschweizern bekannt („Rös- durch Gesetz aufgehoben werden negativen externen Effekten, z. B. Flug- tigraben“). Dort sind sie vor allem auf (Rückwirkungs- und Folgerichtigkeits- häfen, Autobahnen, Mülldeponien, kulturelle Differenzen und unterschiedli- verbot). Atomkraftwerke, Kindergärten, stärker che politische Einstellungen zurückzu- Der Landtag lehnte im Oktober 2010 abgelehnt werden als Maßnahmen mit führen. den SPD-Antrag mit Regierungsmehr- positiven externen Effekten (z. B. Thea- Aufgrund der markanten parteipoliti- heit ab. Jedoch wurde knapp ein Jahr ter, Solaranlagen). Dies wird in der Lite- schen Polarisierung ist zu erwarten, später mit der Gesetzesvorlage des ratur als NIMBY-Verhalten (Akronym für dass in Landkreisen mit einem hohen S21-Kündigungsgesetzes vom 28. Sep- „not in my back yard“ = Nicht in meinem CDU-Wähleranteil die Befürwortung tember 2011 genau dieser Weg dann Garten) bezeichnet (Vatter/Heidelberg von Stuttgart 21 besonders stark aus- wieder beschritten. 2012). Allerdings können auch bei of- fällt, während in Hochburgen der Grü- Das Ergebnis der Volksabstimmung am fensichtlich großen negativen externen nen die Gegnerschaft zu S21 (und damit 27. November 2011 war eindeutig: Mit Effekten eines Projektes hohe Zustim- der Ja-Stimmenanteil) hochgradig aus- 58,9 Prozent der abgegebenen gülti- mungsraten in Abstimmungen erzielt geprägt ist. Für die SPD werden keine gen Stimmen wurde das Ausstiegsge- werden, wenn die individuelle Kosten- signifikanten Effekte erwartet, da einer- setz abgelehnt, nur 41,1 Prozent der Ab- Nutzen-Bilanz, etwa durch eine schnel- seits die Parteiführung das Projekt be-

170 fürwortet, andererseits zahlreiche loka- gering beeinflusst. Pendler und Auto- DIE VOLKSABSTIMMUNG ZU le Parteiorganisationen das Projekt ab- fahrer müssten das Projekt aus verschie- STUTTGART 21: ZWISCHEN lehnen und sich ebenfalls auf beiden denen Gründen eher begrüßen, da sie PARTEIPOLITISCHER POLARISIERUNG Seiten SPD-Mitglieder stark engagier- einerseits schneller ans Ziel kämen und UND „SPÄTZLEGRABEN“ ten. So haben zahlreiche Untersuchun- die Verbindungen besser wären bzw. gen zur Schweiz gezeigt, dass im Ab- die Straßen entlasteter. Dies konnte je- stimmungskampf die parteipolitischen doch nicht belegt werden. Allerdings Hinblick auf sozioökonomische Ein- Abstimmungsparolen und damit die gibt es einen schwachen statistischen flussfaktoren haben vergangene Analy- parteipolitische Differenz die erklä- Zusammenhang mit der Fahrtzeitverkür- sen gezeigt, dass Arbeitslosigkeit und rungsstärksten Faktoren sind. Ähnliches zung nach Stuttgart (Hauptbahnhof niedrige Wirtschaftskraft eher zugun- gilt auch für die Volksabstimmung zu und Flughafen) und dem Ja-Stimmenan- sten eines Fortbestandes des Status quo Stuttgart 21 (vgl. auch Tabelle 2): So teil: Je größer die erwartete Fahrzeit- wirken. Je größer die Arbeitslosigkeit korreliert der CDU-Stimmenanteil bei verkürzung, desto niedriger der Ja- und je niedriger das Wohlstandsni- der Landtagswahl 2011 sehr stark ne- Stimmenanteil. veau, desto stärker müsste die Ableh- gativ mit dem Ja-Stimmenanteil zu S21 (r Ältere Stimmbürger, so die These des nung von S21 sein. Für die Schweiz zeigt = -0,845), während der Grünen-Stim- Status-quo-Bias (Obinger/Wagschal sich in Abstimmungen ein deutlicher menanteil bei der Landtagswahl 2011 2000), tendieren für eine Beibehaltung Stadt-Land-Unterschied bei gewissen sehr stark positiv mit der Zustimmung des aktuellen Zustandes. Die Vermu- Abstimmungsgegenständen, wie etwa zum Ausstiegsgesetz zusammenhängt tung ist daher: Je größer das Durch- der internationalen Integration der (r = 0,812). schnittsalter des Stimmkreises, desto Schweiz, aber auch bei Infrastruktur- Ökonomische Überlegungen haben eher wird S21 abgelehnt. Dies hielt je- projekten. Dabei stimmen urbanere Ge- dagegen die Stimmabgabe zu S21 nur doch der Überprüfung nicht stand. Im biete eher gegen Infrastrukturprojekte,

Tabelle 2: Der Zusammenhang zwischen CDU-Stimmenanteil (Landtagswahl 2011) und dem Ja-Stimmenanteil zum Ausstiegsgesetz von Stuttgart 21 (in Prozent)

Stadt- bzw. Ja-Stimmenanteil Stimmenanteil der Stadt- bzw. Ja-Stimmenanteil Stimmenanteil der Landkreis für das Ausstiegs- CDU in der Land- Landkreis für das Ausstiegs- CDU in der Land- gesetz zu S21 tagswahl 2011 gesetz zu S21 tagswahl 2011 Stuttgart (Stadt) 47,1 31,5 Calw 32,4 44,0 Böblingen 35,5 40,1 Enzkreis 36,8 41,0 Esslingen 39,5 38,3 Freudenstadt 31,6 45,8 Göppingen 37,0 39,7 Freiburg (Stadt) 66,5 21,5 Ludwigsburg 38,3 37,4 Breisgau-Hoch- 51,5 34,4 schwarzwald Rems-Murr 36,5 38,9 Emmendingen 55,9 32,4 Heilbronn (Stadt) 41,3 36,4 Ortenaukreis 44,0 42,8 Heilbronn (Land) 36,5 40,6 Rottweil 35,0 45,9 Hohenlohekreis 35,8 41,5 Schwarzwald-Baar 41,3 42,9 Schwäbisch Hall 43,2 35,6 Tuttlingen 31,7 47,1 Main-Tauber-Kreis 37,4 47,7 Konstanz 49,8 36,3 Heidenheim 34,4 37,8 Lörrach 53,6 31,9 Ostalbkreis 31,9 45,2 Waldshut 44,2 42,0 Baden-Baden 46,4 39,7 Reutlingen 37,3 40,4 (Stadt)

Karlsruhe (Stadt) 53,6 30,7 Tübingen 47,8 32,6 Karlsruhe (Land) 42,0 41,9 Zollernalbkreis 33,1 46,1 Rastatt 44,9 40,7 Ulm (Stadt) 30,4 35,4 Heidelberg (Stadt) 58,0 28,0 Alb-Donau-Kreis 23,0 49,4 Mannheim (Stadt) 57,2 27,9 Biberach 24,5 51,2 Neckar-Odenwald 35,8 48,4 Bodenseekreis 42,5 39,1 Rhein-Neckar 48,6 36,8 Ravensburg 39,6 45,5 Pforzheim (Stadt) 40,9 44,8 Sigmaringen 32,5 50,2

171 wobei die Ablehnung in Universitäts- über mehr Aufschluss, weil erstens die Bahnhof zwar die Ablehnung hoch ist, standorten aufgrund des starken An- wenigsten sozialen und politischen aber in der Tendenz die Ablehnung von teils der Grünen besonders hoch ist. Phänomene monokausal erklärbar sind S21 sinkt, je weiter die Gemeinde vom Betrachtet man zunächst nur die bivari- und weil zweitens einzelne Einflussfak- Stuttgarter Bahnhof entfernt ist. Die

Uwe Wagschal Uwe aten Korrelationen der rund 40 unter- toren zusammen mit anderen, womög- höchste Zustimmung findet sich an der suchten Variablen auf Stimmkreisebe- lich konkurrierenden Einflüssen in einem Stadtgrenze von Stuttgart (Vatter/Hei- ne, so weisen folgende weitere Größen Mehrvariablen-Modell auf ihren jewei- delberger 2012, S. 15). Erst bei größerer (neben den bereits genannten) einen ligen Einfluss geprüft werden können. Ent fe r nung s teigt w iede r die A blehnung bedeutenden Zusammenhang mit dem Auf diesem Weg können Effekte unter- von S21. Ja-Stimmenanteil in der Volksabstim- schiedlicher Variablen kontrolliert so- mung auf: wie kausale Zusammenhänge eher auf- l Der Anteil der Einfamilienhäuser an gedeckt und plausibel gemacht wer- Was erklärt die S21-Ablehnung auf Wohngebäuden (r = -0,685), d. h. den. Das beste Modell, welches immer- der Individualebene? ländliche Gebiete tendieren zu Stutt- hin 91 Prozent der gesamten Varianz gart 21. erklärt, besteht aus der Stimmenstärke Was erklärt die Zustimmung und Ableh- l Der Anteil der Beschäftigten im Produ- der CDU (negativer Einfluss auf den Ja- nung zu Stuttgart 21, wenn man nicht die zierenden Gewerbe (r = -0,663), d. h. Stimmenanteil), der Lage des Stimmkrei- Ebene der Stimmkreise, sondern die In- Stimmkreise mit einem hohen Anteil ses in Baden (positiver Einfluss auf den dividualebene betrachtet. Wie auf der Arbeitnehmer in der Industrie befür- Ja-Stimmenanteil), die Distanz nach höheren Aggregatebene steht zu ver- worten eher S21. Stuttgart (positiver Einfluss auf den Ja- muten, dass Wähler der CDU Stutt- l Die Bevölkerungsdichte (r = 0,492), Stimmenanteil) und die Fahrzeitverkür- gart 21 befürworten, die Wähler der d. h. städtische Stimmkreise haben S21 zung zum Hauptbahnhof Stuttgart (ne- Grünen dagegen Stuttgart 21 ableh- eher abgelehnt. gativer Einfluss auf den Ja-Stimmenan- nen. Im Hinblick auf die SPD sollten de- Hinzu kommen noch einige Variablen teil). Daneben ist natürlich der Stimmen- ren Wähler indifferent sein. Weitere mit einer mittelstarken Korrelation (in anteil der Grünen hoch relevant. Hypothesen sind: Klammer die Wirkungsrichtung auf den Insgesamt zeigt sich, dass der NIMBY- l Je größer die Urbanisierung (Ortsgrö- Ja-Stimmenanteil), wie ein Universitäts- Effekt nicht bestätigt werden kann, da ße), desto stärker die Ablehnung von ort (+), den Anteil der landwirtschaftli- sowohl die Dummy-Variable für den S21. chen Fläche (-), die Höhe der Arbeitslo- Großraum Stuttgart als auch für den Re- l Wähler aus Baden lehnen das Projekt senquote (+) sowie die Stimmbeteili- gierungsbezirk Stuttgart nicht signifi- eher ab. gung (-), d. h. in Stimmkreisen mit hoher kant sind. Die räumliche Nähe ist jedoch l Ältere Stimmbürger lehnen das Projekt Beteiligung war die Ablehnung des insofern relevant, da vor allem die räum- S21 eher ab (Status-quo-These). Ausstiegsgesetzes und damit die Zu- liche Distanz zu einer Ablehnung des l Stimmbürger aus dem Großraum Stutt- stimmung zu Stuttgart 21 höher. Projektes führt. Ähnliche Befunde zei- gart lehnen das Projekt eher ab (NIM- Allerdings sind bivariate Zusammen- gen sich bei Adrian Vatter und Anja Hei- BY-These). hänge wenig geeignet, die kausalen delberger, die auf einer Basis von 500 Als Kontrollvariablen werden klassische Einflussmechanismen der erklärenden baden-württembergischen Gemeinden Faktoren der Wahl- und Einstellungsfor- Variablen auf die abhängige Variable, eine detaillierte Analyse des NIMBY- schung verwendet, wie etwa die Bil- den Ja-Stimmenanteil, abzubilden. Re- Effektes durchgeführt haben. Sie zei- dung, Einkommen, sozioökonomischer gressionsanalysen bieten demgegen- gen, dass in unmittelbarer Nähe zum Status. Die zugrunde liegenden Daten der Analyse stammen aus einer Vor- wahlumfrage zur Landtagswahl 2011, Abbildung 2: Einstellungen zur Direktdemokratie nach Parteineigung die vom Verfasser in Zusammenarbeit mit der Badischen Zeitung durchgeführt wurde (Wagschal/Finkbeiner 2011). Die Umfrage kann ein hohes Maß an Reprä- sentativität beanspruchen. So beträgt die Summe der absoluten Abweichun- gen der fünf im Bundestag vertretenen Parteien insgesamt 3,2 Prozentpunkte. Die Umfrage ist damit diejenige Umfra- ge mit der geringsten absoluten Abwei- chung aller 21 seit Dezember 2010 durchgeführten Wahlumfragen im Vor- feld der Landtagswahl. Die zu erklären- de Variable war die Zustimmung bzw. Ablehnung von Stuttgart 21. Die dicho- tomisierten Umfrageergebnisse dieser Frage liefern eine Zustimmung von 55,2 Prozent für das Projekt und eine Ableh- nung von 44,8 Prozent, womit auch die- se Werte nah an den tatsächlichen Er- gebnissen liegen (58,9 Prozent Zustim- mung und 41,1 Prozent Ablehnung zu S21). Die Befunde der Analysen zeigen, dass vor allem die parteipolitischen Präfe- renzen für die CDU und die Grünen ent- Quelle: Wagschal/Finkbeiner 2011 scheidende Faktoren sind. Die Wahl-

172 präferenz für die SPD zeigt dagegen lem die Wählerschaft der Grünen als DIE VOLKSABSTIMMUNG ZU keinen Einfluss. Daneben konnte erneut Aktivisten identifiziert haben. STUTTGART 21: ZWISCHEN ein signifikanter Unterschied zwischen Eine zweite bedeutende Variable ist die PARTEIPOLITISCHER POLARISIERUNG den beiden Landesteilen identifiziert räumliche Distanz. In den Mehrvariab- UND „SPÄTZLEGRABEN“ werden. Ein NIMBY-Effekt konnte wie- lenmodellen zeigt sich ein dämpfender derum nicht nachgewiesen werden. Effekt für Stimmbürger aus Baden. Wie Stimmbürger aus dem Großraum Stutt- schon 1951 in der Volksabstimmung zur LITERATUR gart haben eine signifikant höhere Gründung des Landes lässt sich ein Wahrscheinlichkeit, dem Projekt zuzu- „Spätzlegraben“ zwischen beiden Lan- Baumgarten, Britta (2011): Die neue alte Bürger- bewegung. SozialforscherInnen haben unter- stimmen. Auch ist die Ortsgröße ein re- desteilen feststellen. sucht, wer gegen das Großprojekt Stuttgart 21 levanter Faktor, der eine Stadt-Land- Unter den sozialstrukturellen Merkma- protestiert und warum. In: Umwelt aktuell, Heft Differenz offenlegt: Je größer die Orts- len ist vor allem das Geschlecht der Ab- 12/2011, S. 2–3. größe, desto wahrscheinlicher die Ab- stimmenden eine wichtige Vorhersage- Dolde, Klaus-Peter/Porsch, Winfried (2010): Gut- achterliche Stellungnahme zur Verfassungsmä- lehnung von Stuttgart 21. Schließlich variable. So weisen Frauen eine größe- ßigkeit der Initiative der SPD für eine Volksabstim- zeigt sich auch die Kontrollvariable re Skepsis gegenüber Stuttgart 21 auf. mung über Stuttgart 21 und die Neubaustrecke „Geschlecht“ als ein signifikanter Ein- Überdies sind die Gemeindegröße und Wendlingen-Ulm erstattet im Auftrag der Regie- flussfaktor. Dabei erweisen sich Män- Universitätsorte signifikante Einfluss- rung des Landes Baden-Württemberg. Abgerufen ner deutlich positiver gegenüber Stutt- größen. Jedoch muss die NIMBY-These unter http://www.baden-wuerttemberg.de/ fm7/2028/101005_Anlage_Dolde_Gutachten. gart 21 eingestellt als Frauen. Nicht sig- (d. h. die Ablehnung von Infrastruktur- pdf [3.3.2011]. nifikant waren dagegen das Alter, Bil- projekten in der Nachbarschaft) abge- Gabriel, Oscar W./Faden-Kuhne, Kristina (2011): dung, Konfession, Kirchgangshäufigkeit lehnt werden, da im Großraum Stutt- Auswertungen einer Befragung vor dem Volksent- sowie die eigene wirtschaftliche Lage. gart die Zustimmung größer war als in scheid zu Stuttgart 21. Ergebnisse einer repräsen- tativen Erhebung, durchgeführt von Infratest di- Generell kann man feststellen, dass die anderen Stimmbezirken. map. Stuttgart. Volksabstimmung zu S21 einem allge- Es zeigt sich damit vor allem, dass die Hermes, Georg/Wieland, Joachim (2010): Recht- meinen Trend zu und Wunsch nach mehr Abstimmungsentscheidung um Stutt- liche Möglichkeiten des Landes Baden-Württem- direktdemokratischen Entscheidungen gart 21 einerseits primär entlang der berg, die aus dem Finanzierungsvertrag „Stutt- entspricht. Die Umfragedaten zeigen parteipolitischen Konfliktlinie zwischen gart 21“ folgenden Verpflichtungen durch Kündi- gung oder gesetzliche Aufhebung auf der Grund- etwa, dass rund 77 Prozent aller Baden- der CDU und den Grünen verlief und lage eines Volksentscheides zu beseitigen Gut- Württemberger mehr direktdemokrati- andererseits auf eine deutliche Diffe- achten im Auftrag der SPD-Fraktion im Landtag sche Mitsprache wünschen. Rund 58 renz zwischen Baden und Württemberg Baden-Württemberg. Abgerufen unter http:// Prozent der Befragten sprachen sich im zurückgeführt werden kann. Strategisch www.spd.landtag-bw.de/cgi-sub/fetch. php?id=521 [3.3.2011]. Vorfeld der Abstimmung dafür aus, ei- sinnvoll wäre daher (weit) im Vorfeld Kirchhof, Paul (2010): Gutachterliche Stellung- nen Volksentscheid zu Stuttgart 21 der Entscheidung gewesen, die Bahn- nahme zum Antrag der Fraktion der SPD im Land- durchzuführen. Und es ist nicht nur die projekte in Baden (Rheintalbahn – Ba- tag von Baden-Württemberg für eine Volksab- politische Linke, die mehr direktdemo- den 21) und Württemberg (S21 und stimmung über Stuttgart 21 und die Neubaustre- kratische Partizipation will. Für die Ba- Neubaustrecke Stuttgart-Ulm) gemein- cke Wendlingen–Ulm erstattet im Auftrag der Regierung des Landes Baden-Württemberg. Hei- den-Württemberger ergibt sich jedoch sam zu betrachten und auch zusammen delberg. Abgerufen unter http://www.baden- – differenziert nach Parteineigung – ei- dem Volk zur Abstimmung vorzulegen. wuerttemberg.de/fm7/2028/101005_Anlage_ ne Mehrheit innerhalb aller Parteien für Vermutlich wäre dann einiges in den Kirchhof_Gutachten.pdf [3.3.2011]. den Wunsch nach mehr Demokratie vergangenen Jahren anders gekom- Kurbjuweit, Dirk (2010): Der Wutbürger. In: Der Spiegel, Heft 41/2010, S. 26–27. (vgl. Abbildung 2). men. Landeshauptstadt Stuttgart, Oberbürgermeister Für die politische Kultur des Landes war (2007): Stuttgart 21 Bürgerbegehren. Beschluss- die Volksabstimmung von großer Be- vorlage für die Gemeinderatssitzung vom deutung, da sie einen massiven politi- 04.10.2007. Abgerufen unter http://www.stutt- gart.de/img/mdb/item/410575/59338.pdf schen Konflikt befriedet hat. Direkte AUTOR UNSER [4.3.2011]. Demokratie hat somit eine Ventilfunkti- Landtag von Baden-Württemberg (2010): Druck- on. So haben Oscar W. Gabriel und sache 14/6896 vom 08.09.2010. Abgerufen unter Kristina Faden-Kuhne (2011) gezeigt, http://www.landtag-bw.de/WP14/ dass bei den S21-Gegnern die Durch- Drucksachen/6000/14_6896_D.PDF [3.3.2011]. Obinger, Herbert/Wagschal, Uwe (2000): Direkt- führung des Volksentscheids wichtig demokratie und Sozialpolitik. In: Politische Vier- war (65 Prozent der Befragten). Und die teljahresschrift, Heft 3/2000, S. 466–497. Akzeptanz des Ergebnisses liegt bei Rucht, Dieter/Baumgarten, Britta/Teune, Simon/ über 95 Prozent der Befragten. Stuppert, Wolfgang (2010): Befragung von De- monstranten gegen Stuttgart 21 am 18.10.2010. Abgerufen unter: http://www.wzb.eu/sites/de- fault/files/projekte/stgt_21_kurzbericht_2010. Zusammenfassung pdf [23.5.2012] Prof. Dr. Uwe Wagschal ist Professor für Vatter, Adrian/Heidelberger, Anja (2011): Volks- Die vorliegende Analyse hat sowohl für Vergleichende Regierungslehre an der entscheide nach dem Sankt Florians-Prinzip? Das Abstimmungsverhalten zu Stuttgart 21 und gro- den Vergleich der Landkreise als auch Universität Freiburg. Zuvor war er Pro- ßen Infrastrukturprojekten in der Schweiz im Ver- für die Untersuchung der individuellen fessor an den Universitäten Heidelberg gleich. Institut für Politikwissenschaft, Universität Einstellungen gezeigt, dass die partei- und München. Er hat Politikwissenschaft Bern. politische Differenz der entscheidende und Volkswirtschaftslehre studiert und Wagschal, Uwe/Finkbeiner, Sören (2011): Daten- Erklärungsfaktor ist: Die CDU und ihre promovierte 1996 mit einer Arbeit zur satz Vorwahlumfrage zur Landtagswahl 2011 in Baden-Württemberg. Freiburg. Wähler sind die zentrale Gruppe der Staatsverschuldung an der Universität Befürworter, während die Grünen und Heidelberg. Seine Schwerpunkte sind ihre Wähler die Kerngruppe der Oppo- die vergleichende Staatstätigkeitsfor- sition zu S21 stellten. Dies passt auch zu schung, Direkte Demokratie sowie das den Befunden von Dieter Rucht u. a. zu Politische System der Bundesrepublik den aktiven Demonstranten, die vor al- Deutschland.

173 DIE VOLKSABSTIMMUNG ZU STUTTGART 21 Die direkte Demokratie in Baden-Württemberg und Stuttgart 21 Matthias Fatke/Markus Freitag

rektdemokratischer Rechte in Baden- gegrenzt und zum anderen in der aktu- Die Volksabstimmung über Stuttgart 21 Württemberg vereinbart hat.1 Freilich ellen Diskussion des Für und Wider di- hat der Diskussion über direktdemokra- offenbaren die laufenden Debatten rektdemokratischer Beteiligung verortet tische Entscheidungsprozesse erneuten auch viele Vorbehalte gegenüber der wird. Als nächstes wird die institutionel- Auftrieb gegeben. Matthias Fatke und direkten Demokratie in weiten Teilen le Ausgestaltung der direkten Demokra- Markus Freitag nehmen die Volksabstim- der Gesellschaft und der Politik. tie in Baden-Württemberg dargestellt. mung über Stuttgart 21 vom 27. Novem- Daher möchten wir die Volksabstim- Danach werden kurz die Hintergründe ber 2011 zum Anlass, die Grundzüge der mung über Stuttgart 21 vom 27. Novem- der Abstimmung über Stuttgart 21 in der direktdemokratischen Beteiligung, deren ber 2011 zum Anlass nehmen, die direktdemokratischen Geschichte prä- Vor- und Nachteile sowie die institutio- Grundzüge der direkten Demokratie sentiert und dann Antworten gegeben, nelle Ausgestaltung der direkten Demo- und deren Vor- und Nachteile im Allge- wie die Beteiligung am Volksentscheid kratie in Baden-Württemberg im Beson- meinen sowie deren Ausgestaltung in zu erklären ist. Der Beitrag schließt mit deren zu erörtern. Eingangs wird das Baden-Württemberg im Besonderen zu einigen zusammenfassenden Bemer- Konzept der direkten Demokratie defini- torisch abgrenzt und in der aktuellen erörtern. Der Fall bietet sich nicht nur an, kungen. Diskussion des Für und Wider verortet. weil der öffentliche Diskurs vor und nach Im zweiten Teil werden die Hintergründe, der Abstimmung stark von den Stärken der Verlauf und das Ergebnis der Volks- und Schwächen bzw. den Möglichkei- Direkte Demokratie: Definition und abstimmung über Stuttgart 21 erörtert. ten und Grenzen der direkten Volksmit- Diskussion Des Weiteren werden die unterschied- sprache geprägt war. Dieser erste lich hohen Beteiligungsraten am Volks- Volksentscheid in Baden-Württemberg Einführend soll hier zunächst der B egrif f entscheid und die je in Frage kommen- seit 40 Jahren stellt zudem in der direkt- der direkten Demokratie definitorisch den Motivationen der Beteiligung bzw. demokratischen Praxis des Landes ein abgegrenzt und das Für und Wider di- Nicht-Beteiligung erklärt und abschlie- historisches Datum dar. Dabei erlag mit rektdemokratischer Mitbestimmung dis- ßend kommentiert. Ifast 3,7 Millionen Abstimmenden oder kutiert werden. Denn in der Tat gibt es 48,3 Prozent nicht ganz die Hälfte der zu dem vermeintlich intuitiven Begriff Stimmberechtigten dem „Charme der der direkten Demokratie weder eine all- direkten Demokratie“ (Freitag et al. gemein gültige Definition (Eder/Magin 2003, S. 348). Verglichen mit den Betei- 2008, S. 257), noch einen durchgängi- Einleitung ligungsraten bei kürzlich abgehaltenen gen Konsens in der Literatur (Schiller/ Volksabstimmungen in anderen Bun- M it te ndor f 2 0 0 5, S . 12). Umso w icht ige r Die direkte Volksmitsprache ist en desländern oder auch in den Schweizer erscheint es, explizit darzulegen, was vogue. Seien es die jüngsten Erfolge der Kantonen ist diese Beteiligungsquote unter direkter Demokratie zu verstehen Piratenpartei, die eine partizipative durchaus beachtlich und erreicht in ist – und was nicht. und direkte Entscheidungskultur propa- manchen Kreisen bis zu zwei Drittel der Zunächst einmal ist die direkte Demo- giert, oder die Äußerungen des Bundes- Stimmberechtigten.2 Schließlich müssen kratie eine Form politischer Partizipati- präsidenten Joachim Gauck zum Einbe- sich die Stimmabstinenten nicht unbe- on der Bürgerinnen und Bürger, die sich ziehen der Bürgerinnen und Bürger in dingt durch Desinteresse charakterisie- von der üblichen Repräsentationslogik den politischen Entscheidungsprozess: ren lassen. Die institutionelle Eigenheit abhebt. Im Gegensatz zur turnusmäßi- Wie es scheint, ist die Diskussion über der baden-württembergischen Direkt- gen Wahl von Repräsentanten trifft die die Chancen direktdemokratischer Teil- demokratie verlangt zusätzlich zur Stimmbürgerschaft in direkten Demo- habe allgegenwärtig und die Forde- Mehrheit noch die Zustimmung eines kratien auch während der Legislaturpe- rung, „mehr direkte Demokratie zu wa- Drittels aller Stimmberechtigten, um ei- riode unmittelbar und auf konkrete Fra- gen“, gewinnt an Moment (Heußner/ ne Gesetzesänderung zu ermöglichen. gen bezogene politische Entscheide Jung 2009). Ganz besondere Beach- Dieses Zustimmungsquorum kann frei- (Eder 2010, S. 18). Allerdings herrscht tung wurde direktdemokratischen Ent- lich demobilisierend wirken, und Enthal- mindestens bezüglich dreier Punkte Un- scheidungsprozessen im Zuge der Aus- tung impliziert keinesfalls nur Indiffe- einigkeit über den Verlauf der Definiti- einandersetzung um das Bahnhofspro- renz und Gleichgültigkeit bei direktde- onsgrenzen direkter Demokratie: Wir jekt Stuttgart 21 (S21) zuteil. So mag die mokratischen Prozessen. Daher interes- beziehen uns hier auf den Abstim- jüngst abgehaltene Volksabstimmung sieren uns auch die Bedingungen der mungsgegenstand, Abberufungsrechte schließlich nicht alle Gegner und Befür- Partizipation bei der Volksabstimmung und die Auslösekompetenz. worter vereint haben, Einhelligkeit aber zu Stuttgart 21. Insbesondere richtet Strittig ist erstens, ob einzig Sachent- besteht darin, dass dieses Verfahren sich unser Blick auf die unterschiedlich scheide als direktdemokratisch gelten, den Konflikt entschärft und eine legiti- hohen Beteiligungsraten in den 44 oder auch unmittelbare Personalent- mierte Entscheidung herbeigeführt hat. Stadt- und Landkreisen in Baden-Würt- scheide hinzuzählen. So plädieren And- Als weiteres Resultat (und gleichsam In- temberg. reas Kost (2005, S. 8) und Arend Lijphart dikator direktdemokratischer Konjunk- Hierzu ist unser Beitrag wie folgt aufge- (1984, S. 199) dafür, auch direkte Perso- tur) mag gelten, dass die neu gewählte baut: Zunächst wird in das Konzept der nalwahlen, wie beispielsweise die Landesregierung im Koalitionsvertrag direkten Demokratie eingeführt, indem Oberbürgermeisterwahlen oder die zahlreiche Vorhaben zum Ausbau di- der Begriff zum einen definitorisch ab- französischen Präsidentschaftswahlen

174 als „direk te Demokratie im weiteren Sin- Reihe von Streitpunkten festmachen DIE DIREKTE DEMOKRATIE IN BADEN- ne“ zu verstehen. Dem wird indes im lässt: WÜRTTEMBERG UND STUTTGART 21 Hinblick auf die Repräsentationsfunkti- l Erstens verlangsame direktdemokrati- on der Gewählten mancherorts wider- sche Beteiligung den Entscheidungspro- sprochen (Schiller/Mittendorf 2005). zess und sei nicht in der Lage, umgehend Zweitens werden oftmals Instrumente zu reagieren. Dieser Vorwurf kann frei- sche Entscheidungsprozesse (Freitag zur vorzeitigen Abberufung von Reprä- lich nur dem bremsenden Instrument et al 2003; Kirchgässner et al. 1999, sentanten als direktdemokratisch be- des Referendums gelten. Begehren S. 21ff.). Durch Referenden abgeseg- zeichnet. Beispiele sind die Möglichkeit oder Volksinitiativen dagegen be- nete Entscheidungen sind wiederum zur Auflösung des Landtages in vielen schleunigen als Gaspedal eher politi- einfacher und schneller zu implemen- Länderverfassungen (Art. 43 Abs. 2 in Baden-Württemberg) oder der Recall in den US-amerikanischen Bundesstaa- ten. Aber auch diese Instrumente sind Teil des repräsentativen Systems und bilden kein eigenes Genus politischer Partizipation (Möckli 1994). Drittens schließlich ist umstritten, ob allein Ver- fahren „von unten“, das heißt aus der Mitte des Volkes heraus initiiert, sich als direktdemokratisch qualifizieren, wie es bei Volks- und Bürgerbegehren in Deutschland oder Volksinitiativen in der Schweiz der Fall ist (Schiller/Mittendorf 2005, S. 11). Dieser engen Definition nach würden von Repräsentanten aus- gelöste Verfahren („von oben“), wie das Ratsbegehren, das arbitrierende Refe- rendum oder auch Volksbefragungen nicht zur direkten Demokratie zählen. Ebenso blieben verfassungsrechtlich vorgeschriebene, also automatisch aus- gelöste Verfahren wie das obligatori- sche Referendum außen vor, das aber gemeinhin doch als direktdemokrati- sches Instrument verstanden wird. So soll hier – sowohl dem baden-württem- bergischen Kontext als auch dem Tenor der neueren Literatur Rechnung tragend – ein Begriff direkter Demokratie ge- wählt werden, der den Fokus auf sachun- mittelbare Entscheide legt, dabei aber von Repräsentationsorganen initiierte Abstimmungen nicht ausschließt. Es werden daher im Folgenden ebenso Bürger- und Volksbegehren sowie Rats- begehren und vom Landtag beschlosse- ne Volksabstimmungen, wie es ja bei Stuttgart 21 just der Fall war, als direkt- demokratische Verfahren aufgefasst und untersucht. Gerade die jüngste Volksabstimmung in Baden-Württem- berg entfachte eine intensive Debatte um das Für und Wider direktdemokrati- scher Entscheidungen, die sich an einer

Für etwas Verwirrung bei den Wahl- berechtigten sorgte anfangs die sperrige Formulierung: Gegner des Projekts muss- ten bei der Abstimmung mit „Ja“ stimmen, um den Ausstieg aus der Finanzierung zu erreichen und den Bahnhof zu verhindern, während die Befürworter von S21 „Nein“ ankreuzen mussten, um der Durchführung des Projekts zuzustimmen. picture alliance/dpa

175 tieren und schützen durch den Status- richtsbarkeit wie in Deutschland bannt aus auch immer wieder als Zeichen Quo-Bias zugleich vor vorschnellen aber auch diese Gefahr (Vatter 2011). allgemeiner Zufriedenheit bewertet Beschlüssen und einer inkonsistenten, l Sechstens sei direkte Demokratie nur in (Armingeon 1994; Roth 1992). Zudem sprunghaften Politik (Hug/Tsebelis Kleinstaaten wie der Schweiz und mit ent- zeigen die Erfahrungen bayerischer 2002). sprechender Tradition möglich und er- Bürgerbegehren Beteiligungsquoten, l Zweitens vergrößere sich der Einfluss gut folgreich. Viele einwohnerreiche und die nur geringfügig unter der Wahlbe- organisierter Minderheiten und öffne großflächige Bundesstaaten der USA teiligung bei Kommunal- oder Europa- dem Lobbyismus Tür und Tor. Der Ein- praktizieren ebenfalls erfolgreich di- wahlen liegen, denen im Übrigen fluss schlagkräftiger Minderheiten auf rektdemokratische Verfahren (Budge weniger deutlich Legitimitätsdefizite

Matthias Fatke/Markus Freitag Volksabstimmungen wird überschätzt, 1996). diagnostiziert werden (Schiller 2007, schließlich wird immer noch eine Mehr- l Siebtens schränke direkte Demokratie die S. 139). heit der Stimmbürgerschaft benötigt, Wirkungsmacht politischer Parteien und die sich gerade bei Wertkonflikten damit auch deren in Artikel 21 Grundge- nicht als korrumpierbar geriert (Ger- setz festgeschriebenen Auftrag zur Wil- Direktdemokratische Regelungen in ber 1999; Longchamp 1991). Außerdem lensbildung ein. Direktdemokratische Baden-Württemberg üben gerade auch in parlamentari- Elemente ersetzen nicht die Repräsen- schen Prozessen Lobbyisten in oftmals tation durch Parteien, sondern ergän- Wie in anderen Landesverfassungen intransparenter Weise Einfluss aus, bei zen sie vielmehr. Insofern ermöglichen auch sieht die Volksgesetzgebung in Volksabstimmungen dagegen tritt die direktdemokratische Prozesse politi- Baden-Württemberg ein dreistufiges Interessenlage immerhin offen zutage. schen Parteien, den Entscheidungspro- Verfahren bestehend aus Einleitungs- l Drittens benötige die Komplexität politi- zess zu begleiten, ihr Profil zu schärfen phase, Volksbegehren und Volksent- scher Entscheidungen einen sehr hohen und damit der Parteienverdrossenheit scheid vor. Dabei ist jede Verfahrens- Sachkenntnisstand und überfordere da- entgegenzuwirken (Bowler/Donovan stufe im direktdemokratischen Prozess her die Stimmbürgerschaft. Jedoch wird 2006). mit vom Stimmvolk zu erbringenden Vo- hier entgegengehalten, dass in Parla- l Achtens verschärfe sich in direktdemokra- raussetzungen verknüpft. Die Einlei- menten die meisten Abgeordneten oft- tischen Abstimmungen die soziale Un- tungsphase als erste der drei Verfah- mals ohne vertiefte Sachkenntnis, son- gleichheit der Stimmbürgerschaft, da rensstufen scheint in Baden-Württem- dern nach Fraktionsempfehlung (oder hauptsächlich die Interessen von Ressour- berg mit einer Anforderung gemäß § 25 -zwang) abstimmen. Weiterhin ist es censtarken auf Kosten der Ressourcen- Abs. 4 Volksabstimmungsgesetz von der Stimmbürgerschaft möglich, der schwachen gewahrt werden. Zwar lediglich 10.000 Unterschriften (etwa Empfehlung einer Partei zu folgen „singt der Chor der schweizerischen 0,1 Prozent der Wahlberechtigten) und (Matsusaka 2005). Zudem setzen di- direkten Demokratie mit einem eindeu- ohne vorgegebene Sammelfrist im bun- rektdemokratische Institutionen gera- tigen Mittel- und Oberschichtsakzent“ desdeutschen Vergleich noch sehr per- de den Anreiz, den eigenen Kenntnis- (Linder 2005, S. 289). Jedoch finden missiv. Ein erfolgreicher Antrag auf Zu- stand in politischen Sachfragen zu er- sich keine eindeutigen Belege aus der lassung eines Volksbegehrens bedeutet höhen, Empörte wie Verdrossene glei- Schweiz, die einer systematischen zunächst jedoch nur, dass sich der chermaßen in das politische System zu Übervorteilung der Ressourcenstarken Landtag mit dem Anliegen beschäftigt. integrieren (Smith/Tolbert 2004; Tol- das Wort reden. Hier ist unter anderem Um nach erfolgter Zulässigkeitsprüfung bert et al. 2003). auf die jüngste Entscheidung zur Sen- eine Volksabstimmung über das Begeh- l Viertens führe direkte Demokratie zu kung des Umwandlungssatzes als ren zu erzwingen, müssen laut Art. 59 übermäßiger fiskalischer Expansion, da Maßzahl der Rentenhöhe zu verweisen Abs. 2 der Landesverfassung in einem die Stimmbürgerschaft egoistisch und oh- (der Satz gibt an, wie das bei der Pen- zweiten Schritt ein Sechstel der Wahl- ne Weitsicht gegen Steuern und für Aus- sionierung vorhandene Alterskapital in berechtigten unterschreiben. Bei 7,6 gaben eintrete. Beispiele können diese eine Jahresrente umgewandelt wird). Millionen Wahlberechtigten im Jahre Aussage nur unzureichend stützen. Diese sozialpolitische Vorlage wurde 2011 sind das etwa 1,2 Millionen zu Direktdemokratische Institutionen be- im Frühjahr 2010 vom Schweizer Stimm- sammelnde Unterschriften, die nur in dingen geringere Staatsschulden, hö- volk mit 73 Prozent Nein-Stimmen mas- Amtsstuben auf ausliegenden Listen heres Wirtschaftswachstum und weni- siv abgelehnt, sprich eine Kürzung der und innerhalb von 14 Tagen zu erbrin- ger Steuerbetrug (Freitag et al. 2003; Renten wurde von der überwiegenden gen sind. Pro Tag entspricht das 85.715 Kirchgässner et al. 1999). Kürzlich erst Mehrheit der Bevölkerung verworfen. zu leistenden Unterschriften. Wird hat die Zürcher Stimmbürgerschaft ei- Die direkte Demokratie erweist sich al- selbst diese Hürde übersprungen, sieht ne Vorlage zur Senkung der Steuern so durchaus resistent gegenüber par- Art. 60 Abs. 5 in der Volksabstimmung abgelehnt. Ebenso wurde eine bun- tikularen Interessen der Ressourcen- als dritter Phase noch ein Zustimmungs- desweite Verfassungsinitiative abge- starken, da die „Haves“ die Interessen quorum von einem Drittel der Stimmbe- wiesen, die den Schweizerinnen und der „Have-Nots“ nicht gänzlich unbe- rechtigten vor. Das Volksbegehren wird Schweizern sechs Wochen Ferien ga- rücksichtigt lassen (Matsusaka 2004). also nur dann als Gesetz verabschie- rantiert hätte. Überdies ist dieser Vorwurf immer auch det, wenn in der Volksabstimmung nicht l Fünftens seien Minderheiten in direkten mit der Beteiligungshöhe verknüpft nur die Mehrheit der Stimmen für das Demokratien der Tyrannei der Mehrheit und gilt dann ebenso für andere Begehren votiert, sondern gleichfalls ausgesetzt. Direktdemokratische Ent- Partizipationsformen. ein Drittel aller Stimmberechtigten, der- scheidungen fallen zwar selten zu- l Neuntens schließlich reduziere die gene- zeit gut 2,5 Millionen, ihre Stimme dafür gunsten des Ausbaus von Minderheits- rell geringe Beteiligung die Legitimität abgeben (bei verfassungsändernden rechten aus, sie schützen aber zugleich direktdemokratischer Entscheidungen. Gesetzen muss sogar die Mehrheit der Minderheiten vor dem Abbau gelten- Zunächst ist festzustellen, dass die Be- Stimmberechtigten zustimmen). Das in der Rechte (Vatter/Danaci 2010). Dis- teiligung bei direktdemokratischen Deutschland übliche Finanztabu Art. 60 kriminierende Effekte wären nur für Abstimmungen stark vom Inhalt der Abs. 6 der Landesverfassung schließt gesellschaftlich ohnehin unzureichend jeweiligen Vorlage abhängig ist (Lin- zudem Abgaben-, Besoldungs- und integrierte Gruppen zu befürchten. Ei- der 2005). Grundsätzlich werden ge- Staatshaushaltsgesetze ausdrücklich ne stark ausgeprägte Verfassungsge- ringe Beteiligungsraten darüber hin- von direktdemokratischen Abstimmun-

176 gen aus, und die rechtliche Prüfung der dentliches Ereignis dar, weil es zuvor DIE DIREKTE DEMOKRATIE IN BADEN- Volksbegehren wird streng gehand- der Stimmbürgerschaft in der 60-jähri- WÜRTTEMBERG UND STUTTGART 21 habt. Angesichts dieser Hürden bei gen Geschichte Baden-Württembergs Volksbegehren und -abstimmung ist es auf der gesamten Landesebene erst wenig verwunderlich, dass seit der zweimal möglich war, an der Ab- verfassungsrechtlichen Verankerung stimmungsurne zu entscheiden. Davon zent und von 1970 mit 62,6 Prozent noch der Volksgesetzgebung3 1974 nur fünf unbesehen gilt der Südweststaat als deutlich vor der S21-Abstimmung. Bei erfolglose Versuche unternommen wur- deutsches Mutterland der direkten De- diesen beiden Abstimmungen standen den, per Volksbegehren eine Abstim- mokratie, schrieb er doch als erstes indes weniger die Architektur eines mung anzustrengen, die entweder gar Bundesland überhaupt direktdemo- Bahnhofs, sondern vielmehr die des nicht erst eingereicht oder für unzuläs- kratische Instrumente in der Gemeinde- Bundeslandes zur Debatte, die weitaus sig erklärt wurden.4 Es bleibt stattdes- ordnung fest (1956) und ließ diesen vor mehr Menschen zu mobilisieren ver- sen vielmehr Landtag und Regierung allem in der Gründungsphase auch auf mochte.6 Die Volksabstimmung über die vorbehalten, Gesetzesvorlagen der Landesebene eine prägende Rolle zu- Auflösung des Landtags 1971 wiederum Stimmbürgerschaft zur Abstimmung kommen. So wurde die Neugliederung lockte nur gerade 16 Prozent der Stimm- vorzulegen und somit nur nach ihrem und somit der Zusammenschluss der berechtigten an die Urne. Bis zur Ab- Gusto den Bürgerinnen und Bürgern Länder Baden, Württemberg-Baden stimmung über den Stuttgarter Bahnhof Mitsprache zu ermöglichen (wie eben und Württemberg-Hohenzollern wie in wurden die Bewohnerinnen und Be- beim Volks entscheid über Stuttgart 21 Art. 29 des Grundgesetzes vorgesehen wohner von Baden-Württemberg auf geschehen). in einer Volksabstimmung beschlossen, Landesebene nicht mehr an die Urne Die Erklärung für die im Vergleich zu an- die den Weg für die Gründung des Lan- gerufen. deren Bundesländern geringe Zahl an des Baden-Württemberg 1952 ebnete. Das Infrastrukturprojekt Stuttgart 21 Volksabstimmungen ist nicht zuletzt in Der Widerstand gegen den Zusammen- sieht eine Umgestaltung des Eisenbahn- der restriktiven Ausgestaltung direktde- schluss im Badischen blieb jedoch be- verkehrs in Stuttgart und Umgebung mokratischer Instrumente in Baden- stehen. 1956 wurde deshalb ein Volks- vor. Dazu soll unter anderem der Haupt- Württemberg zu suchen (Eder et al. begehren angestrengt, das 1970 nach bahnhof unter die Erde verlegt und von 2009). Nur Berlin, Hessen und dem rechtlicher Klärung durch das Bundes- einem Kopf- zu einem Durchgangs- Saarland werden noch mehr einschrän- verfassungsgericht in einer erneuten bahnhof umgestaltet werden, indem die kende Volksrechte attestiert (Eder/Ma- Volksabstimmung mündete. Diese aller- Gleisführung durch Tunnel unter der gin 2008).5 Tabelle 1 fasst die direktde- dings nur im Landesteil Baden durchge- Stadt geleitet wird. Ein 2007 in der Stadt mokratischen Instrumente auf Landes- führte Abstimmung bestätigte dann die Stuttgart eingereichtes Bürgerbegeh- und Gemeindeebene in Baden-Würt- neuen Landesgrenzen. Der vorerst letz- ren für einen Ausstieg der Stadt aus dem temberg zusammen. te direktdemokratische Akt auf gesam- Projekt erreichte zwar die benötigte ter Landesebene fand 1971 statt, als mit Zahl an Unterschriften, wurde aber vom einem Volksbegehren auf Auflösung Gemeinderat als rechtlich unzulässig Volksabstimmungen in Baden- des Landtags die Gebietsreform der abgewiesen. Diese Entscheidung des Württemberg und Stuttgart 21 Kreise und Regierungsbezirke durch- Gemeinderates bildete den Startpunkt kreuzt werden sollte. Mit Blick auf die eines regelmäßigen, breiten und orga- Die Abstimmung über Stuttgart 21 stellt Beteiligungsraten rangieren die Volks- nisierten Protestes gegen S21. Beim Ab- nicht zuletzt deswegen ein außeror- abstimmungen von 1951 mit 58,8 Pro- riss des Bahnhofs im Spätsommer 2010

Tabelle 1: Überblick über direktdemokratische Instrumente in Baden-Württemberg

Land Gemeinde „von unten“: „von unten“: „von oben“: „von oben“ Volksbegehren Bürgerbegehren Ratsbegehren Rechtliche Art. 59 (2), Art. 60 (1) Art. 60 (2), (3) Verfas- §21 (3) GemO §21 (1) GemO Grundlagen Verfassung des Landes sung des Landes §25 (4) VAbstG Hürden Ausschluss: Finanztabu Ausschluss: Negativkatalog Antrag: 1/3 Mehrheit des Begehren: 2/3 Mehrheit des 10000 Unterschriften Landtages Unterschriften von ca. Gemeinderats Begehren: 10 %, gestaffelt nach Unterschriften von 1/6 Einwohnerzahl inner- Formale Regeln der Stimmberechtig ten halb 6 Wochen in 14 Tagen Entscheid: 1/3 Zustimmungsquorum Entscheid: 25 % Zustimmungsquorum Geschichte/ 1970 Verbleib des Stuttgart 21 Bereits seit 1956 in der GemO Beispiele Landesteils Baden; 1971 Auflösung meist Referendum- des Landtags Charakter Bis auf Ausnahmen gar nicht erst versucht 24,4 pro Jahr (2006– 4,4 pro Jahr

Anwendung Häufigkeit 2010) (2006–2010) Quelle: Eigene Darstellung

177 eskalierte die Situation zwischen De- selbst zwar das Projekt befürwortete, Regierung stattdessen das S21-Kündi- monstranten und Polizei. Entsprechend aber gleichzeitig für eine Entscheidung gungsgesetz in den Landtag ein – dies stand der Landtagswahlkampf erheb- durch das Stimmvolk warb. Im Koaliti- allerdings mit der festen Absicht, es un- lich unter dem Einfluss des wachsenden onsvertrag beider Parteien wurde ver- ter Ablehnung der SPD scheitern zu las- Protestes, der durch die Reaktion der einbart, die Bürgerinnen und Bürger in sen.7 Mit Hilfe dieses taktischen Win- Landesregierung und Polizeibehörden einer Volksabstimmung über das Projekt kelzuges konnte Art. 60 Abs. 3 ange- zusätzlich an Fahrt gewann. Aus der entscheiden zu lassen. strengt und mit einem Drittel des Land- Landtagswahl vom 27. März 2011 gin- Da die baden-württembergische Lan- tages eine Volksabstimmung veranlasst gen Bündnis 90/Die Grünen, die sich als desverfassung Volksabstimmungen zu werden, die am 27. November 2011

Matthias Fatke/Markus Freitag einzige im Landtag vertretene Partei ge- derartigen Projekten nicht vorsieht und stattfand.8 Mit 58,9 Prozent Nein-Stim- gen das Projekt ausgesprochen hatten, die Gesetzgebungskompetenz im Ei- men (also für die Fortsetzung von S21) als Sieger hervor und stellten die neue senbahnwesen laut Art. 73 Abs. 1 Nr. 6a wurde das Ausstiegsgesetz von der Regierung in Koalition mit der SPD, die ohnehin beim Bund liegt, brachte die Stimmbürgerschaft abgewiesen. Eben- falls verfehlt wurde mit 19,8 Prozent das Zustimmungsquorum, demzufolge ein Drittel der Stimmberechtigten mit „Ja“ Abbildung 1: Beteiligung bei der Volksabstimmung am 27. November 2011*) hätte stimmen müssen.9 in den Stadt- (SKR) und Landkreisen (LKR) Baden-Württembergs (in Prozent der Von den 7,6 Millionen Stimmberechtig- Stimmberechtigten) ten gaben 48,3 Prozent ihre Stimme ab. Begibt man sich auf die Ebene der Stuttgart (SKR) 67,8 Stadt- und Landkreise, findet man frei- Esslingen (LKR) 62,3 lich beträchtliche Unterschiede bei den Ludwigsburg (LKR) 60,6 Partizipationsraten (siehe Abbildung 1). Rems-Murr-Kreis (LKR) 60,3 Während etwa in Stuttgart mit 67,8 Pro- Böblingen (LKR) 58,9 zent die höchste Beteiligungsquote er- Tübingen (LKR) 58,7 reichte wurde, fanden in Mannheim nur Alb-Donau-Kreis (LKR) 55,1 33,3 Prozent der Abstimmungsberech- Reutlingen (LKR) 54,2 tigten den Weg zur Urne. Von vorrangi- Göppingen (LKR) 53,7 gem Interesse ist nun die Frage, wie die Calw (LKR) 52,6 unterschiedlichen Beteiligungsquoten Ulm (SKR) 52,1 in den 44 Stadt- und Landkreisen unter Enzkreis (LKR) 50,7 identischen institutionellen Regeln er- Biberach (LKR) 50,7 klärt werden können. Diese spezifische Ostalbkreis (LKR) 49,6 Fragestellung lässt sich mühelos in Baden-Württemberg 48,3 Freudenstadt (LKR) 48,3 grundlegende und allgemeinere Über- Rottweil (LKR) 47,9 legungen zu den Bedingungen politi- Zollernalbkreis (LKR) 47,7 scher Partizipation überführen. Im Rück- Sigmaringen (LKR) 47,5 griff auf die Erkenntnisse von Sidney Heilbronn (LKR) 47,4 Verba et al. (1995) und ihrem „Civic Bodenseekreis (LKR) 47,0 Voluntarism“-Modell können hier drei Heidenheim (LKR) 45,9 Bündel von Erklärungen der Partizipati- Ravensburg (LKR) 45,8 onsabstinenz angeführt werden: Die TuttlinTuttlingengen (LKR)(LKR) 45,645,6 Menschen können sich nicht beteiligen, Schwäbisch Hall (LKR) 45,3 weil ihnen die Ressourcen dazu fehlen; HohenlohekreisHh lhk i (LKR) 44,744 7 sie wollen nicht partizipieren, weil ih- Freiburg im Breisgau (SKR) 44,6 nen die Motivation fehlt; oder niemand Konstanz (LKR) 43,6 hat sie aufgefordert, am politischen Le- Breisgau-Hochschwarzwald (LKR) 43,3 ben teilzunehmen, weil sie unzurei- Karlsruhe (LKR) 42,3 chend sozial eingebunden sind (Verba Heidelberg (SKR) 41,9 et al. 1995, S. 16). Für diese theoreti- Heilbronn (SKR) 41,4 schen Erklärungen lassen sich verschie- Schwarzwald-Baar-Kreis (LKR) 41,0 Emmendingen (LKR) 40,9 dene Faktoren finden, deren Ausprä- Karlsruhe (SKR) 40,8 gungen auf Kreisebene zu messen sind. Main-Tauber-Kreis (LKR) 40,5 Setzt man nun die Werte dieser Fakto- Waldshut (LKR) 39,4 ren in Zusammenhang mit den Beteili- Rhein-Neckar-Kreis (LKR) 38,9 gungsraten in den Kreisen, können sta- Baden-Baden (SKR) 38,7 tistische Analyseverfahren zutage för- Neckar-Odenwald-Kreis (LKR) 38,4 dern, was für die Beteiligung verant- Lörrach (LKR) 37,7 wortlich war. Ortenaukreis (LKR) 37,7 So erweisen sich weder Ressourcen wie Pforzheim (SKR) 37,1 Bildung, Wirtschaftskraft oder Alter Rastatt (LKR) 36,4 noch die soziale Einbindung wie Ar- Mannheim (SKR) 33,3 beitslosigkeit, Parteimitgliedschaft oder 0 10203040506070Einwohnerdichte als maßgeblich ver- Prozent antwortlich für die Beteiligungshöhe am *) Volksabstimmung über die Gesetzesvorlage "Gesetz über die Ausübung von Kündigungsrechten bei Volksentscheid. Auch für ein motivieren- den vertraglichen Vereinbarungen für das Bahnprojekt Stuttgart 21 (S 21-Kündigungsgesetz)". des Moment einer direktdemokrati- schen Tradition finden sich keine Bele- Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg ge. Die Beteiligung ist in Kreisen mit vie-

178 len lokalen Begehren oder einer hohen nützige Vorhaben kippen, wenn die DIE DIREKTE DEMOKRATIE IN BADEN- Beteiligung am Volksentscheid 1971 Menschen im nächsten Umfeld von den WÜRTTEMBERG UND STUTTGART 21 nicht signifikant höher. Sehr viel besser negativen Folgen betroffen sind (Dear können dagegen drei weitere Motivati- 1992). Auf S21 bezogen besteht vor al- onsindikatoren die Beteiligung erklä- lem dann Interesse an diesem regional ren. Demnach war die Beteiligung in verhafteten Projekt, wenn man selbst ebenfalls mit statistischen Ergebnissen den Kreisen höher, die erstens im ur- vor Ort betroffen ist. Die Gleichgültig- untermauern. So wirkte die Stärke von sprünglich württembergisch-schwäbi- keit steigt mit zunehmender Entfernung Bündnis 90/Die Grünen erheblich posi- schen Landesteil liegen, die zweitens von Stuttgart (Schwarz 2011) und findet tiv auf den Anteil der Ja-Stimmen (an näher bei Stuttgart liegen, und in denen sich in badischen Kreisen, die sich re- den Stimmberechtigten), die Stärke der drit tens B ündnis 9 0/Die Gr ünen s tar ken gional und kulturell vom württember- CDU als sichtbarer Projektbefürworter Zuspruch genießen. Das legt zwei Fol- gisch-schwäbischen Stuttgart abgren- stark negativ. Stärken von SPD und FDP gerungen nahe. Zum einen wird die Mo- zen. Zum anderen zeigt der Einfluss der dagegen hatten keine signifikanten tivation, sich zu beteiligen, offensicht- Stärke von Bündnis 90/Die Grünen, Auswirkungen, was die zurückhaltende lich davon beeinflusst, ob und wie man dass es hauptsächlich die Projektgeg- und bisweilen ambivalente Position der lokal von der Sachentscheidung betrof- ner waren, die mobilisieren und zur Be- SPD zu S21 widerspiegelt und der FDP fen ist. Gemäß dem populären „Not In teiligung motivieren mussten. Nicht nur eine im Abstimmungs- und Landtags- My Backyard“-Argument (oder auch weil es sich beim Abstimmungsgegen- wahlkampf eher untergeordnete Rolle Sankt-Florians-Prinzip) kann eine zu- stand um ein Prestigeobjekt der neuen attestiert. nächst indifferente Einstellung in Mobi- Regierungspartei handelte, sondern lisierung gegen grundsätzlich gemein- weil auch die Geißel des Zustimmungs- quorums die grünen Parteimitglieder Schlussfolgerungen antrieb. Die Projektbefürworter hinge- gen mussten ihre Haltung nicht unbe- Der vorliegende Beitrag nahm die Ab- dingt durch den Gang an die Abstim- stimmung in Baden-Württemberg über Eine Stuttgart 21-Gegnerin protestiert mungsurne offenbaren, sofern sie die das Infrastrukturprojekt Stuttgart 21 zum beim Landesparteitag der SPD in Offen- Nichterreichung des Zustimmungsquo- Anlass, den schillernden Begriff der di- burg (14.10.2011) mit einem Plakat gegen rums und damit das Scheitern des Volks- rekten Demokratie näher zu beleuchten den SPD-Fraktionsvorsitzenden Claus entscheids antizipierten. Diese partei- und eine Analyse zur Abstimmungsbe- Schmiedel, der sich eindeutig für das spezifischen Auswirkungen auf Mobili- teiligung auf Kreisebene durchzufüh- Bahnhofsprojekt ausgesprochen hatte. sierung für und gegen S21 lassen sich ren. Die Ergebnisse unserer Ausführun- picture alliance/dpa

179 gen lassen sich wie folgt zusammen- entscheiden. Auf der anderen Seite lie- kratie auf den Steuerstaat. In: Politische Viertel- fassen. Erstens sind den Vorbehalten ße sich aber genauso entgegnen, dass jahresschrift, 3/2003, S. 348–369. Gerber, Elisabeth R. (1999): The Populist Paradox: gegenüber direktdemokratischer Mit- gerade der Einfluss der Distanz das Le- Interest Group Influence and the Promise of Direct sprache immer auch Argumente gegen- gitimationsproblem der Stimmbürger- Legislation. Princeton. überzustellen, die theoretisch wie auch schaft löst. Durch diesen Mechanismus Heußner, Hermann K./Jung, Ottmar (Hrsg.) empirisch fundiert die Etablierung und ist quasi automatisch gewährleistet, (2009): Mehr direkte Demokratie wagen. Volks- Ausweitung der Volksrechte nahe legen dass eben nur die betroffenen Bürgerin- entscheid und Bürgerentscheid: Geschichte – Praxis – Vorschläge. München. und den anvisierten Politikwechsel der nen und Bürger Sachfragen entschei- Hug, Simon/Tsebelis, George (2002): Veto Play- neuen Landesregierung unterstützen. den. Ist den Menschen Stuttgart 21 ers and Referendums around the World. In: Jour-

Matthias Fatke/Markus Freitag Zweitens zeigt der Blick nach Baden- gleichgültig, bleiben sie zuhause. Wol- nal of Theoretical Politics, 4/2002, S. 465–515. Württemberg, dass die institutionellen len sie erreichen, dass der Bahnhof Jung, Otmar (2005): Grundsatzfragen der direk- ten Demokratie. In: Kost, Andreas (Hrsg.): Direkte Hürden zur Ergreifung direktdemokrati- oben bleibt oder eben nicht, stimmen Demokratie in den deutschen Ländern. Eine Ein- scher Instrumente vor allem auf Landes- sie auch darüber ab. Die angerissene führung. Wiesbaden, S. 312–366. ebene derart restriktiv sind, dass vom Problematik liegt indes in der spezifi- Jung, Otmar (1999): Das Quorenproblem beim Stimmvolk initiierte Verfahren quasi un- schen Ausgestaltung der direkten De- Volksentscheid. Legitimität und Effizienz beim Ab- möglich sind. Mit anderen Worten: Es mokratie in Baden-Wür t temberg. Durch schluss des Verfahrens der Volksgesetzgebung. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 9/1999, existiert bis dato für die politischen Ent- das Zustimmungsquorum erhält die In- S. 863–898. scheidungsträger kein direktdemokrati- differenz ein Gewicht, da jeder Stimm- Kirchgässner, Gebhard/Feld, Lars P./Savioz, sches Damoklesschwert, allenfalls ein berechtigte die Zahl der benötigten Marcel (1999): Die direkte Demokratie: modern, Gummihammer. Die Absenkung von Un- Stimmen zum Erreichen des Quorums erfolgreich, entwicklungs- und exportfähig. Ba- sel. terschriftenhürden, die Zulassung von erhöht (Jung 2005, S. 328). Wer trotz Kirchhof, Paul (2010): Gutachterliche Stellung- Unterschriftensammlungen außerhalb Stimmberechtigung zuhause bleibt, nahme zum Antrag der Fraktion der SPD im Land- von Amtsstuben und die Senkung oder mindert die Chancen auf Annahme des tag von Baden-Württemberg für eine Volksab- Abschaffung des Zustimmungsquorums Entscheids und sorgt für Verdruss bei stimmung über Stuttgart 21 und die Neubaustre- wären gängige Handlungsempfehlun- Befürwortern (Jung 1999). Vor diesem cke Wendlingen-Ulm. Kost, Andreas (2005): Direkte Demokratie in den gen, um der direkten Volksmitsprache in Hintergrund kann die S21-Abstimmung deutschen Ländern. Eine Einführung. Wiesbaden. Baden-Württemberg Leben einzuhau- ungeachtet des Ausgangs durchaus als Kostadinova, Tatiana (2003): Voter Turnout Dyna- chen. Direkte Demokratie kann zwar Plädoyer zur Einschränkung oder Ab- mics in Post-Communist Europe. In: European wie bei Stuttgart 21 von Zeit zu Zeit von schaffung des Zustimmungsquorums Journal of Political Research, 42/2003, S. 741– 759. oben verordnet werden, zur Schaffung gedeutet werden. Lijphart, Arend (1984): Democracies. Patterns of einer bürgerbeteiligungsintensiven Kul- Majoritarian and Consensus Government in tur muss sie aber in immerwährender Twenty-one Countries. New Haven. LITERATUR Praxis erlernt werden. Genau hierzu be- Linder, Wolf (2005): Schweizerische Demokratie. darf es zunächst institutioneller Wei- Armingeon, Klaus (1994): Gründe und Folgen ge- Institutionen, Prozesse, Perspektiven. Bern. ringer Wahlbeteiligung. In: Kölner Zeitschrift für Longchamp, Claude (1991): Herausgeforderte de- chenstellungen der genannten Art. Es ist Soziologie und Sozialpsychologie, 1/1994, S. 43– mokratische Öffentlichkeit: Zu den Möglichkeiten aber noch anzuführen, dass allein die 64. und Grenzen des politischen Marketings bei Ab- Möglichkeit der direktdemokratischen Bowler, Shaun/Donovan, Todd (2002): Democra- stimmungen und Wahlen in der Schweiz. In: Mitsprache ausreichen kann, um den cy, Institutions and Attitudes About Citizen Influ- Schweizerisches Jahrbuch für Politische Wissen- ence on Government. In: British Journal of Politi- schaft, 31/19 91, S . 303–326. Ausgang politischer Entscheidungspro- cal Science, 2/2002, S. 371–390. Matsusaka, John G. (2004): For the Many or the zesse näher an die Präferenzen der Bowler, Shaun/Donovan, Todd (2006): Direct De- Few. The Initiative, Public Policy, and American Stimmbürgerschaft heranzurücken, oh- mocracy and Political Parties in America. In: Party Democracy. Chicago. ne dass das Instrument tatsächlich er- Politics, 5/2006, S. 649–669. Matsusaka, John G. (2005): Direct Democracy griffen werden muss (Hug/Tsebelis Budge, Ian (1996): The New Challenge of Direct Works. In: The Journal of Economic Perspectives, Democracy. Cambridge. 2/2005, S. 185–206. 2002). Weiterhin sind die vielfach attes- Bündnis 90/Die Grünen, SPD (2011): Der Wechsel Mehr Demokratie e. V. (2010a). Volksentscheid- tierten positiven Nebenwirkungen di- beginnt. Koalitionsvertrag zwischen BÜNDNIS Ranking 2010. rektdemokratischer Teilhabe auf die 90/DIE GRÜNEN und der SPD Baden-Württem- Mehr Demokratie e. V. (2010b). Bürgerentscheids- Einstellungen der Bürgerinnen und Bür- berg. bericht Baden-Württemberg 1995–2010. Direkte Dear, Michael (1992): Understanding and Over- Demokratie in Städten und Gemeinden und die ger zum politischen System und zur coming the NIMBY Syndrome. In: Journal of the Reform der Gemeindeordnung im Jahr 2005. Lebenssituation allgemein nicht zu un- American Planning Association, 58/1992, S. 288– Möckli, Silvano (1994): Direkte Demokratie. Ein terschätzen (Bowler/Donovan 2002; 301. internationaler Vergleich der Einrichtungen und Smith/ Tolbert 2004). Dolde, Klaus-Peter/Porsch, Winfried (2010): Gut- Verfahren in der Schweiz und Kalifornien unter Bezogen auf die Beteiligung an der achterliche Stellungnahme zur Verfassungsmä- Berücksichtigung von Frankreich, Italien, Däne- ßigkeit der Initiative der SPD für eine Volksabstim- mark, Irland, Österreich, Liechtenstein und Aust- S21-Abstimmung haben unsere Analy- mung über Stuttgart 21 und die Neubaustrecke ralien. Bern. sen deutlich gemacht, dass vornehmlich Wendlingen-Ulm. Roth, Dieter (1992): Sinkende Wahlbeteiligung – die Lage im badischen Landesteil, die Eder, Christina/Vatter, Adrian/Freitag, Markus eher Normalisierung als Krisensymptom. In: Entfernung vom Kreis nach Stuttgart so- (2009): Institutional Design and the Use of Direct Starzacher, Karl et al. (Hrsg.): Protestwähler und Democracy: Evidence from the German Länder. Wahlverweigerer. Krise der Demokratie? Köln, wie die Stärke von Bündnis 90/Die Grü- In: West European Politics, 32/2009, S. 611–633. S. 58–68. nen die Partizipationsrate steuerte. Die- Eder, Christina (2010): Direkte Demokratie auf Schiller, Theo (2007): Direkte Demokratie auf Bun- se Ergebnisse werfen abschließend die subnationaler Ebene. Eine vergleichende Analyse desländer- und Kommunalebene. In: Freitag, sowohl im Vorfeld der Abstimmung juris- der unmittelbaren Volksrechte in den deutschen Markus/Wagschal, Uwe (Hrsg.): Direkte Demo- tisch diskutierte als auch normative Fra- Bundesländern, den Schweizer Kantonen und kratie. Bestandsaufnahmen und Wirkungen im den US-Bundesstaaten. Baden-Baden. internationalen Vergleich. Berlin, S. 115–150. ge auf, wer eigentlich legitimiert ist, Eder, Christina/Magin, Raphael (2008): Direkte Schiller, Theo/Mittendorf, Volker (2005): Neue über solch eine Sachfrage abzustim- Demokratie. In: Freitag, Markus/Vatter, Adrian Entwicklungen der direkten Demokratie. In: Schil- men. Aus Sicht der Projektgegner vor (Hrsg.): Die Demokratien der deutschen Bundes- ler, Theo/Mittendorf, Volker (Hrsg.): Direkte De- Ort stützen unsere Befunde das Argu- länder. Politische Institutionen im Vergleich. Opla- mokratie. Forschung und Perspektiven. Wiesba- den, S. 257–308. den, S. 7–21. ment, dass die Menschen fernab von Freitag, Markus/Vatter, Adrian/Müller, Christoph Schwarz, Thomas (2011): Die Volksabstimmung Stuttgart den Auswirkungen indifferent (2003): Bremse oder Gaspedal? Eine empirische am 27. November 2011 in Stuttgart. Eine Analyse gegenüberstehen und daher auch Untersuchung zur Wirkung der direkten Demo- des Abstimmungsverhaltens in räumlicher und schwerlich legitimiert sind, darüber zu sozialstruktureller Differenzierung. Stuttgart.

180 Smith, Daniel A./Tolbert, Caroline J. (2004): Edu- pelhof in Berlin 2008 bei 36 Prozent (Schwarz cated by Initiative: the Effects of Direct Democra- 2011, S. 18). DIE DIREKTE DEMOKRATIE IN BADEN- cy on Citizens and Political Organizations in the 3 Neben Volksbegehren auf Verfassungsände- WÜRTTEMBERG UND STUTTGART 21 American States. Ann Arbor. rung und Landtagsauflösung wurde fortan die Tolbert, Caroline J./McNeal, Ramona S./Smith, Möglichkeit eingeräumt, auch Gesetze per Volks- Daniel A. (2003): Enhancing Civil Engagement: begehren einzubringen. Die Zugangs- und Ab- Feststellung des Jahresabschlusses und des Ge- The Effect of Direct Democracy on Political Parti- stimmungshürden wurden indes weiterhin restrik- samtabschlusses der Gemeinde und der Jahres- cipation and Knowledge. In: State Politics & Poli- tiv ausgelegt, um das frustrierende Scheitern an abschlüsse der Eigenbetriebe, Bauleitpläne und cy Quarterly, 1/2003, S. 23–41. der Urne zu verhindern (Wehling 2005, S. 16). örtliche Bauvorschriften sowie Entscheidungen in Vatter, Adrian/Danaci, Deniz (2010): Mehrheitsty- 4 Das Anliegen des Volksbegehrens von 1994 Rechtsmittelverfahren. Insbesondere die Aus- rannei durch Volksentscheide? Zum Spannungs- wurde allerdings vom Parlament übernommen. klammerung von baulichen Planungsverfahren verhältnis zwischen direkter Demokratie und Min- 5 Im Gegensatz zur Landesebene haben die wird dabei kritisch gesehen und die restriktive derheitenschutz. In: Politische Vierteljahresschrift, Bürgerinnen und Bürger in den Kommunen prak- juristische Auslegung seit 2009 hat viele Begeh- 2/2010, S. 122–140. tikablere Möglichkeiten, ihre Anliegen in den ren und damit direktdemokratische Mitsprache Vatter, Adrian (Hrsg.) (2011): Vom Schächt- zum politischen Entscheidungsprozess einzubringen verhindert (Mehr Demokratie e. V. 2010a, b).Wei- Minarettverbot. Religiöse Minderheiten in der (Wehling 2005). Gemäß § 21 der Gemeindeord- terhin wird die Zustimmung von 25 Prozent der direkten Demokratie. Zürich. nung muss der Gemeinderat mit Zweidrittelmehr- Stimmberechtigten zu einer Gesetzesänderung Verba, Sidney/Schlozman, Kay L./Brady, Henry heit einen Bürgerentscheid beschließen. Oder 10 verlangt. Während Wehling (2005) für den Zeit- E. (1995): Voice and Equality: Civic Voluntarism in Prozent der Bürgerinnen und Bürger müssen mit raum 1976 bis 2004 noch 304 Begehren (davon American Politics. Cambridge. ihrer Unterschrift einen Bürgerentscheid fordern. 241 Bürgerbegehren), also 10,5 (bzw. 8,3 Bürger- Wehling, Hans-Georg (2005): Direkte Demokra- Die genaue Zahl erforderlicher Unterschriften ist begehren) pro Jahr zählt, wurden 2006 bis 2010 tie in Baden-Württemberg. In: Kost, Andreas nach der Einwohnerzahl der Gemeinde gestaffelt 144 Begehren (davon 122 Bürgerbegehren) initi- (Hrsg.): Direkte Demokratie in den deutschen Län- und erstreckt sich von 2.500 Unterschriften in Ge- iert, also 28,8 (bzw. 24,4 Bürgerbegehren) pro dern. Eine Einführung. Wiesbaden, S. 14–28. meinden mit weniger als 50.000 Einwohnern bis Jahr. zu 20.000 Unterschriften in Gemeinden mit mehr 6 Solche Dynamiken infolge von Demokratisie- als 200.000 Einwohnern. Die Unterschriften müs- ANMERKUNGEN rung und Neugründung staatlicher Gebilde sind sen innerhalb von sechs Wochen gesammelt wer- in der Transitionsforschung wohlbekannt. Diese 1 Zur Diskussion stehen etwa die Absenkung den. Ein Negativkatalog schließt eine Reihe von „moments of great drama“ können aufgrund der der Quoren, die Verlängerung der Sammelfristen, Themen von Bürgerentscheiden aus. Diese The- unvergleichlichen politischen, sozialen und öko- die Erweiterung des Themenkataloges auf Ge- men umfassen laut §21 Abs. 2 der Gemeindeord- nomischen Spannungen höhere Beteiligung be- meindeebene sowie die Einführung direktdemo- nung Weisungsaufgaben und Angelegenheiten, dingen (Kostadinova 2003, S. 734). In Baden- kratischer Abstimmungen auf Kreisebene (Bünd- die kraft Gesetz dem Bürgermeister obliegen, Württemberg sank entsprechend ab 1972 auch nis 90/Die Grünen, SPD 2011). Fragen der inneren Organisation der Gemeinde- die Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen bis 2 Die Beteiligung lag bei der Abstimmung über verwaltung, die Rechtsverhältnisse der Gemein- 2011 kontinuierlich. die Schulreform in Hamburg 2010 beispielsweise deräte, des Bürgermeisters und der Gemeindebe- 7 Dieser Vorgang war juristisch nicht unumstrit- bei 39 Prozent; beim Nichtraucherschutz in Bay- diensteten, die Haushaltssatzung einschließlich ten (Dolde/Porsch 2010; Kirchhof 2010). Das Bun- ern 2010 bei 37 Prozent oder beim Flughafen Tem- der Wirtschaftspläne der Eigenbetriebe sowie desverfassungsgericht wies eine Verfassungsbe- die Kommunalabgaben, Tarife und Entgelte, die schwerde gegen dieses Vorgehen allerdings ab. 8 Das resultierte in der durchaus ironischen Si- tuation, dass Gegner des Projekts bei der Abstim- mung mit „Ja“ stimmen mussten, um den Ausstieg UNSER AUTOR UNSER UNSER AUTOR UNSER aus der Finanzierung zu erreichen und den Bahn- hof zu verhindern, während S21-Befürworter „Nein“ ankreuzen mussten, um der Durchführung des Projekts zuzustimmen. 9 Tatsächlich war im Vorfeld nicht klar, wie die Regierung reagiert hätte, wenn eine Mehrheit gegen das Projekt gestimmt hätte, die Volksab- stimmung aber am Zustimmungsquorum geschei- tert wäre. Für diesen Fall ließ sich Bündnis 90/Die Grünen offen, dennoch einen Projektausstieg zu verfolgen.

Markus Freitag hat an der Universität Heidelberg Politikwissenschaft, Volks- Matthias Fatke arbeitet als Assistent am wirtschaftslehre und Germanistik stu- Institut für Politikwissenschaft der Univer- diert. Er promovierte und habilitierte an sität Bern sowie als wissenschaftlicher der Universität Bern. Forschungs- und Mitarbeiter an der Universität Kons- Lehraufenthalte führten ihn an das Euro- tanz. Er hat an den Universitäten Kons- painstitut in Basel, an die ETH Zürich tanz, Ljubljana und Pompeu Fabra (Bar- und an die University of Essex (GB). Zwi- celona) Politikwissenschaften studiert schen 2004 und 2005 war er Junior- und promoviert derzeit zu den gesell- professor für vergleichende Politikwis- schaftlichen Auswirkungen direktdemo- senschaft an der Humboldt-Universität kratischer Institutionen. Seine Forschung zu Berlin. Zwischen 2005 und 2011 beschäftigt sich dabei mit polit-soziolo- hatte er den Lehrstuhl für Vergleichende gischen Themen wie Partizipation, Ver- Politik an der Universität Konstanz inne. trauen und Sozialkapital. Seit August 2011 ist er Direktor am Ins- titut für Politikwissenschaft der Universi- tät Bern und Inhaber der Professur für Politische Soziologie. Freitag leitet die wissenschaftliche Dauerbeobachtung des freiwilligen Engagements in der Schweiz (Freiwilligen-Monitor Schweiz) und betreibt Forschungen zu Sozialka- pital, Toleranz, direkter Demokratie und Bürgerbeteiligung.

181 EINSTELLUNGEN UND EMOTIONEN ZU STUTTGART 21 Abstimmung gut, alles gut? Johannes N. Blumenberg/Thorsten Faas

unter der Federführung von Heiner stellungen und Einschätzungen zur Hat die Volksabstimmung am 27. No- Geißler in der Lage waren, nämlich eine Volksabstimmung analysiert werden. vember 2011 zur Befriedung des Kon- nachhaltige Befriedung des Konflikts Wir schließen mit einem Ausblick, der flikts um Stuttgart 21 beigetragen und zu und eine breit getragene Akzeptanz die wichtigsten Ergebnisse noch einmal einer breit getragenen Akzeptanz des des Projektes in der Bevölkerung zu er- zusammenfasst und die mögliche Über- Projekts in der Bevölkerung geführt? Ba- reichen. tragbarkeit der Erfahrungen der Volks- sierend auf zwei umfangreichen Studien Um zu klären, inwieweit die Befriedung abstimmung diskutiert. zeigen Johannes Blumenberg und Thors- wirklich auf die Volksabstimmung zu- ten Faas, wie sich die Einstellungen der rückzuführen ist oder nur am natürli- Bevölkerung, ihre Emotionen zum Projekt chen Ende eines lange anhaltenden Wahlstudie Baden-Württemberg Stuttgart 21, aber auch zum Verfahren Trends liegt, möchten wir in diesem Bei- 2011 und die Studie der Volksabstimmung entwickelt und ver- trag die vergangenen anderthalb Jahre „Volksabstimmung Stuttgart 21“ ändert haben. Nannten im November/ in Baden-Württemberg noch einmal Dezember 2010 noch 35 Prozent der Revue passieren lassen. Im Fokus soll Die Basis für unsere Untersuchung bil- Teilnehmer Stuttgart 21 als wichtigstes dabei die Sicht derjenigen stehen, die den zwei Studien, die von November Problem, wurde dieses Thema zwei Wo- am Ende über das Projekt abstimmten: 2010 bis Dezember 2011 am Mannhei- chen vor der Wahl durch die Kernschmel- die Bürgerinnen und Bürger Baden- mer Zentrum für Europäische Sozialfor- zen in Fukushima zurückgedrängt. Einem Württembergs. Basierend auf zwei ver- schung der Universität Mannheim leichten Anstieg der Präsenz von Stutt- knüpften Studien, die wir anlässlich der durchgeführt wurden. Beide verfolgten gart 21 folgte im Anschluss an die Volks- Landtagswahl 2011 bzw. der Volksab- das Ziel, Prozesse der Informationsver- abstimmung ein merklicher Abfall der stimmung zu Stuttgart 21 durchgeführt arbeitung und Entscheidungsfindung im Wichtigkeit des Themas. Die Volksab- haben, möchten wir der Frage nachge- Umfeld der Landtagswahl 2011 bzw. stimmung hat – so das Fazit – dazu bei- getragen, dass Stuttgart 21 aus dem hen, wie sich die Einstellungen der Be- der Volksabstimmung zu Stuttgart 21 zu Problembewusstsein der Bürgerinnen völkerung, ihre Emotionen zum Projekt untersuchen. Um dies leisten zu können, und Bürger geraten ist. Ebenso wurden Stuttgart 21 selbst, aber auch zum zuge- haben wir zu Beginn der Untersuchun- die Emotionen besänftigt. Die Akzep- hörigen Verfahren (mit der Volksabstim- gen Teilnehmer eines sogenannten On- tanz des Ergebnisses der Volksabstim- mung am Ende) entwickelt und verän- line-Access Panels (und zwar jenem der mung zeigt sich letztlich auch in der dert haben. Firma YouGov3) eingeladen, an einer geäußerten Erwartung, dass die Landes- Wir beginnen mit einer knappen Vor- via Internet realisierten Umfrage teilzu- regierung das Ergebnis akzeptiert und stellung dieser Studien. Daran anschlie- nehmen, in der ihnen Fragen zu unter- als politischen Auftrag versteht. I ßend diskutieren wir, für wie wichtig die schiedlichsten politischen Themenfel- Bürgerinnen und Bürger des Landes dern sowie zur Landtagswahl bzw. Stuttgart 21 erachtet haben und welcher Volksabstimmung gestellt wurden. An Dynamik diese zugeschriebene Wich- unserer ersten Befragung im Novem- Einleitung tigkeit unterliegt. Unter der (wohl ge- ber/Dezember 2011 haben rund 3.150 rechtfertigten) Annahme, dass bei Stutt- Personen teilgenommen. Um die weite- Rund neun Monate nach der Volksab- gart 21 insbesondere auch Emotionen re Entwicklung der Einstellungen dieses stimmung zu Stuttgart 21 ist es bei den eine entscheidende Rolle spielten, Personenkreises während des Wahl- weiterhin stattfindenden Montagsde- schließt daran eine Betrachtung von mit kampfes und darüber hinaus beobach- monstrationen sichtbar (und zumeist Stuttgart 21 verknüpften Emotionen an, ten zu können, wurde dieser im weiteren auch hörbar) ruhiger geworden. Zwar bevor in einem dritten Schritt die Ein- Verlauf bis zu acht weitere Male be- findet sich immer noch eine kleine Schar von Stuttgart 21-Gegnern zusammen, um beharrlich gegen das Projekt zu de- Tabelle 1: Übersicht über Zeiträume der Befragungen monstrieren. Die Zahl der Demonstran- ten hat allerdings im Zeitverlauf merk- Befragung Studie Zeitraum lich nachgelassen. Dies gilt gerade für prominente Vertreter des Protestes. Und 1 Wahlstudie Baden-Württemberg 2011 18.11.2010 bis 02.02.2011 auch der Rückhalt und das Verständnis für die Demonstrationen innerhalb der 2 Wahlstudie Baden-Württemberg 2011 13.02.2011 bis 26.02.2011 Bevölkerung scheinen zu schwinden, Wahlstudie Baden-Württemberg 2011 27.02.2011 bis 12.03.2011 selbst wenn Ministerpräsident Winfried 3 Kretschmann immer wieder auf das legi- 4 Wahlstudie Baden-Württemberg 2011 13.03.2011 bis 26.03.2011 time Recht der Gegner, weiterhin gegen das Projekt zu demonstrieren, verweist.1 5 Wahlstudie Baden-Württemberg 2011 28.03.2011 bis 18.04.2011 Es hat den Anschein, dass der Volksab- Wahlstudie Baden-Württemberg 2011 17.05.2011 bis 25.05.2011 stimmung damit geglückt ist, wozu we- 6 der die im Rahmen der Planung des Pro- 7 Volksabstimmung „Stuttgart 21“ 30.10.2011 bis 12.11.2011 jektes enthaltenen Beteiligungselemen- te (Ideensammlungen Mitte der 1990er; 8 Volksabstimmung „Stuttgart 21“ 13.11.2011 bis 26.11.2011 Anhörungen und Eingaben während Volksabstimmung „Stuttgart 21“ 28.11.2011 bis 14.12.2011 der Planung2) noch die Sachschlichtung 9

182 fragt. Zirka 1.000 Teilnehmer der ersten fragten gab zu diesem Zeitpunkt an, ABSTIMMUNG GUT, ALLES GUT? Befragung nahmen an allen folgenden dass Stuttgart 21 für sie das wichtigste Befragungen bis in den Dezember 2011 Problem sei. hinein teil. Tabelle 1 gibt Aufschluss Vergegenwärtigt man sich die Vor- über die Zeitpunkte der einzelnen Be- kommnisse vor der Wahl noch einmal, fragungen. so liegen die Gründe hierfür nahe. Am schen Diskussion in Deutschland insge- Die mehrfache Befragung der Teilneh- 11. März 2011 kam es in Folge eines samt, aber auch der laufenden Wahl- mer versetzt uns in die Lage, in sehr de- durch das Tōhoku-Erdbeben ausgelös- kämpfe in Baden-Württemberg und taillierter, feinkörniger Art und Weise ten Tsunamis zu mehreren Kernschmel- Rheinland-Pfalz, wurde. Auch in der Veränderungen in den Emotionen, Ein- zen im japanischen Kernkraftwerk Fuku- Wahrnehmung der Bürger wurde Stutt- stellungen und Bewertungen unter- shima Daiichi. Die Lage war dabei so gart 21 hierdurch zurückgedrängt.4 schiedlichster Themenlagen, unter an- gravierend, dass das Unglück auch den Nach der Landtagswahl vom 27. März derem zum Themenkomplex Stuttgart 21, deutschen Mediendiskurs (ebenso wie 2011 ist ein neuerlicher (leichter) An- nachzuvollziehen. Die späteren Befra- die tatsächliche politische Agenda in stieg der Wahrnehmung von Stutt- gungen der Studie „Volksabstimmung Berlin) in den anschließenden Wochen gart 21 als wichtigstem Problem erkenn- Stuttgart 21“ wurden darüber hinaus bestimmte und zum Leitthema der politi- bar. Die Häufigkeit der Nennungen durch zwei telefonische Befragungen mit jeweils 1.000 Personen in Baden- Württemberg insgesamt und zusätzli- chen jeweils 500 Personen in der Stadt Stuttgart ergänzt, von denen eine vor und eine nach der Volksabstimmung durchgeführt wurde. Für die folgenden Analysen werden so- wohl die Daten der Online-Befragun- gen als auch der Telefonbefragungen herangezogen. Die ersten beiden Teile, bei denen die langfristige Perspektive relevant ist, basieren dabei auf den Da- ten der Online-Umfragen. Für die Ana- lyse der Einstellungen zur Volksabstim- mung selbst greifen wir auf die nach der Abstimmung telefonisch gewonnenen Daten für Baden-Württemberg insge- samt zurück.

Stuttgart 21 – Das wichtigste Problem im Land?

Die erste Frage, der wir an dieser Stelle nachgehen möchten, bezieht sich auf die subjektiv wahrgenommene Wichtig- keit des Themas Stuttgart 21. In unseren Umfragen haben wir die Befragten ge- beten, anzugeben, welches politische Problem in Baden-Württemberg aus ih- rer Sicht (zum jeweiligen Befragungs- zeitpunkt) das größte sei. Diese Frage bietet einen ersten Ansatzpunkt, um die Wichtigkeit des Problems insgesamt zu erfassen. Für die Analysen haben wir aus den Antworten der Befragten die Häufigkeit der Nennung „Stuttgart 21“ ins Verhältnis zu anderen Nennungen, wie beispielsweise „Bildungspolitik“ oder „Atomkraft“, gesetzt. Unsere Analyse zeigt, dass insbesonde- re zu Beginn des Beobachtungszeitrau- mes, im November/Dezember 2010, Stuttgart 21 von fast 35 Prozent der Be- fragten als wichtigstes Problem ge- nannt wurde – für ein landesspezifi- sches Thema (manche würden sogar von einem lokalen Thema sprechen) ein sehr hoher Wert. In den letzten beiden Stuttgart 21-Gegner demonstrieren im Januar 2012 auf dem Schlossplatz. Nach der Wochen vor der Wahl ging die Häufig- Volksabstimmung zu Stuttgart 21 ist es bei den Demonstrationen sichtbar (und zumeist keit der Nennungen jedoch massiv zu- auch hörbar) ruhiger geworden. Das Ergebnis der Volksabstimmung hat letztlich auch rück. Nur noch rund ein Fünftel der Be- die Emotionen – von Befürwortern und Gegnern – befriedet. picture alliance/dpa

183 bleibt dabei auch über den relativ lan- wollen wir prüfen, ob es Unterschiede ringeren Schwankungen unterliegen gen Zeitraum zwischen Befragungszeit- zwischen den Bewohnern Stuttgarts sollte. raum 6 (Mai 2011) und Befragungszeit- und den Bewohnern der anderen Regi- Was zeigen nun die Ergebnisse? Zu Be- raum 7 (November 2011) so stabil, dass onen Baden-Württembergs gibt. Aus ginn unserer Untersuchungen nennen davon ausgegangen werden kann, theoretischer Sicht ist hierbei zu erwar- zirka 45 Prozent der Stuttgarter Bürge- dass das Phänomen in der Wahrneh- ten, dass die direkt betroffenen Stutt- rinnen und Bürger ihren Bahnhof als mung der Bürgerinnen und Bürger glei- garter das Problem Stuttgart 21 tatsäch- wichtigstes Problem des Landes. Dieser chermaßen präsent geblieben ist. lich als (deutlich) wichtiger wahrneh- Wert liegt damit um rund zehn Prozent- Im Anschluss an die Volksabstimmung men als andere Personen. Sie sind vor punkte über dem Wert, der für den Rest zu Stuttgart 21 ist schließlich ein starker Ort nämlich in stärkerem Maße betrof- des Landes resultiert. Diese Erwartung Abfall von Stuttgart 21 in der Nennungs- fen als die Nicht-Stuttgarter im Ländle. bestätigt sich also. Dies gilt allerdings häufigkeit erkennbar. Wir finden hier Das schließt die Tatsache ein, dass nicht für unsere zweite These: Denn mit

Johannes N. Blumenberg/Thorsten Faas also einen ersten starken Hinweis dafür, sie auch einen direkten Erfahrungszu- der Fukushima-Katastrophe geht die dass die Volksabstimmung dazu beige- gang zum Thema haben, während alle Häufigkeit der Nennung auch in Stutt- tragen hat, Stuttgart 21 aus dem Prob- anderen Bewohner des Landes das The- gart merklich zurück. Und auch sonst lembewusstsein der Bürger zurückzu- ma nur medial vermittelt erfahren. Für entspricht das zeitliche Verlaufsmuster drängen. die Bewohner Stuttgarts ist das Thema der Nennungshäufigkeit dem des restli- Nach dieser (landesweiten) Betrach- – um es kommunikationswissenschaft- chen Landes. Die Daten zeigen also, tung des Themas insgesamt wollen wir lich zu formulieren – ein „aufdringliches“ dass Stuttgart 21 in der Landeshaupt- uns noch zwei zusätzlichen Differenzie- Thema, weswegen seine wahrgenom- stadt zwar grundsätzlich als wichtige- rungen zuwenden. Im ersten Schritt mene Wichtigkeit in Stuttgart auch ge- res Problem, aber im Verlauf nicht an- ders wahrgenommen wurde als im Rest des Landes (vgl. Abbildung 1). Neben dieser regionalen Differenzie- Abbildung 1: Prozentuale Häufigkeit der Nennung von „Stuttgart 21“ als rung wird in der einschlägigen Literatur wichtigstes Problem in Baden-Württemberg auch nach so genannten issue publics unterschieden. Übertragen auf Stutt- WasWas ist Ihrer ist Ihrer Meinung Meinung nach nach gegenwärtig gegenwärtig dasdas gart 21 ließe sich vor diesem Hinter- wichtigstewichtigste politische politische Problem Problem hier hier in inBaden-Württemberg? Baden-Württemberg? grund erwarten, dass insbesondere die

50 Gegner von Stuttgart 21 dem Thema be- Landtagswahl Volksabstimmung sondere Bedeutung zumessen. Auch

40 dieser Frage wollen wir nun nachgehen. Wie sich in Abbildung 2 zeigt, erweist

30 sich diese These zumindest vor der Landtagswahl als zutreffend. Allerdings verschwindet dieser Unterschied nach 20 der Landtagswahl. Bemerkenswert ist vor allem, dass im 10 Umfeld der Volksabstimmung nicht et-

Durchschnittlicher Anteil Nennungen wa die Nennungshäufigkeit der Geg- 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 ner zurückgeht, sondern vielmehr ein Durchschnittlicher Anteil Nennungen Befragung deutlicher Anstieg bei den Befürwor- 5 Stuttgart -– WichtigstesWichtigstes Problem: Problem: S21 S21 tern des Projektes erkennbar wird . Andere Region -– Wichtigstes Wichtigstes Problem: Problem: S21 S21 Während das Problem Stuttgart 21 zum Zeitpunkt der Landtagswahl bei den Projektgegnern einen höheren Stellen- wert hatte, ist dies bei der Volksabstim- Abbildung 2: Prozentuale Häufigkeit der Nennung von „Stuttgart 21“ als mung nicht mehr der Fall. Offenkundig wichtigstes Problem in Baden-Württemberg aufgeschlüsselt nach Befürwortern hat die Volksabstimmung als verfasste und Gegnern Form politischer Partizipation (mit ver- bindlichem Charakter) die zuvor beste- WasWas ist Ihrerist Ihrer Meinung Meinung nach nach gegenwärtig gegenwärtig das henden Unterschiede nivelliert. Nach wichtigstewichtigste politische politische Problem Problem hier hier in in Baden-Württemberg? Baden-Württemberg? der Volksabstimmung hat das Problem

50 schließlich für beide Seiten an Wichtig- Landtagswahl Volksabstimmung keit verloren – erneut ein klares Indiz dafür, dass die Volksabstimmung zu ei- 40 ner Angleichung von Wahrnehmungs- mustern (einschließlich eines deutlichen 30 Rückgangs nach dem Volksentscheid auf beiden Seiten) beigetragen hat. 20

Zwischen Wut und Hoffnung – 10 Emotionen zu Stuttgart 21 Durchschnittlicher Anteil Nennungen Anteil Durchschnittlicher Durchschnittlicher Anteil Nennungen 0 Stuttgart 21 hat die Bürgerinnen und 1 2 3 4 5 6 7 8 9 BefragungBefragung Bürger nicht nur auf der Sachebene, sondern auch auf der emotionalen Ebe- GegnerGegner Befürworter ne bewegt. Nicht umsonst ist der Begriff

184 „Wutbürger“ in diesem Kontext entstan- Die Volksabstimmung aus Sicht der ABSTIMMUNG GUT, ALLES GUT? den. Auch wir wollen daher an dieser Bürger Stelle den mit Stuttgart 21 verbundenen Emotionen (samt ihrer zeitlichen Dyna- Noch vor der Volksabstimmung war aus mik) nachgehen. dem Lager der Gegner zu vernehmen, Wir unterscheiden dabei zwischen po- dass sie das Ergebnis nicht akzeptieren Zunächst ist dabei festzuhalten, dass sitiven und negativen Emotionen. Als würden, wenn sie in der Mehrheit wä- die Bürgerinnen und Bürger insgesamt Beispiele hierfür greifen wir die Emoti- ren, aber das Quorum nicht erreicht sehr zufrieden mit der Durchführung der onen Freude und Hoffnung (positiv) werden würde. Bei der Volksabstim- Volksabstimmung waren. Dies gilt so- sowie Ärger und Wut (negativ) exem- mung wurden weder Quorum noch das wohl für die Befürworter des Projektes, plarisch heraus.6 Abbildung 3 stellt die entsprechende Ergebnis erreicht. Den- aber in noch viel größerem Maße für Emotionen der Befragten zu Stutt- noch legt die weiterhin höhere Wut zu- dessen Gegner. So finden es nur rund gart 21 während des Befragungszeit- nächst nahe, dass die unterlegenen acht Prozent der Gegner und 16 Prozent raumes dar. Während die mittleren Gegner nicht so zufrieden mit der Volks- der Befürworter sehr oder eher schlecht, Werte für Ärger und Wut im Bereich abstimmung sind wie die Befürworter. dass es die Volksabstimmung gegeben von 4 bis 5 liegen7, erreicht die positive Außerdem war unklar, ob beide Seiten hat (Abbildung 5). Die übrigen Personen Emotion Hoffnung insgesamt – also bei das Ergebnis akzeptieren würden. Wir begrüßen dies im Nachhinein. Betrachtung von Befürwortern und möchten dies zum Anlass nehmen, ab- Obwohl die Befürworter die Volksab- Gegnern zusammen – lediglich einen schließend explizit die Bewertung der stimmung gewonnen haben, bewerten Höchstwert von 3,3. Werden Gegner Volksabstimmung durch die Bürger zu die Gegner die Tatsache, dass es die und Befürworter getrennt betrachtet, betrachten. Volksabstimmung gegeben hat, besser. wandelt sich das Bild jedoch etwas. Dies lässt sich damit erklären, dass es Auf der Seite der Gegner überwiegen weiterhin die negativen Emotionen. Po- sitive Emotionen spielen nur eine unter- geordnete Rolle. Abbildung 3: Emotionen zu Stuttgart 21 aufgeschlüsselt nach Befürwortern Bei den Befürwortern ist dieser Trend und Gegnern zunächst genau umgekehrt. Jedoch werden die Emotionen bei dieser Grup- WennWenn SieSie persönlich persönlich an an Stuttgart Stuttgart 21 21denken: denken: InIn welchemwelchem AusmaßAusmaß löst löst Stuttgart Stuttgart 21 21 die die folgenden folgenden pe insgesamt schwächer ausgelöst als Gefühle und Empfindungen bei Ihnen aus? bei den Gegnern, und negative und po- Gefühle und Empfindungen bei Ihnen aus? sitive Emotionen liegen in ihrer Stärke Gegner Volksabstimmung Befür wor ter 6 weniger weit auseinander. Im Zeitver- Landtagswahl Landtagswahl Volksabstimmung lauf zeigt sich zudem, dass bei den

Gegnern die negativen Emotionen 5 leicht abnehmen, während bei den Be-

fürwortern die Emotionen überwiegend 4 stabil bleiben. Erst nach der Volksab- stimmung gehen die negativen Emotio- 3 nen insgesamt – also bei beiden Grup- pen – zurück. Während bei den Geg- nern auch Hoffnung und Freude abneh- 2 men, steigen bei den Befürwortern 1 2 3 4 5 6 7 8 9 1 2 3 4 5 6 7 8 9 diese Emotionen – wohl auch aufgrund 7) 1 bis (Skala: Zustimmung Durchschnittliche BefragungBefra gung Durchschnittliche Zustimmung (Skala: 1 bis 7) der gewonnenen Volksabstimmung – Freude Hoffnung Ärger Wut leicht an. Mit Blick auf die unterschiedlichen Regi- onen in Baden-Württemberg (vgl. Ab- bildung 4) lassen sich die bereits für die Abbildung 4: Emotionen zu Stuttgart 21 aufgeschlüsselt nach Region Wichtigkeit festgestellten Befunde ebenfalls nachweisen. In Stuttgart ist WennWenn SieSie persönlich persönlich an an Stuttgart Stuttgart 21 21denken: denken: das Thema Stuttgart 21 nicht nur wichti- InIn welchemwelchem AusmaßAusmaß löst löst Stuttgart Stuttgart 21 21 die die folgenden folgenden ger, sondern ruft auch stärkere Emotio- Gefühle und Empfindungen bei Ihnen aus? nen hervor als in den anderen Landes- Gefühle und Empfindungen bei Ihnen aus? teilen. Die Entwicklung der Emotionen Andere Region Stu tt g a r t Volksabstimmung ist jedoch ähnlich. Vor allem gehen 5 Landtagswahl Volksabstimmung auch die Werte mit Abschluss der Volks- Landtagswahl abstimmung deutlich zurück.

Auch auf emotionaler Ebene hat die 4 Volksabstimmung vom 27. November 2011 das Thema Stuttgart 21 demnach deutlich befriedet. Mit der Einschrän- 3 kung, dass die Gegner auch nach der Volksabstimmung weiterhin etwas wü- tender und ärgerlicher sind, gilt dies so- 2 1 2 3 4 5 6 7 8 9 1 2 3 4 5 6 7 8 9 wohl für die unterschiedlicher Konflikt- Durchschnittliche Zustimmung (Skala: 1 bis 7) 1 bis (Skala: Zustimmung Durchschnittliche parteien als auch für die unterschiedli- Durchschnittliche Zustimmung (Skala: 1 bis 7) BefragungBefra gung chen Landesteile. Freude Hoffnung Ärger Wut

185 Abbildung 5: Bewertung Volksabstimmung aufgeschlüsselt nach Befürwortern desregierung, das Ergebnis der Volks- und Gegnern abstimmung zu akzeptieren. In erster Linie die Haltung der Gegner unter- WieWie bewerten bewerten Sie Sie alles alles in allemin allem die Tatsache,die Tatsache, streicht dabei erneut die These, dass dassdass es es die die Volksabstimmung Volksabstimmung zu zu Stuttgart Stuttgart 21 gegeben21 gegeben hat? hat? die Volksabstimmung zu einer Befrie- dung auf allen Seiten beigetragen hat. Gegner Befürworter 80 Die Zeichen lassen sich deutlich lesen: Durch die Volksabstimmung fühlen sich

60 auch die Gegner nun berücksichtigt. Der bis heute von der Landesregierung akzeptierte Auftrag, sich an das Ergeb- 40 nis der Volksabstimmung zu halten, wird Pr o zen t

Johannes N. Blumenberg/Thorsten Faas von allen Gruppierungen innerhalb der 20 Bevölkerung unterstützt, aber auch er- wartet.

0

Finde ich sehr schlecht Finde ich eher schlecht Finde ich teils gut/teils schlecht Ausblick Finde ich eher gut Finde ich sehr gut Fasst man die Ergebnisse noch einmal zusammen, so lässt sich die eingangs vermutete Hypothese, dass die Volks- Abbildung 6: Normative Erwartung nach der Volksabstimmung abstimmung zu Stuttgart 21 ein gelun- aufgeschlüsselt nach Befürwortern und Gegnern genes Experiment war, um die in der Be- völkerung entstandene Konfliktlinie zu Zustimmung:Zustimmung: Die grün-rote Die grün-rote Landesregierung Landesregierung von Baden-Württemberg von Baden-Württemberg muss das bereinigen, eindeutig bestätigen. Nach Ergebnismuss das der Ergebnis Volksabstimmung der Volksabstimmung zu Stuttgart zu Stuttgart 21 in 21 dedem in jedem Fall Fall akzeptieren. akzeptieren. der Durchführung der Volksabstimmung verliert das Projekt seinen Stellenwert Gegner Befürworter als eines der wichtigsten Probleme des 80 Landes in der Wahrnehmung der Bür- gerinnen und Bürger. Gleichzeitig ist es

60 gelungen, die starken Gefühle (insbe- sondere die negativen), die mit dem Projekt verbunden waren, bei einem 40 Pr o zen t Großteil der Bevölkerung abzubauen. Befürworter wie Gegner, Stuttgarter 20 wie die Bewohner anderer Regionen des Landes waren insgesamt sehr zu- 0 frieden mit der Durchführung der Volks- abstimmung und erwarten nun, dass Stimme überhaupt nicht zu Stimme eher nicht zu Stimme teils zu/ teils nicht zu Stimme eher zu Stimme voll und ganz zu UNSER AUTOR UNSER

wahrscheinlich aus Sicht vieler Befür- Neben der Zufriedenheit mit der Ab- worter keine Notwendigkeit mehr gab, stimmung bieten die normativen Erwar- über das Projekt abzustimmen, nach- tungen an die Landesregierung weite- dem es im Vorlauf Planfeststellungsver- ren Einblick in die Akzeptanz des Ergeb- fahren und den Schlichtungsprozess nisses durch Befürworter und Gegner. gegeben hatte. Auch hier zeigt sich, dass es zwischen Unterschiede zwischen anderen Regio- den beiden Gruppen (Abbildung 6) er- nen und den Bewohnern der Stadt Stutt- neut eine große Übereinstimmung gab. gart gab es in diesem Punkt zudem Sowohl Befürworter als auch die unter- nicht. legenen Gegner erwarten von der Lan- Prof. Dr. Thorsten Faas ist seit 2009 Ju- niorprofessor für Politikwissenschaft an

UNSER AUTOR UNSER der Universität Mannheim. Zu seinen Johannes N. Blumenberg, M.A. stu- Forschungsbereichen zählen Wahlen, dierte von 2006 bis 2010 Politikwis- Wahlverhalten, Wahlkämpfe und Wahl- senschaft und Soziologie an den Uni- studien. Er leitet am Mannheimer Zen- versitäten Oldenburg und Heidelberg. trum für Europäische Sozialforschung Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der die Projekte „Wahlstudie Baden-Würt- Wahlstudie Baden Württemberg und temberg 2011“ sowie „Volksabstim- der Studie „Volksabstimmung Stutt- mung Stuttgart 21: Eine Studie zur Mei- gart 21“. Zu seinen Forschungsinteres- nungsbildung, Entscheidungsfindung sen zählen Wahlen- und Wählerver- und der Legitimität politischer Entschei- halten sowie Parteien und Parteiensys- dungen anlässlich der Volksabstim- teme. mung zu ‚Stuttgart 21‘“.

186 die Landesregierung den direkten Auf- sich schließlich das reale Potential der ABSTIMMUNG GUT, ALLES GUT? trag des Volkes auch umsetzt. Volksabstimmung messen lassen muss. Nichtsdestotrotz bleibt die Frage offen, ob sich die Erfahrungen aus dieser ANMERKUNGEN Volksabstimmung auch auf zukünftige Befragung 3 Stuttgart 21 als wichtigstes Problem Volksabstimmungen im Land übertra- 1 Heffner, Markus/Raidt, Erik (2012): Stutt- gart 21: Protest im Hamsterrad. In: Stuttgarter an. gen lassen. Zweifelsohne war die Volks- Zeitung.de vom 12.3.2012. Unter: http://www. 5 Der Rückgang bei den Befürwortern von Be- abstimmung ein großer Erfolg. Gleich- stuttgarter-zeitung.de/inhalt.stuttgart-21-pro- fragungszeitraum 6 zu 7 lässt sich durch den gro- wohl gilt: Das Projekt Stuttgart 21 war test-im-hamsterrad.0da1440b-8bbb-4a2c-afef- ßen zeitlichen Abstand erklären. Erst ab Befra- 1c0bce83b85d.html. gung 7 handelt es sich um die Befragungen aus und ist in vielerlei Hinsicht besonders. Anlass der Volksabstimmung. 2 Im Rahmen des Raumordnungsverfahrens, Kaum ein Projekt in der Bundesrepublik das auch Umweltverträglichkeitsprüfungen, al- 6 Wie weiterführende Analysen gezeigt ha- hat die Gemüter zuvor so bewegt wie ternative Trassenführungen und alternative Be- ben, verhalten sich die anderen Emotionen ähn- dieses und kaum eines hat die Fronten triebskonzepte umfasste, gingen 13.700 Einwen- lich den exemplarisch ausgewählten, so dass es dungen gegen das Projekt ein. Diese Zahl ist je- an dieser Stelle sinnvoll ist, nur die ausgewählten so verhärtet. Letztlich war die Volksab- Ergebnisse zu präsentieren. stimmung, auch für die neue Regierung doch, verglichen mit den Zahlen anderer Infra- strukturprojekt wie beispielsweise dem Bau der 7 Der Wert 1 bedeutet, dass die Emotionen gar des Landes, ein Rettungsanker, ein letz- Rheintalbahn mit 172.000 Einwendungen, relativ nicht ausgelöst werden, der Wert 7 entspricht „in ter Ausweg. Wenn direkte Demokratie gering. sehr großem Ausmaß“. gelingen soll, darf diese jedoch nicht zu 3 Ein Access-Panel ist ein Kreis von Personen, einem Rettungsanker verkommen, darf die für Befragungen durch einen Anbieter zur Ver- fügung stehen. Die Personen haben sich freiwillig nicht der letzte Ausweg sein. Zu leicht in diesem Panel registriert und erhalten für ihre entsteht andernfalls der Eindruck, das Teilnahmen in der Regel eine geringfügige Ent- Volk müsse alles bestimmen, weil die Po- lohnung. litik sich nicht mehr einig wird. Konflikte 4 Dass es oftmals die gleichen Personen waren, gehören jedoch genauso zu einer ge- die sich zunächst gegen den Bahnhof, dann ge- gen Atomkraft aussprachen, unterstützt diese lebten Demokratie. Auf diesen ersten These zusätzlich. Immerhin gaben rund 20 Pro- Versuch können deshalb letztendlich zent derjenigen Personen, die in Befragung 4 nur weitere Versuche folgen, an denen Atomkraft als wichtigstes Problem sahen, noch in

Baden-Württemberg-Puzzle Beliebter Lernklassiker endlich wieder erhältlich!

BADEN-WÜRTTEMBERG– PUZZLE Das Großpuzzle Baden-Württemberg Ein Lernspiel für Gruppen nvermittelt Grundkenntnisse über Geografie und Politik des Bundeslands.

Bis 25 Spieler und Spielerinnen ab 4 Jahren nermöglicht interaktive, schülerorientierte Einstiege und Vertiefungen.

nkann von Gruppen mit bis zu 30 Spielenden problemlos genutzt werden, vom Kindergarten- bis zum Seniorenalter.

nbesteht aus stabilen, gut zu greifenden Kartonteilen, die entlang der Grenzen der Stadt- und Landkreise gestanzt sind.

nhat ausgelegt die Maße 90 x 120 cm.

nvollständig überarbeitet und kartografisch auf dem neusten Stand.

Bestellung: 25.– Euro zzgl. Versand (bei einem Puzzle 6,12 Euro) Landeszentrale für politische Bildung, Fax 0711.164099 77, [email protected], www.lpb-bw.de/shop

187 DIREKTE DEMOKRATIE UND PARTEIENDEMOKRATIE Volksentscheide versus Parteiendemokratie? Das Lehrstück Stuttgart 21 Ulrich Eith/Gerd Mielke

warten viele bessere politische Ergeb- eine eigene Legitimationsgrundlage. Die Erwartungen, die gegenwärtig in ei- nisse durch eine verstärkte Ausweitung Präsident und Parlament kommen durch ne Ausweitung der direkten Demokratie der direkten Demokratie. getrennte Wahlen ins Amt, das Parla- gesetzt werden, sind hoch. Am Beispiel Am Beispiel des Volksentscheids zu ment kann einen vom Volk gewählten des Volksentscheids zu Stuttgart 21 dis- Stuttgart 21 diskutiert dieser Beitrag Präsidenten nicht vorzeitig abwählen. kutieren Ulrich Eith und Gerd Mielke das das Verhältnis von direkter Demokratie Parlamentarische Systeme hingegen Verhältnis von direkter Demokratie und und Parteiendemokratie unter den Be- wie etwa das deutsche sind durch eine Parteiendemokratie unter den Bedingun- dingungen der in Deutschland vorherr- gekoppelte Legitimationsgrundlage gen der vorherrschenden politischen Kul- schenden politischen Kultur und Erwar- gekennzeichnet. Das Volk wählt ledig- tur. Es geht dabei nicht um den häufig tungshaltungen. Vieles – so die hier ver- lich das Parlament, welches dann sei- attestierten Gegensatz zwischen einem tretene These – deutet allerdings dar- nerseits mit Mehrheit die Regierung ins direktdemokratischen und einem reprä- auf hin, dass der in der öffentlichen Amt bringt und diese aber auch jeder- sentativen Demokratiemodell. Vielmehr Diskussion immer wieder attestierte Ge- zeit mit Mehrheit wieder abwählen haben die Auseinandersetzungen um Stuttgart 21 gezeigt, dass es darauf an- gensatz zwischen einem direktdemo- kann – beim konstruktiven Misstrauens- kommt, den gewachsenen Partizipati- kratischen und einem repräsentativen votum in Deutschland allerdings nur bei onswünschen der Bürgerinnen und Bür- Demokratiemodell dem kritischen Pra- gleichzeitiger Wahl einer neuen Regie- ger institutionell Rechnung zu tragen. Die xistest nicht Stand hält. Die für die Zu- rung. zukünftig spannende Frage wird sein, in kunft spannende Frage wird vielmehr Konkordanz- und Mehrheitsdemokrati- welchem produktiven Verhältnis Elemen- sein, in welchem produktiven Verhältnis en unterscheiden sich nach dem vor- te aus beiden Demokratiemodellen mit- Elemente aus beiden Demokratiemo- herrschenden Modus der politischen einander zu verbinden sind und wie sich dellen institutionell miteinander zu ver- Entscheidungsfindung, eher verhand- die zur politischen Legitimitätssicherung binden sind und wie sich die zur politi- lungs- und konsensorientiert einerseits unverzichtbare politische Kultur in Rich- schen Legitimitätssicherung unverzicht- oder aber mehrheitsorientiert anderer- tung auf eine Kultur der Mitentscheidung bare politische Kultur in Deutschland in seits (Lijphart 1999). Als Idealtypen gel- weiterentwickeln wird. IRichtung auf eine Kultur der Mitent- ten die Schweiz und Großbritannien. Im scheidung weiterentwickeln wird oder ersten Fall haben Vetoplayer und Min- entwickeln lässt. derheiten durch den institutionalisier- ten Zwang zur Einigung – etwa in einem Einleitung System mit zwei gleichberechtigten Par- Zum Verhältnis von Institutionen und lamentskammern – eine starke Position, Kritik an den Parteien und Frustrationen politischer Kultur im zweiten Fall entscheidet allein die über die politischen Ergebnisse der Par- Mehrheit, häufig ohne ausgeprägten teiendemokratie sind stete Wegbeglei- Für demokratische Systeme gibt es kein Minderheitenschutz. Föderale Systeme ter der repräsentativen, parteienorien- normiertes institutionelles Design, kein wiederum unterscheiden sich letztlich tierten Demokratie. Entsprechend wer- allgemeingültiges Passepartout. Die nach ihrer Zielsetzung (Schultze 1992). den schnell auch Forderungen nach Bandbreite der Institutionellen Ord- Im dualen Föderalismus wie in der einem gründlichen Umbau, einer Struk- nung realer demokratischer Systeme ist Schweiz oder auch in den USA verfügen turveränderung des politischen Systems beachtlich. Typologisch werden übli- die Gliedstaaten über weitreichende laut. Allein die verordneten strukturellen cherweise präsidentielle von parlamen- eigenständige politische Kompetenzen Gegenmittel wechselten über die Jahr- tarischen Systemen unterschieden, Kon- zur Normsetzung und über entspre- zehnte hinweg. kordanz- von Mehrheitsdemokratien chende Strukturen der Administration. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten oder auch zentralistische von föderalen Dies verleiht ihnen zumindest in diesen galt vor allem das mehrheitsdemokrati- Ordnungen, letztere nochmals unter- Politikfeldern ein größtmögliches Maß sche Großbritannien als demokratieer- teilt in eine duale oder aber kooperati- an Autonomie und führt über das ge- probtes Vorbild. Nicht wenige der poli- ve Variante. Diesen Unterschieden in samte Staatsgebiet hinweg betrachtet tischen Analytiker und Kommentatoren der typologischen Einordnung liegen zu ganz unterschiedlichen gesetzlich- erhofften sich von einem Mehrheits- jeweils auch unterschiedliche Gesichts- administrativen Regelungen. Im koope- wahlsystem und einer Begrenzung der punkte und Schwerpunktsetzungen der rativen föderalen System Deutschlands Kompetenzen des Bundesrates zügige- Betrachtung zugrunde. hingegen steht das im Grundgesetz ver- re politische Entscheidungen und klare- Präsidentielle und parlamentarische ankerte Ziel der „Herstellung gleich- re Verantwortlichkeiten. In den 1990er Demokratien unterscheiden sich vor al- wer tiger Lebensverhältnisse im Bundes- Jahren stand dann die Idee des Wett- lem hinsichtlich der Legitimationsgrund- gebiet“ (Art. 72 GG) im Vordergrund. bewerbsföderalismus hoch im Kurs, ver- lage von Exekutive und Legislative. Da- Die grundsätzlichen Entscheidungen sprach doch dieses Modell in den Au- mit verbunden ist die Frage, ob das Par- fallen vorwiegend auf der Bundesebe- gen seiner Befürworter eine Überwin- lament die Regierung aus politischen ne, den Hauptteil der Administration dung der in der Tat verschiedentlich zu Gründen abberufen kann oder aber haben die Bundesländer und die Kom- engen Kooperationsstrukturen inner- nicht (Steffani 1979). In präsidentiellen munen zu erbringen. halb und zwischen den politischen Ebe- Systemen wie beispielsweise in den Es ist nun eine Frage der vorherrschen- nen im deutschen System. Aktuell er- USA verfügen beide Institutionen über den politischen Kultur – also der Einstel-

188 lungen der Bevölkerung gegenüber der Die Abstimmung zu Stuttgart 21: VOLKSENTSCHEIDE VERSUS Politik, den jeweils gängigen Entschei- Parteien und Bürger PARTEIENDEMOKRATIE? DAS LEHRSTÜCK dungsverfahren und den erzielten Er- STUTTGART 21 gebnissen – ob ein politisches System Beim Volksentscheid im November ging als demokratisch legitim, fair oder auch es zuvorderst um das Bahnprojekt Stutt- ungerecht angesehen wird. Die engli- gart 21. Allerdings zeigen Studien zur Als Faustregel kann dabei gelten: Politi- sche Demokratie ist eng verbunden mit direkten Demokratie, wie sie Hanspeter sche Systeme mit einer langen und le- der Tradition des Mehrheitsdenkens, Kriesi (2005) für das Stimmverhalten bei bendigen Tradition direkter Demokratie das schweizerische demokratische Referenden in der Schweiz vorgelegt wie die Schweiz stellen für Volksent- Selbstverständnis beruht neben der hat, dass diese Abstimmungen keines- scheide einen ganz anderen Kontext Verpflichtung zur internationalen Neut- wegs als isolierte Einzelentscheidun- dar als politische Systeme mit einer ralität und den Möglichkeiten der direk- gen betrachtet werden sollten. Sie sind strikten Ausrichtung auf die Prinzipien ten Einflussnahme des Volkes auf dem vielmehr eingelagert in allgemeine der repräsentativen Demokratie. Allein Gedanken des größtmöglichen Kon- Muster der politischen Kommunikation der Umstand, dass in der Schweiz jahr- senses. und des politischen Verhaltens, etwa ein, jahraus in jedem Quartal auf allen Das Grundgesetz der Bundesrepublik des Wählens. So sollten sie auch je- Ebenen eine Vielzahl direktdemokrati- Deutschland setzt vor allem auf strikt re- weils mit Blick auf diese Traditionen in- scher Entscheidungen ansteht,1 verleiht präsentativ organisierte Entscheidungs- terpretiert werden. selbst hochgradig kontroversen Refe- verfahren. Dieses Misstrauen gegen- über den demokratischen Qualitäten der Bürgerinnen und Bürger korrespon- dierte mit den Ergebnissen der frühen empirischen Studien zur vorherrschen- den politischen Kultur in Deutschland. In den ersten beiden Nachkriegsjahr- zehnten dominierte eine „Untertanen- kultur“ (Almond/Verba 1963), und die neuen demokratischen Verfahren wur- den vielfach als verordnet angesehen. Mit dem sich ausbreitenden Massen- wohlstand durch das Wirtschaftswun- der, den politischen Umbrüchen der späten 1960er Jahre und den Werte- wandelprozessen der 1970er Jahre in den modernen Industrienationen (Ing- lehart 1977) wuchs unter den West- deutschen die Akzeptanz und das An- sehen der jungen Demokratie. Das Grundgesetz mit seinen normativen und demokratischen Werten wurde zum zentralen Bezugspunkt der verschiede- nen politischen Lager in Deutschland. Nun sind aber Demokratien keine ab- geschlossenen, starren Systeme. Sie lassen sich bei veränderten demokrati- schen Zielsetzungen institutionell wei- terentwickeln, ohne dass sie hierbei au- tomatisch ihre Legitimität verlieren. Bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes Ende der 1940er Jahre stand im Vorder- grund, die institutionellen Schwächen der Weimarer Republik zu vermeiden und die Grundlagen für ein stabiles de- mokratisches Gemeinwesen zu legen. Heute kommt es darauf an, den ge- wachsenen politischen Partizipations- wünschen der Bürgerinnen und Bürger auch institutionell Rechnung zu tragen. Die politische Klugheit rät hierbei, diese Veränderungen evolutionär – also schrittweise – und vor allem auch bei gleichzeitiger Förderung und Weiter- entwicklung einer entsprechenden poli- tischen Kultur der Mitentscheidung vor- zunehmen. Die Stabilität von Demokra- tien beruht nicht zuletzt auf einer Ent- Für etwas Verwirrung bei den Wahlberechtigten sorgte anfangs die sperrige Formulie- sprechung von politischen Strukturen, rung: Gegner des Projektes mussten mit „Ja“ stimmen, Befürworter hingegen mit „Nein“ der Institutionenordnung, und politi- zum Kündigungsgesetz. Das Bild zeigt ein Plakat des BUND-Landesverbandes Baden- scher Kultur. Württemberg. picture alliance/dpa

189 renden den Anstrich von Normalität. sorgliche Bereitstellung von berechen- Raum in der Bundesrepublik aufspan- Dieser Eindruck von direktdemokrati- baren „windows of opportunity“ in ihrer nen und in die sich auch die meisten po- scher Alltäglichkeit ist ein bedeutsames politischen Wirkung von vornherein zu litischen Streitfragen einfügen (Mielke Signal sowohl für die Stimmbürger als entdramatisieren. 2001). auch für die öffentlich engagierten Pro- Überdies werden die wohl in jedem Fall Die erste Konfliktachse symbolisiert den motoren und Advokaten, also Parteien, seltenen Volksentscheide in einer reprä- eher sozio-ökonomischen Gegensatz Verbände und Initiativen und nicht zu- sentativen Demokratie deutlicher stär- zwischen einer auf kollektive Wohl- Ulrich Eith/Gerd Mielke letzt die Medien. Demgegenüber gel- ker in die von den politischen Parteien fahrtsstaatlichkeit und einer eher auf ten direktdemokratische Entscheidun- konstituierten Bündnisse und Lager ein- das Prinzip der individuellen Marktori- gen in der Bundesrepublik mit ihrer fast gruppiert werden können als in der entierung ausgerichteten Dimension vollständigen Orientierung an dem Schweiz mit ihrer dauerhaften Allpar- der Politik. Vor allem die wirtschafts- Grundsatz der repräsentativen Demo- teien-Regierung nach der „Zauberfor- und sozialpolitischen Streitfragen las- kratie bis heute eher als politisches Kri- mel“ (Kriesi 2005, S. 27–32). Damit sen sich hier verorten und bilden seit sensymptom. Sie erscheinen als eine, in zeichnet sich in der repräsentativen Par- Jahrzehnten fast kontinuierlich den der parlamentarischen und Parteiende- teiendemokratie der Bundesrepublik ei- Hauptgegensatz in der deutschen Poli- mokratie zunächst nicht vorgesehene ne grundsätzlich größere Nähe der je- tik. Verkörper t wird dieser seit der deut- Ausnahmeregelung, der ein Versagen weiligen Befürworter- und Ablehnungs- schen Einheit durch jeweils zwei Partei- der etablierten politischen Akteure – al- strukturen in der Bevölkerung zu den en. Die Wohlfahrtsstaatsorientierung so der kommunalen und Landesparla- aus den anderen Wahlen bereits ver- wird traditionellerweise durch die SPD mente und der in ihnen agierenden Par- trauten politischen Lagern und ihren Re- und in einer radikaleren Ausprägung teien – vorausgegangenen ist. präsentanten ab. durch die Linke repräsentiert. Für die Während also in der Schweiz die schie- Wenden wir uns nach diesen grund- Marktorientierung stehen die CDU/ re Häufigkeit und Regelmäßigkeit di- sätzlichen Überlegungen zu den Aus- CSU und ebenfalls in einer radikaleren rektdemokratischer Prozeduren den zur wirkungen des Kontextes einer reprä- Variante die FDP. Dieser eigentlich do- Abstimmung stehenden Referenden und sentativen Parteiendemokratie nun den minante Gegensatz der deutschen Poli- Initiativen im Regelfall die Funktion von Akteuren bei der Volksabstimmung zu tik blieb jedoch sowohl bei der Land- deeskalierenden Klärungsinstanzen zu- Stuttgart 21 zu. Von den Parteien wurde tagswahl 2011 als auch beim Volksent- weisen, spielen in der Bundesrepublik der Volksentscheid einerseits im Lichte scheid eher im Hintergrund. dieselben direktdemokratischen Instru- der Landtagswahl und des dort ausge- Das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 lässt mente derzeit immer noch eine gegen- lösten historischen Regierungswechsels sich einer zweiten, eher kulturellen Kon- läufige, potentiell eskalierenden Rolle hin zu einer grün-roten Koalition inter- fliktachse zuordnen. Hier stehen sich ei- bei der politischen Mobilisierung und pretiert, andererseits bot er die Mög- ne libertäre und eine eher konservativ- Polarisierung. Neben der Entscheidung lichkeit, die dort erzielten Ergebnisse autoritäre Politikausrichtung gegen- über eine bestimmte Streitfrage wird al- zumindest symbolisch zu korrigieren über und auch fast alle Themen und so hier im Subtext leise die „Systemfra- bzw. zu bestätigen. Streitfragen der Umweltpolitik. Dieser ge“ gestellt; denn der Volksentscheid Vor allem die CDU in ihrer Selbstwahr- zweite große Gegensatz im Parteien- stellt immer auch eine Grundannahme nehmung als baden-württembergische system wird von den Grünen und der der repräsentativen Demokratie in Fra- „Landespartei“ (Eith 2001) hat die Volks- Union repräsentiert. Seit ihrer Grün- ge, nämlich dass sich die parlamentari- abstimmung zu Stuttgart 21 gezielt als dungsphase definieren sich die Grünen sche Demokratie mit ihren Entscheidun- „Rückspiel“ und „Revanche“ der Land- neben ihren politischen Inhalten immer gen in einem Legitimitätskorridor be- tagswahlen vom März inszeniert. Sie auch über den politischen Stil unmittel- wegt und von einer friedfertigen Akzep- konnte mit entsprechendem Plakat- und barer bürgerschaftlicher Teilhabe. So tanz ihrer Entscheidungen ausgehen Anzeigenaufwand ihre Anhänger aus- genossen sie bei der Volksabstimmung kann. Die Vorgeschichte des Volksent- reichend an die Urnen bringen. Gelun- gleich doppelten Rückenwind: Zum ei- scheids über das Projekt Stuttgart 21 il- gen ist ihr dies vor allem im ländlichen nen konnten sie sich über die verkehrs- lustriert diese immanente Verquickung und kleinstädtischen Bereich. Dort und umweltpolitische Dimension des von „Sachfrage“ und „Systemfrage“ be- spielte sie ihre starke Repräsentanz in Projekts Stuttgart 21 profilieren, zum sonders anschaulich. Seine Brisanz re- Vereinen und anderen Organisationen andern präsentierten sie sich als die sultierte neben der sachpolitischen Um- im vorpolitischen Raum aus und verfügte parteipolitische Verkörperung der di- strittenheit vor allem aus dem krisenhaf- über weitaus bessere Mobilisierungs- rektdemokratischen und auf unmittel- ten und für eine gewisse Zeit stetig es- möglichkeiten als alle anderen Parteien. bare bürgerschaftliche Teilhabe ausge- kalierenden Akzeptanzverlust einer Für die Grünen und ihren Ministerpräsi- richteten Dimension der Politik. ordnungsgemäß zustande gekomme- denten Kretschmann ist die Niederlage Die auffällig hohen Stimmenanteile der nen Entscheidung zum Ausbau des neu- bei der Volksabstimmung dennoch kei- Stuttgart 21-Gegner entlang des Rheins en Bahnhofs. ne strategische Katastrophe. Sie konn- zwischen Lörrach und Mannheim signa- Die hier kurz umrissenen Probleme un- ten sich – wie schon bei der Landtags- lisieren eine bereits stark entwickelte terschiedlicher Funktionen und Wahr- wahl im Mär z 2011 – als der eigentliche Sensibilität im protestbereiten Umfeld nehmungen von Volksentscheiden in Gegenpol zur CDU profilieren. Die Mo- der Grünen angesichts des hier geplan- verschiedenen institutionellen und Ver- bilisierung einer Gegnerschaft des ten Ausbaus der Nord-Süd-Bahnstrecke fahrenskontexten wird auch bei der Dis- Bahnprojekts von über 40 Prozent ist für im Rheintal. Diese grünen Mobilisie- kussion um die Anreicherung der reprä- die Umweltpartei ein respektabler Er- rungserfolge haben allerdings nichts sentativen Demokratie mit direktdemo- folg. mit dem alten historischen Gegensatz kratischen Verfahren eine Rolle spielen. War die Landtagswahl nicht zuletzt zwischen den beiden Landesteilen Ba- Es erscheint sinnvoll, die künftigen Pro- durch die Umweltkatastrophe von Fuku- den und Württemberg zu tun, sondern zeduren von Volksinitiativen und Volks- shima beherrscht worden, so wurde gehen schlicht auf den verkehrsgeogra- entscheiden nicht nur im Blick auf even- auch der Volksentscheid zu Stuttgart 21 phischen Umstand zurück, dass die ge- tuell niedrigere Quoren zu prüfen, son- von einem Thema geprägt, das sich sehr plante Nord-Süd-Strecke durch die ba- dern auch im Anklang an die Schweizer genau auf einer der beiden Konfliktach- dische Rheinebene verläuft. Dort befin- Referendums-Sonntage durch die vor- sen einordnen lässt, die den politischen den sich zudem mit den Universitäts-

190 städten Freiburg, Mannheim und auch zent auf. Gleichwohl kann sich diese im VOLKSENTSCHEIDE VERSUS Heidelberg einige der traditionellen Vergleich zu anderen Volksabstimmun- PARTEIENDEMOKRATIE? DAS LEHRSTÜCK Hochburgen der Grünen in Baden- gen in Deutschland oder in den Nach- STUTTGART 21 Württemberg. Überhaupt wird der Ein- barländern sehr wohl sehen lassen. druck einer Parteienwahl zugunsten der Zwischen den württembergischen und Grünen dadurch noch verstärkt, dass badischen Stadt- und Landkreisen zeig- schlüssen nur mäßig interessiert und die Stuttgart 21-Gegner auch in allen te sich ein deutliches Beteiligungsgefäl- deshalb – wie fast immer außer bei Bun- größeren Städten des Landes gute Er- le. Auch hier schlagen sich keine kultu- destagswahlen – schwer zu mobilisie- gebnisse erzielten. Die Frontstellung bei rellen Gegensätze zwischen den Lan- ren. Der Konflikt um Stuttgart 21 lag zu- der Volksabstimmung hat die Grünen desteilen nieder, es werden vor allem dem für sie nicht auf der entscheiden- eindrucksvoll als zweiten Pol im baden- unterschiedliche Intensitäten der politi- den Konfliktachse. Die für die Südwest- württembergischen Parteienwettbe- schen Betroffenheit widergespiegelt. Im SPD typischen Anhänger aus dem werb bestätigt. Großraum Stuttgart gingen unter dem Beamten- und Angestelltenbereich, die CDU und Grüne haben also bei dem Eindruck der monatelangen Auseinan- das Bahnprojekt genauer verfolgten, Volksentscheid auf ähnliche Strategien dersetzungen teilweise über 60 Prozent bildeten wiederum nur einen kleinen wie bei der Landtagswahl zurückgegrif- zur Abstimmung, im Rheingraben in der Teil der Wählerschaft. Vor allem aber fen. Beide Parteien verfügen über einen Regel nur zwischen 35 und 45 Prozent. war die SPD – wie übrigens auch die Zugang zur gut gebildeten Mittelschicht Hier hatten ganz offensichtlich nur die FDP – im Konflikt um Stuttgart 21 kein mit ihrer hohen Teilhabebereitschaft, wirklich Interessierten und Engagierten deutlich sichtbarer Akteur. Bei den De- und beide haben diesen Zugang inten- abgestimmt. monstrationen und Protesten blieb sie siv bei ihren Mobilisierungskampagnen Dieses Muster politischer Betroffenheit weitgehend im Hintergrund. Überdies genutzt. Beiden gelang es vor allem und Teilhabe lässt einige allgemeine gab die SPD für ihre Anhänger bereits aber auch, das politische Streitobjekt Schlüsse zu. Bei Wahlen mit niedrigen im Vorfeld kein einheitliches Bild ab. Sie Stuttgart 21 so in ihre traditionellen Beteiligungsraten spielen hauptsäch- erschien bei dem Thema gespalten. In- Weltbilder „Wachstum und Fortschritt“ lich zwei Wählergruppen eine Schlüs- dem sie als Koalitionspartner der Grü- und „ökologische und städtebauliche selrolle: gut informierte, gebildete und nen dennoch mit weiten Teilen der Par- Bestandswahrung“ einzubauen, dass engagierte Bürgerinnen und Bürger, zu- teispitze die CDU in ihrem Kampf für nicht nur die argumentativen Abwägun- meist aus den Mittelschichten, sowie Stuttgart 21 unterstützte, verwirrte sie gen bei der Sachfrage, sondern auch Wähler mit besonders engen Bindun- ihre Anhänger. die Identifikationen mit den beiden Par- gen an die beherrschenden Parteikon- Bei direktdemokratischen Verfahren teien die Anhänger zur Stimmabgabe trahenten, in diesem Fall an die CDU kommen, das zeigen einschlägige Stu- bewegen konnten. und die Grünen. Demgegenüber kam dien (Kriesi 2005, insbes. S. 137–198), Betrachten wir in einem zweiten Schritt dem sozialdemokratischen Wählerseg- prinzipiell zwei unterschiedliche For- die Bürger beim Volksentscheid. Hier ment aus zwei Gründen diesmal kein men der individuellen Entscheidungsfin- fällt die gemessen an Landtags- und entscheidendes Gewicht zu. Zum einen dung zum Einsatz. Ein Teil der Bürgerin- Bundestagswahlen deutlich geringere waren die potentiellen SPD-Wähler mit nen und Bürger gelangt durch einen Abstimmungsbeteiligung von 48,3 Pro- eher niedrigeren formalen Bildungsab- systematischen und informierten Ab-

Handbuchreihe „Politik in Baden-Württemberg“ Siegfried Frech/Reinhold Weber (Hrsg.)

Die Handbuchreihe „Politik in Baden-Württemberg“ liefert Basis- und Fachwissen über die politischen Ebenen, auf denen das Land agiert.

nKompakt und präzise analysiert das Handbuch Kommunalpolitik die zentralen Politikfelder auf kommunaler Ebene.

nDas Handbuch Landespolitik umreißt die zentralen Akteure und politischen Themen in Baden-Württemberg.

nInwiefern die Europäische Union für das Land Baden-Württemberg von Bedeutung ist, skizziert das Handbuch Europapolitik.

Alle Bände sind mit Gesetzestexten und statistischem Teil praktische Nachschlagewerke.

Bestellung: je 5.– Euro (Handbuch Europapolitik 2.50 Euro) zzgl. Versand, Landeszentrale für politische Bildung, Fax 0711.164099 77, [email protected], www.lpb-bw.de/shop

191 Ein Button der Park- schützer im Schloss- garten in einer Pfütze nach Beginn der Räu- mung im Februar 2012. Für die aller- meisten Gegner des Ulrich Eith/Gerd Mielke Bahnhofneubaus ge- hört die Akzeptanz von direktdemokrati- schen Beschlüssen zum unverzichtbaren Bestandteil der Bür- gergesellschaft. picture alliance/dpa

gleich von Argumenten zu einer Ent- dass die Unterlegenen ihre Argumente rums zu verständigen. Zweierlei gilt es scheidung. Dieser argumentative Weg weiterhin als stichhaltiger ansehen mö- dabei in Einklang zu bringen: Zum einen zum Votum setzt freilich ein ausgepräg- gen. Volksabstimmungen entscheiden garantiert ein Quorum eine gewisse tes politisches Interesse und die Bereit- nicht über die sachliche Richtigkeit der Mindesthöhe der Wahlbeteiligung und schaft zur Teilhabe, eine gewisse Kennt- vorgebrachten Argumente, in ihnen damit einen Schutz vor dem politischen nis der politischen Szenerie sowie die kommt vielmehr der Mehrheitswille der Durchmarsch hoch motivierter Gruppen Gelegenheit und Befähigung zur Infor- Bürgerschaft über den einzuschlagen- mit spezifischen Eigeninteressen. So hat mationsverarbeitung voraus. All diese den Weg zum Ausdruck. die Wahlforschung immer wieder nach- Voraussetzungen treffen nun vor allem Darüber hinaus hat dieses Ergebnis gewiesen, dass die gehobenen Mittel- bei gut gebildeten Angehörigen der auch die demokratietheoretisch be- schichten eine weitaus größere Partizi- Mittelschicht zu. Auf der anderen Seite denkliche Diskrepanz zwischen der ju- pationsbereitschaft aufweisen als nied- lassen sich bei der direkten Demokratie ristischen und der politischen Bewer- rigere soziale Schichten.2 Deren Inter- immer auch heuristische „Bauchent- tung des Projektes S21 geschlossen. De- essen werden in der Regel weitaus scheidungen“ nachweisen. Ohne gro- mokratien beruhen auf Rechtssicherheit effektiver durch Parteien anwaltschaft- ßen Informations- und Argumentations- und die Bahn hat seit längerem gültige, lich vertreten. Zum anderen darf ein aufwand entscheiden sich hier die Bür- gerichtlich mehrfach überprüfte Verträ- Quorum aber auch nicht zur schier un- gerinnen und Bürger, indem sie einfach ge zum Bau. Für manche Verwaltungsju- überwindbaren Hürde für die Verbind- der einen oder anderen Partei im öffent- risten war die Tatsache, dass ange- lichkeit direktdemokratischer Mehr- lichen Streit vertrauen oder weil sie sich sichts dieser eindeutigen Vertragssitua- heitsentscheidungen werden. Das in schon ein langes Wählerleben hindurch tion dennoch politisch nochmals über Baden-Württemberg bislang geltende mit ihr identifiziert haben. Gerade der das Projekt abgestimmt werden sollte – Quorum von einem Drittel der Wahlbe- Volksentscheid zu Stuttgart 21 zeigt, und damit die Rechtssicherheit aus ihrer rechtigten (Art. 60 Landesverfassung) dass zwischen argumentativen und Sicht letztlich zur Disposition stand –, erfordert bei knappen Mehrheitsver- heuristischen Entscheidungen durchaus ein zutiefst unbefriedigender Zustand. hältnissen eine fast doppelt so hohe Zusammenhänge und Übergänge be- Die klare Mehrheit für den Weiterbau Wahlbeteiligung, die selbst bei Land- stehen. hat diese Irritationen aus der Welt ge- tagswahlen keineswegs immer erreicht schaffen. wird. Der Blick auf andere Bundeslän- Schließlich ist dem Land bei diesem Er- der verdeutlicht Alternativen. Bayern Konturen der Bürgergesellschaft gebnis eine erbitterte Diskussion über verzichtet vollständig auf ein Quorum, den Sinn und die Gerechtigkeit des in Nordrhein-Westfalen liegt es bei 15 Das Ergebnis des baden-württembergi- Quorums erspart geblieben. Eine Mehr- Prozent der Wahlberechtigten, in Nie- schen Volksentscheids vom 27. Novem- heit für den Ausstieg aus dem Bahn- dersachsen, Thüringen und einer Reihe ber 2011 kann als „politisch kluges“ Er- projekt unterhalb des Quorums hätte weiterer Länder bei 25 Prozent. Die in gebnis angesehen werden. Das Votum massive Auseinandersetzungen um die der baden-württembergischen Landes- für die Weiterführung des Stuttgarter Akzeptanz der durch die Landesver- politik im Raume stehende Absenkung Bahnprojekts war so deutlich, dass es fassung festgeschriebenen Spielregeln des Quorums auf 20 Prozent erscheint zu einer spürbaren Beruhigung des losgetreten und die neue grün-rote Lan- vor diesem Hintergrund als ein durch- Konflikts beigetragen hat. Auch für die desregierung in Stuttgart durchaus in aus angemessener allgemeiner Grenz- allermeisten Gegner des Bahnhofneu- politische Turbulenzen mit unüberseh- wert. baus gehört die Akzeptanz von direkt- baren Folgen stützen können. Regie- Ein Weiteres kommt hinzu: Zusammen demokratischen Beschlüsse zum unver- rung und Opposition haben jetzt genü- mit der Verringerung des Quorums müs- zichtbaren Bestandteil der Bürgerge- gend Zeit, sich in aller Ruhe über die sen auch die in Baden-Württemberg sellschaft. Dabei spielt es keine Rolle, notwendige Herabsetzung des Quo- viel zu restriktiven Hürden für ein Volks-

192 begehren drastisch gesenkt werden. Hand, sie informieren sich, diskutieren VOLKSENTSCHEIDE VERSUS Nach der Landesverfassung kommt ein und entscheiden mit. Gleichzeitig än- PARTEIENDEMOKRATIE? DAS LEHRSTÜCK solches Begehren bislang nur dann zu- dert sich auch die Rolle der Politiker und STUTTGART 21 stande, wenn ein Sechstel der Wahlbe- Entscheidungsträger. Zunächst müssen rechtigten – also knapp 1,3 Millionen – sie von ihrer Entscheidungsmacht abge- innerhalb von 14 Tagen durch Amts- ben. Wenn politische Entscheidungen auch ein institutionelles Lebenselixier eintrag – in der Regel auf den Bürger- dem Volk vorgelegt und von diesem her- für eben diese repräsentative Parteien- meisterämtern – eine entsprechende beigeführt werden, beschränkt dies die demokratie zu Tage gefördert haben. Unterstützungsunterschrift leistet (Art. in parlamentarischen Systemen macht- 59 Landesverfassung, §28 VAbstG). vollen Exekutiven und reduziert sie auf LITERATUR Und dies ist in der Praxis nahezu un- ihre namensgebende, nämlich ausfüh- möglich. Zudem sind Bürgerbegehren rende (exekutierende) Funktion. Ihre Almond, Gabriel/Verba, Sidney (1963): The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five auf Landkreisebene bislang überhaupt größere Wirkung entfalten Volksab- Nations. 3. Aufl. 1989, Newbury Park. nicht vorgesehen. Nochmals zum Ver- stimmungen aber bereits allein durch Eith, Ulrich (2001): Regierungsperioden und poli- gleich: In Bayern reichen für den Start die Möglichkeit, dass sie jederzeit statt- tische Dominanz in Baden-Württemberg. Die eines Volksbegehrens die Unterschrif- finden können. Wie man in der Schweiz CDU als „Landespartei“. In: Hirscher, Gerhard/ Korte, Karl-Rudolf (Hrsg.): Aufstieg und Fall von ten von zehn Prozent der Wahlberech- beobachten kann, sind Parteien und Po- Regierungen. München, S. 249–277. tigten ohne zeitliche Begrenzung. litiker in dieser Situation gezwungen, in Gruner, Eric/Hertig, Hanspeter (1983): Der Stimm- In Demokratien geht bekanntlich alle ihrem Handeln die Interessenlagen und bürger und die „neue“ Politik. Bern. Macht vom Volke aus. In der konkreten Bedürfnisse in der Bürgerschaft weitaus Inglehart, Ronald (1977): The Silent Revolution: Praxis beruht sie auf Regelwerken, die intensiver zu berücksichtigen. Politische Changing Values and Political Styles among Western Publics. Princeton. immer wieder überprüft und verändert Gruppierungen und Verbände, die auf- Kriesi, Hanspeter (2005): Direct Democratic werden können. Heute ist die Politik mit grund ihrer organisatorischen Kapazi- Choice. The Swiss Experience. Lanham. gegensätzlichen Erwartungen konfron- täten und Kampagnenfähigkeit eine po- Lijphart, Arend (1999); Patterns of Democracy: tiert. Sie muss tatsächliche Beteiligungs- tentielle Vetomacht darstellen, müssen Government Forms and Performance in Thirty-Six Countries. New Haven. chancen gewähren und zugleich effek- frühzeitig eingebunden werden. Politik Mielke, Gerd (2001): Gesellschaftliche Konflikte tive Entscheidungsprozesse organisie- wird responsiver – allein schon, um kor- und ihre Repräsentation im deutschen Parteien- ren. Die „Input“-Dimension muss weiter rigierende Volksabstimmungen und da- system. Anmerkungen zum Cleavage-Modell von ausgebaut werden, ohne die Effizienz mit einen Gesichtsverlust der gewähl- Lipset und Rokkan. In: Eith, Ulrich/Mielke, Gerd der „Output“-Dimension zu verlieren. ten Repräsentanten zu vermeiden. Der (Hrsg.): Gesellschaftliche Konflikte und Parteien- systeme. Länder- und Regionalstudien. Opladen, Die sich abzeichnende Erweiterung des Ausbau der Bürgergesellschaft durch S. 77–99. repräsentativen Systems durch direkt- direktdemokratische Verfahren hat aus Schultze, Rainer-Olaf (1992): Föderalismus. In: demokratische Entscheidungsverfahren dieser Perspektive gute Chancen, der Schmidt, Manfred G. (Hrsg.): Die westlichen Län- wird aber nur dann zum Erfolg, wenn Verdrossenheit über Parteien und Politi- der. München, S. 95–110. Steffani, Winfried(1979): Parlamentarische und sich eine neue „Kultur der Mitentschei- ker entgegenzuwirken. präsidentielle Demokratie. Strukturelle Aspekte dung“ breiter entwickelt. Für die Bürge- Damit zeichnet sich am Ende eine ironi- westlicher Demokratien. Opladen. rinnen und Bürger heißt dies, dass ihre sche Pointe ab. Vieles spricht dafür, Trechsel, Alexander (2000): Feuerwerk Volksrech- Rolle aufwändiger, zeitintensiver und dass die massiven, teilweise gewalttäti- te. Die Volksabstimmungen in den Schweizeri- anspruchsvoller wird. Es reicht dann gen Konflikte um Stuttgart 21, die immer schen Kantonen 1970–1996. Basel. Trechsel, Alexander/Sciarini, Pascal (1998): Di- nicht mehr aus, nur alle vier bis fünf Jah- auch als bedrohliche Krisensymptome rect Democracy in Switzerland: Do Elites Matter? re einmal zur Parlamentswahl zu gehen nicht nur einer fragwürdigen Landespo- In: European Journal of Political Research, 1/1998, und ansonsten politische Fragen an die litik, sondern der repräsentativen Par- S. 99–124. gewählten Repräsentanten zu delegie- teiendemokratie überhaupt galten, mit Vatter, Adrian (2002): Kantonale Demokratien im ren. In der Bürgergesellschaft nehmen der Befriedung durch den Volksent- Vergleich. Opladen. die Bürger die Dinge in die eigene scheid vom 27. November 2011 zugleich ANMERKUNGEN 1 Derzeit sind die Abstimmungssonntage bis 2030 vorausgeplant und in einem entsprechen- den Kalender festgelegt, eine Perspektive, die allen Akteuren signalisiert, dass sie auf keinen Fall UNSER AUTOR UNSER AUTOR UNSER Sorge haben müssen, die Gelegenheit zur Lan- cierung ihres Anliegens zu versäumen. 2 Bei der Festsetzung des Quorums ist aller- dings zu berücksichtigen, dass die Wahlbeteili- gung gerade auch bei Landtagswahlen stark abgesunken ist. Dies beruht insbesondere auch auf dem dramatischen Rückgang der Beteiligung niedrigerer sozialer Schichten

Prof. Dr. Ulrich Eith ist Direktor des Stu- Prof. Dr. Gerd Mielke lehrt am Institut für dienhauses Wiesneck – Institut für poli- Politikwissenschaft der Johannes-Gu- tische Bildung Baden-Württemberg e. V. tenberg-Universität in Mainz und ist in Buchenbach und Professor für Wis- Mitglied der Arbeitsgruppe Wahlen an senschaftliche Politik an der Universität der Universität Freiburg. Seine Schwer- Freiburg. Als Geschäftsführer der Frei- punkte in Forschung und Lehre sind Par- burger Arbeitsgruppe Wahlen ist er be- teien- und Wahlforschung, Landespoli- ratend und kommentierend für Parteien, tik und politische Kultur. Verwaltungen und Medien tätig.

193 MACHTWECHSEL ODER POLITIKWECHSEL? Machtwechsel oder Politikwechsel? Eine Analyse zentraler Politikfelder nach einem Jahr Grün-Rot in Baden-Württemberg Uwe Wagschal

allein regieren (1972–1992). Allerdings (1980 in Karlsruhe) wurden im „Ländle“ Was hat sich seit dem Frühjahr 2011 in ist Baden-Württemberg auch das einzi- gegründet. Mit einem Ergebnis von 24,2 wichtigen Politikfeldern getan? Nach ei- ge Bundesland, in dem zwei Minister- Prozent bei der Landtagswahl 2011 nem Machtwechsel blickt man erwar- präsidenten im Amt waren, die nicht ei- konnten die Grünen ihren Stimmenan- tungsvoll auf Änderungen in der Staats- ner der beiden großen Volksparteien teil gegenüber 2006 mehr als verdop- tätigkeit in denjenigen Politikfeldern, in angehörten: Der liberale Reinhold Mai- peln, sind nun zweitstärkste politische denen die neue Regierung unterschiedli- er, der bereits seit 1945 Ministerpräsi- Kraft im Land und konnten mit der SPD, che Präferenzen zur Vorgängerregie- dent von Württemberg-Baden war, re- die ihr historisch schlechtestes Ergebnis rung aufweist. Andererseits muss nach gierte von April 1952 bis zum Oktober (23,1 Prozent) erzielte, zusammen einen einem Regierungswechsel mit einer ge- wissen Pfadabhängigkeit gerechnet wer- 1953. Seit dem 12. Mai 2011 amtiert Machtwechsel nach fast 58 Jahren be- den: Etablierte und erfolgreiche Politiken Winfried Kretschmann von den Grünen. werkstelligen. Die neue Landesregie- haben ein hohes Maß an Beharrungsver- Die Dominanz der CDU bei den partei- rung besteht aus 15 Regierungsmitglie- mögen. Uwe Wagschal analysiert die politischen Stärkeverhältnissen in Ba- dern, wobei die Grünen acht und die politischen Schwerpunkte (und Streit- den-Württemberg lässt sich auch an SPD sieben Mitglieder stellen, die sich punkte) der grün-roten Landesregierung der Dauer der Regierungsbeteiligung, auf das Amt des Ministerpräsidenten, in der Bildungs- und Hochschulpolitik, in an den durchschnittlichen prozentualen zwölf Minister, einer Staatsrätin (= eh- den Politikfeldern Inneres und Justiz Stimmen- und Mandatsanteilen sowie renamtliches Mitglied der Regierung) sowie im Bereich der öffentlichen Finan- den durchschnittlichen prozentualen und einer Staatssekretärin mit Kabi- zen. Der Vergleich zwischen Vorgänger- Kabinettssitzanteilen ablesen (vgl. Ta- nettsrang verteilen. Damit ist gleichzei- regierung und amtierender Landesregie- belle 1). tig das Kriterium eines Machtwechsels rung wird anhand der beiden Kriterien Mit einer Regierungsbeteiligung von als substanzielle Änderung der partei- „Programmatik“ und „Reformtätigkeit“ 97,1 Prozent und einem durchschnittli- politischen Zusammensetzung der Re- vorgenommen. In die abschließende Ge- chen Kabinettssitzanteil von knapp 75 gierung über politische Lagergrenzen samtwürdigung fließen die anderen Poli- Prozent ist das Land das zweitstärkste hinweg erfüllt (Schmidt 1991). tikfelder mit ein. Iwestdeutsche Flächenland für die Uni- Die politikwissenschaftliche Forschung on nach Bayern. Auch für die FDP ist Ba- hat sich wiederholt mit der Frage von den-Württemberg ein Stammland, in Politikwechseln nach Machtwechseln dem sie – verglichen mit anderen Bun- beschäftigt (Schmidt 1991; Williamson/ Machtwechsel gleich Politikwechsel? desländern – weit überdurchschnittli- Haggard 1994; Korte 2000; Zohlnhöfer che Wahlerfolge und Regierungsbetei- 2001). Verschiedene Theorien würden Baden-Württemberg wurde lange von ligung einfahren konnte. Dieses Bild hat dabei ein großes Ausmaß der Verände- stabilen politischen Verhältnissen ge- sich mit dem Aufkommen der Grünen rung auf zentralen Politikfeldern, die die prägt. Historisch betrachtet dominierte mittlerweile deutlich gewandelt, die Landesregierung beeinflussen kann, er- die CDU die politischen Kräfteverhält- ebenfalls in Baden-Württemberg eine warten lassen. Nach der Parteiendiffe- nisse. Zwischen 1953 und 2011 stellte ihrer Hochburgen haben. Sowohl der renztheorie (Hibbs 1977; Castles 1982) die CDU durchgehend den Minister- erste grüne Landesverband in Deutsch- sind auf Grund der programmatischen präsidenten und konnte dabei 20 Jahre land (1979) als auch die Bundespartei Unterschiede nach einem Wechsel von

Tabelle 1: Stärkeindikatoren der Parteien in Baden-Württemberg (1952–2012)

Indikator CDU SPD FDP/DVP Bündnis 90/ Republi- Sonstige Die Grünen kaner Dauer der Beteiligung an den 97,09% 30,93% 49,51% 1,80% 0,00% 20,11% Landesregierungen (% der Zeit) Stimmenanteil in allen 45,42% 30,83% 10,37% 5,76% 1,79% 5,86% Landtagswahlen (Ø) Sitzanteil im 48,83% 32,03% 10,08% 5,82% 1,29% 1,96% Landtag (Ø) Kabinettssitzanteil in der 74,90% 11,46% 10,79% 0,96% 0,00% 1,89% Landesregierung (Ø) Anmerkungen: Der Sitzanteil wurde zu Beginn der Legislaturperiode berechnet, d. h. ohne Fraktionswechsler. Bei den „Sonstigen” beim Kabinettssitzanteil handelt es sich ausschließlich um Parteimitglieder des GB/BHE. Datenquellen: Amtliche Wahlstatistik des Statistischen Bundesamtes, Peter Schindler, Da- tenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages; eigene Berechnungen. Die Auswertung erfolgte tagesgenau; Ø = Durchschnitt über die gesam- te Untersuchungsperiode.

194 S chw a r z- G e l b z u G r ü n - R o t s u b s t a n z i e l - Legislaturperiode waren Günter H. MACHTWECHSEL ODER le Änderungen in der Staatstätigkeit zu Oettinger sowie Stefan Mappus ab POLITIKWECHSEL? EINE ANALYSE erwarten. Da sich allerdings die Politik- 2/2010 Ministerpräsident) angelastet ZENTRALER POLITIKFELDER NACH präferenzen nicht in allen Politikfeldern werden (Williamson/Haggard 1994), EINEM JAHR GRÜN-ROT unterscheiden, sind – so die modifizier- und zudem besteht eine Reformagenda IN BADEN-WÜRTTEMBERG te Variante der Parteiendifferenztheo- der neu antretenden Regierung. rie – Änderungen in der Staatstätigkeit Jedoch gibt es auch Theorien, die eher grammatik“ und „Reformtätigkeit“ ei- nur in Politikfeldern zu erwarten, in de- geringe Politikwechsel erwarten lassen. nem Vergleich unterzogen, um das Aus- nen die neue Regierung unterschiedli- Nach George Tsebelis (2002) bestimmt maß des Wandels von „Schwarz-Gelb“ che Präferenzen zur Vorgängerregie- die Vetospielerstruktur (z. B. Koalitions- zu „Grün-Rot“ zu identifizieren. rung aufweist. Diese Unterschiede partner, gegenläufige Mehrheiten in ei- können durch einen Vergleich der ner Zweiten Kammer) den politischen Wahl- und Regierungsprogramme, der Gestaltungsspielraum der Regierung. Zentrale Politikfelder im Vergleich Koalitionsverträge sowie der Regie- Zugleich wird ein Politikwechsel er- rungserklärungen ermittelt werden. schwert, wenn die ideologische Distanz Das erste Jahr „Grün-Rot“ seit dem Größere Politikwechsel sind überdies zwischen den Koalitionspartnern (also Amtsantritt Winfried Kretschmanns am unmittelbar nach einem Machtwechsel zwischen „Grün“ und „Rot“) hoch ist. 12. Mai 2011 lässt sich als die Entwick- zu erwarten, weil aufgrund der hohen Ebenso zeigt sich, dass die (historische) lung einer „Liebesheirat“ zu einer „Ver- Legitimation eines Wahlsiegs ein grö- Pfadabhängigkeit eher zur Konstanz in nunftehe“ charakterisieren. So haben ßerer politischer Spielraum vorhanden der Staatstätigkeit führt, d. h. etablierte sich in dieser Regierungszeit politische ist. Diesem Wandel, der auch als „Ho- und erfolgreiche Politiken weisen eine Schwerpunkte, aber auch Streitpunkte neymoon-Effekt“ bekannt ist, können große Beharrungsfähigkeit auf. Im Fol- der Koalitionäre herauskristallisiert. Als anstehende schwierige Entscheidun- genden werden die wichtigsten Politik- wichtigste „Baustellen“ – neben Stutt- gen der Vorgängerregierungen (in der felder anhand der zwei Kriterien „Pro- gart 21 (dem mehrere Beiträge in die-

Das erste Jahr „Grün-Rot“ seit dem Amtsantritt Winfried Kretschmanns am 12. Mai 2012 lässt sich als Entwicklung einer „Liebesheirat“ zu einer „Vernunft- ehe“ charakterisieren. So haben sich in dieser Regierungszeit politische Schwer- punkte, aber auch Streitpunkte der Koalitionäre heraus- kristallisiert. picture alliance/dpa

195 sem Heft gewidmet sind) – kristallisier- ten sich das Bildungssystem, die früh- kindliche Betreuung, die Hochschulpoli- tik, Innere Sicherheit, die Verkehrspolitik

Uwe Wagschal Uwe aber auch die Sanierung der öffentli- chen Finanzen heraus.

Bildung und Kultuspolitik

Bildungspolitik der Vorgängerregierungen

Unter den beiden Vorgängerregierun- gen in der 14. Wahlperiode nahmen Bil- dungsfragen sowohl in den Regierungs- erklärungen (Oettinger 2006; Mappus 2010) als auch im tagespolitischen Ge- schäft eine wichtige Rolle ein, da Bil- dungspolitik – eine Kernaufgabe des Landes – generell eine hohe Priorität in der Bevölkerung genießt. Das Schlag- wort „Aufstieg durch Bildung“ sah vor, Meister und Abiturienten gleichzustel- len, sowie mehr Durchlässigkeit bei der beruflichen und universitären Bildung zu erreichen. Aber auch die „Entkoppe- lung von Bildungserfolg und sozialer Herkunft“ war ein wichtiger Punkt im Wahlprogramm der CDU (CDU 2011, S. 20). Zentral war in der Schulpolitik das Vorhaben der Werkrealschule, die eine Stärkung der Hauptschule und ein 10. Schuljahr für begabte Hauptschüler vorsah. Zudem sollte die frühkindliche Bildung verstärkt (Programm „Schul- reifes Kind“) werden. Der zum Schuljahr 2004/2005 eingeführte achtjährige schaffung der Werkrealschule sowie Werkrealschulen werden und ein 10. Gymnasialzug (G8) sollte beibehalten der Einrichtung von 44 Modellschulen, Schuljahr anbieten, sofern eine Min- werden, so äußerte sich Bildungsminis- die wieder einen neunjährigen Gymna- destschülerzahl erreicht wird. Zudem terin Marion Schick: „Wir werden bei sialzug anbieten. Besonders die Ge- stellte das Deutsche Jugendinstitut dem G8 keine Rolle rückwärts machen“ (Fo- meinschaftsschule war im Vorwahl- Land (und damit den Vorgängerregie- cus-online vom 15.6.2010). kampf ein umstrittenes Projekt, und rungen) beim Ausbau der Ganztags- Schließlich war auch die Beibehaltung selbst ein Jahr nach dem Machtwechsel schulbetreuung eher schlechte Noten einer verpflichtenden Schulempfehlung sind die konkreten Weichenstellungen aus: Mit einem Anteil von 26,2 Prozent für das Gymnasium innerhalb der christ- unklar. Der Koalitionsvertrag definiert Ganztagesschulen liegt Baden-Würt- demokratisch-liberalen Regierung un- diese Schulform wie folgt (Bündnis 90/ temberg auf dem vorletzten Platz, wäh- strittig. Die Grünen und SPD 2011, S. 6): „Ge- rend etwa Sachsen als Spitzenreiter mit meinschaftsschulen gehen in der Regel 96,5 Prozent fast eine Vollversorgung Bildungspolitik unter der Regierung aus bestehenden Schulen hervor und bietet. Selbst in Bayern liegt der Anteil Kretschmann schließen an eine oder mehrere vierjäh- mit 45,2 Prozent deutlich höher als in rige Grundschulen an. Sie umfassen Baden-Württemberg (vgl. Bertelsmann Unter dem Schlagwort „Bessere Bildung grundsätzlich alle Bildungsstandards Stiftung 2012). für alle“ (Bündnis 90/Die Grünen und der Sekundarstufe I, also Hauptschul-, Eine weitere Schlüsselentscheidung von SPD 2011, S. 3) nimmt die Bildungspolitik Realschul- und gymnasiale Standards. Grün-Rot war die Abschaffung der ver- – wie unter den Vorgängerregierungen Im Anschluss an die Klasse 10 bestehen bindlichen Grundschulempfehlung, die im Land – einen prominenten Platz ein. Übergangsmöglichkeiten in eine beruf- es mittlerweile nur noch in Bayern, Bran- An einigen Stellen ist eine große Über- liche oder allgemein bildende gymnasi- denburg, Bremen, Sachsen und Thürin- einstimmung und Kontinuität bemerk- ale Oberstufe entweder am Gemein- gen gibt. Dies hat zur Folge, dass der bar, etwa bei den Zielen der Förderung schaftsschulstandort oder an einem all- Ansturm auf die Gymnasien im Land ak- der frühkindlichen Bildung, der Ver- gemeinen oder beruflichen Gymnasium tuell stark zunimmt, während die Nach- besserung des Bildungsaufstiegs für in eine duale Berufsausbildung oder ei- frage nach den anderen Schulformen Migranten oder der Forcierung der Ver- ne berufliche Vollzeitschule.“ Außer der weiter zurückgeht. Gleichwohl wurde einbarkeit von Beruf und Familie. Ankündigung dieser neuen Schulform hiermit eine alte Forderung von Eltern Weit größer sind jedoch die Differen- sind jedoch noch keine konkreten Maß- und Elternverbänden umgesetzt. Ob zen, wie die Ankündigungen der Aus- nahmen vorgestellt worden. diese Maßnahme jedoch die soziale weitung des Ganztagsschulprogramms, Auch wurde die Abschaffung der Wer- Kluft beim Bildungszugang verringern der Einrichtung einer neuen Schulart in krealschule nicht umgesetzt. Im Gegen- wird, ist bei Bildungsforschern umstrit- Form der Gemeinschaftsschule, der Ab- teil: Alle Hauptschulen können nun zu ten.

196 Die baden-württembergischen Kabinetts- MACHTWECHSEL ODER mitglieder im Landtag beim Schwur POLITIKWECHSEL? EINE ANALYSE des Amtseides (im Uhrzeigersinn von ZENTRALER POLITIKFELDER NACH links oben): Kultusministerin Gabriele EINEM JAHR GRÜN-ROT Warminski-Leitheußer (SPD), Justizminister IN BADEN-WÜRTTEMBERG Rainer Stickelberger (SPD), Wissenschafts- ministerin Theresia Bauer (Bündnis 90/ Die Wiedereinführung der Verfassten Die Grünen), Europaminister Peter Fried- Studierendenschaft ist ein klarer Reflex rich (SPD), Sozialministerin Karin Altpeter auf die jahrzehntelange Forderung aus (SPD), Verkehrsminister Studierendenkreisen, die 1976 abge- (Bündnis 90/Die Grünen), Integrationsmi- schaffte Mitbestimmungsform wieder nisterin Bilkay Öney (SPD), Umweltminister an den Hochschulen einzuführen. Be- (Bündnis 90/Die Grü- merkenswert war dabei die neuartige nen), Finanz- und Wirtschaftsminister Nils Beteiligung Interessierter über das In- Schmid (SPD), Innenminister Reinhold Gall ternet am Gesetzgebungsprozess. (SPD), Ministerin im Staatsministerium Silke Mit der Abschaffung des Universitäts- Krebs (Bündnis 90/Die Grünen), Verbrau- medizingesetzes sollten die Kliniken cherminister (Bündnis und die Hochschulmedizin wieder en- 90/Die Grünen). In der Mitte ist Minister- ger an die Universitäten angebunden präsident Winfried Kretschmann (Bündnis werden. Das von der Vorgängerregie- 90/Die Grünen) zu sehen. rung verabschiedete alte Universitäts- picture alliance/dpa medizingesetz sah vor, dass sich zum 1. Januar 2013 die vier Universitätsklini- ken und deren medizinische Fakultäten jeweils zu einer einheitlichen Körper- schaft für Universitätsmedizin (KUM) zusammenschließen sollen. Dies hätte eine starke Zentralisierung in diesem Bereich bedeutet.

Inneres und Justiz von Studierenden an den Hochschulen vorsah. Zentrales Projekt war außerdem Inneres und Justiz unter den die Einführung und Beibehaltung von Vorgängerregierungen Studiengebühren (seit 2007) in Höhe von 500 Euro pro Semester. Die Positionen der CDU-FDP im Hinblick Hochschulpolitik auf die Innere Sicherheit unterscheidet Hochschulpolitik unter der Regierung sich im Land nur wenig, was überrascht, Hochschulpolitik der Kretschmann da sich die FDP im Bund hier an zentra- Vorgängerregierungen len Stellen von der CDU abgrenzt. Der Die Hochschulpolitik ist das Politikfeld, CDU wurden in Umfragen in diesem Po- Die Hochschulpolitik unter den CDU- in dem unter Grün-Rot die meisten und litikfeld generell hohe Kompetenzwerte FDP-Landesregierungen und dem zu- deutlichsten Änderungen zu beobach- zugeschrieben, sodass hier wenig ständigen Minister Peter Frankenberg ten sind. So wurden unter der grünen Wandel und Reformen zu beobachten wurde primär outputorientiert betrie- Wissenschaftsministerin Theresia Bau- waren. Grundposition war dabei, dass ben. Die Hochschulen wurden beson- er die Studiengebühren abgeschafft, die niedrigen Werte im Ländervergleich ders als Leistungsausweis für die gute die Verfasste Studierendenschaft wie- bei der Kriminalitätsstatistik ein Ergeb- Bildungs- und Hochschulpolitik gese- der eingeführt und das Universitätsme- nis der jahrzehntelangen „guten“ Politik hen, nicht zuletzt nach dem Erfolg in der dizingesetz (UniMedG) aufgehoben. in diesem Politikfeld gewesen sind. We- Exzellenzinitiative des Bundes und der Politisch am deutlichsten sichtbar war der in den Wahlprogrammen von CDU Lände r in de n J ahre n 2 0 0 5/2 0 0 6 , in de r die Abschaffung der Studiengebühren, und FDP wurden hier bedeutende Refor- vier Hochschulen des Landes (Heidel- die von den Studierenden in den voran- men angekündigt. berg, Karlsruhe, Freiburg und Konstanz) gegangen Jahren mit Streiks und Pro- von insgesamt neun Hochschulen bun- testen massiv bekämpft wurden. Aller- Inneres und Justiz unter der Regierung desweit diese Auszeichnung bekamen. dings wurde vor dem Hintergrund der Kretschmann Besondere Schwerpunkte waren über- Unterfinanzierung der Hochschulen der dies die Fachhochschulausbildung so- Ausfall der Studiengebühren mit so Die Bereiche der Inneren Sicherheit und wie die Förderung von Berufsakademi- genannten Qualitätssicherungsmitteln der Justiz werden – aus Gründen der en („Duale Hochschule“), die eine duale (280 Euro pro Studierenden) kompen- Gewaltentrennung – traditionell ge- Ausbildung im Beruf und auf Fachhoch- siert, die in etwa dem realen Aufkom- trennt in zwei Ministerien verantwortet schulniveau anboten. Angesichts der men aus den Studiengebühren entspra- (zuständig: Reinhold Gall, SPD und Rai- doppelten Abiturjahrgänge von G8 chen. Innovativ ist die Beteiligung der ner Stickelberger, SPD). Besonders um- und G9 sollten überdies die Hochschu- Studierenden an der Verteilung der stritten ist jedoch die Polizeireform des len temporär ausgebaut werden (Hoch- Gelder „auf Augenhöhe“, was rechtlich Landes. Diese hat die Auflösung von Po- schulsonderprogramm 2012). höchst bedenklich ist. Faktisch gibt es lizeidirektionen in 37 Landkreisen zur Politisch gab es eine deutliche Ableh- damit ein Vetorecht der Studierenden- Folge. Dafür werden zwölf Polizeipräsi- nung einer Verfassten Studierenden- vertreter über Haushaltsmittel des Lan- dien geschaffen. Die Opposition, aber schaft, die eine erweitere Mitsprache des. auch die Polizeigewerkschaft, kritisiert

197 diesen „Rückzug aus der Fläche“, wäh- Öffentliche Finanzen ditaufnahme und der Schuldenstand rend der zuständige Fachminister die (beide gemessen je Einwohner) sind so- Kritik als „Kirchtumpolitik“ bezeichnet. Öffentliche Finanzen unter den wohl für das Land allein als auch für Treibende Kraft für die Reform sind Vorgängerregierungen Land und Kommunen gemeinsam unter-

Uwe Wagschal Uwe Hoffnungen auf langfristige Kostenein- durchschnittlich. Hinter Sachsen (2.432 sparungen sowie freigewordene Poli- Nicht nur die europäische Schuldenkri- Euro) und Bayern (3.451 Euro) liegt Ba- zisten in den Polizeidirektionen wieder se, sondern auch die im internationalen den-Württemberg mit 6.044 Euro Pro- „auf die Straße“ zu bringen. Zudem – so Vergleich hohe Staatsverschuldung Kopf-Verschuldung (Land und Gemein- das Innenministerium – werde an der Deutschlands ist seit geraumer Zeit ein den zusammengenommen) aktuell auf Struktur der nahezu 150 Polizeireviere Thema mit Brisanz. Auch in Baden- dem dritten Platz. Die Landesregierun- und knapp 360 Polizeiposten nichts ge- Württemberg sind die öffentlichen Fi- gen haben in der Vergangenheit diese ändert. Allerdings erhöhen sich in man- nanzen nicht (mehr) in einer blenden- Position immer wieder als Beleg für die chen Gebieten die Anfahrtswege für den Verfassung. Bereits 2003 wertete solide und gute Haushaltsführung an- bestimmte Polizeiaufgaben auf über die Ratingagentur Standard & Poors geführt, sichtbar auch durch massive 100 Kilometer. das Land von AAA auf AA+ ab. Großer Zahlungen in den Länderfinanzaus- Besonders „ruhig“ war das erste Jahr im Problemdruck lastet auf Baden-Würt- gleich sowie einen hohen Anteil der Bereich Justiz: Als größte Maßnahmen temberg in Form einer hohen und schnell Steuereinnahmen in Relation zu den im Bereich Justiz gelten die Absicht der wachsenden Zahl der Ruhegehaltsemp- Gesamtausgaben. In Vorwahlumfragen Einführung einer Landesverfassungsbe- fänger. Die Zahl der Versorgungsemp- wurde daher der CDU-FDP-Regierung schwerde sowie die Bildung einer fänger wird sich von 68.140 (2000) auf hier auch eine deutliche höhere Kompe- Schwerpunktstaatsanwaltschaft in Frei- etwa 156.000 im Jahr 2030 erhöht ha- tenz zugeschrieben als etwa der SPD burg zur Verfolgung von Dopingdelik- ben, womit die Belastung im Haushalt oder den Grünen. Ausdruck des Enga- ten. massiv ansteigen wird. Damit hat Ba- gements der CDU-FDP-Landesregie- Ein weiteres Reformprojekt von Grün- den-Württemberg nach Hamburg und rung in diesem Politikfeld war auch die Rot im Landtagswahlkampf war die Ab- Bremen die drittschlechteste Position, Einführung einer Verschuldungsober- schaffung der vier Regierungspräsidi- wenn man das Verhältnis der Versor- grenze in der Landeshaushaltsordnung, en. So hieß es im SPD-Wahlprogramm gungsaufwendungen zu den Steuerein- die das Verschuldungsniveau auf das (SPD 2011, S. 90): „Die bisherigen Auf- nahmen in den Blick nimmt (Besendor- Jahr 2007 fixierte (§ 18 LHO). Zudem gaben der Regierungspräsidien können fer/Dang/Raffelhüschen 2005, S. 12). wurde 2007 ein Pensionsfonds für die sehr viel effizienter auf kommunaler und Nach dieser Studie wird das Land rund Landesbeamten geschaffen. Landesebene erbracht werden“. Dieses 23 Prozent seiner zukünftigen Steuer- Dennoch fallen bei genauem Hinsehen Reformvorhaben wurde jedoch zügig einnahmen für Versorgungsleistungen Probleme auf, die sich in der Vergan- nach der Wahl beerdigt und die Lei- aufwenden müssen. Vergleichend beur- genheit aufgebaut haben. So ist der tungspositionen als eigene Machtres- teilt ist die Verschuldungsperformanz Personalbestand sehr hoch (in Prozent source entdeckt. Baden-Württembergs mit eine der bes- der Bevölkerung dritthöchster Wert al- ten aller Bundesländer: Die Nettokre- ler westdeutschen Flächenländer), die

Baden-württembergische Erinnerungsorte Zum 60. Jahrestag der Gründung Baden-Württembergs

Reinhold Weber – Peter Steinbach – Hans-Georg Wehling (Hrsg.) Hrsg. von Reinhold Weber, Peter Steinbach und Hans-Georg Wehling 616 Seiten, ca. 510 Abbildungen

Baden-Württemberg weist eine Vielzahl bedeutender Erinnerungsorte auf, darunter auch solche von nationaler oder europäischer Bedeutung. Die Herausgeber des Bandes haben rund 50 solcher Erinnerungsorte aus den verschiedenen Land- strichen ausgewählt. Namhafte Autorinnen und Autoren präsentieren anhand dieser unverwechselbaren Orte auf spannende und anschauliche Art und Weise südwestdeutsche Landesge- schichte. Beim Lesen der Beiträge entsteht ein Panorama des historischen und des modernen Baden-Württembergs, das Aufschluss darüber gibt, wie das Land im Südwesten 1952 entstand und welche Traditionen es bis heute prägen.

Bestellung: 19.50 Euro zzgl. Versand, Landeszentrale für politische Bildung, Fax 0711.164099 77, [email protected], www.lpb-bw.de/shop

198 MACHTWECHSEL ODER POLITIKWECHSEL? EINE ANALYSE ZENTRALER POLITIKFELDER NACH EINEM JAHR GRÜN-ROT IN BADEN-WÜRTTEMBERG

der konjunkturellen Entwicklung wäre das Defizit so hoch), wird daher auch immer wieder verwendet, um Ansprüche an das Budget – etwa bei den Tarif- und Besoldungsverhandlungen – zu be- grenzen. Auch die Bestrebungen der Landesregierung für eine Neujustierung des Länderfinanzausgleichs sind unter diesen Rahmenbedingungen zu sehen. Diese Politik scheint auch die Märkte zu überzeugen: Die langfristige Bonitäts- note wurde im März 2012 von Standard & Poors von AA+ auf AAA erhöht, zu- letzt war das Land 2003 abgewertet worden. Ein Blick auf den Haushalt zeigt aber auch, dass die Landesregierung den ersten eigenen Haushalt 2012 massiv erhöht hat. Mit einem Ausgabenwachs- tum von 6,9 Prozent über 2011 wuchs der Haushalt so stark wie seit 1995 nicht mehr, mit dem Unterschied einer aktuell starken Konjunktur und sprudelnden Steuereinnahmen. Die Wachstumsrate des Haushalts liegt damit mehr als drei- mal so hoch wie das jahresdurchschnitt- liche Wachstum seit 1995! Von Haus- haltskonsolidierung – gerade in ökono- misch sehr guten Zeiten, wo nach keyne- sianischer Logik gespart werden müsste – kann nicht die Rede sein. Hierzu passt auch ein starkes Anwachsen der Perso- nalausgaben des Landes im ersten Re- Der 83-seitige Koalitionsvertrag ist überschrieben mit „Der Wechsel beginnt“. Vergleicht gierungsjahr Grün-Rot. Der Stellenzu- man die programmatischen Unterschiede zwischen der Regierung Kretschmann und den wachs war nicht nur durch zwei neue Vorgängerregierungen Mappus und Oettinger sowie die umgesetzten Reformen, dann Landesministerien (Integration sowie fällt auf, dass die Reformaktivitäten im ersten Regierungsjahr hinter den eigenen An- Verkehr) bedingt, sondern am stärksten sprüchen und Zielen zurückblieben. picture alliance/dpa wuchsen die Personalausgaben in der Staatskanzlei beim Ministerpräsiden- ten (+14,5 Prozent), im Wissenschafts- ministerium (+12,5 Prozent) und im Fi- stark steigenden Versorgungslasten den Kommunen finanziell zu unterstüt- nanzministerium (+9,5 Prozent). Das durch Ruhegehalt und Beihilfe drücken, zen. dabei viele der neuen Stellen nicht ein- ein hoher prozentualer Anstieg der Ver- Ein wichtiger Parameter der Haushalts- mal öffentlich ausgeschrieben wurden, schuldung ist in der jüngeren Vergan- politik ist die in der Föderalismusreform hatte für viele Beobachter zudem ein genheit zu beobachten sowie eine II vereinbarte „Nullverschuldung“, d. h. „Gschmäckle“. schwache Haushaltskonsolidierungs- das Verbot einer Nettokreditaufnahme politik (Wagschal u. a. 2009). für die Bundesländer ab 2020. Bereits im ersten abgeschlossenen Haushalts- Sonstige Politikbereiche Öffentliche Finanzen unter der jahr konnte, auch aufgrund des hohen Regierung Kretschmann Wirtschaftswachstums und eines An- Sowohl Grüne als auch SPD haben in ih- stiegs der Steuereinnahmen um 11,5 ren Wahlprogrammen die Ausweitung Institutionell wurde unter dem stellver- Prozent, eine Nettokreditaufnahme ver- direktdemokratischer Instrumente und tretenden Ministerpräsidenten Nils mieden werden. Auch im Koalitions- neuer Beteiligungsformen propagiert, Schmid (SPD) eine Art „Superministeri- vertrag von Grün-Rot und der Regie- was durch die Ernennung einer Staats- um“ geschaffen, indem das Finanz- und rungserklärung von Ministerpräsident rätin für Bürgerbeteiligung (Gisela Wirtschaftsministerium zusammenge- Kretschmann (Kretschmann 2011) nimmt Erler) dokumentiert wird. Ob eine Aus- legt wurde. Als eine der ersten Maß- das Bekenntnis zur Haushaltskonsoli- weitung direktdemokratische Betei li- nahmen wurde auf der Einnahmeseite dierung einen prominenten Platz ein. gungsformen jedoch wie im Koalitions- des Haushalts die Grunderwerbssteuer Das Ziel der Haushaltskonsolidierung vertrag Realität werden wird, hängt um 1,5 Prozentpunkte (also auf 5 Prozent und eines identifizierten strukturellen auch von der CDU ab. Denn für die Än- der Erwerbskosten einer Immobilie) er- Haushaltsdefizits von über zwei Milliar- derung und Erweiterung direktdemo- höht, um damit die Kinderbetreuung in den Euro (d. h. unter Herausrechnung kratischer Verfahren in die Landes-

199 verfassung bzw. deren Erleichterung Ausbau von Straßen höchst umstritten gerregierungen als Ziel formuliert wur- müssen zwei Drittel des Landtages zu- und wird aus ökologischen und de. Allerdings fällt die Bilanz des Minis- stimmen. Konkrete gesetzgeberische finanzpolitischen Gründen nicht priori- teriums sehr bescheiden aus, da kaum Maßnahmen sind bisher noch nicht im- tär behandelt. Bereits kurz vor seinem Politikvorhaben realisiert wurden. Der

Uwe Wagschal Uwe plementiert. Sollte es tatsächlich zu ei- Amtsantritt erklärte Winfried Kretsch- 2006 bundesweit eingeführte Einbürge- nem Mehr an direkter Demokratie im mann in einem Interview mit der Bild rungstest wurde nicht abgeschafft bzw. Südwesten kommen, würde Baden- am Sonntag (24.04.2011): „Weniger ausgesetzt, und im Großen und Ganzen Württemberg jedoch noch lange nicht Autos sind natürlich besser als mehr.“ handelt es sich in diesem Politikfeld nur zum Vorreiter, sondern wohl eher zum So wurden auch verschiedene, von der um symbolische Politik. In der Presseer- Normalfall. Denn im Bundesländerver- Vorgängerregierung bereits im Bau be- klärung zum einjährigen Bestehen des gleich schneidet das Land bei der Mög- findliche Straßenprojekte gestoppt, Ministeriums wurden der Verzicht auf lichkeit, Volksabstimmungen einzuleiten und der im Juni 2012 vorgelegte Priori- schriftliche Sprachtests für ältere und zu verabschieden, schlecht ab. Auf sierungsplan sieht deutliche Abwei- Migranten und Erleichterungen bei der Grund des hohen Zustimmungsquorums chungen im Umfang und Tempo des Einbürgerungspraxis als größte Erfolge und der Hürden beim Volksbegehren Straßenbaus gegenüber den Vorgän- benannt. liegt man nur auf dem vorletzten Platz gerregierungen vor. Mithin ist die Ver- Das Ministerium für Umwelt, Klima und im Konzert der 16 Bundesländer (Schil- kehrspolitik ein Politikfeld mit einem Energiewirtschaft unter Franz Unterstel- ler 2007, S. 119). Im Bereich der Bürger- klar anders justierten Fokus, wenn- ler (Grüne) deckt vom inhaltlichen Zu- beteiligung („Politik des Gehörtwer- gleich faktisch (vgl. Jahresbilanz des schnitt klassisch grüne Themen ab. Da- dens“) gab es zahlreiche Aktivitäten, Ministerium für Verkehr und Infrastruk- bei bestanden im Bereich Energiepolitik wie etwa den (zunächst mangels Betei- tur 2012) der Politikwandel eher mode- (Atomausstieg, Energiewende) große ligung abgesagten) Filder-Dialog, die rat ist und sich manches in ähnlicher bzw. mittelgroße (Umwelt-)Differenzen Möglichkeit der Internetbeteiligung bei Form (z. B. Nahverkehr) auch bei der zu den Vorgängerregierungen. Die Jah- der Novellierung des Hochschulgeset- Vorgängerregierung fand. resbilanz des Umweltministers liefert je- zes oder die angestrebte Direktwahl Baden-Württemberg ist das Flächen- doch wenig Konkretes an umgesetzten der Landräte. land Deutschlands mit dem höchsten Maßnahmen, vieles bleibt Ankündi- Die Verkehrs- und Infrastrukturpolitik, Anteil ausländischer Mitbürger. Das gungspolitik. Am prominentesten wer- die von Winfried Hermann (Grüne) im neu geschaffene Integrationsministeri- den noch Subventionserhöhungen für neu geschaffenen Verkehrsministerium um (Leitung: Bilkay Öney, SPD) wurde die Energiepolitik herausgestellt. Im Be- verantwortet wird, war (und ist) vor al- eingerichtet, um die offensichtlichen In- reich der Umwelt steht das 2013 zu ver- lem vom Streit um Stuttgart 21 geprägt. tegrationsdefizite zu verringern, was im abschiedende Landesklimaschutzge- Jenseits dieses Megaprojektes ist der Übrigen auch schon von den Vorgän- setz im Mittelpunkt der Aktivitäten.

Tabelle 2: Politikwechsel nach dem Regierungswechsel 2011

Politikfeld Programmatische Reformtätigkeit im Wichtigstes realisiertes Projekt Unterschiede zur ersten Regierungsjahr Vorgängerregierung1 Grün-Rot2 Bildung Mittel Mittel Abschaffung der Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung Hochschulpolitik Groß Hoch Abschaffung der Studiengebühren Innere Sicherheit Gering Hoch Polizeireform Justiz Gering Gering Staatsanwaltschaft für Dopingdelikte Finanzen Gering Gering Nullverschuldung in 2012, Erhöhung Grunderwerbsteuer Bürgerbeteiligung Groß Hoch Volksabstimmung S21 Verkehr Groß Mittel Umsteuerung im Ausbau des Straßenver- kehrs Integration Mittel Gering Erleichterungen bei der Einbürgerung Energie Groß Gering Erhöhung von Fördermitteln für Energie- maßnahmen Umwelt Mittel Mittel Vorhaben Landesklimaschutzgesetz Sozialpolitik Mittel Gering Anpassung Landesblindengesetz Landwirtschaft Gering Gering Erhöhter Mittelzuwachs Häufigkeiten 4 / 4 / 4 3 / 3 / 6 (Groß, Mittel, Gering) Anmerkungen: 1 = Einstufung auf Basis der Wahlprogramme, des Koalitionsvertrages und der Regierungserklärungen der amtierenden sowie der Vorgängerregierungen; 2 = Einstufung auf Basis einer Analyse des Landeshaushalts, der erfolgten gesetzgeberischen Maßnah- men, der Presse sowie der Selbstdarstellung der Landesministerien.

200 Gleichwohl ist offensichtlich, dass sich Werk realschulen und der Regierungs- MACHTWECHSEL ODER im Engagement für eine Energiewende präsidien. POLITIKWECHSEL? EINE ANALYSE deutliche Unterschiede zu den Regie- Eine hohe Kontinuität ist zudem im Be- ZENTRALER POLITIKFELDER NACH rungen Mappus und Oettinger zeigen. kenntnis gesunder öffentlicher Finanzen EINEM JAHR GRÜN-ROT Die Sozialpolitik des Landes, die von festzustellen, obwohl der Haushalt IN BADEN-WÜRTTEMBERG Karin Altpeter (SPD) im Ministerium für massiv angewachsen ist. Die größten Arbeit und Sozialordnung, Familie, Reformvorhaben sind jedoch in der CDU Baden-Württemberg (2010): Chancen Er- Frauen und Senioren verantwortet wird, Hochschulpolitik und mit der Polizeire- greifen. Wohlstand sichern. Regierungspro- gramm zur Landtagswahl 2011. Stuttgart. wird durch die deutlich wichtigere Bun- form im Bereich der inneren Sicherheit Hibbs, Douglas A. (1977): Political Parties and desebene sowie der kommunalen Sozi- zu beobachten, also klassische Felder Macroeconomic Policy. In: The American Political alpolitik in ihrem Handlungsspielraum der Landespolitik. Mittlere Reformakti- Science Review, 71/197 7, S . 1467–1487. „eingehegt“. Im Wesentlichen leistet vität ist im Bereich der Bildungs-, Um- Korte, Karl-Rudolf (2000): Konjunkturen des das Ministerium, welches rund drei Pro- welt- und Verkehrspolitik festzustellen, Machtwechsels in Deutschland: Regeln für das Ende der Regierungsmacht? In: Zeitschrift für Par- zent des Landeshaushalts verausgabt, also den klassischen Politikfeldern der lamentsfragen, 4/2000, S. 833–857. Transfers für Krankenhäuser, Heime, Grünen. Vergleicht man die program- Kretschmann, Winfried (2011): Regierungserklä- psychiatrische Einrichtungen, Schulen matischen Unterschiede zwischen der rung vom 25. Mai 2011. Stuttgart. für Sozial- und Gesundheitsberufe und Regierung Kretschmann und den Vor- Mappus, Stefan (2010): Neue Chancen, alte Stär- ken. Regierungserklärung zur Wahl des Minister- Wohngeld. Reformpolitisch ist aktuell gängerregierungen Mappus und Oet- präsidenten. Stuttgart. lediglich eine Reform des Blindengel- tinger sowie den umgesetzten Refor- Ministerium für Energie, Klima und Umwelt (2012): des – gemäß europäischer Vorgaben – men, dann fällt auf, dass die Reformak- Pressemitteilung: Ein-Jahresbilanz des Umweltmi- in Arbeit. Größere programmatische tivitäten hinter den eigenen Ansprü- nisteriums. Stuttgart. Unterschiede zur Vorgängerregierung chen und Zielen zurückbleiben, wenn Ministerium für Verkehr und Infrastruktur (2012): Presseerklärung: Jahresbilanz des Ministeriums gab es vor allem in der Frage der Kin- man das erste Regierungsjahr Grün-Rot für Verkehr und Infrastruktur. Stuttgart. derbetreuung. analysiert. Oettinger, Günter H. (2006): Solide, innovativ, Pittoresk mutet insgesamt der Jahresbe- leistungsbereit. Gemeinsam für ein generationen- richt des Landwirtschafts- und Verbrau- gerechtes Baden-Württemberg. Regierungser- LITERATUR klärung vom 21.06.2006. Stuttgart. cherministeriums (MLR) an, welches von Schiller Theo (2007): Direkte Demokratie auf Bun- Alexander Bonde (Grüne) verantwortet Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) (2012): Ganztags- schule als Hoffnungsträger für die Zukunft? Ein desländer und Kommunalebene. In: Freitag, Mar- wird. Dort wird die Erhöhung des Natur- Reformprojekt auf dem Prüfstand. Gütersloh. kus/Wagschal, Uwe (Hrsg.): Direkte Demokratie schutzhaushalts des Landes von rund Besendorfer, Daniel/Phuong Dang, Emily/Raffel- – Bestandsaufnahmen und Wirkungen im inter- 30 Millionen Euro jährlich auf 36,7 Mil- hüschen, Bernd (2006): Schulden und Versor- nationalen Vergleich. Münster, S. 115–150. Schmidt, Manfred G. (1991): Machtwechsel in der lionen Euro als großer Erfolg gefeiert, gungsverpflichtungen der Länder: Was ist und was kommt? In: Wirtschaftsdienst, 86/2009, Bundesrepublik (1949–1990). In: Blanke, Bern- ebenso die Erhöhung der Mittel für den S. 572–579. hard/Wollmann, Hellmut (Hrsg.): Die alte Bun- ländlichen Raum und die Schaffung von Bündnis 90/Die Grünen und SPD (2011): Koaliti- desrepublik. Kontinuität und Wandel. Opladen, zehn Veterinärstellen. Insgesamt sind onsvertrag zwischen BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- S. 179–203. NEN und der SPD Baden-Württemberg. Stutt- SPD (2010): Regierungsprogramm der SPD Ba- die Aktivitäten dieses Ministeriums sehr den-Württemberg 2011–2016. Stuttgart. gering. gart. Castles, Francis G. (1982): The Impact of Parties Wagschal, Uwe/Wenzelburger, Georg/Metz, on Public Expenditure. In: Castles, Francis (Ed.): Thomas/Jäkel, Tim (2009): Konsolidierungsstrate- The Impact of Parties. London/Beverly Hills, gien der Bundesländer. Gütersloh. Zusammenfassung S. 21–96. Williamson, John/Haggard, Stephen (1994): The Political Conditions for Economic Reform. In: Wil- liamson, John (Ed.): The Political Economy of Poli- Der Politikwechsel nach dem Macht- cy Reform. Institute for International Economics. wechsel in Baden-Württemberg fiel je Washington, DC, S. 527–596. nach Politikfeld unterschiedlich aus (vgl. Zohlnhöfer, Reimut (2001): Politikwechsel nach Zusammenfassung in Tabelle 2). In eini- Machtwechseln: Die Wirtschaftspolitik der Re- UNSER AUTOR UNSER gierungen Kohl und Schröder im Vergleich. In: gen Politikfeldern ist die Differenz zur Derlien, Hans-Ulrich/ Murswieck, Axel (Hrsg.): Vorgängerregierung gering, weshalb Regieren nach Wahlen. Opladen, S. 167–193. dort wenig Politikwechsel zu erwarten ist. In anderen Politikfeldern fehlen Steuerungsressourcen, wie etwa Geld und Macht. In bestimmten Politikfeldern wiederum besitzt man gar nicht die Kompetenz, um das Steuerruder herum- zureißen. Eher symbolische Politik und geringe Reformaktivität kann man bis dato in den Bereichen Landwirtschaft und Verbraucherschutz sowie Integrati- Prof. Dr. Uwe Wagschal ist Professor für on beobachten. Geringe Kompetenzen Vergleichende Regierungslehre an der gibt es im Bereich der Energiepolitik, wo Universität Freiburg. Zuvor war er Pro- ebenfalls nur geringer Wandel feststell- fessor an den Universitäten Heidelberg bar ist. In der Verkehrspolitik gibt es – und München. Er hat Politikwissenschaft zumindest für die Grünen – ein Schei- und Volkswirtschaftslehre studiert und tern bei der Verhinderung des Bahnpro- promovierte 1996 mit einer Arbeit zur jekts Stuttgart 21. Ein deutlicher Rich- Staatsverschuldung an der Universität tungswechsel ist jedoch im Straßenbau Heidelberg. Seine Schwerpunkte sind zu konstatieren. Jedoch gab es auch die vergleichende Staatstätigkeitsfor- eine Abkehr von geplanten Reform- schung, Direkte Demokratie sowie das vorhaben und Wahlkampfversprechen, Politische System der Bundesrepublik wie etwa bei der Abschaffung der Deutschland.

201 BUCHBESPRECHUNGEN

Baden-Württemberg – Land und lern verstanden werden (S. 19ff.). Der gig argumentiert. Entscheidend wird Leute begreifen und verstehen historische Flickenteppich, die „Fröm- sein, dass die Verfasstheit unseres plu- migkeitslandschaften“ (S. 33ff.), Sprach- ralistisch und demokratisch verfassten Hermann Bausinger: räume, Sprachgrenzen sowie unter- Gemeinwesens nicht durch fundamen- Der herbe Charme des Landes. schiedlich sich entwickelnde kulturelle talistische religiöse Anschauungen, sei- Gedanken über Baden-Württemberg. Modellierungen haben letztlich zu en sie nun muslimisch oder christlich, in Klöpfer & Meyer Verlag. Vierte und erweiterte Mentalitätsunterschieden beigetragen. Frage gestellt wird. Ausgabe, Tübingen 2011. Deshalb unterscheidet sich nun einmal Hermann Bausinger hütet sich im letzten 208 Seiten, 16,00 Euro. ein katholischer Oberschwabe funda- Kapitel vor allzu vorschnellen Progno- mental vom pietistischen Altwürttem- sen. Die als Understatement ironisch Hermann Bausinger, Nestor der Empiri- berger. Und wenn auch das Politikum gebrauchte Verkleinerung „Ländle“, de- schen Kulturwissenschaft und jahr- Baden contra Württemberg an Brisanz ren Gebrauch gerne der bescheidenen zehntelanger Leiter des Ludwig-Uh- verloren hat – lebendig geblieben ist und rechtschaffenen „Eigenart“ der land-Instituts in Tübingen, wurde am es dennoch! Menschen im Südwesten zugeschrie- 17. September 2011 85 Jahre alt. Im- An die sympathische Schilderung der ben wird, verweist letztlich auf die merhin Anlass genug, Bausingers Landeshauptstadt, zwischen „Wald und wirtschaftliche Stärke und Bonität sympathischen und dennoch (leicht) Reben“ gelegen, schließen sich kundige Baden-Württembergs. Gleichwohl ist verhaltenen Essay „Der herbe Charme Porträts von Karlsruhe, der „Residenz diese wirtschaftliche Spitzenposition, des Landes“ als „Festauflage“ anläss- des Rechts“, von Mannheim, den Univer- die durchaus europäischen Vergleichen lich des 60. Geburtstags Baden- Würt- sitätsstädten Heidelberg und Tübingen standhält, angesichts einer globalisier- tembergs in einer vierten und erweiter- sowie der „südlichsten Stadt“ Freiburg ten Ökonomie vor Krisen nicht gefeit. ten Ausgabe neu aufzulegen. Das Buch an. Stets geht es aber auch um den All- Umso mehr ist dann vielleicht die Rück- ist kein trockenes Zahlenwerk, versteht tag der Menschen, um die besonderen besinnung auf die Lokalvernunft und auf sich nicht als Hochglänzbroschüre und Ausprägungen der Kultur, um die produ- Strukturen gefragt, die befriedigende auch nicht als „Baedekerverschnitt mit zierten und tradierten Kulturformen. (und bescheidenere) Lebensmöglichkei- Sternchen und genormten Besichtungs- Bausingers Kulturbegriff bezieht sich ten garantieren. Ob man dies nun unbe- vorschlägen“ (S. 5). Bausinger geht eben nicht (nur) auf die „erhabenen“ Er- dingt mit dem umstrittenen Begriff „Hei- vielmehr der Frage nach, was dieses rungenschaften der so genannten mat“ beschreiben kann, sei einmal da- Bindestrich-Land im Innersten eigent- Hochkultur. Die Alltagskultur, vom hingestellt. Spannend ist immerhin, lich zusammenhält. „Hochsitz“ der Hochkultur als Sphäre dass „Heimat“ stets dann eine Renais- Aus der teilnehmenden und gleichzei- der Spießbürger betrachtet, schafft sance erlebt, wenn ökonomische und/ tig kritischen „Perspektive des Mitspie- gleichfalls kulturelle Werte und bringt oder soziale Krisen ein gewisses Maß lers“ (S. 6) wird eine geist- und kennt- eigenständige Formen und Praktiken an Orientierungslosigkeit und den Ver- nisreiche „Heimatkunde“ vorgelegt, die hervor. Ein solcherart verstandener Kul- lust von als sicher geglaubten Deu- überaus verständlich geschrieben ist. turbegriff umfasst Institutionen, Bräu- tungsmustern zeitigen. Heimat wird Die „Identität“ des Landes erschließt che, Normen, Sitten, Wertordnungen, dann zur Gegenwelt, die Überschau- sich nur dem, der sich für die histori- Präferenzen und Bedürfnisse. Mithin barkeit und Unverwechselbarkeit ga- schen, geographischen und kulturellen geht es um Verhaltensmuster und Men- rantiert. Siegfried Frech Tiefenstrukturen sensibel und offen talitäten, die sich im Rahmen von kultu- zeigt. Genau diese Perspektive offen- rellen, religiösen und sozialen Traditio- bart die das Land prägende „Einheit, nen und historischen Entwicklungen he- Ungewohnte Autorinnen und Autoren deren Charakteristikum die Vielfalt ist“ rausgebildet haben. (S. 8). Hermann Bausinger verwendet Ein besonders Anliegen von Hermann Otto Bauschert/Gabriele Gabriel für dieses Unterfangen das Bild des Bausinger war es schon immer, Kultur (Hrsg.): Palimpsests. Ein Palimpsest ist eine alte und Heimat im Plural zu denken! Gera- Nur immer weiter. Geschichten, Handschrift, bei der die ursprüngliche de Baden-Württemberg ist während die das Leben schrieb Niederschrift abgekratzt, das Perga- der letzten Jahrzehnte ein Einwande- Verlag Eppe GmbH, Bergatreute/ ment wieder geglättet und aufs Neue rungsland geworden. Das Kapitel „Aus Aulendorf 2012. beschrieben wurde. Die älteren Schrif- der Fremde, in die Fremde“ (S. 99ff) erin- 244 Seiten, Euro16,90. ten jedoch scheinen an manchen Stel- nert zunächst daran, dass Migration len noch durch. Die Eigenart einer Re- ein historischer Normalfall war. „Impor- Solche Bücher sind leider eine Rarität! gion ist somit das Ergebnis einer lang tierte Traditionen“ haben sich in der All- Zum dritten Mal präsentieren Otto Bau- andauernden und langsamen Schich- tagskultur verfestigt. Kultur ist eben kein schert und Gabriele Gabriel ein Buch, tenbildung. In Gegenden, in denen der statisches Gebilde einmal festgelegter das jetzt den Titel trägt: „Nur immer wei- Mensch seit Generationen ansässig ist, Werte und Normen, das man – etwa im ter. Geschichten, die das Leben schrieb“. hat jede Zufälligkeit, jede Eigenart und Sinne einer „Leitkultur“ – kopieren, ak- Und es hat sich wieder gelohnt. Besonderheit – gerade auch der „her- zeptieren, fordern oder gar für verbind- Manch einer wird vielleicht die Nase be Charme“ (S. 10) der Landschaft – lich erklären kann. Im neu hinzugekom- gerümpft haben, als Otto Bauschert vor eine Bedeutung. So zeichnet sich das menen Kapitel „Quo vadis, Ländle?“ 15 Jahren mit seiner ersten Schreib- auf die Staatsräson zurückgehende wird dieses Anliegen erneut aufgegrif- werkstatt in der Landeszentrale für poli- relativ junge „Kunstprodukt“ Baden- fen: Die faktische Entwicklung zur Ein- tische Bildung begonnen hat. Ist das Württemberg zwar durch offene Gren- wanderungsgesellschaft hat einen Zu- politische Bildung? Mit den nun vorlie- zen aus, die Textur der Mentalität und stand kultureller Vielfalt produziert, den genden drei Bänden ist der Beweis er- politischen Kultur hingegen kann nur es noch zu denken gilt (während wir ihn bracht, dass es sich bei den Schreib- hinreichend mit den drei alten Ländern längst leben). Trotz aller geglückten In- werkstätten um eine grandiose Bil- Baden, Württemberg und Hohenzol- tegrationsprozesse wird nicht blauäu- dungsarbeit handelt. Menschen, die ihr

202 BUCHBESPRECHUNGEN

Talent zum Schreiben noch kaum ent- Immer wieder taucht das Thema „Deut- Über den ersten hohenlohischen deckt haben, lernen Fertigkeiten, ge- sche Teilung und Wiedervereinigung“ Ludwig-Uhland-Preisträger winnen Zutrauen zu sich selbst und le- auf. Dass 1968 ein besonderes Jahr gen überzeugende Beiträge vor. Und war, kommt in einigen Darstellungen Peter Schäfer (Herausgeber): wenn man dann noch sieht, wie in vielen zum Ausdruck. Auch die Kuba-Krise, Der kritische Gottlob Haag. Kritische Beiträgen Zeitgeschichte aufgearbeitet die Zeit der RAF, Tschernobyl und der Texte aus dem literarischen Schaffen und dargestellt wird, dann ist das ein 11. September 2001 sind in dem viel- von Gottlob Haag eindringliches und beeindruckendes seitigen und spannenden Buch vertre- Verlag Eppe GmbH, Bergatreute/Aulendorf, Zeugnis politischer Bildung. Leute, die ten. Natürlich kommt auch die Rubrik 2. erweiterte Auflage 2012. sich etwas zutrauen und einen Sachver- „Menschliches und Allzumenschliches“ 108 Seiten, 6 SW-Fotos, 14,90 Euro. halt griffig und spannend darstellen nicht zu kurz. So geht es um Liebe, Be- können, taugen für die aktive Mitarbeit ziehungen, Erziehung, Schule, Arbeit, Als Gottlob Haag 1926 in Wildentier- in unserem demokratischen Gemein- Gesundheit und Krankheit, Wohnen, bach, Kreis Mergentheim, geboren wesen. Hoffnungen, Enttäuschungen… Die He- wurde, da war es ihm nicht in die Wiege Otto Bauschert mit seinen Hohenlohi- rausgeber haben jedoch gut daran ge- gelegt worden, dass er einmal hochbe- schen Liebeserklärungen und Gabriele tan, die Beiträge nicht thematisch zu tagt für sein Lebenswerk den renom- Gabriel mit der ergreifenden Darstel- gruppieren. So stehen die einzelnen Au- mierten Ludwig-Uhland-Preis erhalten lung „Schleenhain“ stellen unter Beweis, torinnen und Autoren mit ihrer Ge- würde, den der Herzog von Württem- dass man bei ihnen in die Lehre gehen schichte und ihrem Anliegen ganz im berg verleiht. Gottlob stammte aus ein- kann. Vordergrund. fachsten Verhältnissen: der Vater war Die vielen Autorinnen und Autoren, von Die Erzählkunst ist beachtlich. Da gibt Korbmacher, die Mutter Taglöhnerin denen man gern etwas mehr erfahren es kein Schema, in das man die Beiträge bei den Bauern des Dorfs. Pfarrer wäre würde, stellen ganz unterschiedliche pressen könnte. Hinter jeder Arbeit wird er gerne geworden, Schneider hat Geschichten und Gedichte vor. Meis- der Mensch mit seinen Vorzügen, Ecken er gelernt. Nach Reichsarbeitsdienst, tens handelt es sich um kurze Beiträge. und Kanten sichtbar. Auch die Gedichte Krieg, Verwundung und Gefangen- Manchmal würde man gerne wissen, und lyrischen Beiträge bestechen durch schaft nahm er die unterschiedlichsten wie die jeweiligen Geschichten weiter- Form und Originalität. Bleibt nur zu hof- Arbeiten an, um sich und seine Familie gehen. Viele Beiträge gruppieren sich fen, dass dieser Schatz von vielen Lese- zu ernähren, bevor er in Niederstetten um die Zeitgeschichte: Das Grauen des rinnen und Lesern gehoben wird und eine bescheidene, aber dauerhafte An- Zweiten Weltkriegs wird lebendig, die dass sich viele durch diesen Band er- stellung fand. Not der Nachkriegszeit wird fassbar muntert fühlen, es auch einmal mit einer Während einer Tätigkeit als Nacht- und konkret, Flucht und Vertreibung Schreibwerkstatt zu versuchen. wächter begann er zu schreiben. Die werden erfahrbar. Siegfried Schiele Sprache hat ihn sein Leben lang nicht

Die Zukunft der kommunalen Selbstverwaltung Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs

Band 39, hrsg. von Barbara Remmert und Hans-Georg Wehling

In den Kommunen ist die Politik den Bürgerinnen und Bürgern am nächsten, denn dort wird Politik täglich erfahrbar: Wo werden unsere Kinder betreut? Wo findet Altenpflege statt? Wie werden Migranten integriert? Und wer finan- ziert all das? Die Kommunen gestalten Politik wesentlich mit und prägen den öffentlichen Ein- druck von „gelingender“ oder „versagender“ Politik. Ihre Selbstverwaltung hat sich als Erfolgsmodell erwiesen. Ohne Kommunen ist politisches Leben schlicht nicht denkbar.

Der Band liefert in 12 Beiträgen eine Bestandsaufnahme der kommunalen Selbstverwaltung und weist zugleich Zukunftsperspektiven auf.

Bestellung: 6.50 Euro zzgl. Versand, Landeszentrale für politische Bildung, Fax 0711.164099 77, [email protected], www.lpb-bw.de/shop

203 BUCHBESPRECHUNGEN

losgelassen, nicht die der Luther-Bibel ne persönliche Auswahl von Texten sei- Peter Schäfer hat die hier angezeigte und nicht seine Muttersprache: die ho- nes Freundes vorgelegt. Das jetzt, ein Haag-Ausgabe in vier Kapitel geglie- henlohisch-fränkische Mundart. Von ihr Jahr später, schon in zweiter Auflage dert: Das Verhältnis von Mensch, Natur sagte er, dass sie mehr Seele habe als erschienene und um 16 Seiten erweiter- und Umwelt – Gesellschaft – Politik – die Schriftsprache. Der „Hohenloher te Buch rückt einen bisher wenig beach- Kirche. Dazu kommen ein Vorwort des Psalm“ (1964) war Haags erstes Buch; teten Aspekt des Dichters in den Mittel- Herausgebers sowie, in chronologi- „Mit ere Hendvoll Wiind“, ein Band mit punkt: den des Zeitkritikers. Gottlob scher Reihenfolge, ein Verzeichnis aller Gedichten in seiner Mundart erschien Haag hatte einen scharfen und unbe- Veröffentlichungen und der Auszeich- 1970. Haags Mundarttexte waren an- stechlichen Blick auf die Zeitläufte und nungen von Gottlob Haag. ders als man es gewohnt war: nicht auf die Menschen seiner Heimat. Und Es ist Peter Schäfers Verdienst, dass er ländlich-derb und spaßig, sondern mit er hat sich damit nicht immer nur Freun- mit dieser Sammlung eine nicht so be- einem genauen Blick auf die Welt, die de gemacht. Zum Beispiel, wenn er achtete Seite von Gottlob Haag gewür- ihn umgab, auf die Natur und auf die den industrialisierten Umgang mit der digt hat. Auch hat er hier als Erster Menschen seiner Heimat. Die Wochen- Natur rügte, als das noch nicht Mode Haags Mundart-Gedichte einfühlsam zeitung „Die Zeit“ stufte Haags Lyrik war, und damit die Bauern verärgerte. in die Hochsprache übertragen und sie schon damals als wichtige Veröffentli- Wenn er etwa als typischer Wertkon- so einem breiteren Leserkreis erschlos- chung deutscher Sprache ein. servativer gesellschaftliche Tendenzen sen. Sehr gut gelingt ihm das dort, wo er Über vierzig Erstausgaben hat Gottlob kritisierte und den stromlinienförmigen typische oder veraltete Mundartaus- Haag in zweiundvierzig Jahren vorge- Politikern oder einer allzu modischen drücke in treffendes Hochdeutsch über- legt, viele in der Mundart, die meisten Amtskirche die Leviten las. Manchmal setzt (zum Beispiel auf S. 50/51). Scha- auf Hochdeutsch: zahlreiche Gedicht- blitzte beim Autor auch das hohenlohi- de ist es, wenn Schäfer den in der mund- bände, einige Erzählungen, drei Volks- sche Schlitzohr auf; so in einem Gedicht artlichen Version durchaus noch ge- stücke und einen Roman. Manche Bü- von 1982: bräuchlichen Konjunktiv einfach im cher haben vier Auflagen erlebt; über Nominativ wiedergibt (S. 78/79). dreißig davon sind noch lieferbar. Im E Volk Peter Schäfer hat als Herausgeber J ah r 2 0 0 8 i s t H a a g i n N i e d e r s te t te n g e - hatt immer gründlich gearbeitet. Er hat aus fünf- storben. Den Ludwig-Uhland-Preis hät- diee Räggieerung zehn Büchern des Dichters und Lud- te der Autor nie erhalten können, wenn wu es verdäent. wig-Uhland-Preisträgers zitiert, deren er nicht in Wilfried Eppe einen Verleger Erstauflagen zwischen 1971 und 2006 alter Schule gefunden hätte, der von Und woß kou en scho erschienen waren. Der Verlag Eppe hat seinem Autor überzeugt war und ihm die e Schpitzbue drfieer, die genauen Quellenangaben beige- Treue hielt, auch wenn der Erfolg nicht wenn er steuert. Gottlob Haags Werk hat es ver- von vornherein absehbar war. von Schpitzbuewe dient, nicht in Vergessenheit zu geraten. Einer, den Haags Qualität auch beein- neii s Parlament Es ist gut, dass das Bändchen von Peter druckte, war Peter Schäfer aus Veits- gweehlt werd? Schäfer dazu einen wichtigen und le- höchheim am Main. Mit dem Band „Der senswerten Beitrag leistet. kritische Gottlob Haag“ hat Schäfer ei- (Schäfer, S. 86, Übertragung S. 87) Otto Bauschert ᒇ Wenn Sie DER BÜRGER IM STAAT abonnieren möchten, erhalten Sie die Zeitschrift für nur € 12,80, vier Hefte im Jahr, frei Haus. Schicken Sie diesen Abschnitt zurück an: Sollten Sie jeweils drei Monate vor Ablauf des Kalenderjahres nicht abbestellt haben, läuft das Abonnement weiter.

Hiermit erteile ich widerruflich die Abbuchungsermächtigung für den Jahresbezugspreis in Höhe von € 12,80. Name, Vorname bzw. Organisation

Straße, Hausnummer Geldinstitut

PLZ, Ort Konto-Nr. BLZ

Datum, Unterschrift Datum, Unterschrift

Rechtlicher Hinweis: Ich kann diese Bestellung binnen 14 Tagen widerrufen. Zur Wahrung der Frist genügt die rechtzeitige Absendung (Poststempel) an: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Redaktion Der Bürger im Staat, Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart. Ich habe von meinem Widerspruchsrecht Kenntnis genommen.

Datum, Unterschrift

204 LANDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG BADEN-WÜRTTEMBERG

Staffl enbergstraße 38, 70184 Stuttgart Telefon 0711/164099-0, Service -66, Fax -77 [email protected], www.lpb-bw.de

Direktor: Lothar Frick -60 Außenstellen Büro des Direktors: Regionale Arbeit Sabina Wilhelm -62 Politische Tage für Schülerinnen und Schüler Stellvertretender Direktor: Karl-Ulrich Templ -40 Veranstaltungen für den Schulbereich

Stabsstelle Kommunikation und Marketing Außenstelle Freiburg Leiter: Werner Fichter -63 Bertoldstraße 55, 79098 Freiburg Felix Steinbrenner -64 Telefon: 0761/20773-0, Fax -99 Leiter: Dr. Michael Wehner -77 Abteilung Zentraler Service Jennifer Lutz -33 Abteilungsleiter: Kai-Uwe Hecht -10 Haushalt und Organisation: Gudrun Gebauer -12 Außenstelle Heidelberg Personal: Sabrina Gogel -13 Plöck 22, 69117 Heidelberg Information und Kommunikation: Wolfgang Herterich -14 Telefon: 06221/6078-0, Fax -22 Siegfried Kloske, Haus auf der Alb Tel.: 07125/152-137 Leiter: Wolfgang Berger -14 Dr. Alexander Ruser -13 Abteilung Demokratisches Engagement Abteilungsleiterin/Gedenkstättenarbeit*: Sibylle Thelen -30 Außenstelle Tübingen Landeskunde und Landespolitik*: Dr. Iris Häuser -20 Die Außenstelle Tübingen wurde zum 1.5.2012 aufgelöst Jugend und Politik*: Angelika Barth -22 Schülerwettbewerb des Landtags*: Monika Greiner -25 Projekt Extremismusprävention Robby Geyer -26 Staffl enbergstraße 38, 70184 Stuttgart Frauen und Politik: Beate Dörr/Sabine Keitel -29/ -32 Leiterin: Regina Bossert -81 Freiwilliges Ökologisches Jahr*: Steffen Vogel -35 Assistentin: Nadine Karim -82 Alexander Werwein-Bagemühl -36 Stefan Paller, Charlotte Becher -37/ -34 *Paulinenstraße 44-46, 70178 Stuttgart Abteilung Medien und Methoden Fax: 0711/164099-55 Abteilungsleiter/Neue Medien: Karl-Ulrich Templ -40 Politik & Unterricht/Schriften zur politischen Landes- kunde Baden-Württembergs: Dr. Reinhold Weber -42 Deutschland & Europa: Jürgen Kalb -43 Der Bürger im Staat/Didaktische Reihe: Siegfried Frech -44 Unterrichtsmedien: Michael Lebisch -47 Politische Bildung Online/E-Learning: Susanne Meir -46 Politische Bildung Online: Jeanette Reusch-Mlynárik, Haus auf der Alb Tel.: 07125/125-136 Internet-Redaktion: Klaudia Saupe/Julia Maier -49/-46 LpB-Shops/Publikationsausgaben Bad Urach Hanner Steige 1, Telefon 07125/152-0 Abteilung Haus auf der Alb Montag bis Freitag Tagungszentrum Haus auf der Alb, 8.00–12.00 Uhr und 13.00–16.30 Uhr Hanner Steige 1, 72574 Bad Urach Telefon 07125/152-0, Fax -100 Freiburg Bertoldstraße 55, Telefon 0761/20773-0 www.hausaufderalb.de Dienstag und Donnerstag 9.00–17.00 Uhr

Abteilungsleiter/Gesellschaft und Politik: Heidelberg Plöck 22, Telefon 06221/6078-0 Dr. Markus Hug -146 Dienstag 9.00–15.00 Uhr Schule und Bildung/Integration und Migration: Mittwoch und Donnerstag 13.00–17.00 Uhr Robert Feil -139 Internationale Politik und Friedenssicherung/ Stuttgart Staffl enbergstraße 38, Integration und Migration: Wolfgang Hesse -140 Telefon 0711/164099-66 Europa – Einheit und Vielfalt: Thomas Schinkel -147 Mittwoch 14.00–17.00 Uhr Bibliothek/Mediothek: Gordana Schumann -121 Hausmanagement: Nina Deiß -109 Newsletter „einblick“ anfordern unter www.lpb-bw.de