Inhaltsverzeichnis Plenarprotokoll 18/34

Deutscher

Stenografischer Bericht

34. Sitzung

Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 18: Tagesordnungspunkt 19: Erste Beratung des von der Bundesregierung Vereinbarte Debatte: 10 Jahre „EU-Ost- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur erweiterung“ ...... 2887 D Weiterentwicklung der Finanzstruktur und Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister der Qualität in der gesetzlichen Kranken- AA ...... 2888 A versicherung (GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz – Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 2889 D GKV-FQWG) Dr. (CDU/CSU) ...... 2891 B Drucksache 18/1307 ...... 2867 B (BÜNDNIS 90/ Hermann Gröhe, Bundesminister DIE GRÜNEN) ...... 2893 A BMG ...... 2867 D (CDU/CSU) ...... 2894 C (DIE LINKE) ...... 2869 D (DIE LINKE) ...... 2896 A Dr. (SPD) ...... 2871 B Dr. Dorothee Schlegel (SPD) ...... 2897 A Harald Weinberg (DIE LINKE) ...... 2872 C (BÜNDNIS 90/ Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 2898 A DIE GRÜNEN) ...... 2873 A (CDU/CSU) ...... 2899 B (CDU/CSU) ...... 2874 B (SPD) ...... 2900 D (DIE LINKE) ...... 2876 C Dr. (CDU/CSU) ...... 2902 A (SPD) ...... 2877 C (SPD) ...... 2904 A Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ Dr. (CDU/CSU) ...... 2904 D DIE GRÜNEN) ...... 2877 D Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 2906 A Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 2879 B Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) ...... 2906 C Dr. Karl Lauterbach (SPD) ...... 2879 D Tagesordnungspunkt 20: (CDU/CSU) ...... 2881 A a) Antrag der Abgeordneten , Kathrin Vogler (DIE LINKE) ...... 2881 D Dr. , , Helga Kühn-Mengel (SPD) ...... 2883 A weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Europäi- (CDU/CSU) ...... 2884 B schen Grundrechtsschutz gewährleisten – (SPD) ...... 2885 C Nationale Vorratsdatenspeicherung ver- hindern Thomas Stritzl (CDU/CSU) ...... 2886 D Drucksache 18/1339 ...... 2907 A II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 b) Beschlussempfehlung und Bericht des Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 2919 A Ausschusses für Recht und Verbraucher- schutz (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 2920 B – zu dem Antrag der Abgeordneten , Dr. , Dr. André Hahn, (SPD) ...... 2921 D weiterer Abgeordneter und der Frak- (CDU/CSU) ...... 2923 A tion DIE LINKE: Endgültig auf Vor- ratsdatenspeicherung verzichten – zu dem Antrag der Abgeordneten Tagesordnungspunkt 22: Dr. Konstantin von Notz, Katja Keul, Erste Beratung des von der Bundesregierung Luise Amtsberg, weiterer Abgeordne- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Bekämpfung von Zahlungsverzug im Ge- DIE GRÜNEN: Vorratsdatenspei- schäftsverkehr cherung verhindern Drucksache 18/1309 ...... 2924 B Drucksachen 18/302, 18/381, 18/999 . . . . 2907 A Christian Lange, Parl. Staatssekretär BMJV ...... 2924 B Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 2907 B Richard Pitterle (DIE LINKE) ...... 2925 C Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) ...... 2908 D Dr. (CDU/CSU) ...... 2926 B Jan Korte (DIE LINKE) ...... 2909 C Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 2927 C Christian Flisek (SPD) ...... 2911 A (SPD) ...... 2928 C (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 2912 B Dr. (CDU/CSU) ...... 2929 C Dr. (CDU/CSU) ...... 2912 D Nächste Sitzung...... 2930 D (SPD) ...... 2914 B (CDU/CSU) ...... 2915 C Anlage 1 Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 2915 D Liste der entschuldigten Abgeordneten...... 2931 A

Tagesordnungspunkt 21: Anlage 2 Erste Beratung des von der Bundesregierung Zu Protokoll gegebene Rede des Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Ersten Geset- (SPD) zur Beratung des Ent- zes zur Änderung des Gesetzes zur Zahl- wurfs eines Gesetzes zur Anpassung steuer- barmachung von Renten aus Beschäftigun- licher Regelungen an die Rechtsprechung des gen in einem Ghetto Bundesverfassungsgerichts (33. Sitzung, Ta- Drucksache 18/1308 ...... 2917 A gesordnungspunkt 17)...... 2931 D Gabriele Lösekrug-Möller, Parl. Staatssekretärin BMAS ...... 2917 B Anlage 3 (DIE LINKE) ...... 2918 A Amtliche Mitteilungen ...... 2932 C Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2867

(A) (C)

34. Sitzung

Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. : entwicklung der Finanzstruktur und der Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Qualität in der gesetzlichen Krankenversiche- rung Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich (GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiter- begrüße Sie alle zu unserer heutigen Plenarsitzung. Wir entwicklungsgesetz – GKV-FQWG) werden heute neben anderen Punkten auch über die EU- Osterweiterung debattieren und damit an die größte Er- Drucksache 18/1307 weiterung in der Geschichte der EU erinnern, die vor Überweisungsvorschlag: zehn Jahren, am 1. Mai 2004, vollzogen wurde. Sie hatte Ausschuss für Gesundheit (f) damals zum Ergebnis, dass mit zehn weiteren Staaten Innenausschuss 74 Millionen Einwohner zu dieser Europäischen Union Ausschuss für Arbeit und Soziales hinzukamen. Ich sage das deswegen, weil es uns Gele- Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO genheit gibt, in diesen Wochen mit täglichen Krisenmel- Dazu haben sich die Fraktionen auf eine Aussprache (B) dungen in und um die Ukraine uns selbst und der Öffent- von 96 Minuten verständigt. – Auch dazu stelle ich Ein- (D) lichkeit in Erinnerung zu rufen und ins Bewusstsein zu vernehmen fest. Also können wir so verfahren. heben, welche Veränderungen in Europa möglich gewe- sen sind und möglich bleiben müssen und dass es für Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Krisen Lösungen gibt und geben muss. Bundesminister für Gesundheit, Hermann Gröhe. Mit Blick auf die andere große Krise, der auf den Fi- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nanzmärkten, sage ich: Wir wissen, dass wir sie sicher nicht ein für alle Mal hinter uns haben. Es lässt sich aber Hermann Gröhe, Bundesminister für Gesundheit: festhalten – darüber debattieren wir heute nicht –, dass Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! mit Portugal ein weiteres Land in diesen Tagen aus dem Meine Damen! Meine Herren! Eine solide Finanzierung Rettungsschirm, den wir als Solidarleistung errichtet ha- und hohe Versorgungsqualität sind die tragenden Säulen ben, aussteigen kann und sich selber wieder an den Fi- eines gut funktionierenden solidarischen Gesundheits- nanzmärkten finanzieren wird. Dazu möchte ich all den- wesens. Wir können in Deutschland feststellen: Wir ha- jenigen, die in Portugal dafür über Monate hinweg große ben eine sehr gute medizinische Versorgung, ja, eine Opfer gebracht haben, herzlich gratulieren. Wir sollten Versorgung, um die uns nicht wenige Länder beneiden. dies gemeinsam als Ermutigung für unsere Anstrengun- gen begreifen. Wir wollen, dass dies so bleibt. (Beifall im ganzen Hause) Mit dem heute vorgelegten „Gesetz zur Weiterent- wicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die Unter- gesetzlichen Krankenversicherung“ legen wir einen Re- richtung der Bundesregierung zum Stadtentwicklungs- gelungsentwurf vor, der die solidarische Finanzierung bericht 2012 auf der Drucksache 17/14450 dem Aus- unseres Gesundheitswesens zukunftsfest macht und die schuss Digitale Agenda zur Mitberatung zu Qualität der Gesundheitsversorgung nachhaltig sichert. überweisen. Wenn es dazu nicht spontanen Diskussions- Wir tragen einer nachhaltigen Finanzierung Rechnung, bedarf gibt, dann würde ich das gerne als einvernehmli- indem wir den allgemeinen Beitragssatz von 15,5 Pro- chen Beschluss zu Protokoll geben. – Das gelingt ganz zent auf 14,6 Prozent absenken und den Beitragssatz der offenkundig. Dann ist das so vereinbart. Arbeitgeber weiterhin bei 7,3 Prozent festschreiben. Da- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: mit vermeiden wir zusätzliche Belastungen durch höhere Lohnnebenkosten. Denn wir möchten Wachstum weiter Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- fördern. Wir wollen, dass die Menschen in Lohn und gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiter- Brot bleiben. Wir wollen, dass sie gute, sichere Arbeits- 2868 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Bundesminister Hermann Gröhe (A) plätze haben. Denn eine gute wirtschaftliche Entwick- Ineinandergreifen der Versorgungsabläufe bedeutet, dass (C) lung und sichere, gut bezahlte Arbeitsplätze sind wesent- diese Patienten keine unnötigen, aber alle erforderlichen, liche Grundlagen eines nachhaltigen, solidarischen notwendigen Untersuchungen erhalten. Dazu bedarf es Gesundheitswesens. einer angemessenen, die Versorgungsqualität in den Blick nehmenden Qualitätskontrolle. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ein Schwerpunkt der Arbeit des Instituts wird daher Wir stärken mit diesem Gesetz außerdem die Bei- die Entwicklung von belastbaren Kriterien und die Zu- tragsautonomie der gesetzlichen Krankenkassen und den lieferung von Datengrundlagen zur Messung und Bewer- Wettbewerb untereinander. Künftig haben die Kassen die tung der Versorgungsqualität in unserem Lande sein. Möglichkeit, einen einkommensabhängigen Zusatzbei- Denn nur wenn wir relevante und verlässliche Informa- trag zu erheben. In ihn fließt künftig der schon 2004 be- tionen über den Stand der medizinischen Versorgung er- schlossene und seit 2005 erhobene mitgliederbezogene halten, können Defizite erkannt und die Behandlung der Beitragsanteil von 0,9 Prozentpunkten mit ein. Die Höhe Patientinnen und Patienten gezielt verbessert werden. dieses Zusatzbeitrages kann dann jede Kasse – abhängig von ihrem Finanzbedarf – eigenverantwortlich festlegen. Neu ist außerdem, dass wir dem Merkmal „Qualität“ Das zeigt bereits Wirkung: Einige Krankenkassen haben im Hinblick auf unsere ambulanten Versorgungsstruktu- bereits angekündigt, im nächsten Jahr einen Zusatzbei- ren, aber auch bei der Steuerung, etwa bei der Kranken- trag erheben zu wollen, der unter 0,9 Prozent liegt. Ja, hausplanung oder der Vergütung bestimmter Leistungen, wir können davon ausgehen, dass ungefähr 20 Millionen mehr Gewicht geben wollen. Gerade bei der Kranken- Mitglieder im Jahr 2015 von einem niedrigeren Beitrag hausplanung müssen wir stärker berücksichtigen, dass profitieren könnten. Wir erwarten, dass die Krankenkas- viele Behandlungen heute ambulant durchgeführt wer- sen auch in den kommenden Jahren im Wettbewerb um den können, die noch vor einigen Jahren ausschließlich Qualität und Beiträge – ich unterstreiche: um Qualität stationär durchgeführt wurden. Deshalb wird Qualität und Beiträge – versuchen werden, die kassenspezifi- nicht nur ein Gestaltungsmaßstab für alle Bereiche der schen Beiträge möglichst gering zu halten, möglichst ef- stationären Versorgung sein, sondern auch bei der Si- fizient zu wirtschaften und Qualität, die die Mitglieder cherstellung der ambulanten Versorgungsstrukturen vor überzeugt, anzubieten. Deswegen ist es gut, dass unser Ort eine maßgebliche Rolle spielen müssen. Gesetz die Finanzstruktur, aber auch die Weiterentwick- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) lung der Qualität in unserem Gesundheitswesen zum In- halt hat. Das Qualitätsinstitut soll Vorschläge für beide Versor- gungsbereiche erarbeiten, die dann wiederum dem Ge- Bei der Qualitätssicherung geht es um die Schaffung meinsamen Bundesausschuss als verlässliche Entschei- (B) verlässlicher Strukturen, die die hohe Qualität in unse- (D) dungsgrundlage für eine sachgerechte und rechtssichere rem Gesundheitswesen nachhaltig sichern. Dazu starten Umsetzung von Qualitätssicherungsmaßnahmen in den wir eine Qualitätsoffensive, die einen wichtigen Anker- Bereichen „ambulant“ und „stationär“ dienen. Zugleich punkt im neuen Qualitätsinstitut haben wird; denn trotz wollen wir auch mit Unterstützung des neuen Qualitäts- unseres gut entwickelten Systems der Qualitätssicherung instituts bei Krankenhäusern für geeignete Leistungen brauchen wir – das ist unsere Überzeugung – ein solches Vergütungszu- und -abschläge für eine besonders gute neues, unabhängiges Qualitätsinstitut. oder weniger gute Versorgung einführen. Für Kliniken (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) sollen sich zusätzliche Anstrengungen für eine möglichst hohe Qualität stärker als bisher lohnen. Mit Blick auf den demografischen Wandel wissen wir doch bereits heute, dass unsere bestehenden Strukturen Meine Damen, meine Herren, gute Qualität muss der Qualitätssicherung den zukünftigen Anforderungen auch sichtbar gemacht werden. vermutlich nicht mehr genügen werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Das neue Institut soll dauerhaft und kontinuierlich mit neten der SPD) der Ermittlung und Weiterentwicklung der Versorgungs- Transparenz – dies schließt eine Verfügbarkeit von zu- qualität befasst sein und dem Gemeinsamen Bundesaus- verlässigen Informationen ein – ist eine wirksame Me- schuss bei der Qualitätssicherung helfen. Die höhere thode der Qualitätssicherung, Anreize für ein stärkeres Zahl älterer Menschen und die damit verbundene höhere Bemühen um gute, qualitativ hochwertige Versorgung Zahl von Mehrfacherkrankungen und Fällen der Pflege- zu setzen. Transparenz ist auch eine wesentliche Voraus- bedürftigkeit werden künftig höhere Anforderungen an setzung dafür, dass sich die Menschen selbstbewusst für die Behandlungsqualität nach sich ziehen. So wird bei- die geeigneten Leistungserbringer entscheiden, denen spielsweise die notwendige bessere Verzahnung von am- sie ihre gute und sichere Gesundheitsversorgung anver- bulanten und stationären Versorgungsstrukturen auch trauen wollen. eine darauf ausgerichtete Qualitätssicherung erforderlich machen. Gerade ältere Menschen, die häufig an mehre- Menschen interessieren sich für entsprechende Infor- ren Krankheiten leiden, sind besonders auf eine qualita- mationen. Die Berichte über die Qualität erbrachter tiv hochwertige, aufeinander abgestimmte Behandlung Krankenhausleistungen und die verschiedenen Rankings angewiesen. Manche von ihnen sind nicht mehr in der zeigen das große öffentliche Interesse an dieser Thema- Lage, selbst Behandlungsabläufe kritisch zu hinterfragen tik. Dem folgt allerdings regelmäßig ein Streit darüber, und aufmerksam mitzuverfolgen. Ein funktionierendes ob denn die richtigen Kriterien angewandt werden. Ge- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2869

Bundesminister Hermann Gröhe (A) nau das wiederum zeigt, dass es richtig ist, wenn wir uns Was jetzt schon getan werden kann, werden wir um- (C) darauf verständigen, was geeignete Parameter der Quali- gehend mithilfe der Selbstverwaltung umsetzen. Ich tätsbewertung in der Gesundheitsversorgung sind. Kon- nenne das Stichwort „Datengrundlage“. Ich habe die Vo- kret heißt das übrigens, dass auch die Qualitätsberichte raussetzungen dafür eingeleitet, dass ab 2015 eine ge- unserer Krankenhäuser präziser und verständlicher wer- nauere Erfassung der Geburten nach Einrichtungen, in den müssen. denen entbunden werden soll, erfolgt; denn es hat sich in den Gesprächen gezeigt, dass die Datenlage auf diesem (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Gebiet unzureichend ist. Das neue Qualitätsinstitut soll daher auf Basis der Wir werden die Qualität stärken. Einen entsprechenden Qualitätsberichte für wichtige, vom Gemeinsamen Bun- Auftrag werden wir dem IQWiG erteilen. Wir erwarten, desausschuss auszuwählende Versorgungsbereiche und dass die Verhandlungen zwischen den Hebammenverbän- Behandlungen Übersichten über die Versorgungsquali- den und dem GKV-Spitzenverband zur Qualitätssicherung tät im Internet veröffentlichen. Damit erhalten die Pa- zügig, bis zum Jahresende, abgeschlossen werden. Ich tientinnen und Patienten zuverlässige Informationen, die bin dafür, einen solchen Stichtag ausdrücklich ins Gesetz es ihnen ermöglichen, bei der Wahl der Klinik eine sach- aufzunehmen. gerechte, qualitätsorientierte Entscheidung zu treffen. Schließlich wollen wir alsbald die Voraussetzungen Meine sehr geehrten Damen und Herren, erlauben Sie für einen dauerhaften Sicherstellungszuschlag schaffen, mir, dass ich zum Schluss noch ein Thema anspreche, der gewährleistet, dass auch bei Geburtshilfe mit gerin- das bislang nicht im Gesetzentwurf enthalten ist. Ich gen Geburtenzahlen eine ausreichende Vergütung er- schlage den Regierungsfraktionen vor, dass wir dieses folgt. Gesetzgebungsverfahren nutzen, um ein Thema anzupa- Dies alles ist geeignet, um eine flächendeckende Ver- cken, das uns in den letzten Wochen wiederholt, und sorgung in der Geburtshilfe sicherzustellen. Deswegen zwar in allen Fraktionen, beschäftigt hat: die Situation sollten wir diese Schritte, die in der Arbeitsgruppe weit- der Hebammen und der Geburtshilfe in unserem Land. gehend Konsens waren, zügig umsetzen. Ich glaube, wir Der starke Anstieg der Prämien der Berufshaftpflichtver- leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Sicherstellung sicherungen in diesem Bereich und der drohende Aus- der Geburtshilfe in unserem Land. stieg einiger Versicherungsunternehmen hatte zu großer Verunsicherung in dieser in ihrer Leistung unverzichtba- Herzlichen Dank. ren Berufsgruppe geführt. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Letzte Woche habe ich den Abschlussbericht der in- (B) (D) terministeriellen Arbeitsgruppe „Versorgung mit Heb- Präsident Dr. Norbert Lammert: ammenhilfe“, die seinerzeit eingerichtet wurde, veröf- Das Wort erhält nun der Kollege Harald Weinberg für fentlicht. An ihm haben neben verschiedenen Ressorts die Fraktion Die Linke. der Bundesregierung, Vertreterinnen und Vertreter der Hebammen, die Selbstverwaltung der Sozialversiche- (Beifall bei der LINKEN) rungen sowie der privaten Versicherungswirtschaft mit- gewirkt. Harald Weinberg (DIE LINKE): Unser Ziel war es, die Spirale immer höherer Haft- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! pflichtprämien zu durchbrechen, ohne die Familien im Meine Damen und Herren! Ich beschränke mich in mei- Stich zu lassen, wenn diese infolge eines Behandlungs- ner Rede erst einmal auf den Finanzierungsaspekt. fehlers bei der Geburt mit dem Schicksal eines schwer- (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE behinderten Kindes klarkommen müssen und dafür GRÜNEN]: Das ist auch richtig so! Der kam selbstverständlich eine angemessene, auch finanzielle zu kurz!) Unterstützung verdient haben. Ich habe daher ein Maß- nahmenpaket vorgeschlagen, mit dem auf die zu klären- Meine Kollegin Vogler wird sich nachher mit dem den Fragen sehr kurzfristig greifende Antworten gegeben Thema Qualitätsinstitut etwas intensiver auseinanderset- werden sollen, die wir in das Gesetzgebungsverfahren zen. einbringen wollen, das aber auch mittelfristige Schritte enthält. Zu Anfang meiner Rede muss ich auf die Kürzung des Bundeszuschusses zur gesetzlichen Krankenversi- Im Kern geht es um vier Bereiche: kurzfristige Ver- cherung eingehen. Wir sind zwar nicht in der Haushalts- besserungen im Bereich der Vergütung, Qualitätssiche- debatte, aber es gibt natürlich einen Zusammenhang rung in der Geburtshilfe, eine Verbesserung der Daten- zwischen der Kürzung und dem jetzt vorliegenden Ge- lage sowie tragfähige, dauerhafte Lösungen im Bereich setzentwurf. Zum Zwecke der Haushaltssanierung soll der Haftpflichtversicherungsbeiträge. Gerade in dem der Bundeszuschuss in diesem Jahr um 3,5 Milliar- letztgenannten Bereich – Sie wissen, ich schlage einen den Euro gekürzt werden, im nächsten Jahr um 2,5 Mil- Regressverzicht der Kranken- und Pflegeversicherung liarden Euro, insgesamt also um 6 Milliarden Euro. Das vor – bedarf es sicher zügig vorzunehmender weiterer müsste sogar in der Welt von Herrn Lauterbach gelten, Beratungen. Unter anderem im Gesundheitsausschuss auch wenn dort immer wieder, sagen wir einmal, unkon- werden wir dazu Gelegenheit haben. ventionelle Sichtweisen vorhanden sind. 2870 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Harald Weinberg (A) Minister Gröhe formuliert in dieser Frage klarer und Wir wollen zurück zur paritätischen Finanzierung. (C) nennt Kürzungen auch Kürzungen. Er sagt, diese Kür- Das war ja auch einmal sozialdemokratische Position, zungen seien zur Konsolidierung des Haushalts notwen- scheint es aber nicht mehr zu sein. Denn an dieser Stelle dig, und sie seien durch die Rücklagen im Gesundheits- wird gar nichts korrigiert. Der Arbeitgeberbeitrag bleibt fonds gedeckt. Aus diesem Grund werde es derzeit keine eingefroren. Alle künftigen Ausgabensteigerungen wer- Beitragssteigerungen geben. Das ist richtig, aber es ist den künftig von den Beitragszahlern auf der Arbeitneh- nicht die ganze Wahrheit. Das Abschmelzen der Rückla- merseite durch Zusatzbeiträge gezahlt. gen im Gesundheitsfonds zum Zwecke der Haushalts- sanierung beschleunigt aufseiten der Kassen die Not- Nur am Rande: Das führt auch in den Selbstverwal- wendigkeit, Zusatzbeiträge zu erheben. Das rechnet tungsorganen zu ganz merkwürdigen Situationen. Wir Ihnen auch der Bundesrechnungshof vor. Er kommt zu werden in den paritätisch besetzten Selbstverwaltungsor- dem Schluss – ich zitiere –: ganen der Krankenkassen erleben, dass die Arbeitgeber- seite über die Einführung von Zusatzbeiträgen, die sie Erzielte der Gesundheitsfonds in den Jahren 2014 selber überhaupt nicht betreffen, mit entscheidet. Auch und 2015 jedoch keine Überschüsse, so kann man Selbstverwaltungsstrukturen delegitimieren und die Krise, die es dort zu einem Teil schon gibt, wei- – was sehr wahrscheinlich ist – ter verschärfen. würde Ende 2015 bei der vorgesehenen Kürzung Jetzt zur Finanzentwicklung und Prognose; gerade des Bundeszuschusses 2014 und 2015 die gesetz- wurde schon darauf hingewiesen. Die Bundesregierung lich vorgeschriebene Mindestliquiditätsreserve … hat gesagt, 20 Millionen von – die Gesamtzahl der Bei- unterschritten. tragszahler wird immer vergessen – rund 50 Millionen Das sagt der Bundesrechnungshof. Ferner sagt er: Beitragszahlern würden ab 2015 weniger Beitrag als heute zahlen müssen. Diese Prognose ist aus meiner Der Bundesrechnungshof empfiehlt deshalb, die Sicht verhältnismäßig fragwürdig. Nach meiner Kennt- Finanzsituation des Gesundheitsfonds spätestens ab nis haben bisher erst sieben Kassen gesagt, dass sie die Mai 2015 dahingehend noch genauer zu beobach- Beiträge senken werden, und diese sieben Kassen – da- ten, um gegebenenfalls frühzeitig gegensteuern zu runter ist nur eine große Kasse – haben weniger als können. Optionen wären, 9 Millionen Mitglieder und rund 12 Millionen Versi- cherte, mitversicherte Personen usw. Die Versicherten- – sagt er ferner – zahl ist immer etwas größer. Das sind aber lange keine den für 2016 geplanten Bundeszuschuss weiter 20 Millionen Mitglieder. Diese Kassen haben also ange- (B) anzuheben oder die Zuweisungen an die Kranken- kündigt, dass sie den Beitragssatz voraussichtlich senken (D) kassen so weit zu reduzieren, dass es zu keiner län- werden. Die einzige große Kasse darunter, die Techni- gerfristigen Unterschreitung der Mindestliquiditäts- ker, wird in dem Zuge auf die Auszahlung von Bonus- reserve kommt. zahlungen, die sie derzeit vornimmt, verzichten. Im Prinzip ist es am Ende ein Nullsummenspiel. Das Erste ist unwahrscheinlich. Der Bundeszuschuss wird 2016 nicht angehoben. Daher tritt das Zweite in Wie die Bundesregierung auf die 20 Millionen Kraft. Das heißt, ab 2015 steht die Gefahr im Raum, dass kommt, bleibt ihr Geheimnis, aber selbst diese 20 Mil- die Zuweisungen an die Krankenkassen reduziert wer- lionen sind nur eine Minderheit. Bezeichnenderweise den und Zusatzbeiträge schon dann notwendig werden. sieht sich die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage, die wir gestellt haben, nur in der Lage, Jetzt zur paritätischen Finanzierung, der hälftigen Bei- eine Prognose, dazu noch eine fragwürdige, über die tragserhebung bei Arbeitnehmern und Arbeitgebern, ei- Zahl der Begünstigten abzugeben. Wir haben auch ge- nem wesentlichen Merkmal unseres solidarischen Kran- fragt, für welche Gruppen die Beiträge gleich bleiben kenkassensystems, das jetzt weiter geschliffen wird. Mit oder eventuell sogar höher werden. Da sah sich die Bun- dem Sonderbeitrag von 0,9 Prozent wurde bereits unter desregierung in ihrer Antwort außerstande, eine Pro- Rot-Grün unter mit dem Ausstieg aus der gnose abzugeben. Im Prinzip gibt man also nur Progno- Parität begonnen. Schwarz-Gelb tastete das nicht an, son- sen ab, um positive Überschriften in den Zeitungen zu dern verschärfte es sogar durch die kleine Kopfpauschale. generieren. Auf Prognosen, die zu kritischen Überschrif- Nur um die Dimensionen, über die wir hier sprechen, ein- ten in den Zeitungen führen, verzichtet man. mal deutlich zu machen: Seit 2005 zahlen Arbeitneh- merinnen und Arbeitnehmer jährlich 9 bis 10 Milliarden Auf den Bundesrechnungshof habe ich bereits ver- Euro mehr an Beiträgen an die Krankenkassen als die wiesen. Er sieht ab 2015 Probleme beim Fonds. Aber Arbeitgeberseite. Das sind in diesen neun Jahren zwi- auch die Antworten auf unsere Kleine Anfrage zeigen, schen 80 und 90 Milliarden Euro. Zuzahlungen, Aufzah- dass es recht schnell für alle Versicherten deutlich teurer lungen usw. sind dabei noch nicht mitgerechnet. Das ist werden kann. In den letzten zehn Jahren stiegen die Aus- eine gewaltige Summe, und aus unserer Sicht ist dies gaben in der gesetzlichen Krankenversicherung im Jah- völlig inakzeptabel. resdurchschnitt um 3,7 Prozent. Die beitragspflichtigen Einkommen, also Löhne und Rente, stiegen im gleichen (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Zeitraum nur um 2 Prozent. Das bedeutet jedes Jahr ein Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Loch von 1,7 Prozentpunkten. Das entspricht in etwa GRÜNEN]) 4 Milliarden Euro. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2871

Harald Weinberg (A) Das ist der Grund, warum der Beitragssatz insgesamt Es ist richtig, Herr Weinberg, wenn man sagt, dass diese (C) auf 15,5 Prozent angehoben werden musste. Sämtliche Lösung ausbaufähig ist. Aber haben Sie doch die Größe, Experten nehmen an, dass sich diese Entwicklung in den zuzugeben, dass einiges erreicht wurde. nächsten Jahren fortsetzen wird. In dieser Situation beschließen Sie, dass künftig weder Arbeitgeber noch (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Gutverdiener noch privat Krankenversicherte noch Ka- Es ist doch damals von uns gemeinsam gefordert worden pitaleinkünfte dazu herangezogen werden, das auszu- – ich erinnere die Grünen daran, und ich erinnere Sie finanzieren. Die gesetzlich Krankenversicherten müssen von der Linken daran –, dass die kleine Kopfpauschale die Zeche allein zahlen. Deshalb werden die Zusatzbei- weg muss, träge schnell kommen, befürchten wir. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Am Ende bleibt, dass die kleine Kopfpauschale, die GRÜNEN]: Ja! Aber stattdessen kommt ein durch Schwarz-Gelb eingeführt wurde, nun durch einen anderer Zusatzbeitrag!) relativen Zusatzbeitrag ersetzt wird. Das war sozusagen der große Sieg der Sozialdemokratie in den Koalitions- weil sie Rentner, Geringverdiener und Familien belastet. verhandlungen. Dabei wird es aber teurer für die Versi- Das haben wir doch gemeinsam gefordert. Erinnern Sie cherten. Daher kann dieser große Sieg schnell zu einem sich nicht daran? Jetzt kommt Ihnen nicht ein einziges Pyrrhussieg für die SPD werden. Wir bleiben bei unserer Wort der Anerkennung über die Lippen, dass wir diese Alternative. Unsere Alternative ist eine solidarische Bür- Kopfpauschale beerdigen konnten. Das finde ich unfair. gerinnen- und Bürgerversicherung, in die alle einzahlen (Beifall bei der SPD – Maria Klein-Schmeink und in der die Parität völlig wiederhergestellt wird. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da wurde der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben!) Vielen Dank. Sie würdigen auch mit keinem Wort, dass wir zum (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Beispiel bei Arbeitslosengeldempfängern, bei Empfän- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gern von Arbeitslosengeld I und II, diesen von Ihnen ge- geißelten einkommensabhängigen Zusatzbeitrag gar Präsident Dr. Norbert Lammert: nicht erheben. Arbeitslose müssen ihn nicht bezahlen. Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Karl Sie sind doch normalerweise die Partei, die uns vorwirft, Lauterbach das Wort. dass wir für die Arbeitslosen zu wenig machen – fast im- mer zu Unrecht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Lachen bei der LINKEN) (B) (D) Bringen Sie doch die Größe auf, zu sagen, dass Arbeits- Dr. Karl Lauterbach (SPD): lose diesen Zusatzbeitrag nicht zahlen müssen. Sagen Herr Präsident! Herr Minister! Meine sehr verehrten Sie: Zumindest das erkennen wir an, weil das im Ver- Damen und Herren! Zunächst einmal muss man feststel- gleich zu der Situation, die wir jetzt haben, ein Ausbau len, dass diese Große Koalition im Bereich Gesundheit der Solidarität ist. relativ geräuschlos zuverlässig Arbeit macht, die in al- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) lererster Linie den Bürgern, den Patienten und den Versi- cherten zugutekommt. Dafür und auch für die gute Zu- Sie haben vorgetragen, dass wir den Bundeszuschuss sammenarbeit möchte ich bei dieser Gelegenheit Herrn kürzen. Es ist richtig, dass wir den Bundeszuschuss vo- Gröhe meinen ausdrücklichen Dank, auch im Namen un- rübergehend kürzen, und zwar deshalb, weil er derzeit serer Fraktion, aussprechen. nicht gebraucht wird. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Die 6 Mil- Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE liarden sind weg!) GRÜNEN]: Du hast es nötig, oder? – Jens Überlegen Sie doch selbst: Ein Bundeszuschuss, der der- Spahn [CDU/CSU]: Was will man denn noch zeit höher ist, als er gebraucht wird, bringt so gut wie mehr?) keine Zinsen, derweil wir das Geld für Investitionen in Ich verzichte auf Vergleiche mit anderen Ministern und Bildung und Infrastruktur und für familiäre Projekte un- komme sofort zum Inhalt dieses Gesetzes. bedingt benötigen. Ich frage Sie: Welchen Sinn macht es, den Bundeszuschuss jetzt in dieser Höhe zu belassen, (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der wenn er doch höher ist, als wir ihn benötigen, derweil CDU/CSU) das Geld an anderer Stelle dringend gebraucht wird? Ich kann es Ihnen sagen: Das macht keinen Sinn. Ich kann mit Ehrlichkeit behaupten: Es ist ein gutes Gesetz. Es ist ein Gesetz, das die Solidarität in unserem (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Gesundheitssystem stärkt. CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil es das Geld der (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Versicherten ist!) GRÜNEN]: Das ist für einen Sozialdemokra- ten wirklich gewagt! Das ist ein Gesetz zulas- Sie vergessen auch, zu erwähnen, dass wir den Bun- ten der Versicherten!) deszuschuss für das Jahr 2017 über die langfristige Pla- 2872 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Dr. Karl Lauterbach (A) nung hinaus sogar um eine halbe Milliarde Euro erhö- Harald Weinberg (DIE LINKE): (C) hen. Sie haben auf der Grundlage von vollkommen Herr Kollege Lauterbach, das haben Sie sich jetzt ein unnachvollziehbaren Prognosen darüber spekuliert, was Stück weit selbst zuzuschreiben. Jetzt nur einmal ganz im nächsten Jahr passiert. Gehen Sie doch auf das ein, kurz für mich zum Nachvollziehen – vielleicht bin ich ja was sicher ist, nicht auf Spekulationen. Gehen Sie darauf in der Tat auf die falsche Schule gegangen ein, dass sicher ist – das haben wir gesagt –, dass der Bundeszuschuss ab 2017 im Vergleich zur ursprüngli- ( [CDU/CSU]: Das glaube ich chen Planung sogar um eine halbe Milliarde Euro höher auch!) sein wird. und kann nicht rechnen –: Eine Kürzung um 3,5 Milliar- den Euro und danach eine Kürzung um 2,5 Milliarden (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Trotzdem Euro ergibt erst einmal eine Kürzung um 6 Milliarden sind die 5,5 Milliarden weg!) Euro. Im Jahr 2015 soll dann eine halbe Milliarde oben- Das wäre ehrlich gewesen, und das ist eine Leistung, drauf kommen. Dann sind immer noch 5,5 Milliarden meine Damen und Herren. Euro weg. – Stimmt das, oder stimmt das nicht? (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Rechnen muss man können! Mengenlehre!) Dr. Karl Lauterbach (SPD): – Nein, das ist keine Mengenlehre. Sie können, wenn Sie Das stimmt schlicht und ergreifend deshalb nicht, wollen, eine Zwischenfrage stellen; dazu ermuntere ich weil nach der ursprünglichen Planung für 2017 im Ver- Sie. gleich zu heute eine Veränderung um 4 Milliarden Euro vorgesehen war. Jetzt sind es 4,5 Milliarden Euro. Das (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ist eine halbe Milliarde mehr. Ich erkläre es Ihnen noch Ich kann auf jeden Fall gut genug rechnen, um zu wis- einmal: Ich vergleiche einfach das, was 2017 absolut ge- sen, dass der Bundeszuschuss für 2017 im Vergleich zur flossen wäre, mittelfristigen Finanzplanung von Herrn Schäuble durch ( [DIE LINKE]: Hütchenspie- die Änderungen, die wir jetzt vorgenommen haben, um ler!) eine halbe Milliarde Euro erhöht wird. Das ist fest. mit dem, was nach der jetzigen Planung 2017 absolut (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) fließen wird. Das ist eine halbe Milliarde mehr; daran können Sie nichts ändern. So einfach ist das, meine sehr Wenn Sie das bestreiten, dann stellen Sie eine Zwischen- verehrten Damen und Herren. (B) frage. Aber das hat nichts mit Rechnen zu tun, sondern (D) das hat mit Ehrlichkeit, mit Redlichkeit zu tun. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei Abgeordneten der SPD) GRÜNEN]: Wie lange braucht man, bis man 6 Milliarden Euro in 500-Millionen-Euro- Sie vergessen auch, zu erwähnen: Wir führen beim Schritten aufgefangen hat? – Gegenruf des Risikostrukturausgleich einen vollständigen Einkom- Abg. Jens Spahn [CDU/CSU]: Zwölf Jahre! – mensausgleich durch. Das ist doch eine Stärkung all je- Gegenruf der Abg. Maria Klein-Schmeink ner Krankenkassen, die einkommensschwache Rentner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau: und Geringverdiener versichern. Sie müssen doch zuge- Zwölf Jahre! – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: ben: Das ist eine Stärkung der Solidarität. Davon profi- Das haben jetzt alle verstanden!) tieren diejenigen, die in Krankenkassen versichert sind, die wenig Beitragseinnahmen haben. Auch das ist eine Relevant sind doch nicht die Zwischenschritte, sondern Stärkung der Solidarität; das können Sie nicht abstreiten. das Gesamtergebnis, und das Gesamtergebnis ist: eine halbe Milliarde mehr – da können Sie so lange rechnen, wie Sie möchten. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Lauterbach, der Kollege Weinberg ist (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Ich gebe es Ihrer Ermunterung prompt gefolgt und hat sich nun zu auf! Bei dieser höheren Mathematik komme einer überraschenden Zwischenfrage gemeldet. ich nicht mit!) (Heiterkeit) Ich komme zum Qualitätsinstitut. 95 Prozent der Leistungen, die derzeit in unserer gesetzlichen Kranken- Wollen Sie die zulassen? versicherung erbracht werden, sind weder neu noch steht deren Erstattung infrage; sie werden somit durch die Qualitätsanforderungen des IQWiG, die sich auf die Er- Dr. Karl Lauterbach (SPD): stattungsfähigkeit neuer Leistungen beschränken, nicht Das kann ich jetzt nicht ablehnen. Ich nehme die erfasst. Für diese 95 Prozent der Leistungen gilt: Sie ent- Frage sehr gerne an. scheiden über die Qualität unseres Gesundheitssystems. Derweil ist richtig, was Minister Gröhe sagte: Ob- Präsident Dr. Norbert Lammert: wohl die Qualität gut ist, haben wir auch große Defizite. Bitte schön. Das räumen wir ein. Das Qualitätsinstitut ist ein Quan- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2873

Dr. Karl Lauterbach (A) tensprung bei der Verbesserung der Qualität der Versor- sprung in Sachen Qualität zu tun. Nichts davon wird so (C) gung in Deutschland, von dem alle profitieren werden. kommen, wie es hier gesagt wird, weil es in der eigentli- Wir werden durch dieses Qualitätsinstitut, durch die Zu- chen Sache darum geht, den Arbeitgeberbeitrag auf dem sammenführung der Daten, erstmalig wissen: Wie gut ist jetzigen Stand einzufrieren welches Krankenhaus? Wie gut ist welche medizinische Leistung? Wie lange hält welcher Eingriff? Gibt es re- (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Er ist doch einge- gionale Unterschiede? – Wenn man ehrlich ist, muss froren!) man zugeben: All dies weiß man derzeit in vielen Berei- und sämtliche Kosten im Gesundheitswesen den Versi- chen nicht. Auf der Grundlage dieser Daten können wir cherten aufzuladen. dann auch die Vergütung steuern und durch einen neu gegründeten Innovationsfonds innovative Projekte för- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dern. Das ist ein echter Schritt nach vorn, das ist ein sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Quantensprung für die Versorgungsqualität in Deutsch- land. Das ist ein grandioses Scheitern der SPD, die vor der Wahl noch die gleichen Forderungen hatte, die wir als Ich hoffe, wenigstens Ihre Nachrednerin, Frau Vogler, Opposition, als Grüne und als Linke, haben, nämlich für wird dies würdigen, anders als Sie, der Sie nicht die eine gerechte und nachhaltige Finanzierung im Gesund- Größe hatten, die Stärkung der Solidarität hier zu begrü- heitswesen zu sorgen. ßen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vielen Dank. und bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Schauen wir uns einmal an, welche Folgen ein Zu- Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE satzbeitragssatz hat, der von den Kassen individuell er- GRÜNEN]: So was ist unglaublich!) hoben werden kann: Es wird weiterhin einen starken Preiswettbewerb geben. Dieser Wettbewerb wird nicht Präsident Dr. Norbert Lammert: dazu führen, dass die Kassen gute Leistungen für die Die Kollegin Klein-Schmeink ist nun für die Fraktion Versicherten anbieten, nein, die Kassen werden auf jeden Bündnis 90/Die Grünen nächste Rednerin. Cent schauen und die Leistungen für die Versicherten bis an die Grenze dessen, was gesetzlich erlaubt ist, herun- Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- terschrauben und eindämmen, so wie sie es schon in der NEN): Vergangenheit getan haben. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist sel- (B) Das haben wir in den nächsten zwei Jahren zu erwar- (D) ten, dass ein Hauptverhandler eines Koalitionsvertrages ten, weil jede Kasse vermeiden wird, in diesem starken im Bereich der Gesundheitspolitik so um Anerkennung Wettbewerb mit Zusatzbeitragssätzen konkurrieren zu gebettelt hat, wie ich das heute Morgen hier gehört habe. müssen. Das ist nicht nur ein Vergehen an den Versicher- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten, sondern das hat auch für die Patienten langfristige und bei der LINKEN) Folgen, die wir dringend vermeiden müssen. Es scheint ja ein großer Bedarf an Bestätigung vorzulie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen. und bei der LINKEN) Wir jedenfalls sehen uns nicht in der Lage, genau die- Dieser Weg wurde bereits von Schwarz-Gelb einge- ses zu tun; denn wir reden heute über etwas ganz ande- schlagen; das muss man zugestehen. Insofern hat die res. Es ist überhaupt eine erstaunliche Debatte bisher: Verhandlungskraft der SPD vielleicht nicht ausgereicht, Bisher ist nämlich der Kern des Gesetzentwurfs, über um das zu stoppen. Gleichwohl muss hier benannt wer- den wir heute hier diskutieren, nämlich eine neue den, dass das ein Fehler und ein Raubbau an der Solida- Finanzstruktur für die gesetzliche Krankenversicherung, rität im gesetzlichen Gesundheitswesen ist. in keinster Weise so gewürdigt worden, wie es nötig wäre. Es handelt sich um nicht weniger als einen Sys- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN temwechsel in die Richtung, dass in Zukunft ausschließ- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) lich die Versicherten den Kostenanstieg im Gesundheits- Es ist zu Recht auch darauf hingewiesen worden, dass wesen tragen sollen. Das ist zutiefst ungerecht, das ist die Arbeitgeber in den Tarifverhandlungen und in den zutiefst unrational gedacht, und das wird Folgen haben, Aufsichts- und Verwaltungsräten der Krankenkassen in die sich in der Zukunft nachhaltig bemerkbar machen Zukunft nicht mehr für einen nur moderaten Anstieg der werden. Beitragssätze sorgen werden. Nein, sie werden entschei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den können, ohne die Kosten zu tragen. Als Arbeitgeber sowie bei Abgeordneten der LINKEN) vertreten sie gleichzeitig die Kostentreiber in der Ge- sundheitswirtschaft. Auch das ist ein Raubbau an der Der Minister hat in kurzen Worten, aber doch sehr bisher gut bewährten Praxis im solidarischen System der deutlich davon gesprochen, wir hätten es mit einer üppi- Gesundheitsversorgung hier in Deutschland. gen Beitragssenkung für viele Versicherte, mit einer pa- ritätischen Aufteilung der Versichertenbeiträge zwischen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Arbeitgeber und Arbeitnehmer und mit einem Quanten- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) 2874 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Maria Klein-Schmeink (A) Es wird in großen Schritten zu Beitragssteigerungen vorliegenden Gesetzentwurf regeln wir diese Finanzfra- (C) kommen, auch wenn es jetzt bei einigen Kassen – wahr- gen gründlich und haben dadurch tatsächlich Zeit, uns scheinlich werden es sieben sein; andere sprechen viel- drei Jahre lang intensiv mit Fragen der Versorgung zu leicht von mehr – für ein Jahr zu einer Senkung kommt. beschäftigen, also: Wie erleben Patienten den Versor- Bei sehr vielen Kassen werden wir aber schon jetzt eine gungsalltag in Deutschland? sehr starke Beitragssteigerung erleben. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Diese Steigerungen werden nur von den Versicherten NEN]: Das wird genau nicht passieren!) zu zahlen sein und gleichzeitig erneut, wie vor zwei Jah- ren, zu einer großen Mitgliederwanderung und großen Das, was die Menschen eigentlich interessiert, sind Verwerfungen zwischen den Krankenkassen führen. nicht unsere abstrakten Debatten über die Finanzierung Diese Krankenkassen werden dann mit sich selber be- – auch diese sind wichtig –, sondern die Menschen vor schäftigt sein, statt damit, die Versorgung zu verbessern Ort interessieren sich vor allem für Antworten auf fol- und zu einer Versorgerkasse zu werden, die sich insbe- gende Fragen: Habe ich noch einen Hausarzt vor Ort, sondere um die alten Menschen und die Familien vor Ort wenn ich ihn brauche? Wie weit entfernt ist das nächste kümmert, ihnen eine gute Beratung anbietet und gute Krankenhaus? Wie steht es mit der Qualität des Kran- Versorgungsverträge auf den Weg bringt. kenhauses, mit Infektionen und anderen Dingen? Wir wollen die Versorgung der Menschen in dieser Legisla- All dies wird in den nächsten zwei bis drei Jahren tur in den Mittelpunkt stellen. Dafür ist dieser Kompro- nicht geschehen, sondern die Kassen werden mit sich miss zur Finanzierung eine gute Basis. selber beschäftigt sein. Das ist ein gravierender gesund- heitspolitischer Fehler, der an dieser Stelle auch benannt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sein muss. neten der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Kassen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden mit sich selber beschäftigt sein!) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Was tun wir? Ja, es stimmt: Wir als CDU/CSU haben Während die SPD und die Versicherten die Verlierer uns im Kompromiss von den pauschalen Zusatzbeiträ- in diesem ganzen Spiel sind, ist die Union der einzige gen verabschieden müssen. Bei einem Kompromiss ist Gewinner. Sie wird nämlich mit den Folgen dieses völlig es nun einmal so, dass sich beide Seiten aufeinander zu- verfehlten Zusatzbeitrags nicht mehr konfrontiert, da sie bewegen. Aber eines war uns immer ganz wichtig: dass den Sozialausgleich, dieses Bürokratiemonster, still- es einen Wettbewerb zwischen den Krankenkassen auch schweigend begraben kann. Gleichzeitig kann sie den in Zukunft gibt und dass die Vielfalt der Kassen erhalten (B) Arbeitgebern ein großes Versprechen machen: Ihr wer- bleibt. Bei diesem Wettbewerb geht es um verschiedene (D) det in Zukunft nicht mehr belastet. Jetzt werden die Ver- Faktoren. Ein Faktor dabei ist der Service. sicherten die Kosten zu tragen haben. – Das ist ein fal- sches Signal. Sie denken zu kurzfristig und überlegen In Veranstaltungen zu diesem Thema vor Ort hören dabei nicht, wie wir es schaffen können, für die Zukunft wir oft die Frage: Warum gibt es so viele Krankenkas- ein leistungsfähiges, ein patientengerechtes und versi- sen, brauchen wir eigentlich 130 Krankenkassen in chertengerechtes Gesundheitswesen aufzubauen; ein Ge- Deutschland? – Ich sage dazu: Ja, wir brauchen viele sundheitswesen, das solidarisch und stabil finanziert ist Krankenkassen. Wenn es nur eine einzige Krankenkasse und mit dem gleichzeitig dafür gesorgt wird, dass die gäbe, warum sollten die Mitarbeiter dieser Krankenkasse Lasten gerecht und solidarisch verteilt sind. überhaupt den Hörer abheben, wenn jemand anruft, um eine Frage zu stellen? Schließlich kann ja niemand (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wechseln. – Wir brauchen den Wettbewerb, um einen und bei der LINKEN) guten Service, ein gutes Angebot sowie Sicherheit in der Versorgung für die Versicherten zu gewährleisten. Des- Präsident Dr. Norbert Lammert: wegen ist es uns ganz wichtig, dass der Wettbewerb zwi- Ich erteile das Wort dem Kollegen Jens Spahn für die schen den Kassen und damit auch die Vielfalt im Sinne CDU/CSU-Fraktion. der Versicherten erhalten bleibt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) neten der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie die Kassen zwingen, zu sparen, wird genau das Jens Spahn (CDU/CSU): nicht passieren!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jen- seits der Dinge, die wir in der Sache regeln, ist es schon Dieser Wettbewerb soll sich natürlich auch im Preis ein Wert an sich, dass es dieser Koalition aus CDU/CSU widerspiegeln; denn natürlich hat der Preis im Wettbe- und SPD gelungen ist, das Problem, das die Gesundheits- werb eine wichtige Signalwirkung. Bei dem Preis geht politik im Grunde in den letzten 10 bis 15 Jahren geprägt es in diesem Fall um prozentuale Unterschiede. Bei der hat, nämlich der jahrelange intensive Streit darüber, wie einen Kasse wird man 0,3 oder 0,5 Prozentpunkte vom die zukünftige Finanzierung der gesetzlichen Kranken- Lohn zusätzlich zahlen müssen, bei einer anderen Kasse versicherung aussehen soll, verbindlich und in einem gu- 0,9 oder 1,1 Prozentpunkte, wie auch immer die Spanne ten Kompromiss miteinander zu lösen. Mit dem jetzt am Ende sein wird. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2875

Jens Spahn (A) Dann kann ich als Versicherter für mich überlegen: Ist Preiswettbewerb stehen und es unterschiedliche Bei- (C) die Kasse, für die ich mich entscheiden möchte, im tragssätze gibt. Preis-Leistungs-Verhältnis, in der Frage der Versor- gungsangebote oder der zusätzlichen Satzungsleistun- Eines verstehe ich dabei nicht. Wenn ich das Konzept gen, auch in der Frage der Geschäftsstellenstruktur – ist je- der Grünen einigermaßen richtig kenne, dann sieht auch mand erreichbar, oder genügt mir das Internetangebot? –, Ihr Konzept vor, dass es unterschiedliche Beitragssätze für mich die richtige? Ich kann für mich als Versicherter der Kassen gibt und dass sie miteinander im Wettbewerb überlegen: Ist mir meine Kasse diesen Zusatzbeitrag stehen. wert oder nicht? Wenn nicht, dann kann ich zu einer an- (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE deren Kasse wechseln. Dieser Wettbewerb im Preis ist GRÜNEN]: Es soll um Qualitätswettbewerb jedenfalls uns wichtig, weil er die Versicherten in die gehen, nicht um Preiswettbewerb!) Lage versetzt, für sich das Beste auszusuchen. Das ist das Entscheidende. Das ist eine gewisse intellektuelle Herausforderung: Wenn Schwarz-Rot den Wettbewerb bei Preisen und (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Beitragssätzen einführt, dann ist er schlecht. Wenn die Dr. Karl Lauterbach [SPD]) Grünen das in ihrem Programm haben, dann ist es gut. Sie haben die Festschreibung des Arbeitgeberbeitra- Das ist wie damals bei Jürgen Trittin: Ein Castortrans- ges kritisiert, Frau Kollegin Klein-Schmeink, was ich port, den andere genehmigen, ist schlimm. Aber wenn nicht verstehen kann. Ich will darauf hinweisen, dass die Herr Trittin ihn selber genehmigen muss, dann ist er gut. Unterscheidung zwischen Arbeitgeberbeitrag und Ar- Diese Logik in der Argumentation werden Sie, glaube beitnehmerbeitrag – das wurde richtigerweise gemacht, ich, in der Öffentlichkeit nicht lange durchhalten. das kritisiere ich nicht – erstmalig unter Rot-Grün einge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- führt worden ist. neten der SPD – Maria Klein-Schmeink (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaub- GRÜNEN]: Das war ein Fehler!) lich!) Sie haben damals gesagt: Die Arbeitnehmer sollen Ein zweiter wichtiger Bereich jenseits der Finanzie- 0,9 Beitragssatzpunkte mehr zahlen. Das sind die rungsdebatte ist die Frage der Qualität. Darauf ist schon 0,9 Punkte, die wir jetzt in den Mittelpunkt des Wettbe- hingewiesen worden. Wir wollen in dieser Legislaturpe- werbs um den Preis stellen. Viele werden in diesem ers- riode – dafür schafft das Finanzierungsgesetz die Basis, ten Schritt – der Minister hat darauf hingewiesen – weni- weil es die gemeinsamen Vereinbarungen umsetzt – den ger zahlen. Sie haben das damals eingeführt, und Ulla Fokus auf die Versorgung richten. Voraussetzung dafür (B) (D) Schmidt hat das verteidigt. Wir haben das in der Sache ist – jenseits dessen, was heute schon an guter Qualität unterstützt, weil damit dafür gesorgt wird, dass die stei- im deutschen Gesundheitswesen geleistet wird – Trans- genden Gesundheitskosten in einer älter werdenden Ge- parenz über das, was geleistet wird. sellschaft von den Arbeitskosten entkoppelt werden. Ja, Wenn sich zum Beispiel jemand im Krankenhaus ei- wir wissen: In einer älter werdenden Gesellschaft mit ner Knie- oder Hüftoperation unterzogen hatte und nach medizinischem Fortschritt wird Gesundheit teurer wer- der Entlassung aus dem Krankenhaus einen Orthopäden den. Aber Gesundheit darf in Deutschland nicht automa- zur ambulanten Behandlung aufsuchen muss, weil es zu tisch Arbeit teurer machen, sonst verlieren wir den Wett- einer Komplikation gekommen ist, dann wissen wir bewerb mit anderen Regionen in der Welt. heute nicht, dass es sich um ein und denselben Patienten Außerdem können wir dann auch die Gesundheitsde- handelt. Wie wollen Sie aber die Qualität einer Knieope- batten nicht richtig führen. Wenn wir in der Gesundheits- ration messen, wenn Sie gar nicht nachvollziehen kön- debatte immer erst danach fragen, was bei den Lohnne- nen, was nach der Operation passiert ist? benkosten mit Blick auf die Wettbewerbsfähigkeit Deswegen ist es richtig, dass wir, natürlich anonymi- passiert, dann tritt die Frage, was in der Gesundheitspoli- siert, am Ende alle Daten zusammenführen – die Ab- tik eigentlich notwendig wäre, dahinter zurück. Deswe- rechnungsdaten und die Risikostrukturausgleichsdaten gen ist die Entkoppelung richtig. Sie haben sie damals sind schließlich vorhanden –, um zu erkennen, wie gut vorgenommen. Heute wollen Sie nichts davon wissen. die Versorgung in Deutschland bzw. das einzelne Haus Diesen Reflex kennen wir bei der Opposition. Aber sie ist und an welcher Stelle noch Verbesserungen nötig bleibt richtig, weil sie die Gesundheitskosten von den sind. Deswegen ist das, was wir heute auf den Weg brin- Arbeitskosten entkoppelt. gen, ein großer Schritt zur Transparenz im Gesundheits- (Beifall bei der CDU/CSU – Maria Klein- wesen. Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dazu gehört auch die Frage: Wie verknüpfen wir das Das geht besser über den Weg der Bürgerversi- mit der Vergütung und mit den Strukturen? Transparenz cherung! Das ist der Weg!) zu schaffen, ist schließlich kein Wert an sich, auch wenn Im Übrigen habe ich ein zweites intellektuelles Pro- sie wichtig ist. Die Transparenz soll es im Übrigen auch blem mit dem, was Sie eben vorgetragen haben, Frau ermöglichen, dass sich der einzelne versicherte Patient Kollegin Klein-Schmeink. Sie haben eben zum Thema bei einer planbaren Operation, ob am Knie, an der Hüfte Wettbewerb beim Beitragssatz ausgeführt, was alles oder in anderen Bereichen – idealerweise online oder Schlimmes passiert, wenn die Kassen miteinander im auch durch eine entsprechende Beratung –, informieren 2876 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Jens Spahn (A) kann, welches Haus wie gut ist und wo er sich gut be- mittelmarkt-Neuordnungsgesetz geschafft haben. Das ist (C) handeln lassen kann. Es geht also auch um die Stärkung kein Spargesetz alter Art. Vielmehr hat es erstmalig die der Position des Patienten bzw. Versicherten. Grundstruktur verändert, Qualität befördert und Geld ge- spart. Auf Basis dessen, was wir mit dem Qualitätsinsti- Aber wir wollen das in ersten Schritten auch mit der tut schaffen, wollen wir das in anderen Bereichen fort- Vergütung verknüpfen, indem wir prüfen, wo wir auch setzen. Damit ist dieses Gesetz ein guter Start in diese bei der Bezahlung von Krankenhäusern Anreize setzen Legislaturperiode. können, damit diejenigen, die gut sind, mehr Operatio- nen durchführen als die, die schlecht bewertet sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Diese sollten im Zweifel in Zukunft weniger oder auch gar keine Operationen mehr durchführen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Es geht also erstens darum, in der Vergütung Anreize Das Wort erhält nun die Kollegin Kathrin Vogler für zu schaffen, und zweitens sollten wir auch zum Thema die Fraktion Die Linke. Struktur eine Debatte darüber führen, wer welches An- (Beifall bei der LINKEN) gebot vorhalten soll und wer in welchem Bereich wie gut aufgestellt ist. Insofern ist das Qualitätsinstitut, das wir Kathrin Vogler (DIE LINKE): in unseren Gesetzentwurf aufgenommen haben, tatsäch- Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen lich, wie der Kollege es formuliert hat, ein Quanten- und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Wir sprung in der Versorgungsdebatte, weil erstmalig die haben heute schon einiges über Qualität gehört. Vor al- vorhandenen Daten zusammengeführt und uns ermög- lem beim Minister habe ich mich gefragt, woher er die licht wird, Qualität mit System in alle Bereiche des Ge- ganzen geschmeidigen, schönen Worthülsen nimmt. Ich sundheitswesens hineinzubringen. Das dient vor allem möchte nun etwas konkreter werden und deutlich ma- den Patientinnen und Patienten in Deutschland. Ich chen, worum es eigentlich geht. glaube, das ist ein großer Schritt in dem, was wir hier tun, den man auch einmal anerkennen kann. ( [CDU/CSU]: Da bin ich jetzt gespannt!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Herr Kollege, kennen Sie das Buch Keimzelle Kran- kenhaus? Dass das auch die Basis für Strukturdebatten sein muss, sage ich auch in dem Wissen, dass wir diese De- (Christian Hirte [CDU/CSU]: Das kenne ich!) batte zwar auf einer sehr guten finanziellen Basis der ge- Darin schildert der WAZ-Reporter Klaus Brandt eine um- (B) setzlichen Krankenversicherung führen. Wir haben im fangreiche Recherche in nordrhein-westfälischen Kran- (D) Gesundheitsfonds und bei den einzelnen Kassen Rückla- kenhäusern. Der Befund ist einigermaßen erschreckend. gen in nie geahnter Höhe. Das hat viel mit früheren Re- Immer mehr Menschen infizieren sich im Krankenhaus formen und Änderungen auch in der christlich-liberalen mit multiresistenten Erregern. Allein in Duisburg star- Koalition zu tun, vor allem aber auch mit der guten Ent- ben im Jahr 2012 25 Menschen am gefürchteten MRSA- wicklung auf dem Arbeitsmarkt. Aber wir sollten uns Keim. Anderswo sieht es nicht wesentlich besser aus, auch bewusst machen, dass diese gute Situation nicht per wie wir alle wissen. Immer wieder erhielt der Journalist se dauerhaft so anhält. Wir haben, ohne dass wir ein Ge- deutliche Hinweise darauf, welches die Ursachen sind. setz ändern, Kostensteigerungen in Höhe von gut 8 Mil- Die nötigen Hygienemaßnahmen sind sehr wohl be- liarden Euro pro Jahr in der gesetzlichen Kranken- kannt. Aber unter dem Druck der Arbeitsverdichtung hat versicherung zu verzeichnen. Wir haben noch 2000 das Personal immer weniger Zeit und Möglichkeit, diese 135 Milliarden Euro in der gesetzlichen Krankenversi- auch einzuhalten. Überbelegte Stationen, viel zu wenige cherung ausgegeben. 2014 werden es 200 Milliarden Pflegekräfte und externe Reinigungsdienste, die unter Euro sein. Es gab also enorme Ausgabensteigerungen in irrsinnigen Akkordvorgaben arbeiten – wer wundert sich den letzten Jahren, und diese setzen sich fort. da noch über Hygienemängel? Im letzten Jahr rechnete Wir wollen – dafür brauchen wir eine vernünftige Da- uns die Gewerkschaft Verdi vor, dass in deutschen Kran- tengrundlage und eine ehrliche Debatte vor allem zwi- kenhäusern 162 000 Vollzeitkräfte fehlen. Das ist doch schen Bund und Ländern, etwa wenn es um die Kranken- ein Skandal. Das ist der Kern aller Qualitätsprobleme. häuser geht – von den Spargesetzen alter Art – hier etwas (Beifall bei der LINKEN) wegschneiden, da etwas herausnehmen und hier etwas prozentual kürzen – wegkommen. Wir wollen Struktur- Warum ist das so? Sie alle gemeinsam haben in den debatten darüber führen, wie wir das Gesundheitssystem letzten Jahrzehnten die Krankenhäuser systematisch zu in Deutschland effizienter gestalten können. Wir wollen Unternehmen gemacht, in denen die Wirtschaftlichkeit mit den Ländern darüber reden, wie in Zukunft die Kran- im Vordergrund steht. Wirtschaftlichkeit ist das oberste kenhausfinanzierung und die Krankenhausstrukturen Gebot. Gleichzeitig haben CDU/CSU, SPD und auch aussehen sollen. Wir müssen die Zusammenarbeit zwi- Grüne in den Ländern, in denen sie regieren, mit Schul- schen ambulanter und stationärer Versorgung stärker in denbremsen und Spardiktaten dafür gesorgt, dass die den Fokus rücken. notwendigen Investitionen in die Krankenhäuser unter- blieben sind, zum Beispiel bei uns in Nordrhein-Westfa- Uns müssen letztendlich grundsätzliche Strukturver- len. So sparen die Krankenhäuser, wo es geht. Das ist in änderungen gelingen, wie wir es bereits mit dem Arznei- der Regel beim Personal. Genau das gefährdet die Pa- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2877

Kathrin Vogler (A) tientinnen und Patienten. Deswegen fordert die Linke Sabine Dittmar (SPD): (C) seit Jahren ein Bundesprogramm, das dazu dient, den Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Ländern zu helfen und diesen gefährlichen bzw. lebens- Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden gefährlichen Investitionsstau in den Krankenhäusern wichtige Regelungen hin zu einer nachhaltigeren Finan- endlich zu beheben, leider ohne Unterstützung der ande- zierung der gesetzlichen Krankenversicherung, aber ren Fraktionen in diesem Haus. auch zur Weiterentwicklung des Morbi-RSA und zur Qualitätssicherung getroffen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Zu- ruf von der CDU/CSU: Das glauben noch Es ist allgemein bekannt, dass wir Sozialdemokraten nicht mal die eigenen Leute!) eine nachhaltige, solidarische Finanzierung der GKV im Sinne einer Bürgerversicherung anstreben. Allerdings Welche Medizin verordnen Sie von der Großen Koali- sind in einer Koalition nun einmal Kompromisse not- tion nun diesem kranken Gesundheitswesen? Sie wollen wendig, und wir stehen zu den im Koalitionsvertrag ge- ein Qualitätsinstitut gründen, das in Zukunft Behand- troffenen Vereinbarungen. Somit ist es in der Tat so, dass lungsqualität in den Krankenhäusern misst und die Er- das jetzt vereinbarte Finanzierungskonstrukt mit einer gebnisse allgemeinverständlich für die Patientinnen und primären Parität und einem Beibehalten des Einfrierens Patienten kommuniziert. Daran ist erst einmal nichts der Arbeitgeberbeiträge sicherlich nicht die Erfüllung Falsches. Gegen ein solches Institut ist überhaupt nichts sozialdemokratischer Vorstellungen ist. Aber ich sage einzuwenden. Aber es ist kein Quantensprung – um dem hier auch in aller Deutlichkeit: Diese Regelungen sind Kollegen Lauterbach zu widersprechen. Bei uns im ein ganzes Stück weit gerechter und ein ganzes Stück Münsterland weiß jeder Landwirt: Vom Wiegen allein weit besser als die Regelungen unter Schwarz-Gelb. wird die Sau nicht fett. (Beifall bei der SPD) Das Projekt DSDS, Deutschland sucht das Superkran- kenhaus, ist nämlich laut Koalitionsvertrag nur der erste Der vorgelegte Entwurf zum GKV-Finanzstruktur- Schritt. In einem zweiten Schritt – das haben Sie, Herr und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz schafft näm- Spahn, Herr Gröhe, gerade gesagt – wollen Sie dann lich vor allem eines: Eventuell notwendige kassenindivi- diese Messergebnisse zum Maßstab der Finanzierung duelle Zusatzbeiträge werden zukünftig prozentual ein- der Krankenhäuser machen. Das bedeutet, dass die Häu- kommensabhängig erhoben und sind somit ein Stück ser, in denen der wirtschaftliche Druck schon am meis- weit gerechter als diese unsägliche, unsoziale und ver- ten auf die Qualität durchgeschlagen hat, hinterher noch waltungsaufwendige Kopfpauschale. weniger Geld bekommen. Ob das dazu führt, dass diese (B) Krankenhäuser besser werden, muss man, glaube ich, Präsident Dr. Norbert Lammert: (D) bezweifeln. Nein, das führt zu weiterem Bettenabbau, zu Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage zu? noch mehr Klinikschließungen und am Ende zu einem noch höheren Druck in den verbleibenden Häusern. Es kann sogar ein Anreiz dafür werden – das finde ich be- Sabine Dittmar (SPD): sonders gefährlich –, dass sich die Häuser speziell um Ja, gerne. Geht das von meiner Redezeit ab? Patientinnen und Patienten mit unkomplizierten Erkran- kungen bemühen, die dann hinterher mehr Qualitäts- Präsident Dr. Norbert Lammert: punkte versprechen. Das wäre wirklich eine Gefahr für Nein, um Gottes willen, solange sich das in halbwegs die Patientinnen und Patienten. überschaubarem Rahmen hält. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und (Heiterkeit) der SPD, wenn Sie wirklich mehr Qualität im Kranken- haus wollen, dann kommen Sie einfach nicht darum he- Bitte sehr. rum, Geld dafür in die Hand zu nehmen, und zwar nicht nur 14 Millionen Euro für ein Qualitätsinstitut. Die Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Krankenhäuser brauchen mehr Geld für Investitionen, NEN): sie brauchen mehr Geld für Personal, für bessere Ar- Danke schön, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – beitsbedingungen, für höhere Löhne, für die Rücknahme Sie haben gerade gesagt, dass der neue Zusatzbeitrag ge- von Privatisierung und Outsourcing. Das ist nämlich die rechter sei als der alte und Sie damit den Sozialausgleich Voraussetzung für höhere Qualität. Dafür wird sich auch und das aufwendige Verfahren einsparen. Gleichwohl die Linke einsetzen. bleibt ein großes Problem; denn Sie haben es versäumt, (Beifall bei der LINKEN) im Koalitionsvertrag überhaupt eine Belastungsgrenze einzuziehen. Das heißt, in Zukunft wird der gesamte Kostenanstieg im Gesundheitswesen tatsächlich von den Präsident Dr. Norbert Lammert: Versicherten zu tragen sein. Eine Regelung für den Fall, Das Wort hat nun die Kollegin Sabine Dittmar für die dass die Belastungsgrenze von 2 Prozent überschritten SPD-Fraktion. wird, die immerhin gerade für die kleinen Einkommen selbst beim schwarz-gelben Zusatzbeitrag mitgedacht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten war, haben Sie in Ihrem faulen Kompromiss nicht vorge- der CDU/CSU) sehen. 2878 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Maria Klein-Schmeink (A) Wie denken Sie denn die Belastung für die Versicher- bei den standardisierten Leistungsausgaben der Kran- (C) ten in beispielsweise zwei Jahren – dann wird es so weit kenkassen wirklich deutlich verbessert. sein – einschränken zu können, um das Ganze gerecht zu gestalten? Gleichwohl kommt der Evaluationsbericht des Wis- senschaftlichen Beirates zur Weiterentwicklung des Ri- sikostrukturausgleichs zu dem Ergebnis, dass es bei den Sabine Dittmar (SPD): Ausgaben für im Berichtsjahr Verstorbene, also der An- Frau Kollegin, hätten Sie mich weiterreden lassen, nualisierung, bei den Zuweisungen für Auslandsversi- dann hätten Sie schon noch eine Antwort auf Ihre Frage cherte und vor allem bei den Zuweisungen für Kranken- erhalten. Ich kann die Antwort auch im Vorgriff geben. geld erheblichen Handlungsbedarf gibt. Es ist richtig, was Sie eben dargestellt haben, aber diese Vereinbarung wurde für diese Legislaturperiode getrof- Die Annualisierung hat nun das Landessozialgericht fen. Ich kann Ihnen sagen: Wir Sozialdemokraten wer- Nordrhein-Westfalen durch ein rechtskräftiges Urteil ab- den einen ganz genauen Blick darauf werfen, wie sich gearbeitet. Hier haben wir Rechtssicherheit. Gesetzgebe- die Beiträge, aber auch die Ausgaben entwickeln; denn rischen Handlungsbedarf haben wir noch bei den Zuwei- es kann in der Tat nicht sein, dass dauerhaft die Mehrbe- sungen für Auslandsversicherte und für Krankengeld. lastungen alleine von den Arbeitnehmerinnen und Ar- Ich sage in aller Deutlichkeit: Ich halte die im Gesetzent- beitnehmern zu tragen sind. wurf geregelte Vorgehensweise wirklich für sachgerecht. Wir schaffen Übergangsregelungen und geben gleichzei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Maria tig ein wissenschaftliches Gutachten in Auftrag, das den Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- weiteren Forschungsbedarf abdeckt. NEN]: Aber Sie akzeptieren es!) Schwierig gestalten sich diese Übergangsregelungen – Ich habe Ihnen ganz klar gesagt, dass Kompromisse allerdings bei der Gemengelage um die Krankengeldzu- eingegangen worden sind und dass wir zu den Vereinba- weisungen. Denn dieses Krankengeld ist der einzige rungen im Koalitionsvertrag stehen. Ich räume ein, dass Leistungsbereich im Risikostrukturausgleich, bei dem es das nicht alles unseren Vorstellungen entspricht. sich nicht um eine einkommensunabhängige Sachleis- (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Dann ma- tung handelt, sondern um eine reine Lohnersatzleistung. chen Sie das nächste Mal zwei Protokollnoti- Die Krankenkassen haben somit zwei Risiken: einmal zen!) die Höhe des Einkommens des Versicherten, auf die sie keinen Einfluss nehmen können, und zum anderen die – Nein, die gibt es nicht, Herr Kollege. Morbidität und die daraus resultierende Krankengeldbe- Ist Ihre Frage so weit beantwortet, Frau Klein- zugsdauer, welche man allerdings schon durch Manage- (B) Schmeink? ment steuern kann. (D) (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Tatsache ist, dass die Deckungsquoten in diesem Be- GRÜNEN]: Ja!) reich erheblich – zwischen 60 und 150 Prozent – variie- ren. Interessant dabei ist: Diese Unterschiede gibt es – Gut, wunderbar. nicht nur in einer einzelnen Kassengruppe, sondern sie (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE ziehen sich quer durch die verschiedenen Krankenkas- GRÜNEN]: Das ist ja so unbefriedigend, wie sen, den einzelnen AOKs, BKKs und Ersatzkassen. Man es ist! Aber genau so ist es!) hat mittlerweile zig Modelle durchgerechnet, um hier zu genaueren Ergebnissen zu kommen. Keine Berechnung Dann kann ich in meiner Rede fortfahren. war von Erfolg gekrönt. Deshalb ist uns empfohlen wor- Wie ich Ihnen gerade gesagt habe, werden wir die den, weiterzuforschen und bis dahin die bisherigen Ver- Entwicklung der Zusatzbeiträge wirklich genau be- fahrensweise beizubehalten. obachten; denn diese Problematik ist auch uns bekannt. Wir halten es für sachgerecht, bereits im vorliegenden Ich möchte in meinem heutigen Redebeitrag eigent- Gesetzentwurf eine Übergangsregelung zu verankern, lich auf einen Aspekt eingehen, der auch ein wesentli- durch die die aktuelle Spreizung reduziert werden kann. cher Bestandteil dieses Gesetzentwurfs ist und ganz Künftig wird die Hälfte der Zuweisungen auf Grundlage massiv auf die Finanzausstattung der einzelnen Kran- der tatsächlichen Aufwendungen für das Krankengeld kenkassen einwirkt, aber in der bisherigen Debatte noch geleistet. Die restlichen 50 Prozent der Zuwendungen er- überhaupt keinen Widerhall gefunden hat: die Weiterent- folgen nach dem bisherigen standardisierten Verfahren. wicklung des Morbi-RSA. Das ist in der Tat eine sehr Das hat zur Konsequenz, dass sowohl die Überdeckun- trockene Materie. Ich kann verstehen, dass die Öffent- gen als auch die Unterdeckungen halbiert werden. lichkeit sie nicht mit Leidenschaft diskutiert. Ich muss Diese Maßnahme führt allerdings in der Fachwelt zu sagen: In der Fachwelt wird dieser Aspekt sehr kritisch sehr kontroversen Diskussionen; denn gerade Kranken- gesehen. kassen mit hohem durchschnittlichen Grundlohn der Seit 2009, mit Einführung des Gesundheitsfonds, gibt Versicherten oder auch Krankenkassen, die durch die es, wie wir wissen, auch eine Zuweisung auf Grundlage Annualisierung benachteiligt sind, fordern hier eine stär- der Morbidität, und das ist auch gut so. Denn das hat im kere Berücksichtigung der Grundlohnkomponente. Ich Ergebnis zu einer wesentlich verbesserten Zielgenauig- kann dazu nur feststellen, dass der genannte Wissen- keit der Zuweisungen geführt und die Deckungsquoten schaftliche Beirat diverse Modelle unter Berücksichti- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2879

Sabine Dittmar (A) gung eines sogenannten Grundlohnkorrekturfaktors aus- Zweiter Punkt. Wir müssen mit der Vorstellung auf- (C) gewertet hat und zu dem Ergebnis kam, dass auch diese räumen, die hier suggeriert wird, nämlich dass es eine in keiner Weise zielgenauer sind. Im Gegenteil, es Beitragssatzsenkung geben wird. Natürlich wird der Bei- kommt teilweise zu nicht akzeptablen und auch nicht tragssatz geringer, aber man muss gleichzeitig ganz klar vermittelbaren Verwerfungen, indem bei manchen Kran- sagen: Die Belastung der Versicherten wird mindestens kenkassen Überdeckungen weiter ausgedehnt werden gleich bleiben und in Zukunft natürlich steigen. und sich bei anderen die Unterdeckung verschärft. Ich denke, Kolleginnen und Kollegen, das kann nicht in un- Der dritte Punkt, den ich noch aufgreifen will, ist: serem Sinne sein und das kann auch nicht der Zweck ei- Wenn wir auf die Steuerfinanzierung versicherungsfrem- ner Übergangsregelung sein. Insofern muss ich heute der Leistungen auch nur partiell verzichten, dann ist das klar sagen, dass ich auf Grundlage der aktuell vorliegen- noch schwerwiegender und ungerechter als eine Steuer- den Fakten zum jetzigen Zeitpunkt keinen triftigen An- erhöhung; das muss man klar so sagen. haltspunkt sehe, Veränderungen beim Morbi-RSA vor- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zunehmen. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Allerdings sage ich auch: Wenn im Laufe des parla- Der Kollege Lauterbach hat ja gesagt: Wir nehmen Leis- mentarischen Verfahrens Ideen entwickelt werden, die tungen aus dem Gesundheitsfonds, um wichtige Struktur- aufzeigen, wie wir Zuweisungen zielgenauer gestalten investitionen in Bildung, Kinderbetreuung usw. zu können, ohne gleichzeitig die unerwünschten Aus- finanzieren. – Sie trauen sich nicht, zu sagen: „Wir brau- schläge nach oben und unten zu haben, sind diese sicher- chen Steuern, um das zu machen“, sondern versuchen, lich diskussionswürdig. Deshalb sehe ich mit sehr großer das über den Umweg der Beitragszahlungen der Versi- Spannung und Neugierde der Diskussion auf der Exper- cherten zu finanzieren. Mit den Versicherten kommt tenanhörung am 21. Mai entgegen und freue mich auf dann aber nur eine kleinere Gruppe der Gesellschaft da- weitergehende Erkenntnisse. für auf. Ich danke für die Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich hatte mir eigentlich vorgenommen – dafür bietet Präsident Dr. Norbert Lammert: der Gesetzentwurf auch Ansatzpunkte –, zu dem wichti- Harald Terpe ist der nächste Redner für die Fraktion gen Thema der Qualitätssicherung zu sprechen. Bündnis 90/Die Grünen. Präsident Dr. Norbert Lammert: (B) (D) (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Jetzt das Lob! Darf vorher der Kollege Lauterbach eine Zwischen- Spring über deinen Schatten!) frage stellen?

Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gern. Meine Damen und Herren! Ich bekam mit auf den Weg, dass ich jetzt mit Lob beginnen soll. Lassen Sie mich deswegen meine Ausführungen mit drei Bemerkungen Präsident Dr. Norbert Lammert: zur Finanzierung beginnen: Bitte sehr. Ich halte die These von der nachhaltigen Finanzie- Dr. Karl Lauterbach (SPD): rung für gewagt, wenn man gleichzeitig einräumt, dass Nur ganz kurz. – Aber Sie können sich doch noch er- es vielleicht für die nächsten vier Jahre eine Lösung sein innern, dass ich darum gebeten habe, zu verstehen, dass könnte. Das ist natürlich nicht nachhaltig, wir die Zuweisungen zum Gesundheitsfonds kürzen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN also Geld, das dort derzeit nicht gebraucht wird, neh- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) men, damit es für Bildung oder für Infrastruktur – das waren meine Beispiele – eingesetzt werden kann. Ich insbesondere dann nicht, wenn die Finanzierung des Ri- habe im Gegensatz zu dem, wie Sie mich zitiert haben, sikos der Kostenentwicklung allein bei den Versicherten nicht über Leistungen gesprochen. Ich bin ja gerade so bleibt – zitiert worden, als wenn ich gesagt hätte, wir wollten (Beifall des Abg. Harald Weinberg [DIE Leistungen kürzen. Sie können doch nicht abstreiten, LINKE]) dass ich genau das Gegenteil gesagt habe. Das wird im Übrigen das in circa einer Stunde vorliegende Protokoll und das so lange, wie die das überhaupt tragen können. ausweisen. Deswegen war unser Vorschlag, zu fragen, ob wir die Arbeitskosten nicht auch dadurch entlasten können, dass Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wir die Finanzierung in der Gesellschaft gerechter ver- teilen. Erster Punkt. Wir können uns jetzt sicherlich darüber unterhalten, ob ich Sie direkt angesprochen habe im Hinblick auf das, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- was Sie gesagt haben. Ich habe nur auf den Fakt hinge- SES 90/DIE GRÜNEN) wiesen, dass dann, wenn man dem Gesundheitsfonds 2880 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Dr. Harald Terpe (A) anteilig Steuergeld entzieht, durch das sozusagen versi- von Informationen ist richtig. Vor allen Dingen ist rich- (C) cherungsfremde Leistungen finanziert werden, diese tig, dass sie verständlich dargestellt werden müssen, da- Leistungen durch Versichertenbeiträge finanziert wer- mit auch die Patienten davon profitieren. den. Sie können doch nicht verhehlen, dass der Gesund- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN heitsfonds auch deswegen so voll ist, weil man sich mit sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Versichertenbeiträgen vollgesogen hat. Es wurde ja ein Harald Weinberg [DIE LINKE]) gesetzlicher Einheitsbeitrag erhoben, der plötzlich auf 15,5 Prozent hochgezogen wurde. Deswegen ist der Im Nachhinein würde dann auch die Arbeit honoriert Fonds voll. Das sind natürlich Versichertenbeiträge, und werden, die sich die Kliniken mit den Qualitätsberichten die gehören dahin. Genauso gehören natürlich in den gemacht haben. Im Grunde genommen finden diese Fonds Steuergelder, mit denen vollständig versiche- Qualitätsberichte insgesamt bisher ja kaum Eingang in rungsfremde Leistungen finanziert werden müssen. unsere Qualitätsbemühungen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) SES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD]) Wenn man Letzteres nicht macht, dann finanziert man auf einem Umweg versicherungsfremde Leistungen mit Es ist aber natürlich nicht nur Lob angebracht, son- Versichertenbeiträgen. Das führt dann zu den Folgen, die dern es muss auch gefragt werden, ob wir im parlamen- ich genannt habe. tarischen Verfahren noch zusätzliche Bedingungen schaffen können. Die Frage des Zugriffs auf Kranken- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kassendaten ist geregelt. Auf diese wird auch ausdrück- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) lich im Gesetz Bezug genommen. Es ist aber zu fragen, Nun zurück zur Qualität. Ich möchte am Anfang da- wo die ambulanten Daten herkommen sollen und ob da rauf hinweisen, dass unsere Pflegekräfte, Praxisassisten- die KV-Daten nicht auch eine Rolle spielen müssen, um tinnen und -assistenten, Ärztinnen und Ärzte tagtäglich gerade diese sektorenübergreifende Qualitätssicherung bei ihrer Arbeit eine hohe Leistungsqualität erbringen. zu organisieren. Das verdient unsere Achtung; das wird auch von den Pa- (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Ist vorgesehen!) tienten hochgeschätzt. – Das steht aber so nicht im Gesetz. Vielleicht müsste (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) das noch einmal betont werden. Das muss man zunächst erst einmal festhalten. (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Ist aber vorgese- (B) Wir alle wissen aber, dass die Qualität eines Ergebnis- hen!) (D) ses nicht nur von der Qualitätsbereitschaft der Beschäf- Ich denke, es ist auch sehr wichtig, dass die Patienten tigten abhängt, sondern auch von den Verhältnissen und bzw. die Patientenverbände beteiligt werden, indem auch Strukturen im System, hier im Gesundheitssystem. Ar- sie die Möglichkeit bekommen, Aufträge auszulösen. beitsverdichtung infolge von Personalabbau zum Bei- Wir sind aber auch der Meinung, dass sie im Stiftungs- spiel oder auch Ermüdung infolge zu langer Arbeitszei- beirat bzw. in den Gremien eine stärkere Verankerung ten etwa stellt natürlich die Qualität infrage bzw. ist ein finden müssen. Risiko für die Qualität. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Deshalb gab es in der Vergangenheit eine Reihe von der Abg. Birgit Wöllert [DIE LINKE]) freiwilligen und auch von verpflichtenden Qualitätsmaß- nahmen. Ich weise darauf hin, dass die Kliniken auf Lassen Sie mich zum Schluss noch sagen: Wir wer- Tumorkonferenzen bzw. Fallkonferenzen versuchen, den sicherlich eine Qualitätsentwicklung über Struktur- Qualität zu sichern. Desweiteren werden Zertifizierungs- qualität und Prozessqualität hin zu Ergebnisqualität erle- verfahren angewandt und Qualitätsberichte angefertigt. ben. Wenn wir aber die Ergebnisqualität als Maßstab Vor diesem Hintergrund stellt sich natürlich die Frage: dieses Qualitätswettbewerbs nehmen, dann liegt ange- Brauchen wir jetzt ein Institut? Und brauchen wir dieses sichts dessen, was da bisher systematisch erfasst wird, Institut? Unsere Antwort ist klar: Ja, wir brauchen ein noch ein sehr weiter Weg vor uns. Wir sollten die Zwi- Institut, schenzeit nutzen, gerade diesen Prozess voranzutreiben und mögliche Geburtsfehler im parlamentarischen Ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fahren noch zu beheben. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN) Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. weil es damit nämlich zu einer Weiterentwicklung der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bisherigen Qualitätsmaßnahmen kommt, indem Infor- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- mationen gebündelt werden. KEN)

Ich sage ausdrücklich: Das, was im Gesetzestext vor- Präsident Dr. Norbert Lammert: geschlagen wird, dass nämlich die Versorgungsqualität Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Erich möglichst als ein sektorenübergreifendes Qualitätsin- Irlstorfer für die CDU/CSU-Fraktion. strument entwickelt werden soll, ist vollkommen richtig. Auch die einrichtungsübergreifende Zusammenstellung (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2881

(A) Erich Irlstorfer (CDU/CSU): Wir rechnen damit, dass die damit einhergehende (C) Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kolle- Stärkung der Beitragsautonomie der Krankenkassen in gen! Verehrte Besucherinnen und Besucher auf der Tri- 2015 für viele Bürgerinnen und Bürger zu Entlastungen büne! Wir besprechen heute den Entwurf der Bundes- führen wird. Das Bundesministerium für Gesundheit regierung zum sogenannten GKV-FQWG, also zum GKV- geht davon aus, dass etwa 20 Millionen Mitglieder bei Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsge- Krankenkassen versichert sind, die in 2015 mit einem setz. Zusatzbeitrag von unter 0,9 Prozent auskommen könn- ten. Entgegen den Erwartungen vieler Beobachter konnte in den Koalitionsverhandlungen im Bereich Gesundheit (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE schon recht früh Einigkeit erzielt werden. Ein wesentli- GRÜNEN]: Woher wissen Sie das eigentlich ches Element des Koalitionsvertrages ist die Antwort auf so genau?) die Frage, wie die Finanzierung der gesetzlichen Kran- kenversicherung in Zukunft ausgestaltet werden soll. Die Einkommensumverteilung bei den Zusatzbeiträ- Mit dem heute diskutierten Entwurf der Bundesregie- gen wird künftig innerhalb der gesetzlichen Krankenver- rung werden die Verhandlungsergebnisse des Koalitions- sicherung organisiert. Ein Sozialausgleich und damit vertrages konkretisiert. Ich denke, dass sich an der sach- verbundene Mehrbelastungen des Bundeshaushalts wer- lichen Arbeit dieser Koalition in einer so wichtigen den nicht mehr erforderlich sein. Ich erwähnte bereits, Frage zeigt, dass wir in dieser Koalition in der Gesund- dass Finanzierungsaufgaben und -fragen im Gesund- heitspolitik sehr gut aufgestellt sind und wir mit einer heitswesen hochkomplex sind. Aus diesem Grunde ist es zügigen und sachgerechten Umsetzung des Koalitions- wichtig, dass wir die praktischen Entwicklungen im Fi- vertrages nicht nur hinsichtlich der Finanzierung der nanzierungssystem stets beobachten und gegebenenfalls, GKV, sondern auch in anderen Bereichen rechnen kön- wenn notwendig, natürlich auch korrigieren. nen. Lassen Sie mich nun auf das GKV-Finanzstruktur- Präsident Dr. Norbert Lammert: und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz zu sprechen Herr Kollege, darf die Kollegin Vogler Ihnen eine kommen. Wie der Name schon sagt, baut das Gesetz auf Zwischenfrage stellen? zwei Säulen auf, die zusammen gedacht werden sollen, ja sogar gedacht werden müssen: erstens der Entwick- lung des Finanzierungssystems, zweitens der weiteren Erich Irlstorfer (CDU/CSU): Ausrichtung unseres Gesundheitssystems auf die Quali- Bitte. (B) tät der Versorgung. (D) Im heute debattierten Gesetzesvorhaben geht es um Kathrin Vogler (DIE LINKE): einen ausgewogenen Preis- und Qualitätswettbewerb Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischen- unter den Kassen. Damit wollen wir eine finanzierbare frage zulassen. – Nachdem Sie gerade noch einmal die und qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung in Zahl von 20 Millionen Versicherten wiederholt haben, Deutschland gewährleisten. Wie Sie wissen, ist das Ge- die angeblich in Kürze einen geringeren Beitrag zahlen, sundheitswesen, gerade auch im Bereich der Finanzie- als sie das jetzt tun, würde ich gerne wissen, woher – ab- rung, hochkomplex. Ich möchte deshalb die wesentli- gesehen von der Website des Bundesministeriums – Sie chen Verbesserungen im Bereich der Finanzierung, die diese Informationen haben und mit welchem Hinter- wir mit diesem Gesetz anstreben, unterstreichen. grund Sie diese Informationen hier verbreiten. Wie ge- sagt: Wir wissen es noch nicht. Wir haben keine erhärte- Die bisherige Situation, dass viele Krankenkassen aufgrund ihrer Rücklagen darauf verzichten konnten, ten Zahlen. Nach unserer Information haben erst sieben Zusatzbeiträge zu erheben, hat in meinen Augen zu einer Kassen angekündigt, einen Zusatzbeitrag unterhalb des überzogenen Ausprägung des Preiswettbewerbs geführt. jetzigen Satzes von 0,9 Prozent zu erheben. Von daher Es ist notwendig, dass die Zusatzbeiträge tatsächlich er- frage ich mich, wie Sie auf diese optimistische Schät- hoben werden. Der allgemeine, paritätisch finanzierte zung kommen, zumal ja dann im Gesundheitsfonds die Beitragssatz wird bei 14,6 Prozent festgesetzt, und der Mittel, die durch die Haushaltskürzungen von Herrn Arbeitgeberanteil bleibt bei 7,3 Prozent gesetzlich fest- Schäuble wegfallen, fehlen werden. geschrieben. Die Entkoppelung der Lohnzusatzkosten von den Gesundheitsausgaben bleibt somit bestehen. Erich Irlstorfer (CDU/CSU): Der Preiswettbewerb wird auf der Ebene der Höhe Das ist mit Sicherheit eine optimistische Prognose; da des Zusatzbeitrags geführt, und kommt damit weg von gebe ich Ihnen recht. Ich gehe aber davon aus, dass sich der Frage, ob überhaupt ein Zusatzbeitrag erhoben wird. auch andere Kassen noch beteiligen werden. Deshalb, Die Krankenkassenmitglieder haben dann das Recht, un- glaube ich, ist diese Prognose mit Sicherheit realistisch. kompliziert in eine günstigere Krankenkasse zu wech- seln. Dafür erhalten sie ein Sonderkündigungsrecht. (Beifall bei der CDU/CSU – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Okay, es geht also um religiöse (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Fragen! – Jens Spahn [CDU/CSU]: Das war GRÜNEN]: Na ja!) eine kurze Antwort auf eine lange Frage!) 2882 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Erich Irlstorfer (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte jetzt Die DRG-Fallpauschalen, die im Jahr 2003 in (C) aber auf das Thema Qualität zu sprechen kommen, das Deutschland eingeführt wurden, haben zu mehr Wirt- natürlich oft in einem gewissen Spannungsverhältnis zur schaftlichkeit im Krankenhaussektor beigetragen. Dies Wirtschaftlichkeit des Gesundheitswesens steht. ist grundsätzlich eine Entwicklung, die zu begrüßen ist. Wir müssen uns aber zugleich die Frage stellen, wie wir Ähnliches gilt natürlich für den vorhin schon erwähn- in einigen Fällen – ich betone hier bewusst „in einigen“ ten Morbi-RSA. Mit diesem Gesetzentwurf streben wir und sage nicht „in allen“ – mit dem Spagat zwischen eine Verbesserung der Zielgenauigkeit der Zuweisungen Wirtschaftlichkeit und Qualität der medizinischen Be- in den Bereichen des Krankengelds und der Auslands- handlung umgehen. Daher ist es auch wichtig, Anreize versicherungen an. Der Finanzausgleich wies bisher für eine in gleichen Maßen wirtschaftliche sowie quali- technische Ungenauigkeiten auf, die im Rahmen einer tätsorientierte Versorgung zu setzen. Dies sollte jedoch zukunftsorientierten und nachhaltigen Gesundheitspoli- nicht darüber hinwegtäuschen, dass bereits heute Maß- tik dieser Koalition korrigiert werden. Mit diesem Ge- setzentwurf wird eine ausgezeichnete Weiterentwick- nahmen zur Qualitätssicherung existieren, die allerdings lung der Finanzierung der GKV angegangen und weiter ausgebaut werden müssen. Für Krankenhäuser ermöglicht. gilt beispielsweise seit 2005 gesetzlich verpflichtend, dass die gesammelten Qualitätsdaten in entsprechenden Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich Berichten veröffentlicht werden müssen, die den Versi- komme nun auf die zweite Säule des GKV-FQWG zu cherten und Patienten als Orientierungshilfe dienen sol- sprechen. Es umfasst als wesentlichen Teil auch den Be- len. reich der Qualitätssicherung. Im Gesetzentwurf ist dem- entsprechend auch ein Abschnitt vorhanden, nach dem Ein weiterer Schritt in diese Richtung ist die künftige ein Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Schaffung des genannten Qualitätsinstituts durch den Gesundheitswesen etabliert werden soll. Durch den Gemeinsamen Bundesausschuss. Dieses Institut soll nun heute diskutierten Gesetzentwurf erhält dieses so wich- dafür sorgen, dass die Qualität im Gesundheitswesen tige Thema der Qualität nun endlich die Aufmerksam- endlich messbar und vergleichbar wird. Das System der keit und den Stellenwert, die ihm in meinen Augen Qualitätsmessung muss transparent sein, und seine Um- schon lange zustehen. setzung darf nicht an Interessen verschiedener Akteure sowie an irgendwelchen sonstigen Rahmenbedingungen Einen der Schwerpunkte des Koalitionsvertrages bil- scheitern. det die Verbesserung der Qualität in der medizinischen Versorgung. Zur Stärkung der Qualitätssicherung der Selbstverständlich muss sich gute Qualität – und Gesundheitsversorgung soll der Gemeinsame Bundes- diese wollen wir – auch für Krankenhäuser lohnen. ausschuss verpflichtet werden, ein fachlich unabhängi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (B) (D) ges wissenschaftliches Institut für Qualitätssicherung neten der SPD und des Abg. Dr. Harald Terpe und Transparenz im Gesundheitswesen zu gründen. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die Aufgabe des Instituts soll es sein, sich wissen- So muss in Zukunft aus meiner Sicht ein Anreizsys- schaftlich mit der Ermittlung und Weiterentwicklung der tem geschaffen werden, das qualitativ gute Häuser Versorgungsqualität zu befassen. Es soll dem Gemeinsa- stärkt. Zugleich müssen wir aber auch sicherstellen, dass men Bundesausschuss die notwendigen Entscheidungs- die Diagnose- und Therapiefreiheit nicht eingeschränkt grundlagen für die von ihm zu gestaltenden Maßnahmen wird. Es ist notwendig, dass auch in Zukunft jeder medi- der Qualitätssicherung liefern. Darüber hinaus sollen die zinische Vorgang individuell auf den Patienten abge- Ergebnisse der Qualitätssicherungsmaßnahmen in geeig- stimmt ist und er nach bestem Wissen und Gewissen des neter Weise und in einer für die Allgemeinheit – ich versorgenden Arztes behandelt wird. Eine freie Arzt- glaube, das ist wichtig – verständlichen Form veröffent- und Krankenhauswahl muss auch in Zukunft gewährleis- licht werden. Dadurch werden eine wissenschaftliche tet bleiben. Dieses sind die Grundvoraussetzungen für Grundlage für die Qualitätssicherung und mehr Transpa- ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen dem Patienten renz im Gesundheitswesen geschaffen. und seinem behandelnden Arzt. Im Mittelpunkt soll hier vor allem die Qualitätssiche- Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin mir sicher, rung im ambulanten wie auch im stationären Bereich ste- dass der vorliegende Gesetzentwurf neben den wichtigen hen. Unbestritten leisten die Krankenhäuser mit ihren Reformen im Bereich der GKV-Finanzierung auch einen Beschäftigten einen unverzichtbaren Beitrag zu einer wichtigen und richtigen Schritt in die Richtung einer qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung der qualitativ besseren Versorgung darstellt. Menschen hier in unserem Land. Die Krankenhäuser sind damit eine tragende Säule des deutschen Gesund- In diesem Sinne: Herzlichen Dank. heitswesens. Die Hilfspakete zu ihrer finanziellen Unter- stützung in der letzten Legislaturperiode lassen erkennen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dass seitens der Unionsparteien einer soliden Kranken- neten der SPD) hausversorgung schon immer ein hoher Stellenwert bei- gemessen wurde. Daher ist es aus meiner Sicht nur rich- Präsident Dr. Norbert Lammert: tig und wichtig, diesen Weg weiterzugehen und unser Nun hat die Kollegin Kühn-Mengel für die SPD- Gesundheitssystem auf diesem Gebiet weiterzuentwi- Fraktion das Wort. ckeln. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU) der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2883

(A) Helga Kühn-Mengel (SPD): ches sich Patienten und Patientinnen bei Operationen (C) Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- entscheiden sollten. Das wissen aber noch längst nicht gen! Ich möchte noch einiges ausführen zum Institut alle Nutzer und Nutzerinnen des Systems. Deswegen für Qualitätssicherung und Transparenz. Dadurch wird wird das Qualitätsinstitut diese Informationen in ver- meiner Meinung nach die Versorgungslandschaft in ständlicher Sprache – dies ist ein wichtiger Punkt für Pa- Deutschland in erheblicher Weise beeinflusst und zu- tienten und Patientinnen – veröffentlichen. mindest langfristig verbessert. Ich danke dem Kollegen Terpe für seine Aussagen hierzu und auch überhaupt für Natürlich, Kollege Terpe, ist es wichtig, Vertreter von seine ausgewogene Kommentierung des Gesetzent- Patientenorganisationen, denen wir viel zu verdanken wurfs. haben, im Vorstand und im Stiftungsbeirat zu verankern. Ich meine, bei der Beauftragung und bei bestimmten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Aufträgen sollte dieses Experten- und Expertinnenwis- der CDU/CSU) sen genutzt werden. Die westfälische Weisheit, Frau Vogler, von der Sau, (Beifall der Abg. Hilde Mattheis [SPD]) die vom Wiegen nicht fett wird, hat mich in den zurück- liegenden Minuten beschäftigt, und ich kann dieser – Ich mache immer zu wenig Pausen für den Applaus, Weisheit bedingungslos zustimmen. sagt mein Büro. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das ist schön, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie dass Sie das meinen!) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich will zunächst betonen, dass wir sehr viel Geld im System haben. Wir sprechen nicht über ein System, bei – Danke. dem es an allen Ecken und Enden knapp ist. Wir haben Das Ganze hat eine Vorgeschichte. Wir hatten struktu- viel Geld im System, aber es kommt nicht immer dazu, rierte Behandlungsprogramme, die zum ersten Mal die dass am Ende auch Qualität gegeben ist. Ich sage: Die Qualität und das Miteinander von ambulanter und statio- Nichtqualität kostet auch. närer Behandlung gegen enormen Widerstand definiert (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten haben. Wir hatten die BQS, die uns Zahlen zu den Auf- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE fälligkeiten in der Endoprothetik, bei Bypassoperationen GRÜNEN und des Abg. Harald Weinberg und bei Krebsoperationen gegeben hat. Wir hatten als [DIE LINKE]) dritte Bank – sie ist in Sachen Qualität unentbehrlich – (B) die Unterstützung der Selbsthilfe, des Patientenbeauf- (D) In vielen Krankenhäusern wurde die Zahl der Ärzte tragten sowie des Aktionsbündnisses Patientensicher- und Ärztinnen aufgestockt und die Zahl der Pflegekräfte heit, das deutlich gemacht hat, dass zum Beispiel Seiten- abgebaut. verwechslungen selten vorkommen, aber es trotzdem zu ein paar Hundert dieser extremen Fälle kommt. Sie ha- (Zurufe von der SPD: So ist es! – Richtig! – ben Prozeduren für Operationen entwickelt. All das ist Harald Weinberg [DIE LINKE]: Leider!) ganz wichtig. Es gibt viele Krankenhäuser – auch das ist eine Wahr- heit –, die Überschüsse erwirtschaften, diese aber lieber Wenn das WIdO zum Beispiel deutlich macht, dass es auszahlen, als in Qualität und Personal zu investieren. in der Krankenhauslandschaft 1 Prozent Behandlungs- Sie finden für alles eine Weisheit und eine Wahrheit. Das fehler gibt, dann sagen manche: 1 Prozent ist wenig. In ist das Problem. Zahlen ausgedrückt sind das 190 000 Fälle, und diese Zahl finde ich dann schon beeindruckend. Es gibt Das geplante Institut wird nicht nur Patienteninforma- Schicksalhaftes, es gibt Vermeidbares, es gibt Unnöti- tionen und Patientenkompetenz stärken. Es wird auch ges, das im Krankenhaus passiert. Darüber muss man re- nicht nur die in § 137 a SGB V bereits vorgegebenen den. Man muss sichere Daten gewinnen und nach ihrer Aufgaben wahrnehmen, nämlich Indikatoren und ent- Auswertung die Landschaft verändern. Ich sage noch sprechende Instrumente für die Messung von Qualität zu einmal: Das hat nicht nur mit der Menge des Geldes, suchen und zu entwickeln. Es wird auch neue Aufgaben sondern auch mit der Verteilung des Geldes zu tun. Da- bekommen: den Krankenhausvergleich im Internet, die mit will ich nicht sagen, dass man nicht hier und da auf- Qualitätsmessung und die Qualitätsdarstellung der am- stocken muss. bulanten und vor allem der stationären Versorgung auf der Basis von Sozialdaten. Natürlich kann man neben Die Zahlen von WIdO und anderen Instituten, denen den Daten der Krankenkassen auch die der Kassenärztli- wir viel zu verdanken haben und deren Wissen man nut- chen Vereinigungen nehmen. Das ist auch vorgesehen. zen muss, sind schon erschreckend, zum Beispiel die Auffälligkeiten bei der Versorgung mit Herzschrittma- Es wird des Weiteren eine öffentliche Bewertung von chern, aber auch bei den Hüftoperationen, bei denen es Zertifizierungen und Qualitätsaussagen geben. Das halte bei 7,4 Prozent der Patienten der AOK 2012 zu Kompli- ich für sehr wichtig. Was da zum Teil an den Wänden kationen oder Revisionen kam. In Zahlen heißt das: Es hängt, ist den Rahmen nicht wert. Sowohl ich als auch handelte sich um 11 000 Patienten, und 6 000 mussten die Kolleginnen und Kollegen wissen, welches Kranken- neu operiert werden. Ich finde, dass das eine beeindru- haus in der jeweils eigenen Region gut ist und für wel- ckende Zahl ist. Ich könnte diese Reihe fortsetzen. 2884 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Helga Kühn-Mengel (A) Warum ist die Zahl der Operationen zwischen 2005 nige andere Vorredner haben darauf hingewiesen – auf (C) und 2011 überhaupt so sehr gestiegen, nämlich um mehr ein solides, ausfinanziertes und sich auf große Reserven als ein Viertel, von gut 12 Millionen Operationen im stützendes Gesundheitssystem zurückgreifen. Jahr 2005 auf über 15 Millionen Operationen im Jahr 2011? Im gleichen Zeitraum, 2005 bis 2011, gab es eine Die aktuellen Zahlen besagen, meine Damen und Verdoppelung der Zahl der Wirbelsäulenoperationen. Herren, dass die Liquiditätsreserven des Gesundheits- Das ist doch nicht nur mit der Demografie zu erklären; fonds auf 13,6 Milliarden Euro angewachsen sind und da kann man den Eindruck haben, dass nicht in allen sich die der Krankenkassen auf circa 18 Milliarden Euro Krankenhäusern nur aufgrund medizinischer Erkennt- addieren; das sind insgesamt über 30 Milliarden Euro. nisse operiert wird. Das bedeutet im Vergleich zu den Prognosen des Jahres 2009 eine Differenz von mehr als 40 Milliarden Euro. Ich erinnere auch an eine kleine, aber doch sehr nette Dies ist allein darauf zurückzuführen, dass die Union mit Studie, die es vor vielen Jahren einmal gab: Sie stellte ihren Partnern richtige Politik gemacht hat, sowohl in dar, dass es unter den Frauen von Anwälten und von Form der strukturellen Änderungen im Gesundheitssys- Ärzten weniger Gallenblasenoperationen gibt. Ich war tem als auch durch eine hervorragende Wirtschaftspoli- damals sehr beeindruckt. tik, die zu weniger Arbeitslosen, höheren Steuereinnah- men und einer höheren Beschäftigung geführt hat. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Beifall (Beifall bei der CDU/CSU) der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) In diesem Jahr werden voraussichtlich 42,1 Millionen Menschen einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Das sind Es ist wichtig, dass wir die Daten aus dem ambulan- so viele Beschäftigte wie nie zuvor. Die kluge Politik der ten Bereich – – CDU/CSU-geführten Bundesregierung mit an der Spitze hat Deutschland auf diese Erfolgsspur ge- Präsident Dr. Norbert Lammert: bracht, auf die wir mit Recht stolz sein können. Ein sicher hochinteressanter Aspekt, Frau Kollegin, der aber nicht mehr im Einzelnen entfaltet werden kann. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir verfügen über ein hervorragendes solidarisches Helga Kühn-Mengel (SPD): Gesundheitssystem, um das uns viele beneiden. Nicht Ich komme zum Schluss. – Wir müssen die Patienten- nur heute, sondern vor allem auch in Zukunft muss die souveränität und die Patientenkompetenz stärken, auch Versorgung von qualitativ hochwertigen und an den Be- (B) bei der UPD. Wir werden dafür sorgen, dass dieses Er- dürfnissen der Patientinnen und Patienten ausgerichteten (D) folgsprojekt unterstützt wird. Leistungen sichergestellt werden. Mit dem heute zu be- ratenden Gesetzentwurf wird die erfolgreiche Politik ge- Ich danke Ihnen. rade in diesem Bereich fortgesetzt. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir wollen – im Gegensatz zu Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition – auch mit diesem Ge- Präsident Dr. Norbert Lammert: setzgebungsverfahren Arbeit und Wachstum weiter för- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben jetzt fast dern und neue Arbeitsplätze schaffen und sichern. genau das Ende der vereinbarten Debattenzeit erreicht, (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Ich dachte, aber es gibt noch drei Redner. Deswegen bitte ich um es geht um Gesundheit!) Nachsicht, dass ich keine Zwischenfragen mehr zulassen möchte. Dazu müssen die Gesundheits- von den Arbeitskosten Der nächste Redner ist der Kollege Dietrich Monstadt getrennt werden. Wir können nicht permanent – wie Sie für die CDU/CSU-Fraktion. das gerne täten, Herr Kollege Weinberg – grenzenlos an der Beitragsschraube drehen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU – Harald Weinberg [DIE LINKE]: Das ist doch Quatsch! – Birgit Wöllert [DIE LINKE]: Das wollen wir auch Dietrich Monstadt (CDU/CSU): gar nicht!) Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- nen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit dem GKV-Finanzierungskonzept kann künftig Wenn man über das GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts- jede Kasse einen einkommensabhängigen Zusatzbeitrag Weiterentwicklungsgesetz debattiert, muss man sich in erheben. Die Versicherten erhalten damit ein klares Preissi- Erinnerung rufen, woher wir kommen: Ich sitze seit gnal. Die Krankenkassen stehen jetzt in der Pflicht, im 2009 im Deutschen Bundestag. Eine der ersten schwieri- Wettbewerb um Versicherte eine qualitativ gute Versor- gen Situationen als Abgeordneter im Gesundheitsaus- gung anzubieten. Durch effizientes Wirtschaften müssen schuss war, dass uns für das Jahr 2010 ein Defizit von die Kassen ihre Zusatzbeiträge so gering wie möglich circa 10 Milliarden Euro in der GKV bevorstand. Ak- halten, um Versicherte nicht an Mitbewerber zu verlie- tuell können wir dagegen – Herr Minister Gröhe und ei- ren. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2885

Dietrich Monstadt (A) Der vorliegende Gesetzentwurf bringt uns einen gro- Hilde Mattheis (SPD): (C) ßen Schritt weiter in Richtung Bürokratieabbau: durch Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Abschaffung des Sozialausgleichs, durch Abführung der möchte zu Beginn meiner Ausführungen auf die Darstel- Zusatzbeiträge im Quellenabzug, durch Wegfall der lung des Herrn Minister Gröhe eingehen. Bei diesem Prüfung von Jobcentern und Kassen, ob eine Familien- Thema stimmen wir ihm sicherlich alle zu, egal wo in versicherung durchzuführen ist, und durch Wegfall der diesem Haus wir sitzen. Ich verweise auf die Debatten, aufwendigen Berechnung des Kranken- und Pflegeversi- die wir darüber in den letzten Monaten in unseren Wahl- cherungsbeitrages. Dadurch wird sich der Verwaltungs- kreisbüros geführt haben, und die zahlreichen Briefe, die aufwand für viele Beteiligte erheblich reduzieren. wir dazu auf unseren Schreibtischen vorgefunden haben. Es geht um die Hebammen. Meine Damen und Herren, mit dem Gesetz wollen wir auch die Transparenz und Qualität der medizini- Ich glaube, dass viel erreicht ist, wenn wir das hinbe- schen Versorgung weiter in den Mittelpunkt rücken. Pa- kommen, was der Herr Minister in seiner Rede heute ausgeführt hat. In diesem Gesetz wollen wir an drei tientinnen und Patienten müssen sich darauf verlassen Punkten festschreiben, dass wir eine Lösung für die Heb- können, dass sowohl ambulant als auch stationär eine ammen anstreben, und hinsichtlich des vierten Punktes, hohe Qualität der Behandlung gewährleistet wird. der durchaus umstritten ist, nehmen wir uns eine Prüfung Durch die Verabschiedung des Patientenrechtegeset- vor. Ich glaube, das ist ein wichtiger Schritt, um einer zes im Februar 2013 haben wir es geschafft, viele Pa- Berufsgruppe zu helfen, die zwar zahlenmäßig sehr klein tientinnen und Patienten zu sensibilisieren und zu moti- ist, die aber sehr stark auftritt und im öffentlichen, ge- vieren, ihre eigenen Rechte besser wahrzunehmen, vor sellschaftlichen Bewusstsein verankert ist. Vor allen Dingen sichern wir damit die Wahlfreiheit der Frauen allen Dingen dann, wenn die Behandlung nicht so ausge- während der Schwangerschaft und hinsichtlich der Ge- fallen ist, wie man es selbst erwartet hätte oder nach ob- burtssituation. Dabei hoffen wir sehr auf Ihre Unterstüt- jektiven Kriterien hätte erwarten dürfen. zung. Wir brauchen aber auch verlässliche Kriterien, an de- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ nen sich die Qualität von Therapien und Diagnosen mes- CSU und der LINKEN) sen lässt. Diese Kriterien sollen künftig durch ein neues Qualitätsinstitut entwickelt werden, um auf dieser Basis Damit meine ich Sie von den Linken und Sie von den vorhandene Defizite erkennen und beseitigen zu können. Grünen. Von daher ist die Einrichtung dieses Qualitätsinstitutes (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Ihr müsst das (B) die logische Weiterentwicklung der besseren und umfas- nur rausnehmen aus dem Gesetz!) (D) senderen Ausgestaltung der Rechte für Patientinnen und Patienten. Damit wäre es erstmalig möglich, dass alle Wir nähern uns einer optimalen Lösung an. Keiner notwendigen Daten zur Qualitätssicherung zusammen- von uns in diesem Haus sagt: Ich habe die optimale Lö- geführt, ausgewertet und veröffentlicht werden können. sung. Wir streben diese Lösung an, und in drei Punkten Wenn wir es dann noch schaffen, die Leistung in guter bekommen wir das ja auch hin. Ich verweise dazu auf Qualität auch besser zu bezahlen, können wir einen ent- die Qualitätsstandards und auf die Datensammlung. Das scheidenden Schritt weiterkommen. ist meine Überleitung zu dem Gesetzentwurf – GKV- FQWG –, den wir heute in erster Lesung beraten. Ich Wir stehen für ein gerechtes, soziales, stabiles, wett- will die Position der SPD dazu gerne zusammenfassend bewerbliches und transparentes Gesundheitssystem. Wir noch einmal darstellen. setzen auf eine weiterhin qualitativ hochwertige Versor- Zunächst möchte ich aber feststellen, dass man dieser gung und effizientes Wirtschaften der Kassen. Mit dem Koalition Untätigkeit wirklich nicht vorwerfen kann. In- GKV-Finanzierungsgesetz können wir den Herausforde- nerhalb weniger Monate haben wir einen zweiten Ge- rungen in Form von demografischer Alterung, medizi- setzentwurf vorgelegt, der im Prinzip eine wichtige nisch-technischem Fortschritt und wachsenden Kosten Grundlage für die weiteren Vorhaben schafft, auf die wir begegnen und gleichzeitig allen Versicherten den Zu- uns in dieser Koalition verständigt haben. Ich glaube, gang zu hochwertigen Leistungen erhalten. Ich werbe man sollte nichts vermischen, sondern ganz pragmatisch deshalb um Ihre Zustimmung. und fachlich argumentieren und den Blick auf das rich- ten, was wir hier vorlegen. Herzlichen Dank. (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. GRÜNEN]: Genau! Auf die Finanzen zum Dr. Karl Lauterbach [SPD]) Beispiel!) Es geht um das Qualitätsinstitut, Frau Klein-Schmeink. Präsident Dr. Norbert Lammert: In diesem Zusammenhang darf man nicht unterschlagen Das Wort erhält nun die Kollegin Hilde Mattheis für – damit spreche ich insbesondere Sie, Frau Vogler, an –, die SPD-Fraktion. dass wir in der Koalition vereinbart haben, dass es im nächsten Schritt auch um die Krankenhausfinanzierung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten geht. Dafür brauchen wir aber eine ordentliche Grund- der CDU/CSU) lage. Wir haben eine Menge Daten – das wissen wir; das 2886 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Hilde Mattheis (A) hat meine Kollegin Kühn-Mengel ausgeführt –, aber die gerne Ihre Antwort darauf. Ich glaube, die Antwort fällt (C) müssen gebündelt, vernetzt und ausgewertet werden. unisono aus: der einkommensabhängige Beitrag. Dabei wünsche ich mir eine inhaltliche, fachliche, posi- (Zuruf der Abg. Maria Klein-Schmeink tive Begleitung durch die Opposition. Es wäre schön, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) wenn die Oppositionsfraktion Die Linke nicht reflexhaft immer alles ablehnen würde; denn es geht darum, die Ich glaube, dass wir im Gesetzgebungsverfahren Krankenhausfinanzierung so zu gestalten, dass gute – das soll mein Schlusswort sein – über viele der Punkte, Qualität belohnt und schlechte Qualität nicht belohnt die wir hier jetzt vorgelegt haben, noch einmal heftig de- wird. Ich hoffe sehr, dass wir diese Diskussion gemein- battieren werden. Ich bin sicher, dass unsere Argumente sam gestalten können. auch Sie überzeugen können, dass wir hier einen wichti- gen Schritt hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit machen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich sage nicht, dass es ein riesiger Schritt ist, aber es ist der CDU/CSU) ein Schritt. Das Qualitätsinstitut ist für uns also eine wichtige Ich gehe davon aus, dass das Gesetzgebungsverfahren Grundlage für weitere Gesetzgebungsvorhaben. nach dem guten alten Struck’schen Gesetz laufen wird: Gerne gehe ich auch auf die Wettbewerbsfähigkeit in Kein Gesetz kommt so aus dem Parlament, wie es hinein- unserem System ein. Wer Wettbewerbsfähigkeit will, gegangen ist. An dem einen oder anderen Punkt – ich muss für eine ungefähr gleiche Ausgangsposition, für ei- nenne da gerne die UPD – möchten wir noch einmal nigermaßen gleiche Augenhöhe sorgen. Durch den fi- nachlegen. Ich wünsche mir eine breite Unterstützung nanziellen Ausgleich beim Krankengeld – dazu hat Frau dafür. Dittmar ausgeführt – sorgen wir dafür, dass die Aus- (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE gangsposition für einen Wettbewerb einigermaßen gleich GRÜNEN]: Dazu haben wir ja Vorschläge ist. vorgelegt!) (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Das sehen Denn es geht uns um die Sache: um Qualität in einem die Kassen aber anders!) Versorgungssystem, das allen zugänglich ist. Ich hoffe sehr, dass dadurch diejenigen, die jetzt bevor- Ich danke fürs Zuhören. zugt sind, von ihrem Vorteil etwas verlieren und diejeni- gen, die benachteiligt sind, von dieser Benachteiligung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ein Stück weit wegkommen. Ich bitte an diesem Punkt der CDU/CSU) um Ihre Unterstützung. Vielen Dank. (B) (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Präsident Dr. Norbert Lammert: CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink [BÜND- Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die können Sie ha- Kollege Thomas Stritzl für die CDU/CSU-Fraktion. ben!) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich komme zum Thema Finanzierung. Beim Thema Finanzierung hat man gesagt, die SPD sei diejenige, die Thomas Stritzl (CDU/CSU): sich verstecken müsse bzw. wenig erreicht habe. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE und Kollegen! Mit der Vorlage des Gesetzentwurfes hat GRÜNEN]: Ja!) unser Bundesgesundheitsminister zwei Dinge auf den Weg gebracht: Er macht das GKV-System a) im Bereich Ich will hier jetzt nichts aus Hinter-den-Kulissen-Ge- der Finanzierung zukunftssicherer und b) im Rahmen sprächen ausplaudern, aber ich habe den Eindruck, dass der neutral bewerteten Qualität auch für die Versicherten sich Herr Spahn da immer anders anhört. Ich bitte Sie, – darauf kommt es ja an – nachvollziehbarer und ein sich das genau anzuschauen. Nicht alles gefällt uns, Frau Stück vertrauenswürdiger. Es ist der zweite Gesetzent- Klein-Schmeink. In manchen Punkten wünschen wir uns wurf der Regierung aus diesem Haus. Das will ich dazu mehr, zum Beispiel eine Verstetigung des Steuerzu- sagen; denn ab und zu kann man lesen – teilweise gibt es schusses. Sie wissen: Unsere Idee der Bürgerversiche- diese verfehlte Kritik auch aus der Opposition –, in die- rung ist eine Idee, die uns trägt. ser Regierung passiere nichts. Hier passiert, glaube ich, mehr, als andere sich wünschen. (Beifall bei der SPD – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Davon sind (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Sie weit entfernt!) GRÜNEN]: Es passiert das Falsche!) Davon gehen wir nicht ab. Das können Sie in jeder De- – Ich bedanke mich für Ihre Zustimmung. – Der gesetzli- batte standardmäßig von mir hören. Die Idee einer Bür- che Beitrag wird um 0,9 Prozentpunkte auf 14,6 Prozent gerversicherung ist die Idee der SPD, und diese Bürger- gesenkt. Das sind immerhin 10,4 Milliarden Euro. Das versicherung wollen wir. ist ein erheblicher Gestaltungsspielraum, der sich natür- lich in der einen oder anderen Situation durch Zusatzbei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) träge wieder anders darstellen wird. Das werden wir im Ich frage Sie, was gerechter ist: eine Pauschale oder Herbst sehen, wenn der Schätzerkreis den durchschnittli- ein einkommensabhängiger Beitrag? Ich hätte ganz chen Wert für Zusatzbeiträge ermitteln wird. Das ist für Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2887

Thomas Stritzl (A) mich übrigens kein Momentum – das möchte ich sehr mögliche Leistung erbringen. Ich denke, dass man auch (C) klar sagen –, um die Diskussion über die Bürgerversi- das einmal sagen darf. cherung wieder neu aufzuziehen. Denn allein dadurch, dass Sie versuchen, neue Finanzquellen zu entdecken, (Beifall bei der CDU/CSU) werden Sie den Grundlagen der GKV, Qualität und Die Wirtschaftlichkeit schadet insofern nicht grund- Finanzierbarkeit, nicht gerecht. sätzlich der Qualität. Aber sie muss natürlich immer (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf der Abg. auch ein Stück an ihr gemessen werden. Insofern sind Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE wir, glaube ich, gefordert – das ist das, was der Minister GRÜNEN]) gesagt hat –, im Rahmen einer neutralen Bewertung die Leistungen bzw. den Output von Krankenhäusern zu be- Ich will darauf hinweisen, dass wir das System nur werten. Die Ergebnisse dieser Bewertung müssen wir werden erhalten können, wenn es möglich wird, mit ei- dann allerdings auch so kundtun, dass derjenige, auf den ner florierenden Wirtschaft die Beiträge zu erwirtschaf- wir abzielen – sprich: der Konsument der Krankenhaus- ten, die wir später verteilen wollen. Es wird leicht leistung –, sie verstehen kann, will sagen: Wir müssen vergessen, dass dies offensichtlich nicht der Fall ist. sie den Versicherten in verständlichem Deutsch und in Manchen Vorschlägen sollte daher nicht gefolgt werden. allgemein verfügbarer Form zugänglich machen, damit Mir ist vorhin auch schon bei den Linken aufgefallen, sie im Vorfeld einer teilweise existenziellen Entschei- dass sie nur die Frage der Finanzierung in den Vorder- dung für sich entscheiden können, welches Leistungs- grund gestellt und gesagt haben, es sei nicht hinreichend angebot sie wo in Anspruch nehmen wollen. paritätisch finanziert. Das kann ich nicht erkennen. Im- merhin werden die 14,6 Prozent zu gleichen Teilen von Wenn man sich den Gesetzentwurf des Hauses, den Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziert. Ich glaube, uns der Minister heute vorgelegt hat, ansieht, dann kann das ist ein wichtiger Punkt. man, glaube ich, sagen: Er sichert die Zukunftsfähigkeit eines von uns gewünschten Systems, er sichert die Die Frage der Zusatzfinanzierung ist eine Frage des Finanzierbarkeit bzw. stärkt sie, und er gibt einen besse- Wettbewerbs, in den wir die Kassen bewusst stellen wol- ren Einblick in das Werte- bzw. Bewertungssystem, gibt len. Auf der einen Seite geht es um die Finanzierung, das also Auskunft über die Qualität. Das sind zwei wichtige heißt die Kostenlast, und auf der anderen Seite um einen Faktoren, die für die Zukunft dieses Systems von beson- Abgleich und eine Bewertung der Qualität, die man ein- derer Bedeutung sind, auch deshalb, weil sie in der Ver- kauft. sicherungslandschaft den mündigen Bürger in den Mit- telpunkt stellen. Deshalb halte ich den Gesetzentwurf für (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE einen gelungenen Wurf. Dafür möchte ich dem Hause (B) GRÜNEN]: Unterdeckung von 11 Milliarden ganz herzlich danken. (D) Euro!) Vielen Dank. Das, glaube ich, dürfen wir demjenigen, den wir gut ver- sichern wollen, dem wir gute medizinische Leistungen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- garantieren wollen, doch nicht nehmen. Er muss sich neten der SPD) doch ein Urteil darüber bilden können dürfen, zu wel- chem Preis er sich wo versichern will. Insofern halte ich Präsident Dr. Norbert Lammert: auch diese Systematik im Ergebnis für sachgerecht. Sie schützt – darauf hat der Minister hingewiesen – im Übri- Herr Kollege, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten gen auch die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirt- Rede im Deutschen Bundestag und verbinde das mit al- schaft. Ohne diese Wettbewerbsfähigkeit im internatio- len guten Wünschen für die weitere parlamentarische nalen Bereich wäre vieles in unserem Land, wie Herr Arbeit. Spahn gesagt hat, gar nicht leistbar. Insofern, glaube ich, (Beifall) ist auch hier bei der Kritik Augenmaß angebracht. Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell (Beifall bei der CDU/CSU) wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf der Lassen Sie mich etwas zu einem Kritikpunkt sagen, Drucksache 18/1307 an die in der Tagesordnung aufge- den ich vorhin gehört habe. Es hieß gewissermaßen, an führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu andere Kliniken werde nicht hinreichend gute Arbeit geleistet. Vorschläge? – Die kann ich nicht erkennen. Dann ist die Das wurde dann mit dem Kostendruck in den Kliniken Überweisung so beschlossen. begründet. Seitens der Linken wurde vorhin mit Begrif- Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 19 auf: fen wie „Outsourcing“ hantiert. Ich glaube nicht, dass Sie den Menschen, die bei Firmen arbeiten, die ihre Vereinbarte Debatte Dienstleistungen in Krankenhäusern erbringen, zum Beispiel Reinigungskräften, gerecht werden, wenn Sie 10 Jahre „EU-Osterweiterung“ sagen: Weil diese Menschen dorthin outgesourct wur- Auch hier ist interfraktionell eine Aussprachezeit von den, leisten sie schlechtere Arbeit. – Ich glaube, man 96 Minuten vorgesehen. – Dazu sehe ich keinen Wider- sollte dankbar sein, dass die Damen und Herren, die in spruch, sodass wir so verfahren können. Krankenhäusern arbeiten, egal in welchem Rechtsver- hältnis sie zum Krankenhaus stehen, gute bzw. ihre best- (Unruhe) 2888 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) – Sobald die unvermeidlichen Fluchtbewegungen zu ei- hielt am Ende recht, das Verbindende behielt die Ober- (C) nem geordneten Ende gekommen sind, eröffne ich die hand über das Trennende. Das in Erinnerung zu rufen, Aussprache. gerade in diesen Tagen, ist wichtig. Ich finde, dieser Ge- danke kann uns Mut machen. Mit Blick auf die Leistung Ich erteile das Wort dem Bundesminister des Auswär- derjenigen, die die europäische Wiedervereinigung mög- tigen, dem ich an dieser Stelle – unabhängig von dem lich gemacht haben, darf ich gerade sagen: Wir dürfen Tagesordnungspunkt, zu dem er heute Stellung nehmen mit Blick auf den Mut dieser Vorgänger nicht resignieren soll und wird – sicher im Namen des ganzen Hauses für in der aktuellen Situation. seine Bemühungen auf einer anderen Baustelle herzlich danken und unseren Respekt zum Ausdruck bringen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie möchte. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) GRÜNEN) Vor zehn Jahren ist die Europäische Union nicht nur Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des größer geworden, sondern sie hat durch die Osterweite- Auswärtigen: rung auch vieles hinzugewonnen: an Erfahrung, an Ge- Herr Präsident, dafür ganz herzlichen Dank! schichte, an politischem Gewicht. Aber vor allem ist Europa reicher geworden: reicher an Sprache, reicher an Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist kein Zufall: Kultur, reicher an Ideen und auch an Lebensperspekti- Heute auf den Tag genau vor 64 Jahren hielt der franzö- ven. Deshalb sage ich: Diese Osterweiterung ist in vie- sische Außenminister Robert Schuman eine wegwei- lerlei Hinsicht eine Erfolgsgeschichte. Dazu könnte man sende Rede über das Zusammenwachsen der europäi- eine ganze Reihe von Zahlen und Statistiken vortragen. schen Interessen, eine Rede über die Vision eines Ich könnte Ihnen berichten, dass zum Beispiel in Un- vereinten Europas. Wahrscheinlich kam das den Men- garn, Tschechien, der Slowakei und Polen die Kaufkraft schen zu dieser Zeit sehr weit weg vor. Damals, nur fünf seit 2004 stetig gestiegen ist. Sie lag damals – Sie erin- Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, steckte nern sich – bei weniger als der Hälfte des EU-Durch- die Welt schon wieder in einem neuen Konflikt, im Kal- schnitts. Ich könnte Ihnen von Lettland berichten, das ten Krieg, und in der Not der Nachkriegszeit konnten am Anfang dieses Jahres den Euro gerade erst eingeführt viele am eigenen Leib den Riss erfahren, der durch die- hat und heute mit 4 Prozent Wirtschaftswachstum Spit- ses Europa ging. Die Berlin-Blockade lag gerade erst ein zenreiter in Europa ist. Ich könnte mit Blick auf unser ei- Jahr zurück. Der Westen Deutschlands ächzte unter dem genes Land zu all denjenigen, die vor zehn Jahren Hor- Zustrom von Millionen von Menschen aus den Ostgebie- rorszenarien an die Wand gemalt haben, sagen, dass laut ten. Im Osten erlebte man die Ausplünderung der Indus- (B) DIHK Hunderttausende von neuen Jobs – manche spre- (D) trielandschaft. Wer in Europa mag damals, vor 64 Jah- chen sogar von bis zu 1 Million – in Deutschland durch ren, den Worten Schumans von der Vereinigung der die Osterweiterung entstanden sind. europäischen Nationen wirklich Hoffnung geschenkt ha- ben? Aber es geht natürlich nicht nur um Zahlen. An einem Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, so viel oder Tag wie heute sollten wir anerkennen, welche menschli- wenig Hoffnung die Menschen damals hatten: Schumans chen Leistungen hinter diesem Erfolg stecken, wie viel Hoffnung auf Europa ist uns gut bekommen. Wenn wir Kraft, wie viel Mut, wie viel Umstellung, wie viel Neu- heute zurückschauen, dann sehen wir: Nicht nur Schu- ausrichtung – politisch-wirtschaftlich wie im Alltagsle- mans Hoffnung ist zum Leben erwacht, sondern auch die ben der Familien. Hoffnung ganz vieler Europäer auf ein Leben in Freiheit Dieser beharrliche gesellschaftliche Umbau in den und Frieden – für die, die damals nicht daran glauben neuen Mitgliedstaaten von 2004, die politischen Verän- konnten oder nicht daran glauben durften. derungen und auch die Rückschläge: Ich glaube, das ist Nicht einmal 30 Jahre nach Schumans Rede haben für Europa ein ganz unverzichtbarer Erfahrungsschatz, wir diese Hoffnung wieder gesehen: in den Augen der gerade heute, wo es darum geht, Wahlen in der Ukraine friedlichen Revolutionäre auf dem Prager Wenzelsplatz zu ermöglichen und das Land mit den Mitteln, die uns oder den Danziger Werften. Wieder waren es mutige zur Verfügung stehen, auf einen stabilen Weg zurückzu- Menschen, die möglich machten, wovon niemand zu führen. Hier werden wir den Erfahrungsschatz dieser träumen gewagt hätte, die in Leipzig, in Berlin, in Ros- osteuropäischen Länder, die die Umstellungen nach tock oder anderswo stückweise den Eisernen Vorhang 2004 bewältigt haben, ganz dringend brauchen. niederrissen und damit die Wiedervereinigung unseres Kontinents erst möglich machten. Das sage ich, obwohl ich weiß – wir haben erst kürz- lich hier im Hohen Hause darüber debattiert –, dass die- Diese historische Chance hat Europa, haben die Euro- ser zehnte Jahrestag in Europa in verdammt schwierige päer miteinander ergriffen. Heute vor zehn Jahren, am Zeiten fällt. Ich glaube zwar, dass wir den Tiefpunkt der 1. Mai 2004, überwand Europa jene Spaltung, die nicht europäischen wirtschaftlichen Krise überwunden haben, nur unseren Kontinent, sondern auch Millionen von Fa- aber wir spüren ja miteinander, dass die politische Krise miliengeschichten jahrzehntelang geprägt hatte. Hätte im Innersten Europas weiterhin nagt. Das ist das eine. man nach zwei Weltkriegen und nach Jahrzehnten von Noch auffälliger ist aber: In der Außenpolitik sind wir Spaltung und Misstrauen damit eigentlich noch rechnen mit der schwersten Krise seit dem Ende des Kalten Krie- dürfen? Rational vielleicht nicht; doch die Hoffnung be- ges konfrontiert. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2889

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) Das Vertrauen – ebenso wie die Zustimmung – in sel miterlebt hat, der weiß, wie viel institutionelle Arbeit (C) Robert Schuman und seine Visionen hat ohne Zweifel ei- und auch Erneuerungsarbeit hier noch vor uns liegen. nen Dämpfer erlitten – jedenfalls in der Wahrnehmung ganz vieler. Nur – um auf Schuman zurückzukommen –: Er hat vor 64 Jahren gesagt: In diesem Wahljahr 2014 – gerade im Augenblick – werden die großen Problemstellungen der Europäischen Der Friede der Welt Union wie unter einem Brennglas sichtbar: Wie kann – und der in Europa – Europas Wirtschaft wieder wachsen? Wie bekämpfen wir die schockierend hohe Jugendarbeitslosigkeit? Wie kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische An- wird dieses Europa demokratischer und transparenter? strengungen, die der Größe der Bedrohung entspre- Wie sichern wir, dass Europa gerade in einer Phase der chen. außenpolitischen Herausforderungen tatsächlich zusam- Ich glaube, jeder spürt, dass wir jetzt vor enormen An- mensteht? strengungen stehen, um den Frieden zu bewahren und Ich glaube, wir können gerade auch mit Blick auf die die erneute Spaltung Europas zu verhindern. letzten vier Jahre, die uns in diesem Haus unendlich viele und auch kritische Debatten beschert haben, sagen: Gerade deshalb sage ich, dass sich in einer solchen Dieses europäische Haus steht fest und auch fester, als Phase des manchmal rastlosen Krisenmanagements auch viele geglaubt haben. Es hat sogar einigen schweren Un- an einem solchen Tag vielleicht die seltene Gelegenheit wettern getrotzt, auch wenn ich sage: Dieses europäische ergibt, ein paar Sekunden innezuhalten und nachzuden- Haus wird auf Sicht weiterhin eine Baustelle bleiben. ken. Wenn wir das tun und für einen Augenblick auf die- sen Tag von Schumans Rede zurückschauen, dann wis- Nur einmal umgekehrt gefragt: Wie stünde dieses Eu- sen wir miteinander: Die schöpferischen Anstrengungen, ropa heute eigentlich da, wenn wir in der ökonomischen die er verlangt hat, auch von uns heute, sind jeder Mühe Krise nicht zusammengehalten hätten? wert. (Dr. [CDU/CSU]: Vielen Dank. Richtig!) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Wie stünden wir eigentlich da – das müssen wir uns in BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutschland selbstkritisch fragen –, wenn wir dem Rat derjenigen gefolgt wären, die quasi im Wochenabstand vorgeschlagen haben, uns mal eben von dem einen oder Vizepräsidentin : (B) anderen südeuropäischen Land zu trennen? Würden wir Vielen Dank, Frank-Walter Steinmeier. – Guten Mor- (D) heute, da der Frieden in Europa bedroht ist, eigentlich gen von meiner Seite aus, liebe Kolleginnen und Kolle- mit derselben Geschlossenheit auftreten können, wenn gen! – Der nächste Redner in der Debatte ist Wolfgang wir damals dem Rat gefolgt wären und falsch gehandelt Gehrcke für die Linke. hätten? (Beifall bei der LINKEN – Dr. Andreas Heute, da totgeglaubte Geister im Osten Europas wie- Schockenhoff [CDU/CSU]: Ziehen Sie einmal derauferstehen, muss Europa im Innersten zusammen- eine positive Bilanz, Herr Gehrcke! – Manuel stehen. Das gilt auch und gerade für die Beitrittsländer, Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dies- die von uns erwarten können, dass wir in Solidarität zu mal sind es zehn Jahre, nicht zehn Tage!) ihnen stehen. Sie sind nämlich am 1. Mai 2004 einer So- lidargemeinschaft und keiner bloßen Schönwetterunion Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): beigetreten. Dann kann ich mir ja Zeit nehmen. – Frau Präsiden- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem tin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch ich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) denke, man muss zurückblicken, wenn man bestimmen will, was erreicht worden ist, und wenn man feststellen Gemeinschaft heißt aber auch, dass wir nicht einfach will, wo die Defizite liegen. über Herausforderungen hinwegsehen dürfen, wenn es sie gibt, und die gibt es. Wenn etwa in einzelnen Ländern Mein Rückblick beginnt nicht nur wegen des heutigen die Unabhängigkeit der Justiz und die Pressefreiheit ge- Datums am 8. und 9. Mai 1945. Das war der entschei- fährdet sind oder die Korruption nach unserer Wahrneh- dende Punkt: dass mit dem Faschismus in Deutschland mung nicht ausreichend bekämpft wird, dann dürfen wir und mit dem europäischen Faschismus gebrochen wor- eben nicht einfach wegsehen. Hier müssen wir verlangen den ist. Das ist der Ausgangspunkt, an dem klar war: dürfen, dass Arbeiten erledigt werden, die noch nicht er- Dieses Land muss neues Vertrauen erwerben. Das kann ledigt wurden. Wir müssen das auch verlangen, selbst man nur erwerben, indem man kategorisch auch mit der wenn wir wissen, dass das gelegentlich schwerfällt. Wir eigenen Geschichte ins Gericht geht. können aber sagen: Unsere Partner in Osteuropa, die sol- Ich bitte darum, von diesem Ausgangspunkt aus ei- che dringenden Reformen anpacken, können sich unse- nige Dinge zu überlegen. Die einfache Botschaft, die zu rer Unterstützung sicher sein. dem gehören müsste, was der Außenminister hier für un- 28 Mitgliedstaaten, 24 Sprachen in Europa, 500 Mil- ser Land und für Europa vorgetragen hat, heißt für mich: lionen Menschen: Wer einmal einen Ministerrat in Brüs- Nie wieder Krieg und nie wieder Faschismus! Das 2890 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Wolfgang Gehrcke (A) möchte ich in der europäischen Entwicklung durchge- fehlte mir in Ihrer Rede –: Wenn man Spaltungen über- (C) setzt sehen. winden will, dann darf Europa keine Festung werden wollen, sondern dann muss Europa sich der Welt gegen- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- über öffnen. Ich finde es nach wie vor völlig unerträg- neten der SPD und der Abg. Sylvia Kotting- lich, dass Europa sich als Festung gegen andere Teile der Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Welt geriert. Wenn man das will, muss man auch Spaltungen in Eu- Wäre es nicht ein Anlass, Herr Außenminister, einen ropa überwinden, dann muss man eine andere Art und solchen Appell „Spaltung überwinden, Festung Europa Weise der Zusammenarbeit erreichen. abbauen!“ im deutschen Parlament aufzugreifen? Ich Ich bitte sehr darum – das sage ich mit Blick auf die möchte, dass Menschen in Not in dieses Land, nach Eu- Kollegen der CDU-Fraktion –: Lassen Sie uns auch dem ropa kommen können, ohne die Gefahr einer Mittelmeer- Ehrenmal der damaligen Sowjetunion und dem heutigen überquerung auf sich nehmen zu müssen. Russland in unserer Nähe, das an den Akt der Befreiung (Beifall bei der LINKEN) erinnert, diesen Respekt entgegenbringen. Ich bitte Sie sehr: Hände weg von diesem Ehrenmal! Hier geht es Ich möchte, dass soziale Spaltungen durch Umvertei- auch um die Symbolik. lung überwunden werden, und zwar von oben nach un- ten statt umgekehrt. Ich möchte Umverteilung zwischen (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- den Regionen, und ich möchte, dass militärische Spal- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE tungen durch Abrüstung überwunden werden. Dazu ge- GRÜNEN) hört auch, nach wie vor daran zu arbeiten, Militärbünd- Ich sage Ihnen: Die Panzer, die zu diesem Ehrenmal nisse zu überwinden. gehören, waren die Panzer, die Deutschland, das deut- (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sche Volk, vom Faschismus befreit haben. Das anzuer- NEN]: Sagen Sie doch einmal einen positiven kennen, gebietet ein Mindestmaß an Respekt. 27 Millio- Satz!) nen Sowjetbürger sind in diesem Krieg umgekommen – auf verschiedene Art und Weise. 6 Millionen Jüdinnen Abrüstung kann man erreichen, auch heute in Europa. und Juden sind industriell vernichtet worden. Wenn man Ich will Ihnen kurz einen Gedanken von Michael sich diese Zahlen vergegenwärtigt, kommt man zu einer Gorbatschow vortragen. Sie haben vom gemeinsamen Beurteilung, die vielleicht etwas quer zu dem liegt, was Haus Europa gesprochen, ohne den Namen Gorbatschow heute so oft gesagt wird. zu erwähnen. Gorbatschow hat 1988 in einer Rede zum gemeinsamen Haus Europa gesagt: Ich will Ihnen ein kleines Zitat von Arno Lustiger (B) (D) vorlesen, für mich einer der wichtigsten jüdischen Intel- Wir sehen in der Zukunft ein Europa, in dem West lektuellen und Schriftsteller. Er hat in einem Buch – ein und Ost keine Waffen mehr gegeneinander richten, großes Werk –, in dem er Stalin kritisiert, am Ende ge- sondern im Gegenteil einen früher nie dagewesenen schrieben: Nutzen aus dem Austausch von Waren und Werten, Fachkenntnissen, Menschen und Ideen ziehen, die … unerlässlich, der Millionen sowjetischer Solda- es gelernt haben, trotz aller Unterschiede einander ten zu gedenken, die im Kampf gegen Hitler- nicht als Gegner, sondern als Partner zu betrachten. deutschland gefallen sind oder in der Gefangen- schaft ermordet wurden. Ohne ihr Opfer wäre die Gilt das nicht auch heute im Verhältnis dieses Teils Eu- Welt verloren; sie haben uns vor der Herrschaft des ropa zum anderen Teil Europas, nämlich zu Russland mörderischen Nazismus gerettet. und anderen Ländern, diese nicht als Gegner zu betrach- ten? Ich finde, die Panzer dieses Ehrenmals sind Symbole für diese Aussage von Arno Lustiger, von der ich möchte, (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dass wir sie uns selber aneignen. NEN]: Sagen Sie doch einmal noch etwas zur EU-Erweiterung, Herr Gehrcke! Sie reden die Wenn das der Ausgangspunkt ist, dann muss man ganze Zeit über Russland!) auch dazusagen: Das Ziel war, die Spaltung Europas zu überwinden. Meine Einschätzung ist, dass Europa nach All das hat die Osterweiterung der Europäischen wie vor tief gespalten ist, vielleicht sogar tiefer denn je: Union aus meiner Sicht nicht eingebracht. Daran ist zu in Ost und West, sozial gespalten, militärisch tief gespal- arbeiten. ten. Im Gegenteil: Neoliberale Zerstörung in Europa hat Im Verbund mit der Europäischen Union – darüber die soziale Lage schwieriger und teilweise aussichtslos sprachen Sie nicht, Herr Außenminister – kam leider die gemacht. Ich möchte auch im Namen der Linken sagen, NATO. Die Friedensdividende, die möglich gewesen dass wir daran arbeiten, Europa vom Kopf auf die Füße wäre, ist nicht eingebracht worden. Die NATO steht zu stellen. Das würde für mich unter anderem bedeuten, heute an den Grenzen Russlands. All das kann die Spal- wenn man den Gedanken des gemeinsamen Hauses Eu- tung nicht überwinden; es ist vielmehr Ausdruck von ropa weiterverfolgt, heute die Arbeit an einer europäi- Spaltung. schen Verfassung wieder aufzunehmen, Spaltungen müssen überwunden werden, in Europa (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und weltweit. Ich sage das sehr bewusst – auch das NEN]: Gegen die Sie gestimmt haben!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2891

Wolfgang Gehrcke (A) die Friedfertigkeit statt Aufrüstung festschreibt, Antifa- Die Europäische Union ist zu Recht Friedensnobelpreis- (C) schismus für ganz Europa verbindlich vorschreibt und träger des Jahres 2012 geworden, weil es kein vergleich- sich an Abrüstung und sozialer Gerechtigkeit orientiert. bares Friedens- oder Konsolidierungsprojekt in Europa in den letzten Jahrhunderten gegeben hat. Bei allen Ihren Wäre das nicht eine Aufgabe, die dem angemessen Zerrbildern hätten Sie dies ruhig einmal würdigen dür- ist, was hier debattiert worden ist, Europa vom Kopf auf fen. die Füße zu stellen? Sie wissen, dass die Verträge von Lissabon und Maastricht nur unter unendlichen Schwie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- rigkeiten geändert werden können. neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir müssen feststellen, dass mit einer gestärkten Eu- ropäischen Union zugleich das Gesellschaftsmodell Ka- Ich möchte die Aussage unseres Bundesaußenminis- pitalismus in ganz Europa durchgesetzt worden ist. ters unterstreichen, dass das, dessen wir nun gedenken und was am 1. Mai gefeiert wurde, mehr war als eine (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: So- Vergrößerung der Europäischen Union. Bereits der Mau- ziale Marktwirtschaft!) erfall bedeutete das Ende der Spaltung Europas und die Werfen Sie einen Blick in unser Grundgesetz! Es ist vor- friedliche Rückkehr der mittelosteuropäischen Staaten bildlich in dieser Frage. Das Grundgesetz hält die wirt- nach Europa, wohin sie kulturell jahrhundertelang ge- schaftliche und gesellschaftliche Ordnung offen. Um das hörten. Die erste deutsche Universität war die Prager zur Freude der CDU/CSU ein bisschen zugespitzt zu sa- Karls-Universität. Geistesgrößen und Künstler wie gen: Ich bin für eine Revolution mit dem Grundgesetz Kopernikus, Chopin, Jan Hus, Dvořák, Liszt, Celan und statt gegen das Grundgesetz, weil das Grundgesetz eine andere sind ebenso Kinder Mitteleuropas wie Luther, grundlegende wirtschaftliche und gesellschaftliche Um- Melanchthon, Rousseau und wen auch immer wir hier gestaltung möglich macht. Wäre es nicht ein Impuls für aufzählen wollen. Europa, sich eine solche Verfassung zu geben, dass Eu- (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Marx zum ropa umgestaltet werden kann? Beispiel!) (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Wir Das heißt, für die mittelosteuropäischen Staaten mit haben doch eine Verfassung!) jahrhundertelangem Souveränitätsstreben und kurzer zwischenkriegszeitlicher Erfüllung der Träume von Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Ich habe nicht Selbstbestimmung bedeutete die Aufnahme in die politi- den Eindruck, dass Deutschland europäischer, sondern sche Familie Europas die Überwindung dessen, was Mi- dass Europa deutscher geworden ist. (B) lan Kundera als Die Tragödie Mitteleuropas bezeichnet (D) ( [CDU/CSU]: Polen fin- hat. Diese Tragödie besteht darin, dass man kulturell zu det sich in Ihrer Rede wieder, Herr Gehrcke! einem bestimmten Raum gehört, während man politisch Polen wäre stolz auf diese Rede! Halten Sie an einen anderen Raum gekettet ist, dem man sich nicht diese Rede mal in Polen, im Baltikum! Meine zugehörig fühlt. Insoweit ist der Begriff „Osterweite- Güte! Peinlich!) rung“ zu technisch, um zu kennzeichnen, worum es ei- gentlich geht. Es ist das Ende der Teilungsperiode Euro- – Regen Sie sich doch nicht so auf! – Ich wünsche mir pas. Es ist – so dürfen wir vielleicht mit etwas Emphase ein Deutschland, das europäischer wird, in einer Vielfalt, sagen – eine Art kulturelle Familienzusammenführung die zur Einheit führt. Das ist meine politische Zielrich- der europäischen Staaten gewesen. tung. Das ist meine Wertung, und das ist die Herausfor- derung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Herzlichen Dank. Wir sollten im 25. Jahr des Mauerfalls durchaus be- (Beifall bei der LINKEN) kennen, dass die Osterweiterung der Europäischen Union nicht nur logische Folge, sondern auch inhaltliche Vizepräsidentin Claudia Roth: Fortsetzung der friedlichen Revolution im zuvor kom- munistischen Teil Europas war; denn es waren die Vor- Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist denker dieser friedlichen Revolution, die immer den eu- Dr. Christoph Bergner für die CDU/CSU-Fraktion. ropäischen Gedanken hochgehalten haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- Dietmar Nietan [SPD]) ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): Als Deutscher und ehemaliger DDR-Bürger sage ich: Das, was wir als nationales Ereignis, als deutsche Ein- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr heit feiern, können wir mit gutem Recht als die erste Kollege Gehrcke, ich bin mir nicht ganz sicher, ob Sie Etappe der Osterweiterung der EU klassifizieren. angesichts des EU-Bildes, das Sie gezeichnet haben, überhaupt daran gedacht haben, dass Sie über den Frie- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) densnobelpreisträger des Jahres 2012 sprechen. Die Staaten haben ihre zurückgewonnene Souveränität (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja und?) und Freiheit genutzt, um dorthin zurückzukehren, wohin 2892 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Dr. Christoph Bergner (A) sie sich politisch wie kulturell zugehörig fühlten, und ha- unterstützend und kritisch begleiten müssen, aber ich (C) ben mit der zwangsverordneten Brudervolkideologie der wünschte mir manchmal, dass nicht so schnell der schul- staatssozialistischen Ära gebrochen, die im Grunde ge- meisterliche Zeigefinger erhoben wird, wenn es darum nommen ein Herrschaftsinstrument der kommunisti- geht, politische Entwicklungen in den Beitrittsstaaten zu schen Ideologie und des sowjetischen Weltmachtstre- bewerten. bens gewesen ist. Diese Erweiterung war zuallererst eine Ich will ausdrücklich sagen, dass diese Erweiterung Entscheidung der Beitrittsstaaten mit Blick auf ihre poli- auch eine Bereicherung auf unterschiedlichen Gebieten tische Identifikation. für uns gewesen ist. Minister Steinmeier hat Verschiede- Nun sollten wir nicht nur abstrakt darüber sprechen. nes erwähnt. Ich will aus meiner Perspektive noch die Der Bundesaußenminister hat zu Recht auf die wirt- vielfältigere nationalkulturelle Zusammensetzung dieser schaftlichen Erfolge, die sich messen lassen, hingewie- Beitrittsstaaten nennen, die eine neue Dimension der sen. Diese können, gemessen an den Sorgen und Beden- Minderheitenpolitik in Europa aus meiner Sicht zur ken, die gerade in dieser Hinsicht vor zehn Jahren Folge hat, die aber auch neue Chancen der Mehrspra- bestanden, nicht hoch genug geschätzt werden. In chigkeit und der staatenübergreifenden Identitätsbil- Deutschland fürchteten wir Lohndumping und Billig- dung mit sich bringt. konkurrenz sowie eine finanzielle Überforderung der EU Wir können nicht an der Tatsache vorbeigehen, dass in den Agrar- und Strukturfonds, von den Sorgen um ei- das Jahr des Beitritts 2004 nicht zufällig auch das Jahr nen Anstieg der Kriminalität ganz zu schweigen. In den der Orangenen Revolution in der Ukraine war. Wenn da- Beitrittsländern fürchtete man strukturellen Anpassungs- mals das Volk gegen die Wahlfälschung Janukowitschs druck, Abwanderung qualifizierter Kräfte und vieles an- aufstand, so war sicherlich die europäische Inspiration, dere mehr. Gemessen an diesen Befürchtungen können die auch durch den Beitritt der osteuropäischen Staaten wir heute mit gutem Recht von einem Erfolg sprechen. zustande gekommen ist, ein wichtiger Impuls für den Mit Ausnahme Tschechiens ist die Zustimmungsrate Aufstand. Auch wenn die Orangene Revolution aus mei- der Bevölkerung zur EU in den Mitgliedstaaten nirgends ner Sicht rückblickend deprimierende Resultate brachte, so hoch wie in den östlichen Beitrittsländern, und das so sollten wir uns doch darüber klar werden, dass die trotz schwerer Transformationslasten, die man dort tra- Vorbildwirkung der Mitgliedschaft der Beitrittsländer gen musste. Neben den Erfolgen hinsichtlich der wirt- Osteuropas Erwartungen an uns bei Ländern, die weiter schaftlichen Konvergenz sind – unterschiedlich in den im Osten sind, geweckt bzw. verstärkt hat. einzelnen Ländern – unübersehbare Fortschritte bei Ver- Leider reicht meine Zeit nicht mehr für weitere Aus- waltung, Rechtsstaatlichkeit und anderem festzustellen. führungen über ein weiteres wichtiges Thema. Ja, es sind beispielhafte Erfolge erzielt worden, die wir (B) durchaus hervorheben sollten. Dass sich das Handelsvo- (D) lumen im Zuge des Beitritts erhöht hat, war sicher zu er- Vizepräsidentin Claudia Roth: warten, aber dass sich in den Beitrittsstaaten in einem Genau, Herr Kollege. Bitte denken Sie an die Zeit. Maße, wie es in Südeuropa gar nicht der Fall war, ge- samteuropäische Wertschöpfungsketten entwickeln konn- Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): ten und diese Länder in gesamteuropäische Wertschöp- Ich meine den Konflikt zwischen dem Wunsch, euro- fungsketten eingebunden wurden, verdient ebenso eine päisch zu sein, und dem Konzept Russlands der eurasi- würdigende Erwähnung wie die geräuschlose Bewälti- schen Gemeinschaft. Ich will nur kurz anreißen, wo für gung der Finanzkrise, beispielsweise in den baltischen mich die Scheidelinie zwischen der eurasischen Union Staaten, obwohl die Probleme dort durchaus nicht gerin- und der EU liegt. ger waren als andernorts. ( [Havelland] [DIE LINKE]: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Die Zeit ist vorbei!) neten der SPD und der Abg. Annalena Wenn ich an der Ostgrenze der Europäischen Union Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Schilder nach bekanntem Vorbild aufstellen dürfte, Auch wir in den alten Mitgliedstaaten der EU können würde darauf stehen: Sie betreten den hegemoniefreien durchaus eine positive Bilanz ziehen. Wir haben einen Sektor. Zuwachs an Arbeitsplätzen zu verzeichnen, und die (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN) Wirtschaft hat eine Entwicklung genommen, die sie durch die europäische Einbindung krisenfester macht Das genau ist der Punkt, der die Europäische Union aus- und Fortschritt und Wachstum ermöglicht. zeichnet: Keiner der Mitgliedstaaten hat den Anspruch einer hegemonialen Rolle innerhalb der Staatengemein- Wir haben – das hat der deutsche Historiker Karl schaft. Schlögel gesagt – eine Verschiebung des Mittelpunkts Europas in den letzten zehn Jahren erlebt. Der Puls des (Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]: politischen Europas schlägt nicht nur in Berlin und Paris, Irrtum!) sondern auch in Warschau, Prag, Tallinn und Budapest. Keiner der Mitgliedstaaten weigert sich, schwierige Me- Ich bin nicht sicher, ob im öffentlichen Bewusstsein und chanismen mitzutragen, die sich gegen hegemoniales in den Institutionen in Brüssel und Straßburg diese Mit- Denken wenden. telpunktverschiebung schon hinreichend wahrgenom- men wurde. Ich weiß, dass wir gerade wegen ausstehen- (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: So ein der Transformationsleistungen den Integrationsprozess Unsinn!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2893

Dr. Christoph Bergner (A) Dies unterscheidet dieses Staatenbündnis von dem, das auf das Jahr 1914 ist. Wie das Jahr 1914 im Westen mit (C) im Osten konzipiert wird und das von der Geburtsstunde der Schuman-Erklärung, die der Herr Minister zitiert hat, der Idee an einen hegemonialen Gedanken in sich trägt. in gewisser Hinsicht überwunden worden ist, so ist das im Osten mit dem 1. Mai 2004 geschehen. Das sollten (Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: So ist es!) wir uns vor Augen halten. Wenn uns die Werte der Europäischen Union wichtig Ich war im Sommer 2003 über einen Schulaustausch sind – auf sie ist unsere Hegemonieverweigerung zu- in einer Schule in Stettin und habe Wahllokale gesehen. rückzuführen –, Ich weiß noch, wie die Menschen dort hineinströmten. (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Unsinn!) Die Wahlbeteiligung damals hat alles übertroffen, was man für möglich gehalten hatte. Ich bin viele Jahre lang dann sollten wir den Unterschied zwischen beiden Bünd- mit dem Nachtzug von Deutschland nach Polen gefah- nisstrukturen in den schwierigen Debatten, die wir jetzt ren. Am Anfang war es so, dass ich nachts viermal ge- mit Russland zu bestehen haben, nicht gering schätzen; weckt wurde. Irgendwann wurde ich nur noch zweimal vielmehr sollten wir den Freiheitswillen des ukraini- nachts geweckt, weil sich die Grenzer abgesprochen hat- schen Volkes ernst nehmen. ten. Heute geht man in Görlitz über die Brücke nach Vielen Dank. Polen, und es ist gar nichts Besonderes, es ist etwas Nor- males. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. [] [BÜND- Ich möchte aber auch sagen: Ich reise auch über die NIS 90/DIE GRÜNEN]) Grenze zwischen Polen und der Ukraine. Da ist es im- mer noch nichts Besonderes, wenn man stundenlang mit ukrainischen Omas in einem Warteraum steht und war- Vizepräsidentin Claudia Roth: ten muss. Es ist nicht so, dass Europa an der neuen Ost- Danke, Herr Kollege. – Nächster Redner ist für Bünd- grenze der Europäischen Union aufhört. nis 90/Die Grünen Manuel Sarrazin. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): SES 90/DIE GRÜNEN) Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf eine Stadt wie Lemberg oder auf die Ukraine be- Als Bilanz der Erweiterung der Europäischen Union von zieht sich der Wertekanon Europas genauso wie auf die 2004 kann man sagen: Nichts wäre besser ohne die Er- Staaten der EU-Osterweiterung. weiterung, sondern alles wäre schlechter ohne sie. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD) (D) bei der CDU/CSU und der SPD) Wir müssen, wenn wir über die Geschichte reden, Ich glaube, die Erweiterungsrunde ist einer der größ- auch über die Enttäuschungen reden, die nach dem Mai ten Schritte der Menschheit im 20. Jahrhundert gewesen, 1945 in vielen Staaten entstanden sind, über die Enttäu- also am Ende dieses Jahrhunderts. Wenn ich auf meine schungen, die von Jalta, Teheran und Potsdam ausgin- persönlichen Erfahrungen damit, über Grenzen zu ost- gen, aber auch über das Nichteinhalten der von Stalin europäischen Staaten zu reisen, zurückblicke, dann ist damals in Potsdam gegebenen Zusage der Schaffung von für mich das Schönste, dass es so normal ist. Wie normal Demokratie und von Rechten zur freien Entscheidung in es heutzutage ist, dass wir zusammengehören, das ist das den osteuropäischen Staaten. Wenn wir am 9. Mai da- Schönste. Dass es so normal ist, ist das Besondere. Dass rüber reden, dürfen wir nicht vergessen, dass diese Er- es so normal ist, wie es immer hätte sein sollen, dass das weiterung auch eine Antwort auf die Enttäuschungen der etwas Besonderes ist, das müssen wir uns vor Augen Zentraleuropäer nach dem Kriegsende ist. halten. (Zuruf des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, LINKE]) bei der CDU/CSU und der SPD) Wir haben auch Misserfolge; ich möchte sie unbe- Wir haben eine gesellschaftliche, eine politische, eine dingt benennen. Das, was wir uns mit der Erweiterung ökonomische und übrigens auch eine ökologische Trans- auf Zypern erhofft haben, ist nicht eingetreten. Dass wir formation in diesen Staaten gesehen, die bemerkenswert jetzt, zehn Jahre später, in einer Situation sind, in der ist, die Ausdruck einer Erfolgsbilanz ist. Wir haben auch man sich Hoffnung machen kann, dass es doch zu einer für diejenigen, die Verlierer dieser Transformation sind, Wiedervereinigung der Insel kommt, ist schön, aber ei- durch die Erweiterung der Europäischen Union und gentlich war die Idee, mit der Kraft der Erweiterung durch deren Mittel bessere Effekte, als wir ohne die Eu- auch Zypern einen dauerhaften Frieden zu bringen. Da- ropäische Union hätten; schließlich engagiert sich die ran müssen wir weiter arbeiten. Europäische Union in den entsprechenden Ländern sehr Ich glaube, wir müssen uns einer Sache bewusst sein: stark im Bereich Soziales, setzt aber auch Standards. Die unglaubliche Transformationskraft, die Europa aus- Wenn man die persönlichen Erfahrungen vieler Men- strahlen konnte, konnte nur freigesetzt werden, weil schen zusammen betrachtet, dann erkennt man, dass 1993 in Kopenhagen der Mut und der Wille bestand, diese Erweiterung eine Antwort auf den August 1939, eine Perspektive zu einem Beitritt zur Europäischen auf den Mai 1945, auf das ganze Jahr 1945, aber auch Union auszusprechen. Wir reden heute über die Ukraine 2894 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Manuel Sarrazin (A) und sehen, was für gewaltige Transformationsherausfor- chen Grundlagen für die Attraktivität der Europäischen (C) derungen dort anstehen. Wir wollen die Transformation Union ist. nicht nur im Wirtschaftsbereich in Form einer Freihan- delszone, sondern auch eine politische Transformation, Ich möchte in keiner anderen Europäischen Union le- die das Land verändert, demokratisiert und freiheitlicher ben als in der erweiterten, und ich möchte auch in keiner macht. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir diese anderen Europäischen Union leben als in der, die weiter- Transformationsherausforderung nur mit einem ähnli- hin Mut hat, über kommende Erweiterungen zu reden chen Akt von Mut wie 1993 in Kopenhagen erreichen und an diesen kraftvoll zu arbeiten. Man kann es nach werden. Deswegen sagen die Grünen in ihrem Europa- Goethe, Faust II, vielleicht so formulieren: Europa ist wahlprogramm klar: Die Ukraine braucht eine Beitritts- glücklich, solang es strebt. – Also sollten wir uns noch perspektive zur Europäischen Union. etwas auf dem Zettel behalten und nicht vorschnell auf- hören. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Danke. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Die symbolische Erklärung, dass man zu einem Zeit- bei der CDU/CSU und der SPD) punkt, der später liegt, will, dass jemand dazugehört, wenn er selber möchte, hat Kraft. Das hat Kopenhagen gezeigt. 1993 wirkte sehr fern, was 2004 geschehen Vizepräsidentin Claudia Roth: würde; das dürfen wir nicht vergessen. Danke, Herr Kollege. – Nächster Redner: Maik Beermann für die CDU/CSU-Fraktion. Diese Erweiterung hat vieles geschafft. Auch der deutsche Erfolg, auch die deutsche Widerstandsfähigkeit (Beifall bei der CDU/CSU) in der Euro-Krise ist meiner Ansicht nach nicht zu ver- stehen ohne die Erweiterung. Vieles von dem, was heute Maik Beermann (CDU/CSU): für uns selbstverständlich ist, hat damit zu tun. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Aber auch wenn es so schön normal ist, müssen wir Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! uns dessen bewusst sein, dass es viel zu tun gibt. Wir ha- Verehrter Kollege Gehrcke von der Fraktion Die Linke, ben die Aufgabe, die Transformation weiterzutreiben, wir wollen in Europa nicht nur keinen Faschismus, wir dort, wo es Rückschritte gibt bei europäischen Werten, wollen in Europa auch keinen Kommunismus. Auch das bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, darauf hinzu- gehört zur Wahrheit. weisen; da hat Herr Steinmeier recht. Wir haben die Auf- (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das musste (B) gabe, die nächsten Schritte in der wirtschaftlichen, in der ja mal gesagt werden!) (D) gesellschaftlichen Entwicklung zu begleiten und zu ge- hen. Wir haben die Aufgabe, nicht aufzuhören in dem Die Einheit Europas war ein Traum weniger. Sie Bemühen, einander immer besser zu verstehen. Und wir wurde eine Hoffnung für viele, und sie ist heute eine haben die Aufgabe, Europa zusammenzuhalten, jetzt in Notwendigkeit für alle. Diese Notwendigkeit hatte der der Debatte um die Ukraine die EU-28 zusammenzuhal- damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer in seiner Re- ten, nicht zu einer Auseinandersetzung zwischen dem al- gierungserklärung 1954 im Plenum des Deutschen Bun- ten und neuen Europa zu kommen, wie das vor einigen destages für die Einheit Europas skizziert. 50 Jahre spä- Jahren der Fall war, und vor dem Hintergrund der Krise ter – in der Nacht zum 1. Mai 2004 – war Europa in und der notwendigen Vertiefung der wirtschaftlichen Zu- Feierlaune. Um Mitternacht wurden die Feuerwerke ge- sammenarbeit in der Euro-Zone am Ende nicht die Er- zündet. Der Himmel leuchtete in bunten Farben, und die weiterung von 2004 zu riskieren, weil man Staaten, die Menschen reichten sich auf der Oderbrücke zwischen auf dem Weg Richtung Euro sind, aussperrt und nur den Frankfurt (Oder) und Slubice die Hände – und mit ihnen kleinen Zirkel der Staaten der Euro-Zone zum Kern er- zwei lang getrennte Hälften unseres Kontinents. klärt. Auch in Tschechien, in der Slowakei oder in Ungarn Fazit: Die Erweiterung ist das erfolgreiche Transfor- zogen die Menschen in dieser Nacht in das Haus der Eu- mationsmodell der Europäischen Union. Sie muss dau- ropäischen Union ein. Die feierliche Begrüßung der ernd besser gemacht werden. Es muss immer dazuge- zehn neuen Mitglieder der Europäischen Union besie- lernt werden, aber nichts kann das schmälern, was gelte das Ende der Spaltung Europas in Ost und West. erreicht ist. Die Erweiterung von 2004 ist historische Die Erinnerung daran macht uns auch heute noch Mut. Gerechtigkeit und nicht Provokation gewesen. Das war nicht etwa das Verdienst der Politik, es war die Errungenschaft derjenigen Menschen im Osten und im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Westen, die sich nicht von ihrem Wunsch abbringen lie- und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- ßen, gemeinsam in Freiheit und in Frieden zu leben. ten der SPD) Gerade die Menschen in den zehn Beitrittsländern Ich glaube, Europa ist noch nicht fertig. Wenn wir in haben die Leidenschaft und den Mut aufgebracht, ihr unserer Nachbarschaft Erfolg haben wollen als Soft politisches System, die Wirtschaft und das Alltagsleben Power – als Soft Power, nicht als Hard Power oder als umzuwälzen. Dabei haben sie schwere Einschnitte hin- Militär –, dann werden wir das nur schaffen, wenn wir genommen. Das, meine lieben Kolleginnen und Kolle- beachten, dass die Erweiterung eine der ganz wesentli- gen, verdient unseren Respekt. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2895

Maik Beermann (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- vor dem haben, was sich an ihren Grenzen ereignet. Des- (C) neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) halb ist es für mich auch absolut unverständlich, wie Sie, meine Damen und Herren von der Fraktion Die Linke, Es gab Gewinner, es gab aber auch Verlierer und sich in der Ukraine-Frage verhalten. Sie unterstützen hier Rückschläge. Dennoch: Fehler, die gemacht wurden, mit Ihrer kruden Argumentation ein außenpolitisches Ge- sind für ganz Europa ein unverzichtbarer Erfahrungs- baren Russlands, das definitiv nicht ins 21. Jahrhundert schatz. Er kann für die Bewältigung der noch vor uns lie- gehört, sondern finsterer Imperialismus von vorgestern genden Herausforderungen Ansporn sein. Auch deshalb ist. ist der Beitritt dieser zehn Mitglieder eine Bereicherung für unsere Europäische Union. (Beifall bei der CDU/CSU) Bei aller Anerkennung für das Erreichte ist der Gipfel Ein Spruch des bekannten Dichters Wilhelm Busch, des Erfolges noch lange nicht erreicht. Manchmal denke der in meinem Wahlkreis, in Wiedensahl, geboren ist, ich, wir stehen vielleicht sogar noch am Fuße des Ber- lautet: ges. Bei Ländern wie Ungarn, wo es Defizite in der Toleranz ist gut, aber nicht gegenüber den Intole- Wirtschaft bzw. im Staatshaushalt gibt, oder Litauen, das ranten. mit der Abwanderung von vielen jungen und gutausge- bildeten Menschen zu kämpfen hat, muss man schon mal Daher lautet meine Botschaft an Präsident Putin: Wir etwas genauer hinschauen. sind gesprächsbereit. Wir wollen eine friedliche Lösung unter Berücksichtigung aller Interessen. Wir stehen aber Sehe ich mir aber die Tschechische Republik an, sehe auch zu unseren Überzeugungen und den Stärken unse- ich ein Land, das den Übergang von der Plan- zur Markt- res Europas: Frieden, Freiheit, Meinungsfreiheit, Reli- wirtschaft relativ reibungslos geschafft hat. gionsfreiheit und freie Wahlen. Das Referendum zur Ab- Sehe ich mir Estland an, dann sehe ich ein Land, das spaltung der Ostukraine am Sonntag zu verschieben, ist mitten in der Wirtschaftskrise 2011 den Euro als Wäh- schon einmal ein hilfreicher Schritt, dem Herr Putin aber rung eingeführt hat. Das war ein deutliches Signal. auch Taten folgen lassen muss. Für diese Taten hat er nur Estland erfüllte die Beitrittsbedingungen mit einem an- noch wenige Tage Zeit. Unsere Bundeskanzlerin hat nähernd ausgeglichenen Staatshaushalt und geringen öf- mein höchstes Vertrauen, wenn für sie das gemeinsame fentlichen Schulden. Ziel einer diplomatischen Konfliktlösung in der Ukraine die höchste Priorität hat. Wenn diese beachtliche Heraus- Sehe ich Polen, das größte und wichtigste Beitritts- forderung jemand meistert, dann ist das unsere Bundes- land von 2004, sehe ich ein Land, das als einziges der kanzlerin Angela Merkel. zehn Beitrittsländer auch in der Krise ein positives (B) Wachstum hatte und zusätzlich politische Stabilisierung (Beifall bei der CDU/CSU) (D) und gesellschaftlichen Aufbruch erreichte. Auch unserem Bundesaußenminister zolle ich meinen Wenn ich all diese kleinen und auch größeren Erfolge Respekt für die unermüdliche Arbeit. Er hat Recht mit in der EU betrachte, sehe ich, dass wir eben doch nicht dem, was er am Mittwoch hier in der Aktuellen Stunde erst am Fuße des Berges stehen. Wir sind schon ein gan- im Deutschen Bundestag gesagt hat. Eine diplomatische zes Stück dem Gipfelkreuz entgegengewandert, liebe Lösung in der Vergangenheit und auch heute sei das er- Kolleginnen und Kollegen. Unsere Europäische Union klärte Ziel. Eine Aufgabe dieses Ziels sei definitiv keine gilt daher weltweit als einzigartige wirtschaftliche und Option. Herr Steinmeier, vielen Dank dafür. politische Erfolgsgeschichte eines freiwilligen Zusam- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) menschlusses von nationalen Staaten. Für Beitrittskandi- daten wie die Türkei ist es daher eben nicht ausreichend, Wir können nur glaubwürdig sein, wenn wir für un- nur die wirtschaftlichen Voraussetzungen zu erfüllen. sere Werte einstehen und deren Verletzung im Inneren Auch die politischen Kriterien – wie demokratische und ahnden. Wir können gestärkt – davon bin ich überzeugt – rechtsstaatliche Ordnung, die Wahrung der Menschen- aus der gegenwärtigen Krise herausgehen, wenn Europa rechte sowie die Achtung und der Schutz von Minder- zusammenhält. Was heute unverändert als Auftrag an die heiten – müssen dort garantiert werden. Europäer und an uns Politiker zu verstehen ist, brachte Adenauer 1967 bei seiner vorletzten Rede, die er in Ma- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) drid hielt, kurz und prägnant, wie es seine Art war, auf Lassen Sie mich bitte noch etwas zur Krise in der den Punkt: Europa muss geschaffen werden. – Das ist Ukraine sagen. Gerade in den letzten Wochen, in denen auch heute noch so. sich die Ukraine und Russland am Rande von Bürger- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin nicht nur krieg und Krieg bewegten, wurde deutlich, wie existen- Deutscher, sondern auch Europäer. Wir alle, die wir hier ziell wichtig die Osterweiterung für die Europäische sitzen, sind Europäer. Das bis heute geschaffene Europa Union war. Wären Polen und Tschechien nicht stabile ist doch mittlerweile allgegenwärtig. Es gibt überall Be- EU-Mitglieder und verlässliche Partner in der NATO, rührungspunkte, von der großen Metropole bis hin zu wären ähnliche Krisen und Konflikte heute auch in die- meinem kleinen 450-Seelen-Heimatort Wendenborstel sen Ländern durchaus möglich – direkt an unserer im Wahlkreis Nienburg-Schaumburg. Grenze. Umso mehr Verständnis sollten wir für unsere Partner in Warschau und Prag, Tallinn, Riga und Vilnius (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zeigen, die angesichts der Ukraine-Krise schlicht Angst NEN]: Wie bitte?) 2896 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Maik Beermann (A) Das größte Glück und höchste Gut sind nicht an erster (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- (C) Stelle die offenen Grenzen, die Freihandelszone und die NIS 90/DIE GRÜNEN) gemeinsame Währung, sondern der seit fast 70 Jahren andauernde Frieden. Die Entwicklungen fallen allerdings durchaus unter- schiedlich aus. Ich will zum Beispiel daran erinnern, Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. dass in Litauen die Auswanderungsrate extrem hoch ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sie ist dort höher als in jedem anderen europäischen neten der SPD) Land. Ich möchte auch an die Umfragezahlen in den Ländern selbst erinnern: Während 2004 noch 32 Prozent gesagt haben, dass sie kein Vertrauen in die Europäische Vizepräsidentin Claudia Roth: Union haben, ist dieser Wert inzwischen auf 47 Prozent Lieber Herr Kollege, das ganze Haus gratuliert Ihnen angestiegen. In Zypern ist er sogar von 17 auf 57 Prozent zu Ihrer ersten Rede. angestiegen. Das ist natürlich keine Erfolgsbilanz. Ich kann die Zyprer allerdings sehr gut verstehen. (Beifall) Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Arbeit hier im Wir müssen uns fragen: Wohin will die Europäische Bundestag. Es ist gar nicht so schlecht, wenn Sie Union? Wie ist das Verhältnis zu Russland? Diese Fra- Wilhelm Busch als Begleiter dabeihaben. – Sie, Herr gen stellen sich angesichts der Entwicklung in der Sarrazin, haben gerade gelacht, als Kollege Beermann Ukraine natürlich. Folgendes dürfen wir dabei nicht ver- gesagt hat, wo er herkommt. Da gibt es jetzt wunderba- gessen: Der Ausgangspunkt der jetzigen Krise ist die ren Spargel. Nichtunterzeichnung des EU-Ukraine-Assoziierungsab- kommens vom November 2013. Ich hatte im Dezember Wenn die Gratulationscour beendet ist, kann sich letzten Jahres die Gelegenheit, den Erweiterungskom- schon einmal Andrej Hunko für die Linke bereithalten. missar Füle zu fragen: Was haben wir von europäischer Seite eigentlich falsch gemacht? Die Antwort war sehr (Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Da haben ausführlich. Er hat zwei Kernpunkte genannt: Wir haben wir nichts zu gratulieren!) zu viele Bedingungen gestellt, und wir haben zu wenig – Schauen wir einmal. – Herr Hunko für die Linke, bitte. mit Russland gesprochen. Das ist der Unterschied zu 2004, als zum Beispiel sehr intensiv über die Frage der (Beifall bei der LINKEN) russischen Minderheiten im Baltikum gesprochen wurde. Es muss also viel mehr Kommunikation stattfinden. Andrej Hunko (DIE LINKE): Diese hat aber bisher leider nicht stattgefunden. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn (B) Seitens der EU hat es einen zweifachen Tabubruch im (D) wir heute über 10 Jahre EU-Osterweiterung reden, Hinblick auf die Ukraine gegeben. Erstens wurde eine mischt sich – da bin ich Herrn Steinmeier für seine Rede Regierung anerkannt und mit ihr kooperiert, deren Legi- durchaus dankbar – auch Nachdenklichkeit in die Bi- timität zumindest umstritten ist. Zweitens sind an dieser lanz. Es ist keine Jubelveranstaltung. Ich glaube, der Regierung Faschisten beteiligt. Herr Steinmeier sprach Grund ist ganz einfach, dass an den Ostgrenzen der Eu- von tot geglaubten Geistern. Leider sitzen diese in der ropäischen Union, in der Ukraine eine sehr besorgniser- Regierung in der Ukraine. Das darf nicht sein. Es darf in regende Entwicklung stattfindet. Diese Nachdenklich- Europa keine Kooperation mit Faschisten geben. keit ist notwendig. Ich glaube, wir müssen uns auch einmal fragen, was eigentlich das strategische Ziel, das (Beifall bei der LINKEN) Endziel der EU-Osterweiterung ist. Nach dem Massaker vom 2. Mai 2014 in Odessa ist es Herr Sarrazin, Sie sagten, die EU sei glücklich, so- wichtig, daran zu erinnern, dass am 2. Mai 1933 hier in lange sie strebe. Aber wohin strebt sie am Ende? Sollen Deutschland die Gewerkschaftshäuser von Nazis gestürmt eigentlich alle europäischen Staaten – die Ukraine, Ge- wurden. Auch in Odessa wurde nun ein Gewerkschafts- orgien, Moldawien – bis auf Russland irgendwann Mit- haus angezündet. Das Ganze wurde von der Regierung in glied der Europäischen Union sein? Oder soll Russland der Ukraine toleriert. Das ist völlig inakzeptabel. auch irgendwann Mitglied werden? Oder soll es einen gemeinsamen Raum geben? All das sind Fragen, die sich (Beifall bei der LINKEN) in diesen Tagen natürlich sehr eindringlich stellen. Wir brauchen angesichts der aktuellen Konflikte ge- Ich will zunächst auf die Bilanz der Entwicklung in rade in diesen Tagen Lösungs- und Deeskalationsstrate- den zehn neuen Mitgliedstaaten der Europäischen Union gien. Diese sind notwendig, um eine grundsätzliche De- eingehen. Meine eigene Einschätzung dazu ist gemischt. batte über eine Neuausrichtung der EU-Ostpolitik zu Ich sehe durchaus Erfolge. Zum Beispiel ist das durch- führen, die auf Kooperation – auch auf Kooperation mit schnittliche BIP pro Einwohner in diesen Ländern von Nicht-EU-Mitgliedstaaten wie zum Beispiel Russland – 65 auf 76 Prozent des Durchschnitts-BIPs in der Euro- und nicht auf Konfrontation setzt. Wir brauchen ein Ver- päischen Union angestiegen. Es hat also durchaus eine ständnis von europäischer Integration als Teil einer inter- Angleichung gegeben. Dies werte ich positiv; denn es nationalen Zusammenarbeit und nicht als Blockbildung kommt schließlich darauf an, die Spaltung in mehrerlei gegen andere Teile der Welt, seien es Russland, Afrika, Hinsicht zu überwinden, und zwar sowohl die soziale Indien oder China. Die europäische Integration muss Spaltung als auch die in Ost und West. Teil internationaler Kooperation werden. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2897

Andrej Hunko (A) Als Letztes will ich sagen: Es wird in Europa nur nen. Für mich liegt hier der politische Kernauftrag an (C) dann Frieden geben – Herr Sarrazin, auch Donezk und mich als Europapolitikerin. Odessa gehören zu Europa –, wenn es eine Kooperation mit Russland gibt. Wenn wir gegen Russland arbeiten, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) wird es keinen Frieden in Europa geben. Selbstbewusst und im Rückblick auch stolz auf diese Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Erfolgsstory, die wir heute erzählen können, müssen wir die europäische Diskurshoheit zurückerobern. Wir müs- (Beifall bei der LINKEN) sen der Idee von Europa, seiner kulturellen Vielfalt und dem Konzept einer transnationalen Gemeinschaft wieder Vizepräsidentin Claudia Roth: mehr Substanz verleihen. Um die europäische Einheit zu Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin in der stärken, können und dürfen wir uns nicht mit Neolibera- Debatte ist Dr. Dorothee Schlegel für die SPD. lismus, Renationalisierung und populistischen Vorurtei- len abfinden. Es geht, wie gestern ausführlich erörtert, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten um ein soziales Europa. Es geht um die Wettbewerbsfä- der CDU/CSU) higkeit der Wirtschaft. Wir sollten Europa auch als kul- turelles Projekt begreifen. Es geht um nichts weniger als Dr. Dorothee Schlegel (SPD): um Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Chancengleichheit, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Freizügigkeit, Daten- und Minderheitenschutz. Es geht Die Nacht vor der größten Erweiterung in der Ge- um soziale Sicherung, um Bildung und um gelebte Tole- schichte der EU verbrachte ich in einem Reisebus auf ranz. dem Rückweg von Polen nach Deutschland. Ich kam zu- Wir brauchen daher transparente Regularien und eine rück von einer Vortragsreise an der Universität Rzeszów breite Informationsbasis, damit die Menschen das Ge- in Ostpolen. Ich wünschte mir, dass unser Bus möglichst bilde EU verstehen und verinnerlichen können; denn im- gegen Mitternacht an der Grenze sein sollte, um diesen mer mehr grundlegende Entscheidungen werden auf eu- historischen Moment direkt am Grenzübergang zu erle- ropäischer Ebene getroffen. ben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Goethe zitieren; auch Kollege Sarrazin tat dies. Goethe NEN]: Um Joschka zu treffen!) skizzierte 1828 die Vision, dass Deutschland eins werde, Kurz vor der Grenze sah ich viele Menschen mit Leucht- dass das Geld gleichen Wert habe, ebenso die Gewichte raketen in ihren Gärten sitzen. Das Feiern ist vorhin auch und die Maße; der Pass zeichne einen Reisenden, dessen schon angesprochen worden. Ich habe diese Situation Koffer ungeöffnet die Grenzen passiere, nicht mehr als (B) (D) – auch wenn wir zu meinem Bedauern eine halbe Stunde Ausländer aus. Ein solches Land – hier denke ich vor zwölf die Noch-nicht-EU-Grenze passierten – daher 200 Jahre weiter und an Europa – braucht viele Mittel- in bester persönlicher Erinnerung. punkte. Darauf hat Herr Dr. Bergner bereits hingewie- sen. Eine solche europäische Einheit lebt von der Souve- Die EU-Osterweiterung von 2004, die wir heute wür- ränität der Länder. Wenn es Goethe damals nicht bange digen, kommt in diesem Jahr, in dem sich der Beginn des war vor der Einheit Deutschlands, dann sei uns nicht Ersten Weltkriegs zum 100. Mal und der Beginn des bange vor der Einheit Europas. Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal jährt, zumindest an Jahren eher bescheiden daher. Aber sie erzählt eine euro- Herzlichen Dank. päische Erfolgsgeschichte. Dieses zehnjährige Jubiläum geht Hand in Hand mit dem Fall des Eisernen Vorhangs (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem vor 25 Jahren, dem Ende der jahrzehntelangen Spaltung BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) unseres Kontinents. Vizepräsidentin Claudia Roth: war es übrigens, der die deutsche Wie- Vielen Dank, Frau Kollegin. Liebe Frau Dr. Dorothee dervereinigung als erste Osterweiterung bezeichnet hat. Schlegel, das ganze Haus gratuliert Ihnen sehr zu Ihrer Meine Generation und die Generationen nach mir wur- ersten Rede hier im Deutschen Bundestag. den im europäischen Frieden geboren. Diesen Frieden verdanken wir der Idee und dem System Europa, das seit (Beifall) fast 70 Jahren kriegsverhindernd wirkt. Für viele Men- schen heute scheint Europa diesen Impetus verloren zu Viel Erfolg für Sie als Europapolitikerin bei der sehr haben. Die Zahl der Euroskeptiker wächst vor der Euro- wichtigen Aufgabe, ein Mehr an Europa auch von pawahl. In einer Umfrage für den jüngsten ARD- Deutschland aus durchzusetzen! DeutschlandTrend gaben 64 Prozent der Befragten an, Wir warten, bis die Gratulationscour beendet ist. – sich wenig oder gar nicht für die Wahl am 25. Mai zu in- Heißt das „Cour“? teressieren. Viele Menschen lehnen das „sanfte Monster Brüssel“, so Hans Magnus Enzensberger, zunehmend ab. (Axel Schäfer [] [SPD]: Ja, genau, so Es ist an der Zeit, diese Zweifel in der Bevölkerung ernst heißt es!) zu nehmen und diesen Strömungen ein europäisches – Warum eigentlich? Narrativ entgegenzusetzen. Es ist auch an der Zeit, die Identifikation mit der europäischen Idee und vor allem (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mit ihrer friedenssichernden Bedeutung zurückzugewin- NEN]: Es heißt „Kür“, nicht „Kur“!) 2898 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) – „Gratulationskür“? Nicht „-kur“! „Kur“ ist etwas ande- Und hier komme ich auf Ihre Frage zurück, Herr Kol- (C) res. lege Hunko: Wem steht denn das Haus Europa offen? Das Haus Europa – da haben wir uns in den Verträgen (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Europäischen Union festgelegt – steht allen europäi- NEN]: Wir haben Sie ja auch zu unserer Präsi- schen Staaten offen. Der Wert Europas ist eben, dass dentin erkoren! – Heiterkeit) man nicht sagen kann: Nein, das eine Land gefällt uns – Vielen herzlichen Dank. Jetzt werde ich ganz rot. jetzt nicht mehr; wir wollen es nicht mehr aufnehmen. – Das Haus Europa steht mindestens allen 46 europäischen Annalena Baerbock ist die nächste Rednerin für Staaten des Europarates offen. Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und NEN): der SPD) Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Frau Bei all den Feierlichkeiten, die wir momentan bege- Präsidentin! Nach den ganzen Zitaten von Schuman und hen, sollten wir aus meiner Sicht nicht nur darüber nach- Goethe werfe ich jetzt auch noch ein Zitat in die Runde. denken, was etwa bei der letzten Osterweiterung auch Vaclav Havel hat 1991 bei der Verleihung des Karlsprei- schiefgelaufen ist, sondern auch darüber, was nach der ses in Aachen gesagt, dass es eine „sehr wichtige Tatsa- ersten Osterweiterung hier bei uns in Deutschland che“ sei, schiefgelaufen ist. Wir haben das Thema gestern in der … daß keine zukünftige europäische Ordnung ohne Debatte am Rande angekratzt, aber ich möchte es gerade die europäischen Völker der Sowjetunion denkbar hier in diesem Moment noch einmal benennen: Wir müs- ist, die ein unteilbarer Bestandteil Europas sind … sen uns auch damit auseinandersetzen, dass ausgerech- Ihr Weg zur Freiheit, Demokratie und einer funktio- net das wirtschaftlich stärkste und größte Land Europas nierenden Wirtschaft ist, wie wir wissen, besonders sieben Jahre gebraucht hat, bis es den Menschen umfas- kompliziert. Das darf aber nicht Grund dafür sein, sende Freizügigkeit gewährte, also nicht nur Reisefrei- daß wir der Einfachheit halber aufhören, uns für das zügigkeit, sondern auch die Freizügigkeit, in der ganzen Schicksal unserer östlichen Nachbarn zu interessie- Europäischen Union zu arbeiten. Leider hatte gerade die ren. Ganz im Gegenteil: es gibt allen Grund, uns be- deutsche Politik nach 2004 nicht den Mut – sondern sie sonders dafür zu interessieren. hat es sich einfach gemacht und sich vor Populismen weggeduckt – und hat gesagt: Wir sind neben Österreich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) das einzige Land, das weiterhin die Arbeitnehmerfreizü- (B) Wir haben es dem Mut unserer europäischen Politiker gigkeit beschränkt. – Das ist kein Ruhmesblatt, darauf (D) zu verdanken, dass 13 Jahre nach diesen Worten von Ha- können wir nicht besonders stolz sein. vel die mittel- und osteuropäischen Staaten und die balti- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schen Staaten der Europäischen Union beitraten, dass wir diesen Gänsehautmoment gemeinsam feiern konn- Mit dieser Wagenburgmentalität haben wir uns selbst ten. Auch ich war seinerzeit in Frankfurt/Oder auf der ins Knie geschossen. Brücke, auf der damals noch Grenzkontrollen stattfan- den und die man heute einfach überquert. In Frankfurt/ (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Leider wahr!) Oder und in Slubice diskutiert man heute darüber, wann endlich eine gemeinsame Straßenbahn über die Brücke Durch das Ausreizen der Ausnahmeregelungen bei der fährt. Das sind die kleinen Wunder dieser Europäischen Arbeitnehmerfreizügigkeit haben wir in Grenzregionen Union, die wir niemals vergessen sollten. nicht nur den Fachkräftemangel, sondern auch die Schwarzarbeit befördert. Dann hat es eben nichts mehr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geholfen, dass 2011, also sieben Jahre nach der Ost- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und erweiterung, Regionen wie Bayern im Internet darum der SPD) geworben haben, dass Fachkräfte aus Polen und der Slo- Es ist aber auch die harte Realität unserer gemeinsa- wakei, aus Tschechien und Ungarn zu uns kommen; men Europäischen Union, dass uns wiederum zehn Jahre denn diese Fachkräfte waren vorher schon nach Man- später – zehn Jahre nach der Osterweiterung – der Satz chester oder Uppsala gegangen und eben nicht nach von Havel, nach dem wir es uns nicht einfach machen Brandenburg, nach Thüringen oder nach Bayern. dürfen, angesichts der Auseinandersetzungen in der Ich sage das heute so eindringlich, weil es schon mehr Ukraine spürbar in Erinnerung gerufen wird. Denn heute als zynisch ist, dass ausgerechnet in dem Jahr, in dem gibt es nach wie vor Millionen von Menschen, die nicht wir zehn Jahre Osterweiterung feiern, gewissen politi- nur auf dem europäischen Kontinent, sondern auch unter schen Parteien nichts Besseres einfällt, als darüber zu re- dem Dach des Hauses Europa gemeinsam in Frieden le- den, ob denn die Freizügigkeit für die jüngst beigetrete- ben wollen. Die momentane Situation in der Ukraine, nen Länder wie Rumänien und Bulgarien überhaupt aber auch auf dem Balkan – wir haben den Balkan in den noch aufrechterhalten werden kann. Es gehört zu einer letzten Jahren ja leider absolut vergessen – zeigt, dass solch feierlichen Stunde dazu, das zu sagen. 100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs das Friedensprojekt Europa noch lange nicht abgeschlossen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist. sowie der Abg. Bärbel Bas [SPD]) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2899

Annalena Baerbock (A) Wir müssen den Mut haben und dürfen es uns nicht der Europäischen Union herzlich willkommen, als Mit- (C) nur einfach machen. Wir sollten akzeptieren, dass wir in bürger und als oft gefragte Arbeitnehmer. Deutschland nicht der Nabel Europas sind, sondern dass wir ganz viel von unseren europäischen Nachbarn lernen Dieser Beitritt, das wissen wir, war nur möglich, weil können. Schauen wir rüber nach Großbritannien, Schwe- die Menschen in Bedrängnis und Gefahr damals den Mut den, Frankreich und in die Niederlande. Was stellen wir zur Freiheit gehabt haben. Eines – Herr Gehrcke, daran fest? Diese Länder haben kein Problem damit, auch Ru- haben Sie tatsächlich zu Recht erinnert – war aber auch mänien und Bulgarien die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu- Voraussetzung, nämlich dass Russland den Freiheitswil- zugestehen. Man sagt: Ja, auch ihr könnt von unseren len dieser Menschen seinerzeit nicht bekämpft, sondern Sozialleistungen profitieren. ihn akzeptiert hat. Ohne diese Voraussetzung wäre die Entwicklung nicht möglich gewesen. Auch daran den- ken wir heute dankbar und in Bezug auf den letztgenann- Vizepräsidentin Claudia Roth: ten Punkt etwas wehmütig zurück. Frau Kollegin. (Beifall bei der CDU/CSU) Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir schauen auch noch vorne. Ich sage: Wir werden NEN): auch weiterhin alle Menschen, die im Herzen die Sehn- Es gehört Mut dazu, sich dem Populismus mit guten sucht nach der Herrschaft des Rechts, nach Rechtsstaat- Argumenten entgegenzustellen. Wenn wir diesen Mut lichkeit, nach Teilhabe und Gerechtigkeit haben, unter- haben, wie Schuman, Havel – und Frau Roth, stützen. Wir werden das auf dem Maidan und im Gezi- (Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Frau Präsi- Park machen – um das beispielhaft zu sagen –, und das dentin! – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE mit aller Deutlichkeit. Die Europäische Union verpflich- GRÜNEN]: Schuman, Havel, Roth!) tet sich zu diesen Prinzipien, und zwar erstens innerhalb ihrer eigenen Grenzen, zweitens bei unseren Nachbarn ich komme zum Schluss –, dann können wir auch in den und drittens auf der ganzen Welt. Für diese Aufgabe nächsten 20, 30 Jahren wieder diese Gänsehautmomente müssen wir die Europäische Union stärken. Das ist die gemeinsam auf den Brücken Europas feiern. Dann kön- Aufgabe vor der Wahl zum Europäischen Parlament am nen wir Europa in all seiner Unperfektheit – das muss 25. Mai. man immer wieder sagen – und mit seinen Stolperstei- nen feiern. Zugleich können wir die großartige Idee fei- „Wir sind zu unserem Glück vereint.“ Diese Überzeu- ern, Konflikte jenseits gefährlicher Grenzen des Natio- gung, die ich habe, habe ich bereits ausgesprochen. Jetzt nalstaats zu lösen. nenne ich die gegenteilige Ansicht, die von Präsident (B) (D) Herzlichen Dank. Putin, nämlich dass das eine Katastrophe sei. Wir versu- chen, diese Perspektive rein historisch zu begreifen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aber die Schlussfolgerungen, die Putin und Russland und bei der SPD sowie der Abg. Ursula daraus ziehen, teilen wir natürlich nicht, und zwar nicht Groden-Kranich [CDU/CSU]) im Geringsten. Wenn Geschichte zur Legitimation eige- ner Expansionsgelüste eingesetzt wird, wenn man sich Vizepräsidentin Claudia Roth: also der Mittel bedient, die uns in die Katastrophe der Danke, Frau Kollegin. – Nächster Redner in der De- beiden Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts geführt batte: Matern von Marschall für die CDU/CSU-Fraktion. haben, dann führt das erneut in die Katastrophe. Doch diese schrecklichen Katastrophen dürfen sich nicht wie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. derholen. Josip Juratovic [SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Matern von Marschall (CDU/CSU): neten der SPD) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- In unserem 21. Jahrhundert muss gelten: Die territo- nen und Kollegen! Herr Hunko, Sie haben gesagt, das sei riale Integrität und Souveränität der Staaten ist unver- heute keine Jubelveranstaltung. Das sehen wir etwas an- letzlich. Dieses Prinzip muss insbesondere auch für die ders. Aber ich denke, wir können uns über den Titel des Ukraine gelten. In vielen Staaten der Erde leben unter- neuen Buchs von Hans-Gert Pöttering, dem vormaligen schiedliche Völker, und es ist Aufgabe jedes einzelnen Präsidenten und langjährigen Mitglied des Europäischen Staates, das gleichberechtigte Zusammenleben dieser Parlamentes, einig sein: Wir sind zu unserem Glück ver- Völker innerhalb der Grenzen des Staates zu sichern. eint. Ohne Einhaltung dieser Grundvoraussetzung ist ein Frie- (Beifall bei der CDU/CSU) den nicht möglich. Die Skepsis, die im Westen gegenüber der Osterwei- Was sich in Russland im Moment ereignet, hat übri- terung existiert hat, hat sich Gott sei Dank als unbegrün- gens ein langes Vorspiel. Herr Außenminister, ich denke, det erwiesen, wenngleich – das ist schon gesagt wor- wir haben – leider – lange Jahre ein wenig darüber hin- den – auch in Zukunft noch viel zu tun ist. Ich will aber weggesehen. Ich fürchte, wir müssen unsere Hoffnung eines sagen: Die Menschen dort haben an Recht und auf das Pflänzchen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Wohlstand gewonnen, und sie sind selbstverständlich in Russland, die wir lange gehegt haben, revidieren. Wir auch bei uns in Deutschland wie andere Mitbürger aus müssen diesen Prozess in der Rückschau einer Neube- 2900 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Matern von Marschall (A) wertung unterziehen und damit auch in der Vorausschau, setzung für ihr Wirken in der Welt, für ihr Wirken um (C) was Schlussfolgerungen angeht. Rechtsstaatlichkeit auf der ganzen Erde. Ich zitiere kurz die Friedenspreisträgerin des Deut- Seien wir also vor der Europawahl ruhig mutig, fra- schen Buchhandels aus dem Jahr 2013, Swetlana gen wir die Kritiker: Was können wir denn eigentlich Alexijewitsch, eine weißrussische Schriftstellerin, die leisten, wenn wir in die enge Nationalstaatlichkeit ein- diesen Friedenspreis in der Paulskirche in Frankfurt er- zelner Staaten, zunehmend schrumpfender Staaten hier halten hat. Sie hat viele Stimmen aus Russland zusam- in Westeuropa, zurückfallen? Was können wir alleine mengetragen. Diese Stimmen zeigen zerrissene, wider- leisten? Können wir Umwelt- und Klimaschutzziele al- sprüchliche, hoffnungslose, mutlose Menschen, auch leine durchsetzen? Können wir uns vielleicht gegen In- fanatisierte und sarkastische Menschen. Eine Stimme ternetgiganten wie Google besser alleine durchsetzen? möchte ich zitieren: Können wir Freihandelsabkommen besser alleine ver- handeln? Können wir Außen- und Sicherheitspolitik bes- Wir reden dauernd ser alleine betreiben? Können wir die Finanzmärkte ganz – so heißt es dort – alleine in ihre Schranken verweisen? Nein, meine Da- men und Herren, das können wir nur gemeinsam, und vom Leiden … Das ist unser Weg der Erkenntnis. das schaffen wir nur gemeinsam in einer starken Euro- päischen Union, auch wenn es dort Rückschläge und Die Menschen im Westen leiden nicht so wie wir, Notwendigkeiten zur Verbesserung gibt. Wir brauchen sie haben gegen jeden Pickel eine Medizin. Aber Kraft, Ausdauer und guten Mut für dieses Projekt. Wäh- wir haben im Lager gesessen, und im Krieg war der len wir also am 25. Mai Europa – zu unserem Glück. Boden mit unseren Leichen übersät, wir haben in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Tschernobyl mit bloßen Händen radioaktiven Gra- neten der SPD) phit eingesammelt … Und nun sitzen wir auf den Trümmern des Sozialismus. Vizepräsidentin Claudia Roth: Und jetzt wird ein Schreckgespenst der Vergangenheit Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich will Sie informie- hervorgeholt. Wiederum wird Geschichte dazu miss- ren. Wir haben herausgefunden, woher das Wort „Cour“ braucht, diese hoffnungslosen Menschen durch brachiale kommt. Es kommt weder von „Kür“ noch von „Kur“, Propaganda, durch aggressiven Nationalismus zu berau- sondern offensichtlich aus dem Französischen. Es gibt schen. Schauen Sie einmal auf die heutige Truppenpa- zwei Bedeutungen: Einmal ist der Hofstaat damit ge- rade in Moskau, Herr Gehrcke: 11 000 Soldaten, und meint. Da wir ja nicht mehr sehr monarchisch sind, gehe (B) Herr Putin ruft diesen Soldaten zu: Wir sind das Sieger- ich davon aus, dass das nicht der Bezug ist. Dann gibt es (D) volk. noch die „cour d'admirateurs“, die Anhängerschaft. Also seien Sie, sowohl Herr Beermann als auch Frau (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Sind sie ja Dr. Schlegel, sich sicher: Sie haben eine große Anhän- auch! – Gegenruf des Abg. Manuel Sarrazin gerschaft heute hier im Haus gefunden. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Säbelras- seln!) (Beifall – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Also doch Cour!) Ich frage mich, welche Umdeutung hier stattfindet. Da- mit werden – das ist gefährlich – die Menschen be- – Gratulationscour, mit c, o, u, r. – Man lernt hier also rauscht, und es wird von den Aufgaben im eigenen Land auch etwas, wie Sie sehen, liebe Besucher des Deutschen abgelenkt. Das darf im 21. Jahrhundert doch kein Zu- Bundestages. kunftsmodell mehr sein. Nächster Redner in dieser sehr schönen und wichti- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gen Europadebatte ist Dietmar Nietan für die SPD. neten der SPD und des Abg. Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir müssen uns der eigenen Geschichte stellen, aber in Verantwortung, und sie im Guten fortschreiben. Wir Dietmar Nietan (SPD): können uns nicht mehr einer Ideologie des Darwinismus, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! dem Kampf des Stärkeren gegen den Schwachen wid- Herr Gehrcke hat recht: men. Das sollte doch vorbei sein. Wir sollten uns dem widmen – das ist auch wissenschaftliche Erkenntnis –, (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das höre dass die Menschen auf Zusammenarbeit und Anerken- ich gern!) nung angewiesen sind; denn das entspricht ihrer Natur. Dieser Natur – sie zu Zuneigung und Ermutigung zu un- Wenn wir über die Wiedervereinigung Europas spre- terstützen – wollen wir das Wort reden und nicht dem chen, ist es gut, den 8. Mai 1945 als Ausgangspunkt zu Kampf des Stärkeren gegen den Schwachen. nehmen, den Untergang des Faschismus, der letztlich so groß werden konnte, weil sich Staaten, Menschen, Ideo- Niemand hat gesagt, dass die Europäische Union feh- logen in einen nicht enden wollenden Nationalismus ver- lerfrei ist. Ich bin ganz sicher, wir müssen noch viel tun. stiegen hatten. Deshalb sollte vielleicht die erste Lehre Aber die Stärke der Europäischen Union ist die Voraus- aus 1945 sein, dass wir all denen, die, um von eigenen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2901

Dietmar Nietan (A) Fehlern abzulenken, dumpfen Nationalismus schüren, glaube, an dieser Stelle sollte man bei allem Erfolg auch (C) mit aller Klarheit entgegentreten. daran erinnern, dass viele Menschen in den neuen EU- Ländern – und das nicht aus eigener Schuld – zu den (Beifall im ganzen Hause) Verlierern der Transformation gehört haben, weil es bis- Wenn wir 1945 als Ausgangspunkt nehmen, dann her noch nicht gelungen ist, die Kluft zwischen Arm und sollten wir uns daran erinnern, dass sich zumindest ein Reich zu verringern, starke Gewerkschaften zu etablie- Großteil der Deutschen, diejenigen, die im Westen leb- ren und die Regeln auf dem Arbeitsmarkt in allen Mit- ten, nach 1945 auf den Weg in die Demokratie, in eine gliedstaaten so umzusetzen, wie wir uns das wünschen. freie und offene Gesellschaft machen konnten, dass aber Wir sollten auch an die Menschen erinnern, für die diese ein anderer Teil der Deutschen und mit ihnen viele Völ- Transformation, jedenfalls ökonomisch und sozial, kein ker Mittel- und Osteuropas weitere 44 Jahre, bis 1989, in Erfolg war. einer Diktatur leben mussten. Auch das gehört dazu, Dass wir, die Bundesrepublik Deutschland, zu den wenn man an 1945 erinnert. eindeutigen ökonomischen Gewinnern zählen, das muss Es ist der Mut dieser Menschen hinter dem Eisernen ich, glaube ich, an dieser Stelle nicht betonen. Es ärgert Vorhang gewesen, der das Unglaubliche geschafft hat, mich deshalb, wenn ich manche Debatten erlebe, in de- nämlich die friedliche Revolution, die am Ende gezeigt nen so getan wird, als wäre die EU-Osterweiterung für hat, dass ein noch so perfides Unterdrückungssystem uns eine Belastung gewesen. Wenn es ein Land gibt, das den Drang der Menschen nach Freiheit nicht für immer der ökonomische Gewinner des Ganzen ist, dann ist es stoppen kann. die Bundesrepublik Deutschland. Vielleicht sollten wir als Politikerinnen und Politiker lernen, dies den Bürge- (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Sehr wahr!) rinnen und Bürgern etwas öfter zu sagen und zu erklä- Manchmal erinnere ich mich zurück und frage mich, ob ren, statt in Stammtischmanier populistisch mit der wir im Westen, also vor dem Eisernen Vorhang, in einer Angst vor Integration und Öffnung des Arbeitsmarktes Zeit, in der die Menschen hinter dem Eisernen Vorhang zu spielen, wenn es uns vor Wahlen gerade passt. ihren Mut zusammengenommen haben, ein nicht allzu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gutes Beispiel waren, weil bei uns vielleicht eher Klein- DIE GRÜNEN) mut herrschte, weil viele von uns selbst nicht mehr daran geglaubt haben, dass es eine solche Wiedervereinigung Es gibt noch einen anderen Punkt, den ich an dieser Europas in absehbarer Zeit gibt. Auch das sollte eine Stelle betonen möchte. Ich habe bei der EU-Osterweite- Lehre sein: Kleinmut ist nicht der richtige Ansatz, um rung manchmal das Gefühl gehabt, dass ich etwas er- die Wiedervereinigung Europas voranzutreiben. Frau lebe, was man zumindest in den ersten Jahren nach der (B) Kollegin Baerbock hat es schon angesprochen: Kleinmut Wiedervereinigung auch in Deutschland erleben konnte: (D) oder Populismus, das sei dahingestellt, herrschte zum Ich hatte den Eindruck, dass die alten politischen Eliten Beispiel auch in der Frage der Öffnung des Arbeitsmark- in Westdeutschland und in Westeuropa gar nicht begrif- tes. Auch das sollte ein Lehre sein: Es ist nicht die Ar- fen haben, welch ein Geschenk die Erweiterung ist. Ich beitnehmerfreizügigkeit, die in Europa eine Bedrohung habe sehr oft die Attitüde erlebt, als müssten uns die „ar- darstellt. Es geht vielmehr um die Frage: Was passiert, men Brüder und Schwestern aus dem Osten“ dankbar wenn es die Arbeitnehmerfreizügigkeit, aber keine fai- sein, dass wir sie in die Europäische Union aufgenommen ren Regeln auf dem Arbeitsmarkt wie zum Beispiel ei- haben. Ich glaube, eine weitere Lehre aus der Geschichte nen Mindestlohn gibt sollte sein, dass sich Europa grundlegend verändert hat. Wir sollten dankbar sein, dass uns die Menschen, die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten noch 44 Jahre länger als wir hinter dem Eisernen Vor- des BÜNDNISSES 90/DE GRÜNEN) hang leben mussten, bereichern: mit ihrer Kultur, aber oder wenn ganz einfache Prinzipien, zum Beispiel dass auch mit ihrem unbedingten Willen zur Freiheit, von auf dem Arbeitsmarkt gelten muss: „Wer am gleichen dem wir uns manchmal auch eine Scheibe abschneiden Ort die gleiche Arbeit macht, bekommt den gleichen könnten, liebe Kolleginnen und Kollegen. Lohn“, nicht gelten? (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Bei vielen dieser Menschen handelte es sich um große GRÜNEN) Persönlichkeiten – ich nenne Vaclav Havel, Lech Wenn es solche Prinzipien überall in Europa gäbe, dann Walesa, Tadeusz Mazowiecki oder auch Alexander müssten die Menschen vor der Arbeitnehmerfreizügig- Dubček –, die uns stellvertretend für die Menschen in ih- keit keine Angst haben. Das darf an dieser Stelle schon ren Ländern bereichert haben. Deshalb sollten wir uns gesagt sein: Bei aller Freude über die Erweiterung – in- deutlich vor Augen führen: Die Erweiterung der Euro- nerhalb der Europäischen Union haben wir noch viele päischen Union war nicht der Anschluss der Ostgebiete, Reformen vor uns, bei denen wir genau diese Dinge be- sondern eine Veränderung. Diese Veränderung sollten achten müssen und eben nicht dem neoliberalen Zeit- wir wirklich verinnerlichen, und zwar als eine große geist frönen dürfen. Chance, von den Menschen in Mittel- und Osteuropa et- was zu lernen, und wir sollten sie nicht bevormunden. Bei einem Prozess wie der europäischen Integration bzw. Erweiterung gibt es Gewinner und Verlierer. Ich (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 2902 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Dietmar Nietan (A) Ich möchte zum Schluss meiner Ausführungen sagen: politik der Europäischen Union, die Frieden, Sicherheit (C) Ich würde mir wünschen, dass uns die positiven Erfah- und Wohlstand bedeutet, darf aus Anlass der Krise in der rungen mit der EU-Erweiterung und die Tatsache, dass Ukraine nicht nachträglich umgedeutet werden. die Menschen in den Transformationsländern zu uns (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wollten, weil sie wussten, dass hier die Werte von De- mokratie und Freiheit gelebt werden, etwas mehr Mut Die falschen Argumente, Herr Kollege Hunko, für eine geben. Sie können uns nämlich deutlich machen, dass es solche Umdeutung sind zahlreich: Es wird behauptet, Demokratie und Freiheit nicht umsonst gibt, dass man man hätte wissen müssen, dass sich Russland von der für sie kämpfen muss und dass man für sie manchmal Erweiterung der EU bzw. der NATO nach Osten „irgend- – daran sollte man in diesen Tagen denken – auch Opfer wann bedroht fühlen würde.“ Oder allgemeiner: Man bringen muss. hätte auf die „russischen Befindlichkeiten“ stärker Rück- sicht nehmen müssen. Derartige Argumente deuten die Herzlichen Dank. friedliche Erweiterung der Europäischen Union in einen (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem aggressiven Akt und in eine Verletzung territorialer Inte- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ressen anderer um, und das ist falsch. Sogleich folgt das Argument, man hätte Moskau zumindest besser in den Prozess der Osterweiterung einbinden müssen. Dazu Vizepräsidentin Claudia Roth: sind zwei Dinge zu sagen: Vielen Dank, Herr Kollege Nietan. – Nächster Red- ner: Dr. Bernd Fabritius für die CDU/CSU-Fraktion. Erstens ist Russland umfangreich einbezogen wor- den: Es wurde ein NATO-Russland-Rat gegründet; es (Beifall bei der CDU/CSU) wurde entsprechend dessen Gründungsdokument von 1997 bis heute verfahren. Es wurden keine Kampftrup- Dr. Bernd Fabritius (CDU/CSU): pen dauerhaft in den neuen Mitgliedstaaten stationiert. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Russland wurde in die G 8 integriert. Kollegen! Meine Damen und Herren! Die EU-Osterwei- Zweitens – viel wichtiger – darf trotz aller notwendi- terung ist zweifelsfrei eine Erfolgsgeschichte. Die unbe- gen Einbeziehung Russlands ein wichtiger Grundsatz streitbar positiven Auswirkungen für die EU, für die nicht übersehen werden: Über die Beziehungen zu ihren Bundesrepublik und für die neuen Mitgliedstaaten wur- Nachbarn verhandelt die EU nicht mit Dritten. den bereits hinlänglich ausgeführt. Dem schließe ich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mich vorbehaltlos an, ohne alles erneut zu wiederholen. neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Ausdrücklich, Frau Kollegin Baerbock, schließe ich die GRÜNEN) (B) Länder der 2007er-Erweiterung, Rumänien und Bulga- (D) rien, mit ein. Die Europäische Union wäre heute poli- Ich hätte mir noch vor wenigen Monaten nicht vorstellen tisch und strategisch wesentlich schlechter aufgestellt, können, dass es erforderlich wird, solche einfachen Wahr- wenn es diese Erweiterungsrunden nicht gegeben hätte. heiten, die schon vor Jahrzehnten abgehandelt schienen, ständig wiederholen zu müssen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Kollege Krichbaum hat vor wenigen Tagen sehr tref- NEN) fend formuliert: Was in Russland passiert, ist ein Rück- fall in Breschnews Zeiten. Aber Breschnew ist tot und Klar: Es gibt noch zu lösende Herausforderungen. Für seine Doktrin sollte es ebenfalls sein. die Länder, die Schwierigkeiten haben, stellt gerade die Europäische Union Instrumente bereit, die ohne eine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Mitgliedschaft nicht zur Verfügung stehen würden. Europa und die NATO sehen sich durch diese Aggres- Diese Länder befinden sich dank der Europäischen sion ihrerseits gezwungen, auch über verteidigungspoli- Union auf einem guten Weg. tische Maßnahmen nachzudenken, von denen ich hoffte, Der Tag der EU-Osterweiterung, der 1. Mai 2004, war dass sie der Vergangenheit angehören. Der NATO-Gene- ein guter Tag für Europa. Er war ein Tag zum Feiern. ralsekretär betont gar, Russland habe seine Verteidi- Auch der zehnte Jahrestag dieses einmaligen Ereignisses gungsausgaben um 30 Prozent erhöht, während einige ist es, wenn auch leider nicht so sorgenfrei wie zu Be- europäische Verbündete ihre Verteidigungsausgaben um ginn dieses Kapitels neuerer europäischer Geschichte. 40 Prozent gekürzt hätten. Meine Damen und Herren, ein neues Wettrüsten darf es nicht geben! Zur Erweiterungspolitik gehört schon lange auch die (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Na also!) Nachbarschaftspolitik und damit auch der Bereich der Assoziierungsabkommen, die von manchem schon als Denn unbestreitbar bleibt: Die EU muss eine politische erster Schritt hin zu einer Vollmitgliedschaft in der EU Antwort ohne militärische Eskalation auf die neue Situa- missverstanden werden. Wir mussten feststellen, dass tion finden und einer Spaltung Europas, auf die Russland das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine anschei- offenkundig hinarbeitet – einer Spaltung an den Bruch- nend Anlass bietet, handfeste Konflikte in Europa auszu- stellen des Balkans –, entgegenwirken. Wie könnte diese lösen, auch wenn die russische Regierung – die hier als Antwort aussehen? Oder anders: Was für eine Erweite- Aggressor auftritt – als Grund den Schutz ihrer Lands- rungspolitik wollen wir? Wir sind mit der europäischen leute in der Ukraine vorschiebt. Nach einem solchen Erweiterungs-, Partnerschafts- und Assoziierungspolitik Bruch kann es kein Weiter-so geben. Die Erweiterungs- an einem Punkt angelangt, an dem wir erneut nachden- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2903

Dr. Bernd Fabritius (A) ken müssen. In unserem Europaplan, meine Damen und Ein Wettbewerb attraktiver Angebote kann und soll be- (C) Herren, stellen wir fest, dass die Europäische Union mit stehen. 28 Mitgliedstaaten derzeit an der Grenze ihrer Aufnah- mefähigkeit angelangt ist. Gerade durch die aktuelle (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Warum Krise müssen wir ebenso feststellen, dass wir selten ein nicht beides?) größeres Interesse daran hatten, die Nachbarn der EU an – Selbstverständlich ist beides möglich; das schließen uns zu binden und so für Stabilität zu sorgen. nur Sie aus, nicht wir. Es muss ein Angebot geben, das eine vertiefte, dauer- Nur zur Vermeidung von Missverständnissen: Eigene hafte Koexistenz schafft und gegenseitige Interessen nationale Interessen zu verfolgen, ist legitim. Es ist auch berücksichtigt, ohne zwingend eine sofortige Beitritts- legitim, diese Interessen in Nachbarländern zu verfol- perspektive zu eröffnen. Die bisherige europäische Nach- gen. Nicht legitim ist allerdings, derartige Interessen barschaftspolitik und die Östliche Partnerschaft werden statt durch Wettbewerb mit militärischer Aggression und diesen Anforderungen derzeit nicht umfassend gerecht. medialer Irreführung durchsetzen zu wollen. Wir müssen sie weiterentwickeln. Die Nachbarschafts- politik als Teil der Erweiterungspolitik sollte zum Bei- (Beifall bei der CDU/CSU) spiel die Zivilgesellschaft stärker als bisher in den Fokus Dabei sind bloße Machtdemonstrationen von Solda- nehmen. ten und Panzern nicht einmal das Schlimmste. Russland Ich habe in den vergangenen Tagen und Wochen in führt einen Medien- und Informationskrieg in der Deutschland und in der Ukraine mit betroffenen Men- Ukraine und verfolgt so das Ziel einer Spaltung der dor- schen sprechen können – mit Ukrainern und mit Russen. tigen Zivilgesellschaft, was weitaus gefährlicher ist. Eine Aussage in diesen Gesprächen fand ich besonders (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Schauen treffend. Auf den russischen Propagandavorwurf, die Sie sich einmal die Bild-Zeitung an, dann wis- Ukraine habe es in 23 Jahren Unabhängigkeit nicht ge- sen Sie, was das ist!) schafft, rechtsstaatliche Institutionen aufzubauen, lautete die treffende Antwort eines Ukrainers: Wir haben etwas – Ich komme auch auf Sie zurück. – Leider – das habe viel Besseres erreicht: Wir haben mitdenkende Bürger ich in Donezk beobachten müssen – hat Russland damit bekommen. Erfolg, anscheinend auch in Deutschland. Mündige Bürger, die gegen korrupte und undemokra- Was über russische Fernsehsender in der Ostukraine tische Regierungen auf die Straße gehen, sind ebenfalls verbreitet wird, kann getrost als psychologische Kriegs- ein Garant für Demokratie und eine nachhaltige Stabili- führung bezeichnet werden. Es kann nicht sein, dass (B) tät. mittlerweile auf allen Kanälen in der Ostukraine russi- (D) sches Staatsfernsehen läuft, das täglich frei erfundene (Beifall bei der CDU/CSU) Berichte sendet. Es darf auch nicht sein, dass Russland Hier hat Russland offenkundig Nachholbedarf. Die auch bei uns in Deutschland durch bekannte Methoden Ukraine steht gut da, könnte mit entsprechender Nach- auf die Medienlandschaft und auf die für eine Meinungs- barschaftsunterstützung – auch seitens Russlands – und bildung relevanten sozialen Netzwerke Einfluss nimmt mit Unterstützung für zivilgesellschaftliche Strukturen und russische Propaganda ins Denken einzuschleusen und im Kampf gegen Korruption aber noch wesentlich versucht. Das ist heimtückisch und hinterhältig. besser dastehen. Vizepräsidentin Claudia Roth: Wir sollten jedoch nicht den Fehler begehen, Ange- bote einzuschränken. Dass Nachbarn unserer Nachbarn Herr Kollege. eigene Interessen möglicherweise verletzt sehen könn- ten, darf uns weder in der jetzigen Situation noch in Zu- Dr. Bernd Fabritius (CDU/CSU): kunft dazu verleiten, keine oder schlechtere Angebote zu Ich komme zum Schluss. – Das ist nicht der richtige unterbreiten. Im Gegenteil: Wir sollten die großartigen Weg und darf nicht Inhalt europäischer Nachbarschafts- Errungenschaften hervorheben, die dazu führten, dass beziehungen sein. Ich fordere Russland an dieser Stelle sich Länder aus eigenem Willen dazu entschieden haben auf, in die europäische Wertefamilie zurückzukehren und entscheiden, sich unserer europäischen Bündnisfa- und lieber Teil als Gegner einer abgestimmten Erweite- milie anzunähern und zum Beispiel Assoziierungsab- rungspolitik zu werden. kommen abzuschließen. Partner der EU zu werden, war 2004 attraktiv und ist es auch zehn Jahre später. Danke. Sollte es für die Ukraine oder andere Staaten ein An- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gebot einer Staatengemeinschaft für multilaterale Ab- neten der SPD) kommen, Freihandelszonen oder Assoziierungsabkom- men geben, die diese aus freien Stücken attraktiver als Vizepräsidentin Claudia Roth: das Angebot der Europäischen Union einschätzen, dann Vielen Dank, Herr Kollege Fabritius. – Nächster Red- steht es ihnen frei, diese anzunehmen. Das ist wohlver- ner in der Debatte: Josip Juratovic für die SPD. standene Nachbarschaftspolitik. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU) der CDU/CSU) 2904 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

(A) Josip Juratovic (SPD): (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Erlauben Sie mir, aus meiner Erfahrung als ehemali- Kollegen! Zehn Jahre nach der EU-Osterweiterung und ger Jugoslawe ein paar Worte zu der Krise in der fast 25 Jahre nach Zusammenbruch der kommunisti- Ukraine zu sagen. Das Wichtigste für mich als Demokrat schen Diktatur haben wir in der Tat allen Grund zu fei- ist es, nicht zuzulassen, dass demokratische Grundwerte ern. gegen das Völkerrecht auf nationale Selbstbestimmung Vor zehn Jahren war die Skepsis allerdings groß. Wa- ausgespielt werden. Die Prämisse ist: Individuelles rum haben wir dann trotz großer Bedenken in der Bevöl- Grundrecht muss vor nationalem Kollektivrecht ge- kerung und im Parlament mehrheitlich für die EU-Ost- schützt werden, wenn wir Nationalismen verhindern erweiterung gestimmt? Natürlich ging es uns nach wollen. Außerdem dürfen wir nicht zulassen, dass innen- 40 Jahren der Teilung Europas in zwei militärisch, alles politische Schwächen der Akteure als außenpolitisches vernichtende Maschinerien um Sicherheit und Frieden, Ablenkungsmanöver zum Schaden der Ukraine genutzt einen Frieden durch europäische Solidarität, der auf der werden. demokratischen Wertegemeinschaft beruht. Wir waren (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) überzeugt, dass die Staaten Mitteleuropas die Werte der EU – das heißt: Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und vor al- Wir dürfen auf keinen Fall zulassen, dass die Kriegsdy- lem auch soziale Gerechtigkeit – teilen und sich mit uns namik an die Stelle des diplomatischen Dialogs tritt. Da- ernsthaft auf diesen Weg machen wollten. Wir glaubten für möchte ich dem gesamten Haus danken, der Bundes- daran, dass diese Werte die Grundlage für eine positive regierung und vor allem unserem Außenminister für gesellschaftliche, wirtschaftliche und soziale Entwick- seine Besonnenheit und Unnachgiebigkeit im unermüd- lung sind. Diese Hoffnung hat sich zu unserer Freude be- lichen Einsatz für die friedliche Lösung des Konflikts in wahrheitet. Es hat sich gezeigt, dass überall dort, wo die der Ukraine. Demokratie funktioniert, die wirtschaftliche Entwick- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie lung mit großen Schritten voranschreitet und damit Si- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE cherheit und Wohlstand wachsen. GRÜNEN) Die EU ist unmissverständlich ein Erfolgsmodell. Liebe Kolleginnen und Kollegen, zehn Jahre nach der 70 Jahre Frieden, gesichert durch die drei großen Pro- EU-Osterweiterung und zum Ende meiner Rede möchte jekte „gemeinsamer Binnenmarkt“, „gemeinsame in- ich sagen: Der europäische Gedanke ist mehr als die nere Sicherheit“ und – trotz einiger Kritiker – „gemein- heutige Europäische Union. Frieden in Europa kann nur same Währung“. Um den Frieden aber dauerhaft zu gesichert werden, wenn es unser Ziel ist, eines Tages sichern, brauchen wir das vierte große Projekt, nämlich (B) eine gesamteuropäische Union zu schaffen. Die EU-Ost- (D) die soziale Sicherheit der Menschen in Europa. erweiterung ist der Beweis, dass diese gesamteuropäi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sche Vision möglich ist. der CDU/CSU) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Diese können wir in Europa aber nur gemeinsam (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie durch die europäischen Institutionen verwirklichen. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Dazu passt, dass wir in zwei Wochen Europawahlen ha- GRÜNEN) ben. Das Europäische Parlament ist der höchste Aus- druck der europäischen Demokratie. Leider wird das Europäische Parlament von Bürgern und – noch schlim- Vizepräsidentin Claudia Roth: mer – von einigen politisch Verantwortlichen nicht Vielen Dank, Herr Kollege. – Der letzte Redner in ausreichend ernst genommen. Wenn wir uns den He- dieser Debatte ist Dr. Johann Wadephul für die CDU/ rausforderungen der Zukunft erfolgreich stellen wollen, CSU-Fraktion. brauchen wir gerade diese demokratischen europäischen (Beifall bei der CDU/CSU) Institutionen anstelle von nationalstaatlichen Egoismen. Wenn wir wollen, dass Demokratie und Parlamentaris- Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): mus zehn Jahre nach der EU-Osterweiterung weiterhin Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und die Attraktivität der EU ausmachen, müssen wir mit gu- Herren! Herr Kollege Gehrcke, es ist unstreitig, dass die tem Beispiel vorangehen und das Europäische Parlament damalige Sowjetunion einen großen Blutzoll geleistet stärken. hat und dass wir natürlich den sowjetischen Soldaten Kolleginnen und Kollegen, mir ist die europäische ebenso wie den amerikanischen und allen anderen alli- Demokratie auch als Außenpolitiker wichtig. Den Euro- ierten Soldaten nach wie vor dankbar sein müssen. Die pagedanken und demokratische Werte können wir in der Rede von Richard von Weizsäcker hat nach wie vor Gül- Ukraine oder auf dem Westbalkan nur vertreten und ein- tigkeit. fordern, wenn wir sie vorleben. Dazu zählt übrigens (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Es war auch, dass wir unsere Versprechen ehrlich und rechts- eine große Rede!) staatlich einhalten. Ich denke dabei an unser Verspre- chen gegenüber den Westbalkanstaaten, sie gemäß dem – Vielen Dank für diesen Zuspruch zu einem wichtigen Vertrag von Thessaloniki in die EU aufzunehmen und sie CDU-Politiker. – Es ist doch vollkommen klar, dass wir auf dem Weg dorthin zu unterstützen. von einem schrecklichen Regime befreit worden sind, Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2905

Dr. Johann Wadephul (A) das einen schrecklichen Krieg in Europa begonnen hat. deswegen auch miteinander in Frieden leben sollten und (C) Das ist doch völlig unstreitig. wollen. Wir können uns auf diesem Fleck Erde, der im Übrigen recht groß ist, auch einen gemeinsamen Wirt- Sie sind aber sozusagen in einem sehr großen histori- schafts- und Rechtsraum vorstellen. Das ist alles mach- schen Sprung über die nachfolgende Zeit hinwegge- bar. Aber es ist nicht machbar, wenn man wieder mit na- hüpft. tionalistischem und nationalem Gedankengut arbeitet. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das musste man – darauf ist in der Debatte hingewiesen NEN]: Behände!) worden – bedauerlicherweise bei der letzten großen Rede von Präsident Putin feststellen. Auch in den russi- – Das war nicht nur behände; es war auch ein bisschen schen Medien greift wieder Nationalismus um sich. Das geschichtsvergessen. Es gab danach einen sowjetischen ist die falsche Antwort im 21. Jahrhundert. Dem sollten Hegemonieanspruch über eine ganze Region. Es gab da- wir uns alle widersetzen. nach Stalinismus und eine kommunistische Schreckens- herrschaft mit der Unterdrückung von Meinungsäuße- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) rungen und der Beherrschung anderer Länder. Herr Ich glaube, dass wir von der Euphorie der Erweite- Gehrcke, ich finde, auch Sie als bekanntlich russophiler rung, die noch in vielen Staaten zu spüren ist – der Au- Kollege in diesem Hause müssten anerkennen, dass die ßenminister hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass EU-Osterweiterung vor zehn Jahren der große Schluss- sich immer mehr Staaten dem Euro-Raum anschließen –, strich gewesen ist. auch im alten Europa einiges mitnehmen können. Ich In dem Sinne zitiere ich Johannes Rau, der im polni- sage als jemand, der aus dem nordeuropäischen Bereich schen Parlament gesagt hat: – ich lebe auf Jütland – kommt: Es erfüllt mich schon mit einiger Sorge, dass wir mit einem freundlichen Des- Der Beitritt der neuen Mitgliedstaaten ist aber interesse in Europa zur Kenntnis nehmen müssen wahrlich kein europäischer Gnadenakt. Er ist eine historische Notwendigkeit. (Zuruf des Abg. Manuel Sarrazin [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) – die Dänen vielleicht noch nicht so sehr –, dass bei- Johannes Rau hatte recht. Das heißt aber doch nicht, dass spielsweise das Königreich Dänemark zwei oder drei wir als Europäer irgendetwas gegen Russland machen Opt-outs hat – ein Opt-out betrifft die Einführung des wollen. Ich glaube, es ist ein Problem der russischen Per- Euro; das wird einfach so hingenommen –, dass sich nur zeption dessen, was in den letzten Jahren geschehen ist, Finnland voll und ganz zur EU bekennt, dass Schweden, dass das aus Moskauer Sicht sozusagen als ein Akt der das kein Opt-out hat, noch nicht einmal daran denkt, den (B) (D) Einkreisung verstanden worden ist. Es gibt nicht – das Euro einzuführen, und dass Norwegen noch nicht einmal hatten Sie angesprochen, Herr Kollege Hunko – das stra- ernsthaft daran denkt, sein Volk erneut vor die Frage zu tegische Ziel der Europäischen Union, einen Hegemoni- stellen, ob es nicht klug wäre, der Europäischen Union alanspruch durchzusetzen, besonders groß zu sein und beizutreten. Ich sage das nur beispielhaft. Man könnte besonders viele Staaten aufzunehmen. Die Europäische auch zu Großbritannien einiges sagen. Ich glaube, dass Union ist vielmehr ein freiheitlicher Zusammenschluss wir uns ein solches Desinteresse nicht weiter leisten kön- freier Völker. An diesem Zusammenschluss darf kein nen. Es ist aus meiner Sicht bedauerlich, dass sich solche Freund und kein Staat gehindert werden, meine sehr ver- Staaten auf diese Art und Weise zurückhalten und nicht ehrten Damen und Herren. aktiv an Europa beteiligen. Wir müssen sie einladen und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den Schwung der Osterweiterung nutzen, um das alte neten der SPD) EU-Europa neu zu beleben, sowie dafür sorgen, dass sich diese Staaten zu Europa und zur Europäischen Union bekennen und dort aktiv mittun. Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. -bemerkung? Josip Juratovic [SPD]) Was der Kollege Juratovic gesagt hat, sollte nicht in Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Vergessenheit geraten. Es bereitet mir Sorge, dass der Nein, die Debatte hat schon lange genug gedauert. Ich Erweiterungsprozess, der sonst immer vom Gleichschritt weiß auch, dass viele zum Flieger müssen. von Vertiefung und Erweiterung geprägt war, auf dem Balkan nicht vorankommt. Beispiel Mazedonien. Seit Vizepräsidentin Claudia Roth: vier Jahren sagt die Europäische Kommission, dass die Sie brauchen das gar nicht zu begründen. Also weiter. Beitrittsverhandlungen begonnen werden können. Aber Griechenland sagt, dass es solche Verhandlungen wegen des Namensstreits nicht will. Auch so etwas können wir Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): nicht einfach nicht beachten oder akzeptieren. Wir müs- Es ist, glaube ich, auch ein wichtiger Punkt für die sen dem entgegentreten und sagen: Alle, die für Europa Zukunft, dass wir in der Tat durchaus in der Lage sind, sind, müssen eine Chance haben, beizutreten. uns mit der Idee anzufreunden und sie auch grundsätz- lich zu teilen, dass wir von Wladiwostok bis Lissabon (Beifall des Abg. Gunther Krichbaum [CDU/ – ganz profan gesagt – auf einer Scholle Erde leben und CSU]) 2906 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Dr. Johann Wadephul (A) Der Westbalkan hat ein entsprechendes Versprechen in den auffordern, zu dem Denkmal hinüberzugehen, an (C) Thessaloniki bekommen. Wir müssen es einhalten. dem heute Kränze niedergelegt werden. Setzen Sie ein Signal, dass Sie an den 8. Mai 1945 erinnern und an die- Wir sollten den Schwung aus der Osterweiterung nut- ser großen Rede des Bundespräsidenten von Weizsäcker zen, um das alte Europa wieder zu beleben, und auf dem festhalten! Diese Rede des Bundespräsidenten von westlichen Balkan endlich einige Schritte vorankom- Weizsäcker war ein geschichtlicher Sprung, und davon men. können sich heute viele eine Scheibe abschneiden. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Vizepräsidentin Claudia Roth: GRÜNEN) Vielen Dank, Herr Kollege. – Dr. Wadephul. Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Wadephul. – Das Wort Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): zu einer Kurzintervention hat Herr Gehrcke. In aller Kürze: Ich habe ganz klar gesagt, wie ich den 8. Mai 1945 nach wie vor sehe. Das ist doch völlig un- Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): streitig. Ich persönlich setze mich auch nicht dafür ein, Herr Wadephul, zuerst einmal will ich mich bei Ihnen dass dieses Denkmal entfernt wird. Ich kann nur für bedanken, dass Sie mich zitiert und sich mit mir aus- meine Person sprechen. Beschlüsse der CDU/CSU-Bun- einandergesetzt haben. Das ist anständiger parlamentari- destagsfraktion dazu gibt es nicht. Ich kann uns alle nur scher Brauch. ermutigen, dass wir uns der historischen Vergangenheit stellen, und Sie beispielsweise einladen, dass auch Sie in Ich will auf Ihre Rede in aller Kürze mit zwei, drei den Verein eintreten, der die Erinnerung an Hohenschön- Bemerkungen antworten. Ich ziehe mich nicht darauf zu- hausen aufrechterhält. Sie sind herzlich willkommen, in rück, dass ich wahrscheinlich mehr über und gegen den diesen Verein einzutreten. Stalinismus geschrieben habe, als viele andere hier im Hause gelesen haben. Stalinismus ist für mich der Ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. gensatz zu Sozialismus. Es gibt einen Sozialismus, der Dr. Eva Högl [SPD]) nicht mit Gewalt, sondern mit Überzeugung und Umge- Ich bin Mitglied in dem Verein und glaube, dass auch staltung arbeitet sowie Kultur hervorbringt. Ich möchte diese Erinnerung zur deutschen Geschichte gehört. Wenn nicht, dass wir mit solch einfachen Zerrbildern – ich bin wir sehen, welche Missetaten und welche Menschen- (B) wahrscheinlich etwas flott in der Geschichte vorange- (D) rechtsverletzungen es in der deutschen Geschichte gege- gangen – über bestimmte Auseinandersetzungen hin- ben hat, dann sollten wir uns gemeinsam dafür einsetzen, weggehen. all dieser Taten zu gedenken. Das wäre ein gutes Ziel. Ich hätte mich gefreut – das wäre auch glaubwürdiger –, wenn Sie nach Ihrer richtigen Einleitung hinzugefügt Die Bundeskanzlerin ist vor einigen Jahren – ich weiß hätten, dass sich auch Ihre Fraktion für den Erhalt der die Jahreszahl nicht mehr ganz genau – bei der Parade in sowjetischen Gedenkstätten, die an den 8. Mai und Moskau gewesen. Ich glaube, das ist ein beispielloser 9. Mai 1945 erinnern, einsetzt. Ich finde es ein schlim- Akt gewesen. Dafür ist der Bundeskanzlerin noch heute mes Zeichen, dass ein Kollege Ihrer Fraktion die unan- sehr herzlich zu danken. Wir stehen dazu und sind stolz gemessene Petition der Bild-Zeitung signiert und sich darauf, dass wir eine solche Bundeskanzlerin haben. dabei hat abbilden lassen. Dazu haben Sie nichts gesagt. Gleichermaßen kann man es, um es mit den Worten der Es wäre viel glaubwürdiger, wenn Sie beide Seiten an- Kanzlerin zu sagen, nur schade finden, dass gerade an sprechen würden. solch einem Tag Präsident Putin es offensichtlich für er- forderlich hält, sich auf der Krim zu zeigen. Das zeigt, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) dass er eigentlich doch noch nicht die Geschichte richtig Es wäre sehr viel glaubwürdiger, wenn wir nicht nur verstanden hat. Darüber sollten vielleicht auch Sie, lie- – zu Recht, wie ich finde – den Nationalismus in Russ- ber Herr Kollege Gehrcke, noch einmal nachdenken. land kritisierten – viele Töne, die ich aus Russland höre, Herzlichen Dank. sind kritikwürdig und müssen kritisiert werden, gerade wenn man selber in Russland ist und dort agiert; von mir (Beifall bei der CDU/CSU) stammt der Ausdruck „lupenreiner Demokrat“ nicht –, sondern mit der gleichen Elle auch den Nationalismus in Vizepräsidentin Claudia Roth: anderen Staaten zum Beispiel in der Europäischen Union Vielen Dank, Herr Kollege. – Vielen Dank auch an messen und in gleicher Schärfe zurückweisen würden. das ganze Haus. Ich glaube, bei allen Kontroversen, die Wir zeigen immer nur auf andere, bevorzugt auf Russ- wir auch in europäischen Fragen haben, müssten wir un- land. Das macht uns nicht glaubwürdiger, sondern gibt seren Gästen vermittelt haben, dass hier im Haus ein eu- anderen die Chance, unsere Kritik zurückzuweisen. Ich ropäischer Geist herrscht und dass wir den Wert Europas möchte eine entsprechend veränderte Politik. und der Integration sehr hoch einschätzen. Das sage ich Ich bitte Ihre Fraktion, darüber nachzudenken, ob sie sehr bewusst für das gesamte Haus in Zeiten, in denen sich nicht einen Ruck geben will. Ich will jetzt nieman- draußen Plakate von Leuten hängen, die dieses Europa Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2907

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) an die Wand fahren wollen. Vielen Dank dem ganzen rem dadurch als verletzt an, dass die Vorratsdatenspei- (C) Haus für diese wichtige europäische Debatte. cherung auch für Personen gilt, bei denen keinerlei An- haltspunkt dafür besteht, dass ihr Verhalten in einem (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem auch nur mittelbaren oder entfernten Zusammenhang mit BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Straftaten stehen könnte. Das Gericht kritisiert, dass Ich bitte, jetzt wieder die Plätze einzunehmen, wobei nunmehr alle Verkehrsdaten betreffend Telefonnetz, Mo- ich alle Redner, die über das Thema Europa gesprochen bilfunk, Internetzugang, E-Mail und Internettelefonie haben, einladen möchte, sich auch von der Vorratsdaten- auf Vorrat zu speichern seien. Die Vorratsdatenspeiche- speicherung ein Bild zu machen. – Ich bitte, Gespräche, rung gelte somit für alle elektronischen Kommunika- die nichts mit dem nächsten Tagesordnungspunkt zu tun tionsmittel, deren Nutzung stark verbreitet und im tägli- haben, jetzt zu unterbrechen oder draußen weiterzufüh- chen Leben jedes Einzelnen von wachsender Bedeutung ren. ist. Außerdem erfasse sie alle Teilnehmer und registrier- ten Benutzer. Sie führe daher zu einem Eingriff in die Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf: Grundrechte fast der gesamten europäischen Bevölke- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja rung. Keul, Dr. Konstantin von Notz, Luise Amtsberg, (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- GRÜNEN]: So ist das!) NIS 90/DIE GRÜNEN So die Begründung des EuGH. Europäischen Grundrechtsschutz gewährleis- ten – Nationale Vorratsdatenspeicherung ver- Damit ist klar: Eine Differenzierung muss nicht erst hindern beim Zugriff des Staates auf die gespeicherten Daten, sondern bereits bei der Speicherung selbst erfolgen. Drucksache 18/1339 b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) richts des Ausschusses für Recht und Verbrau- Das Gericht kritisiert ausdrücklich, dass die Vorratsda- cherschutz (6. Ausschuss) tenspeicherung weder auf Daten eines bestimmten Zeit- – zu dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte, raumes oder eines bestimmten geografischen Gebietes Dr. Petra Sitte, Dr. André Hahn, weiterer Ab- oder eines bestimmten Personenkreises beschränkt ist. geordneter und der Fraktion DIE LINKE Was das heißt, dürfte klar sein: das dauerhafte Ende der Vorratsdatenspeicherung, die gerade dadurch gekenn- Endgültig auf Vorratsdatenspeicherung zeichnet ist, dass sie flächendeckend und ohne Anlass (B) verzichten erfolgt. Wenn vorab überprüfbar geregelt wird, wer (D) wann wieso und warum ins Visier der Speicherung gerät, – zu dem Antrag der Abgeordneten ist es eben keine Vorratsdatenspeicherung mehr. Die Dr. Konstantin von Notz, Katja Keul, Luise Richtlinie ist auch nicht nachzubessern. Sie ist schlicht Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der nichtig. Nehmen Sie das endlich zur Kenntnis! Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vorratsdatenspeicherung verhindern (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jan Korte [DIE LINKE]) Drucksachen 18/302, 18/381, 18/999 Nicht erst der fehlende Richtervorbehalt beim staatli- Interfraktionell sind für die Aussprache 38 Minuten chen Zugriff auf die gespeicherten Daten ist ein Rechts- vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das verstoß. Der EuGH macht klar: Die undifferenzierte so beschlossen. Speicherung ist eine Grundrechtsverletzung, der staatli- che Zugriff auf die Daten ist eine weitere. Er verweist in Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in der De- diesem Zusammenhang interessanterweise auf frühere batte ist Katja Keul, Bündnis 90/Die Grünen. Richtlinien, wonach die Kommunikationsanbieter ver- pflichtet wurden, sämtliche Daten zu löschen oder zu an- Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): onymisieren, sobald sie für die Übertragung einer Nach- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und richt nicht mehr benötigt werden, ausgenommen die zur Kollegen! In der Tat, es geht gleich weiter mit Europa. – Gebührenabrechnung erforderlichen Daten, und das Nachdem das Bundesverfassungsgericht bereits 2010 auch nur, solange sie dafür benötigt werden. Die Vorrats- festgestellt hatte, dass die deutsche Umsetzung der datenspeicherung wäre damit genau das Gegenteil des Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung gegen Artikel 10 bisherigen EU-Rechts gewesen. Grundgesetz, also das Brief-, Post- und Fernmeldege- heimnis, verstieß, hat jetzt auch der EuGH entschieden, Weil die Richtlinie gegen die Grundrechte verstößt dass die Richtlinie selbst einen nicht zu rechtfertigenden und nichtig ist, hat die EU-Kommission diese Woche Eingriff in Artikel 7 und 8 der Charta der Grundrechte ihre Klage wegen der mangelnden Umsetzung gegen die der EU darstellt. Bundesrepublik Deutschland zurückgezogen. Schon wieder ein paar Millionen Euro, die Schäuble nicht be- Nach Artikel 7 haben die Staaten der EU die Vertrau- zahlen muss; das ist doch eigentlich schön. lichkeit der persönlichen Kommunikation zu achten und nach Artikel 8 die Pflicht, personenbezogene Daten zu (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE schützen. Beide Grundrechte sieht der EuGH unter ande- GRÜNEN]: Super!) 2908 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Katja Keul (A) Dennoch verabschieden ausgerechnet heute die Innenex- Der Größenwahn der NSA hat den Planeten auch nicht (C) perten der Union die sogenannte Erfurter Erklärung, wo- sicherer gemacht, im Gegenteil. nach sie nach wie vor auf eine nationale Vorratsdaten- Es ist ein weiterer Irrtum, zu glauben: Wer nichts zu speicherung bestehen, nach dem Motto „Jetzt erst recht“, verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten. Wir fangen (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Konstantin erst ganz langsam an, zu verstehen, welche Macht derje- von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das nige über uns hat, der über unsere Daten verfügt. Gerade ist ja völlig verrückt!) da wollen Sie die Provider, die nichts anderes sind als wirtschaftlich handelnde Akteure, dazu verpflichten, als ob die nationalen Grundrechte einen geringeren noch mehr Daten über uns zu speichern? Schutz bieten würden als die europäischen. ( [CDU/CSU]: Wir wollen (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Datenschutz!) GRÜNEN]: Europarechtswidrige Beschlüsse kurz vor der Europawahl!) Dabei hätte der Staat nicht einmal Einfluss darauf, wo auf der Welt die Provider diese Daten speichern. Sie Ich glaube kaum, dass die Verfassungsrichter in Karls- könnten uns vor dem Missbrauch dieser Daten nicht an- ruhe für eine solche Interpretation zur Verfügung stehen. satzweise schützen. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ganz si- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN cher, Frau Kollegin!) sowie des Abg. Jan Korte [DIE LINKE]) Was ist das eigentlich für ein Rechtsstaatsverständnis? Was unser Leben wirklich sicherer machen würde, ist Sind wir nicht alle an Recht und Gesetz gebunden? ein funktionierender Rechtsstaat, dem die Bürgerinnen Reicht es nicht, wenn bereits zwei oberste Gerichte das und Bürger vertrauen. Vorhaben disqualifiziert haben? (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Den haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wir!) sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zu- – Ja, den haben wir, genau. – Nichts gefährdet die Si- rufe von der CDU/CSU) cherheit mehr als gegenseitiges Misstrauen. Deswegen Regelrecht unanständig finde ich es, wenn von man- funktioniert der Rechtsstaat auch genau andersherum: chen in diesem Zusammenhang der Schutz der Kinder erst der überprüfbare Anlass und dann die staatlichen Er- vor sexuellem Missbrauch instrumentalisiert wird. mittlungen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) sowie bei Abgeordneten der LINKEN – sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Stephan Harbarth [CDU/CSU]: Warum ist Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sie der Schutz von Kindern unanständig?) misstrauen doch!) Auch ich bin der Meinung, dass gegen Kinderpornogra- Vizepräsidentin Claudia Roth: fie mehr getan werden kann und muss. Deswegen prüfen Und dann das Ende Ihrer Rede! wir gerade, ob hier noch Strafbarkeitslücken bestehen, die geschlossen werden sollten. Wir haben aber auch feststellen müssen, dass in den Kellern der Ermittlungs- Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): behörden Hunderte Festplatten mit Tausenden von Giga- Ich komme zum Schluss. – Unser Rechtsstaat kennt byte an sichergestelltem Material aus Ermittlungsverfah- keine Ermittlung auf Vorrat und braucht deswegen auch ren wegen Kinderpornografie liegen, die mangels keine Speicherung auf Vorrat. Lassen Sie uns dieses Ka- Kapazitäten nicht ausgewertet werden können. pitel endgültig abschließen! (Dr. Stephan Harbarth [CDU/CSU]: Das eine Vielen Dank. schließt doch das andere nicht aus!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vielleicht sollten wir in diesem Zusammenhang wieder sowie bei Abgeordneten der LINKEN) einmal über die Stärkung der chronisch unterfinanzierten Justizbehörden reden. Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion, Augsburg. und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich glaube außerdem nicht, dass die anlasslose Spei- Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): cherung sämtlicher Kommunikationsdaten es einfacher machen würde, die strafrechtlich relevanten Daten in der Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Flut irrelevanter Daten zu identifizieren. Es ist nämlich Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 8. April ein Irrtum, zu glauben: Mehr bringt mehr. hat der Europäische Gerichtshof die Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung für nichtig erklärt. Das ist auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für uns Anlass, über das Thema besonnen und mit dem sowie bei Abgeordneten der LINKEN) nötigen Respekt zu diskutieren. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2909

Dr. Volker Ullrich (A) Es gilt nach wie vor: Die Speicherung von Verbin- gute Gründe, darauf zu warten, was nach den Europa- (C) dungsdaten kann zur Aufklärung schwerster Straftaten wahlen vonseiten der Europäischen Union geschieht. sinnvoll sein, und in manchen Punkten ist sie auch not- Das Thema Vorratsdatenspeicherung kann zwar auf na- wendig. Das formulieren nicht allein die Innenminister tionaler Ebene angegangen werden und muss es viel- vieler Länder, sowohl von der Union als auch von der leicht auch. Es ist aber sinnvoll, diese Angelegenheit SPD, sondern auch besonnene Kriminalbeamte, Vertre- auch im europäischen Rahmen zu besprechen, weil wir ter von Sicherheitsbehörden und diejenigen, die sich tag- in Europa eine gemeinsame Verpflichtung haben, Krimi- täglich mit dem Kampf für unsere Freiheit beschäftigen. nalität schwerster Art zu analysieren und zu bekämpfen. (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, wir diskutieren heute vor dem Hintergrund des Schutzes von Grundrechten und Diese Formulierung wird gewählt, nicht weil es darum unserer Privatsphäre. Wir dürfen aber nicht vergessen, geht, Daten zu sammeln, als Selbstzweck, oder zu über- dass der Rechtsstaat auch dann verteidigt und unsere wachen, sondern um die Freiheit zu verteidigen und dem Freiheit gestärkt wird, wenn wir Opfer schützen und die Rechtsstaat durch den Schutz der Opfer Geltung zu ver- Täter schwerster Kriminalität nach rechtsstaatlichen schaffen. Maßstäben ihrer Strafe zuführen. Das ist unsere Ver- Ich darf in dem Zusammenhang an die jetzige Rechts- pflichtung. lage erinnern: Im Augenblick ist es so, dass der Staat Herzlichen Dank. nach richterlichem Beschluss sehr wohl die Möglichkeit des Zugriffs auf die Verbindungsdaten hat, es aber vom (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Zufall abhängig ist, ob die Verbindungsdaten noch vor- neten der SPD) handen sind oder schon gelöscht wurden. Ich meine, eine rechtsstaatliche Aufklärung kann nicht allein eine Frage Vizepräsidentin Claudia Roth: des Glücksspiels sein, ob nämlich die Daten schon ge- Danke, Herr Kollege Ullrich. – Nächster Redner in löscht worden sind, sondern es braucht dazu klare der Debatte ist Jan Korte für die Linke. rechtsstaatliche Regelungen. (Beifall bei der LINKEN) Dennoch gilt es, vor dem Hintergrund des Schutzes der Grundrechte besonnen und sehr überlegt zu handeln. Jan Korte (DIE LINKE): Gesetzgeberisches Handeln im Kernbereich der Grund- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! rechte verlangt kluges Nachdenken, hohe Sensibilität Die Debatte wird aus folgendem Grund noch interessant und eine umfassende Abwägung. Wir wollen deswegen werden: Bei Ihrem Redebeitrag, Herr Ullrich, hat von Ih- (B) vor dem Hintergrund der beiden Urteile kein vorschnel- rem Koalitionspartner nur einmal kurz (D) les Handeln, sondern ein klares und kluges Reflektieren und zaghaft geklatscht. Deswegen sind wir natürlich über die Frage: Wie können wir die Feinde unserer Frei- sehr gespannt darauf, was die heutige Position der So- heit im Internet am besten bekämpfen, ohne dass wir den zialdemokratischen Partei zur Vorratsdatenspeicherung Datenschutz verletzen und ohne dass wir zu sehr in die ist. Freiheit und die Grundrechte der Bürger eingreifen? (Dr. Eva Högl [SPD]: Die ist ziemlich klar!) (Beifall bei der CDU/CSU) Sie waren sonst immer dafür. Vielleicht sind Sie jetzt da- Da mag eine Mindestspeicherdauer der Daten ein richti- gegen. Dann würden wir Sie unterstützen. ger und gesetzgeberisch notwendiger Ansatz sein. Wir müssen uns aber auch überlegen, ob andere Formen, Nun aber zum Thema. Ich kann mich noch gut an vielleicht sogar modernere Technologien, nicht den glei- meine allererste Rede hier im Bundestag im Jahre 2005 chen Effekt haben, ohne in gleicher Weise intensiv in die erinnern. Auch sie galt der Vorratsdatenspeicherung. Sie Grundrechte einzugreifen. Auch dieser Überlegung stel- war, fand ich, inhaltlich überzeugend und gut. Rheto- len wir uns, weil wir diese Frage besonnen und nicht mit risch war sie sehr schlecht. Ich will damit aber sagen: Alarmismus angehen. Es ist nämlich nicht redlich, in der Seit 2005 haben wir Ihnen als Opposition in wechselnder Debatte um die Mindestspeicherfristen immer wieder Zusammensetzung mehrfach das gesagt, was Sie nun eine Parallele zur NSA zu ziehen. höchstrichterlich gleich zweimal aufs Butterbrot ge- schmiert bekommen haben. Das wäre doch in der Tat für (Jan Korte [DIE LINKE]: Doch!) die Konservativen heute Anlass, einmal in sich zu gehen Dort handelt es sich um die anlasslose Massenüberwa- und darüber nachzudenken, ob sie ihre Position nicht chung durch staatliche Stellen, und bei uns geht es um korrigieren und dem EuGH sowie dem Bundesverfas- die Frage, wie staatliche Behörden bei der Bekämpfung sungsgericht folgen sollten. schwerster Straftaten innerhalb einer kurzen Frist auf (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Daten, die ohnehin gespeichert sind, zugreifen können. NIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/ Wer das vermischt, schürt Angst und arbeitet unredlich. CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. – Das war ein freundlich gemeinter Hinweis, um in ei- Burkhard Lischka [SPD]) nen kritischen Dialog zu treten. Meine Damen und Herren, es ist jetzt klug, die Ana- Nach dem Bundesverfassungsgericht hat der Europäi- lyse der beiden Ministerien abzuwarten. Es gibt auch sche Gerichtshof in der Tat in einer noch viel deutliche- 2910 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Jan Korte (A) ren Art und Weise klar gesagt, dass die Richtlinie zur Es ist doch unfassbar, dass Sie das nicht zur Kenntnis (C) Vorratsdatenspeicherung gegen das Grundrecht auf Ach- nehmen. Seit 2005 tragen wir Ihnen das vor. tung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Zur Kennt- Daten verstößt. Das muss man doch zur Kenntnis neh- nis nehmen wir das! Wir ziehen nur andere men. Was machen Sie? Sie stellen sich hin und sagen: Schlussfolgerungen!) Das ist uns alles völlig schnurzpiepegal, wir machen es jetzt trotzdem. Sie nehmen das nicht zur Kenntnis und reden so, wie Sie 2005 auch schon geredet haben. Es ist nun wirklich sehr (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Stimmt bedauerlich, dass es dort keinerlei Weiterentwicklung im doch gar nicht! Das ist völlig unsachlich, was Denken gibt. Sie da vortragen!) (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir machen das weiter. Mal gucken, was die SPD dazu Die Hoffnung stirbt zuletzt!) macht. Fünftens. Die Gerichte sind nun zum zweiten Mal Erstens. Bei der Vorratsdatenspeicherung – das muss deutlich eingeschritten. Ja, der Hinweis ist natürlich man vielleicht noch einmal in Erinnerung rufen – wer- richtig: Das Bundesverfassungsgericht hat nicht gesagt, den Kommunikationsanbieter dazu verpflichtet, all diese dass es per se unzulässig ist. Verbindungsdaten anlasslos und verdachtsunabhängig (Marian Wendt [CDU/CSU]: Auch der – das ist doch der eigentliche Kern; damit wird der EuGH!) Rechtsstaat auf den Kopf und nicht auf die Füße gestellt – zu speichern. Das ist logischerweise nichts anderes als Aber es hat auch nicht gesagt: Liebes Parlament, bitte ein Generalverdacht gegen alle in Europa und Deutsch- führt in einer abgespeckten Variante eine Vorratsdaten- land lebenden Menschen. Man kann das doch allen Erns- speicherung ein. tes nicht zulassen, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- wäre ja auch noch schöner! Das ist Ihre Ver- NIS 90/DIE GRÜNEN) sion!) Das hat es dezidiert nicht getan. Zweitens. Ich möchte etwas ansprechen, das in der Debatte ein wenig unterbelichtet gewesen ist. Viele Jour- Wir sind jetzt an einem Punkt – da sind ausnahms- nalisten und Journalistenverbände haben jetzt darauf weise Sie einmal gefragt –, an dem man nicht alles, was aufmerksam gemacht, dass die Vorratsdatenspeicherung juristisch erlaubt und technisch möglich ist, auch ma- ein enormer Anschlag auf die Pressefreiheit ist, weil chen muss. Damit sind wir beim Kern der parlamentari- (B) nämlich Quellenschutz nicht mehr gewährleistet werden schen Arbeit. Das müssen Sie jetzt entscheiden. (D) kann bzw. weil Kontakte von Journalisten zu Whist- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Hört! leblowern – oder was weiß ich zu wem – nachvollzogen Hört! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: werden können. Auch das gilt es zu beachten. Wir haben uns entschieden!) Drittens. Es gilt – das ist, wie ich finde, auch eine Wir als Linke haben als Opposition eine klare Posi- wichtige Frage – zu beachten, dass beispielsweise all die tion dazu. anonymen Seelsorge- und Beratungsstellen – diese Insti- tutionen sind für viele Leute in Krisensituationen extrem (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt wichtig –, die logischerweise maßgeblich über das Tele- haben Sie den Dreh gekriegt! Juristisch ist es fon arbeiten, gefährdet sind. Im Zweifel wird man nicht erlaubt! Sehr schön!) mehr anrufen, weil man nicht weiß, was wann und wo Die ist von allen möglichen Kreisen – der Justiz, der über einen aufs Tableau kommt. Auch das gilt es, finde Wissenschaft und der Bevölkerung – bestätigt worden. ich, zu beachten. Es wäre schön, wenn Sie heute den Anträgen, die von Linken und Grünen vorgelegt wurden, folgen würden; Viertens. Wir haben schon bei der ersten Lesung der denn dann könnten wir uns diese mittelaufregenden De- Anträge der Grünen und der Linken vor einigen Wochen batten in Zukunft sparen und müssten nicht noch weitere darauf aufmerksam gemacht – auch das wird von Ihnen Gerichtsurteile abwarten. offenbar nicht zur Kenntnis genommen, was einen ein Stück weit fassungslos macht –, dass die kriminologi- Zusammengefasst: Erstens. Verzichten Sie endlich sche Abteilung des Max-Planck-Instituts ohne Interpre- auf jegliche Form von Vorratsdatenspeicherung, ob auf tationsspielraum nachgewiesen hat, dass es seit dem europäischer oder auf nationaler Ebene. Das untergräbt Wegfall der Vorratsdatenspeicherung in keiner Hinsicht den Rechtsstaat. Schluss damit! eine Schutzlücke gibt. Die gibt es einfach nicht. Das (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- müssen Sie doch einmal zur Kenntnis nehmen. Abgese- NIS 90/DIE GRÜNEN) hen von der Grundrechtsfrage ist offensichtlich auch wissenschaftlich nachgewiesen worden, dass man die Zweitens. Nutzen wir als Parlamentarier – das wäre Vorratsdatenspeicherung für eine Ermittlung in diesem eine wirkliche Aufgabe für den Bundestag, weil von der Umfang nicht braucht. Bundesregierung dazu natürlich gar nichts zu erwarten ist – doch das EuGH-Urteil, um einmal in uns zu gehen (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ein Gut- und alle Sicherheitsgesetze, die seit 9/11 erlassen wor- achten! Da gibt es viele andere!) den sind, zu überprüfen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2911

(A) Vizepräsidentin : Grundrechtsschutzes im digitalen Zeitalter halte. Ich be- (C) Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. grüße in diesem Zusammenhang ausdrücklich auch das äußerst besonnene Vorgehen unseres Bundesjustizminis- Jan Korte (DIE LINKE): ters Maas. Das ist natürlich schade. Ich hatte noch ein paar Hin- (Beifall bei der SPD) weise für die Koalition. – Nutzen wir das, um alle Ge- setze noch einmal auf den Prüfstand zu stellen und zu Es war sehr klug, hier keine Schnellschüsse im nationa- schauen: Sind sie verhältnismäßig gewesen? Inwieweit len Alleingang zu produzieren. Es war sehr klug, abzu- haben sie den Rechtsstaat beschädigt? Brauchen wir sie warten und nicht in politischen Aktionismus zu verfal- überhaupt? Dazu sind wir auf jeden Fall bereit. Es wäre len. Ich betone ausdrücklich: Es ist auch ein Zeichen von schön, wenn man das in den Reihen des Parlaments ge- Respekt vor den höchsten Gerichten in Europa, dass wir meinsam machen könnte. Wir sind der Auffassung, dass in anhängige Verfahren nicht mit irgendwelchen Be- wir in Europa und Deutschland mit dem EuGH-Urteil schlüssen hineinpfuschen, sondern abwarten, was diese eine Zeitenwende hin zu mehr Datenschutz und Bürger- Gerichte urteilen und sagen. Dieses kluge politische rechten einleiten sollten. Es wäre schön, wenn Sie dabei Handeln gilt es meiner Ansicht nach jetzt fortzusetzen. ausnahmsweise einmal mitmachen würden. Wir alle wissen nach dem Lesen des Urteils: Der Danke. Europäische Gerichtshof hat mit diesem Urteil kein Ver- bot der Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen. Er hat (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- aber erhebliche Flanken gesetzt. Man muss, glaube ich, NIS 90/DIE GRÜNEN) kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass aufgrund die- ser Tatsache die Debatte nicht vom Tisch ist. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat der Kollege Christian Flisek (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: das Wort. Wieso denn das? – Jan Korte [DIE LINKE]: Wir könnten sie heute beenden!) (Beifall bei der SPD) – Wir könnten sie heute, glaube ich, nicht beenden. – Es war sehr unklug, sich im Vorfeld des EuGH-Urteils in Christian Flisek (SPD): dieser Form zu äußern. Es ist auch sehr unklug, sich im Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle- Vorfeld der Europawahlen und einer neuen Europäi- ginnen und Kollegen! Heute ist Europatag. Der 9. Mai schen Kommission mit aktionistischen Anträgen und wird in Europa gefeiert, weil Robert Schuman damals durch nationale Alleingänge zu äußern. (B) seinen Plan für eine Vergemeinschaftung der Kohle- und (D) Stahlindustrie vorlegte. Das geschah vor dem Hinter- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) grund der Erfahrungen, die man im Zweiten Weltkrieg gemacht hatte. Das, was damals Kohle und Stahl waren, Ich bin davon überzeugt – das meine ich wirklich sind heute, im 21. Jahrhundert, die Daten. Daten sind die ernst –, dass, wenn wir einen wirksamen Beitrag zu ei- Rohstoffe einer digital vernetzten Wirtschaft. Daten sind nem effektiven Grundrechtsschutz der Bürgerinnen und aber auch Objekte des Zugriffs durch Sicherheitsbehör- Bürger in Europa leisten wollen, wir in dieser Debatte den und Geheimdienste, die sich dafür interessieren, und ideologisch ein wenig abrüsten müssen. Wir müssen auf das geschieht nicht nur innerhalb nationaler Grenzen, der Grundlage dieses Urteils in einen intensiven Dialog sondern in einem weltweiten Maßstab. mit unseren europäischen Partnern treten. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Frage nach Folgendes sage ich an die Adresse von Herrn Kolle- der technischen und wirtschaftlichen Zukunft Europas in gen Korte, Frau Kollegin Keul und der Opposition: Wir einer digitalisierten Welt und des damit einhergehenden müssen uns ein Stück weit ehrlich machen und nicht im- Grundrechtsschutzes ein zutiefst europäisches Thema mer so tun, als würde die Zukunft der digitalisierten ist. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter. Ich glaube, Welt allein hier im deutschen Parlament entschieden dass diese Debatte auch ein zutiefst globales Thema ist. werden. Deswegen müssen wir diese Debatte um die Vorratsda- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tenspeicherung auch in einem solchen Kontext diskutie- ren. Der NSA-Skandal zeigt doch sehr deutlich die Begrenzt- Datenströme in einer globalen Welt kennen keine heit nationaler Regelungen auf. Grenzen. Diese Erkenntnis mutet vielleicht banal an. Sie (Jan Korte [DIE LINKE]: Das ist trivial, ja!) hat aber weitreichende Konsequenzen für die Beantwor- tung der Frage, wie wir uns politisch aufstellen müssen, Wenn wir mit der Forderung, die Grundrechte auf der wenn wir einen effektiven Grundrechtsschutz europäisch Basis der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtsho- und global gewährleisten wollen. fes weltweit oder zumindest in Europa effektiv durchzu- setzen, wirklich ernst machen wollen, dann müssen wir Ich persönlich begrüße das Urteil des Europäischen in diesen Dialog treten, Gerichtshofes vom 8. April 2014 zur Vorratsdatenspei- cherung ausdrücklich, weil ich es als einen ganz wichti- (Jan Korte [DIE LINKE]: Dann müssen wir gen Beitrag zur Ausgestaltung eines europäischen vor der Haustür anfangen!) 2912 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Christian Flisek (A) dann müssen wir ein wenig aus den Schützengräben he- dien, von Evaluierungen, aber auch aufgrund solcher As- (C) rauskommen. Es ist sehr wichtig, dass wir eine Position pekte, die Sie zu Recht genannt haben – ich meine die finden, mit der wir konstruktiv in die Verhandlungen auf Kosten, die wir im Zweifel zum Beispiel der privaten In- europäischer Ebene und gerade mit unseren Partnern in ternetwirtschaft aufbürden –, zu dem Ergebnis kommen den USA gehen können. – ich gehe jetzt davon aus, dass wir innerhalb der Flan- ken, die der EuGH eingezogen hat, einen verbleibenden (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Zu- Möglichkeitsraum haben –, dass innerhalb des Möglich- ruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Es keitsraumes einer weiteren Vorratsdatenspeicherung auf geht hier doch um Datenschutz!) europäischer Ebene eine solche Regelung gar nicht mehr Gefragt ist kein holzschnittartiges Schwarz-Weiß, erforderlich ist, dann ist dies ein Ergebnis, zu dem wir sondern gefragt ist die Fortsetzung einer klugen Positio- aufgrund rationaler Überlegungen und nicht aufgrund ei- nierung. Ich bin sehr froh, dass unser Bundesaußen- ner ideologisierten Debatte, wie wir sie in diesem Hause minister Frank-Walter Steinmeier den Cyberdialog mit seit Jahren führen, gekommen sind. Das würde ich sehr den Vereinigten Staaten von Amerika vorgeschlagen hat. begrüßen. Ich halte diesen Dialog (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Jan Korte [DIE LINKE]: Ja, der geht ab!) Wollen Sie den EuGH auch als ideologisch be- zeichnen?) für ein richtiges und ein konstruktives Format, und zwar nicht nur auf Regierungsebene. Ich plädiere ausdrück- Denn ich glaube eines: Wenn wir die Debatte in der Art lich dafür, dass wir diesen Dialog auf der Ebene von und Weise fortsetzen, wie sie hier zu Beginn wieder ge- Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft führt wurde, dann leisten wir keinen Beitrag zu einem führen. wirksamen Grundrechtsschutz. Viele Länder interessie- ren sich für die Debatte, die wir hier führen, überhaupt Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: nicht. In Zeiten weltweiter globaler Kommunikation und Herr Flisek, lassen Sie eine Zwischenfrage von Herrn Datenströme müssen wir schauen, dass wir auf europäi- Janecek zu? scher – ich sage sogar: auf völkerrechtlicher – Ebene verbindliche Standards schaffen. Das ist ein konstrukti- ver Beitrag. Christian Flisek (SPD): Ja, sehr gerne. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, ich appelliere, weil meine Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (B) Redezeit zu Ende geht: Lassen Sie uns ein wenig ideolo- (D) Herr Kollege Flisek, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie gisch abrüsten! Lassen Sie uns dafür sorgen, dass wir auch die ökonomische Perspektive der Vorratsdatenspei- uns innerhalb Europas klug positionieren! Lassen Sie cherung geschildert haben. Am Anfang Ihrer Rede ha- uns Formate finden wie den Cyberdialog, wo wir in der ben Sie zu Recht davon gesprochen, dass wir eine breite Lage sind, unsere Positionen für einen effektiven Grund- Debatte führen müssen. Wir beide sind Mitglieder des rechtsschutz deutlich zu machen und zu übermitteln! Wirtschaftsausschusses. Ich stelle Ihnen deshalb die Das, meine Damen und Herren, wäre ein Ergebnis dieser Frage, ob Sie zur Kenntnis nehmen und wie Sie es beur- jahrelangen Debatten, mit dem wir Parlamentarier uns teilen, dass der Verband der Deutschen Internetwirt- sehen lassen könnten. schaft, der sich ganz klar positioniert hat, und zwar nicht aus Grundrechtssicht, gesagt hat: Das Ganze kostet uns Herzlichen Dank. so viel, dass es uns am Ende einfach nicht weiterbringt. – (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Sehen Sie das auch so? Würden Sie das auch so beurtei- len? Können Sie bei Ihren Kollegen von der Union, die ja gern den Mittelstand nach vorn tragen, Überzeugungs- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: arbeit leisten, damit wir diese Position in Zukunft ge- Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Sensburg das meinsam vertreten können? Wort. (Jan Korte [DIE LINKE]: Eine gute Frage!) (Beifall bei der CDU/CSU)

Christian Flisek (SPD): Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Herr Kollege Janecek, das ist eine sehr gute Frage, Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und um nicht zu sagen: Das ist eine exzellente Frage; Kollegen! Sehr geehrter Herr Korte, zu Beginn muss ich auf Ihre Rede eingehen, obwohl ich Ihrer Rede nicht den (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hof- großen Raum geben möchte. fentlich wird die Antwort auch exzellent!) (Jan Korte [DIE LINKE]: Die war gut, oder?) ich antworte gerne darauf und bin Ihnen dafür sehr dank- bar. Sie haben anfangs Ihrer Rede Ihre erste Rede im Deut- schen Bundestag zur Vorratsdatenspeicherung beschrie- Ich denke, die Frage, wie wir damit umgehen, sollten wir ben und haben sie selbst als sachlich brillant bezeichnet – darauf habe ich hingewiesen – ein wenig entideologi- sieren. Wenn wir aufgrund von Abwägungen, von Stu- (Jan Korte [DIE LINKE]: Nein, das nicht!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2913

Dr. Patrick Sensburg (A) – Sie können es noch einmal im Protokoll nachlesen; ich worden. In beiden Entscheidungen haben beide Gerichte (C) habe es mir mitgeschrieben – auf die Verhältnismäßigkeit abgestellt. Sie haben sowohl die EU-Richtlinie als auch – in der vorherigen Entschei- (Jan Korte [DIE LINKE]: Ich habe das nicht dung des Bundesverfassungsgerichts – das Gesetz für gesagt!) nicht verhältnismäßig und damit im Ergebnis für nichtig und rhetorisch nicht so gut. Ich muss ehrlich sagen, rhe- erklärt. Das Bundesverfassungsgericht führt aus – beide torisch haben Sie sich deutlich verbessert, aber sachlich Sätze sind sehr wichtig –: ist Ihre Rede nicht mehr brillant gewesen, sondern genau Zwar ist eine Speicherungspflicht in dem vorgese- das Gegenteil. henen Umfang nicht von vornherein schlechthin (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jan verfassungswidrig. Es fehlt aber an einer dem Ver- Korte [DIE LINKE]: Immerhin!) hältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechenden Ausge- staltung. Besonders geärgert hat mich, dass Sie die Bürgerin- nen und Bürger verunsichern. Sie vermischen Verkehrs- So wörtlich das Bundesverfassungsgericht. daten und sagen, es seien Inhalte. So ist es auf jeden Fall bei mir angekommen. Es sind also massive und tiefgreifende Eingriffe – das ist richtig –, und es erkennt, dass auf der anderen Seite (Jan Korte [DIE LINKE]: Habe ich nicht ge- der Schutz der Bürgerinnen und Bürger bei der rechtli- sagt! „Verbindungsdaten“ habe ich gesagt!) chen Ausgestaltung nicht hinreichend berücksichtigt Sie haben das Wort „Inhalte“ nicht benutzt; das ist rich- wurde. Wir stellen also fest, dass beide Rechtsgrundla- tig. Aber Sie haben gesagt, man weiß gar nicht mehr, gen – die Richtlinie wie auch das Gesetz – von den Ge- was über einen gespeichert wird. richten als die Verhältnismäßigkeit nicht hinreichend be- rücksichtigend beurteilt worden sind. Wir stellen auf der (Jan Korte [DIE LINKE]: „Verbindungsdaten“ anderen Seite fest, dass ein wesentliches Ermittlungsin- habe ich gesagt!) strument nicht mehr zur Verfügung steht. Wir können Spuren nicht mehr nachvollziehen. Spuren nachzuvoll- Es geht um Verkehrsdaten und nicht um die Inhalte. Das ziehen, ist ein wesentliches Ermittlungsmerkmal; auch ist der entscheidende Punkt. Es werden eben nicht die im Internet. Dieses Merkmal fehlt uns. Inhalte von Telefonaten gespeichert, aber es wird immer wieder der Eindruck erweckt, über die Vorratsdatenspei- Herr Korte, Sie haben gesagt, die Bürgerinnen und cherung würden Inhalte, Telefonmitschnitte oder Inhalte Bürger würden unter Generalverdacht stehen. Erinnern aus E-Mails oder SMS aufgezeichnet. Das ist eben nicht Sie sich mal 15 Jahre zurück – vielleicht ist es schon (B) der Fall. Es war mir wichtig, dies hier noch einmal zu 20 Jahre her –, als Sie Ihre Telefonabrechnung von der (D) betonen, damit keine Vermischung stattfindet. Post bekommen haben. Da stand eine Auflistung Ihrer (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Telefonate drauf. Wir standen doch nicht alle unter Ge- Dr. Eva Högl [SPD]) neralverdacht. Die Verbindungsdaten wurden aufgezeich- net, damit der Verbindungsnachweis für die Abrechnung Die vorliegenden Anträge halte ich für unglücklich, aufgestellt werden konnte, und niemand hat sich darüber weil Sie in Ihren Anträgen wollen, dass der Deutsche aufgeregt. Jetzt möchten wir Vergleichbares nutzen, um Bundestag – Sie schreiben zwar „Bundesregierung“, der schwerste Kriminalität aufzuklären. Gesetzgeber ist aber der Deutsche Bundestag; dies nur als Information – sich auch in Zukunft nicht mit einer Insofern ist es wichtig, zu lesen, was das Bundesver- bestimmten Materie befasst. Egal welche Materie das ist, fassungsgericht und der EuGH in ihren Urteilen ansons- ich halte den Antrag für mehr als schräg, dem Bundestag ten zu den Instrumenten sagen. Das Bundesverfassungs- aufzudrängen, sich mit einem Thema nicht mehr zu be- gericht sagt: Der Gesetzgeber kann mit einer Regelung schäftigen. Es ist unsere Entscheidung, ob wir uns mit zur Vorratsdatenspeicherung einer Materie beschäftigen. Wir lassen uns nicht von Ih- … legitime Zwecke verfolgen, für deren Errei- nen oder der gesamten Opposition davon abhalten. Wir chung eine solche Speicherung im Sinne des Ver- beschäftigen uns mit einer Materie, wenn wir glauben, hältnismäßigkeitsgrundsatzes geeignet und erfor- dass sie wichtig ist. derlich ist. (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Stephan Harbarth [CDU/CSU]: Hört! Lassen Sie mich eine Sache sagen – ich glaube, ich Hört!) bin nicht im Verdacht, aufgrund meiner letzten Reden Der Europäische Gerichtshof schreibt: zur Vorratsdatenspeicherung, die ich gehalten habe, skeptisch ohne Ende zu sein –: Wir müssen feststellen, Zu der Frage, ob die Vorratsspeicherung der Daten dass die Vorratsdatenspeicherung in ihrer bisherigen zur Erreichung des … verfolgten Ziels geeignet ist, Form vom Tisch ist. Das sage ich ganz deutlich. ist festzustellen, dass angesichts der wachsenden (Dr. Eva Högl [SPD]: Ja!) Bedeutung elektronischer Kommunikationsmittel die nach dieser Richtlinie auf Vorrat zu speichern- Sowohl das deutsche Gesetz als auch die EU-Richtlinien den Daten den für die Strafverfolgung zuständigen sind vom Bundesverfassungsgericht und jetzt vom Euro- nationalen Behörden zusätzliche Möglichkeiten zur päischen Gerichtshof für nicht verhältnismäßig erklärt Aufklärung schwerer Straftaten bieten und insoweit 2914 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Dr. Patrick Sensburg (A) daher ein nützliches Mittel für strafrechtliche Er- der Datenspeicherung und der Datensicherheit unterhal- (C) mittlungen darstellen. ten und uns auf die Suche nach dem richtigen Weg ma- chen. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Sehr rich- tig!) Ich will sagen, dass viele seit dem 8. April, als der Europäische Gerichtshof das Urteil gesprochen hat, da- Beide Gerichte sehen es als Möglichkeit an, eine sol- zugelernt haben. Es war für viele hier im Haus Anlass, che Vorratsdatenspeicherung zu installieren, und erken- die eigene Position zu überdenken. Für viele ist ange- nen an, dass es unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunk- sichts dessen, was man in den Jahren zuvor nahezu ideo- ten möglich ist, dies so auszugestalten. logisch vertreten hatte, quasi eine Welt zusammengebro- (Beifall bei der CDU/CSU – Jan Korte [DIE chen. LINKE]: „Möglich“! „Möglich“! „Möglich“!) Ich will an dieser Stelle auch sagen, dass es nicht nur Beide Gerichte haben uns in die Entscheidungen hin- das Parlament ist, das in den letzten Jahren hochemotio- eingeschrieben, unter welchen Voraussetzungen es mög- nal über das Thema der Vorratsdatenspeicherung disku- lich ist. Das Bundesverfassungsgericht schreibt: tiert hat: Wir haben erlebt, dass sich viele in der Zivilge- sellschaft immer wieder ehrenamtlich für Datenschutz Einer solchen Speicherung fehlt es auch in Bezug und gegen die Vorratsdatenspeicherung engagiert haben. auf die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne nicht Ich finde, heute ist ein Tag, an dem man diesen Ehren- von vornherein an einer Rechtfertigungsfähigkeit. amtlichen danken kann, die sich immer wieder in die Dies gilt, wenn – das Bundesverfassungsgericht zählt Debatte eingebracht haben. es auf – das Vier-Augen-Prinzip bei der Datenspeiche- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rung berücksichtigt wird, eine physische Trennung der der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- Daten von öffentlichen Netzwerken erfolgt, Verschlüsse- NISSES 90/DIE GRÜNEN) lungstechnologien eingesetzt werden und die Speiche- rung der Daten revisionssicher protokolliert wird. Das Das, was wir erlebt haben, was wir als Parlament mit Bundesverfassungsgericht schreibt uns in die Entschei- dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes mit auf den dung, wie es geht. Weg bekommen haben, bedeutet eine tektonische Ver- Genauso macht es der Europäische Gerichtshof: Er schiebung in der Debatte; das muss man so festhalten. schreibt eine Vielzahl von Voraussetzungen – maximale Ich wundere mich schon, wenn ich dann an so mancher Speicherungsdauer, Differenzierung zwischen den Kom- Stelle erlebe, dass die Argumente die gleichen geblieben munikationskanälen, aber auch den Adressaten usw. – in sind wie vor dem 8. April. Da kann ich jedem nur raten, (B) die Entscheidung hinein. in sich zu gehen und sich zu fragen, ob die Argumente (D) der Vergangenheit auch die der Zukunft sein können. Insofern sollten wir versuchen, eine europarechtskon- forme, verfassungskonforme, der Verhältnismäßigkeit Ich will an dieser Stelle ausdrücklich der Bundesre- Rechnung tragende Regelung, zum Beispiel in den gierung und vor allem dem Bundesjustizminister, der §§ 113 a bis 113 c TKG, zu formulieren, die sowohl den auch anwesend ist, danken für die Positionierung. Es war Ermittlungsnotwendigkeiten als auch – da gebe ich Ih- ein wichtiger Schritt, dass in enger Abstim- nen von der Opposition recht – den berechtigten Interes- mung mit Thomas de Maizière damals gesagt hat: Wir sen der Bürgerinnen und Bürger, was die Angemessen- setzen das, was im Koalitionsvertrag steht, nicht sofort heit des Mittels betrifft, Rechnung trägt. Das können wir um, sondern wir warten das Urteil des Europäischen Ge- hinbekommen, und Sie können daran mitarbeiten. richtshofes ab und schauen erst dann, wie es weitergeht. Es war eine kluge Entscheidung, hier keine Schnell- Danke für Ihre Aufmerksamkeit. schüsse vorzunehmen und das Urteil des Europäischen Gerichtshofes abzuwarten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Ich will auch sagen, dass es ebenfalls eine richtige Entscheidung des Justizministers war, auch wieder in en- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: ger Abstimmung mit dem Innenminister, nach dem Ur- Als nächster Redner hat der Kollege Klingbeil das teil zu überlegen: Wie geht es denn weiter? Die Position, Wort. die Heiko Maas in den öffentlichen Raum gestellt hat und der sich immer mehr anschließen, nämlich zu sagen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wir wollen keinen nationalen Alleingang, finde ich rich- der CDU/CSU) tig. Wir als Parlament sollten diese Position unterstüt- zen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Lars Klingbeil (SPD): (Beifall bei der SPD und des BÜNDNIS- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! SES 90/DIE GRÜNEN) Ich will mich bei den Linken und den Grünen bedanken, dass wir heute wieder eine Möglichkeit haben, hier im Es ist heute, eigentlich von allen Vorrednern, schon Parlament über die Frage der Vorratsdatenspeicherung angesprochen worden: Wir müssen uns nach diesem Ur- zu diskutieren. Ich halte es für wichtig, dass wir uns als teil Zeit für die Diskussion nehmen. Wir müssen auch ei- Deutscher Bundestag nach diesem wegweisenden Urteil nige Dinge zur Kenntnis nehmen. Der Koalitionsvertrag des Europäischen Gerichtshofes intensiv über die Frage hat an dieser Stelle keine Grundlage mehr; denn darin Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2915

Lars Klingbeil (A) steht: Wir wollen die europäische Richtlinie umsetzen. – (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – (C) Diese Richtlinie ist jetzt für nichtig erklärt worden. Die Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist Frage ist: Wie geht es jetzt weiter? eine gute Entscheidung!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: NEN) Als nächster Redner hat der Kollege Marian Wendt das Wort. An die Kollegen der Grünen gerichtet, sage ich: Ja, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wir brauchen die Debatte auch in Europa. Was ich nicht will, ist ein europäischer Flickenteppich, wo die einen das Urteil so interpretieren und die anderen es anders in- Marian Wendt (CDU/CSU): terpretieren. Deswegen müssen wir jetzt die Wahlen zum Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Europäischen Parlament abwarten. Wir müssen abwar- Kollegen! Zunächst möchte ich klarstellen, worüber wir ten, bis sich die neue Kommission konstituiert hat und heute überhaupt debattieren. Auch den Anwesenden hier müssen dann versuchen, innerhalb der Europäischen ist die Begrifflichkeit vielleicht nicht ganz klar gewor- Union einen gemeinsamen Dialog hinzubekommen. Es den. Wir reden nicht über Vorratsdatenspeicherung, son- kann nicht sein, dass die einen sagen, wir machen keinen dern nur über die Speicherung von Verbindungsdaten. nationalen Alleingang, und die anderen halten an einer Wir sprechen darüber, ob IP-Adressen oder Telefonnum- nationalen Umsetzung fest. Wir müssen eine gemein- mern – wer wann wo angerufen hat – gespeichert wer- same europäische Position entwickeln, wenn es um die den, Vorratsdatenspeicherung geht. (Jan Korte [DIE LINKE]: Auf Vorrat! Ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nau! – Dr. Eva Högl [SPD]: Nein, man nennt des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) das auch Vorrat! Sie werden schon auf Vorrat gespeichert!) Der Punkt ist: Wir haben jetzt Zeit, darüber zu disku- und das nicht durch staatliche Behörden, wie oft unter- tieren, was Strafermittlungsbehörden eigentlich brau- stellt wird. Nein, wir haben weder im Bundestag noch im chen. Ich möchte diese Diskussion gern unemotional Kanzleramt oder beim BKA Server stehen, auf denen die und sachlich führen. Aber wir führen sie unter einer ver- Telekommunikationsdaten gespeichert und genutzt wer- änderten Voraussetzung. Über Jahre haben die Gegner den. Das möchte ich ganz klar vorneweg stellen. der Vorratsdatenspeicherung sagen müssen, warum sie gegen die Vorratsdatenspeicherung sind. Ich finde, jetzt (Dr. Eva Högl [SPD]: Selbstverständlich wer- (B) müssen diejenigen, die für eine Speicherung von Daten den die gespeichert!) (D) sind, einmal begründen, warum man eigentlich dafür ist. Die Debatte über die Verbindungsdatenspeicherung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ haben wir in dieser Wahlperiode bereits zweimal ge- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jan Korte [DIE führt, das ist die dritte Debatte dazu. Auch nach den Ur- LINKE]) teilen des Europäischen Gerichtshofes und des Bundes- verfassungsgerichts bleibt ganz klar zu sagen: Die Ich freue mich auf die Diskussion. Auch bei mir, als je- Verbindungsdatenspeicherung ist grundsätzlich ein ge- mand, der das kritisch sieht, gibt es eine große Lernbe- eignetes und sinnvolles Mittel, um schwere Straftaten zu reitschaft. Ich lasse mich gerne von guten Argumenten verhindern und aufzuklären. Sie dient dem Gemein- überzeugen. wohl. – Das steht schwarz auf weiß in beiden Urteilen. Karlsruhe hat klipp und klar gesagt: Grundsätzlich ist die Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Urteil hat die Verbindungsdatenspeicherung mit der freiheitlich-demo- Debatte insgesamt verändert. Ich sage es noch einmal: kratischen Grundordnung vereinbar. Sie ist nicht per se Wir sollten uns nun Zeit nehmen für eine intensive und verfassungswidrig. – Diese Botschaften müssen auch die sachliche Diskussion. Der Kollege Flisek hat es ange- Oppositionsparteien anerkennen. sprochen: Es gibt viele weitere Dinge, die wir im Rah- men dieser Diskussion aufführen sollten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich möchte die Opposition gerne einladen, dass wir Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: das als Parlament gemeinsam machen. Ich würde mich Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kol- freuen, wenn wir die ideologischen Gräben der Vergan- legen von Notz zu? genheit überwinden und eine sachliche Debatte im Sinne Europas führen. Marian Wendt (CDU/CSU): (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir Gern. haben diese Debatte übrigens aufgesetzt!) Herzlichen Dank für Ihre Anträge. Wir lehnen sie heute Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE trotzdem ab, weil wir erst am Anfang der Debatte stehen GRÜNEN): und nicht am Ende. Das ist nett. Vielen Dank, Herr Kollege. – Sie verweisen zu Recht auf beide Entscheidungen. In der Entscheidung Vielen Dank. des Bundesverfassungsgerichts taucht ein Schlüsselbe- 2916 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Dr. Konstantin von Notz (A) griff auf, der Begriff der Überwachungsgesamtrechnung. diese Verbindungsdaten nämlich von sich aus, aber (C) Diese Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht Vodafone zum Beispiel nicht. Wir können es doch nicht vor der NSA-Affäre getroffen, im Hinblick auf SWIFT, dem Zufall überlassen, ob Straftaten aufgeklärt werden PNR und andere Dinge. Wie schaut das Bundesverfas- und eine Gefahrenabwehr stattfindet. Das kann doch sungsgericht Ihrer Meinung nach, so vom Bauchgefühl nicht davon abhängen, ob das jeweilige Telefonunter- her, jetzt auf die Überwachungsgesamtrechnung, jetzt, nehmen diese Daten gespeichert hat. Deswegen brau- wo wir wissen, dass praktisch alle Kommunikationsda- chen wir einen ganz konkreten rechtlichen Rahmen, der ten im Internet komplett gespeichert wurden und weiter- verfassungsgemäß ist; das haben wir ganz klar gesagt. hin gespeichert werden? Was denken Sie, wie würde das Das Bundesverfassungsgericht und der EuGH haben uns Bundesverfassungsgericht heute die Frage der Überwa- dazu entsprechende Aufträge und Auflagen gegeben. chungsgesamtrechnung bewerten? Diese werden wir jetzt umsetzen. Damit komme ich zum zweiten Punkt. Es ist richtig, Marian Wendt (CDU/CSU): dass wir das Problem in Europa lösen müssen. Gemein- Ich denke, Herr Kollege, dass das Bundesverfas- sam mit unseren Partnern müssen wir jetzt schauen, wie sungsgericht heute genauso urteilen würde wie 2010; wir das machen können. Ich bin Herrn Bundesinnen- denn am Sachverhalt hat sich nichts verändert. Verbin- minister Thomas de Maizière dankbar, dass er Anfang dungsdaten, Telefonnummern, Ort und Zeit, wurden be- Juni auf der Innenministerkonferenz in Athen dazu die reits vor 10 bzw. 15 Jahren gespeichert. Damit hat man Initiative ergreifen wird. Er wird die Punkte, die uns nicht erst vor zwei Jahren angefangen. Der Kollege wichtig sind, dort vorbringen und für eine europäische Sensburg hat das an einem Beispiel eindrücklich erklärt. Lösung werben. Es muss ganz klar sein: Einerseits müs- Wir alle haben sicherlich schon einmal eine Telefonrech- sen wir Straftaten effektiv verhindern, und wir müssen nung erhalten, in der am Ende eine Verbindungsüber- andererseits die Bedingungen des Europäischen Ge- sicht enthalten war. Das sind die Verbindungsdaten, über richtshofs und des Bundesverfassungsgerichtes einhal- die wir hier sprechen. Wir sprechen nicht über Inhalte, ten. Dabei geht es um Datensicherheit, Verhältnismäßig- die möglicherweise beim NSA-Skandal eine Rolle ge- keit und angemessene Speicherfristen. Dies müssen wir spielt haben. Nein, wir sprechen nur über die Frage: zielgenau umsetzen. Wir werden einen ausgewogenen Wann hat man eventuell jemanden angerufen? Dabei Kompromiss ermöglichen. geht es nicht um den Inhalt, sondern nur um die Frage, Wir müssen uns alle bewusst sein, da wir für die Si- ob Kommunikation stattgefunden hat. Darum geht es. cherheit die Verantwortung tragen, dass es hierbei nicht Deswegen, denke ich, würde das Bundesverfassungsge- um etwas Banales geht. Es geht hier, wie gesagt, um richt nicht anders urteilen, als es geurteilt hat, auch weil schwerste Eingriffe. Wir werden uns für eine gute Lö- (B) das Grundgesetz diesbezüglich seit dieser Zeit nicht ge- (D) sung einsetzen. ändert wurde. Ich fasse also zusammen: Wir brauchen Mindestspei- Auf zwei Punkte möchte ich noch eingehen. Die Aus- cherfristen, die nach wie vor dazu da sind, Straftaten zu gangssituation wurde bereits beschrieben. Für mich ist verhindern und aufzuklären. Wir brauchen auf europäi- es ganz wichtig, dass wir die Verbindungsdatenspeiche- scher Ebene schnell eine verfassungsmäßige und mehr- rung nicht nur zur Ermittlung bei schweren Straftaten heitsfähige Regelung zum Wohle der Bürgerinnen und brauchen, sondern wir brauchen sie auch zur Gefahren- Bürger. Die uns vorliegenden Anträge der Grünen und abwehr. Die Polizei, das Bundeskriminalamt, der Rich- Linken werden dem nicht gerecht. Deswegen werden terbund und die Innenminister der Bundesländer haben wir sie ablehnen. einheitlich entschieden: Wir brauchen dieses wichtige Instrument. Ich möchte ein Beispiel nennen; denn es Vielen Dank. geht nicht immer nur um Terroranschläge, die vielleicht (Beifall bei der CDU/CSU) weit weg zu sein scheinen, sondern auch um ganz prakti- sche Dinge. Nehmen wir folgendes Beispiel: Die Eltern haben am Donnerstagabend mit ihrem pubertierenden Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Mädchen oder Jungen einen Streit. Am Freitag kommt Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die das Kind nicht nach Hause. Das ist ein Fall, der in Aussprache. Deutschland sehr häufig auftritt. Das muss man ganz Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der eindeutig sagen. Das ist kein an den Haaren herbeigezo- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/ genes Beispiel, sondern das passiert. Die Frage ist jetzt: 1339 mit dem Titel „Europäischen Grundrechtsschutz Ist das Kind nicht nach Hause gekommen, weil es den gewährleisten – Nationale Vorratsdatenspeicherung ver- Streit aussitzen möchte und vielleicht zur besten Freun- hindern“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Das sind din gegangen ist, oder wurde es vielleicht doch entführt? Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion der Linken. Um diesen Sachverhalt aufzuklären, ruft die Polizei Wer stimmt dagegen? – Das sind die CDU/CSU und die beim Telekommunikationsunternehmen an und fragt SPD. Wer enthält sich? – Niemand. Damit ist dieser An- nach: Wer wurde zuletzt angerufen, und wo befindet sich trag abgelehnt worden durch die Stimmen der Koalition. eventuell das Handy? Das alles geschieht im Einverneh- men mit dem zuständigen Ermittlungsrichter. Dann ist es Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 20 b. Abstim- dem guten Willen bzw. dem Zufall überlassen, ob die mungen über die Beschlussfassung des Ausschusses für Polizei eine Auskunft erhält. Die Telekom speichert Recht und Verbraucherschutz auf Drucksache 18/999. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2917

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner schädigung für die Arbeit, die sie im Ghetto geleistet ha- (C) Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der ben, Rechnung getragen wird. Mit dem vorliegenden Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/302 mit dem Titel Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Geset- „Endgültig auf Vorratsdatenspeicherung verzichten“. zes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigun- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind gen in einem Ghetto, kurz Ghettorentengesetz, sorgen die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Das ist wir dafür, dass diese Menschen einen vollständigen so- die gesamte Opposition. Wer enthält sich? – Damit ist zialversicherungsrechtlichen Ausgleich für ihre Arbeit diese Beschlussempfehlung angenommen worden mit im Ghetto erhalten. den Stimmen der Koalitionsfraktionen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- der CDU/CSU und der LINKEN) fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/381 Die bisherige Regelung wurde von vielen Betroffenen mit dem Titel „Vorratsdatenspeicherung verhindern“. als Unrecht empfunden, Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wiede- rum die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Zu Recht!) Wiederum die gesamte Opposition. Wer enthält sich? – Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen denn viele Ghettorenten wurden nicht vom frühestmögli- der Koalition angenommen worden. chen Beginn ab Juli 1997 gezahlt. Wie Sie wissen, liegt der Grund darin, dass viele Ghettorenten erst nachträg- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme jetzt lich, nach einer Änderung der Rechtsprechung im Jahr zum Tagesordnungspunkt 21: 2009, bewilligt wurden. Wegen der im Sozialrecht gel- tenden Zahlungsausschlussfrist wurden die Ghettorenten Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- nur für vier Jahre rückwirkend gezahlt, also in der Regel gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur ab Januar 2005. Mit dem heute vorgelegten Gesetzent- Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung wurf ändern wir das. Danach entfällt die bisherige Vier- von Renten aus Beschäftigungen in einem jahresfrist, werden alle Renten auf Antrag der Berechtig- Ghetto ten vom Juli 1997 an neu festgestellt und gezahlt und Drucksache 18/1308 entscheiden die Menschen selbst, ob sie eine Nachzah- lung der Rente ohne die bisherigen Zuschläge wünschen Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) oder ob sie stattdessen die bisherige Rente mit Zuschlä- Auswärtiger Ausschuss gen, jedoch ohne weitere Nachzahlung behalten möch- (B) Innenausschuss ten. Momentan gehen aus aller Welt jeden Monat noch (D) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz rund 300 Anträge auf die sogenannte Ghettorente ein. Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO Auch diese neu eingehenden Anträge können in Zukunft Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für ab Juli 1997 bewilligt werden. die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Meine Damen und Herren, die meisten Betroffenen ziehen eine tatsächliche Sozialversicherungsrente als Ich eröffne die Aussprache und gebe als erster Redne- Anerkennung für die von ihnen geleistete Arbeit im rin der Staatssekretärin Frau Lösekrug-Möller das Wort. Ghetto einer einmaligen Entschädigungszahlung vor. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf entsprechen wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) diesem Anliegen. Menschen, die im Ghetto gearbeitet haben, taten dies vor allem, um nicht zu verhungern und um der Deportation, also dem sicheren Tod, zu entgehen. Gabriele Lösekrug-Möller, Parl. Staatssekretärin Wir können das große Leid, das sie unter der nationalso- bei der Bundesministerin für Arbeit und Soziales: zialistischen Gewaltherrschaft erlitten haben, niemals Wir alle können uns heute nicht mehr vorstellen, was gutmachen; das ist unbestritten. Aber wir können uns da- es hieß, unter unmenschlichen Bedingungen in einem für einsetzen, dieses Leid nicht zu vergessen und es an- Ghetto der Nationalsozialisten zu arbeiten. Doch es gibt zuerkennen. Das vorliegende Gesetz leistet einen klei- immer noch Zehntausende, die dieses harte Schicksal er- nen, aber wichtigen Beitrag dazu. leiden mussten und die lange auf eine Rente … im Geiste der Regelung von 2002 warten mussten. (Beifall im ganzen Hause) So , als der Gesetzentwurf, den ich Ih- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie daher nen heute vorstellen darf, das Kabinett passierte. seitens der Bundesregierung um zügige und wohlwol- lende Beratung und schließlich um Ihre Zustimmung, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe damit alle ehemaligen Ghettobeschäftigten jetzt schnell Kolleginnen und Kollegen! Ja, diese Menschen haben zu ihrem Recht kommen und ihre Rente ab Juli 1997 er- unsägliches Leid erlitten und sind heute hochbetagt. Im halten. Koalitionsvertrag haben SPD und Union deshalb in ge- meinsamer Verantwortung für die Überlebenden des Vielen Dank. Holocaust festgelegt, dass dem berechtigten Interesse der Holocaustüberlebenden an einer angemessenen Ent- (Beifall im ganzen Hause) 2918 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

(A) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: spät kommt. Rund 7 000 Menschen haben schon die (C) Als nächste Rednerin hat die Kollegin Jelpke das Neuüberprüfung der Anträge 2009 nicht mehr erlebt. Wort. Vorstöße der Linken, der SPD und der Grünen, die in eine ähnliche Richtung zielten wie der jetzt vorliegende (Beifall bei der LINKEN) Gesetzentwurf, wurden vor einem Jahr mit Stimmen der Union und der FDP abgeblockt. Seither sind wieder ei- Ulla Jelpke (DIE LINKE): nige Hundert Betroffene gestorben. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wird in der Tat höchste Zeit für diesen Gesetzentwurf, der Un- Ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich bei den Ho- gerechtigkeiten beim Umgang mit früheren Ghettobe- locaustüberlebenden ausdrücklich für ihre Kraft zu be- wohnern und -bewohnerinnen endlich beendet. Die Um- danken, beharrlich ihr Recht einzufordern. Das gilt auch setzung dieses Ghettorentengesetzes ist wahrlich kein für Historiker und mutige Richter, denen es zu verdan- Ruhmesblatt gewesen. Erst hatte man den Überlebenden ken ist, dass das Bundessozialgericht in seinem Be- eine Rente zugesagt, dann hat man 90 Prozent aller An- schluss von 2009 die Ablehnungspraxis kritisch beurteilt träge abgelehnt. Wie demütigend muss es für die Betrof- hat. fenen gewesen sein, sich von deutschen Beamtinnen und (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Beamten und von der Rentenkasse den Vorwurf anhören neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE zu müssen, sie seien gar nicht in einem Ghetto gewesen GRÜNEN) oder sie hätten dort nicht „freiwillig“ gearbeitet? Ich möchte an dieser Stelle namentlich den Sozialrichter Erst 2009 hat das Bundessozialgericht eine Neuüber- Jan-Robert von Renesse nennen, der schon früh erkannt prüfung angeordnet, in deren Folge wenigstens die hatte, dass die Formulare der Rentenkassen dem Schick- Hälfte der Anträge doch noch bewilligt wurde. Prompt sal der NS-Opfer nicht gerecht wurden, und deswegen kam die nächste Ungerechtigkeit: Obwohl versprochen persönliche Anhörungen auch in Israel durchführte. Da- war, dass die Rente ab 1997 auszuzahlen ist, flossen die für wurde er von seinen Vorgesetzten zusammenge- Gelder erst mit Wirkung ab 2005. Das ist nicht nur eine staucht, gemobbt und von diesen Fällen abgezogen. Ge- gefühlte Ungerechtigkeit, wie es in der Gesetzesbegrün- dankt wurde ihm nur von den Überlebenden. Wir, die dung heißt. Linke, möchten uns diesem Dank ausdrücklich anschlie- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten ßen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Für viele Überlebende geht es sehr praktisch darum, dass und das Justizministerium in NRW auffordern, die Schi- (B) ihnen Tausende von Euro verlorengegangen sind, zum kanen gegen Richter Renesse endlich einzustellen. (D) Beispiel einem 90-Jährigen, der Anspruch auf 8 000 Euro Nachzahlung hätte. Dass ihm bisher vorgerechnet (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- wurde, er werde diese Summe durch den höheren Ren- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- tenzuschlag bis zu seinem 98. Geburtstag ausgeglichen ten der SPD) haben, ist einfach absurd gewesen. Deswegen ist es rich- Zum Schluss möchte ich noch einen Appell an die tig, diese Nachzahlungen jetzt zu ermöglichen. Bundesregierung richten: Vergessen Sie nicht die Über- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- lebenden der polnischen Ghettos! Es wird gern überse- neten der CDU/CSU, der SPD und des BÜND- hen, dass in Polen lebende Betroffene bisher keinen Cent NISSES 90/DIE GRÜNEN) an Renten erhalten haben. Das liegt an zugegebenerma- ßen komplizierten Regelungen des deutsch-polnischen Richtig ist ebenfalls, jetzt auch solche Ghettos zu be- Sozialversicherungsabkommens, was aber kein Grund rücksichtigen, die nicht direkt von den Nazis kontrolliert sein kann, dieses spezielle Unrecht einfach hinzuneh- worden waren, sondern von ihren Komplizen und Kom- men. plizinnen, etwa in der Slowakei und in Rumänien. Auch das Ghetto in Schanghai konnte ja nur eingerichtet wer- (Beifall bei der LINKEN) den, weil die Nazis mit ihrer Vernichtungspolitik Juden Ministerin Nahles war dieser Tage in Polen und hat lei- und Jüdinnen dazu zwangen, zu fliehen. Dieses Unrecht der wieder keine Lösung mitgebracht, nur die Ankündi- so weit wie möglich wiedergutzumachen, gehört zur gung, dass weitere Gespräche geführt werden. Frau deutschen Verantwortung. Ich bin angenehm überrascht Nahles – sie ist heute nicht da; aber die Staatssekretärin davon, dass der Entwurf von Ministerin Nahles dieser kann das sicherlich übermitteln –, das reicht nicht. Wir Verantwortung in einem so weitreichenden Umfang denken, dieser Punkt darf nicht auf die lange Bank ge- nachkommt. schoben werden; sonst lebt kein Betroffener mehr. (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie Wenn es darum geht, Gerechtigkeit für NS-Opfer her- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE zustellen, haben wir schon viel zu viel Zeit verloren. GRÜNEN und des Abg. [CDU/ Deshalb ist es gut und richtig, dass wir uns heute, was CSU]) den hier vorgelegten Gesetzentwurf betrifft, einig sind. Zur Selbstzufriedenheit, meine Damen und Herren, gibt Ich hoffe auch, dass er so schnell wie möglich verab- es trotzdem keinen Grund. Ich möchte daran erinnern, schiedet wird, damit die Renten endlich ausgezahlt wer- dass die jetzige Lösung für Tausende von Betroffenen zu den. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2919

Ulla Jelpke (A) Herzlichen Dank. Gesetz praxisnäher umzusetzen und wesentlich mehr (C) Anträge zu genehmigen. Deswegen richte ich noch ein- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- mal einen Dank für diese wegweisende Entscheidung an neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE die damaligen Sozialrechtler, mit der sie unser Gesetz so GRÜNEN) zur Anwendung gebracht haben, wie es eigentlich ge- dacht war. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat der Kollege Weiß das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Im deutschen Sozialrecht gibt es aber eine Bestim- [SPD]) mung, die für alle Sozialleistungen gilt, nämlich dass man eine Sozialleistung nur vier Jahre rückwirkend ge- nehmigt bekommen kann. Das führt im Fall der Bezieher Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): einer Ghettorente ab 2005 allerdings dazu, dass deren Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- monatliche Rente wesentlich höher ist – um bis zu gen! Es ist in der Tat unvorstellbar für uns, für die heute 45 Prozent höher – als die Rente, die ab dem Jahr 1997 lebende Generation, was das Leben in Ghettos, in die die monatlich ausgezahlt wird. Nazidiktatur und ihre Helfershelfer Menschen gepfercht haben, wirklich bedeutet hat. Deswegen möchte ich noch Man ging davon aus, dass das, was einem entgangen einmal daran erinnern, dass vor zwei Jahren, am 27. Ja- ist, weil der ursprüngliche Rentenantrag nicht genehmigt nuar 2012, Marcel Reich-Ranicki von dieser Stelle aus wurde, durch diesen höheren monatlichen Zahlbetrag uns allen mit seiner Rede einen sehr beeindruckenden der Rente ungefähr ausgeglichen wird. In vielen Gesprä- und tiefen Einblick in die Situation des Warschauer chen mit Betroffenen haben wir allerdings feststellen Ghettos damals gegeben hat. müssen, dass das subjektive Gerechtigkeitsbefinden trotzdem massiv gestört ist, Dass wir im Deutschen Bundestag 2002 ein Gesetz beschlossen haben, mit dem wir den Menschen, die im (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Ghetto einer Arbeit nachgingen, um zu überleben, einen NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ja auch ob- eigenen Rentenanspruch zugesprochen haben, war, wie jektiv falsch!) ich finde, eine richtige, gute und nicht nur symbolträch- weil sich die Betroffenen fragen: Warum bekommt der tige Entscheidung. Ich glaube, wir können gemeinsam eine die Rente rückwirkend ab 1997 ausgezahlt und ich ein Stück stolz darauf sein, dass wir das geschafft haben. erst ab 2005? Ja, die Menschen, die im Ghetto einer Arbeit nachgin- gen, erhalten einen eigenen Rentenanspruch: Das war Wir haben dann darüber diskutiert, ob man denjeni- (B) (D) die Entscheidung des Bundestages. Sie war richtig, gut gen, die erst ab 2005 eine Rente erhalten, für den Zeit- und wegweisend. raum von 1997 bis 2005 nicht einfach einen Einmalbe- trag als Entschädigung zahlen könnte. Wir haben das (Beifall im ganzen Hause) sehr ernsthaft erwogen, aber feststellen müssen, dass die Auf das, was anschließend geschehen ist, können wir Betroffenen auch mit einer solchen Regelung nicht zu- nicht wahnsinnig stolz sein; das ist richtig. Die Deutsche frieden gewesen wären, sondern das nach wie vor als re- Rentenversicherung hat die Bestimmungen des Ghetto- lativ ungerecht empfunden hätten. rentengesetzes in der Praxis nämlich so eng ausgelegt, Deswegen bin ich froh, dass wir jetzt eine klare Rege- dass rund 90 Prozent der Anträge abgelehnt worden lung treffen. Mit der Änderung machen wir Folgendes sind. Ich will ganz klar sagen: Es war 2002 nicht die Ab- möglich: Derjenige, der damit einverstanden ist, dass er sicht der deutschen Parlamentarier, ein Gesetz zu verab- erst ab 2005 diese Rente bekommt – dafür erhält er aber schieden, bei dem 90 Prozent der Betroffenen anschlie- einen höheren monatlichen Zahlbetrag –, kann dabei ßend gar keine Leistung bekommen, weil die meisten bleiben. Wer dagegen eine Neuberechnung seiner Rente Anträge durch die Behörden abgelehnt werden. möchte, die dann rückwirkend ab 1997 ausgezahlt wird (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem – dafür erhält er aber einen niedrigeren monatlichen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zahlbetrag –, der kann diese Lösung wählen. Die damalige rot-grüne-Bundesregierung, die ich als Ich glaube, damit kann jeder Betroffene für sich per- CDU-Abgeordneter nicht unbedingt verteidigen muss sönlich eine Entscheidung treffen, und ich hoffe, dass – in diesem Fall tue ich das aber gerne –, hat damals üb- das subjektive Ungerechtigkeitsempfinden, das mit der rigens schnell reagiert, indem sie eine eigene Entschädi- bisherigen Praxis verbunden ist, damit der Vergangen- gungsleistung in Höhe von 2 000 Euro eingeführt hat, heit angehört. Das ist ein wichtiger Schritt, um dem Ge- die jeder, dessen Antrag abgelehnt wurde, beantragen rechtigkeitsempfinden der Betroffenen nach ihrem konnte und auch unbürokratisch und schnell erhalten schweren Schicksal, das sie erlebt haben, ein Stück weit hat. Um das deutlich zu machen: Es gab anschließend zu entsprechen. also kein Nichtstun, sondern es ist schnell reagiert wor- Wir eröffnen die Möglichkeit, Anträge jetzt oder auch den. erst in Zukunft zu stellen. Diejenigen, die bislang zum Dann kam im Jahr 2009 – das ist schon erwähnt wor- Beispiel aufgrund der Befürchtung, bei der bisherigen den – die wegweisende Entscheidung des Bundessozial- Genehmigungspraxis ohnehin keine Chance zu haben, gerichts, mit der die Möglichkeit eröffnet wurde, dieses keinen Antrag gestellt haben, sollten jetzt den Mut auf- 2920 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Peter Weiß (Emmendingen) (A) bringen – dazu möchte ich sie auch ausdrücklich auffor- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) dern –, einen Antrag auf eine Ghettorente zu stellen, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich wenn die Voraussetzungen bei ihnen vorliegen. möchte zunächst mit einem Dank an die Kolleginnen und Kollegen von der SPD dafür beginnen, dass sie Bei selbstkritischer Betrachtung – so müssen wir sa- durchgesetzt haben, dass dieses wirklich ungute Kapitel gen – hat es viel zu lange gedauert, bis bei der Ausle- jetzt hoffentlich ein gutes Ende findet. Wir als Opposi- gung dieses Gesetzes die Erkenntnis Platz gegriffen hat, tion haben in der letzten Wahlperiode wiederholt ge- dass eine Ghettobeschäftigung nicht mit den Maßstäben meinsam gefordert, dass der gesetzgeberische Wille, der eines allgemeinen versicherungspflichtigen Beschäfti- 2002 zu dem Ghettorentengesetz geführt hat, endlich gungsverhältnisses klassischer Art gemessen werden von Verwaltung, Gerichten und Gesetzgeber umgesetzt kann. wird. Ich glaube, dass wir jetzt insgesamt eine Regelung Wir hatten von Anfang an gesagt, man solle die Leis- treffen, die dem Gerechtigkeitsempfinden der Menschen tungen rückwirkend ab 1997 bekommen. Durch die tatsächlich entspricht und mit der dafür gesorgt wird, skandalöse Rechtspraxis sowohl der zuständigen Behör- dass jeder für sich selbst ermessen kann, mit welcher Re- den als auch einiger Sozialgerichte wurde das gemacht, gelung er gerne seine Ghettorente beantragt und mit wel- was leider paradigmatisch für die Praxis und Geschichte cher finanziellen Regelung er glaubt, besser zu fahren. des deutschen Entschädigungsrechts steht: Man hat mit Logischerweise spielt auch die Frage, wie hoch der den Opfern immer gerechtet, hat Opfergruppen heraus- Zahlbetrag ist, eine große Rolle, auch wenn es, ehrlich argumentiert, hat Leistungen gekürzt, hat Verfolgungs- gesagt, mehr um geringe Rentenansprüche geht. Es sind schicksale nicht in ihrer vollen Dimension wahrhaben keine Riesensummen, die da monatlich ausbezahlt wer- wollen und nicht anerkannt. Das ist im Praxisvollzug den. dieses Gesetzes auch passiert. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Wie kann ein Sozialgericht auf die Idee kommen, dass die Arbeit in einem Ghetto quasi die gleichen recht- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Gesamtbetrag ist lichen Strukturen haben soll wie ein Normalarbeitsver- schon vierstellig! Das ist für die Leute schon hältnis in der Bundesrepublik Deutschland? Natürlich was!) waren das Zwangsverhältnisse. Niemand war freiwillig Ich finde, dass man bei einer solchen Debatte auch im Ghetto. Natürlich war es aus der Not geboren, dass auf Folgendes hinweisen sollte. Der finanzielle Beitrag die Menschen dort gearbeitet haben: um eine Suppe einer Ghettorente ist nur der eine Aspekt. Der andere As- mehr zu haben, um ein paar Zloty zu bekommen, um sich etwas zu essen kaufen zu können oder um die Masse (B) pekt ist ein eher moralischer. Ich darf seit einigen Jahren (D) Präsident des Maximilian-Kolbe-Werks sein, einer Insti- zu erhöhen, über die der Judenrat verfügen konnte, um tution, die aus der katholischen Versöhnungsarbeit he- für die Menschen zu sorgen. raus entstanden ist. Dieses Werk steht mit den heute Natürlich war das nicht freiwillig in unserem Sinne, noch unter uns lebenden Menschen, die einst von den auch wenn es zum Teil freie Entscheidungen waren. Nazis in KZs, Ghettos oder in Lager verbracht worden Dass man das rückblickend nicht erkannt hat, halte ich waren, im Dialog und gewährt ihnen Hilfe. für einen Skandal. Für mich ist beeindruckend: Dass die Frauen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Männer, die sich nach den schrecklichen Erfahrungen in sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- der Nazidiktatur einstmals geschworen hatten, nie mehr KEN) deutschen Boden zu betreten, nie mehr die deutsche Für einen Skandal halte ich auch, dass man oftmals nach Sprache zu benutzen, die zusammengezuckt sind, wenn Aktenlage entschieden und einfach Formalien zur irgendwo Deutsch gesprochen worden ist, weil sie sich Grundlage der Entscheidungen gemacht hat. dadurch automatisch an die Nazischergen erinnert fühl- ten, heute – hochbetagt! – bereit sind, nach Deutschland Ich finde, in diesem Zusammenhang gebührt dem So- zu kommen, an Universitäten und Schulen als Zeitzeu- zialrichter von Renesse, der auch bei den Anhörungen gen für Gespräche zur Verfügung zu stehen und ihre des Parlamentes zugegen war, großer Dank. Er hat ge- Gastgeber in Deutschland als „unsere Freunde“ bezeich- sagt: Nein, ich höre mir das Lebensschicksal der Men- nen, ist für mich das eigentliche Wunder der Aussöh- schen an, das will ich kennen, statt mich nur auf die For- nung. Für dieses Wunder der Aussöhnung können wir mulare zu stützen, die die Menschen in ihrer Dimension Deutsche nur dankbar sein. nicht voll durchschaut haben. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der SPD) bei Abgeordneten der LINKEN und des Ich hoffe, dass ihm für sein Engagement in dieser Hin- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sicht noch Recht widerfährt. Es ist gut, dass wir heute die Gesetzgebung korrigie- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: ren und in Rechnung stellen, dass das Bundessozialge- Als nächster Redner hat der Kollege Beck das Wort. richt eine neue Praxis vorgegeben hat, sodass diejenigen, Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2921

Volker Beck (Köln) (A) die Opfer einer falschen Rechtsprechung waren, im Er- Opfergruppe nach den Juden. Millionen von Soldaten (C) gebnis nicht weniger Leistungen bekommen als diejeni- sind in den Russenlagern ausgehungert, zu Tode gequält gen, denen der Anspruch von Anfang an gewährt wurde. und umgebracht worden. Es gibt keinen Ort, an dem wir dieses Unrechts und der Opfer gedenken, die oftmals, Ich möchte aber auf ein Problem aufmerksam ma- wenn sie überlebt haben, unter Stalin als angebliche Kol- chen, das der Gesetzentwurf der Bundesregierung noch laborateure weiter gelitten haben. Demgegenüber hat enthält und eine bestimmte Personengruppe betrifft. In Deutschland bis heute keine Geste des humanitären Aus- der Begründung des Gesetzentwurfes heißt es zu Recht: gleichs angeboten. Um Ungleichbehandlungen unter den Berechtigten Ich finde, wir sollten uns in dieser Legislaturperiode, zu vermeiden, können künftig auch diejenigen, die solange noch betroffene Menschen leben, auch diesem zum Beispiel wegen befürchteter Aussichtslosigkeit Kapitel widmen. Ich glaube, gerade in der aktuellen Si- angesichts der jahrelangen restriktiven Bewilli- tuation wäre es ein gutes Signal an die Völker der ehe- gungspraxis einen Antrag auf eine Rente nach dem maligen Sowjetunion, dass wir ihnen dankbar sind, dass ZRBG nicht innerhalb der bisher geltenden An- sie uns vom Hitlerfaschismus und von den Nationalsozi- tragsfrist … gestellt … haben, alisten befreit haben und dass Konflikte, die wir außen- einen Antrag stellen. – Das ist richtig. Manche dieser politisch an anderer Stelle haben, nichts damit zu tun ha- Antragsteller, die wussten, dass sie, weil sie kein Gehalt, ben, dass wir ihnen diesen Dank auch in Zukunft sondern nur Lebensmittelmarken bekommen haben, schulden. nach bisheriger Praxis keinen Anspruch hatten, können (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Antrag nicht mehr stellen, weil sie inzwischen ver- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten storben sind bzw. vor 2009 verstorben waren. der SPD) Die Hinterbliebenen dieser Ghettorentenberechtig- ten, die oftmals selber auch NS-Verfolgte sind, aber wo- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: möglich nicht im Ghetto waren, sondern gleich von ih- Als nächste Rednerin hat die Kollegin Kerstin Griese rem Wohnort in ein KZ verschleppt worden sind, das Wort. erhalten jetzt nach dem Ghettorentengesetz Leistungen in Form der Hinterbliebenenrente nur ab dem Todestag (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des Ghettorentenberechtigten. Damit leiden sie mit da- der CDU/CSU) runter, dass jemand in dem Wissen, dass er keinen An- spruch hat, auf Antragstellung verzichtet hat, weil er sich Kerstin Griese (SPD): von einer deutschen Behörde nicht auch noch diese Ab- (B) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (D) lehnung schriftlich geben lassen wollte. Ich möchte mich erst einmal sehr herzlich bedanken für Ich finde – das sage ich auch an meine konservativen die große Ernsthaftigkeit, mit der die Debatte hier ge- Freunde von der CDU gerichtet –, wenn wir den Schutz führt wird. Ich denke, das ist der Sache angemessen. der Ehe ernst nehmen, dann müssen wir auch daran fest- Auch die Tatsache, dass wir schon heute Morgen in ei- halten, dass die Ehe eine Wirtschaftsgemeinschaft ist. nem interfraktionellen Berichterstattergespräch mit allen Die Hinterbliebenen stehen heute unter Umständen öko- vier Fraktionen über dieses Thema beraten haben, zeigt, nomisch schlechter da – im Zweifelsfall macht das dass, wie wir hier heute ja auch erleben, sehr große Ein- 7 000 Euro aus –, als wenn ihr verstorbener Ehegatte mütigkeit herrscht, und lässt hoffen, dass wir endlich zu oder seine verstorbene Ehegattin den Antrag gestellt einem guten Ergebnis kommen. Vielen Dank dafür an hätte. Es geht wahrscheinlich um wenige Menschen. alle Fraktionen. Lassen Sie uns diese kleine Ungerechtigkeit im Gesetz- Vielen Dank auch an Ministerin Andrea Nahles und gebungsverfahren im Ausschuss noch bereinigen. Ich an Sie, liebe Frau Staatssekretärin; denn es war eine der hoffe, wir kriegen das gemeinsam hin. ersten Amtshandlungen unserer Ministerin, dass sie ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sucht hat, für dieses seit langem schwelende und schwie- und bei der LINKEN) rige Thema eine im Sinne der Betroffenen bessere Lö- sung zu finden. Das war dringend nötig. Ich bedaure, Meine Damen und Herren, ich möchte mich zum dass es so spät kommt. Daher ist es wichtig, dass wir das Schluss dafür bedanken, dass wir heute so weit gekom- jetzt so schnell wie möglich beschließen. men sind. Angesichts dessen, dass heute der 9. Mai ist, dass man in Russland, in der Ukraine und in Weißruss- Wir sprechen über die Änderung des Ghettorentenge- land heute des Waffenstillstandes, der Kapitulation setzes, ein Gesetz, das wir 2002 mit der Intention be- schlossen hatten – das wurde bereits gesagt –, dass den (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE Menschen, die in Ghettos unter schlimmen Umständen LINKE]: Befreiung) arbeiten mussten, ein kleines Stück Gerechtigkeit – wenn man überhaupt davon sprechen kann – wider- und der Befreiung Deutschlands durch die Rote Armee fährt und dass entsprechende Auszahlungen rückwir- gedenkt, möchte ich aber auch daran erinnern, dass wir, kend ab 1997 möglich werden. wie ich denke, noch ein offenes Kapitel in der Erinne- rungspolitik haben, und zwar in der Frage der Entschädi- Wie wir schon gehört haben, wurden in der Praxis zu- gung bzw. der humanitären Gesten gegenüber den sow- erst etwa 90 Prozent der Anträge, die oft von Menschen, jetischen Kriegsgefangenen. Sie waren die zweitgrößte die sehr alt und krank waren, gestellt wurden, nicht be- 2922 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Kerstin Griese (A) willigt. Die Betroffenen haben das als einen Schlag ins Ich habe viel mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ge- (C) Gesicht empfunden. Das hat dazu geführt, dass 2009 das sprochen, die mich sehr beeindruckt haben; ich war oft Bundessozialgericht die bisherige strikte Auslegung re- in Israel. Ich weiß, dass die hohen Ablehnungszahlen der vidiert hat und danach etwa 50 Prozent der Fälle, die zu- Anträge auf Renten für in Ghettos geleistete Arbeit dort vor abgelehnt wurden, anerkannt wurden. Allerdings intensiv wahrgenommen wurden. – das war das Problem dabei, das wir nun gesetzlich lö- Deshalb ist es gut und wichtig, dass mit der jetzt vor- sen wollen – erfolgte die Rentenauszahlung für die nun gelegten Änderung die Vierjahresfrist ausgeschlossen anerkannten Anträge nur für vier Jahre rückwirkend, wird und alle Antragsteller ihre Rente rückwirkend ab also erst ab 2005 und nicht schon ab 1997, wie es der 1997 bekommen. Wir werden eine Optionsmöglichkeit Gesetzgeber wollte. Das bedeutete für viele Menschen, einführen, sodass auch jeder bzw. jede individuell ent- die oft krank sind, in Armut leben und deren Situation scheiden kann, welche Möglichkeit für ihn oder sie bes- schwierig ist, eine echte Enttäuschung. Zwar wurden ser ist. Das Verfahren soll so unbürokratisch und ver- dann Zuschläge zum Ausgleich geleistet, aber diese auf ständlich wie möglich mit einem Anschreiben der vier Jahre begrenzte Nachzahlung wurde von den Be- Rentenversicherung in der Sprache des Landes, in dem troffenen als großes Unrecht empfunden. Das wollen wir die Betroffenen leben, durchgeführt werden, damit diese nun ändern. sehr alten Menschen eine individuelle Entscheidung tref- Ich will einen Vertreter der Menschen, über die wir fen können. hier sprechen, zu Wort kommen lassen. In der letzten Le- Auch die generelle Streichung der Antragsfrist, die gislaturperiode gab es eine Anhörung im Deutschen bisher der 30. Juni 2003 war, ist wichtig; denn es wird Bundestag. Uri Chanoch, Jahrgang 1928, geboren in Li- weiter möglich sein, Rentenanträge zu stellen. Es gibt tauen, ist dort zu Wort gekommen. Er hat in einem heute immer noch Menschen, die sich jetzt erst trauen, Ghetto bei Kovno leben und arbeiten müssen. Er war da- einen solchen Antrag zu stellen, bzw. jetzt erst von der nach in einem Außenlager des KZ Dachau inhaftiert. Er Möglichkeit erfahren, einen solchen Antrag zu stellen. hat im Dezember 2012 bei dieser Anhörung im Bundes- tag Folgendes gesagt – ich zitiere mit Erlaubnis der Frau Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin optimis- Präsidentin –: tisch, dass wir mit diesen Änderungen den berechtigten Anliegen der ehemaligen Ghettoarbeiterinnen und -ar- Was wir und eigentlich alle Überlebenden wollen, beiter nach einer Rente entsprechen können. Diese Men- ist nicht viel, wirklich nicht viel. Die Ghetto-Insas- schen haben es verdient, von uns, vom Parlament, von sen waren, die sollen die Rente ab 1997 bekommen, Deutschland mit Respekt und mit Demut behandelt zu und das ist einfach… Ich bin jetzt 85, ich war 17 bei werden. Diese unsere Geschichte, das menschenunwür- (B) der Befreiung. Schauen Sie, nicht alle haben An- dige Leben und die abscheulichen Gräueltaten, die Jü- (D) träge gestellt, bis heute wollen nicht alle mit dinnen und Juden in den Ghettos und in den KZs unter Deutschland etwas zu tun haben, aber diejenigen, deutscher Aufsicht erlitten haben, diese Geschichte ver- die noch existieren, haben in der Mehrheit Pro- pflichtet uns zu besonderer Aufmerksamkeit und Verant- bleme… Wir haben alle Probleme, ein Überleben- wortung den Überlebenden gegenüber. der ist nie heraus von dort, das ist normal. Jeder Uri Chanoch, den ich zu Beginn zitierte, ist 1946 nach Einzelne hat einen Tick, hat schlechte Träume, Israel ausgewandert. Bis heute spricht er vor Schülerin- schluckt Pillen, trotzdem haben sie geholfen und nen und Schülern über seine Erlebnisse, zuletzt noch im das Land aufgebaut, trotz alledem. Februar dieses Jahres in Dachau. Ich habe tiefen Respekt Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die jüdischen davor, dass ein Mensch mit dieser Lebensgeschichte Frauen und Männer, die in Ghettos unter der Herrschaft nach Deutschland zurückkehrt und mit Jugendlichen dis- der Nationalsozialisten leben mussten, war Arbeit im kutiert. wahrsten Sinne des Wortes lebensnotwendig, überle- (Beifall im ganzen Hause) bensnotwendig. Sie mussten arbeiten, um zu überleben; denn wer arbeitete, bekam etwas zu essen. Wer arbeitete, Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Gesetzentwurf wurde nicht so schnell in ein KZ weitergeschickt. liegt uns vor, und ich wünsche mir sehr, dass wir ihm nach intensiver, aber rascher Beratung alle zustimmen Während der NS-Herrschaft wurden über 1 000 Ghet- können. Das wäre ein sehr gutes Zeichen. Für fast tos im deutschen Besatzungs- und Herrschaftsgebiet er- 40 000 Menschen, etwa die Hälfte von ihnen in Israel, richtet. Allein in Polen waren es rund 600. Die Ghettos viele in den USA, in Ungarn, in Kanada und in der gan- waren Durchgangsstationen auf dem Weg in die Ver- zen Welt, würde das eine sofortige, ganz konkrete Ver- nichtungslager. Sie waren aber auch Arbeitskräftereser- besserung ihres beschwerlichen Alltags bedeuten. Aber voir und Produktionsstätten für die deutsche Rüstungsin- wir müssen auch wissen, dass täglich Menschen sterben, dustrie. Dass für die Arbeit der in Ghettos lebenden die solche Rentenanträge gestellt haben und die nicht Juden tatsächlich damals Rentenbeiträge abgeführt wur- mehr erleben, dass wir dieses Gesetz verändern und dass den, zeigt, wie erschreckend technokratisch und zugleich sie Renten aus Deutschland bekommen. Ich bedaure es, zutiefst unmenschlich das System des NS-Regimes dass diese Änderung erst jetzt, 2014, kommt. Aber sie agierte. Es war ja überhaupt nie vorgesehen, den in kommt, und das ist wichtig. Ghettos Beschäftigten für ihre gezahlten Sozialabgaben Vielen Dank. tatsächlich später Renten zu zahlen. Schließlich war die totale Ermordung aller Juden geplant. (Beifall im ganzen Hause) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2923

(A) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Wir erweitern im Übrigen auch den Kreis der Berech- (C) Als nächster Redner hat der Kollege Stephan Stracke tigten. Bisher war es so, dass das betreffende Ghetto in das Wort. einem Gebiet liegen musste, das vom Deutschen Reich besetzt oder eingegliedert war. Jetzt weiten wir die vor- (Beifall bei der CDU/CSU) handene Regelung auf den Einflussbereich des national- sozialistischen Deutschen Reiches aus. Dadurch kom- Stephan Stracke (CDU/CSU): men beispielsweise Betroffene aus der Slowakei oder Rumänien zur Gruppe der Bezugsberechtigten hinzu. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Das ist sachgerecht und sinnvoll. Herren! Heute, fast auf den Tag genau 69 Jahre nach der Kapitulation von Hitlerdeutschland, bringen wir eine Wir reden über besondere Lebenssachverhalte. Be- zentrale Änderung für Menschen auf den Weg, die von sondere Lebenssachverhalte bedürfen auch besonderer den Nationalsozialisten in Ghettos gesperrt worden sind Einzelfallentscheidungen. Deshalb stellen wir mit die- und dort unter unmenschlichen Lebensbedingungen ge- sem Gesetzentwurf fest: Die im Sozialrecht allgemein arbeitet haben. Bereits 2002 haben wir den politischen geltende vierjährige Rückwirkungsfrist werden wir nicht Willen erklärt, den Betroffenen einen Anspruch auf eine anwenden. Diese Frist ist es, die uns hier in der Praxis gesetzliche Rente ab dem 1. Juli 1997 zu öffnen. die meisten Probleme gemacht hat; meine Vorredner ha- ben intensiv darauf hingewiesen. Deshalb ändern wir es. Wir stehen zu unserer historischen Verantwortung für In der Praxis gab es ein weiteres Hemmnis, nämlich die die Überlebenden des Holocaust, und wir wollen den be- Einhaltung der Antragsfrist bis zum 30. Juni 2003. Auch rechtigten Interessen der betroffenen Menschen nach ei- diese Frist fällt nun. Dies führt dazu, dass entsprechende ner angemessenen Würdigung ihrer unter unmenschli- Ungleichbehandlungen beseitigt werden. chen Bedingungen in einem Ghetto geleisteten Arbeit Rechnung tragen. Das haben wir, CDU/CSU und SPD, Das macht deutlich: Die rechtssystematischen Argu- im Koalitionsvertrag verabredet, und das setzen wir nun mente der Vergangenheit sind nicht falsch gewesen. Wir um. geben bei der Güterabwägung jetzt nur dem Argument der Einzelfallgerechtigkeit den Vorzug. Das bedeutet Ich freue mich über den breiten Konsens in dieser zweierlei: Frage. Zum einen muss jeder Betroffene wissen, dass seine (Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜND- laufende Rente gekürzt wird, wenn er von der Nachzah- NIS 90/DIE GRÜNEN]) lungsmöglichkeit Gebrauch macht. Denn eins geht nicht: Nachzahlung und Weiterbezug des durch den Zuschlag (B) Wir haben bereits 2002 den Anspruch auf eine gesetzli- erhöhten laufenden Rentenbetrags. Es gäbe ansonsten (D) che Rente aus einer Beschäftigung in einem Ghetto ein- eine Ungleichbehandlung gegenüber denjenigen, die be- stimmig beschlossen. Auch heute zeichnet sich gleich- reits seit Juli 1997 eine Rente beziehen. Gleiche Sach- falls eine breite Zustimmung in diesem Hohen Hause ab. verhalte gleich zu behandeln, das ist sinnvoll, und daran Das ist sehr erfreulich, und dafür bedanke ich mich. halten wir fest. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ein Zweites. Mit diesem Gesetzentwurf ist keine Prä- neten der SPD) zedenzwirkung für andere Fallgruppen verbunden. Wir machen eine einmalige Ausnahme von der Rechtssyste- Mit den Änderungen ermöglichen wir es allen Be- matik im Sozialrecht. Das betrifft insbesondere die vier- rechtigten, ihre gesetzliche Rente, die auf Beschäfti- jährige Rückwirkungsfrist. Bei dieser einmaligen Aus- gungszeiten in einem Ghetto beruht, rückwirkend vom nahme bleibt es auch. 1. Juli 1997 an zu beziehen. Wir setzen das um, was der Gesetzgeber bereits 2002 ursprünglich gewollt hat. Die Das Unrecht, das den Betroffenen angetan wurde, Hemmnisse und Hindernisse, die sich in der Praxis bei kann nicht wiedergutgemacht werden. Wir können aber der Umsetzung dieses Gesetzes aufgetan haben, insbe- dafür sorgen, dass die tagtäglich weniger werdenden sondere auf der Rechtsprechung des BSG beruhend, be- überlebenden Ghettobeschäftigten schnell von den zu- seitigen wir. Jeder Berechtigte hat nun die Möglichkeit, sätzlichen Möglichkeiten, die dieser Gesetzentwurf bie- sich so zu stellen, als hätte er seit dem 1. Juli 1997 Rente tet, tatsächlich Gebrauch machen können. Nur das wird bezogen. Das war unsere ursprüngliche gesetzgeberische dem besonderen Verfolgungsschicksal der hochbetagten Absicht. Wir sorgen nun dafür, dass das Verfahren besser Berechtigten gerecht. Deshalb streben wir eine zügige gangbar wird. Umsetzung der gesetzlichen Änderungen im Deutschen Bundestag an. Der Bundesrat hat hier bereits, wie die Wir schaffen ein gesetzliches Wahlrecht. Die Men- Diskussion im Herbst 2013 gezeigt hat, seine Unterstüt- schen können künftig frei wählen, ob sie eine Nachzah- zung signalisiert. Ich gehe davon aus, dass dieses Gesetz lung ihrer Rente rückwirkend ab 1997 verbunden mit ei- im Sommer im Bundesgesetzblatt steht. ner niedrigeren laufenden Monatsrente wünschen oder ob sie ihren bisherigen Rentenbeitrag gemäß der Rege- Eine rasche gesetzgeberische Umsetzung ist das eine. lung von 2009 behalten möchten. Sie können selbst ent- Zugleich werden wir sicherstellen, dass die Rentenver- scheiden, was in ihrer individuellen Lebenssituation das sicherungsträger die Betroffenen über ihr Wahlrecht und Bessere ist. Das schafft Gerechtigkeit. Deshalb tun wir seine Auswirkungen umfassend informieren. Denn was es. nützt die beste Gesetzgebung in diesem Bereich, wenn 2924 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Stephan Stracke (A) sie die Berechtigten nicht erreicht oder sie sie nicht ken- Die Zeit drängt; denn die Umsetzungsfrist für die Richt- (C) nen? Deshalb ist es sinnvoll, dass die Rentenversiche- linie ist bereits seit über einem Jahr abgelaufen, und die rung hier in einfacher und verständlicher Weise über die EU-Kommission hat bereits ein Vertragsverletzungsver- zusätzlichen Möglichkeiten informiert, und zwar in der fahren eingeleitet. Landessprache. Ich fände es gut, wenn beispielsweise unsere Botschaften oder unsere Konsulate entsprechend Ziel unseres Entwurfs ist – im Einklang mit den An- ausgebildetes Fachpersonal vor Ort hätten, sodass Nach- forderungen der Richtlinie – eine bessere Zahlungsdiszi- fragen nicht auf dem Schriftwege geklärt werden müss- plin im Geschäftsverkehr. Wir wollen insbesondere den ten, sondern durch eine persönliche Ansprache vor Ort Mittelstand davor schützen, dass er durch vertragliche beantwortet werden können. Zahlungs- oder Überprüfungsfristen den Zahlungs- schuldnern praktisch einen kostenlosen Kredit einräu- Uns ist wichtig: Die Renten müssen schnell und un- men muss. Betroffen sind neben vielen anderen auch das bürokratisch bei den Menschen selbst ankommen. Des- Handwerk und das Baugewerbe, wie wir aus der inten- wegen finden sich in diesem Gesetzentwurf Regelungen, siven Diskussion der vergangenen Wochen wissen. Ge- die klarstellen, dass diese Renten nicht an die Rechtsan- rade für diese Unternehmen ist Zeit ein entscheidender wälte fließen, sondern tatsächlich an die Betroffenen. Faktor: Können sie wegen langer Zahlungsziele oder Auch das ist gut. Es geht um knapp 40 000 Berechtigte. verspäteter Zahlungen ihre eigenen Zahlungsverpflich- Mit der heutigen Einbringung dieses Gesetzentwurfs ma- tungen nicht erfüllen, droht ihnen im schlimmsten Falle chen wir einen ersten Schritt dahin, dass diese 40 000 Be- Insolvenz. Dies gilt es zu verhindern, meine sehr verehr- rechtigten ihre Renten tatsächlich schnell und unbürokra- ten Damen und Herren. tisch erhalten. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Silke Herzlichen Dank. Launert [CDU/CSU]) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Um dieses Ziel zu erreichen, beschränkt der Entwurf bei Abgeordneten der LINKEN und des vor allem das Recht, vertraglich Zahlungs-, Abnahme- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und Überprüfungsfristen zu vereinbaren. Dabei ist, wie die Diskussion auch in der vergangenen Legislatur- periode ergeben hat, ein stärkerer Schutz dort erforder- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: lich, wo übermäßig lange Zahlungsziele mittels Allge- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die meiner Geschäftsbedingungen vereinbart werden. Daher Aussprache und hoffe, dass das eintritt, was alle aus- ist vorgesehen, dass Allgemeine Geschäftsbedingungen, drücklich unterstrichen haben, nämlich dass wir diesen in denen sich ein Schuldner vorbehält, erst nach mehr als (B) Gesetzentwurf zügig beraten und das dann auch wirklich 30 Tagen zu zahlen, im Zweifel unwirksam sind. Die (D) zu einem guten Ende führen. Richtlinie sieht eine solche 30-Tage-Frist zwar nur für Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: öffentliche Auftraggeber als Zahlungsschuldner vor. An- ders als von manchen befürchtet, bedeutet die Erstre- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- ckung dieser Regelung auf Unternehmen aber keines- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be- wegs eine dramatische Verschärfung der geltenden kämpfung von Zahlungsverzug im Geschäfts- Rechtslage. Denn schon heute orientiert sich die Recht- verkehr sprechung bei der Beurteilung der Wirksamkeit solcher Klauseln an einer 30-Tage-Frist. Auch Überprüfungs- Drucksache 18/1309 und Abnahmefristen in Allgemeinen Geschäftsbedin- Überweisungsvorschlag: gungen werden stärker beschränkt: Solche Fristen sind Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) im Zweifel unangemessen, wenn sie mehr als 15 Tage Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie betragen. Hier sind nach einer interfraktionellen Vereinbarung Eine größere Vertragsfreiheit verbleibt den Parteien für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre freilich dort, wo sie sich individualvertraglich auf Zah- dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. lungs-, Überprüfungs- oder Abnahmefristen einigen. Hier gilt in Übereinstimmung mit der Richtlinie Folgen- Ich eröffne dann auch die Aussprache. Als erster Red- des: ner hat Staatssekretär Christian Lange das Wort. Lässt sich ein Unternehmer eine Zahlungsfrist von mehr als 60 Tagen einräumen, so ist diese Vereinbarung Christian Lange, Parl. Staatssekretär beim Bundes- nur wirksam, wenn sie, wie es im Entwurf steht, „aus- minister der Justiz und für Verbraucherschutz: drücklich getroffen“ und „nicht grob unbillig“ ist. Die- Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr verehr- selben Wirksamkeitsanforderungen gelten, wenn sich ten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetz- Unternehmer oder öffentliche Auftraggeber Überprü- entwurf zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Ge- fungs- und Abnahmefristen von mehr als 30 Tagen ein- schäftsverkehr wollen wir endlich die im Jahr 2011 neu räumen lassen. gefasste Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr umsetzen. Im Hinblick auf vereinbarte Zahlungsfristen gelten, wenn der Zahlungsschuldner ein öffentlicher Auftragge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ber ist, wie bereits erwähnt, strengere Anforderungen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2925

Parl. Staatssekretär Christian Lange (A) Eine Frist von mehr als 30 Tagen ist dann nur wirksam, Herzlichen Dank. (C) wenn sie „ausdrücklich getroffen“ und „sachlich ge- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) rechtfertigt“ ist. Eine Zahlungsfrist von mehr als 60 Ta- gen ist in jedem Fall unwirksam. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Abgesehen von dieser Höchstfrist bedeutet die Be- Als nächster Redner hat der Kollege Richard Pitterle schränkung der Vertragsfreiheit, wie aufgezeigt, nicht, von der Fraktion Die Linke das Wort. dass die Vereinbarung längerer Fristen nun generell ver- boten wäre. Für sie müssen aber künftig besondere (Beifall bei der LINKEN) Gründe vorliegen. So stellen wir sicher, dass schwächere Vertragspartner nicht so leicht übervorteilt werden. Richard Pitterle (DIE LINKE): Um zu gewährleisten, dass die neuen Regelungen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen auch wirklich eingehalten werden, wird Unternehmens- und Kollegen! Liebe Besucher! Mit dem heute vor- verbänden künftig das Recht zugestanden, Ansprüche liegenden Gesetzentwurf soll der Zahlungsverzug im auf Unterlassung von gesetzwidrigen AGB oder entspre- Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen bekämpft wer- chenden Geschäftspraktiken gerichtlich geltend zu ma- den. Künftig sollen Vereinbarungen über Zahlungster- chen. Dies kommt vor allem kleinen und mittleren Un- mine eine bestimmte Frist nicht überschreiten dürfen. ternehmen zugute. Sie werden mit der Durchsetzung Das Zahlen von Rechnungen kann dann nicht mehr bis ihrer Ansprüche nicht alleingelassen. zum Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden. Das sollte auch und vor allem kleinen und mittleren Unter- Der Entwurf sieht schließlich verstärkte Rechtsfolgen nehmen helfen. Die Fraktion Die Linke begrüßt dieses für den Zahlungsverzug vor. So wird zum einen der ge- Ziel ausdrücklich. In der Regel ist es nämlich so, dass setzliche Verzugszins um 1 Prozentpunkt auf 9 Prozent- bei den Verhandlungen darüber, wann eine bestimmte punkte über dem Basiszinssatz erhöht. Zum anderen Leistung zu bezahlen ist, das kleine Unternehmen der wird bei Verzug des Zahlungsschuldners ein Anspruch Marktmacht des großen Unternehmens ausgeliefert ist. auf eine Pauschale von 40 Euro eingeführt. Ich will Ihnen das an einem Beispiel verdeutlichen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es wird Der kleine Handwerker oder der kleine Zulieferer, der häufig gefragt, wie es denn dazu kommt, dass schlechte mit einem Großabnehmer Geschäfte macht, ist häufig Zahlungsmoral oft bei großen Unternehmen oder öffent- auf Folgeaufträge angewiesen und will es sich daher mit lichen Auftraggebern auftritt. Die Gründe für eine seinem größeren Geschäftspartner nicht verscherzen. schlechte Zahlungsmoral – das wissen wir – sind vielfäl- Das heißt, dass er bei den Verhandlungen über Zahlungs- tig und lassen sich nicht pauschal Unternehmen be- fristen eher einknicken wird und natürlich der größere (B) (D) stimmter Größe oder dem öffentlichen bzw. privaten Geschäftspartner seine Überlegenheit voll ausspielen Sektor zuordnen. kann. Die Europäische Kommission geht davon aus, dass Das Schlimme ist, dass gerade kleine und mittlere vor allem die Marktstruktur, insbesondere die Markt- Unternehmen oft wenig bis gar keine finanziellen Polster macht des Zahlungsschuldners und die Angst des Gläu- haben, um lange auf Zahlungseingänge warten zu kön- bigers vor einer Beeinträchtigung der Geschäftsbezie- nen. Der Malermeister von nebenan zum Beispiel kann hungen wesentliche Ursachen sind. Man darf aber auch auf diese Weise im schlimmsten Fall in die Pleite getrie- nicht die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen ben werden. Hingegen dürfte es den größeren Unterneh- außer Acht lassen, insbesondere nicht eine Konjunktur- men in der Regel nichts ausmachen, auf die Belange der abschwächung, fehlende Finanzmittel und Haushalts- kleineren einzugehen. In der Realität sieht es jedoch oft zwänge sowie unzureichende interne Organisation von anders aus. Hier muss den kleinen und mittleren Unter- Gläubigern und Schuldnern; denn auch das hat Einfluss nehmen daher der Rücken gestärkt werden. auf die Zahlungsmoral. Deshalb will ich es an dieser (Beifall bei der LINKEN) Stelle nicht verschweigen. Zurück zum Gesetzentwurf. Meine Damen und Her- Meine Damen und Herren, weil das so ist, wollen wir ren von der Bundesregierung, der ganz große Wurf ist diese neuen Regelungen jetzt so schnell wie möglich in Ihnen hier leider nicht gelungen. Jetzt mögen Sie zwar Kraft setzen und auch für bestehende Dauerschuldver- sagen, dass Sie hier wenig Spielraum hatten, da dem hältnisse gelten lassen; Letzteres allerdings nur, sofern Entwurf eine EU-Richtlinie zugrunde liegt, die zwin- die Leistung, für die ein Zahlungsziel vereinbart wurde, gend in nationales Recht umzusetzen ist. nach dem Juni 2015 erbracht wurde. Ich gehe davon aus, dass diese Übergangsfrist ausreichen wird, um beste- Dennoch wäre hier Luft nach oben gewesen. In der dem hende Rahmenverträge anzupassen. Entwurf zugrundeliegenden EU-Richtlinie heißt es in Artikel 12 nämlich – ich zitiere –: Die Mitgliedstaaten Ich bin also davon überzeugt, meine Damen und Her- können Vorschriften beibehalten oder erlassen, die für ren, dass der nun vorliegende Entwurf eine ausgewogene den Gläubiger günstiger sind als die zur Erfüllung dieser Lösung der verschiedenen Interessen bereithält. Ich Richtlinie notwendigen Maßnahmen. hoffe daher, dass auch in Deutschland bald Regeln gel- ten werden, die im Geschäftsverkehr für einen fairen Das hätten Sie, meine Damen und Herren von der Ausgleich zwischen Schuldnern und Gläubigern von Bundesregierung, beherzigen sollen. In der nun schon Entgeltforderungen sorgen. länger andauernden Diskussion um den vorliegenden 2926 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Richard Pitterle (A) Entwurf ist bereits mehrfach die Befürchtung geäußert Gremien und in Sachverständigenanhörungen ausführ- (C) worden, die nunmehr festzulegenden Höchstfristen lich diskutiert. Wir haben im parlamentarischen Bereich könnten das bisherige Leitbild im deutschen Zivilrecht auch eine Reihe von Ideen entwickelt. Deshalb freuen verdrängen. Bisher ist nach § 271 BGB nämlich grund- wir uns sehr, dass in dem Entwurf, der uns jetzt vorliegt, sätzlich sofort nach Erhalt der Leistung zu zahlen, auch auf viele dieser Ideen, die im parlamentarischen Raum wenn abweichende Vereinbarungen getroffen werden entwickelt wurden, zurückgegriffen wurde. können. Wenn nun aber, wie durch Ihren Entwurf vorge- sehen, auf einmal die Höchstfrist von 60 Tagen aus- Warum ist der Kampf gegen Zahlungsverzug so wich- drücklich im Gesetz genannt ist, so liegt es durchaus tig? Er ist deshalb so wichtig, weil eine in die Zukunft nahe, dass dann diese Höchstfrist auch gern als Richt- hinausgeschobene Handlung dem etwas nimmt, dem das wert genommen wird und der Gläubiger entsprechend Geld eigentlich zusteht, nämlich dem Gläubiger. Aber lange auf sein Geld warten muss. Hier hätten Sie sich der Schutz des Gläubigers ist kein Selbstzweck, sondern dazu durchringen müssen, über die EU-Richtlinie hin- der Schutz ist deshalb so wichtig, weil die Folgewirkun- auszugehen und kürzere Fristen festzulegen. gen oft dramatisch sind, gerade für mittelständische Un- ternehmen, für Unternehmen, die eine dünne Liquiditäts- (Beifall bei der LINKEN) decke haben, für Unternehmen, die angeschlagen sind, für Unternehmen, die sich in schwierigen Zeiten befin- Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, den. Wir wollen, dass eine Kultur rechtzeitiger Zahlung auch darüber hinaus schwächelt Ihr Entwurf. Er ist näm- in Deutschland und europaweit etabliert wird. lich unübersichtlich und mit Detailregelungen überfrach- tet. Zwar will ich Ihnen zugestehen, dass bereits die zu- Wir haben gesehen, wie gerade mittelständische Un- grundeliegende EU-Richtlinie nicht gerade als leichte ternehmen und Handwerksbetriebe sich viele Sorgen um Bettlektüre bezeichnet werden kann. Aber dennoch: dieses Thema machen. Das gilt für die Baubranche und Eine übersichtlichere Umsetzung in das deutsche Zivil- auch für viele andere Sparten, wo etwa dann, wenn eine recht wäre angebracht gewesen. Wer sich im Recht der große Rechnung vom Schuldner nicht rechtzeitig bezahlt Schuldverhältnisse auskennt, weiß, dass hier eine ohne- wird, ein Unternehmen oder ein kleiner Betrieb ins hin umfangreiche und komplizierte Regelungsmaterie Straucheln kommen kann, was durchaus existenzielle vorliegt. Diese wird durch die im Entwurf vorgesehenen Gefahren bergen kann. Änderungen nicht gerade übersichtlicher gestaltet. Aus- legungsschwierigkeiten und entsprechende Differenzen Für uns ist es wichtig, dass dieses Thema auf europäi- scheinen jetzt schon vorprogrammiert. Versetzen Sie scher Ebene angegangen wird. Das ist für uns deshalb sich nun bitte wieder in die Lage des kleinen Unterneh- wichtig, weil die üblichen Zahlungsrhythmen in Europa weit auseinanderlaufen. Wir haben heute viel grenzüber- (B) mers, also zum Beispiel des Malermeisters von nebenan. (D) Dieser wird mit höchster Wahrscheinlichkeit keine ei- schreitenden Geschäftsverkehr. Für viele mittelständi- gene Rechtsabteilung haben, die ihm bei den Vertrags- sche Unternehmen ist es heute genauso normal, in ein verhandlungen mit Rat und Tat zur Seite steht und ihn benachbartes europäisches Land zu liefern, wie in einen durch die Niederungen des Bürgerlichen Gesetzbuches anderen Teil unseres Landes zu liefern. Die Zeitpunkte führt. der Zahlungseingänge sind in Europa aber sehr unter- schiedlich. Untersuchungen von Euler Hermes aus dem Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, Jahr 2012 zufolge warten Gläubiger in Deutschland im an anderer Stelle betonen Sie gern die Bedeutung des Schnitt 24 bis 30 Tage auf den Zahlungseingang. In Mittelstands. Seien Sie konsequent, und zeigen Sie dies Frankreich und Belgien sind es im Schnitt bereits auch durch entsprechende Verbesserungen des vorlie- 61 Tage. Nach Feststellung der Europäischen Kommis- genden Entwurfs. Kleine und mittlere Unternehmen dür- sion muss ein Lieferant EU-weit durchschnittlich fen von der Politik nicht im Stich gelassen werden. Set- 65 Tage warten, bis die öffentliche Hand Rechnungen zen Sie sich also für deren Belange ein. Die Linke wird begleicht. Besondere Probleme gibt es in Südeuropa. In das jedenfalls weiterhin tun. Italien zahlt die öffentliche Hand durchschnittlich erst (Beifall bei der LINKEN) nach 135 Tagen, in Griechenland erst nach 160 Tagen. Private Unternehmen zahlen demgegenüber durch- schnittlich nach 52 Tagen. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner Wenn man sich ansieht, wie sehr das auseinandergeht, hat der Kollege Dr. Harbarth das Wort. dann ist zweierlei klar: Es ist wichtig, für die öffentliche Hand besonders strikte Vorgaben vorzusehen, und es ist (Beifall bei der CDU/CSU) wichtig, einen europaweiten Ansatz zu wählen. Das ist durch die Zahlungsverzugsrichtlinie auf europäischer Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): Ebene geschehen. Wir als Deutscher Bundestag haben Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! uns in der vergangenen Legislaturperiode in einer frak- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir befassen tionsübergreifenden, einstimmig beschlossenen Stel- uns heute in der ersten Lesung mit dem Gesetzentwurf lungnahme zum ersten Entwurf dieser Richtlinie sehr zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsver- klar positioniert. Der erste Entwurf enthielt noch eine kehr. Dieses Gesetz hat uns bereits in der 17. Legislatur- Vielzahl von Mängeln. Darin waren einige kuriose periode intensiv beschäftigt. Wir haben das Thema in der Dinge enthalten, die mit unseren Rechtstraditionen, ins- letzten Legislaturperiode auch in den parlamentarischen besondere aber mit Gerechtigkeit und Billigkeit nicht in Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2927

Dr. Stephan Harbarth (A) Einklang zu bringen gewesen wären. Wir haben uns sehr Dingen ein mittelstandsfreundlicher Entwurf, der dazu (C) gefreut, dass die klare und laute Stimme, mit der wir beitragen wird, die Stabilität mittelständischer Unterneh- fraktionsübergreifend vorgetragen haben, in Europa ge- men insgesamt, gerade auch in schlechten Zeiten, sicher- hört wurde. zustellen. Wir haben es in der letzten Legislaturperiode trotz in- In dem Bewusstsein, die zehn Minuten nicht ausge- tensiver Beratungen nicht mehr geschafft, das Gesetz zu schöpft zu haben, danke ich sehr herzlich für Ihre Auf- verabschieden. Ich freue mich deshalb, dass wir uns merksamkeit. gleich zu Beginn der neuen Legislaturperiode dieses (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) wichtigen Themas annehmen. Hinsichtlich des Inhalts darf ich zur Vermeidung von Wiederholungen auf das verweisen, was Herr Staatssekretär Lange zum Entwurf Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: ausgeführt hat. Wichtig ist, dass im Geschäftsverkehr Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt kommen wir der Spielraum, die Zahlungsziele ganz weit nach hinten zur nächsten Rednerin. Das ist Katja Keul von den Grü- zu schieben, eingeengt wird. Grundsätzlich wird es nur nen. Hier sind fünf Minuten Redezeit einprogrammiert; noch unter strengen Voraussetzungen möglich sein, in es steht auch auf meinem Zettel. Individualvereinbarungen längere Zahlungsziele als (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Auch 60 Tage vorzusehen. Bei der öffentlichen Hand wird es Frau Kollegin Keul muss nicht so lange re- nur unter strengen Voraussetzungen möglich sein, län- den!) gere Zahlungsziele als 30 Tage vorzusehen. In Allgemei- nen Geschäftsbedingungen wird die generelle Vorgabe 30 Tage lauten. Davon kann nur abgewichen werden Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – die Formulierung lautet ja „im Zweifel“ –, wenn aus Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und den Besonderheiten der jeweiligen Geschäftsbeziehung Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die etwas anderes resultiert. EU-Richtlinie vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr umgesetzt werden. Kritische Stimmen haben nicht ganz zu Unrecht Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: angemerkt, dass es eigentlich nicht um die Bekämpfung, Entschuldigung, Herr Kollege, Sie müssen zum sondern um die Beschleunigung von Zahlungsverzug Schluss kommen. geht. Das angestrebte Ziel ist aber so oder so ein berech- tigtes. Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): Lange Zahlungsfristen und verzögerte Abnahmen im (B) Frau Präsidentin, ich möchte Sie ungerne korrigieren, Baurecht sind gerade für kleinere Unternehmer und (D) aber mir waren zehn Minuten Redezeit zugeteilt. In Ihr Handwerker ein ernstzunehmendes wirtschaftliches Ri- Gerät waren nur fünf Minuten einprogrammiert. Ich siko. Da nützt es auch nichts, den Wortlaut des § 271 kann Ihnen aber schon jetzt versichern, die zehn Minu- BGB zu loben und zu preisen, der besagt, dass die Leis- ten nicht auszuschöpfen. tung im Zweifelsfall sofort verlangt werden kann. Die (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Praxis sieht anders aus. Für die Abnahme im Baurecht der SPD) gibt es bisher überhaupt keine Frist. Dennoch sind die Befürchtungen nachvollziehbar, Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: dass eine ausdrückliche Regelung, die vom Regelfall ab- Herr Kollege, auch eine Präsidentin ist durchaus be- weichende Zahlungsfristen auf maximal 60 Tage be- reit, es anzuerkennen, wenn sie nicht recht hat. Sie haben schränkt, gerade dazu führen könnte, dass vermehrt sol- recht: Es sind zehn Minuten. Die Programmierung habe che Vereinbarungen geschlossen werden. Es ist ein ich leider nicht kontrolliert. Dilemma: Indem man die Vertragsfreiheit einschränken will, bringt man manche Vertragspartner möglicherweise Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): erst darauf, von dieser Vertragsfreiheit maximalen Ge- Vielen Dank, Frau Präsidentin. Kein Problem. Ein brauch zu machen. Umso wichtiger ist, dass man dann freier Abgeordneter verteidigt seine Rechte. klare Regeln schafft, wie die unterschiedlichen Fristen zusammenwirken: die Zahlungsfrist, die Abnahmefrist (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- und die Verzugsfristen. Das ist meines Erachtens noch wie bei Abgeordneten der SPD und des nicht gut gelungen. Soll zusätzlich zur Abnahmefrist von BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 30 Tagen noch eine weitere Frist von 60 Tagen bis zur Fälligkeit möglich sein? Das kann ja wohl nicht gemeint Wir freuen uns, dass es im Juni eine Sachverständi- sein. Wer ein Werk abnimmt, hat damit auch die Berech- genanhörung geben wird. Da werden wir über einzelne tigung, die Gegenleistung prüfen zu können. Es sollte Bereiche vielleicht noch einmal diskutieren müssen. Wir also klargestellt werden, dass die Abnahmefrist auf die werden auch diskutieren müssen, ob vielleicht in be- weitere Zahlungsfrist anzurechnen ist. stimmten Geschäftsbeziehungen irgendwelche prakti- schen Probleme zutage treten, die im Rahmen des Ge- Auch das Verhältnis zum Verzugseintritt ist nicht setzgebungsverfahrens noch nicht gesehen wurden. Wir wirklich eindeutig. In § 286 BGB, der den Verzug regelt, sind der festen Überzeugung, dass das, was auf dem steht nur eine kryptische Verweisung. Besser wäre es, Tisch liegt, ein sehr guter Entwurf ist. Es ist vor allen ausdrücklich klarzustellen, dass mit Ablauf einer nach 2928 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Katja Keul (A) § 271 a BGB vereinbarten Zahlungsfrist auch zeitgleich lich den Zahlungsverkehr zu beschleunigen. Daran habe (C) der Verzug eintritt. ich erhebliche Zweifel. Wenn wir schon wieder zusätzli- che Normen in das BGB einfügen, dann doch bitte wel- Mich irritiert ernsthaft die Tatsache, dass die Ver- che, die auch funktionieren. Ich hoffe, dass die Beratun- tragspartner einerseits völlig frei bleiben sollen, Raten- gen im Ausschuss dazu etwas beitragen können. zahlungen mit unbegrenzter Laufzeit zu vereinbaren, was zweifellos sinnvoll sein kann, dabei aber anderer- Vielen Dank. seits niemals auf Verzugszinsen verzichten dürfen. So je- denfalls liest sich der Entwurf es neuen § 288 Absatz 6 (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) BGB: Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Eine … Vereinbarung, die den Anspruch des Gläu- bigers einer Entgeltforderung auf Verzugszinsen Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner ausschließt, ist unwirksam. hat der Kollege Dirk Wiese von der SPD das Wort. Wie soll ich als Gläubigerin sonst meinen finanziell (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten angeschlagenen Schuldner zur pünktlichen Ratenzah- der CDU/CSU) lung motivieren, vom insolventen Schuldner ganz zu schweigen? Das scheint mir doch etwas über das Ziel hi- Dirk Wiese (SPD): nausgeschossen zu sein. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Handwerk und der Mittelstand in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutschland verstehen sich zu Recht als „die Wirt- Auch bei den Verbandsklagen bin ich mir nicht sicher, schaftsmacht von nebenan“. Hier arbeiten täglich Millio- ob im Hinblick auf individuelle Vertragsabsprachen nen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, hier wird nicht etwas zu weit gegriffen wurde. Nach der deutschen ausgebildet, gerade im Handwerk, dem Ausbilder der Systematik sind Verbandsklagen bislang nur dort mög- Nation, wo zudem – das muss man an dieser Stelle an- lich, wo eine Individualklage mangels subjektiver merken – jedes Jahr eine Meisterfeier stattfindet. Das Rechtsverletzung nicht möglich ist oder – wie beim Ver- schafft nicht einmal der FC Bayern München – vom Po- braucherschutz – eine Vielzahl gleichgelagerter Fälle be- kalsieg am 17. Mai an dieser Stelle ganz zu schweigen. troffen ist. Wenn aber nur eine individuelle Vereinbarung Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Handwerk und zwischen zwei Beteiligten unwirksam ist, die sonst nie- der Mittelstand sind für die deutsche Wirtschaft von im- manden betrifft, fragt sich, warum dann ein Dritter, also menser Bedeutung. Sie sind sozusagen das Fundament ein Verband, klagen können soll. Hier gibt es offensicht- unserer Volkswirtschaft. Um es anders zu formulieren: (B) lich auch Zweifel, ob die Richtlinie das in dieser weiten (D) Wenn der Mittelstand das Rückgrat der deutschen Wirt- Form überhaupt verlangt. Diesen Zweifeln sollten wir schaft ist, dann ist das Handwerk das zentrale Nerven- noch einmal nachgehen. system. Umso wichtiger ist es für die Politik, für gute Systematisch unschön, wenn auch nicht weltbewe- wirtschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen in gend, ist die Regelung in § 308 BGB zu den Allgemei- unserem Land zu sorgen. nen Geschäftsbedingungen. Diese Norm gilt nach § 310 BGB bislang ausdrücklich nur für Verbraucher und soll Aktuell ist eines der größten Probleme der Betriebe, jetzt um eine Nummer ergänzt werden, die ausgerechnet dass sie oft viel zu lang finanziell in Vorleistung treten den Geschäftsverkehr und damit gerade keine Verbrau- müssen. Rechnungen werden meist erst spät bezahlt. Für cher betrifft. Dadurch müssen dann wieder Ausnahmen Unternehmer und Selbstständige birgt das ein großes Ri- in den Verweisungen eingeführt werden, was das Gesetz siko; denn sie laufen Gefahr, ihre eigenen Rechnungen nicht gerade klarer macht. Das müsste doch auch elegan- und ihre Angestellten nicht mehr bezahlen zu können. ter zu lösen sein. Aufgrund fehlender Liquidität müssen sie dann Insol- venz anmelden, und das, obwohl sie auf dem Papier ei- Nachvollziehbar finde ich auch den Wunsch aus der gentlich ein deutliches Plus verzeichnen müssten. Praxis, nicht immer neue Begrifflichkeiten ins BGB ein- zuführen. Brauchen wir jetzt wirklich einen „groben Liebe Kolleginnen und Kollegen, nachdem die letzte, Nachteil“, oder tut es nicht auch die altbewährte „grobe schwarz-gelbe Bundesregierung einen Gesetzentwurf Unbilligkeit“? Ich habe registriert, dass auch der Staats- vorgelegt hat, der die parlamentarischen Hürden Gott sei sekretär in seiner Rede von „grob unbillig“ gesprochen Dank genauso wenig überwunden hat wie die FDP die hat; das würde meinem Anliegen schon entgegenkom- Fünfprozenthürde, legen wir heute einen wesentlich ver- men. Soll das Wort „ausdrücklich“ wirklich auch münd- besserten Gesetzentwurf vor, der auf der einen Seite die liche Vereinbarungen erfassen, oder sollten wir es nicht Interessen von Mittelstand und Handwerk schützt und lieber auf Schriftliches beschränken? Und bevor alle an- auf der anderen Seite durchaus auch von der Industrie fangen, zu grübeln, was genau eine „Zahlungsaufstel- und dem Handel begrüßt werden könnte. Schließlich lung“ ist, könnten wir es doch einfach wie immer „Zah- möchten auch diese sofort das Geld vom Kunden erhal- lungsaufforderung“ nennen. ten und nicht monatelang darauf warten. Um es am Bei- spiel des Handels deutlich zu machen: Ich kann im Su- Jenseits dieser technischen Feinheiten bleibt die ent- permarkt an der Kasse, nachdem ich die Ware scheidende Frage, ob die deutsche Umsetzung der Richt- eingepackt habe, auch nicht einfach sagen: Ich komme linie auch wirklich die angestrebte Wirkung erzielt, näm- in 90 Tagen wieder und bezahle dann. – Ich glaube, das Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2929

Dirk Wiese (A) wäre das letzte Mal, dass ich in diesem Supermarkt ein- Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich (C) kaufen dürfte. An dieser Stelle müssen wir ansetzen. zum Schluss kommen. Sie sehen: Die rot-schwarze Bun- desregierung legt ein wirksames Instrument vor, um die Kurzum: Die Selbstverständlichkeit der unverzügli- Zahlungsmoral im Geschäftsverkehr zu verbessern. chen Bezahlung muss auch im allgemeinen Wirtschafts- leben wieder deutlich ins Bewusstsein gerückt werden. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Denn es kann aus meiner Sicht nicht sein, dass Kon- Na ja!) zerne, die mit enormen Summen operieren, mit jedem Kurzum: Sozialdemokraten und Wirtschaft – das passt. Tag ihrer Säumigkeit auch noch einen zusätzlichen Zins- Davon verstehen wir etwas. Wir stärken das Handwerk gewinn einfahren. Das geht nicht. und den deutschen Mittelstand. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Richard Vielen Dank und allen ein schönes Wochenende. Pitterle [DIE LINKE]) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Der Zentralverband des Deutschen Handwerks be- grüßt diese „mittelstandsfreundliche Gesetzgebung“ und unterstreicht, dass die Bundesregierung „mit ihrem Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Gesetzentwurf ein deutliches Zeichen zur Bekämpfung Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächste Redne- von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr“ setzt und rin hat die Kollegin Dr. Launert das Wort. „schlechter Zahlungsmoral und unverhältnismäßig lan- (Beifall bei der CDU/CSU) gen Zahlungsfristen … so künftig ein wirksamer Riegel vorgeschoben“ wird. Dr. Silke Launert (CDU/CSU): (Beifall bei der SPD) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Dieses Lob des Zentralverbands des Deutschen Hand- Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Be- werks freut uns Sozialdemokraten natürlich ganz beson- kämpfung des Zahlungsverzuges im Geschäftsverkehr ders; schließlich wurde die SPD 1863 von einem Hand- wird nun endlich die Richtlinie des Europäischen Parla- werksmeister gegründet. ments und des Rates der EU umgesetzt. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Es handelt sich beim Thema „Bekämpfung des Zah- lungsverzugs“ nicht nur um ein europäisches Anliegen Lassen Sie mich ergänzend zu Staatssekretär zur Förderung des grenzübergreifenden Handels, wie es Christian Lange kurz zwei Punkte aufgreifen. Der Ent- so schön in der Richtlinie heißt, sondern es geht um ein wurf sieht vor, dass im Geschäftsverkehr grundsätzlich nationales Anliegen. Warum? Ganz klar – es wurde (B) (D) Zahlungsfristen von maximal 60 Tagen vereinbart wer- mehrfach schon angedeutet –: Wenn der Unternehmer den können. Eine längere Frist ist nur noch dann zuläs- Forderungen hat, diese aber nicht geltend machen kann sig, wenn sie von den Vertragsparteien ausdrücklich ver- und deshalb nicht in der Lage ist, innerhalb der nächsten einbart wird und für den Gläubiger nicht grob nachteilig 30 Tage seine eigenen fälligen Verbindlichkeiten aus sei- ist. Denn wer Rechnungen nicht bezahlt, gefährdet mit- nen liquiden Mitteln zu zahlen, dann muss er Insolvenz telbar die Arbeitsplätze in den kleinen und mittleren Un- anmelden. Der Unternehmer kann nichts dafür: Einige ternehmen. Das ist sozial ungerecht, und das geht nicht. seiner Kunden zahlen nicht, und er ist von heute auf morgen ein Kunde des Insolvenzgerichts. Da die öffentliche Hand gerade bei der Zahlungsmo- ral eine Vorbildfunktion einnehmen muss, haben wir für Das trifft besonders hart die kleinen und mittelständi- den Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und öf- schen Unternehmen; das wurde schon mehrfach betont. fentlichen Auftraggebern eine wesentlich strengere Re- Oft schaffen sie es, sich zu retten, allerdings oft durch gelung festgesetzt: In diesen Fällen beträgt die Zah- teure Kredite. Das bedeutet: zusätzliche Belastungen lungsfrist künftig grundsätzlich 30 Tage. An dieser Stelle durch die Kredite, durch die Zinsen, zusätzliche Belas- möchte ich einen Mann aus der Praxis, Willy Hesse, Prä- tungen durch die Kosten der Eintreibung, durch Mahn- sident des Westdeutschen Handwerkskammertages, gebühren, Kosten des Inkassounternehmens oder sogar wohnhaft im Sauerland, zitieren, der mit Blick auf öf- für einen Anwalt. Das führt zu Wettbewerbsverzerrun- fentliche Auftraggeber sagte: „Vier Monate auf das Geld gen. Das hat das Europäische Parlament zu Recht er- warten, das ist vor allem in Großstädten keine Selten- kannt und die richtigen Maßnahmen eingeleitet. Ich ver- heit.“ Das geht aus meiner Sicht nicht. Das müssen und stehe deshalb nicht, Frau Keul, wieso Sie das Vorhaben wollen wir ändern. Aus meiner Sicht muss die öffentli- infrage stellen und fragen, ob das überhaupt ein geeigne- che Hand hier eine Vorbildfunktion einnehmen; da gebe tes Instrumentarium ist. ich Ihnen vollkommen recht, Herr Dr. Harbarth. Es ist nicht einzusehen, wieso ein kleiner Handwerks- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) betrieb bei der Hinausschiebung der Abnahme kosten- lose oder billige „Gläubigerkredite“ gewähren muss, Der zweite Punkt. Vertragsklauseln, welche Verzugs- also letztlich denen, die die Marktmacht haben, das Geld zinsen ausschließen, werden zukünftig als grob nachtei- schenken muss. lig und deshalb als unwirksam anzusehen sein. Diese Änderung im AGB-Recht ist richtig. Die neue Regelung, Ich freue mich, dass wir endlich etwas für den Mittel- die wir in § 308 BGB vornehmen, schützt die jeweils stand auf den Weg bringen. Die einzelnen Punkte des schwächere Vertragspartei; es ist eine richtige Regelung. Reformvorhabens wurden bereits vorgetragen. Die 2930 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

Dr. Silke Launert (A) grundsätzliche Höchstfrist beläuft sich auf 60 Tage bei punkte über dem Basiszinssatz erhöhen. Außerdem wird (C) Individualvereinbarungen. Ich sehe nicht das von Herrn es in Zukunft nicht mehr möglich sein, den gesetzlich Pitterle und Frau Keul angesprochene Problem, dass sich festgeschriebenen Verzugszins auszuschließen. Das ist dadurch die Zahlungsmoral verschlechtert. toll. Das ist etwas Gutes für den Mittelstand. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Zum Thema Verbandsklage. Frau Keul, ich weiß gar GRÜNEN]: Arbeiten Sie sich an der Opposi- nicht, warum Sie das schlecht finden, wenn Sie doch für tion ab!) den kleinen Unternehmer sind. Ganz im Gegenteil: Wenn ich eine Höchstfrist für Ver- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE einbarungen festlege, dann begrenze ich doch etwas. Am GRÜNEN]: Dann müssen Sie genauer zuhö- Gesetz selbst ändert sich doch nichts. Es gilt nach wie ren!) vor § 271 BGB. Diejenigen, die schon zuvor eine Indivi- Für den kleinen Unternehmer ist es doch gut, wenn er dualvereinbarung getroffen haben, treffen sie auch jetzt. selbst keinen Prozess gegen einen großen, starken Kon- Diejenigen, die zuvor keine getroffen haben, treffen sie zern führen muss, sondern die Möglichkeit hat, das zu auch jetzt nicht. verlagern. Dadurch spart er Geld und Zeit. Außerdem Es gibt eine erhebliche Begrenzung im Bereich der zerstört er so vielleicht nicht seine Geschäftsbeziehung formularmäßigen Vereinbarung im AGB-Bereich, und zu dem großen, marktmächtigen Unternehmer. zwar zu Recht, weil dort in besonderem Maße das Über- Ich freue mich, dass wir das endlich machen. Ich und Unterordnungsverhältnis zum Ausdruck kommt. wünsche mir, dass wir das möglichst schnell durchset- Aus der Praxis kann ich Ihnen sagen: Kein Mensch liest zen, und zwar ohne viel Parteipolemik und ohne die Su- das. Da hier ein besonderer Schutz erforderlich ist, legen che nach nicht so ganz perfekten Formulierungen. Las- wir eine grundsätzliche Höchstfrist von 30 Tagen fest. sen Sie uns das Thema anpacken und die Sache durchziehen. Das ist echte Mittelstandspolitik. Man hat sich Zeit genommen, die Interessen abgewo- gen und eine praxistaugliche Lösung gefunden, die letzt- Vielen Dank. lich allen Seiten gerecht wird. Diese Höchstfristen – es (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) handelt sich nicht um eine Festschreibung von Fristen, sondern um eine Begrenzung bei Vereinbarungen – er- möglichen eine Orientierung für die Rechtsprechung und Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: helfen kleinen Unternehmen, ohne Rechtsbeistand auf Sehr geehrte Damen und Herren, ich schließe die Zahlungsverzug bzw. die Situation, dass der Schuldner Aussprache. (B) nicht zahlt, schneller zu reagieren. Man braucht nicht Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- (D) viel Geld für einen Anwalt auszugeben; denn was eine wurfs auf Drucksache 18/1309 an die in der Tagesord- Frist von 30 Tagen bedeutet, versteht eigentlich jeder nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Unternehmer. anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann Ich freue mich auch über die Begrenzung bei der ist diese Überweisung so beschlossen. Überprüfungs- und Abnahmefrist. Im AGB-Bereich Ich bitte Sie, noch einen Augenblick zu warten. Wir liegt sie meistens bei 15 Tagen. müssen noch eine andere wichtige Handlung vorneh- Ebenso freue ich mich über die nun geltende Pau- men. Um auch der Form Genüge zu tun, müssen wir die schale, auch wenn sie manchem lächerlich erscheinen Überweisung des Gesetzentwurfs eines Ersten Gesetzes mag. Aber bislang muss jeder Schaden konkret nachge- zur Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von wiesen werden, um einen Schadenersatzanspruch – die- Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto beschlie- ser Schutz existiert ja schon jetzt – geltend machen zu ßen. Hier wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf können. Ich finde eine Pauschale von 40 Euro praxis- Drucksache 18/1308 an die in der Tagesordnung aufge- tauglich. Wir haben das in vielen anderen Bereichen führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ander- auch, zum Beispiel bei unserer Aufwandspauschale. weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist Man muss nicht alles im Detail nachweisen, sondern es auch diese Überweisung so beschlossen. gibt eine Pauschale von 40 Euro. Das mag manchen ein Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tages- bisschen disziplinieren und führt zu einer Erleichterung. ordnung. Ich hoffe, dass sich dadurch auch einige Gerichtsverfah- ren erübrigen. Es ist wirklich unglaublich, wegen welch Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- kleiner Beträge solche Verfahren oft geführt werden. destages auf Mittwoch, den 21. Mai 2014, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen ein Der vorletzte Punkt, den ich ansprechen möchte, sind schönes Wochenende. die Verzugszinsen. Ich glaube, es wurde noch nicht er- wähnt, dass wir den Verzugszins von 8 auf 9 Prozent- (Schluss: 14.57 Uhr) Anlagen

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2931

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Alpers, Agnes DIE LINKE 09.05.2014 Schmidt (Fürth), CDU/CSU 09.05.2014 Christian Bätzing-Lichtenthäler, SPD 09.05.2014 Sabine Spinrath, Norbert SPD 09.05.2014

Binder, Karin DIE LINKE 09.05.2014 Strässer, Christoph SPD 09.05.2014

Dobrindt, Alexander CDU/CSU 09.05.2014 Strothmann, Lena CDU/CSU 09.05.2014

Dr. Gauweiler, Peter CDU/CSU 09.05.2014 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 09.05.2014 DIE GRÜNEN Gohlke, Nicole DIE LINKE 09.05.2014 Ulrich, Alexander DIE LINKE 09.05.2014 Göring-Eckardt, Katrin BÜNDNIS 90/ 09.05.2014 DIE GRÜNEN Dr. Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 09.05.2014

Groß, Michael SPD 09.05.2014 Wagner, Doris BÜNDNIS 90/ 09.05.2014 DIE GRÜNEN Heil (Peine), Hubertus SPD 09.05.2014

Held, Marcus SPD 09.05.2014 Anlage 2 (B) Dr. Hendricks, Barbara SPD 09.05.2014 Zu Protokoll gegebene Rede (D) Hirte, Christian CDU/CSU 09.05.2014 des Abgeordneten Christian Petry (SPD) zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Hoffmann, Alexander CDU/CSU 09.05.2014 Anpassung steuerlicher Regelungen an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Dr. Hofreiter, Anton BÜNDNIS 90/ 09.05.2014 (33. Sitzung, Tagesordnungspunkt 17) DIE GRÜNEN Vor ziemlich genau einem Jahr hat das Bundesverfas- Junge, Frank SPD 09.05.2014 sungsgericht die Ungleichbehandlung von eingetragenen Lebenspartnerschaften und Ehen im Steuerrecht für ver- Kekeritz, Uwe BÜNDNIS 90/ 09.05.2014 fassungswidrig erklärt. Das Gericht stellte klar, dass das DIE GRÜNEN sogenannte Ehegattensplitting in seiner damaligen Form Dr. Kofler, Bärbel SPD 09.05.2014 gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz verstößt. Damit hat das Gericht nochmals unterstrichen, dass der Lay, Caren DIE LINKE 09.05.2014 besondere Schutz der Ehe, der in unserer Verfassung festgeschrieben ist, keine Ungleichbehandlung zwischen Lotze, Hiltrud SPD 09.05.2014 Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft rechtfertigt. Für mich steht fest: Diese Entscheidung ist richtig Meier, Reiner CDU/CSU 09.05.2014 und war absolut überfällig. Die SPD setzt sich seit Jah- Mindrup, Klaus SPD 09.05.2014 ren für eine vollständige Gleichstellung von Ehen und eigetragenen Lebenspartnerschaften ein. Es muss der Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/ 09.05.2014 Grundsatz gelten: Wer gleiche Pflichten übernimmt wie DIE GRÜNEN in der Ehe, wer sich verspricht, für den Partner einzuste- hen, der bekommt auch die gleichen Rechte. Alles an- Dr. Rosemann, Martin SPD 09.05.2014 dere ist mit meinem Rechtsverständnis nicht vereinbar. Bereits im letzten Jahr hat der Bundestag mit den Rützel, Bernd SPD 09.05.2014 Stimmen aller Fraktionen das Einkommensteuerrecht angepasst. Hier wurde die Diskriminierung von Schwu- Schavan, Annette CDU/CSU 09.05.2014 len und Lesben beseitigt – ein wichtiger erster Schritt. 2932 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

(A) Allerdings blieben viele damit zusammenhängende dis- schaft, die es auch mit unserem politischen Wirken zu (C) kriminierende Formulierungen im Steuerrecht unange- unterstützen gilt. tastet. Die SPD hat im Sommer 2013 dazu bereits einen umfassenden Vorschlag zur Beseitigung dieser Diskri- In den kommenden Beratungen im Finanzausschuss minierungen vorgelegt. Leider wurde unser Vorschlag werden wir dieses Thema noch mal ausführlich diskutie- damals noch von der schwarz-gelben Mehrheit im Par- ren. Ich bin überzeugt, dass der vorliegende Gesetzent- lament blockiert. Heute haben wir eine neue Bundesre- wurf dabei im großen Konsens verabschiedet wird. Es ist gierung, die diese Ungleichbehandlungen endlich besei- wichtig, dass fraktionsübergreifend ein Signal hin zur tigt. Abschaffung von Diskriminierungen von eingetragenen Lebenspartnerschaften gesendet wird. Der Deutsche Damit sind wir beim Kern der heutigen Debatte: Mit Bundestag übernimmt damit auch eine Vorbildfunktion: dem vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesfinanz- für eine offene, für eine tolerante und für eine bunte Ge- ministeriums werden noch bestehende Ungleichbehand- sellschaft, in der wir leben wollen. lungen der eingetragenen Lebenspartnerschaft etwa in den Bereichen des Bundeskindergeldgesetzes, des Ei- genheimzulagegesetzes, der Abgabenordnung und des Anlage 3 Altersvorsorge-Zertifizierungsgesetzes abgeschafft. Amtliche Mitteilungen Die Bundesregierung hat es sich zur Aufgabe ge- Der Bundesrat hat in seiner 921. Sitzung am 11. April macht, die vielen, kleinteiligen technischen Änderungen 2014 beschlossen, dem nachstehenden Gesetz zuzustim- in einem Gesetz zu bündeln. Dieses liegt nun dem Deut- men: schen Bundestag vor und wird heute in den zuständigen Fachausschuss überwiesen. Ich bin mir sicher, dass un- Gesetz zu dem Abkommen vom 8. April 2013 zwi- sere Änderungsvorschläge auf breite Zustimmung sto- schen der Bundesrepublik Deutschland und der Re- ßen werden. Die Abschaffung von Diskriminierung von publik Östlich des Uruguay über Soziale Sicherheit eingetragenen Lebenspartnerschaften im Steuerrecht muss schließlich im Interesse aller im Deutschen Bun- Darüber hinaus hat der Bundesrat in seiner 921. Sit- destag vertretenen Fraktionen liegen. zung am 11. April 2014 gemäß § 3 Absatz 1 Satz 2 Num- Kurzum: Im Steuerrecht hat die Bundesregierung da- mer 1 bis 3, Satz 3 bis 5 des Standortauswahlgesetzes mit ihre Hausaufgaben gemacht. folgende Mitglieder der „Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe“ gewählt: Ich will an dieser Stelle aber auch auf andere, offen (B) gebliebene Fragen bei der Gleichstellung der eingetrage- Vorsitz der Kommission im Wechsel je Sitzung: (D) nen Lebenspartnerschaft eingehen: Ursula Heinen-Esser Michael Müller Die Unionsfraktion hat lange gesetzliche Änderungen für eingetragene Lebenspartnerschaften blockiert und Vertreter der Wissenschaft: musste erst vom Bundesverfassungsgericht zu einem Dr. Detlef Appel (Geologe) Umdenken gezwungen werden. Auch heute sind sich Hartmut Gaßner (Jurist) SPD und Union etwa in der Frage nach einem vollen Prof. Dr. Armin Grunwald (Physik und Biologie) Adoptionsrecht für eingetragene Lebenspartnerschaften Dr. Ulrich Kleemann (Geologe) uneins. Das bedauere ich sehr. Prof. Dr.-Ing. Wolfram Kudla (Bauingenieur; Boden- und Felsenmechanik) Ich blicke aber dennoch optimistisch in die Zukunft, Michael Sailer (Chemiker) wenn ich in unseren Koalitionsvertrag schaue, in dem Hubert Steinkemper (Jurist) wir verabredet haben, dass „bestehende Diskriminierun- Prof. Dr. Bruno Thomauske (Physiker) gen von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften in allen gesellschaftlichen Bereichen beendet werden“. Vertreter der gesellschaftlichen Gruppen: Wir als SPD fordern bereits seit Jahren die vollstän- Edeltraud Glänzer (Deutscher Gewerkschaftsbund) dige Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartner- Dr. Ralf Güldner (Bundesverband der Deutschen Industrie) schaften. Ich nehme unseren Koalitionspartner daher Prof. Dr. Gerd Jäger (Bundesverband der Deutschen In- beim Wort. Unser Justizminister Heiko Maas hat mit dustrie) seinem Gesetzentwurf zur Sukzessivadoption hier die Ralf Meister (Evangelische Kirche in Deutschland) Marschrute vorgegeben. Ich bin mir sicher, dass wir in Prof. Dr. Georg Milbradt (Kommissariat der Deutschen den kommenden Jahren weitere Schritte hin zur vollstän- Bischöfe) digen Gleichstellung gehen werden. Erhard Ott (Deutscher Gewerkschaftsbund) N.N. (Umweltverbände) Regenbogenfamilien sind Teil unseres Alltags. Das N.N. (Umweltverbände) gilt nicht nur für Großstädte wie Berlin oder , sondern auch für die vielen ländlichen Gegenden in Mitglieder der Landesregierungen: Deutschland. Überall dort leben Kinder glücklich in Re- Minister (Baden-Württemberg) genbogenfamilien zusammen und meistern ihren Alltag. Staatsminister Dr. Marcel Huber (Bayern) Diese Vielfalt ist eine Bereicherung für unsere Gesell- Minister Christian Pegel (Mecklenburg-Vorpommern) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014 2933

(A) Minister (Niedersachsen) Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (C) Minister (Nordrhein-Westfalen) Ministerpräsident Stanislaw Tillich (Sachsen) – Unterrichtung durch die Bundesregierung Ministerpräsident Dr. Reiner Haselhoff (Sachsen-Anhalt) Bericht über Verkehrsverlagerungen auf das nachge- ordnete Straßennetz infolge der Einführung der Lkw- Minister Dr. (Schleswig-Holstein) Maut auf vier- und mehrstreifigen Bundesstraßen Stellvertretende Mitglieder der Landesregierungen: Drucksachen 18/689, 18/817 Nr. 7 Senator Michael Müller (Berlin) – Unterrichtung durch die Bundesregierung Ministerin Anita Tack (Brandenburg) Verkehrsinvestitionsbericht für das Berichtsjahr 2012 Senator Dr. Joachim Lohse (Bremen) Staatsministerin Priska Hinz (Hessen) Drucksachen 18/580, 18/891 Nr. 1 Senatorin Jutta Blankau-Rosenfeldt (Hamburg) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- Staatsministerin (Rheinland-Pfalz) abschätzung Minister Reinhold Jost (Saarland) Unterrichtung durch die Bundesregierung Minister Jürgen Reinholz (Thüringen) 15. Bericht des Ausschusses für die Hochschulstatistik für den Zeitraum 1. Juni 2008 bis 31. Mai 2012 Drucksachen 17/13668, 18/641 Nr. 11 Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat mit- geteilt, dass sie den Antrag Erneute Überprüfung der Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben Deutschen Energieagentur (dena) durch den Bundes- mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden rechnungshof auf Drucksache 18/181 zurückzieht. Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei- ner Beratung abgesehen hat. Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen Auswärtiger Ausschuss absehen: Drucksache 18/1048 Nr. A.1 EuB-BReg 23/2014 Drucksache 18/1048 Nr. A.2 Auswärtiger Ausschuss EuB-BReg 25/2014 Drucksache 18/1048 Nr. A.3 – Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Parla- Ratsdokument 7505/14 mentarischen Versammlung der NATO (B) Frühjahrstagung der Parlamentarischen Versammlung (D) der NATO vom 25. bis 28. Mai 2012 in Tallinn, Estland Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Drucksachen 18/231, 81/817 Nr. 1 Drucksache 18/1048 Nr. A.13 Ratsdokument 7635/14 – Unterrichtung durch die Delegation der Bundesrepublik Deutschland in der Parlamentarischen Versammlung des Ausschuss für Gesundheit Europarates Drucksache 18/642 Nr. C.10 Tagung der Parlamentarischen Versammlung des Euro- Ratsdokument 12751/12 parates vom 23. bis 27. April 2012 in Straßburg Drucksachen 18/625, 18/817 Nr. 3 Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Ausschuss für Wirtschaft und Energie Drucksache 18/419 Nr. A.128 EP P7_TA-PROV(2013)0443 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 18/419 Nr. A.129 Ratsdokument 11064/13 Bericht der Bundesregierung über ein Konzept zur För- Drucksache 18/419 Nr. A.130 derung, Entwicklung und Markteinführung von geo- Ratsdokument 11851/13 thermischer Stromerzeugung und Wärmenutzung Drucksache 18/419 Nr. A.131 Ratsdokument 11917/13 Drucksachen 16/13128, 18/770 Nr. 13 Drucksache 18/419 Nr. A.132 Bericht gem. § 56a GO-BT des Ausschusses für Bil- Ratsdokument 12242/13 dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Drucksache 18/419 Nr. A.133 Ratsdokument 12633/13 Technikfolgenabschätzung (TA) Drucksache 18/419 Nr. A.134 Gesetzliche Regelungen für den Zugang zur Informa- Ratsdokument 13068/13 tionsgesellschaft Drucksache 18/419 Nr. A.135 Ratsdokument 13457/13 Drucksachen 17/11959, 18/641 Nr. 7 Drucksache 18/419 Nr. A.136 Ratsdokument 14637/13 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 18/419 Nr. A.137 Ratsdokument 14912/13 Bericht der Bundesnetzagentur nach § 112a Absatz 3 Drucksache 18/419 Nr. A.138 des Energiewirtschaftsgesetzes zu den Erfahrungen mit Ratsdokument 15030/13 der Anreizregulierung Drucksache 18/419 Nr. A.139 Drucksachen 18/536, 18/817 Nr. 2 Ratsdokument 15051/13 2934 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Mai 2014

(A) Drucksache 18/419 Nr. A.140 Ratsdokument 15878/13 (C) Ratsdokument 15468/13 Drucksache 18/419 Nr. A.143 Drucksache 18/419 Nr. A.141 Ratsdokument 15889/13 Ratsdokument 15845/13 Drucksache 18/544 Nr. A.44 Drucksache 18/419 Nr. A.142 Ratsdokument 5190/14

(B) (D)

Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-7980