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Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 2. September 2002 Betr.: Titel, Kohl, Vergès in Jahr ist es her, dass Terroristen zwei entführte Passagiermaschinen in die Tür- Eme des World Trade Center steuerten, ein weiteres Flugzeug ins Pentagon jagten und eine vierte gekidnappte Maschine in Pennsylvania abstürzte. Der 11. September 2001 hat die Welt verändert. Wie sehr, beschreibt der SPIEGEL in einer aktuellen Serie. Niemals mehr würden sich Amerikaner wieder so sicher fühlen wie vor jenem Tag im September, so US-Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice, 47, im SPIEGEL-Gespräch mit den Redakteuren Stefan Aust, Hans Hoyng und Gerhard Spörl. Gefahr drohe STEFAN ZAKLIN / APIX ZAKLIN STEFAN RONALD FROMMANN RONALD Hoyng, Aust, Spörl, Rice in Washington, Meyer mit Unterlagen der Islam AG jedoch nicht nur den USA: „Die Terroristen hassen auch Berlin“ (Seite 104). In Ham- burg hatten sie ihre Keimzelle. Mohammed Atta, einer der Todespiloten, hat hier ge- lebt und studiert, Mitkämpfer rekrutiert und auf den Terror eingeschworen. Schon un- mittelbar nach den Anschlägen fanden SPIEGEL-Redakteure Spuren der Täter in der Hansestadt. Seither sprachen sie immer wieder mit Ermittlern, Zeugen und Ausstei- gern, wühlten sich durch Aktenberge und Protokolle. Besonders hilfreich war ein Fun- dus von Unterlagen der Islam AG, den SPIEGEL-Redakteurin Cordula Meyer, 31, jetzt in einem Schrank an der TU Harburg entdeckte: sechs Umzugskartons mit Notizen, Telefonnummern, Visitenkarten, Zeitschriften und Tonbandkassetten. Bei ihren Recherchen stießen die Redakteure auch auf ein Foto. Es zeigt Mohammed Atta am Strand von Büsum, neben sich eine „Bild am Sonntag“ vom 16. August 1992 (Seite 92).

isweilen werden Journalisten auch zufällig Zeugen bemerkenswerter Äußerungen: BSo ging es am vergangenen Donnerstag den SPIEGEL-Redakteuren Christian Rei- ermann, 40, und Christoph Schult, 30, als sie nach der Debatte zur Flutkatastrophe im Reichstags-Restaurant zu Mittag aßen. Ihre Aufmerksamkeit erregte dabei auch ein prominenter Zeitgenosse, Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl, der im Kreise von vier Abgeordneten am Nebentisch speiste. Als Kohl SPD-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse erblickte, sagte er zur Verblüffung der SPIEGEL-Kollegen unüberhörbar: „Das ist der schlimmste Präsident seit Hermann Göring.“ Kommentieren wollte der Alt-Kanzler das später nicht (Seite 17).

er Pariser Anwalt Jacques Vergès, 78, hat eine seltsame Beziehung zu monströ- Dsen Verbrechern. Menschenschlächter wie den kambodschanischen Steinzeit- kommunisten Pol Pot zählte er zu seinen Freunden, vor Gericht vertritt Vergès am liebs- ten Diktatoren. Auch Nazi-Größen wie Klaus Barbie gehörten zu seinen Klienten – ein Advocatus Diaboli, bei dem nicht ganz klar ist, auf welcher Seite er steht. SPIEGEL- Reporter Alexander Smoltczyk, 43, hat den Juristen in Paris besucht und einen glän- zenden Rhetoriker erlebt. „Als Meister des Wortes gelingt es ihm, jede Gewissheit zu hinterfragen“, so Smoltczyk, für den die Grenze der Faszination beim Thema Srebre- nica erreicht war: „Ich habe in Bosnien selbst zu viel Grauen gesehen, um juristischen Spitzfindigkeiten bei der Schuldfrage noch etwas abgewinnen zu können“ (Seite 64).

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 36/2002 3 Werbeseite

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Werbeseite In diesem Heft

Titel Die neue Welt nach dem 11. September ...... 92 Saudi-Arabien wird zum Sicherheitsrisiko ...... 96 Wahlkampf mit der Kriegsgefahr Seite 20 SPIEGEL-Gespräch mit George W. Bushs Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice über den Bei keinem Thema bekommt Kampf gegen den Terror und Saddam Hussein ... 104 Gerhard Schröder im Wahl- Neue Ermittlungsergebnisse zeigen, kampf so viel Applaus wie bei wie die Hamburger Terrorzelle funktionierte ... 110 der Absage an einen Krieg ge- gen den irakischen Diktator Deutschland Saddam Hussein. Vor allem die Panorama: Kohl beleidigt Thierse / martialische Rede des US-Vize- Mehr Kompetenzen für Generalinspekteur / präsidenten Dick Cheney erwies Neuer NPD-V-Mann enttarnt ...... 17 sich als Wahlkampfhilfe für den Außenpolitik: US-Drohungen gegen den Irak passen den rot-grünen Wahlkämpfern Kanzler, auch Herausforderer ins Konzept ...... 20 Edmund Stoiber wetterte nun Wahlkampf: Außenminister gegen „Alleingänge“ der politi- wirbt vor allem für sich selbst ...... 24 schen und militärischen Super- Hochwasser: Politiker-Streit bremst macht. Zwischen den europäi- die Auszahlung der Hilfsgelder ...... 28 schen Hauptstädten und Wa- Rechtsanwälte und Strafermittler suchen shington wächst die Distanz, nach Verantwortlichen für Millionenschäden .... 29 PRESS (L.); GRABKA/ACTION THOMAS (R.) IMAGES AL-RUBAYYH/GETTY TAHA doch die Amerikaner zeigen sich Hamburg: Senator Schill gefährdet Schröder, Stoiber Pro-Saddam-Aufmarsch von Kritik wenig beeindruckt. die Koalition ...... 31 Demoskopie: Die geheimnisvollen Methoden der Meinungsforscher ...... 36 Union: SPIEGEL-Gespräch mit Kanzlerkandidat Edmund Stoiber über Kriegspläne, Koalitionen und Steuerreform ..... 40 Zitterpartie bei der PDS Seite 46 PDS: Eine Hand voll Direktkandidaten könnte Von einer Hand voll meist unbekannter Sozialisten könnte abhängen, wer Deutschland über die Zukunft der Republik entscheiden ..... 46 demnächst regiert. Denn nach jüngsten Umfragen scheitert die PDS womöglich an der Strafvollzug: Wie in Thüringer Haft ein Fünfprozenthürde – in den käme die Partei dann nur noch nach dem Jugendlicher zu Tode gequält wurde ...... 50 Justiz: Interview mit Bundesjustizministerin Gewinn von drei Direktmandaten. Alle Hoffnung ruht nun auf Medienstar Gregor Gysi. Herta Däubler-Gmelin über die juristischen Folgen des 11. September ...... 52 Kindesmissbrauch: Warum sich eine Mutter mit ihren beiden Kindern in den Tod stürzte .... 54 Seite 138 Gesellschaft Rote Karte für Green-Cardler Szene: Fitnesstraining auf New Yorks Auch die Green Card schützt nicht vor Arbeits- Straßen / Pornografie im Museumsarchiv / losigkeit: Vom Abwärtstrend der deutschen Geschwisterstreit um eine eingefrorene Leiche ... 61 IT-Branche mitgerissen, kehren nun viele der Karrieren: Jacques Vergès, der Anwalt einst heiß umworbenen Computerspezialisten der Schurken ...... 64 frustriert in ihre Heimat zurück – nicht immer Ortstermin: Helmut Kohls Wahlkampfauftritt freiwillig, denn nur wer Arbeit hat, darf bleiben. vor dem Rathaus Schöneberg in Berlin ...... 71 Oft reicht die Gnadenfrist von wenigen Wochen Ausland nicht für eine erfolgreiche Job-Suche. Panorama: Putins unerklärter Krieg in Georgien / Japan lehnt Entschädigung Indische Programmierer / LAIF BIALOBRZESKI für Kriegsgräuel ab ...... 73 Italien: Die dubiose Rolle der Polizei beim G-8-Gipfel von Genua ...... 76 China: Machtkampf vor dem 16. Parteitag ...... 80 Bosnien: Nationalisten torpedieren Ruck nach links? S. 170 gemeinsame Sportveranstaltungen ...... 82 Waffenhandel: Israelische Ersatzteile Weil Medienpleitier Leo Kirch seinen für die Panzer Irans ...... 84 40-Prozent-Anteil am konservativen Slowakei: Das angebliche Attentat auf Axel Springer Verlag an die Medien- Präsident Schuster ...... 86 gruppe WAZ verkaufen will, führt die Schweiz: Mozzarella-Boom in der Bastion Springer-Spitze seit Tagen eine hitzige des Hartkäses ...... 90 Abwehrschlacht – vor allem in „Bild“ Wirtschaft und „Welt“. Droht bei Springer durch die neuen Eigentümer wirklich ein Trends: Eichel will Bilanzpolizei / Linksruck? Bislang war die WAZ-Grup- Pischetsrieder setzt VW-Finanzvorstand ab / Berlin droht Verfahren aus Brüssel / PRESS DIRK DOBIEY / ACTION pe vor allem an Rendite interessiert. Billig-Boom der Ferienflieger...... 125 Geld: Trennt sich die Telekom von T-Online? / WAZ-Zentrale in Essen Chip-Industrie ohne Hoffnung ...... 127

6 der spiegel 36/2002 Banken: Die US-Finanzindustrie steht vor dem moralischen Offenbarungseid ...... 128 Ökonomie: SPIEGEL-Gespräch mit dem Wissenschaftler Fredmund Malik über den Bluff des US-Wirtschaftswunders und deutsche Tugenden ...... 132 Arbeitsmarkt: Wie Deutschland seinen Green-Cardlern die rote Karte zeigt ...... 138 Autoindustrie: Immer häufiger müssen die Konzerne teure Rückrufaktionen starten ...... 143 Wissenschaft · Technik Prisma: Dehnungsübungen beim Sport überflüssig? / Übersetzungshandschuh für Gehörlose ...... 145 Astrophysik: Suche nach dem Beben des Raums ...... 148 Automobile: Smart baut einen Billig-Roadster ...... 152 Medizin: Wie die Pharmaindustrie neue Krankheiten erfindet ...... 154 Tiere: Waschbären erobern die deutschen Städte ...... 156 Elektronik: Konzerne ringen um einen gemeinsamen DVD-Standard...... 163 Umwelt: Der radikale Kurswechsel der Weltbank am Rande des Uno-Weltgipfels von Johannesburg...... 164 PETER C. BRANDT / GETTY IMAGES (O:); / GETTY IMAGES PETER C. BRANDT L.); AP (U. R.) BAUER (U. WILFRIED Brennendes World Trade Center, Attentäter Atta, Hamburger Moschee Medien Trends: Interview mit ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender über das journalistische Die Herausforderung Amerikas Seiten 92 bis 110 Korsett bei den TV-Wahlkampfduellen / Wurde beim Verlagswechsel Zeitenwende: Die Terror-Attacken vom 11. September 2001 krempelten das Macht- des „Rolling Stone“ getrickst? ...... 167 gefüge der Welt um. Unangefochten geben die USA nun den Ton an. Im SPIEGEL- Fernsehen: Vorschau / Rückblick...... 168 Gespräch fordert Bushs Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice Solidarität von den Ver- Verlage: Wie der Springer-Konzern bündeten. In Deutschland wissen Fahnder heute genauer, wie Hamburger Musterstu- um die Macht im eigenen Haus ringt ...... 170 denten zu Massenmördern wurden: Terrorist Atta führte seinen Trupp wie eine Sekte. Kultur Szene: Neuer Bücherpreis für unfreiwillig komische Sexpassagen / Schauspieler John Cleese über die Film-Komödie „Rat Race – Der nackte Wahnsinn“ ...... 176 Nachts tobt der Bär Seite 156 Kino: Glorioser Auftakt des Filmfestivals in Venedig ...... 178 Von Kassel bis Berlin richten Waschbären in Interview mit Hollywood-Star Tom Hanks deutschen Städten Chaos an. Die niedlichen über seine Rolle in „Road to Perdition“ ...... 180 Plagegeister plündern Mülltonnen und Kom- Film: Glamour-Girl Halle Berry brilliert posthaufen. Oder sie randalieren auf Dach- in „Monster’s Ball“ ...... 182 böden. Zoologen verbreiten neuerdings Tipps, Musik: Simon Rattles Start als Chef wie sich Häuser waschbärenfest machen lassen. der Berliner Philharmoniker ...... 184 Autoren: Michael Jürgs beschreibt die frühen Jahre des Günter Grass ...... 188 BEN BEHNKE Waschbären als Haustiere Bestseller ...... 192 Pop: Benjamin von Stuckrad-Barre über Herbert Grönemeyers neue Platte „Mensch“ ... 194 Sport Glamour in Venedig Seite 178 Fußball: Trainer Peter Neururers spätes Glück mit dem VfL Bochum ...... 198 Die Heiligsprechung der berühmten Malerin Trendsetter: Die Werbeindustrie entdeckt Frida Kahlo, gespielt von dem ehemaligen Soap- die neue Sportkultur der Großstädte ...... 200 Opera-Girl Salma Hayek, bescherte dem Film- festival in Venedig einen furiosen Auftakt. Briefe ...... 8 Hollywood-Stars wie Tom Hanks, Sophia Loren Impressum...... 204 und Julia Roberts sorgten für Glamour. Erstmals Leserservice...... 204 seit langem im Wettbewerb dabei: deutsche Filme. Chronik...... 205 Register ...... 206 Personalien...... 208

Filmfestspielgast Hayek / AFP / DPA GABRIEL BOUYS Hohlspiegel/Rückspiegel...... 210 TITELBILD: Foto Robert Clarke/Aurora 7 Briefe

Die Geldgeber der Grundlagenforschung sollten großzügiger bei der Bewilligung ein- „Das Wort ‚Sintflut‘ ist angesichts der Was- schlägiger Forschungsprojekte über histori- sermassen treffend, in der Sache aber sche Hochwasserereignisse verfahren. Die Kosten für eine derartige Vorsorgeforschung dennoch falsch. Die biblische Sintflut war dürften lächerlich gering sein gegenüber den die Strafe Gottes für die Sündhaftigkeit Schäden, die die abgelaufene Flut verur- sacht hat. der Menschen. Was wir erlebt haben, ist die Leipzig Dr. Wilfried Richter Strafe der Natur für Jahrzehnte wäh- renden Raubbau durch die Menschen.“ Länder und Kommunen sollten geplante, aber noch nicht begonnene Bauvorhaben Holger Windisch aus Neukirch in Sachsen zum Titel und Prestigeobjekte, die sich aus dem- „Die Sommer-Sintflut – Wenn Flüsse im Wasser ertrinken“ selben Topf an Bundesgeldern nähren wie SPIEGEL-Titel 34/2002 die Zuschüsse für den dringend benötigten Wiederaufbau und die Wiederherstellung der verkehrlichen Infrastruktur in den die Fahrrinnenmitte bessere Fahrverhält- Hochwassergebieten, zurückstellen. Für Wieder nicht dazugelernt nisse zu erreichen. Bei höherer Wasser- Egoismen ist angesichts der Not in den Nr. 34/2002, Titel: Die Sommer-Sintflut – Wenn Flüsse im führung oder gar bei Hochwassern wird Überschwemmungsgebieten kein Platz, Wasser ertrinken. Umwelt / Klima / Katastrophen die Fließgeschwindigkeit nicht nennens- denn es steht außer Frage, dass die Gelder wert erhöht, die Buhnen werden überflu- in Dresden, Grimma oder Wittenberg drin- „Jahrhunderthochwasser!“, meine Güte, tet und lassen dem Fluss seinen freien Lauf. gender benötigt werden. lasst diesem Jahrhundert doch noch die 97 Braunschweig Wolfgang Duffner Karlsruhe Juergen R. Wenzel Jahre Zeit, die es noch hat … Berlin Ullrich Malcke Naturbelassenheit in Eh- ren, doch Wien ist mit Schönen Gruß an Mister Bush! Die so schöner Regelmäßigkeit genannte zivilisierte Welt ist jetzt einer von der Donau unter weiteren, möglicherweise noch größeren Wasser gesetzt worden Gefahr als dem Terrorismus ausgesetzt. – auch zu Zeiten, als die- Dieses Problem ist gravierender, weil haus- se noch naturbelassen gemacht: Der Feind, die „Achse des Bö- war! Tatsächlich hat die sen“ sind wir selbst, unsere eigenen Fehler. umsichtige und voraus- Mit den nationalen Interessen der USA schauende Regulierung war das Kyoto-Abkommen nicht zu ver- der Donau in den sieb- einbaren. Es wird Zeit, die nationalen ziger Jahren bewirkt, Scheuklappen endlich abzunehmen, denn dass Wien von diesem es müssen Maßnahmen ergriffen werden, Hochwasser fast über- die weit über Kyoto hinausgehen. haupt keine (!) Schäden Elfershausen (Bayern) Ralf Holzinger abbekommen hat.

Wien KASPER / DPA JAN-PETER Natürlich wäre es schön, wenn unsere Flüs- Zacharias Korsalka Überflutetes Grimma: Kein Platz für Egoismen se nicht so kanalisiert wären. Doch hat der zurzeit viel kritisierte Ausbau der Flüsse Es fehlt das Wassereinzugsgebiet-bezoge- Regierung, Arbeitgeberverbände und Ge- nur einen sehr geringen Einfluss auf die ne Denken. Die Flüsse und Auen machen werkschaften sollten sich zusammensetzen Hochwasserspitzen. Denn obwohl die Flüs- nur circa sieben Prozent der Fläche der im Rahmen „Bündnis für Arbeit“ und die se in Sachsen und in Tschechien das ihnen Bundesrepublik aus. Sie müssen aber die Tarifautonomie außer Kraft setzen und alle zugewiesene Kanalbett ignorierten, sich Niederschläge aus dem gesamten Land arbeitswilligen Kräfte zu Entgelten tätig um kaum einen Deich scherten und weit- aufnehmen. Wichtig ist es, den Flüssen werden lassen, die die Geschädigten in der hin nach beiden Seiten ihre natürlichen mehr Raum zu geben. Mit der bewilligten Lage und willens sind zu bezahlen. Das Überschwemmungsgebiete überfluteten, Deichrückverlegung in der Lenzener Elb- heißt, jeder, der arbeiten will, kann arbei- minderte dies die Flut kaum ab; nein, selbst talaue erfolgte ein Schritt in die richtige ten. Die Baupreise, Materialpreise, Ne- 200 Kilometer flussabwärts, wo die Elbe Richtung. benkosten werden massiv sinken. Der Euro auf Grund der zufließenden Nebenflüsse Berlin Dr. René Schwartz wird an Kaufkraft erheblich gewinnen und schon eine erheblich höhere Leistungs- Inst. f. Gewässerökologie u. Binnenfischerei sowohl innerdeutsch als auch im Export fähigkeit hat, waren die Folgen fatal. Clausthal-Zellerfeld Justus Teicke Vor 50 Jahren der spiegel vom 3. September 1952 Bei den laufenden wasserbaulichen Maß- DDR-Regime gegen Katholikentag in Berlin Die Konfessionen halten nahmen entlang der Elbe handelt es sich zusammen. Ludwig Erhard warnt vor Konkurrenz zwischen westdeut- gerade nicht um einen Generalausbau. Es schen Messestädten Kampf ums Leipziger Erbe. Scheitern des hessi- werden größtenteils im Rahmen von Un- schen Sozialisierungsexperiments Hickhack um Braunkohlegrube terhaltungsmaßnahmen die schon lange „Emma“ kostet Steuergelder. Fliegende Untertasse über Ohio gesich- tet Wesen mit paradiesischen Vorrechten? Sabor, der sprechende Ro- vorhandenen, aber nicht unterhaltenen boter „Bin für mein Alter sehr gescheit, will aber fleißig weiterstreben.“ Buhnen und Leitwerke wiederhergestellt. Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de Die Buhnen haben vorrangig den Zweck, oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben. den Wasserstand bei geringen Abflüssen Titel: Schauspielerin Sonja Ziemann zu erhöhen und durch Konzentration auf

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Werbeseite Briefe preiswerte Angebote ermöglichen. Die Ge- gewinkt hat: „Es wird schon nicht so samtwirtschaft wird unter dem Zwang der schlimm.“ Oft wurde nicht einmal der Ver- Not zur Preis- und Kaufkraftnormalität such unternommen, eine Hochwasserversi- zurückfinden. Die angerichteten Schäden cherung abzuschließen. Und jetzt sollen wir werden schnell und preiswert behoben alle für diese Unvernünftigkeit aufkommen? sein. Möhlau (Sachsen-Anhalt) Ralf Schmidt Hildesheim Prof. Paul Lothar Müller Zweifellos ist jetzt die Zeit solidarischer Anstatt dass im Osten beim eigenen Haus Hilfe. Helfen wir denen rasch, die unserer in mehr Sicherheit investiert wurde, stieg Hilfe bedürfen, und hüten wir uns vor de- man erst mal vom Trabi auf den BMW um. nen, für die das Leid dieser Menschen in Sehr eilig hatte man es auch damit, so- Wahrheit zweitrangig ist. Schnell schwindet fort den Gardasee oder Mallorca zu bevöl- auch die Sorge der Menschen, wenn ein kern. Jetzt wird gejammert, um Spenden paar Jahre nichts passiert. Das ist ein Pro- gebeten, Staat und EU angebettelt. Der blem, weil Hochwasserschutz weit über Steuerzahler wird’s schon richten, speziell eine Wahlperiode hinaus angelegt sein im Westen. muss. Die nächste Flut kommt bestimmt. Karlsruhe Werner Bahm Ellerau (Schlesw.-Holst.) Peter Groth

Bisher fehlte allen Anwohnern an Elbe und Sie schreiben, die Münchener Rückversi- Mulde die Phantasie, dass ein Sommerre- cherung habe eine alarmierende Karte ver- gen eine solch zerstörende Flut auslösen öffentlicht, aus der hervorgehen würde, in kann. Sicher fehlt denjenigen Unionspoli- welchen Regionen Mitteleuropas künftig tikern, die jetzt zum Klimaschutz den Neu- verstärkt mit Überschwemmungen, Gewit- bau von Atomkraftwerken vorschlagen, tern oder Stürmen gerechnet werden muss. weiterhin die Phantasie, dass mehrere Si- Dies trifft so nicht zu. Vermutlich beziehen cherheitssysteme gleichzeitig ausfallen Sie sich auf Karten, die von Dritten auf der können. Wieder nicht dazugelernt. Grundlage unserer „Weltkarte der Naturge- Dresden Steffen Braun fahren“ erstellt worden sind. Diese Welt- karte geben wir seit 1978 heraus. Sie liegt Wieder einmal bedarf es einer Katastrophe, nun in 3. Auflage und als CD-Rom vor. ln aber nicht irgendwo in Mosambik oder dieser Karte sind keine regional detaillierten Bangladesch, sondern bei uns, damit Um- Aussagen über die Zunahme der genannten weltschutz ein Thema wird. Wieder einmal Naturgefahren enthalten. Eine Karte mit setzt eine große Hilfsaktion ein, aber nicht solch genauen Prognosen kann mit der not- etwa auch für die viel mehr betroffenen wendigen Verlässlichkeit nach dem derzeiti- Menschen in Ostindien oder Bangladesch, gen Erkenntnisstand in der Klimaforschung in Tschechien oder Südrussland, sondern nicht seriös erstellt werden. nur für die eigenen Landsleute. Sollen die München Dr. Gerhard Berz anderswo sich doch selber helfen, oder? Leiter des Bereichs GeoRisikoForschung Spendenkonten werden genannt, aber sie der Münchener Rück gelten nur für die heimischen Flutopfer. Bad Camberg (Hessen) Wolfgang Fladung Nachdem die deutsche Einheit zum Teil über die Rentenversicherung bezahlt wur- Sicher kennt jeder den einen oder anderen, de, ist es diesmal an der Zeit, den Öffent- welcher in Dresden oder in Wittenberg di- lichen Dienst ins Boot zu nehmen und die rekt an der Elbe wohnt und schon immer Trockenlegung des Ostens über einen mit dem wunderbaren und unbezahlbaren zwangssolidarischen „Gehalts-und Pen- Blick auf den Strom geschwärmt und bei sionsverzicht“ zu finanzieren. Fragen nach Hochwasser mit der Hand ab- Karlsruhe Roland Zahn

Zerstörte Altstadt von Pirna: Zeit solidarischer Hilfe Angesichts der drohenden Gefahr von Überschwem- mungen sollte man alle Ju- gendlichen zu einem Kata- strophenschutzdienst ver- pflichten, der den heutigen Wehrdienst ablöst. Ibbenbüren Ludger Hoppe

Antonin Artaud hatte Recht, als er schrieb: „Und es ist gerecht, dass sich von Zeit zu Zeit Katastrophen ereignen, die uns bewegen, uns wieder an die Natur zu halten, das heißt, das Le- ben wiederzufinden.“ Fürth (Bayern) Bernd Noack MATTHIAS RIETSCHEL / AP MATTHIAS Klägliches Geschreibsel? Nr. 34/2002, Essay: Marcel Reich-Ranicki über Robert Musil und dessen überschätztes Hauptwerk „Der Mann ohne Eigenschaften“

Der Artikel ist ein wahres Labsal! Nach der Lektüre kommt man sich weniger dumm vor. Da Musils Gemeinde ziemlich laut ist, hatte ich mich bisher geschämt, offen zuzu- geben, dass „Der Mann ohne Eigenschaf- ten“ mir ungemein geschwätzig vorkam. Paris Dr. Benoît Pivert AKG (L.); ERWIN ELSNER / DPA (R.) / DPA (L.); ERWINAKG ELSNER Schriftsteller Musil, Kritiker Reich-Ranicki Intellektuell oder sinnlich

Selten konnten wir so gehässige und kennt- nisarme Sätze lesen wie in diesem Verriss. Musil ist nichts für Kritiker, nichts für Ger- manisten und nichts für Berufsleser und Handlungsfadensucher. Unser Großkriti- ker sollte weiter mit rollendem R den un- terhaltsamen Fernsehclown für die gebil- deten Stände spielen. Köln Dr. Ruprecht Keller

Man kann einem Autor nicht deshalb er- zählerisches Versagen vorwerfen, weil man selbst intellektuell desinteressiert ist und es vorzieht, sich im Sinnlich-Konkreten eines spannenden Krimis oder einer er- greifenden Liebesgeschichte zu suhlen. Ge- fangen in einer Abwehrhaltung gegen all- zu viel Nachdenken entgeht Reich-Ranicki Musils erzähltechnische Raffinesse. Hamburg Dr. Fritz Feger, Sabine Döring

Da Herr Reich-Ranicki nicht zu Robert Mu- sil hinaufwill, zerrt er ihn zu sich herunter. Dass er vom Schöpfungsprozess keine Ah- nung hat, mag noch hingehen, schließlich ist er Kritiker geworden statt Schriftsteller. Dass er aber sein klägliches Geschreibsel über ei- nen längst anerkannten großen Künstler wie Robert Musil durch bösartige Bemerkungen über dessen Privatleben, Werkskizzen und diverse Gerüchte zu untermauern versucht, ist so lächerlich wie widerlich. Basel Georg Kreisler Schriftsteller

Es gibt einen einfachen Hauptsatz der Literaturkritik: Ein jeder macht sich die Literatur so klein, wie er ist. „Quod erat demonstrandum“, um es mit dem Mathe- matiker Ulrich zu sagen. Berlin Thomas Lehr Schriftsteller der spiegel 36/2002 13 Briefe

ästhetisch überhöht dargestellt hat. Es ist schen 2100 und 2300 Gramm auf die Welt, aber auch wahr, dass Riefenstahl damit auch welches sehr gut ist. Die ersten 20 Wochen filmische Meisterwerke ersten Grades ge- der Schwangerschaft ging es mir sehr schaffen hat. Vergleichbar mit Eisensteins schlecht, und nur dank der Ratschläge einer Meisterwerken „Oktober“ und „Panzer- ganzheitlichen Hebammenpraxis konnte ich kreuzer Potemkin“. Auch diese Filme hul- die Schwangerschaft so lange halten. Viele digen direkt oder indirekt einem mörderi- extreme Frühgeburten könnten vermieden schen Regime, das im Gegensatz zu den Na- werden, wenn dieses Konzept auch von den zis sein Gorgonenhaupt zum Zeitpunkt der Ärzten für Mehrlingsschwangere empfoh- Dreharbeiten schon deutlich erhoben hatte. len würde. Das „Leben im Zwischenbe- Trotzdem wurde Eisenstein niemals dafür reich“ könnte verhindert werden, und es persönlich haftbar gemacht. wäre sicherlich sinnvoller und günstiger. München Karlheinz Wolf Garmisch-Partenkirchen Heidemarie Trickl

Was die Deutschen Leni Riefenstahl ei- gentlich nicht verzeihen können, fragen Sie rhetorisch. Die Antwort scheint mir klar. Als Frau Riefenstahl erstmals für Hitler drehte, hatte dessen Regime bereits Tau- sende Leben zerstört, ganz unkaschiert

ALEXANDRA WINKLER / REUTERS WINKLER ALEXANDRA durch Morde, Folter, Haft, Schikanen. Ob es Jubilarin Riefenstahl unverzeihlich ist, sein ganzes Können zur

Ästhetische Überhöhung der Nazi-Ideologie Verfügung zu stellen, um solche Leute mög- / BILDERBERG ELLERINGMANN STEPHAN lichst perfekt darzustellen, sei dahingestellt. Frühchen im Brutkasten Widerwärtig ist es ganz gewiss. Aber un- Trugbild der Machbarkeit Monströse Dienstleistung verzeihlich ist es, dass Riefenstahl ihre mon- Nr. 34/2002, Regisseurinnen: Die Filmemacherin und ströse Dienstleistung bis heute verteidigt. Viele „Frühchen“ haben diverse Behinde- Fotografin Leni Riefenstahl wird 100 Sie sollte sich schlichtweg schämen. rungen. Und wenn die Eltern dann aus der Stuttgart Andreas Langen Klinik mit dem Nachwuchs nach Hause Das kann ich Ihnen schon sagen, was der kommen, stehen sie mit ihrem Schicksal Leni Riefenstahl nicht verziehen wird: Die plötzlich allein da. Die Krankenkassen ver- Konvertibilität des Schönen, Wahren und Leben heißt nicht nur Überleben suchen mit aller Macht, die Kosten für die Guten in einer Person ist ein urdeutscher Nr. 34/2002, Medizin: Schweizer ambulante intensive Kinderkrankenpflege, Traum, den sie leider nicht erfüllt. Sie ver- Ärzte wollen extreme Frühchen sterben lassen die die Eltern in der Pflege unterstützen steht von Schönheit alles, von Güte wenig kann, abzulehnen. Die Mutter wird’s schon und von der Wahrheit gar nichts. Auf uner- Ärzte wie die Chefärztin Christiane Seitz richten. Sonst kommt das Kleine halt auf die füllte Träume reagiert man typisch deutsch: aus Neumünster, die bereit sind zuzuge- Intensivstation. Das ist zwar teurer, wird mit Hass. ben, dass nicht nur Gutes getan wird, wenn aber aus einem anderen Topf bezahlt. Nürnberg Heinrich Weniger wir Überleben erzwingen wollen, haben Sulingen (Nieders.) Gaby Letzing wir viel zu wenige, und es gehört ihr mei- Nur weil Leni Riefenstahl und der Philo- ne Hochachtung dafür. Die trauernde Mut- soph Hans Georg Gadamer ein Methusa- ter sucht den Weg der Anklage, um mit lemsches Alter erreicht haben, sind sie dieser Situation irgendwie fertig werden Mit Bonusmeilen noch lange nicht in einen Topf zu werfen. zu können, vielleicht auch, weil das Trug- Nr. 33/2002, Panorama: Bundestag So zeugt es von mangelnder Urteilskraft, bild der Machbarkeit allzu leichtfertig von wenn man auch Hans Georg Gadamer un- Medizinern entworfen wird und das An- Sie behaupten, ich hät- terstellt, er hätte keine Selbstzweifel ge- nehmen eines solchen tragischen Verlustes te entgegen meinen habt. Gadamers Hermeneutik gründet sich nicht in dieses funkelnde Bild passt und Angaben auf einer Rei- auf die Voraussetzung, dass eigene „Vor- ihr dabei niemand hilft. se nach Bolivien und urteile“ im Dialog mit dem Gegenüber re- Berlin Marion Rößner Peru, die ich im außen- vidiert werden können. Die Selbstkritik politischen Auftrag der steht also am Anfang seiner Philosophie. Wir erfuhren erst nach acht Monaten, dass CDU/CSU-Fraktion un-

München Dr. Florian Walch unsere Tochter nicht „nur“ ein Frühchen DARCHINGER MARC ternommen habe, keine ist, sondern wir auch mit schweren Behin- Baumeister Bonusmeilen einge- Eine gelungene Ovation – Elke Schmitters derungen zu rechnen haben. Wir wären si- setzt. Das trifft so nicht Geburtstagsgrüße an die einmalige Regis- cher unfähig gewesen, zur Zeit der Geburt zu. Der überwiegende Teil der Flüge wur- seurin, aber doch eine Art Eiertanz: den selber die Entscheidung von Leben oder de mit Bonusmeilen beglichen. Fast-Genies Harlan und Gründgens verzeiht Tod zu treffen. Das medizinische Personal Berlin Brigitte Baumeister man ihre Schwächen, der Diva nicht, denn sollte sich mehr mit dem Leben nach der In- MdB Göttinnen müssen perfekt sein, das gehört tensivstation befassen und sich den schwe- zur Definition. Fragt sich der jüngere Zeit- ren, scheinbar unendlich langen Weg, den Frau Baumeister hat Recht. –Red. genosse nur, ob Eiertänze nach zwei Gene- das Kind und seine Eltern vor sich haben, Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- rationen immer noch zum Standardreper- bewusst machen. Mit den Schweizer Richt- schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. toire der Deutschen gehören müssen? linien stimme ich deshalb ganz überein. Le- Die E-Mail-Adresse lautet: [email protected] Berlin Uwe Topper ben heißt nicht nur Überleben. Plau am See (Meckl.-Vorp.) Nicola Robbin In einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe befindet Es ist wahr, dass Frau Riefenstahl mit ihren sich eine Beilage der Firma Schweiz Tourismus, Zürich, Filmen „Triumph des Willens“ (1935) und Meine Drillinge kamen in der 36. Schwan- und Beilagen der Verlage Gruner+ Jahr/GEO, Hamburg, „Olympia“ (1936) die Ideologie der Nazis gerschaftswoche mit einem Gewicht zwi- und der Verlagsgruppe Handelsblatt/WiWo, Düsseldorf.

14 der spiegel 36/2002 Werbeseite

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Werbeseite Panorama Deutschland

PARLAMENT Kohl: „Schlimmster Präsident seit Hermann Göring“ lt-Bundeskanzler AHelmut Kohl hat sich mit einer Äuße- rung über Bundes- tagspräsident Wolf- gang Thierse (SPD) grob im Ton vergrif- fen: Im Anschluss an die Sondersitzung des Parlaments zur Hoch- wasserkatastrophe am vergangenen Donners- tag nahm Kohl den

zweithöchsten Reprä- STAATSBIBLIOTHEK BAYERISCHE sentanten des Landes Nazi-Reichstagspräsident Göring (r., 1939 bei in kleiner Runde ins einer Reichstagssitzung in der Kroll-Oper) Visier: „Das ist der schlimmste Präsident seit Hermann Göring“, schimpf- te Kohl beim Lunch im Bundestags-Restaurant – die Nazi-Größe war von 1932 bis 1945 Reichstagspräsident. Mit am Tisch saßen drei bekannte Christdemokraten und ein Ex-Minister der FDP, keiner widersprach. Thier- se hatte zuvor in der Unions-Fraktion Empörung aus- gelöst, weil er während der Rede von Kanzlerkandidat JENS RÖTZSCH / OSTKREUZ JENS RÖTZSCH Edmund Stoiber (CSU) sehr spät gegen rot-grüne Zwi- M. EBNER / MELDEPRESS schenrufer eingeschritten war. Dem SPIEGEL ließ Kohl Thierse Kohl erklären, er nehme zum Inhalt privater Gespräche kei- ne Stellung. Der ehemalige Parlamentarische Staatssekretär Wil- minister Bernd Schmidbauer und Ex-Wirtschaftsminister Hel- ly Wimmer (CDU), der mit am Tisch saß, wollte die Äußerung mut Haussmann wollen Kohls Äußerung nicht gehört haben; der weder bestätigen noch dementieren: „Ich kann Ihnen nur raten, CDU-MdB Ronald Pofalla war für eine Reaktion nicht zu errei- sprechen Sie mich nicht auf dieses Thema an“, so Wimmer auf chen. Kohl sorgte schon einmal auf diese Art für Aufsehen: 1986 Anfrage; es sei „auch um andere Themen gegangen“. Ex-Staats- hatte er Michail Gorbatschow mit Joseph Goebbels verglichen.

FERNSEHDUELLE das Streitgespräch ausstrahlen. FLUTKATASTROPHE Doch Koch kneift – angeblich, Koch kneift so seine Getreuen, aus Rück- Teure Hilfe aus Europa sicht auf den Koalitionspart- ährend sich die Spitzen- ner FDP: Die Liberalen, die undesfinanzminister Hans Eichel (SPD) fürchtet, dass eine Wkandidaten von CDU vor zwei Jahren in der Hoch- Bscheinbar gute Idee des Bundeskanzlers die Republik auf und SPD vor den Landtags- phase der CDU-Spendenaffä- Dauer teuer zu stehen kommt: Bereitwillig hat die EU-Kom- wahlen in Mecklen- mission am Mittwoch der vergangenen Woche den Vorschlag burg-Vorpommern Gerhard Schröders aufgegriffen, einen Katastrophenfonds der und Niedersachsen Europäischen Union zu schaffen. Der soll zunächst mit 500 vor laufenden Ka- Millionen Euro bestückt sein und später auf eine Milliarde meras streiten wer- aufgestockt werden können. Eichel war von der Idee keines- den, müssen die hes- wegs begeistert, obwohl das Geld aus Europa noch in diesem sischen Wähler auf Jahr die Not der Flutopfer an der Elbe lindern soll. Seine Be- ein TV-Duell zwi- amten rechneten ihm vor, dass Deutschland als größter Netto-

schen CDU-Minis- HUSCH / TERZ STEFAN FOTOS: zahler der EU knapp 25 Prozent zu dem Fonds beitragen terpräsident Roland Bökel Koch müsse. Zwar werde das Land kurzfristig mehr Geld erhalten Koch und seinem als einzahlen. Mittel- und langfristig aber ereigneten sich die SPD-Herausforderer Gerhard re in Treue fest zum Minister- größten Katastrophen eher im Süden Europas und in den Bei- Bökel verzichten. Der Sozial- präsidenten standen, haben trittsstaaten. Der Katastrophenfonds werde so auf Dauer dazu demokrat hatte den Schlag- Koch intern bedeutet, dass sie führen, dass Deutschland noch mehr an Brüssel zahlt – genau abtausch in der vorigen ein Spitzenduell vor der Wahl das Gegenteil wollte der Kanzler bisher erreichen. Dennoch Woche nach dem Duell Schrö- im Februar 2003 ohne Betei- erstickte Schröder mit einem Machtwort jede Kritik im Keim: der/Stoiber angeregt. Der ligung der FDP als unfreund- Wackeln in dieser Frage werde von den Wählern nicht als Hessische Rundfunk wollte lichen Akt ansehen würden. Sparsamkeit gewertet, sondern als Knauserigkeit verurteilt.

der spiegel 36/2002 17 Panorama

BUNDESWEHR Mehr Macht erteidigungsminister Peter Struck V(SPD) hat den Bundeswehr-General- inspekteur Wolfgang Schneiderhan mit neuen, umfassenden Kompetenzen aus- gestattet. Der ranghöchste Soldat, bisher lediglich militärischer Berater der Bun- desregierung, erhält die Kommandogewalt für die Einsätze der Streitkräfte – eine kleine Revolution: Anders als die übrigen Generalstabschefs in der Nato durfte der Generalinspekteur den Chefs von Heer, Luftwaffe und Marine bislang keine Be-

fehle erteilen, das konnte nur der Minister. / DDP KOALL CARSTEN So war es im „Blankeneser Erlass“ des Generalinspekteur Schneiderhan (l.), Dienstherr Struck (2. v. l.) früheren SPD-Verteidigungsministers Hel- mut Schmidt von 1970 geregelt, den Struck am vergangenen Generalinspekteur überdies den Vorsitz eines neuen „Einsatz- Montag „modifiziert“ hat. Nun ist der Generalinspekteur mäch- rats“, der die Einsätze der Armee vorbereiten soll. Zudem tiger denn je: Künftig dirigiert er nicht nur die Einsätze, son- wird der bisher machtlose „Führungsstab der Streitkräfte“ zu dern trägt auch die Verantwortung für die Bundeswehrplanung einem Generalstab aufgewertet. Um die politische Aufsicht und die Ausstattung der Streitkräfte. Das Einsatzführungs- über die Militärs besser sicherstellen zu können, wird dieser kommando in Potsdam untersteht nun ebenfalls dem Vier- Stab, der zum Teil noch auf der Bonner Hardthöhe unterge- Sterne-General. Um das notorische Kompetenzgerangel zwi- bracht ist, wohl bald komplett in den Berliner Bendler-Block schen den Teilstreitkräften zu verringern, übertrug Struck dem umziehen.

Kultusministerkonfe- NPD renz (KMK) einer Analyse der Rahmen- Weiterer V-Mann enttarnt bedingungen, etwa der Aus- und Weiterbil- rneut ist im Zuge des NPD-Verbotsverfahrens dung von Lehrkräften, Eein führender Funktionär der rechtsextremen zugestimmt. Ob sich Partei als V-Mann aufgeflogen. Bastian Tilger, 26, jedoch in einer zwei- lieferte mehrere Jahre lang für den schleswig- ten Phase OECD-Prü- holsteinischen Verfassungsschutz Informationen fer in deutschen Klas- aus der NPD. Seit Februar 2001 war Tilger im Lan- senzimmern umsehen desvorstand zuständig für den Ordnerdienst und dürfen, ist noch un- hatte das Amt des stellvertretenden Kreisvorsit- klar. „Die Idee, Lehrer zenden von Lübeck inne. Zuletzt hatte er Kontak- zu testen, ist gut“, so te zur Schill-Partei geknüpft. Tilger, der erst vor der Hamburger Schul- kurzem abgeschaltet wurde, war eine von rund senator Rudolf Lange 30 Quellen, die Verfassungsschützer in den Vor- (FDP), „das schlechte ständen der NPD unterhalten. Die Partei werde Abschneiden bei Pisa dennoch nicht von den Geheimdiensten gesteuert, ist doch nicht darauf rechtfertigten sich Bund und Länder Ende Juli zurückzuführen, dass in einem Schriftsatz an das Bundesverfassungs-

IMO / ULLSTEIN BILDERDIENST IMO / ULLSTEIN unsere Schüler düm- gericht. NPD-Anwalt Lehrerin im Unterricht (in Bonn) mer sind.“ Bislang Horst Mahler argu- lehnt es die KMK aber mentiert in seinem SCHULE ab, die Kosten für die OECD-Ex- Ende vergangener perten bereitzustellen – schlappe Woche in Karlsruhe Pisa für Lehrer? 35000 Euro. Bundesbildungsminis- eingegangenen 398 terin Edelgard Bulmahn (SPD) hat Seiten starken Schrift- achdem bei der internationa- die KMK aufgefordert, sich in vol- satz hingegen, die Nlen Pisa-Studie die Leistungen lem Umfang an der Studie zu be- Antragsteller hätten der Schüler getestet wurden, will teiligen. Notfalls sei der Bund, sich „auf Sachverhalte die OECD nun die Lehrer unter die obgleich ohne Zuständigkeit im gestützt, die von Ge- Lupe nehmen. Doch ob Deutsch- Schulbereich, bereit, Kosten zu heimdienstmitarbei-

land sich an der Untersuchung übernehmen. „Am Geld soll es / DDP KOALL CARSTEN tern gesetzt worden“ beteiligt, ist fraglich. Zwar hat die nicht scheitern“, so die Ministerin. NPD-Anwalt Mahler seien.

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BUNDESTAGSWAHL ten Gernot Erler beistehen. Im benach- barten Emmendingen-Lahr empfiehlt Grün hilft Rot der Grünen-Kandidat seinen Wählern einen „intelligenten n zahlreichen hart umkämpften Bun- Gebrauch des Wahlsystems“ – zum Idestags-Wahlkreisen haben sich die Vorteil des SPD-Konkurrenten Peter Kandidaten der Grünen entschlossen, Dreßen. Noch keine Kooperation gibt es am 22. September mit einer Erststim- hingegen in Berlin, wo in Pankow Wolf- men-Kampagne die SPD zu unterstützen gang Thierse (SPD) und der Grünen- – vor allem in Baden-Württemberg: In Abgeordnete Werner Schulz aufeinander Ludwigsburg hat der scheidende Grü- treffen. Überlegungen bei den Grünen, nen-Promi Cem Özdemir öffentlich da- Thierse mit einer Erststimmen-Kampa- zu aufgerufen, mit der Erststimme den gne gegen die PDS zu unterstützen, fan- SPD-Kandidaten Jan Mönikes zu den keine Resonanz. wählen. Im Wahlkreis Waib- lingen will der Grünen-Kan- didat Alfonso Fazio Erststim- men dem Sozialdemokraten Hermann Scheer zugute kommen lassen. In Freiburg, wo die SPD zuletzt dem grünen Oberbürgermeister Dieter Salomon zum Einzug ins Rathaus verhalf, will HOLGER NAGEL NAGEL HOLGER MARCO URBAN MARCO eine grüne Unterstützer- / OSTKREUZ JENS RÖTZSCH gruppe dem SPD-Kandida- Dreßen Erler Scheer

STASI akte, erklärte der DSB den Trainer für nicht belastet. Nun aber sind diese Do- Spitzel unter Sportlern kumente aufgetaucht: Akten aus dem Schießsport-Zentrum lagen, teilweise er Deutsche Schützenbund (DSB) zerknüllt und zerrissen, in Kartons in der Dbekommt neuen Ärger durch einen Suhler Birthler-Behörde. Der Fund be- Stasi-belasteten Bundestrainer. Der lastet den DSB-Coach schwer: Über eine Suhler Nachwuchs-Coach Axel Krämer Club-Angestellte berichtete Krämer, da- soll unter dem Decknamen „Werner mals Mitglied der DDR-Nationalequipe, Hoppe“ Kameraden und Betreuer be- ihr werde „unmoralischer Lebenswan- spitzelt und über Dopingexperimente del“ nachgesagt. Einen Kameraden berichtet haben. Bereits im Juni war be- schwärzte er an, weil der heimlich eine kannt geworden, dass Krämer zwischen Schützin aus Italien traf. Nach den Re- 1981 und 1989 als IM der DDR-Staats- geln des Deutschen Sportbunds dürfen sicherheit registriert war. Der Trainer Verbände keine Trainer anstellen, die als bestritt seinerzeit, belastende Berichte Spitzel Schäden für Dritte billigend in geliefert zu haben. Da nur noch Krämers Kauf genommen haben. Krämer wollte Kaderakte auffindbar war, nicht jedoch sich zu dem Fund nicht äußern. Er müs- der Inhalt der so genannten Berichts- se jetzt erst selbst sehen, was dort stehe.

Nachgefragt Mehrheit für Ökosteuer Sollte die nächste Bundesregierung die Ökosteuer...

Anhänger von CDU/ B’90/ Gesamt SPD CSU Grüne FDP PDS . . . beibehalten? 53 68 37 73 49 57

. . . abschaffen? 38 23 58 10 47 37

. . . erhöhen? 4 6 1 17 4 3

NFO-Infratest-Umfrage für den SPIEGEL vom 27. bis 29. August; rund 1000 Befragte; Angaben in Prozent; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/keine Angabe Deutschland

AUSSENPOLITIK Krieg der Worte Nach den neuen US-Drohungen gegen den Irak wächst die Distanz zwischen Europa und der Supermacht, besonders scharfe Töne kommen aus Berlin. Bei aller Sorge vor einer Eskalation im Nahen Osten – den rot-grünen Wahlkämpfern passen die Kriegsrufe aus Washington ins Konzept.

ls die Sonne untergeht über Saar- ruft Schröder in die Menge, aber ein kla- Fragen sind so erbittert diskutiert worden brücken, klatschen sich mehrere res Wort müsse wohl erlaubt sein: „Freund- wie Wiederbewaffnung und Wehrpflicht Atausend Menschen auf dem Schloss- schaft ja, Unterordnung nein.“ Tosender 1956, der Nato-Doppelbeschluss 1979 oder platz rhythmisch dem Auftritt des Stargasts Beifall. Lauter als an jeder anderen Stelle die deutsche Unterstützung für den Krieg entgegen. Schwer hängt der Duft von Brat- seiner Rede. gegen den Irak 1991. Damals hingen vie- würsten in der warmen Abendluft. Der Ob in München am Mittwoch, in Saar- lerorts die weißen Bettlaken der Kriegs- Kanzler beginnt seine Wahlkampfrede. brücken am Donnerstag oder in Kiel am gegner an den Balkonen. Gerhard Schröder lobt die Hilfsbereit- Freitag vergangener Woche – wenn es um Und nun – schon wieder Irak. Seit Wo- schaft nach dem Hochwasser und die Soli- den Irak geht, wird es auf den sonst oft so chen warnen der Kanzler und sein Außen- darität mit den Flutopfern, er preist die lärmenden Wahlkampfveranstaltungen erst minister Joschka Fischer vor einer realen jungen Freiwilligen („Auf diese Jugend einmal still und fast ein wenig feierlich. Kriegsgefahr. Doch zunächst wollte das können wir stolz sein“), er beschwört die Wer mag noch an den täglichen Par- Thema nicht so richtig zünden, zu sehr Balance zwischen Ökonomie und Ökologie teienstreit, an Bonusmeilen, das marode schien das Menetekel dem Bedürfnis der („Das wollen wir uns nicht kaputtmachen Gesundheitssystem, Arbeitslosigkeit oder Wahlkämpfer geschuldet, auch durch das lassen“), er spricht über Kinder, Familie, selbst die Folgen der Flutkatastrophe den- Spiel mit antiamerikanischen Klischees die Frauen und schließlich – über den Irak. ken, wenn es um die wirklich existenzielle eigenen Anhänger zu mobilisieren. Da wird es zum ersten Mal an diesem Frage von Krieg oder Frieden geht? Bis zum Montag vergangener Woche. Abend still auf dem Schlossplatz. Deutsch- Auf kein Thema reagieren die Deut- Da ließ der amerikanische Vizepräsident land werde sich an einer militärischen In- schen so sensibel wie auf dieses. Nie wie- Dick Cheney mit einer martialischen Rede tervention der USA nicht beteiligen: „Je- der Krieg, lautet der gesellschaftliche Nach- die Welt aufhorchen. Nicht nur in Berlin, denfalls nicht unter meiner Führung.“ Er kriegskonsens – in Ost wie West. Wenige auch in den anderen europäischen Haupt- wolle die „freundschaftlichen Bande“ zu städten rückten die Politiker enger zusam- den USA doch gar nicht in Frage stellen, * Am vergangenen Donnerstag im Bundestag. men und begannen nach Wegen zu suchen,

Bundeskanzler Schröder, Herausforderer Stoiber*: Wirklich existenzielle Frage THOMAS GRABKA / ACTION PRESS / ACTION GRABKA THOMAS Am vergangenen Donnerstag legte Struck nach: Wenn die USA den Irak an- griffen, drohten die deutschen Spürpanzer in Kuweit „in eine kriegerische Auseinan- dersetzung“ hineinzugeraten und müssten „abgezogen werden“. Ein für den 16. Sep- tember geplantes Großmanöver mit 250 deutschen Soldaten in Kuweit blies der Mi- nister vorsichtshalber ab. Kalt erwischt hat es – wieder einmal – den Herausforderer aus Bayern. In der TV- Debatte war er diesem Thema noch aus- gewichen, nun musste sich Edmund Stoiber endlich erklären: „Die Frage eines ameri- kanischen Alleingangs in der Irak-Frage erfordert eine klare Antwort“, sagte er vo-

J. SCOTT APPLEWHITE / AP APPLEWHITE SCOTT J. rigen Mittwoch (siehe SPIEGEL-Gespräch US-Vizepräsident Cheney (in Katar): „Tödliche Bedrohung“ Seite 40). Das „Entscheidungs- und Hand- wie der Verbündete auf der anderen Seite des Ozeans vielleicht doch noch von ei- Enthauptung aus der Luft nem Krieg abgehalten werden könnte. US-amerikanische Kriegsszenarien zum Sturz Saddam Husseins Vor Kriegsveteranen in Nashville (Ten- nessee) hatte Cheney für den Angriff auf 1 „MODELL AFGHANISTAN“ Saddam Hussein getrommelt – als ob die Luftschläge; US-Spezialeinheiten Luftwaffen- Truppen morgen in Marsch gesetzt wür- kämpfen gemeinsam mit Hilfs- stützpunkte den. Im „Angesicht einer tödlichen Be- truppen unzufriedener Kurden im der USA: drohung“ solle man sich nicht in „absicht- Norden und Schiiten im Süden. Diyarbakir liche Blindheit“ flüchten, tönte Cheney: 2 „Die Risiken des Nichtstuns sind weitaus TÜRKEI Incirlik IRAN größer als das Risiko des Handelns.“ nördliche Das war der Gegenangriff auf die par- Flugverbotszone 36° teiinternen Kritiker eines Irak-Kriegs. 1 Mehr und mehr Republikaner hatten die SYRIEN Pläne der US-„Falken“, präventiv gegen Mittelmeer 3 Saddam loszuschlagen, kritisiert. Die Rede Bagdad 33° des mächtigen Stellvertreters von George südliche W. Bush, berichtete der deutsche Bot- Flugverbotszone IRAK 1 schafter in Washington am Mittwoch ver- 2 traulich nach Berlin, sei der „bisher um- fassendste Versuch“, die Notwendigkeit ei- SAUDI-ARABIEN nes Regimewechsels im Irak „nach innen KUWEIT und außen zu legitimieren“. Mit ihrer Kriegsrhetorik, fürchten die 2 INVASION 3 „ENTHAUPTUNGSSCHLAG“ Berliner Koalitionäre, könnten sich die Luftschläge; bis zu Massive Luftangriffe; Luftlandung mit 2 Ahmed Hardliner in Washington zunehmend in 250000 GIs greifen die bis zu 50000 Soldaten, um Komman- al-Dschabr eine Ecke manövrieren, aus der sie ohne irakischen Streitkräfte dozentralen zu besetzen und Gegen- Gesichtsverlust nicht mehr herauskommen aus Nachbarländern an. angriffe auf Israel zu verhindern. – ein Feldzug gegen Bagdad wäre dann un- ausweichlich. Am weitesten geht der neue Verteidigungsminister Peter Struck. Die bald schon könnten die neuen Arbeitslo- lungsmonopol“ für Maßnahmen gegen den Entscheidung, den Irak zu attackieren, senzahlen einen Abschwung einleiten. Diktator in Bagdad liege „bei den Verein- „um Saddam aus dem Verkehr zu ziehen“, Die rabiaten Drohungen von Cheney & ten Nationen“ – klarer hätten auch die sei in Washington längst gefallen. Struck Co. setzen da einen neuen, wahlkampfge- Grünen nicht formulieren können. sieht keine echten Einflussmöglichkeiten mäßen Ton. Wenn der Frieden auf dem Schröders Vorstoß in Sachen Irak hatte mehr: „Die Diskussion geht nicht mehr um Spiel steht, ist zumindest ein Krieg der die Unionspolitiker irritiert. Noch vor kur- das Ob, sondern nur noch um das Wie, Worte erlaubt. zem waren die amerikanischen Kriegsplä- Wann und die Folgen.“ Auf dem Münchner Marienplatz rät ne für ihn kein Thema. Dann preschte der So vermengen sich die Sorgen der Re- Schröder den Amerikanern, „weniger über SPD-Chef vor: Ein Angriff auf Saddam gierenden mit den Gelüsten der Wahl- Militärfragen und mehr über den Beitritt wäre genau die Sorte „Abenteuer“, für das kämpfer. Cheney hätte wohl gute Chancen, zum Kyoto-Protokoll zu reden“. In Berlin die Deutschen nicht zu haben seien. sich als „Mitarbeiter des Monats“ bei der setzt der neue Wehrminister Struck, der Erst hielt die CDU stramm dagegen. Die Kampa, der SPD-Wahlkampfzentrale, zu auf den üblichen Antrittsbesuch in den Außenpolitiker Wolfgang Schäuble und qualifizieren. Die Sozialdemokraten haben USA bislang verzichtet hat, auf amerika- Friedbert Pflüger schwadronierten über mit Sorge registriert, dass das Fernsehduell kritische Parolen: Die Deutschen seien „Optionen“ und „Drohkulissen“ gegen- zwischen Kanzler und Kandidat nicht den „nicht die Mündel der Vereinigten Staa- über Bagdad, die man aufrechterhalten erwarteten Sieg brachte. Zwar sind nach ten“, tönt der Bundeswehrchef. „Für ei- müsste: „Wo Einsicht fehlt, muss Zwang der Flut die Umfragewerte der SPD zum nen Feldzug gegen den Irak stehen die Sol- nachhelfen“, dozierte Schäuble, und Pflü- Teil deutlich gestiegen (siehe Seite 36), doch daten nicht zur Verfügung.“ ger fand gar, ein US-Angriff auf Saddam

der spiegel 36/2002 21 EFE / DPA EU-Gipfel (im Juni in Sevilla): Heilfroh, dass die Deutschen den Unmut Washingtons allein auf sich ziehen bedürfe nicht einmal eines gesonderten fel, dass Saddam jetzt Massenvernich- Sollte Saddam wie im Golfkrieg 1991 Ra- Uno-Mandats. tungswaffen besitzt“, warnte Cheney vori- keten auf Tel Aviv richten oder Israel mit Dann traten die Kollegen der CSU auf ge Woche. „Viele von uns sind überzeugt, biologischen oder chemischen Waffen an- die Bremse. „Es besteht bei uns keinerlei dass Saddam ziemlich bald Atomwaffen greifen, würde der israelische Premier Ari- Absicht, sich an einem militärischen Aben- bekommen wird.“ el Scharon wohl mit Atomwaffen zurück- teuer irgendwo in der Welt zu beteiligen“, Er „postulierte“ das allerdings, wie die schlagen. „Dann drückt der“, sorgt sich erklärte der CSU-Landesgruppenchef deutsche Botschaft in ihrem Bericht nach ein Berliner Regierungsmitglied, „auf den Michael Glos Mitte August , „das kann ich Berlin spitz vermerkte, „ohne Bezug auf roten Knopf.“ auch für unseren Kanzlerkandidaten sa- nachrichtendienstliche Erkenntnisse“. Che- Doch auch unterhalb der Schwelle nu- gen.“ Glos hatte im Wahlkampf festgestellt, ney gab sogar zu, dass er nicht über genaue klearer Katastrophen könnte, so die Sorge dass Schröders Warnungen bis tief ins bür- Informationen verfüge. „Spionage ist ein der Regierung in Berlin, eine Invasion am gerliche Lager auf Zustimmung stießen. unsicheres Gewerbe“, meinte der US-Vize Golf auf Jahrzehnte für Instabilität sorgen. Vorige Woche war dann klar, dass salopp – aber meistens sei die Lage ja noch Bricht das Regime in Bagdad zusammen, Schäuble mit seiner Position Probleme be- ernster, als die Spione es glaubten. könnten eine ganze Reihe regionaler Kon- kommen würde. Am Mittwochmorgen Der deutsche Verteidigungsminister hält flikte losbrechen. Müssten nicht die USA wurde bei einer Telefonkonferenz der neue das für reichlich kühn. Der Berliner Re- auch solche Krisen eindämmen, um die Kurs abgestimmt. gierung jedenfalls lägen keine „Erkennt- wichtigen Ölreserven am Golf zu schüt- Geradezu dankbar für die Chance nutz- nisse“ vor, dass Saddam „Terroristen be- zen? Wären die Amerikaner bereit, ähn- te nun Stoiber die Rede Cheneys, den herbergt“, sagt Struck und fügt hinzu: „Wir lich wie in Europa nach dem Sieg über Hit- Schlingerkurs der Union zu begradigen. haben keinen Grund, anzunehmen, dass ler, auf Jahrzehnte die labile Nachkriegs- Eifrig wetterte der Kandidat gegen US-„Al- der Irak über Atomwaffen verfügt.“ Die ordnung zu überwachen? leingänge“. Nur zwei Tage zuvor hatte er biologischen und chemischen Waffen, die Schon um die Kosten des Krieges zu in einem Interview erklärt: „Die Frage ei- der Diktator noch besitze, seien „nicht in decken, müssten die USA wohl vor Ort die nes Angriffs auf den Irak stellt sich doch einem Zustand, wo man sagen würde, das Ausbeutung der Ölquellen selbst in die derzeit gar nicht.“ ist eine akute Bedrohung“. Hand nehmen. Die Ausgaben für einen Genützt hat die zeitweilige Anbiederung Die US-Militärs dagegen sind längst da- Irak-Feldzug werden von amerikanischen dem Ansehen der Union auf der anderen bei, den Ernstfall durchzuspielen. Immer Experten auf 100 Milliarden Dollar bezif- Seite des Atlantiks nicht. Frustriert musste wieder lancierten sie diverse Angriffssze- fert – plus weiterer 15 bis 16 Milliarden pro Wolfgang Schäuble, Außenpolitik-Experte narien in die Öffentlichkeit – etwa eine US- Jahr im Fall einer längeren Besetzung. Die im Stoiber-Team, vorige Woche eine für geführte Attacke mit Beistand kurdischer Kosten des Golfkonflikts 1990/91 wurden Anfang September geplante Reise nach Hilfstruppen nach dem Muster des Afgha- auf 61 Milliarden Dollar taxiert – doch da- Washington absagen: Cheney und Vertei- nistan-Kriegs oder einen Einmarsch mit bis mals mussten die USA nur rund 7 Milliar- digungsminister Donald Rumsfeld haben zu 250000 Mann Bodentruppen – hohe Ver- den selbst zahlen. Den Rest trugen reiche keine Zeit für den wackeren Verbündeten. luste nicht ausgeschlossen (Grafik Seite 21). Verbündete wie Japan, Saudi-Arabien, die Das radikale „Nein“ von Kanzler und Kandidat wird in den europäischen Haupt- städten mit Wohlwollen registriert. Die meisten EU-Staaten teilen die Berliner Sor- gen, sind aber heilfroh, dass die Deutschen mit ihrer forschen Festlegung den Unmut Washingtons allein auf sich ziehen. Selbst London, bisher der treueste Bündnispartner Washingtons, signalisiert den Deutschen, dass der Druck in der re- gierenden Labour-Partei wächst. Jetzt su- che man nur noch nach einem eleganten Weg, Tony Blairs Rückzug gesichtswah- rend zu gestalten. Der britische Premier- minister hatte bisher als einziger europäi- scher Regierungschef öffentlich Sympathie für einen Angriff auf Bagdad geäußert. Doch selbst wenn sich die Europäer auf einen klaren Antikriegskurs verständigen könnten – sie ahnen, dass sich die Falken

in Washington von ihren Skrupeln wenig DER BUNDESWEHR / Y.-MAGAZIN ARMIN BLASE beeindrucken lassen. „Es gibt keinen Zwei- Deutsche und amerikanische Soldaten in Kuweit: Großmanöver abgeblasen

22 der spiegel 36/2002 Golf-Emirate und Deutschland, das damals etwa 17 Milliarden Mark für die US-Ak- tion überwies. Trotz der großzügigen Unterstützung von außen schlitterten die USA in eine Wirtschaftskrise, die mit zu George Bush Seniors Niederlage bei der Wahl 1992 beitrug. Womöglich ist es deshalb gerade die Furcht vor einer Rezession, die den Präsi- dentensohn George W. zögern lässt. Mit einer tatsächlichen Angriffsentscheidung in Washington rechnet zumindest die Ber- liner Regierung nicht vor den Wahlen zum US-Kongress Anfang November. Doch schon jetzt bereitet sich Washing- ton auf einen möglichen Waffengang vor: Das Pentagon hat bereits Transportschiffe angemietet, um Kampfpanzer, Hubschrau- ber und Munition an den Persischen Golf zu schaffen; die US-Luftwaffe bringt Waf- fen und Ersatzteile auf ihre Stützpunkte in der Region. Dennoch – die Berliner Regierung wie- gelt ab. Die Militärs und die Späher des Bundesnachrichtendienstes hätten bisher keine konkreten Anzeichen für amerika- nische Kriegsvorbereitungen entdeckt. „Wenn die Amerikaner etwas vorbereiten, merkst du das daran, dass sich in Bayern und der Pfalz etwas bewegt“, hat der im Juli gefeuerte Minister Rudolf Scharping seinem Nachfolger Struck hinterlassen. Im Süden und Westen der Republik sind etli- che tausend GIs stationiert. Das Pentagon müsse auf Truppen aus den in Deutschland kasernierten US-Divi- sionen zurückgreifen, so Militärs, sollte Bush Junior einen Bodenkrieg befehlen. Dann würde Deutschland wohl wieder zur Drehscheibe für den US-Kriegsnachschub – wie 1991 im Golfkrieg von Bush Senior. Fast pausenlos schwebten damals „Ga- laxy“- und „Starlifter“-Transportjets in Ramstein und auf der Rhein-Main-Airbase am Frankfurter Flughafen ein. Schier end- lose Fahrzeugkolonnen und schwer be- wachte Züge mit Kampfpanzern und Ar- tillerie-Geschützen rollten quer durch die Republik nach Bremerhaven, zum ameri- kanischen Umschlagpunkt für Schiffs- transporte ins Kriegsgebiet. Die fast entschlafene Friedensbewegung packte ihre Transparente wieder aus und machte gegen die Amerikaner und die Kohl-Regierung mobil. Ein Schicksal, das auch der nächsten Regierung drohen könnte, sollten sich die Vereinigten Staa- ten wirklich für einen Krieg entscheiden. Denn auch ohne eine aktive deutsche Beteiligung können die Amerikaner da- für jederzeit ihre deutschen Stützpunkte nutzen. Berlin wäre dagegen machtlos. „Wir können nur zugucken“, erklärt ein Mit- glied des Schröder-Kabinetts. „Die Verträ- ge mit den Amerikanern sind so.“ Ralf Beste, Konstantin von Hammerstein, Ralf Neukirch, Alexander Szandar der spiegel 36/2002 23 Deutschland

WAHLKAMPF Der rot-grüne Herbergsvater Joschka Fischers Wahlkampagne ist auch ein ganz persönlicher Existenzkampf: Fast um jeden Preis will der beliebteste Politiker Deutschlands Außenminister bleiben. Doch hinter ihm steht nur die kleine grüne Partei. Von Ulrich Deupmann

as Wichtigste bewahrt Straßenkämpfer in Anzug mit er sich für den Schluss Weste, hat sich bis in die Her- Dauf. „Ich“, sagt Josch- zen von Kegelbrüdern und ka Fischer zum Ende seiner Schrebergärtnern regiert. Rede, „werbe auch ganz per- „Woher kommt das?“, fragt sönlich für mich: Ich möchte er hinterher im Wahlkampf- vier Jahre weiter Außenminis- bus mit der Aufschrift „Josch- ter bleiben.“ ka“ – und weit entrückt Da brandet Beifall auf, stär- scheint ihm in solchen Mo- ker als an sonst irgendeiner menten seine Partei. Sicher: Stelle, sogar ein paar „Bra- Sie bildet die Basis seiner vo“-Rufe erschallen – und das Macht. Ohne sie wäre er nie überall auf seiner Tingeltour dort angekommen, wo er seit durch Deutschland. „Und 1992 hinstrebte: in den Mi- wenn Sie das auch wollen“, nistersessel im Auswärtigen lockt der Grüne in Darmstadt, Amt. Doch betrachtete er die Norderstedt oder Hannover, Grünen selten als Wert an „dann brauche ich diesmal sich; sie dienten ihm als not- jede Stimme.“ wendiges Instrument. Nun, Als wäre der Posten des seitdem Fischer oben ange- Außenministers ein Wahlamt! langt ist, wächst er aus seiner Beim Blick auf die große grü- Partei heraus, und diese Par- ne Bühne, mit der Fischer in tei wirkt dabei wie ein zu diesen Wochen von Markt- klein gewordener Anzug. platz zu Marktplatz zieht, Das Leben ist für ihn ein könnte man das beinahe unaufhörlicher Kampf um die vermuten. Die Botschaft in Hackordnung, und dass ihm sieben Meter hohen weißen fast niemand auch nur Lettern lautet schlichtweg annähernd das Wasser rei- „Joschka“. Einfach „Helmut“ chen kann, lässt er Freunde aufs Plakat zu schreiben hat und Gegner gleichermaßen sich vor Zeiten nicht einmal spüren. Natürlich hält Fischer der CDU-Patriarch Kohl ge- sich für den besten Außenmi- traut. nister, den sich die Bundesre- Joschka Fischer im Zenit publik in den nächsten vier seiner Macht – an diesem Jahren erhoffen darf. Welcher flüchtigen Ort ist er im Wahl- Deutsche sonst könnte sich kampf 2002 tatsächlich ange- bei den Treffen mit den EU- langt. 16 Jahre hatte er gepre- Kollegen zum Rudelführer digt, um die Republik rot- aufschwingen? Um wen sonst grün – auf Parteitagen sagt er würden die dort wohl eine „ökologisch-sozial“ – zu ver- Traube bilden? ändern. Vier Jahre hat er Seine in 30 Jahren politi-

Deutschlands Weg als Vize- JENS BÜTTNER / DPA scher Praxis gewonnenen kanzler, vor allem aber als Wahlkämpfer Fischer: Im Zenit seiner Macht Machttechniken funktionie- Außenminister mit geprägt. ren auf europäischer und Bei den Grünen ist er der unumstrittene Menschen zusammen, um den grünen Su- globaler Bühne nicht anders, als er sie ehe- Herrscher: Niemand weiß, ob die Partei perstar zu begrüßen – „dreimal mehr als dem in Frankfurter Putzgruppen erprobte: ohne ihn überhaupt eine Zukunft hat. Un- vorher bei Hans Eichel und Angela Mer- Das Wechselspiel von Zuwendung und ter seiner Ägide, so Fischers Bilanz, hat kel“, wie der Reporter des lokalen Wo- Liebesentzug gehört ebenso dazu wie das Deutschlands Stimme an Gewicht in der chenblatts feststellt. rhetorische Zersägen des Neulings, der Welt erheblich hinzugewonnen. Auf den Das Publikum überall in den Stadthallen eine große Klappe riskiert – aber auch Beliebtheitsskalen der Demoskopen belegt entstammt Deutschlands Mitte: Junge ne- die Einordnung gegenüber dem eindeutig er den ersten Platz. ben Alten, Ökos neben normalen Reihen- Stärkeren. „Madeleine, du bist die letzte In Flensburg strömen an einem Diens- hausbesitzern und gescheitelten Vereins- Supermacht“, flötete der kurzzeitig ge- tag um die Mittagszeit annähernd tausend meiern. Kein Zweifel: Fischer, der Ex- lehrige Grüne während des Kosovo-Kriegs

24 der spiegel 36/2002 die US-Außenministerin Albright durchs Der Abstand zwischen ihm und den Monaten hinter den Kulissen in Berlin für Telefon an. Grünen wird erst jetzt richtig deutlich, wo diese Konstellation so die Trommel gerührt Doch wenn Fischer sich sicher oben der Leitwolf behauptet, mit seiner Cou- wie der Außenminister. wähnt, herrscht er feudal. Nach sechsmo- leur im Reinen zu sein, was im Klartext Seinen Gefolgsmann, den Grünen-Chef natiger Charme-Offensive schien der Mi- bedeutet, dass sie ihm bedingungslos folgt. , und andere Parteispitzen be- nister die Beamten im AA kaum noch zu Mögen sie auch weit reichende Kompro- drängte er so, dass sie intern verbreiten, in brauchen. Einige von ihnen sehnen seinen misse mit der Realität geschlossen haben – diesem Dreierbündnis liege womöglich Abgang nach der Bundestagswahl weniger in der Geschwindigkeit, in der die Macht tatsächlich eine Chance. Auch Schröder aus politischen denn aus menschlichen den Außenminister veränderte, konnten erklärt im kleinen Kreis, die Ampelkoali- Gründen herbei. Selbst die engen Vertrau- die Grünen nur selten mithalten. tion sei durchaus eine Möglichkeit. Vize- ten sind vor seinen Demütigungsritualen Doch kurz vor dem Wahltag, bei stei- kanzler zu bleiben, assistiert ihm Fischer, nie ganz gefeit. genden Umfragewerten, ist das für Josch- sei für ihn „nicht der entscheidende Der Minister, mit der Sorge um die Welt ka Fischer kein Thema. „Im Moment ist Punkt“ – ein Hinweis, der den regierungs- und seiner Selbstverliebtheit vollauf be- alles gut“, stellt er fest. „Geschlossene willigen Freidemokraten unter Umständen schäftigt, bemerkt das kaum. Die Markie- Partei, geschlossene Führung, Identität ein weiteres Argument liefern könnte. rungen in Fischers Welt lauten Washington, von Personen und Programmen – und ein „Bundeskanzler“, schickt Fischer auf Brüssel, Moskau oder Peking. Seine politi- Zugpferd.“ den Marktplätzen seinem Abschlussplä- schen Bezugspunkte tragen inzwischen Na- Beim Länderrat, vorvergangene Woche doyer voran, „möchte ich nicht werden.“ men wie Konrad Adenauer, Willy Brandt in Berlin, feierten die Grünen ihren Vor- Das wäre lächerlich mit den Grünen im oder Helmut Kohl. Auch wenn „die Zeiten mann für ein gut einstündiges langweiliges Rücken, aber zutrauen würde er sich die- nationaler Globalsteuerung vorbei sind“, verbales Allerlei mit stehenden Ovationen. ses Amt jederzeit – wenn er nicht in der wie Fischer analysiert, drängt es ihn, noch Verstohlen robbten sich danach die beiden falschen Partei wäre. eine Menge zu gestalten: ein vereintes Eu- Parteichefs und die zwei Bundesminister Durchgespielt hat er den Gedanken, ropa, den Frieden im Nahen Osten, das für ein Gruppenfoto heran. zur SPD zu wechseln und damit eines Ta- LUTZ KLEINHANS / FAZ KLEINHANS LUTZ (L.);DPA IMO (R.) Als Straßenkämpfer in Frankfurt (1973) Als Turnschuh-Minister in Hessen (1985) Mit Schröder und Lafontaine nach dem Wahlsieg (1998) Aufsteiger Fischer: Erprobte Machttechniken, die auf globaler Bühne wie vormals in Frankfurter Putzgruppen funktionieren

Verhältnis zu den USA. „Die nächsten Jah- Vergebens hat Fischer versucht, den ges zum Regierungschef aufzusteigen, vor re“, vibriert er, „werden richtig spannend.“ Mantel der grünen Partei um ein paar Kon- geraumer Zeit immer wieder. Hatte Schrö- Aber statt auf der Weltbühne mitzuwir- fektionsgrößen weiter zu schneidern. In der der ihn nicht ausdrücklich dazu auf- ken, entscheidet Fischer in ein paar Wo- bekannt dominanten Pose wollte er nach gefordert? „Du hättest da mehr Beifall be- chen vielleicht nur noch darüber, wer sich dem Wechsel in die Regierungsverantwor- kommen als ich“, raunte der Kanzler sei- tourismuspolitischer Sprecher der Grünen- tung eine „Öko-FDP“ aus den Grünen for- nem Vize bereits nach dem SPD-Parteitag Fraktion im nächsten Deutschen Bundestag men, raus aus dem kulturellen Ghetto von in Nürnberg im November vergangenen nennen darf. „Raus aus dem Dreiteiler, Batik- und Palästinensertüchern. Nur, die Jahres zu. raus aus der Mühle“, redet er sich ein, das „Zausels, deren Horizont immer noch die Und mehrmals lockte der Sozi den Kol- sei doch gar nicht so schlecht: „Endlich Schwäbische Alb ist“ – so ähnlich schimpf- legen im Kabinett, sich von den Grünen wieder leben.“ te der Reformator damals –, ließen sich kei- loszusagen. „Komm, wir haben doch kei- In Wahrheit quält ihn kein schlimmerer ne Sekunde aus ihrem seelischen Gleich- nen für Außenpolitik, mach das doch als Alptraum: mit 54 Jahren zurückgeworfen gewicht bringen. Wozu ein grünes Projekt Unabhängiger“ – keiner könne das so wie zu werden auf die vergleichsweise bedeu- 18, wenn 6 oder 8 Prozent auch reichen, um er. Doch Fischers Bescheid, wohl überlegt, tungslose Oppositionsbank und gestoppt im Parlament die Stimme zu erheben? lautete schließlich: „Mich gibt’s nur mit mitten im politischen Langstreckenlauf, um „Die wollten kleinräumig bleiben“, kom- Rot-Grün.“ künftig seine Tage als trauriger Anführer mentiert der Matador knapp. Er ist Geo- Denn dort ist sein Platz. Nah bei der von ehemaligen grünen Hierarchen und Stratege, mindestens. Er möchte gestalten SPD – und manchmal so nah, dass er wirkt einigen Hinterbänklern zuzubringen. in der Welt der Großen. Wenn es nach der wie ein Exponat im August-Bebel-Museum Es ist beinahe eine Existenzfrage: Fi- Wahl mit Gerhard Schröder und der SPD für soziale Gerechtigkeit. „Ich bin für ei- scher kämpft – mit allen verfügbaren Kräf- allein nicht mehr reichen sollte, dann eben nen starken Staat“, ruft er immer wieder in ten. Auch dabei ist er weitgehend auf sich in einer Ampelkoalition mit den Libera- seiner Wahlkampfrede. Wer keine Teilpri- selbst gestellt. len. Keiner hat in den vergangenen zwei vatisierung der Schulen wolle wie er, der

der spiegel 36/2002 25 Deutschland müsse auch Steuern erheben und dürfe sie Fundaments gehört, unterdrückt der Grü- Sozialistische Internationale müsste dazu ja nicht weiter senken. ne sein intellektuelles Überlegenheitsge- nicht aufgelöst werden – aber vielleicht Mit seinen Überzeugungen und seiner fühl gegenüber dem Roten nach Kräften. verbreitert um die Grünen. Rhetorik wäre Fischer auf Anhieb in der „Nein“, beteuert er, „ich werde die Klei- Mit „Europa“ hat Fischer in seiner Zeit Lage, der SPD-Linken die Leitfigur zu er- derordnung nicht verletzen.“ als Außenminister wieder ein Lebensthema setzen, die sie seit dem Abgang Oskar La- Nur wenn der Kanzler im Kabinett wie- gefunden. „Die Ökonomen würden sa- fontaines schmerzlich vermisst. Das Be- der gegen die EU-Bürokraten poltert, lie- gen“, erläutert er 200 Oberstufenschülern kenntnis „Ich bin ein Linker“ legt der Grü- fert sich Fischer schon mal einen harten im Georg-Cantor-Gymnasium in Halle, ne in diesem Jahr vernehmbar häufiger ab Schlagabtausch mit seinem Chef. Öffent- „Großbritannien, Frankreich und Deutsch- als zu der Zeit, als er noch die „Öko-FDP“ lich erlaubt er sich höchstens, bei be- land allein haben im 21. Jahrhundert ein- vorantrieb. stimmten Fragen, die Schröder betreffen, in fach nicht mehr die richtige Betriebsgröße, In Wahrheit steht Fischer mitten zwischen die Luft zu gucken und die Antwort zu um in der Welt mitspielen zu können.“ den beiden Parteien. Der kleinbürgerliche verweigern. Dessen Parole vom „deut- Diese Erkenntnis bleibt nicht ohne Aus- Biedersinn sozialdemokratischer Brieftau- schen Weg“ zum Beispiel ignoriert er im wirkung auf Fischers Machttrieb und Kal- benzüchter und Buchhalter hat ihn früher Wahlkampf hartnäckig. kül: Europa auf der Weltbühne Gestalt zu stärker abgestoßen als heute, wo ihm auch Umgekehrt nervt es den Kanzler, dass verleihen und den Deutschen eine ge- dieser Bevölkerungsteil seine Reverenz in Fischer sich noch mit diplomatischen War- wichtige Stimme zu geben – da wäre er zu Wahlveranstaltungen erweist. Andererseits nungen aufhält, wenn er längst deutsche gern weiter ganz vorn dabei; er hat ja, da ging ihm die andauernde Realitätsverwei- Wirtschaftsinteressen vertritt. Es wurmt ist er sich sicher, das Zeug dazu. gerung grüner Befindlichkeitsspezialisten ihn, wenn der Außenminister mit einem Sogar Deutschlands höchstes Gut, sein vormals nicht so stark gegen den Strich wie glanzvollen Auftritt wie im April bei der Wohlstand, wird in seinem Denken unver- in seinem Amt als Außenminister. Atlantik-Brücke vor der deutschen und der hohlen in den Dienst dieser Sache gestellt. Manchen Grünen irritiert es durchaus, US-Elite ein Echo auslöst, wie das eigent- „Nur mit einer wirtschaftlich starken Bun- wie sehr ihr Vormann sich sorgt, wenn es lich nur einem Regenten gebührt. desrepublik“, weissagt er, sei das vereinte IMO RALF HIRSCHBERGER / DPA HIRSCHBERGER RALF MIGUEL VILLAGRAN / DPA MIGUEL VILLAGRAN In Washington mit Madeleine Albright (1998) Beim Jogging am Mittelmeer (2000) Mit FDP-Chef Guido Westerwelle Minister Fischer: Ein Geo-Stratege, der in der Welt der Großen gestalten möchte der SPD schlecht geht. Als Schröder sich Diese beiden machthungrigen Alpha- Europa zu errichten. Jeden Schritt zur Ei- im Frühjahr nach einer Serie von Schlap- Tiere im selben Parteigehege? Das könnte nigung des Kontinents werde sein Land pen und Regierungspannen im Kanzleramt der Kanzler so wenig ertragen wie sein auch künftig mit finanziellen Zugeständ- durchhängen ließ, schien das keinen im Stellvertreter. Allenfalls im Katastrophen- nissen bezahlen müssen. So habe es Helmut Berliner Regierungsviertel so zu bewegen fall nach einer vernichtenden Wahlnieder- Kohl schon betrieben, so werde es bleiben. wie den rot-grünen Herbergsvater. Sogar lage, einer Ära nach Schröder – wenn eine Sorgsam registriert der Minister, wie die Peter Glotz meldete sich schließlich, von desolate SPD dann auf ihn zukäme –, wäre Brüsseler Eurokraten einander zuflüstern, Fischer alarmiert, in der SPD-Zentrale, das Undenkbare denkbar. In diesem Fall al- Fischer sei ein denkbarer Kandidat für die man möge doch dringend den Kanzler auf- lerdings müssten die Sozis damit rechnen, Nachfolge des EU-Kommissionspräsiden- muntern. dass er „nicht allein“ käme. ten Romano Prodi im Jahr 2005. Norma- Nicht dass Fischer um einen Freund lit- Doch dieses Szenario enthält so viele lerweise ist dieser Posten für ehemalige Re- te: Ohne starken Kanzler keine rot-grüne Wenn und Aber, dass Fischer auch in der gierungschefs reserviert, und Fischer käme Mehrheit, so einfach sieht er das. Der Opposition wohl in Richtung Europa nach wohl nur in Frage, wenn der Bundeskanz- Außenminister nennt sein Verhältnis zu neuen Ufern Ausschau hielte. Denn die eu- ler ihn vorschlüge und mit Nachdruck bei Schröder „funktional“. Freundschaften, ropäische Linke steckt nach seiner Analy- den Amtskollegen durchsetzte. Doch wel- sagt er, halte er in der Politik für fehl am se in einer tiefen Krise. Quer über den chen Grund sollte ein möglicher Wahlsie- Platz, weil halt jedes Amt dazu zwinge, an- Kontinent gebe sie ihren Stammwählern – ger Edmund Stoiber haben? deren auch wehzutun. einfachen Leuten, Arbeitern und den Mit- So zieht Fischer weiter, von Markt- Neben beträchtlichem wechselseitigem telschichten – unter anderem keine schlüs- platz zu Marktplatz, von Stadthalle zu Respekt ist das Verhältnis zwischen dem sige Antwort darauf, warum ihnen die Glo- Stadthalle, und hämmert den Zuhörern sei- Kanzler und seinem Vize auch von einer balisierung nützt. ne Botschaft ein: „Ich werbe auch ganz uneingestandenen Konkurrenz bestimmt. Das wäre eine Aufgabe, die ihn faszi- persönlich für mich: Ich will Außenminister Doch weil es zur Stabilität des rot-grünen nieren könnte: die europäische Linke! Die bleiben.“ ™

26 der spiegel 36/2002 Werbeseite

Werbeseite Deutschland

HOCHWASSER Unter der Gürtellinie Verzweifelt warten Flutopfer auf die versprochenen Hilfsgelder – doch Politiker und Bürokraten streiten noch um die Modalitäten.

uhm und Dank für die Rettung aus der Not wollte die Bundesregierung Rallein ernten. Am vorigen Freitag brach Arbeitsminister Walter Riester (SPD) von Berlin aus ins sächsische Döbeln auf, um flutgeschädigten Unternehmern Mut zuzusprechen und der ersten Auszahlung der Soforthilfe von 15 000 Euro pro Be- Aufräumarbeiten in Grimma: „Für ganze Landstriche neue Unternehmer suchen“ troffenem beizuwohnen. Sachsens parteiloser Wirtschaftsminister Die von der Bundesre- beamter, „weiß oft die eine Martin Gillo erfuhr von der Stippvisite des gierung beschlossene Be- Hand nicht, was die ande- Sozialdemokraten nur per Zufall – hängte grenzung der Soforthilfen re tut“. sich aber sofort an Riesters Tross. Im auf 15000 Euro pro Opfer, Als oberster Hilfsgeld- Gepäck hatte Gillo ein ganz besonderes mault Gillo munter weiter, Verwalter versucht sich Mitbringsel: einen Stiefel, umkränzt mit ei- sei ohnehin „eine absurde Gillo selbst zu profilieren. ner roten Schleife. Der war für Riesters Beschränkung“. Manche Für die Auszahlung und Kabinettskollegen Hans Eichel bestimmt. Unternehmen bräuchten Bereitstellung der Gelder Der Bundesfinanzminister hatte den CDU- zum Überleben sofort Be- ist die Sächsische Auf- nahen Gillo beschimpft, nachdem dieser träge von Hunderttausen- baubank (SAB) zuständig, wegen schneller Bundeshilfe für flutge- den, wenn nicht Millionen deren Manager seit Wo- schädigte Betriebe genervt hatte. Eichel: Euro: „Die sollen sie ha- chen vor allem die prunk- „Dieser Sachse ist ein Stinkstiefel.“ ben.“ volle Einweihung des ge- Die Episode ist symptomatisch für den Im sächsischen Kabinett rade renovierten landes- Politikerstreit um die Millionen aus der Flut- ging er mit dem Verspre- eigenen Staatsweinguts

hilfe. Allzu langsam fließt das Geld vor al- chen allerdings baden. UNGER MARC-STEFFEN Schloss Wackerbarth um- lem in das am schwersten betroffene Sach- Schon die von ihm gefor- Minister Gillo treibt. sen, und seit einer Woche schieben sich Ber- derte Anhebung der Sofort- „Der ist ein Stinkstiefel“ Mitte der vorigen Wo- liner und Dresdner Ministeriale gegenseitig hilfe auf 30 000 Euro, auf che drückte Gillo aufs den schwarzen Peter zu, schließlich ist Wahl- Landeskosten, wurde abgeschmettert. Nun Tempo. Eilends sollte die SAB die Formu- kampf: Aus Dresdner Sicht ist der Bund an sieht Gillo schwarz für die aufstrebende lare in Umlauf bringen, auf denen flutge- der schleppenden Auszahlung der Sofort- Wirtschaft im Freistaat. Ohne höhere staat- schädigte Betriebe die Soforthilfe beantra- hilfe für existenzgefährdete Betriebe schuld. liche Hilfen würden etliche der 10800 flut- gen können. Die Banker wurden hektisch, Gillo drohte schon, „busweise Demon- geschädigten Unternehmen nicht überle- im Ministerium aber verwechselten Beam- stranten“ in die Hauptstadt zu schicken. ben. „Dann müssen wir uns für ganze te eine Datei, und so stand erst mal ein Bundeswirtschaftsminister Werner Mül- Landstriche neue Unternehmer suchen.“ falsches Formblatt zum Ausdrucken im In- ler hingegen wirft den Sachsen vor, „unter So wartet der Groß-Landwirt Karl-Fried- ternet. der Gürtellinie“ zu agieren: An einer rich Dierkes im sächsischen Großtreben- Weil Regierungschef Georg Milbradt der schnellen Auszahlung hätten die wohl gar Zwethau auf Geld aus Berlin oder Dresden. Aufbaubank bei Eil-Aktionen misstraut, kein Interesse. Offenbar wollten sie die Tausend Hektar von Dierkes Ackerland gründete er – ganz diskret – in der Staats- Berliner Millionen, unkte Müller, „erst ein- standen unter Wasser, die Schäden für den kanzlei eine Task-Force „Wiederaufbau“, mal im eigenen Haushalt parken“. Hof mit seinen sieben Arbeitsplätzen be- die nun Tilmann Schweisfurth, ein Nur waren bis vergangenen Freitag noch laufen sich auf 1,5 Millionen Euro. 13500 langjähriger Milbradt-Vertrauter, führt. gar keine Millionen in Dresden eingegan- Euro Soforthilfe wurden dem Landwirt avi- In einem sind sich alle sächsischen Hel- gen. Erst nachdem der Haushaltsausschuss siert – doch auf dem Konto war vergange- fer immerhin einig: Inzwischen seien die des Bundestags am Donnerstag grünes ne Woche noch nichts gelandet. Und selbst Menschen so genervt, dass nun Schnellig- Licht gegeben hatte, konnten 60 Millionen wenn die Hilfe kommt: Er könnte gerade keit wichtiger sei als korrekte Haushalts- Euro angewiesen werden. mal einen Monat von dem Geld die Löhne führung: „Wir geben das Geld einfach aus“, Das reiche vorn und hinten nicht einmal zahlen. Die Regierungshilfe „bringt mir gar sagt Wirtschaftsminister Gillo fröhlich. als erste Tranche, zürnen die Sachsen. Gil- nichts“, sagt er. Kaum vom Kabinett gerüffelt, verspricht los Beamte haben einen Sofortbedarf von Schuld am zähen Ablauf der Hilfe hat er, die Hälfte der Schadenssumme, zwei 180 Millionen Euro errechnet, 40000 Ar- freilich nicht nur der Streit zwischen Berlin Milliarden Euro, werde noch in diesem beitsplätze seien akut gefährdet. Der Scha- und Dresden – in Sachsen selbst herrscht Jahr beglichen und vom Land vorfinan- den für die Unternehmen allein in seinem Chaos: Gleich drei voneinander unabhän- ziert. „Wenn alles vorbei ist, holen wir uns Land, so Gillo, liege bei rund vier Milliar- gige Institutionen kümmern sich um die das Geld vom Bund wieder.“ den Euro. Flut-Gelder. Und da, lästert ein Spitzen- Christian Reiermann, Andreas Wassermann

28 der spiegel 36/2002 reiten landauf, landab Klagen vor. Sachsens Jurist, da könnte vor Gericht etwas zu Justizminister Thomas de Maizière (CDU) holen sein. sieht bereits die mit Fördermillionen und Ein möglicher Mandant ist Joachim Mät- Pathos beförderte Aufbruchstimmung zold. Denn der Unternehmer hätte kaum durch „unschönen Streit“ gefährdet. die 6000 Schuhe durch sein Geschäft Ein weiteres mögliches Opfer der über- schwimmen lassen, wenn er nur geahnt eilten Dresdner Evakuierung liegt derzeit hätte, was da auf Grimma zurauscht. Der im Berliner Virchow-Klinikum und ringt Gewerbetreibende packte in Gummistie- mit dem Tod – der Landtagsabgeordnete feln woanders mit an – und wähnte seinen Ronald Weckesser, ein Leukämie-Patient. Laden sicher. Schlimmer als beim Hoch- Der PDS-Mann, im Koma und mit einem wasser 1954, habe die Polizei per Laut- Schlauch in der Luftröhre abtransportiert, sprecher verkündet, steige der Fluss nicht hat schweres Fieber: 41,8 Grad. an. Damals war sein Geschäft trocken ge- Mehrere andere Dresdner Patienten blieben. Doch kurz nach der Durchsage reichten inzwischen über einen Anwalt stand das Schuhhaus schon bis unter die beim Regierungspräsidium Dienstauf- Decke im Wasser – 250000 Euro Schaden. sichtsbeschwerde gegen Oberbürgermeister Den will Mätzold nun einklagen. Ingolf Roßberg (FDP) ein. Das Rathaus Dem Regierungspräsidium im sachsen- weist die Vorwürfe zurück, doch schon anhaltinischen Dessau droht eine Muster- interessiert sich auch die Staatsanwaltschaft klage für gleich 132 Bitterfelder, deren Häu-

STEPHANIE PILICK / DPA PILICK STEPHANIE für die Vorgänge rund um die Räumung ser zum Großteil unter Wasser standen. Ihr der 1300-Betten-Klinik. Vorwurf: 1999 hätte die Verwaltung die Flu- Aber nicht nur in Dresden kümmern tung des Stausees Goitzsche zugelassen, sich Juristen um die Flut: Im sächsischen obwohl ein Gutachten vor „katastrophalen Furcht vor Döbeln etwa hat die Rechtsanwältin Ilon- Verhältnissen“ bei einem Hochwasser ge- ka Schmidt von 80 Gewerbetreibenden warnt hatte. Die Staatsanwaltschaft Dessau das Mandat erhalten, Klagen gegen Stadt- prüft derweil, ob Bürger oder gar Bürger- der Sühne verwaltung und Landratsamt zu prüfen. meister Deiche einreißen ließen, um ande- Die Behörden sollen zu spät vor den re Dörfer zu fluten und ihre eigenen zu ret- Kaum sind die Pegelstände in Fluten gewarnt haben – die Geschäftsleu- ten. Drei Vorermittlungsverfahren haben den Notstandsgebieten an der Elbe te hätten Maschinen und Möbel deshalb die Staatsanwälte schon eingeleitet. So sol- nicht mehr retten können. Die sächsische len Einwohner des Ortes Rehsen in Panik gesunken, werden Vorwürfe gegen Talsperrenverwaltung wird wohl ebenfalls nachts auf den Deich geklettert sein und die Katastrophen-Manager laut – das einen Anwalt bemühen müssen: Die eine Lücke in den Erdwall geschlagen ha- Wasser ging, die Anwälte kommen. Staatsanwaltschaft prüft eine Anzeige, in ben, heißt es; der Deich wurde so an ande- der den Beamten vorgeworfen wird, die rer Stelle vom Wasserdruck entlastet, dafür er 59-jährige Infarkt-Patient im Wasserspeicher seien nicht rechtzeitig ge- versank ein Teil des Nachbardorfs Riesigk Herzzentrum Dresden schwebte leert worden, die Talsperren hätten deshalb in den Schlammfluten. Dzwischen Leben und Tod. „Schwe- die Hochwasserwelle nicht aufnehmen So genau wissen die Ermittler aber nicht, re Schocklunge“, diagnostizierte Ruth können. was sich in der Nacht abspielte. Die Polizei Strasser, Ärztliche Direktorin der Klinik; In Grimma sammeln gleich zwei Kanz- ist völlig überfordert, die Juristen müssen eine Hightech-Beatmung mit Überdruck leien die Beschwerden von Unterneh- sich teils auf Zeitungsberichte stützen. hielt den Patienten stabil. mern, mit mehr als 80 Mandanten rech- Aber eines, so ein Bediensteter des Regie- Doch am 14. August beschloss der städ- net Anwalt Roland Finsterbusch: Vier rungspräsidiums, sei jetzt schon klar: „Die tische Krisenstab, Herzzentrum und Uni- bis fünf Stunden früher hätten die Men- gute Nachbarschaft ist da für die nächsten klinik räumen zu lassen, weil die Elbe be- schen gewarnt werden müssen, glaubt der Jahrzehnte gesichert.“ Steffen Winter drohlich stieg. Eine der spektakulärsten Evakuierungen der Nachkriegszeit lief an – und der Herz-Patient steckte plötzlich mitten in der gigantischen Materialschlacht. Über eine Luftbrücke wurde er ausge- flogen, und kurz danach starb er. Medizi- ner raten den Angehörigen nun, juris- tisch gegen die Verantwortlichen vorzu- gehen. Denn das Elbwasser erreichte das Klinikum nie, und so viel ist klar: „Die Verlegung hat ihm nicht gut getan“, klagt Professorin Strasser. Sie habe nun „Ge- wissensbisse“. Reue und Furcht vor der Sühne dürften sich inzwischen in manchen Amtsstuben Ostdeutschlands breit machen – und damit die Angst vor Strafverfolgern und klage- wütigen Bürgern. Denn in Sachsen und Sachsen-Anhalt suchen die Menschen nach Verantwortlichen für die verheerenden Schäden; und nicht selten werden sie fün-

dig: in Regierungspräsidien, Landratsäm- DÖRING SVEN tern und Stadtverwaltungen. Anwälte be- Patienten-Evakuierung in Dresden: Tod nach der Rettung

der spiegel 36/2002 29 Werbeseite

Werbeseite nicht dasMandatdesSenats“ gehabt, so Fernsehen verfolgte. als erdasDebakel im amDonnerstag Erste Bürgermeister Olevon Beust (CDU), ten Vertraute, seidervöllig überraschte tungsprobe. „Einfach ausgerastet“, berich- Regierungszeit vor einerschweren Belas- und FDP nachnurknappeinemJahr Rechts-Koalition ausCDU, Schill-Partei richt erstreiten. ewige Rede nunvor demVerfassungsge- nichts Neues“. SchillwillseinRecht auf dieVizepräsidentinaber dasseifür „ja werde imBundestag „mit Füßen getreten“, lich dieContenance verlor: DieVerfassung der hamburgische Senator, bevor ergänz- Seine Redezeit sei„unbegrenzt“, blaffte ren Ermahnungen dasMikrofon abstellte. dentin Anke Fuchs (SPD) ihmnachmehre- zeit überschritt undBundestagsvizepräsi- Sozialkassen“ ein. und deren „Zuwanderung zuLasten der Debatte desParlaments, aufdieAusländer drosch er, seltsameVerirrung inderFlut- aber „die unfähigsten Politiker“. Dann seien „die tüchtigsten Menschen“, hätten vor halten. demBundestag burger Innensenatorerstmalseine Rede durfte er, amvorigen alsHam- Donnerstag, Herausforderungen alsAmtsrichter. Nun gung feuchter Wohnungswände zuseinen her, da zählte etwa dierechtliche Würdi- E Sitzverteilung inderHamburgerBürgerschaft Sitzverteilung Rot-Schwarze Option Ein peinlicherAuftritt von Populist haben sichdieKoalitionäre längst 57 Rot-Grün Schill habe „für eineRede diesesInhalts Schill habe„für Damit steht dieHamburger Mitte- Zum Eklatkames,alsSchillseineRede- Erst huldigte SchilldenDeutschen.Die Es wurde einFiasko. Ronald Schillvor demBundes- tag belastettag denSenat–dabei an seineFehltritte gewöhnt. Sitze nabas Schill,43.GuteinJahristes sen seinimLebendesRonald Bar- s musseingroßer Augenblick gewe- 46 SPD ewige Rede Recht auf HAMBURG GAL 11 insgesamt 121 CDU 33 Bürgerblock 6 FDP 6 FDP 64 Partei Schill- Sitze 25

Erster BürgermeisterOlevonBeust MARCO-URBAN.DE keiner von unsdieSPD als Partner will“. werde abergleichwohl nichtplatzen, „weil erreicht“. DieKoalition, prognostiziert er, dieSchmerzgrenze„grober Entgleisung persönlichistnunzwartag nachSchills bührt. maligen –undverdienten –Politikern ge- Ehre, dieimdezenten Hamburg nurehe- trät seinerselbst inÖlinsVorzimmer; eine Auch34/2002). hängte SchillsicheinPor- PPK unterm Sakko trägt (SPIEGEL eine Pistole vom James-Bond-Typ Walther Experten desLandeskriminalamts gern lächerlich, weil erentgegen von demRat anstecken.mit HIV nicht bei„ukrainischen Au-pair-Mädchen“ forderte –damit sichdeutscheMänner Internierungslager kranke für Zuwanderer Mitarbeiter zweifelhafter Etablissements, nete Wolfgang Barth-Völkel, einfrüherer den Tisch hauen,alsderSchill-Abgeord- ferentin einstellte. Dannmusste Beustauf bach erwischt,alserseineFreundin alsRe- gen: Erstwurde Bausenator Mario Mett- fären undAffärchen Schlagzeilen sor- für als Saubermänner gerieren, abermitAf- te ihres Koalitionspartners immerwieder mokraten seitlängerem, weil sichdieLeu- sehen desSenatsbeschädigt“. „durch seinunwürdiges SchauspieldasAn- Bildungssenator Rudolf Lange (FDP), habe Beust. DerKollege Innensenator, giftete Kontrahenten Schill,Fuchs(2.v. r.) imBundestag: Für CDU-Fraktionschef MichaelFrey- Bald darauf machte Parteichef Schillsich Schwer genervt sindChrist- undFreide- der spiegel 36/2002

STEPHAN WALLOCHA / ACTION PRESS tens bekannt. rechtsextremistischer bes- Publikationen Interviewer EricWeber istalsMitarbeiter Büros aberhätte Klarheit geschaffen: Der druckt worden. Schills von „Nation &Europa“ nachge- Billigung desAutors, aberohneWissen Anzeigenblättern veröffentlicht undmit tet habe.DasInterview seiinostdeutschen gesandt worden, denderMannbeantwor- ner Referenten seieinFragenkatalog zu- gan“ bewertet. extremistische Strategie- undTheorieor- sungsschutz als„das bedeutendste rechts- Das Blatt wird vom Verfas- Bundesamtfür Zeitschrift „Nation &Europa“ erschien. view Schills,dasinderneuenAusgabe der zern sorgt derzeit einangebliches Inter- mehr imdemokratischen Sektor“. Politik machenwolle, bewege sich„nicht deutige Empfehlung: Wer mitSchillnoch servative „Welt“ gabgarBeusteineein- ihn das„Hamburger Abendblatt“. Diekon- gesonnene „Bild“, „nur nochinfam“ findet titelte diedemrechten Senator oft wohl- „Schill-SkandalimBundestag“ Distanz: fördert hatten; siegehen zunehmendauf und denAufstieg SchillsnachKräften ge- wechsel inHamburg wohlwollend begleitet Blätter helfen, kaum diedenRegierungs- men. Das könnte ihren Chefkleinlauter stim- 0,5 bishöchstens 3Prozent seiendrin. der Bürgerschaftswahl holte –allenfalls 19,4 Prozent entfernt landet, diesiebei bei derBundestagswahl weit von jenen gen darauf vertrauen, dass SchillsTruppe dass schonvor derWahl Schlussist. der FDP-Spitze möglich, halten essogarfür Schill eineandere Dimension.“ Und Teile destagswahl, danachgewinnt dieSachemit Lage anders:„Schotten dichtbiszurBun- Grandseigneur derHamburger CDUdie Eine einfacheRecherche des Schill- Schill erklärt denVorgang so:Einemsei- Für Aufregung unter Verfassungsschüt- Diesmal werden auchjeneSpringer- CDU undFDP können lautUmfra- Hinter vorgehaltener Handsiehtein Seltsame Verirrung inderFlut-Debatte Per Hinrichs, Carsten Holm 31 Werbeseite

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Werbeseite Deutschland Allensbach gegen den Rest Aktuelle Umfrage-Ergebnisse

Allensbach 40,1 11,6 32,9 6,5 5,1

Emnid 40 9 37 6 4

Forsa 40 8 38 7 5

Forschungs- 39 8 38 7 4 gruppe Wahlen

Infratest dimap 41 7 39 7 4

50% 50%

beherrschen“, die Wahl aber werde „in ei- sichtsausdruck des Fragenden könne zu ei- DEMOSKOPIE nem über Monate dauernden Prozess ent- ner für erwünscht gehaltenen Antwort ver- schieden“. leiten. Alle anderen Institute haben Call- Faktor X Gegensätzlicher könnten die Prognosen center eingerichtet, von denen aus ihre In- – drei Wochen vor der Wahl – kaum sein. terviewer mit standardisierten Fragen eine Zwischen den Ergebnissen Welchen Zahlen ist eher zu trauen? bestimmte Zahl von Wahlberechtigten – Vollends Verwirrung stiften die demo- zwischen 1000 und 2500 – nach ihren Ab- der Meinungsforscher klafft skopisch ermittelten Sympathiewerte für sichten ausforschen. eine wachsende Lücke. die Kanzlerkandidaten: Bei Allensbach Wie die veröffentlichten Zahlen zu Stan- Welchen Zahlen ist zu trauen? liegt Schröder mit 38 Prozent nur knapp de kommen, ist zudem eine Wissenschaft vor seinem Herausforderer Edmund Stoi- onnerstags ruft Manfred Güllner ber (34 Prozent), die Forschungsgruppe Wahl 98: Prognose und Ergebnis häufig im Kanzleramt an. Sofort Wahlen und Infratest dimap ermittelten ak- Dstellt Gerhard Schröders Büroleite- tuell einen Vorsprung für den Amtsinhaber Letzte Umfragen der Meinungsforschungs- rin den Chef des Berliner Meinungsfor- von 55 zu 36 beziehungsweise 32 Prozent. institute vor der Wahl 1998 in Prozent schungsinstituts Forsa durch, egal, wo der In der Wahlkabine muss sich der Wähler, Umfrage-Ergebnisse 1998 Kanzler gerade unterwegs ist. Dann liest der für eine der beiden großen Parteien für die Güllner die neuesten Umfragedaten vor. votieren will, entscheiden: Soll er der SPD 40,9 Missmutig brummend nahm der Regie- seine Stimme geben wegen Schröder? rungschef in den vergangenen Monaten die Oder, trotz Stoiber, doch lieber der Union? Zahlen zur Kenntnis – stets waren sie mies. Wie der Wähler dieses Dilemma löst, kann Allensbach 40,5 Am Donnerstag voriger Woche jedoch keine Umfrage erhellen. strahlte Schröder, als er die neuesten Da- Das Publikum ist ratlos, die Politiker Emnid 40 ten erfuhr: „Die heben meine Stimmung.“ klammern sich an die Vorhersagen, die ih- Güllner hatte einen positiven Trend zu nen gefallen. Und die Meinungsforscher Gunsten der SPD ermittelt, auch bei In- untereinander streiten über die Verläss- Infratest dimap 40 fratest dimap schließen die Sozialdemo- lichkeit ihrer Methoden, Wählerverhalten kraten ein gutes Stück zur Union auf. zu erforschen. Forsa 42 Die Mannheimer Forschungsgruppe Vordergründig spricht der Erfolg für die Wahlen meldete für das ZDF-„Politbaro- Allensbacher. Vor vier Jahren kam deren Forschungsgruppe Wahlen 39,5 meter“ am Freitag gar einen wachsenden letzte Umfrage vor der Wahl dem Ergebnis Vorsprung der Kanzlerpartei vor der Union am nächsten (siehe Grafik rechts). in der augenblicklichen politischen Stim- Den Berliner Kommunikationswissen- für die tatsächliche mung. Die schlägt sich zwar noch nicht in schaftler Wolfgang Gibowski, einst Mitbe- 35,1 Wahlergebnisse der „Projektion“ der Forschungsgruppe gründer der Forschungsgruppe Wahlen, vom 27. Sept. 1998 nieder („wenn am nächsten Sonntag wirk- kann dieser Treffer allerdings nicht beein- lich Bundestagswahl wäre“). Aber die drucken. „Auch eine Uhr, die steht, zeigt neuen Zahlen (siehe Grafik oben) lassen zweimal am Tag die richtige Zeit an“, spot- Allensbach 36 Schröder hoffen, bei der Wahl am 22. Sep- tet Gibowski. tember doch noch als Erster über die Ziel- Die Allensbacher Erhebungsmethoden linie zu gehen. sind in der Branche umstritten. Noelle- Forschungsgruppe Wahlen 37,5 Andererseits: Am Mittwoch vergange- Neumanns Institut nimmt unter den fünf ner Woche verkündete die Senior-Chefin führenden deutschen Wahlforschungs-Un- Forsa 38 des Instituts für Demoskopie in Allens- ternehmen eine Außenseiterposition ein. bach, Elisabeth Noelle-Neumann, in der Allein Allensbach schickt für Wahlum- Infratest dimap 38 „FAZ“, das Rennen sei gelaufen – gegen fragen noch Interviewer aus, die persönli- Schröders SPD: „Das Meinungsklima ist che Gespräche mit den Auskunftsperso- stabil.“ Auch die Jahrhundertflut und das nen führen. Kritiker wenden ein, die Be- Emnid 39 Krisenmanagement des Kanzlers würden fragten würden dabei stärker beeinflusst „die Schlagzeilen nur noch einige Tage als bei Telefoninterviews – schon der Ge- 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41

36 der spiegel 36/2002 für sich. Die Antworten werden mit kom- plizierten mathematischen Formeln umge- rechnet. Die Forschungsgruppe Wahlen un- terscheidet offen zwischen „Stimmungen“ und der daraus abgeleiteten „Projektion“, in die langfristige Überlegungen und takti- sche Überzeugungen der Wähler ein- fließen. Eine gängige Korrekturmethode ist der so genannte Recall. Dabei wollen die In- terviewer wissen, für welche Partei die Auskunftgeber bei der letzten Wahl ge- stimmt haben. Weil sich die Summe der Antworten kaum je mit dem früheren Wahlergebnis deckt, werden die jetzigen Stimmenzahlen mit einem Faktor X multi- pliziert – je nachdem, ob die Anhänger ei- ner Partei in der Stichprobe unter- oder überrepräsentiert sind. Doch nicht die geheimnisumwitterte Ge- wichtung der Rohdaten macht die Ergeb- nisse angreifbar. „Wenn manipuliert wird“, sagt ein Brancheninsider, „dann bei der Fragestellung. Hinten, bei den Zahlen, pfuscht keiner.“ Manches Institut steht in dem Ruf, einer bestimmten Partei besonders zugetan zu sein. Eine gewisse Bindung an die jeweili- ge Regierung zahlt sich schließlich aus. Vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung erhält Forsa derzeit den größten Batzen unter sechs Meinungsfor- schungsinstituten. Vor dem Regierungs- wechsel 1998 bekam Forsa aus diesem Etat keinen Pfennig, seither jedoch ein Drittel des Auftragsvolumens – ziemlich genauso viel, wie Allensbach unter Kanzler Helmut Kohl erhielt. Inzwischen muss sich Allensbach mit 11 Prozent begnügen, Infratest dimap behielt einen 15-Prozent-Anteil, Emnid verlor alle Aufträge, wie aus einem vertraulichen Be- richt des Bundespresseamts hervorgeht. Heftig attackierte die Union die Nähe des Forsa-Chefs Güllner zum SPD-Kanzler, nachdem das Institut am vorvergangenen Sonntag schon wenige Minuten nach dem TV-Duell Schröder zum klaren Sieger aus- gerufen hatte – mittels einer neuartigen Internet-Umfrage, bei der eine für unter- schiedliche Themen repräsentative Aus- wahl von Befragten („Panel“) um ihre Mei- nung gebeten wurde. Die Union habe sich über Forsa nie be- klagt, solange die Zahlen für sie positiv waren, sagt Hans-Dieter Klingemann, Po- litikprofessor am Berliner Wissenschafts- zentrum: „Natürlich versuchen die Partei- en, die Ergebnisse für sich zu verwenden, weil sie wissen, dass die Ergebnisse in die Meinungsbildung einfließen.“ Vor allem die vielen unentschlossenen Wähler würden kurz vor der Wahl gern dem veröffentlichten Trend folgen, meint der Saarbrücker Konsum- und Verhaltens- forscher Peter Weinberg: „Wer noch an der eigenen Stimmabgabe zweifelt, orientiert sich gern am erwarteten Sieger.“ Petra Bornhöft, Norbert F. Pötzl der spiegel 36/2002 37 Werbeseite

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Werbeseite Deutschland MARC DARCHINGER MARC Kanzlerkandidat Stoiber: „Ich habe immer gesagt, dass ich einen Alleingang der Amerikaner für falsch halten würde“

SPIEGEL-GESPRÄCH „Wir haben uns verändert“ Unions-Kanzlerkandidat Edmund Stoiber über einen möglichen Krieg im Irak, die Steuerpläne eines Kabinetts unter seiner Führung und die Erwartungen an den potenziellen Koalitionspartner FDP

SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, wichtige spekteure der Vereinten Nationen in den cherheitspolitik gibt es keinen deutschen Vertreter der amerikanischen Regierung Irak schicken wollen, sondern es auf einen Sonderweg, sondern nur einen gemeinsa- drohen dem Irak mit einem Präventiv- Krieg anlegen. men europäischen Weg. schlag: „Wir müssen die Schlacht zum Stoiber: Präsident George Bush hat mitt- SPIEGEL: Sie treten mal als Konservativer Feind tragen“, tönt US-Vizepräsident Ri- lerweile klargestellt, das es keinen Allein- auf, dann als Mann der Mitte, mal als Wirt- chard Cheney. Sind das nun die amerika- gang der USA geben wird. Und ich habe schaftsfreund, dann als der bessere Sozial- nischen Freunde, für die Sie in diesem immer gesagt, dass ich einen Alleingang demokrat. Wo bitte ist der wahre Stoiber? Wahlkampf so eifrig werben? der Amerikaner ohne Konsultationen mit Stoiber: Ihre Kritik entbehrt jeder Grund- Stoiber: Ich habe nicht für Amerika ge- den Partnern und ohne Uno-Mandat für lage. Es ist doch klar, dass man anders worben, sondern deutlich gemacht, dass falsch halten würde. Allerdings nehme ich wahrgenommen wird, wenn man eine neue kein deutscher Bundeskanzler, kein eu- sehr wohl zur Kenntnis, dass die Frage, wie Aufgabe anstrebt, die andere Vorausset- ropäischer Regierungschef und sicherlich gefährlich Saddam Hussein ist, derzeit in zungen hat als die alte. Der CSU-General- auch nicht US-Präsident George Bush für den USA und in Europa unterschiedlich sekretär Stoiber hatte eine andere Aufgabe ein Abenteuer zur Verfügung stehen. eingeschätzt wird. Amerika hat andere Be- als später der Leiter der Staatskanzlei Stoi- SPIEGEL: Das haben wir anders im Ohr. Erst drohungsgefühle als wir. ber. Ein Innenminister, der zum Beispiel am Sonntag im TV-Duell hatten Sie auch SPIEGEL: Und trotzdem stehen Sie in Treue erreicht hat, dass das Asylrecht 1992 geän- die Kriegsdrohung verteidigt, um eine fest an der Seite Amerikas? dert wurde, der ist natürlich als eher pola- Uno-Waffeninspektion im Irak durchzu- Stoiber: Alle Maßnahmen gegenüber dem risierend wahrgenommen worden. Ein setzen. Nun erklären US-Verteidigungs- Irak erfordern ein Uno-Mandat. Es gibt in Innenminister kann wohl kaum die große minister Donald Rumsfeld und der Vize- dieser Frage für mich nur diese eine Auto- Integrationsfigur sein, dann würde er sei- präsident, dass sie gar keine Waffenin- rität. Im Übrigen: In der Außen- und Si- ner Aufgabe nicht gerecht. Wenn aber ein

40 der spiegel 36/2002 Ministerpräsident wie ein Innenminister Sie? Neben Sonntags- handelt, dann wird er als Ministerpräsident und Nachtzuschlägen ste- scheitern. Ein erfolgreicher Regierungschef „Ich bin 60 Jahre, hen dort ja noch eine muss klare Überzeugungen haben, aber er und ich bin so, Reihe von anderen Steu- muss integrieren und verschiedene Mei- wie ich bin. ervergünstigungen, die nungen zusammenführen können. Und Jemand, der sich gestrichen werden sollen. wenn ich jetzt Kanzler werden will, muss verstellen müsste, Stoiber: Grundlage unse- ich natürlich meinen Blickwinkel ganz auf rer künftigen Regie- Deutschland richten, nicht auf ein Land. würde nicht rungspolitik ist das Re- SPIEGEL: Ihr Medienberater Michael Spreng Kanzler werden.“ gierungsprogramm 2002,

rief am Sonntagabend nach dem TV-Duell DARCHINGER MARC nicht die Petersberger beglückt: Die Nation habe jetzt einen Beschlüsse von 1997. „neuen Stoiber“ erlebt. Alles Maskerade? reitschaft, sich zur Union zu bekennen, sind SPIEGEL: Dann würde uns interessieren, Stoiber: Nein, ich bin 60 Jahre, und ich bin sehr ausgeprägt. Und wir mussten aus der welche Ausnahmetatbestände wegfallen so, wie ich bin. Jemand, der sich verstellen Wahlniederlage 1998 Konsequenzen ziehen. sollen, denn Steuervergünstigungen will müsste, würde nicht Kanzler werden. Der Eine bürgerliche Partei, eine konservative auch Ihr neues Wahlprogramm streichen. größte Fehler der SPD in diesem Wahl- Partei, die immer so bleibt, wie sie ist, die Stoiber: Die Steuerreform konzipieren wir kampf war, dass sie ihre falschen Klischees wird vom Wähler erneuert, indem sie ab- als Regierung im Jahr 2003 und setzen sie über mich wirklich geglaubt hat. gewählt wird. Wir mussten uns verändern, zum 1. Januar 2004 in Kraft. Wir geben SPIEGEL: 1991 sagten Sie zum Beispiel zu und wir haben uns seit 1998 verändert. jetzt das Ziel vor, und das lautet: Wir brau- der von Ihnen so genannten Homo-Ehe: SPIEGEL: Selbst in der Steuerpolitik gilt of- chen eine Steuerreform, und wir müssen „Dann kann ich gleich über Teufelsanbe- fenbar nicht mehr, was gestern noch galt. dafür selbstverständlich auch Ausnahme- tung diskutieren.“ Der neue Stoiber sagt: In den Petersberger Beschlüssen der Uni- tatbestände kappen. „Jeder soll nach seiner Fasson glücklich werden.“ Wie passt das zusammen? Stoiber: Ihr erstes Zitat ist elf Jahre alt. In diesen elf Jahren haben sich die gesell- schaftlichen Anschauungen verändert. Wenn ich jetzt immer noch auf der Position von 1991 beharren würde, dann wäre ich reaktionär, dann wäre ich nicht verände- rungsbereit. SPIEGEL: Auf der einen Seite sagen Sie, der rot-grüne Atomausstieg müsse rückgängig gemacht werden. Andererseits verkünden Sie, kein Mensch denke heute daran, neue Kernkraftwerke zu bauen. Stoiber: Die Zuspitzung, die Sie hier ma- chen, ist holzschnittartig. Ich halte den Atomausstieg für falsch, weil wir heute noch nicht wissen, was wir in 10, 15 oder 20 Jahren an die Stelle der Atomkraft setzen. Da wurde eine Brücke eingerissen, ohne dass wir wissen, wie der Weg weitergeht. Auf der anderen Seite ist dies natürlich kei- ne aktuelle Frage, weil es in Deutschland keinen abrupten Atomausstieg geben wird und kein Mensch heute neue Atomkraft-

werke bauen will. X KRAFT / STUDIO / GAMMA BROOKS SPIEGEL: Nein. Ja. Nein. Selbst das Ihnen US-Präsident Bush*: „Amerika hat andere Bedrohungsgefühle als wir“ wohlgesinnte Meinungsforschungsinstitut Allensbach registriert eine „zähe Skepsis“ on von 1997 wurde die Besteuerung von SPIEGEL: Nur welche? der Bürger gegenüber einer von Ihnen ge- Zuschlägen für Sonntags- und Feiertagsar- Stoiber: Noch mal: Das ist die Aufgabe der führten Bundesregierung. beit gefordert. Hat das noch Bestand, wie Regierungspolitik. Eine Opposition hat Stoiber: Das geben Sie nicht ganz richtig der Bundeskanzler behauptet? nicht die Aufgabe, eine ausgefeilte Steuer- wieder. Die Zustimmung der Anhänger der Stoiber: Das war ein Fehler des Kanz- reform vorzulegen. Wir geben die Richtung Union zu ihrem Kandidaten und die Be- lers im TV-Duell. Das lasse ich ihm nicht vor, und die heißt: Steuern senken, damit durchgehen. Wir wer- Bürger und Wirtschaft wieder mehr unter- den weder die Nachtzu- nehmen können. „Eine konservative schläge noch die Sonn- SPIEGEL: Unter klaren Wahlaussagen stellen tags- oder Feiertagszu- wir uns etwas anderes vor. Partei, die immer schläge besteuern. Die Stoiber: Aber das sind doch im Grunde ge- so bleibt, wie SPD kann offenbar nicht nommen Nebenschauplätze, die Sie hier sie ist, die wird mehr zwischen Wahrheit betreten. Es geht den Wählern zunächst vom Wähler erneu- und Dichtung unter- einmal darum, ob es ihnen heute besser ert, indem sie scheiden. geht als vor vier Jahren, vor allem bei den abgewählt wird.“ SPIEGEL: Welche Bedeu- Arbeitsplätzen. Und daher befasse ich mich tung haben denn die Pe-

MARC DARCHINGER MARC tersberger Beschlüsse für * Im Juli in Fort Drum bei einem Truppenbesuch.

der spiegel 36/2002 41 Deutschland mit der Bilanz der Regierung – und die ist mal mit den Leuten, dann wissen Sie, was jetzt den Aufschwung schaffen, und dafür schlecht: Die Arbeitslosigkeit steigt, die sich ändern muss. sind Steuererhöhungen das falsche Signal. Leute müssen mehr Steuern zahlen als vor- SPIEGEL: Wir würden es gern von Ihnen SPIEGEL: Die Ihnen nahe stehende „FAZ“ her, viele Leistungen der Kommunen ha- hören. schreibt: „Der Vorschlag der Union ist die ben sich verschlechtert, die Ausstattung Stoiber: Die Leute haben kein Vertrauen schlechteste Antwort auf die Katastrophe. vieler Schulen, die Ausstattung vieler so- mehr in eine rot-grüne Regierung. Die kön- Die Schulden von heute sind die Steuern zialer Einrichtungen ist nicht besser ge- nen einen Herrn Schlauch, eine Frau Roth, von morgen.“ worden. Die Einkommen sind nicht ge- die über diese Dinge nie reden und doch Stoiber: Das ist falsch. Die meisten Fach- stiegen. großen Einfluss haben, nicht mehr sehen. leute sagen ganz klar: Steuererhöhungen – SPIEGEL: Mit dieser Kritik ist schon Schrö- SPIEGEL: Und jetzt sollen sie Vertrauen ha- und die will die Regierung – sind die der Kanzler geworden. Denn die meisten ben zu einem Mann, der nicht den Mumm schlechteste Antwort, weil sie Gift für den der heute zu Recht beklagten Tatbestände hat, die zehn Milliarden Euro Fluthilfen Arbeitsmarkt sind. – hohe Staatsschulden, hohe Abgaben- durch Einsparungen zu finanzieren, son- SPIEGEL: Wir reden auch nicht von Steuer- quote, hohe Arbeitslosigkeit – sind auch in dern neue Schulden machen will? erhöhungen, sondern vom Sparen. War- 16 Jahren Helmut Kohl entstanden. um ist es zu viel verlangt, Stoiber: Wir haben in der Steuerreform eine dass der Staat, der jähr- ganz klare Vorgabe: Wir wollen nicht bei „Unser Steuer- lich 500 Milliarden Euro dem heutigen Eingangssteuersatz von 19,9 ausgibt, eine überschau- Prozent stehen bleiben, sondern wir wollen modell würde über bare Summe von 10 Mil- unter 15 Prozent gehen. Wir müssen bei den Daumen ge- liarden durch Einsparun- den kleinen Einkommen ansetzen, das ist peilt zehn Milliar- gen finanziert? mein Ziel. Den Eingangssteuersatz zu den Euro mehr Stoiber: Wir werden spa- senken ist allerdings sehr teuer, deswegen kosten als das der ren und neu gewichten. reagiere ich auch so allergisch auf den Bundesregierung.“ Etwa Mittel aus dem Beschluss der Regierung, die Senkung im zweiten Arbeitsmarkt in

Rahmen der Fluthilfe auf 17 Prozent zu ver- DARCHINGER MARC den ersten Arbeitsmarkt schieben. Wir hätten dann eine noch größe- geben, damit Empfänger re Last zu schultern, wenn wir im Jahr 2004 Stoiber: Das hat doch mit Mumm nichts zu von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ei- den Satz in einem Schritt auf 15 Prozent tun. Dieser Haushalt ist, da hat Hans Eichel nen angebotenen Job auch annehmen. senken wollen. Recht, auf Kante genäht. Und Eichel hat ge- SPIEGEL: Uns fällt vor allem auf, dass Sie bei SPIEGEL: Unterm Strich: Wie viele Milliar- nug damit zu tun, die Haushaltssperre, die Ihren finanziellen Forderungen immer wei- den zahlt der Staat an seine Bürger zurück, wir im Übrigen mittragen, zu bewältigen. ter draufsatteln. Jetzt soll auf einmal ein zu- wenn Ihr Modell Realität wird? Und in einem Haushalt, der sowieso nicht sätzliches Deichbauprogramm aufgelegt Stoiber: Unser Modell würde über den alles abdeckt, können Sie nicht ohne wei- werden. Daumen gepeilt zehn Milliarden Euro teres zehn Milliarden Euro umschichten. Stoiber: Wir haben in Bayern nach dem mehr kosten als das, was für das Jahr 2005 SPIEGEL: Ihre gesammelten Wahlverspre- Pfingsthochwasser ein Programm aufgelegt von der jetzigen Regierung beschlossen chen in Ehren. Das heute sichtbare Re- für die nächsten 20 Jahre, um die Deiche wurde. formsignal ist eine außerplanmäßige Neu- zu stabilisieren und die Auenlandschaften SPIEGEL: Wo soll denn bei diesen eher ge- verschuldung. zu verbreitern. Ich glaube, dass wir ein ringen Summen ein Konjunkturimpuls her- Stoiber: Nein, das Signal heißt: Alles muss vergleichbares Deichprogramm gerade kommen? auf den Aufschwung und neue Arbeits- jetzt in allen Ländern Deutschlands brau- Stoiber: Durch Investitionen des Mittel- plätze ausgerichtet werden. Nichts ist teu- chen. Das ist zunächst einmal eine Auf- stands, denn da liegt unsere Chance für ei- rer als die steigende Arbeitslosigkeit. Wir gabe der Bundesländer, und wo der Bund nen raschen Aufschwung. Reden Sie doch haben eine Sondersituation: Wir müssen helfen muss, wird er helfen. SPIEGEL: All Ihre schönen Programme wer- den vom Geld der Steuerzahler finanziert. Stoiber: Wenn ich mir Ihren Maßstab zu Eigen machen würde, dann könnte ich das Denken einstellen. Wenn es uns schlecht geht, fordern wir vom lieben Gott, dass sich das verbessert. Nein, ich muss Kon- zeptionen entwickeln. SPIEGEL: Uns fällt nur auf, dass Ihre Ideen immer sehr kostspielig sind: Sie wollen je- der Familie die ersten drei Jahre monatlich 600 Euro für jedes Kind zahlen, was sich am Ende zu einem 25-Milliarden-Paket ent- wickelt. Sie versprechen mehr Geld für die Bundeswehr. Sie kündigen Steuersenkun- gen an. Wollen Sie als Schuldenkanzler in die Geschichte eingehen? Stoiber: Nein, wir haben eine klare Prio- rität: Zuerst müssen wir den Aufschwung schaffen und die Arbeitslosigkeit reduzie- ren. Den ersten Handlungsspielraum wer- den wir nutzen, im Jahr 2004 mit dieser Steuerreform das wirtschaftliche Wachs-

FRANK OSSENBRINK FRANK tum weiter zu erhöhen. Wirtschaft ist ja Liberale Westerwelle, Möllemann: Stimmen für den Wechsel? auch zur Hälfte Psychologie, und die mit-

42 der spiegel 36/2002 Werbeseite

Werbeseite Deutschland telständischen Betriebe haben kein Ver- Recht bekommen, das möchte ich zur Stoiber: Das halte ich nicht für denkbar, trauen mehr in die Regierung, weil sie sa- Deckung bringen und sage deshalb klar, denn es wird weder zu einer rot-grünen gen, der Kanzler mache nur den großen was wir vorhaben. Wir haben in der letz- noch zu einer rot-gelben Koalition reichen. Bossen schöne Augen. ten Regierungszeit Fehler gemacht. Man SPIEGEL: Ist der liberale Parteichef Guido SPIEGEL: Man hat bei Ihnen den Eindruck, wird nicht umsonst abgewählt. Die Lohn- Westerwelle für Sie ein seriöser Partner? Sie setzen zu 100 Prozent auf Psychologie. fortzahlung im Krankheitsfall einzu- Stoiber: Ich glaube ja. Stoiber: Wir haben eine Reihe von Maß- schränken war ein solcher Fehler. SPIEGEL: Oder hoffen Sie das eher? nahmen im Programm, die sehr konkret SPIEGEL: Brauchte man nicht gerade eine Stoiber: Ich habe ein vernünftiges Arbeits- sind und sofort belebend wirken: Wir ma- politische Klasse, von der die Leute das verhältnis und ein gutes persönliches Ver- chen das Scheinselbständigkeitsgesetz Gefühl haben, dass sie die Probleme ent- hältnis zu ihm. rückgängig, wir ersetzen das 630-DM-Ge- schieden angeht? Nehmen Sie die Bevöl- SPIEGEL: Hätte ein Kanzler Stoiber am setz durch unser 400-Euro-Gesetz, wir för- kerungsentwicklung: Deutschland verliert Kabinettstisch Platz für einen Bundes- dern den Niedriglohnbereich und aktivie- jedes Jahr eine Stadt so groß wie Aachen minister Jürgen Möllemann? ren jene Jobs, die heute nicht angeboten – mit gravierenden Auswirkungen auf alle Stoiber: Ich glaube nicht, dass die FDP das oder nicht nachgefragt werden, weil sie in Sozialsysteme. anbieten wird. die Schwarzarbeit abgewandert sind. SPIEGEL: Und wenn sie es SPIEGEL: Schwarzarbeit wird aber doch im doch täte? Wesentlichen von Beziehern normaler Ein- „Bei zwei Worten Stoiber: Ich möchte der kommen nachgefragt, die nicht einsehen, Klugheit der FDP, was ihr dass Steuern zweimal bezahlt werden müs- stößt man in der personelles Angebot be- sen, wenn sie Leute beschäftigen. Warum Bevölkerung auf trifft, keine Grenzen set- kann ein privater Haushalt, der Leuten Ar- Ablehnung – das zen. beit gibt, dies nicht steuerlich absetzen – eine heißt Still- SPIEGEL: Die Liberalen wie jedes Unternehmen? stand und das liebäugeln mit beiden po- Stoiber: Genau das wollen wir ja machen andere Reform.“ litischen Lagern. Vize und etwa die Kosten für die Kinderbe- Möllemann plädiert für

treuung bis zu 5000 Euro im Jahr steuerlich DARCHINGER MARC ein Offenhalten der Ko- abzugsfähig machen. Ähnliches hat man alitionsfrage. übrigens früher als Dienstmädchenprivileg Stoiber: Wenn ich auf Wahlveranstaltun- Stoiber: Die Wähler müssen wissen, ob sie verleumdet. gen käme und da ständen 10000 Menschen für den Wechsel oder für eine wackelige SPIEGEL: Es geht nicht nur um Dienst- und demonstrierten dafür, dass sie endlich Ampelkoalition stimmen, wenn sie ihr mädchen, sondern um alle Berufe: Fahrer, aus diesem Joch der sozialen Sicherungs- Kreuz bei der FDP machen. Gärtner, Handwerker. systeme befreit würden, dann könnte SPIEGEL: Sie erwarten von der FDP also Stoiber: Wenn Sie das auf alle Berufe aus- man radikale Reformen machen. Da aber eine klare Koalitionsaussage? dehnen würden, müssen Sie natürlich die Menschen die soziale Sicherung mit Stoiber: Da hat die FDP sich festgelegt: kei- überlegen, dass das unkalkulierbare Steuer- Recht als wesentliches Element ihres ne ausdrückliche Koalitionsaussage. Aber ausfälle bedeuten kann. Lebens betrachten, muss ich darauf achten, ich erwarte, dass die FDP eine klare Ten- SPIEGEL: Sie würden damit zahlreiche dass es keine Brüche in dieser Gesell- denz erkennen lässt, damit ihre Wähler die Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich schaft gibt. Ich will verhindern, dass wir Sicherheit haben, dass ihre Stimmen zu ei- schaffen. hier in Deutschland einen Pim Fortuyn nem Regierungswechsel statt zur Ampel Stoiber: Radikalkuren gehen nicht, aber bekommen. führen. erste Einstiege … SPIEGEL: Was wäre ein gutes Ergebnis für SPIEGEL: Würden Sie die Union auch in eine SPIEGEL: … reichen wohl kaum, um die Sie bei der Bundestagswahl? Große Koalition führen, um eine Ampel Probleme des Landes zu bewältigen. Fehlt Stoiber: Wenn wir 40 Prozent erreichen, ist zu verhindern? einem Kanzler Stoiber der Mut zu grund- es ein großer Erfolg. Wenn es weniger wird Stoiber: Eine Große Koalition wäre eine legenden Reformen? und wir die stärkste Fraktion stellen, dann Koalition des Stillstands. Sie würde auch Stoiber: Nein, aber ich möchte die Be- ist es ein vor einem Jahr noch nicht erwar- den kleinen Parteien eine Reihe von Wäh- völkerung mitnehmen. Bei zwei Worten teter, immer noch beachtlicher Erfolg. lerinnen und Wählern zutreiben und den stößt man auf Ablehnung – das eine SPIEGEL: Nun könnte es ja sein, dass Sie extremen Rändern Auftrieb geben. Und heißt Stillstand und das andere Reform. die stärkste Fraktion stellen und der Kanz- genau das will ich nicht. Das ist das Dilemma, das die Politik über- ler trotzdem nicht Stoiber heißt, weil die SPIEGEL: Wir reden von dem durchaus vor- winden muss. FDP lieber mit der SPD regiert. stellbaren Fall, dass Stoiber nur dann Kanz- SPIEGEL: Heißt das auch, ler werden kann, wenn er sich mit den So- dass Sie im Wahlkampf zialdemokraten zusammenschließt. nicht all das sagen, was Stoiber: Es geht mir nicht ums Regieren Sie vorhaben, weil Sie um jeden Preis. Ich will nicht Regierungs- sonst die Leute ver- chef werden, damit es einmal heißt: „Und schrecken würden? er war auch Kanzler.“ Ich will etwas be- Stoiber: Nein, wir sagen wegen. exakt, was wir machen SPIEGEL: Heißt das auch, dass Sie im Falle werden. Wissen Sie, Franz einer Ampelkoalition unter Führung von Josef Strauß hat häufig Gerhard Schröder in Bayern bleiben? Recht gehabt, und er hat Stoiber: Ich will jetzt Kanzler werden, aber oft nicht Recht bekom- wenn nicht, ziehe ich mich nicht schmol- men. Recht haben und lend zurück, sondern bleibe, was ich bin. Für die nächsten Jahre kann man weiterhin mit mir rechnen. * Mit den Redakteuren Stefan Aust,

Gabor Steingart und Ralf Neukirch DARCHINGER MARC SPIEGEL: Herr Stoiber, wir danken Ihnen in Stoibers Wahlkampfbus. Stoiber beim SPIEGEL-Gespräch*: „Nicht um jeden Preis“ für dieses Gespräch.

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Werbeseite Deutschland

knapp unter der absoluten Mehrheit der Stimmen – und erreichen damit ein Er- PDS gebnis, das viele Wahlforscher voraussa- gen –, so könnte die Regierungsbildung vom Einzug der PDS in den Bundestag Das letzte Aufgebot abhängen. Schafft sie es, gingen dem kon- servativen Lager die womöglich entschei- Wie die nächste Regierung aussieht, hängt auch davon ab, ob die denden Sitze im Parlament verloren. Doch der erneute Sprung der PDS über Sozialisten in den Bundestag kommen. Doch deren Einzug die Fünfprozenthürde ist nach dem Rück- ist ungewiss: Selbst drei Direktmandate sind keineswegs sicher. tritt Gregor Gysis als Wirtschaftssenator in Berlin und dem Auftritt Schröders als gang in einem Wahlkreis wie seinem über oberstem Fluthelfer in Ostdeutschland un- den Einzug der PDS in den Bundestag ent- gewiss. Unerreichbar erscheint das Wahl- scheiden könnte – ja mehr noch, dass es ziel acht Prozent, in Umfragen rutschte die von ihm oder einer Genossin abhängen PDS jüngst gar von sechs auf vier Prozent. könnte, ob Gerhard Schröder Kanzler So hinge die Zukunft des Landes davon bleibt oder Edmund Stoiber es wird. ab, ob die Sozialisten mindestens drei Di- Das Schicksal der Republik in der Hand rektmandate erringen – dann gäbe es Plät- eines früheren SEW-Mannes oder einer ze im Parlament, auch wenn die Partei die Psychologin aus Rostock? Fünfprozenthürde reißt. Was nach Größenwahn der Genossen Die PDS hat diesen deutschen Son- klingt, ist Realismus pur. Irgendwann am derweg bereits genommen. 1994 kam sie späten Abend des 22. September, wenn die auf nur 4,4 Prozent; in vier Ost-Berli- Zweitstimmen der Bundestagswahl so gut ner Wahlkreisen konnte sie jedoch mit wie ausgezählt sind, könnten sich tatsäch- prominenten Kandidaten die Konkurrenz lich die Blicke der Wahlbeobachter von bezwingen: Gregor Gysi schaffte es, der den Größen der Bundespolitik abwenden. Schriftsteller Stefan Heym, die frühere

MARCO-URBAN.DE Plötzlich stünden nicht mehr Schröder und DDR-Wirtschaftsministerin Christa Luft PDS-Frauen Brunner, Pau, Baba, Lötzsch* Stoiber im Rampenlicht – sondern No- und der Berliner Gewerkschaftsfunktionär „Preis der Erneuerung“ Names wie Neumann und Welters. Manfred Müller. Das Szenario für den Fall der Fälle ist Die Chancen für einen solchen Coup ie heißt Rosina Neumann. Sie ist Psy- längst in allen Parteizentralen durchge- sind diesmal aber schlechter als beim Ur- chologin und voller Zuversicht. Um- spielt: Bleiben etwa Union und FDP nur nengang 1998, als die PDS erneut in Ost- Sfragen interessieren sie nicht. Als ehe- malige Gleichstellungsbeauftragte der Uni- versität kann sich die Rostockerin, das Zwischen Hoffen und Bangen PDS-Kandidaten bei der Bundestagswahl glaubt sie zumindest, gut in die Menschen PDS-Direktmandat Erststimmen- 33,5 % Rostock Berlin- im Bundestagswahlkreis 14 hineinverset- 2002 ergebnis von PDS- Rosina Neumann Lichtenberg-- zen, den sie der SPD abjagen will. „Die sehr wahrscheinlich Kandidaten im Hohenschön- Leute wollen hier ein neues Gesicht“, do- möglich Wahlkreis 1998 hausen Gesine Lötzsch ziert PDS-Kandidatin Neumann, 46, selbst- angestrebt MECKLENBURG- bewusst, „und Edmund Stoiber in Berlin Wahlkreis* VORPOMMERN verhindern.“ Und für beides könne sie Berlin-Pankow 32,7 % garantieren. Kandidat 2002

So siegessicher ist Rosina Neumann, dass Sandra Brunner PDS sie fast („Man kann sich ja auch anders be- kannt machen“) auf Wahlwerbung ver- 42,5 % zichtet hätte, um den Etat für einen guten BERLIN Zweck zu spenden. Wahlkampf? So gut 46,7 % Berlin- wie gewonnen, winkt sie ab. „Wo ist das Marzahn- Problem?“ Hellersorf BRANDENBURG Petra Pau Drei Autostunden weiter südlich, im PDS SACHSEN- Berliner Wahlkreis Treptow-Köpenick, las- *gegenüber der Bundes- ANHALT tagswahl 1998 teilweise tet die Hoffnung der PDS auf den Schul- veränderte Wahlkreise tern des vollbärtigen Konfektmachers Ernst Welters, 58. Der Mann, einst bei Sarotti beschäftigt und später Personalratschef der Freien Universität, hat eine eigentümliche THÜRINGEN SACHSEN Parteikarriere hinter sich: erst SPD, dann Sozialistische Einheitspartei Westberlin 28,8 % (SEW), jetzt PDS. Sich selbst hält er für Potsdam- 24,2 % 25,6 % 25,5 % 34,8 % „kantig und bodenständig“. Parteiarbeit Mittelmark II – Gera-Saale- Berlin-Treptow- Teltow-Fläming II Halle Holzland-Kreis Leipzig II Köpenick ist er gewohnt. Aber diesmal sei doch alles Rolf Kutzmutz Roland Claus Ruth Fuchs Gustav-Adolf Schur Ernst Welters etwas anders, gesteht er. Da habe er „den Gedanken im Hinterkopf“, dass der Aus-

* Beim „Frauenpolitischen Stadtspaziergang“ am ver- gangenen Dienstag in Berlin.

46 DDP PDS PDS PDS PDS PDS M. URBAN Werbeseite

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Berlin vier Kandidaten durchbrachte. Denn mehr so leicht Erfolg haben. Gysis Rückzug eine Verkleinerung des Bundestages führ- empfinden hier viele zudem als Verrat. Die te zum Neuzuschnitt der Wahlkreise – was Affäre habe „Erschütterungen ausgelöst“, oft zu Lasten der PDS gehen könnte. gesteht Pau, die im einstigen Wahlkreis des In der einstigen „Hauptstadt der Deut- PDS-Stars antritt. Die Folgen sind schon schen Demokratischen Republik“ wurde ablesbar: Wollten im Juli noch 13 Prozent die PDS-Vorherrschaft jedenfalls so gebro- der Hauptstädter die PDS wählen, sind es chen. Der Ost-Berliner – und von der PDS laut Forsa jetzt nur noch 8. dominierte – Stadtteil Friedrichshain wählt Die drei übrigen Ost-Berliner Wahl- nun gemeinsam mit dem West-Stadtteil kreise stehen für die PDS auf der Kippe – Kreuzberg. Auch Mitte-Prenzlauer Berg, allein schon wegen des Neuzuschnitts. wo sogar der SPD-Vize und Ober-Ossi Müsste sie nur die Wähler in Friedrichs- Wolfgang Thierse zweimal PDS-Kandida- hain von sich überzeugen, würde die ten unterlag, wurde zu Lasten der PDS neu PDS-Kandidatin Bärbel Grygier gegen zugeschnitten. Hans-Christian Ströbele (Grüne) die Nase Wahlforscher halten die PDS nur noch in sicher vorn haben. Doch im vereinten Ost- zwei Berliner Wahlkreisen für fast un- West-Bezirk sehen ihre Chancen eher schlagbar, in sechs weiteren im Osten schlecht aus. könnte ihr ein Überraschungssieg gelingen; Die Neuregelung der Wahlkreise könn- dazu gehören Wahlkreise wie Potsdam, te allerdings Roland Claus helfen: Vor Halle oder Rostock (siehe Grafik Seite 46). vier Jahren erhielt er in Halle nur halb so Mit 200000 Euro zusätzlich, groß- flächigen Plakaten und Anzeigen stützt die PDS-Zentrale insgesamt sieben Direktkandidaten. Doch alles Geld der Welt könn- te nicht das Hauptproblem aus- gleichen, das sich die Sozialis- ten selbst eingebrockt haben: Im Glauben, die Fünfprozenthürde souverän zu überspringen, nomi- nierten die Genossen vielerorts das letzte Aufgebot: oft unbe- kannte und unprofilierte Kader.

So wirkten die Berliner Kan- PRISKE / SPOT MARKO didatinnen Evrim Baba, Gesine Wahlkämpfer Gysi: Blick aufs Personal verstellen Lötzsch, Sandra Brunner und Petra Pau nicht gerade wie die Vorhut, viele Erststimmen wie die SPD-Bundes- sondern eher wie die Nachhut der Arbei- tagsabgeordnete Christel Riemann-Hane- terklasse, als sie vergangene Woche vor winckel. Doch inzwischen ist dem Wahl- dem Roten Rathaus auf den hauptstädti- kreis die Plattenbausiedlung Halle-Neu- schen Pressetross warteten – vergebens. stadt („Hanoi“) zugeschlagen worden – Auch als die Turmuhr auf zehn rückte – und damit die dortige PDS-Klientel. Wahl- geplanter Abmarsch für den „Frauenpoli- forscher prognostizieren diesmal ein knap- tischen Stadtspaziergang“ – waren die pes Rennen. Genossinnen noch fast unter sich. Von Für die PDS unkalkulierbar sei, glaubt den Einheimischen so wenig beachtet wie Infratest-dimap-Chef Richard Hilmer, wie von der Presse, spazierten sie dennoch die Wähler „aus taktischen Gründen Erst- tapfer zum Reichstag. „Das ist eben der und Zweitstimme verteilen“. Bei der Ab- Preis“, so der Chef der PDS-Bundestags- wahl Helmut Kohls 1998 hätten viele Ost- fraktion Roland Claus, den man zahlen deutsche bewusst mit der Zweitstimme für müsse, „wenn man sich um die Erneue- den Wechsel votiert und SPD gewählt, mit rung bemüht“. der Erststimme jedoch einen PDS-Kandi- Selbst in den Hochburgen und sicheren daten durchgebracht. Das setze allerdings, Wahlkreisen Marzahn-Hellersdorf und so Hilmer, attraktive Kandidaten voraus. Lichtenberg-Hohenschönhausen würden Die seien jetzt aber im Vergleich zu früher sich „die astronomischen Ergebnisse“ der eher „etwas schwächlich“. Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus Helfen soll ausgerechnet der Mann, der im Oktober vergangenen Jahres „garan- seiner Partei die Umfragedelle bescherte. tiert nicht annähernd wiederholen“, meint Wieder einmal soll Medienprofi Gysi den der Chef des Privatinstituts für Ange- Blick der Wähler auf das blasse Personal wandte Demografie, Harald Michel. Da- verstellen, 40 Wahlkampftermine hat er mals – mit Gysi an der Spitze – wählten zugesagt. Und für den Fall, dass er in einer 47,6 Prozent der Ost-Berliner PDS. der Talkshows gefragt werde, wie er ohne Hinzu kommt: In Berliner Neubausied- jedes Amt in die Sendung komme, hat er lungen verändert sich die Sozialstruktur auch schon eine Pointe parat: „Da können inzwischen zu Ungunsten der Partei. Sie mal sehen, was ein einfaches Mitglied „Wenn die Einkommen steigen“, so Mi- bei uns darf.“ Stefan Berg, Irina Repke, chels „Faustregel“, könne die PDS nicht Caroline Schmidt

48 der spiegel 36/2002 Werbeseite

Werbeseite wälte, Richter, Justizbedienstete und Ab- STRAFVOLLZUG geordnete hatten immer wieder über un- haltbare Zustände in dem Jugendknast Tod eines geklagt, doch die Landesregierung unter- nahm so gut wie nichts. Warnsignale gab es reichlich. So drehte Dieners der Dokumentarfilmer Rolf Teigler im Frühjahr 2000 in der Haftanstalt den Strei- Weil die Behörden sämtliche fen „Outlaws“. Er weiß von brutalen Kämpfen um die besten Plätze in der Alarmsignale missachteten, Hackordnung: „Unterdrückung heißt, an- wurde in einer Thüringer Haft- dere zu bestehlen, sie wie Diener, wenn anstalt ein 16-jähriger nicht gar wie Sklaven zu halten“ – so sei Gefangener zu Tode gequält. das Leben in Ichtershausen. Die Diener, so Teigler, müssten nachts aufstehen und ie Sporttasche war schnell gepackt. das Klo putzen. Sie müssten mit Besen- Ein paar Kleidungsstücke, die Zahn- stielen im Po nackt auf Stühlen tanzen Dbürste, seine geliebten Asterix-Hef- und singen. te. Dann hetzte Roland Bergmann, 16, mit Opfer Bergmann Auch Bergmann hatte zu spuren, wenn seiner Mutter Ingrid, 42, zum Bahnhof im 35 Minuten Todeskampf seine Zellengenossen nach dem „Diener“, thüringischen Sondershausen. Bis 15 Uhr dem „Neger“ oder der „Ritze“ riefen – musste sich der Junge in der Jugendstraf- sen sollen den Jungen zu Tode gequält denn mit alldem war er gemeint. Die An- anstalt Ichtershausen melden: sechs Mona- haben. Seit vergangenem Donnerstag müs- staltsleitung des überfüllten Knastes war te Haft wegen Diebstahls. Der Strafvollzug sen sich drei Angeklagte vor dem Landge- dagegen ohnmächtig, und das hätte auch sollte Bergmann auf den rechten Weg führen. richt Erfurt verantworten. Zweien wirft die das zuständige Justizministerium wissen Die Nachricht vom Ende des Erzie- Staatsanwaltschaft Mord vor, dem dritten können. hungsprojekts überbrachte der Anstalts- unterlassene Hilfeleistung. Zwei Monate vor Bergmanns Tod ver- pfarrer fünf Wochen später, im Oktober Der Prozess wird eine Folter auch für die handelte das Landgericht Erfurt einen 2001. An der Haustür schilderte er der Landesregierung, denn der Tod des Ju- versuchten Mord in Ichtershausen. Im Mutter knapp den tragischen Ausgang: Ihr gendlichen ist nur der tragische Höhepunkt Haftraum 218 sollte ein Jugendlicher Wä- Roland habe sich in der Zelle umgebracht. einer ganzen Serie von Gewalttätigkeiten sche eines Mithäftlings zusammenlegen. Die Wahrheit brauchte, bis sie ans Licht in der veralteten und lange Zeit chronisch Bald setzte es Faustschläge, damit machte kam, noch vier Tage länger: Zellengenos- überbelegten Anstalt Ichtershausen. An- der Zellenboss Druck. Deutschland

von Wachen noch Der Todeskampf, sagt der Anwalt der rechtzeitig ins Kran- Familie Bergmann, habe 35 Minuten ge- kenhaus geschafft. dauert. Am nächsten Morgen attestierte Schon während der eine Allgemeinmedizinerin als Todesursa- Ausbildung im Knast che Selbstmord – die Häftlinge hatten be- war der kräftige Volley- hauptet, Bergmann von der Lampe im Toi- baller Bergmann von lettenraum abgeschnitten zu haben, an der seinen Mitgefangenen er sich aufgehängt habe. Erst die Obduk- attackiert worden; die tion führte zum Mordverdacht. Anstalt verlegte ihn Für die SPD-Landtagsabgeordnete Petra in einen besonders Heß, Vorsitzende des Anstaltsbeirates in geschützten Bereich. Ichtershausen, trägt Justizminister An- Dort, sagte das Minis- dreas Birkmann (CDU) die politische terium, sei die „Betreu- Verantwortung. Erst nach dem Gewalt- ungsdichte stärker“. verbrechen ließ Birkmann 40 Häftlinge Offenbar nicht stark in andere Anstalten verlegen. Nun sind in genug, denn dann kam Ichtershausen höchstens noch zwei Ge-

SVEN DÖRING / VISUM SVEN der 14. Oktober. In fangene in einer Zelle, damit können Strafanstalt Ichtershausen: Folter für die Regierung Zelle 224 wurde zuvor die Schließer sie besser unter Kontrolle der Geburtstag eines halten. Eines Nachts legte der Peiniger seinem Häftlings gefeiert, Bergmann hatte wohl „Das Problem wurde einfach in die „Diener“ einen Gürtel um den Hals und die Rolle des Dieners zu übernehmen. Jugendarrestanstalt Weimar verlegt“, sagt zog zu, bis der Riemen riss. Mit einem Aber schon bald gerieten seine Peiniger der Jenaer Rechtsanwalt Andreas Wiese Handtuch ging das Würgen weiter. Erst in laut Anklage völlig außer Kontrolle: Berg- resigniert. Auch Jugendrichter Holger letzter Minute griff ein Mitgefangener ein. mann musste sich, so die Erkenntnisse der Pröbstel – der nun den Fall Bergmann am Auch brutale Sexualdelikte sind in der Staatsanwaltschaft, auf einen Stuhl setzen, Erfurter Landgericht verhandelt – hegt Anstalt keine Seltenheit. Das Gothaer sie fesselten ihn mit Strümpfen und Strei- Zweifel, ob der Justizminister aus dem Tod Amtsgericht verhandelte im Mai gegen Ge- fen, knebelten ihn mit einem Strumpf, ei- eines 16-Jährigen im Knast tatsächlich ge- fangene, die einen Jugendlichen nachts nem Schnürsenkel und einem Handtuch. lernt hat. Auf Pröbstels Kritik an den Zu- fünf Stunden lang vergewaltigt, zum Oral- Dann wurde er nach Überzeugung der Er- ständen in Ichtershausen reagierte das Mi- sex gezwungen und mit Fäusten geschlagen mittler von den beiden wegen Mordes an- nisterium immerhin: Die Beamten tadelten hatten. Das Opfer schnitt sich schließlich in geklagten Zellengenossen mit einem Stoff- den Richter schriftlich, weil er sich öffent- größter Not die Pulsader auf, wurde aber streifen aus einem Bettlaken erdrosselt. lich geäußert hatte. Steffen Winter Deutschland MARCO-URBAN.DE Justizministerin Däubler-Gmelin: Keine Dokumente für ein Todesurteil Massengrab nach Völkermord (1996 in Bosnien),

zelle. Ist das der Grund für die offizielle JUSTIZ Zurückhaltung? Däubler-Gmelin: Natürlich kann ich zu lau- fenden Ermittlungen nichts sagen, aber die „Die Welt rückt zusammen“ Forderung nach rechtsstaatlicher Behand- lung gilt unabhängig vom Tatvorwurf. Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin über die SPIEGEL: Bei der Fahndung nach dem Ter- roristen-Netzwerk, das den 11. September juristischen Folgen des 11. September, internationale Rechtspolitik möglich gemacht hat, kamen immer wieder und das angespannte Verhältnis zu den USA Zweifel auf, ob der Rechtsstaat nicht an seine Grenzen stößt. SPIEGEL: Frau Däubler-Gmelin, die Ameri- rer harten Haltung riskieren Sie neue Span- Däubler-Gmelin: In welchem Sinn? Unsere kaner wollen von Ihnen Dokumente ha- nungen im deutsch-amerikanischen Ver- Justiz hat Zähne, das zeigt jetzt auch die ben, die im Prozess gegen den mutmaßli- hältnis. Anklage des Generalbundesanwalts gegen chen Terroristen Zacarias Moussaoui die Däubler-Gmelin: Das sehe ich anders. Die Mounir al-Motassadeq. Wenn jemand glau- entscheidenden Beweise liefern können. USA kennen und praktizieren Rechtshil- ben sollte, Rechtsstaatlichkeit behindere Der Mann soll als 20. Attentäter bei den fe mit uns und anderen EU-Staaten seit die wirksame Bekämpfung des Terroris- Anschlägen am 11. September eingeplant Jahren unter diesen Voraussetzungen. mus, der würde schnell aufwachen. gewesen sein, ihm droht die Todesstrafe. Man sollte nicht versuchen, das nach dem SPIEGEL: Mit Ihrem Parteifreund Otto Schi- Werden Sie die geforderten Unterlagen 11. September aufzuweichen. ly hatten Sie allerdings erhebliche Ausein- herausrücken? SPIEGEL: Haben Sie darüber schon mit andersetzungen, als die Bundesregierung Däubler-Gmelin: Unter den von unseren bei- Ihrem amerikanischen Ministerkollegen ihre Antwort auf den 11. September for- den Ländern ständig akzeptierten und John Ashcroft gesprochen? muliert hat. Die Anti-Terror-Maßnahmen praktizierten Voraussetzungen der Rechts- Däubler-Gmelin: Das war nicht nötig, denn des Innenministers gingen Ihnen vielfach hilfe ja. Die fachliche justizielle Zusam- unsere Fachleute in beiden Ministerien ar- zu weit. menarbeit mit den USA ist gut und ver- beiten hervorragend zusammen. Däubler-Gmelin: Wir haben nach dem 11. trauensvoll. SPIEGEL: Wie geht es jetzt weiter? September die neue Herausforderung sehr SPIEGEL: Im Klartext: Die Originalbelege, Däubler-Gmelin: Im Augenblick prüfen die gut bestanden – es ging darum, die Bürger aus denen hervorgeht, dass Moussaoui in USA unsere Antwort auf ihr Ersuchen und vor weiteren schrecklichen Terroranschlä- direkter Verbindung zur Hamburger Ter- melden sich dann bei uns. gen zu schützen, ohne die Balance von Si- rorzelle um Mohammed Atta stand, wer- SPIEGEL: Es gibt auch Fälle, in denen sich cherheit und Freiheit aus dem Gleichge- den nicht nach Amerika geschickt. die Bundesregierung weniger strikt zeigt. wicht zu bringen. Däubler-Gmelin: Klare rechtsstaatliche Vor- Der deutsche Staatsbürger Mohammed SPIEGEL: Auch falls Sie beide der nächsten aussetzungen heißt, dass unsere Doku- Haydar Zammar wurde in ein syrisches Bundesregierung wieder in gleicher Posi- mente nicht für ein Todesurteil oder für Gefängnis verschleppt. Dass die Verhöre tion angehören, droht kein neuer Streit? eine Exekution verwendet werden dürfen. dort nicht zimperlich ablaufen, ist bekannt. Däubler-Gmelin: Es ist wichtig, dass um die Diese Haltung ergibt sich mit Blick auf un- Von Protesten aus Berlin ist wenig zu Balance zwischen Bürgerrechten und neu- ser Grundgesetz; die anderen EU-Staaten hören. en Erfordernissen der Sicherheit immer folgen darin ihrer und unserer gemeinsa- Däubler-Gmelin: Ich weiß nicht, wie Herr wieder gerungen wird. Das tut Rot-Grün. men Rechtstradition. Zammar nach Syrien gelangt ist, erwarte Und es ist geradezu ein Markenzeichen un- SPIEGEL: Der Fall Moussaoui ist politisch aber, dass jeder Deutsche auch in einem serer Regierung, dass wir vernünftige und höchst aufgeladen. Er ist der bisher einzi- ausländischen Gefängnis rechtsstaatlich be- rechtsstaatlich tragbare Ergebnisse vor- ge Angeklagte, dem im Zusammenhang handelt wird. weisen können. Das wollen und werden mit den Anschlägen vom 11. September in SPIEGEL: Der gebürtige Syrer Zammar gilt wir fortsetzen. Es fällt schon auf, dass Ed- den USA der Prozess gemacht wird. Mit Ih- als Schlüsselfigur der Hamburger Terror- mund Stoiber niemanden in seinem Team

52 der spiegel 36/2002 deren eigenes Rechtsverständnis. Italien ist eine wichtige europäische Demokratie. Unsere Aufgabe ist jetzt, diejenigen in Ita- lien zu stärken und ihnen Mut zu machen, die sich solchen Skandalen entgegenstellen. Es wäre fatal, die rechtsstaatlichen Grund- lagen unserer Zivilisation in Frage zu stel- len. Gerade im 21. Jahrhundert rückt ja nicht nur Europa, sondern die ganze Welt so eng zusammen, dass die Durchsetzung der „Rule of Law“, also der Stärke des Rechts, immer wichtiger wird. Nur so ist friedliches Zusammenleben in einem Staat und zwischen den Völkern möglich. SPIEGEL: Die Weltmacht USA kümmert sich darum offenbar wenig. Die Arbeit des neu- en Internationalen Strafgerichtshofs wird von den Amerikanern torpediert. Däubler-Gmelin: Das ist ärgerlich. Allerdings setze ich darauf, dass die Haltung der Bush-Administration mittelfristig nicht das

CORBIS SYGMA (L.); DDP (R.) CORBIS SYGMA letzte Wort der USA ist. Dort wird gerade Terror-Angeklagter Moussaoui: „Die Stärke des Rechts durchsetzen“ auch über das Völkerrecht und seine Be- deutung sehr heiß gestritten. hat, der sich um Bürgerrechte und Rechts- walt etwa gegen eine Diktatur letztlich SPIEGEL: Zurzeit verhärten sich die Fron- staatlichkeit kümmert. gerechtfertigt wäre, hinge bei uns von den ten eher. Die Amerikaner versuchen zum SPIEGEL: Ist die gesetzgeberische Reaktion äußerst engen Voraussetzungen des Wi- Beispiel, die Frage eines Beitritts man- auf den 11. September abgeschlossen? derstandsrechts ab. cher Länder zur Nato mit deren Wohlver- Däubler-Gmelin: Bei uns in Deutschland ja, SPIEGEL: Ein europäischer Konsens ist selbst halten in der Frage des Strafgerichtshofs zu mit dem gerade in Kraft getretenen Para- bei einfacheren Fragen schwierig. Zurzeit koppeln. grafen 129b, der es uns erleichtert, Terro- geht das Italien Silvio Berlusconis in der Däubler-Gmelin: Ich bedauere sehr, dass die- risten zu verfolgen, die von jenseits unse- Rechtspolitik ganz eigene Wege. ses große Land derzeit Sonderrechte für rer Grenzen operieren. In der EU verbes- Däubler-Gmelin: Es macht uns in der Tat sich in Anspruch nehmen will, wo es um sern wir die Zusammenarbeit weiter und zunehmend Sorgen, dass Berlusconis neue die weltweite Verfolgung von Völkermord haben wichtige Fortschritte bereits gemacht Gesetze immer häufiger zu der Befürch- und Menschenrechtsverbrechen geht. Und – etwa bei der Definition, was wir als Ter- tung Anlass geben, sie sollten seinen ei- über die Aufnahme in die Nato entschei- rorismus gemeinsam bekämpfen, und beim genen Interessen nutzen. den die USA nicht allein. Ich erinnere mei- europäischen Haftbefehl. SPIEGEL: Führende Unionspolitiker wie ne Freunde in den USA gern an den wich- SPIEGEL: Wie wollen Sie denn präzise un- Angela Merkel und Wolfgang Schäuble tigen Satz des früheren Präsidenten John F. terscheiden, wer ein Terrorist und wer ein teilen Ihre Bedenken offenbar nicht. Sie Kennedy: Unser Ziel ist es nicht, der Macht Freiheitskämpfer ist? beschreiben Berlusconi als verlässlichen zum Sieg, sondern dem Recht zur Durch- Däubler-Gmelin: Das Problem besteht schon Partner. setzung zu verhelfen. immer – übrigens auch bei uns. Einen Frei- Däubler-Gmelin: Ich halte das für peinlich. Interview: Konstantin von Hammerstein, brief für Gewalt gibt es nicht. Und ob Ge- Solche Äußerungen sagen auch viel über Dietmar Pieper Grabstätte in Frankfurt Zwei feindselige Gruppen bei der Beerdigung

Sophie, die kleine Toch- ter, geliebt und bewundert von allen Freunden und Verwandten, ist offenbar vor der Verzweiflungstat der Mutter sexuell miss- braucht und dabei schwer verletzt worden. Ausgerechnet der Vater, der als besonders liebevoll und besorgt galt, soll der Täter sein. Die Frankfur- ter Staatsanwaltschaft hat

BERT BOSTELMANN / BILDFOLIO BOSTELMANN BERT gegen den 43-jährigen Alois D. ein Ermittlungs- verfahren eingeleitet – eine unfassbare KINDESMISSBRAUCH Entwicklung für alle, die diese Familie kannten. Die Spurensuche führt zu einer klein- Das zerstörte Paradies bürgerlichen Idylle rund 45 Kilometer vom Schauplatz der Tragödie entfernt. Seit eine junge Mutter mit ihren beiden kleinen Kindern aus Der Frankfurter Stadtteil Alt-Heddern- heim, wo Gabriele D. mit ihren Kindern einem Wiesbadener Hochhaus in den Tod sprang, fragen und ihrem Ehemann wohnte, erinnert eher sich Hinterbliebene nach den Motiven. Nun haben Staatsanwälte an ein Dorf als an eine Großstadt. Die Häu- einen furchtbaren Verdacht. Von Bruno Schrep ser sind meist klein, die Leute bodenstän- dig und vorwiegend umgänglich. Viele sind ein, ein besonders religiöser Ausweise und Farbfotos der Kinder. Ein schon hier geboren. Mensch ist der Winfried Schaus aus Abschiedsbrief war nicht dabei. Jeder kennt jeden, die meisten duzen NWiesbaden nie gewesen. Sein letz- Warum? Warum wirft eine Mutter ihre sich. In Gaststätten mit Namen wie Klaa- ter Kirchenbesuch liegt viele Jahre zurück. Kinder weg wie Abfall? Und warum in Paris, Solber-Eck oder Zum Stöffche wird An einem Mittwoch im Juni ließ sich der Wiesbaden, einer Stadt, in der Gabriele D. Frankfurter Apfelwein in Tonkrügen (Bem- 57-Jährige eine evangelische Kirche auf- niemand kannte? Warum in diesem Hoch- bel) ausgeschenkt, gibt es Spezialitäten wie schließen, mittags kurz nach zwölf. Er woll- haus, wo nur zufällig, weil Putztag war, Grüne Soße, Rippchen mit Kraut und te, ganz allein, mit Gott abrechnen. der Hintereingang offen stand? Handkäs mit Musik. „Wo warst du eben?“, schrie er in das Die Antwort öffnet einen Blick in Ab- In dieser kleinen Welt bleibt wenig leere Kirchenschiff, „was hat das für einen gründe einer nach außen scheinbar intak- unbeobachtet. Als Familie D. 1996 ein Sinn?“ Und, voller Wut: „Ich hasse dich!“ ten Familie in einer ganz bürgerlichen altes Haus kauft, registrieren die Nach- Eine Stunde zuvor hatte Schaus, der im Welt: Gabriele D. stand womöglich unter barn erstaunt, dass der Alois – ein ober- 8. Stock eines Wiesbadener Hochhauses dem Eindruck eines in ihrem eigenen Haus schlesischer Spätaussiedler, der schon vie- wohnt, dumpfe Schläge gehört. Als er, nach verübten Verbrechens. le Jahre im Stadtteil lebt – eine Auswärti- einem Blick nach unten, in ge geheiratet hat. Eine den Innenhof hetzte, fand schlanke Dunkelhaarige, er auf dem Betonboden die die größer ist als er, die zerschmetterten Körper ei- nicht den breiten hessi- ner Frau und zweier Kinder. schen Dialekt babbelt, die- Gabriele D., 33, hatte sen einschläfernden Sing- ihre vierjährige Tochter So- sang; sie stammt aus Pot- phie und ihren zweijähri- tenstein, einem kleinen gen Sohn Jan aus einem Flecken in der Fränkischen Flurfenster des 9. Stock- Schweiz. werks geworfen. Dann war Die Neue wird schnell sie selbst hinterherge- akzeptiert. Nachbarn be- sprungen, aus einer Höhe wundern, wie tatkräftig sie von 27 Metern. beim Umbau des Hauses Ihr Auto, einen roten mit anpackt, wie freundlich Renault, hatte sie zuvor sie mit jedermann plaudert, ordnungsgemäß abgestellt, wie scheinbar problemlos sogar noch einen Park- sie sich anpasst. Als dann, schein gelöst. Die Au- im Abstand von zwei toschlüssel fand die Poli- Jahren, die Kinder Sophie zei im Treppenhaus, di- und Jan geboren wer- rekt neben einer ledernen

Handtasche. Darin lagen VARNHORN ANDREAS * Blick aus dem Fenster des 9. Stock- Schminksachen, mehrere Tatort Hochhaus in Wiesbaden*: Abgründe einer intakten Familie werks.

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Werbeseite den, gehört Gabriele D. endgültig rich- Schulfreundinnen. In Potten- tig dazu. stein erkundigt sie sich nach Das Haus ist fertig, die Tochter bekommt Kindergartenplätzen für Sophie sofort einen Kindergartenplatz, Installa- und Jan. teur Alois D., als patenter Handwerker an- Wieder zu Hause, gerät die erkannt, hat eine ordentliche Stellung bei junge Frau in einen unauflös- einer Heizungsbaufirma. Was soll da noch baren Zwiespalt. Einerseits will schief gehen? sie ausbrechen, will bloß weg Doch hinter dem silber gestrichenen aus der Idylle, die sie mehr und schmiedeeisernen Eingangstor zum Grund- mehr als unecht und verlogen stück ist die Harmonie schon bald ge- ablehnt. Bei einem Anwalt in- stört. In der Ehe stimmt es nicht. „Die Ge- formiert sie sich über die Kon- fühle sind weg“, gesteht Gabriele D. einer sequenzen einer Trennung. Freundin. Andererseits plagen sie Skru- Die Eheleute, die sich so viel vorge- pel, ihren Kindern den Vater zu nommen hatten, leben nur noch neben- entreißen. Hat der nicht sogar einanderher. Er sucht Ablenkung in sei- seinen Urlaub geopfert, die er- nem Kegelclub, in seinem Garten. Sie büf- krankte Tochter zwei Wochen felt Englisch, trifft sich oft mit anderen lang in eine Klinik begleitet? Müttern. Sie unternehmen kaum noch et- Und hat der nicht das halbe was gemeinsam. Haus in ein riesiges Spielzim- Gabriele D. versucht trotzdem weiter, mer verwandelt? „Darf ich die glückliche Frau und Mutter zu spielen, denn den Kindern dieses Para- die Fassade aufrechtzuerhalten. Immer Verdächtigter Vater Alois D.: „Es ist nicht wahr“ dies wegnehmen?“, fragt Ga- häufiger überkommt sie jedoch eine schwer briele D. eine Freundin. fassbare Traurigkeit, die sie selbst kaum germutter wohnt mit im Haus, Verwandte Dann sind da noch die Ängste. Wird erklären kann. mit Kindern kommen häufig zu Besuch. der Ehemann aus dem geplanten Urlaub Schon bei kleinen Anlässen, etwa wenn „Ich schaff das alles nicht mehr“, klagt sie. mit der vierjährigen Sophie überhaupt der Sohn Ausschlag hat oder die Tochter „Geh doch mal zu einem Therapeuten“, zurückkehren? Oder bleiben beide in nachts weint, wirkt sie verzweifelt, fühlt rät eine Verwandte. Doch Gabriele D. traut Polen, unerreichbar für immer? Die Mut- sich als Versagerin, bricht in Tränen aus. sich nicht. Stattdessen flieht sie sooft wie ter ist derart ratlos, dass sie andere ent- Auch den großen Familienclan des Ehe- möglich in ihre alte bayerische Heimat, be- scheiden lassen möchte. „Sag mir, ob ich manns empfindet sie als Last. Die Schwie- sucht Vater und Geschwister, trifft sich mit bei meinem Mann bleiben soll oder nicht“, Deutschland fordert sie ihre engste Ver- zu Hause ist, offenbart Der Mann, der innerhalb von Sekunden traute auf. Die lehnt ab: sie sich deren Nachba- seine Familie verlor, bestreitet jedoch ent- „Das musst du selbst ent- rin: „Meine Sophie ist se- schieden. „Es ist alles nicht wahr“, erklär- scheiden.“ xuell missbraucht wor- te er gegenüber seinen Verteidigern, den Die verhängnisvolle den.“ „Von wem?“ „Vom Frankfurter Anwälten Fritz Steinacker und Entscheidung, die Gabrie- eigenen Vater.“ Andreas Moses. Die sind zuversichtlich. le D. kurz darauf trifft, Einen ähnlichen Ver- „Der Verdacht beruht vor allem auf Hören- läuft auf das hinaus, was dacht hatte sie bis dahin sagen“, erklärt Anwalt Moses. Experten einen „erweiter- noch nie auch nur ange- Die schwere Beschuldigung gegen den ten Selbstmord“ nennen. deutet, selbst gegenüber Vater hat die Beziehungen zwischen den Dahinter steckt oft falsch den engsten Vertrauten beiden betroffenen Familien vergiftet. verstandene Liebe, in ihr nicht. Wie sie denn darauf Schon bei der Beerdigung stehen sich zwei Gegenteil verkehrte Für- komme? Gruppen schweigend, fast feindselig ge- sorge. Ohne mich, so die Gabriele D. beginnt zu genüber: dort die Angehörigen des Vaters, verquere Botschaft, haben Getötete Sophie weinen. Bisher, erzählt sie ein paar Meter weiter die bayerischen An- die Kinder ohnehin keine Letzter Auslöser der fremden Frau, habe gehörigen der Mutter. Bei denen hatte Ga- Chance, ist das Leben stets sie die Tochter zu briele D. noch kurz vor dem Drama mit auch für meine Liebsten nur qualvoll, hoff- Bett gebracht. Gestern Abend habe das ihren Kindern einen Urlaub verbracht. nungslos, ohne Sinn. jedoch erstmals der Vater gemacht. Am Tatsache ist: Zu keinem der Verwandten, Etwa zehn solcher Suizide werden in nächsten Morgen seien Blutflecken auf aber auch zu keiner ihrer Freundinnen hat- Deutschland jedes Jahr verübt. Der Ent- dem Bettlaken gewesen. te Gabriele D., als sie sich zum gemeinsa- schluss, dem oft eine lange, selbst von Die Frankfurter Staatsanwaltschaft, der men Tod mit ihren Kindern entschloss, ge- nächsten Angehörigen nicht erkannte De- sich die Zeugin nach der Tragödie in Wies- nug Vertrauen. In den entscheidenden pression vorangeht, wird meist durch einen baden offenbart, lässt beide Kinder obdu- Stunden war sie allein. akuten Anlass ausgelöst, häufig Eifersucht, zieren, bei Sophie mit erschütterndem Re- „Why am I doing this? I think I need aber auch Krankheit oder Schulden. sultat: Die Leiche des Mädchens weist help“, steht in Druckbuchstaben am Trep- Auch für Gabriele D. gab es einen letz- schwere Verletzungen im Unterleib auf, die penaufgang jenes Stockwerks, aus dem sich ten Auslöser. Den vertraut sie, wenige nicht vom tödlichen Sturz herrühren kön- die Mutter mit den beiden Kindern in die Stunden vor ihrem Tod, ausgerechnet einer nen, unter anderem einen Dammriss. Tiefe stürzte. Ob das Bleistiftgekritzel wirk- wildfremden Frau an – reiner Zufall. Bei einer Durchsuchungsaktion im Hed- lich von ihr stammt, ist fraglich. Eigentlich will sie, aufgeregt und ver- dernheimer Haus finden die Ermittler zu- Fest steht jedoch, dass die Botschaft zu- zweifelt, dringend mit einer Freundin in dem Blutspuren in Sophies Kinderbett – trifft: Gabriele D. hätte dringend Hilfe ge- der Römerstadt reden. Doch weil die nicht was den Verdacht verstärkt. braucht. ™ Werbeseite

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Klüger werden mit: Marie Pohl

Die 23-jährige Berliner Autorin über ihre Begegnungen mit der Jugend der Welt

SPIEGEL: Für Ihr Buch „Maries Reise“ haben Sie in Berlin, Havanna, Bue- nos Aires, San Francisco, Hanoi, Tif- lis, Jerusalem und Helsinki die inter- essantesten Personen Ihrer Genera- tion gesucht. Gibt es den globalisier- ten Jugendlichen? Pohl: Nein. Es gibt natürlich Dinge, die uns miteinander verbinden, egal ob man aus Georgien oder Argen- tinien kommt: Musik, Klamotten,

OZIER MUHAMMAD / NEW YORK TIMES / NEW YORK MUHAMMAD OZIER Filme oder das Internet. Aber mir Fitnesstraining in Manhattan ist aufgefallen, wie stark die meis- ten mit ihrer Kultur verbunden LEIBESÜBUNGEN sind. SPIEGEL: Welche Be- gegnung war am auf- Umsonst und draußen regendsten? Pohl: Die mit Mei- n New York könnten Fitnesscenter phieren nun über die Mittelschicht- tal, einer israelischen Idemnächst out sein. Jugendliche, Berufstätigen, die neben den Benutzer- Siedlerin. Viele junge meist schwarze, haben die Straße zum kosten für einen Stairmaster noch Israelis, die ich traf, idealen Trainingsraum erkoren. Sie stär- 60 Dollar pro Stunde für ihren Personal sind gegen Sharon und ken ihre Oberarmmuskeln, indem sie Trainer berappen. Ab September gibt es seine Politik. Ich woll- sich an Gerüsten hochzie- die Stars der Straßenakro- te daher unbedingt hen, klettern Ampeln oder baten auf Video. Dessen eine orthodoxe, rech- Notrufsäulen hinauf und ab- Produzent hofft auf einen te Siedlerin kennen solvieren Liegestütze auf Verkaufserfolg, denn der lernen. Meital leidet

dem Bürgersteig. Geboren Film kombiniere Elemente darunter, dass sie von / KITSCHFOTO.DE KLINGE wurde der neue Trend in des HipHop mit Reality TV. allen anderen als Phä- Pohl Gefängnissen, in denen un- In einigen Filmszenen leh- nomen gesehen wird. terbeschäftigte Strafgefange- ren die Athleten Passanten Es hat mich nachdenklich gemacht, ne sich das Ziel setzten, Klimmzüge an Laternen – wie sehr eine Religion oder Politik das nach der Entlassung wenigs- das Ganze in einer Spra- Leben eines Menschen belastet. tens mit einem gestählten che, für die man neben SPIEGEL: Wie fanden Sie die Leute? Körper in die Freiheit zu Muskeln auch gute Nerven Pohl: Für jede Stadt hatte ich vorher gehen. Jugendliche in New mitbringen sollte. Straßen- eine Anlaufadresse. Der Rest hat sich York, Miami und Los Ange- jungs sind mit ihren ergeben. Zum Glück ist meine Ge- les übernahmen den Sport Schülern nicht so geduldig neration sehr neugierig und offen. für die Straße – und trium- Video-Cover wie gut bezahlte Trainer. SPIEGEL: Ist sie auch so verwöhnt und übersättigt, wie behauptet wird? Pohl: Natürlich sind wir verwöhnt, doch daran sind die schuld, die uns INTERNET Bibliothek. Erwachsenenunterhaltung das nachsagen. Aber was nicht sei nun mal ein Bestandteil des täg- stimmt, ist der Vorwurf, wir seien un- Porno im Museum lichen Lebens. Es gebe also keinen politisch. Dinge, die uns stören, ver- Grund, zukünftigen Historikern durch suchen wir zu ändern, so schnell und ie mehr als hundert Jahre alte au- Schüchternheit die Arbeit zu erschwe- pragmatisch wie möglich. Dstralische Nationalbibliothek plant, ren. Seit 1996 speichert die Bibliothek SPIEGEL: Wie haben Sie die neun neben Büchern, Filmdokumenten, Zeit- bereits Websites in einem Archiv, Monate Reisen verändert? schriften und mündlich überlieferten bislang allerdings nur relativ harmlose. Pohl: Das ganze Projekt dauerte sogar Sagen jetzt auch Porno-Seiten aus dem Welche Seiten jetzt zu Museumsehren drei Jahre. Meine Freundinnen ha- Internet in ihre Sammlung aufzuneh- kommen sollen, ist noch nicht klar – ben in der Zeit eine Ausbildung ge- men. Spätere Generationen sollen an gedruckten Porno-Heftchen wurden macht, ich dagegen musste mich mit damit ein repräsentatives Bild austra- bisher beispielsweise Werke wie existenziellen Fragen beschäftigen: lischer Erotika im Internet bekommen, „Big ’n’ Bouncy“ oder „Bra Busters“ in Wer bin ich? An was glaube ich? so heißt es im aktuellen Newsletter der die Sammlung aufgenommen.

der spiegel 36/2002 61 Szene Gesellschaft

EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE dale transportiert und tiefgefroren bleibt, bis Mediziner in der Lage sind, den Leichnam zum Leben zu erwecken, zu verjüngen und die Schäden zu be- Lust auf ein neues Leben? seitigen, die durch das Einfrieren ent- standen sind. Ein Streit unter Geschwistern um die Zukunft ihres toten Vaters Zur Wahl stehen zwei Methoden: Frosten des ganzen Körpers für 120000 igentlich hatte Ted Williams in sei- Williams keineswegs geplant hatte, nach Dollar, wie es mit Williams geschah, nem Leben alles erreicht. Base- seinem Tod in einem Stahlzylinder oder Einfrieren des amputierten Kopfes Eball, seine große Leidenschaft, mit flüssigem Stickstoff zu lagern. An- für 50000 Dollar. Die Entscheidung für hatte ihn reich gemacht. Sechsmal geblich wollte er lieber verbrannt und Methode zwei hat den Vorteil, dass gewann er als Spieler die American als Asche über dem Ozean verstreut sie die Gewebeschäden reduziert. Der League Batting Championship, lange werden. Schädel friert schneller ein. Einen Auf- Zeit war er einer der bekanntesten Spie- Lange Zeit war unklar, welche der bewahrungsbehälter teilen sich maxi- ler in den USA, und 1966 nahm man ihn beiden Varianten wahr ist und welche mal fünf Körper und vier Köpfe. Die auf in den Kreis der Unsterblichen. Ted unwahr, denn die Familienangehörigen Köpfe schwimmen oben. Zurzeit lagert Williams, Star der Boston Alcor 49 Körper. Mit wem Red Sox, wurde in die Base- Williams sein Quartier teilt, ball Hall of Fame aufgenom- ist nicht bekannt. men. Viele sagen noch heute, Lemler hat es nicht gern, dass er der beste Schlagmann wenn man seine Kunden seines Sports war. Tote nennt, es sind „Patien- Am 5. Juli dieses Jahres ten“. Lemler ist auch der starb Ted Williams 83-jährig Meinung, dass sie nicht tot im Citrus County Memorial sind, sondern lebendig, ir- Hospital in Inverness, Flori- Aus der „Bild“-Zeitung gendwie. Lemler ist nicht da, und es scheint, als solle er dumm, deshalb sagt er Inter- nun wirklich unsterblich werden. Un- von Williams äußerten sich kurz oder essenten, dass Alcor keine Garantie mittelbar nach seinem Tod schaffte sein gar nicht. Bobby-Jo Ferrell, Williams’ dafür übernimmt, dass sie jemals wieder Sohn John Henry die Leiche an Bord älteste Tochter, ließ durch ihren Anwalt zum Leben erweckt werden. Er sagt eines Learjets, der Körper wurde nach mitteilen, dass ihr Vater die Seebestat- auch, dass die Erfolgschance mögli- Scottsdale (Arizona) transportiert, wo tung gewünscht habe. Ein Testament cherweise gering sei, aber welche Chan- ein Wagen die Fracht übernahm. Die aus dem Jahr 1996 beweise das. Ihr ce habe man, wenn man sich nach dem Fahrt endete vor einem Betonklotz am Halbbruder John Henry habe den Tod im Boden vergraben lasse? Der Ver- East Acoma Drive Nummer 7895. An Körper ihres Vaters einfrieren lassen, in trag sei kein Versprechen, eher ein Los der Front des Gebäudes der Hoffnung, dessen in einer Lotterie. Und bezahlbar sei das ist ein Firmenname zu Gene später verkaufen Ganze bequem, mit dem Geld aus einer lesen, in Großbuchsta- zu können. John Henry Lebensversicherung. ben: Alcor. bestritt das. Wie der Streit zwischen den Kindern Im Inneren des Ge- Jerry B. Lemler, dem von Williams ausgeht, ist Lemler ziem- bäudes wurde Williams’ Chef von Alcor, sind die lich egal. Er besitzt einen Vertrag mit Körper aus dem Trans- öffentlichen Spekulatio- Williams, in dem die Rechte an dem portbehälter gehoben, nen über den sterbli- Körper an Alcor übergehen. Lemler man entzog ihm sein chen Rest von Ted Wil- bezweifelt, dass dieser Vertrag anfecht- Blut und die ande- liams sehr lieb: „Vor die- bar ist. ren Körperflüssigkeiten, ser Angelegenheit hat- Im Streit zwischen Bobby-Jo Ferrell dann füllten Techniker ten wir täglich 5000 und John Henry sieht es im Moment den Leib mit einem Besucher auf unserer schlecht aus für Bobby-Jo und gut für Chemiecocktail und ver- Website, nun sind es John. Er hat ein Papier aus dem Jahr senkten ihn kopfüber in 600000 pro Tag.“ 2000 vorgelegt, in dem sein Vater be- flüssigem Stickstoff. Bei Lemler ist ein ge- kundet, eingefroren werden zu wol- einer Temperatur von schäftstüchtiger Psych- len. John Henry teilte außerdem mit,

minus 202 Grad fror / AP TED SANDE iater mit einem weißen dass auch er es wünscht, nach seinem das, was von Williams Williams (1941) Vollbart, der ihn aus- Tod eingefroren zu werden. Er hofft, übrig geblieben war, zu sehen lässt wie einen mit seinem Vater auf ewig zusammen einem soliden Block. Williams war in entfernten Cousin des Weihnachts- zu sein. seinem neuen Zuhause angekommen: manns. Sein Angebot an die Amerika- Die Nähe zu Williams sollte auch Slug- im Menschenlager der „Alcor Life Ex- ner lautet: Ihr gebt uns ein paar tau- ger, dem Hund des Baseballstars, zuteil tension Foundation“, zu Deutsch „Al- send Dollar, und wir schenken euch werden. Das ist jetzt sehr unwahr- cor-Stiftung für verlängertes Leben“. die Chance auf ewiges Leben. 590 Män- scheinlich. Er starb vor vier Jahren, als So lautet eine Variante der Ge- ner und Frauen halten das für ein faires noch Williams’ erstes Testament galt. Die schichte, die seit einigen Wochen in Angebot. Sie haben einen Vertrag mit beiden sollten zusammen im Ozean Amerikas Zeitungen fortgeschrieben Alcor unterschrieben. Der Vertrag sieht schwimmen. Slugger wurde darauf vor- wird. Variante Nummer zwei sagt, dass vor, dass ihr Leichnam nach Scotts- bereitet – und verbrannt. Uwe Buse

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KARRIEREN Der Meister und die Monstren Kein Anwalt verteidigt das Böse leidenschaftlicher als der Franzose Jacques Vergès. Er war befreundet mit Mao und Pol Pot. Zu seinen Mandanten zählten afrikanische Diktatoren, der SS-Mann Klaus Barbie und Carlos, der Terrorist. Nun berät er Slobodan Milo∆eviƒ. Von Alexander Smoltczyk

er Mann trägt immer Schwarz, und ihn geschrieben. Kaum ein französischer zen einhalten. Amnesty hatte behauptet, sein Gesicht ist wie das perfekte Anwalt ist bekannter, keiner umstrittener. dass mein Mandant seine Gefangenen in DVerbrechen, aufgeräumt und uner- Unter dem Gobelin spannt sich ein Ak- Handschellen gefesselt aus dem Flugzeug gründlich. Das Leben hat hier keine Spu- tenschrank, alphabetisch geordnet von A abwirft.“ Kleine Pause, um die Zigarre wie- ren hinterlassen. Ebenso wenig die Freund- wie Georges Abdallah (dem Attentäter), der anzuzünden. „Niemand wirft Leute in schaft mit den Schlächtern. Jacques Vergès Klaus Barbie (dem „Schlächter von Lyon“) Handschellen ab. Das wäre doch ein Ver- ist ein heiterer Mensch. über G wie Garaudy (einem Leugner des brechen mit Unterschrift und Siegel.“ Es heißt, er nehme täglich lange Holocaust) bis zu T wie Togo. Sein Gespür für mögliche Tabubrüche ist Schaumbäder. Abends gehe er in die Im Namen des togolesischen Diktators fein. Bevorzugt legt Vergès sich mit mora- Restaurants der Pariser Boulevards und Eyadéma verklagte er Amnesty Interna- lischen Instanzen an. Gerade hat er sich knacke Schalentiere. Er sei ein Stalinist, tional: „Auch das Gute muss gewisse Gren- mit Johannes Paul II. angelegt: Der Vatikan heißt es, ein Faschist, Antisemit, Terrorist. Ein Wahnsinniger. Aber sehr kultiviert. Vergès bewohnt ein Stadtpalais am Pi- galle. Im Vorzimmer sagt eine strenge, älte- re Sekretärin „Oui, Maître“ ins Telefon. Der Meister sitzt in gedämpftem Licht. Hinter sich einen flämischen Gobelin aus dem 17. Jahrhundert, neben sich den steinernen Kopf eines Khmer-Herrschers. Vor sich, den Besuchern zugewandt, eine Kobra aus Kristall. „Ein Strafprozess“, sagt er, dabei Zigar- re rauchend, „ist ein Kunstwerk. Allein ge- genüber den Richtern zu stehen und einer Tat ihren Sinn zu geben, eine Geschichte zu erzählen, die besser ist als die der anderen – das ist der Stoff eines Romans, einer Tragödie. Ohne ihren Prozess wäre Jeanne d’Arc als verrückte Schäferin ver- gessen worden. Durch ihre Verteidigung wurde sie zur Heiligen.“ Und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Für Jacques Vergès ein akzeptables Ergebnis. Sein Kabinett ist eine Schatzkammer. Auf einem Tisch eine Sammlung aus Edel- stein geschnittener Schachspiele, hinter dem Louis-XV.-Schreibtisch stehen Bam- bara-Göttinnen aus Mali, Khmer-Statuet- ten, raumhohe Voodoo-Geister: „Alles Aufmerksamkeiten meiner Mandanten.“ Ein jedes Ding wäre wert, auf seine Her- kunft befragt zu werden. Und auf etwaige Blutspuren, die daran kleben. Aber das wäre stillos. Vergès bewegt sich im Jenseits von Gut und Böse. Moral ist für ihn etwas für Trotzkisten, Sozialdemo- kraten und sonstige Weichlinge: „Meine Moral ist, gegen jede Moral zu sein, weil sie das Leben festzerren will.“ Der Mann spricht mit einer für einen fast 80-Jährigen ungewohnt jungen Stim- me. Stets leicht gehoben im Ton, als wür-

de er in einem Film von Eric Rohmer mit- RUSCH THOMAS spielen. Mehrere Biografien wurden über Rechtsanwalt Vergès: „Auch das Gute muss gewisse Grenzen einhalten“

64 der spiegel 36/2002 sei in die Vertuschung des Mordes an ei- übermorgen stehen sie als Staatsväter in Die Familie zieht auf die Insel Réunion, nem Schweizergardisten verwickelt. den Geschichtsbüchern. Frankreichs Filiale vor Madagaskar. 1943 Sein Lieblingsmonstrum jedoch ist der Oder umgekehrt. „Ich habe dem Präsi- melden sich die Zwillinge als Kriegsfreiwil- ehemalige Staatspräsident Slobodan Milo- denten Milo∆eviƒ versichert“, sagt Vergès lige bei den Auslandstruppen de Gaulles. ∆eviƒ. „Die USA glauben, sie bräuchten ihr und ist schon wieder bei seinem Lieb- Jacques nimmt als Artillerist an einigen spä- Tribunal nur mit Zeugen und Dollars füt- lingsthema, „dass Frankreich nur wider- ten Gefechten teil. Er tötet und liest nach tern, und schon bekämen sie ihr Urteil“, willig bei diesem Tribunal mitmacht. Ein der Schlacht Nietzsche und Malraux. sagt er. „Und plötzlich steht da ein Mann, Gericht, das 1993 eingerichtet wurde, um Nach dem Krieg wird Vergès Jugend- der den Mut hat, Nein zu sagen – und die Vorkommnisse von 1991 zu richten? Auf funktionär der KP, zuständig für den ganze Maschine kommt ins Stottern.“ Geheiß der USA? Bezahlt von Privatleuten Antikolonialismus. Vergès ist Mischling. Er Im Januar, kurz vor Beginn des Haager wie dem Herrn Soros? Mit diesem Gericht kommt von einer Insel im Indischen Kriegsverbrecher-Tribunals, besuchte Ver- gibt es keinen Dialog. Hier soll ein Mann Ozean. Und die einzige Partei, die den gès den gestürzten Kriegsfürsten in seiner verurteilt werden und verteufelt.“ Und das Kolonien Freiheit versprach, war die Scheveninger Zelle. Sie müssen aneinander werde er verhindern. Wie schon so oft. kommunistische. Gefallen gefunden haben. Vergès reist seit- Jacques Vergès wurde 1924 im heutigen Im Quartier Latin prügelt er sich mit her regelmäßig nach Belgrad und bereitet Laos geboren, als unehelicher Sohn einer Jungfaschisten (und ihrem Anführer Jean- für den Herbst ein Gegentribunal in Frank- einheimischen Lehrerin und eines franzö- Marie Le Pen), tagsüber paukt er in einer reich vor. Er schätze jeden seiner Man- sischen Arztes. Schon seine Geburt war Partei-Villa die Theorie der Befreiung. In danten, sagt der Anwalt, das Böse faszi- ein Skandal. Um die Wogen zu glätten, diesen Jahren lernt er die Blüte der unter- niere ihn, mehr als jeder Kampf um etwas meldete der Vater das Ereignis erst im fol- drückten Völker kennen. Junge, ehrgeizi- vermeintlich Gutes: „Das Verbrechen ist genden Jahr, als er bereits Konsul in Siam ge Männer, die später zu den Herrschern die Marke unserer Freiheit.“ Und fügt hin- und ein zweites Kind unterwegs war. So Afrikas und Asiens werden. Über Pol Pot zu: „Alles Humanistische ist mir fremd.“ kam Jacques zu einem Zwillingsbruder, sagt er: „Es fehlte ihm nicht an Humor.“ Es heißt, die Stasi habe ihn als operati- Paul Vergès, der heute als kommunistischer Für seine damaligen Gefährten wird er ves Mitglied der Gruppe Carlos geführt; Senator im französischen Senat sitzt. später Prozesse um Schürfrechte, Finanz- es heißt, Vergès habe sich in rechte, Exportlizenzen füh- Damaskus heimlich mit dem ren – und er wird sehr reich weltweit Gesuchten getrof- werden dadurch. fen; der Schweizer Nazi- 1952 ist Vergès führender Bankier François Genoud, Funktionär der Studenten- heißt es, habe ihm das Man- Komintern. Er ist der Einzi- dat bezahlt, als der SS-Haupt- ge, auf dessen Nachttisch sturmführer Klaus Barbie Nietzsches Raunen vom verteidigt werden sollte; er Übermenschen liegt und verdanke sein Vermögen nicht Stalins „Kleine Ge- den Kriegskassen einer Be- schichte der KPdSU (B)“. Er freiungsbewegung, heißt es. zieht nach Prag zur Zeit der Zigarrenqualm, Lächeln, letzten Schauprozesse. Er Schweigen. Vergès hört sol- verliebt sich in die Revolu- ches Raunen gern. „Die tion Maos. „Es ist“, sagt er Wahrheit eines Mannes“, heute, „immer vom stalinis- sagt er dann, Malraux zitie- tischen Terror die Rede. rend, „liegt vor allem in Aber es gab auch Freund- dem, was er verschweigt.“ schaft, Poesie.“ Selbstverständlich, sagt Es ist die Welt der Ge- Vergès, würde er jedes Man- heimtreffen, der abrupten dat annehmen: „Ich bin an- Kurskorrekturen und der

gezogen von Leuten, die an- AP Abweichler, Volksfeinde ders sind als ich. Es geht Vergès-Mandant Carlos: Respekt für einen Desperado und Verräter. Eine Welt, in nicht darum, die Ideologie der Wörter das Gewicht von eines Mandanten zu über- Taten hatten und falsche nehmen. Käme Adolf Hitler Sätze den Tod bedeuten in mein Kabinett und sagte: konnten. Vergès war glück- Maître, ich werde gewiss zur lich. Er spürte, das war sei- Höchststrafe verurteilt wer- ne Welt. Wer das Wort den, aber bitte geben Sie führen konnte, hatte die meinem Leben seine ästhe- Macht. tische Dimension – glauben Es fällt auf, dass die Wän- Sie, ich würde den Fall ab- de seines Kabinetts mit lehnen?“ Bücherregalen bedeckt sind. Alles ist relativ. Was ist Darunter wenig Gesetzes- Moral? Gesetze werden ge- texte, dafür Rimbaud, Cha- brochen, wenn sie sich dem teaubriand, Ernst von Salo- Gang der Geschichte in den mon. Advokaten, sagt Ver- Weg stellen, und dann ver- gès, herrschten mit der gessen. Kabila, Castro, Mao Sprache nicht weniger als – den Terroristen von Literaten. Ein gutes Plädo-

gestern wird morgen der / GETTY IMAGES GODDYN ROBERT yer fächere, wie ein Roman, rote Teppich ausgerollt und Vergès-Mandant Milo∆eviƒ: Aneinander Gefallen gefunden wie ein Theaterspiel, eine

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der der Kulturrevolution zu inspizieren? In Algerien, Kuba, Vietnam? Bei der Stadtguerrilla? Die siebziger Jahre sind voller Verstecke für jemanden, der beim Teu- fel gut eingeführt ist. Bis heute weiß niemand, wo er sich aufgehalten hat. 1978 taucht Vergès wieder auf, als wäre nichts gesche- hen, sonnenverbrannt, uner- gründlich – fest entschlossen, den Kampf gegen den Com- mon Sense wieder aufzu- Vergès-Brüder (1945): Falsche Zwillinge nehmen: „Die Rolle des Kotzbrockens. Der den Gut- menschen und Großinquisi- toren entgegenschreit: Wofür haltet ihr euch?“ Als sein größtes Kunst- stück diesbezüglich betrach- tet Maître Vergès den Pro- zess gegen den ehemaligen Gestapo-Chef von Lyon, Klaus Barbie, im Sommer 1987. Innerhalb kurzer Zeit hatte Vergès ganz Frankreich vereint gegen sich.

CHRISTIAN DUROCHER / CORBIS SYGMA (R. U.) DUROCHER / CORBIS SYGMA CHRISTIAN Der SS-Hauptsturmführer Vergès mit Mutter (1927), Mandantin Cheyenne Brando: Schon die Geburt war ein Skandal Barbie hatte 1943 die kom- plette Struktur der Résis- Geschichte und einen Charakter auf. So Algerien, ruft Vergès damals immer wieder, tance aufgedeckt. Er hatte Jean Moulin, lange, bis sich Gut und Böse, Schuld und sei nicht Frankreich, das französische Recht den Führer des Widerstands, bis zur Un- Schicksal ineinander auflösen und nur daher ohne Belang. Seine Mandanten sei- kenntlichkeit gefoltert. Moulin, einen noch eine Textur von Ursachen, Einflüssen, en Kombattanten, keine Verbrecher, ruft nationalen Märtyrer, nach dem heute Zufällen übrig bleibt, angesichts derer jedes er, angeklagt gehörten die Ankläger, all Straßen und Plätze benannt sind. Urteil als Willkür erscheinen muss. Weil jene, die einen Kolonialkrieg führten. Barbie war es, der das jüdische Kinder- hinter dem Wust ein Mensch steht. Und Es geht ihm nicht um Freispruch. Vergès heim in Izieu umstellen ließ und 41 Kinder heiße er Milo∆eviƒ. Ecce homo. ist ein Vorläufer der „Konflikt-Verteidi- im Alter zwischen 3 und 13 Jahren ins Sam- In Frankreich ist „Anwalt“ keine Belei- gung“ der späteren RAF-Anwälte, ein Vor- mellager brachte. Wenige Tage später wa- digung. Hier lassen sich die Advokaten mit bild für Klaus Croissant. Er schärft seinen ren sie tot, vergast in Auschwitz. Der Pro- „Maître“ anreden, „Meister“. Robespierre, Mandanten ein, fest zu ihrer politischen Hal- zess kostete Vergès die letzten Sympathien Danton, Saint-Just waren Anwälte, mit kei- tung und zu ihrer Tat zu stehen. Keinerlei ner anderen Macht ausgestattet als der des Kompromiss, kein Winseln um Gnade. „Das Verbrechen ist die Marke Wortes. Ihre Rede war eisig und geschliffen Damit waren die Fälle von vornherein wie die Messer der Guillotine, und Jacques verloren, der einzige Gewinner war er unserer Freiheit. Alles Vergès gefällt sich in dieser Tradition. Spra- selbst. Seine 150 Mandanten allerdings wer- Humanistische ist mir fremd.“ che ist Macht. Wem es gelingt, das Wort zu den ausnahmslos zur Höchststrafe verur- führen, der hat gewonnen. „Die Schönheit teilt, dem Tode. „Aber“, sagt er, „kein Ein- der Linken. Er zeigte sich mit der Familie eines Prozesses und sein Erfolg bemisst ziger damals kam unter die Guillotine.“ Barbies in den besten Restaurants der sich nach der Spur, die er lässt, noch lan- Sie wurden amnestiert oder begnadigt, Stadt, gut gelaunt und redete den „Schläch- ge nach dem Urteil.“ auch durch den Druck der Öffentlichkeit. ter von Lyon“ nur mit „Don Klaus“ an. Gegen Ende der fünfziger Jahre erreicht Vergès heiratet seine erste Mandantin, Es gelang ihm, den so selbstverständli- der algerische Befreiungskrieg seinen die FLN-Terroristin Djamila Bouhired und chen Prozess gegen Barbie zu einer natio- Höhepunkt. In den Cafés Algiers explo- wird zu einem Wortführer der extremen nalen Selbstbefragung zu machen, in der dieren die Bomben der Unabhängigkeits- Linken. „Révolution Africaine“ gibt er her- alte Wunden aufgerissen und Mythen zer- front FLN. Die République bekämpft die aus, das Theorieorgan für jeden Afrikaner, stört wurden. Waren es nicht Résistance- Aufständischen, mit Folter, Lagern, Er- der sein Volk im Sinne Maos befreien Kämpfer, die Moulin verraten hatten? schießungen ohne Prozess. Der zustän- möchte. Er ist häufig zu Gast beim Großen Beobachter irritierte die Kälte, mit der dige Justizminister heißt François Mitter- Vorsitzenden („ein Visionär und inspirier- Vergès die Aussagen der Überlebenden in rand. Der Anwalt der Bombenleger heißt ter Prophet“) und befreundet sich mit Ché. Frage stellte. Die offensichtlich völlige Un- Jacques Vergès. Von 1970 bis 1978 ist Frankreichs be- empfindlichkeit gegenüber Leiden. Und die Aus dieser Zeit rührt Vergès’ abgrund- kanntester Anwalt verschwunden. Ohne demonstrative Wertschätzung für den grei- tiefer Hass gegen die französischen Sozia- eine Spur zu hinterlassen, ohne seiner Fa- sen SS-Mann. Eine Entschuldigung seines listen. Seine Algerien-Prozesse führt er als milie ein Wort zu sagen, taucht Vergès ab. Mandanten gegenüber den Opfern lehnte Gefechte. „Strategie des Bruches“, nennt Löst sich in Luft auf, Nachrufe erscheinen. Vergès ab: „Wenn Barbie um Verzeihung er es: „Kein Einverständnis über die Prin- Es heißt, er sei bei den Roten Khmer ge- gebeten hätte, wäre er nicht nur verurteilt zipien, in deren Namen geurteilt wird.“ wesen. Oder bei Mao, um die Schlachtfel- worden, er wäre auch mit Verachtung be-

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gesehen haben. Er spricht mit Achtung von den Despe- rados wie Carlos, die ihre eigene bürgerliche Karriere für eine Sache aufgaben. „Was ist abscheulicher: Eine Bombe in einem Café zu zünden oder vom Flugzeug aus ganze Städte auszura- dieren? Der Terrorismus ist die letzte Waffe der Unter- drückten.“ In Deutschland würden ihn seine Ansichten in die Ecke der Verwirrten stellen. In Freunde Mao, Vergès (1961): „Ein Prophet“ Frankreich gibt es eine natür- liche Sympathie mit allen, die sich gegen den Strom stellen und im Konzert der schönen Stimmen „merde“ sagen. Mancher sähe die Schlag- fertigkeit dieses Anwalts, sei- ne Geistesgegenwart lieber an anderer Stelle. An der Seite jener Zeuginnen, die in Den Haag dem Tyrannen ins Gesicht sagen müssen, wie sie gemartert, wie ihre Liebs- ten gemordet wurden.

GAMMA / STUDIO X (L.); / STUDIO GAMMA D.R. (R. O.); (R. U.) ROGER VIOLLET Aber einen Amoralisten Vergès mit seinem Mandanten Barbie (1987), bei einer Demonstration* (1961): Rolle des Kotzbrockens fasziniert die reine Unschuld nicht. Es fehlt das Wasser- straft worden. Und mir liegt an der Würde Slobodan Milo∆eviƒ“ an. Er hat im Auftrag zeichen des Tragischen: Nur wenn das Op- meiner Mandanten.“ des ehemaligen Präsidenten versucht, beim fer selbst Blut an den Händen hat, nimmt Vergès und seine beiden Mitverteidiger Europäischen Menschenrechts-Gerichtshof dieser Anwalt Witterung auf. aus Brazzaville und Algier klagten die in Straßburg wegen angeblicher Entführung So bleibt ein Missbehagen. Wie ange- Ankläger an: „Es empörte mich, dass die- zu klagen. Die Klage wurde abgewiesen. sichts eines Spielers, dessen Würfel immer se Leute, die Blut in Vietnam und Algerien Das Haager Tribunal ist eine Pionierleis- auf dieselbe Seite fällt. Es bleibt ein Nach- vergossen haben, sich scheinheilig als tung. Es muss sich seine Regeln selbst erar- geschmack, wie stets, wenn die Brillanz Apostel gegenüber Barbie aufspielten.“ beiten. Es ist ein Ort der langwierigen Dis- wie selbstverständlich an der Seite der Das sei eine Relativierung des Holo- kussionen, der Abstimmungen, Rücksicht- Dunkelmänner steht. caust, sagten Kritiker. Vergès verneint das. nahmen. Kein Ort für Grandeur und Pathos Alles ist Spiel, und nur das Tragische ist Er sagt: „Jedes Verbrechen ist einmalig. und einsame Entscheidungen. Vergès hat interessant. Das ist seine Lehre. Vergès hat Die Shoah ist außergewöhnlich. Der Ge- nur Verachtung übrig für das Tribunal. nozid an den Indianern ist es. Die Treibjagd „Ein Internationaler Strafgerichtshof ist „Ein Strafprozess ist ein Kunst- auf australische Ureinwohner bis 1947 ist ein schöner Traum“, erklärt er. „Ich bin ein außergewöhnliches Verbrechen.“ durchaus dafür. Sofern ein Vietnamese hier werk. Einer Tat ihren Sinn zu geben Barbie wurde zu lebenslänglich verur- Herrn McNamara wegen Kriegsverbrechen – das ist der Stoff eines Romans.“ teilt und starb 1991 in Haft. Das schlechte anklagen dürfte und ein Chilene den Herrn Gewissen blieb. Der Mythologe Vergès hat Kissinger. Aber das wird natürlich nie ge- in einige Abgründe des 20. Jahrhunderts dazu beigetragen, dass Frankreich um ei- schehen.“ Vergès sagt, er sei sich sich sein blicken dürfen und kam mit versteinertem nen Gründungsmythos ärmer ist. Das Ge- Leben lang politisch treu geblieben. Er ver- Gesicht zurück, zu einem Lächeln erstarrt, richtsgebäude in Lyon konnte er nur unter achtet Amerika, den Zionismus, die Sozial- wie der Kopf des Khmer-Herrschers auf Polizeischutz verlassen. demokratie und alle Menschenrechtelei. seinem Schreibtisch. „Abgründe? Nicht Natürlich hat Vergès auch kleine Leute Saddam Hussein hat seine ganze Sympa- doch. Ich bin immer ein glücklicher verteidigt, sogar umsonst. Sofern der Fall thie, allein schon, weil er sich dem Diktat Mensch gewesen“, sagt Jacques Vergès, be- zur Provokation taugte. Einwanderer, die der neuen Weltordnung entgegensetze: „Ich vor er sich erhebt, um sich wieder dem vom kommunistischen Bürgermeister aus mag Staatschefs, die an den Säulen der Tem- Bösen zuzuwenden. Oder dem täglichen ihrem Heim geworfen werden sollten. Sei- pel rütteln.“ Vergès hängt einer vagen Idee Schaumbad, um sich von allem zu reinigen. ne Liebe jedoch gehört den Monstren des von Visionärem an, von Rebellentum, Bo- Im Türbogen überreicht Vergès noch ein letzten Jahrhunderts. Allen, die mit napartismus und Nationalpathos. Er ist an- schmales, mattgelbes Bändchen: „Mein schmutzigen Händen aus dem Maschinen- gezogen von den Fürsten und Übermen- letztes Buch. Lesen Sie es. Au revoir.“ raum der Macht hervorgezerrt werden und schen, von Mao und de Gaulle. Das Büchlein heißt „Nocturne. Poésie“. zu viel wissen, um an moralische Grenz- In den Untergrundgruppen der RAF und Es ist eine Sammlung seiner letzten Ge- ziehungen zu glauben. Roten Brigaden mag er die Fortsetzung sei- dichte: Zeilen voller Würmer, bleicher Er bewundert, wie Milo∆eviƒ sich die ner eigenen stalinistisch-poetischen Jugend Frauen und Einsamkeiten; Verse, in denen Technik der Konflikt-Verteidigung zu Eigen von Kerkern, Schattenwesen und Angst die gemacht hat. Vergès gehört einem „Inter- * In Paris nach der Ermordung des kongolesischen Frei- Rede ist, düster, morbide, krank. nationalen Komitee zur Verteidigung von heitshelden Patrice Lumumba. Doch geschrieben in perfektem Maß. ™

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Der Schattenmann Ortstermin: Wahlkämpfer Helmut Kohl begleicht eine alte Rechnung vorm Rathaus Schöneberg in Berlin.

reißig Grad und erhöhte Ozonwer- sich jedem zeigen, der einen Sinn dafür Aber nun: Er schaut nicht auf sein Rede- te noch am Abend, jeder flieht die hat, und ganz besonders, wenn er studier- manuskript. Er redet nicht von Stoiber, der DHitze der Stadt, staut sich im Auto ter Historiker ist und mit einem Gedächt- Wahl, der Flut. Er packt sich die Erinne- die Domenicusstraße vorm Schöneberger nis versehen, das nichts verzeiht. rung und schlägt auf sie ein: „… ausge- Rathaus herunter, bloß weg auf den Bal- Fast 13 Jahre ist es her. Dieser furcht- pfiffen von jenem linken Pöbel, der damals kon, in die Laube, hin zum Bier. bare Abend am 10. November 1989. Diese die Stadt übernehmen wollte“, ruft er, und Wer jetzt in Berlin Wahlkampf machen Schmach. Er hatte seine Polen-Reise un- das Echo rollt über den Platz, „der unsäg- muss, der tut das anderswo. Am Witten- terbrochen, um nach Berlin zu kommen. lich dümmliche Satz des damaligen Bür- bergplatz, wo sich die Einkäufer drängeln, Auf den Stufen vorm Rathaus Schöneberg germeisters, es ginge nicht um Wiederver- oder auf dem Gendarmenmarkt, wo es stand er, unter der Freiheitsglocke, wo einigung, sondern um Wiedersehen“, da schattig ist und schön. Vorm Rathaus ist es Kennedy seine Rede gehalten hatte, Ken- jubeln sie, die „anständigen Berliner“, und laut und staubig. Aber hier muss es sein. nedy, der jetzt in Bronze am Rathaus mit jedem Wort, mit jedem Satz erobert Im linken Teil des Platzes ist ein kleines hängt. Mit Genscher stand er und mit sich Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler i. R., Areal abgetrennt, in dem auf Bürgerbräu- Brandt und diesem Bürgermeister mit Stück für Stück den Rathausplatz zurück. Bänken 250 geladene Gäste „Es war sein Wunsch, hier sitzen, sommerlich gekleidet aufzutreten“, wird der Herr und erwartungsvoll, als vom Kreisverband Tempel- säßen sie auf einem Aus- hof-Schöneberg nachher sa- flugsdampfer. Ein leicht gen. „Das ist ihm noch nach- übergewichtiger junger gegangen wie …“ Ein Trau- Mann hält eine Deutsch- ma? „Ja, irgendwie schon. landfahne eingerollt zwi- Er wollte das auswischen. Er schen den Knien. wollte sagen können: Bei Sie warten auf Helmut meinem letzten Auftritt Kohl. Die CDU, Kreisver- vorm Schöneberger Rathaus band Tempelhof-Schöne- haben sie gejubelt.“ berg, macht Wahlkampf. Erst Die Dämonen des 10. No- lässt sie Jazz spielen, John vember können nur gebannt Scofield sogar, dann knackt werden, wenn man zurück- es unvermittelt in den Laut- kehrt an den Ort und sich ih- sprechern. „Final Count- nen aussetzt. down“ heißt das Stück, die Und das tut er. Er redet Achtziger-Jahre-Hymne, die und redet, und da sind sie alles so feierlich macht, wenn wieder. Kaum zu hören, nur

sie laut gespielt wird. DARCHINGER MARC FOTOS: ein Rauschen am akusti- Und das wird sie. Die Rat- Redner Kohl: Geister der Vergangenheit schen Horizont, aber er hört hausstufen hinunter bewegt Pfiffe und diese Rufe „Kohl sich eine Erscheinung. Der zeltartige, stahl- dem roten Schal. Der Platz war voll, muss weg“ oder so ähnlich, und ein blaue Anzug, diese Masse Mensch, braun 20000 Berliner am Tag nach dem Mauerfall paar Trillerpfeifen. Da sind sie: „Ein paar gebrannt und frisch vom Friseur, er muss es – und fast alle buhten ihn aus. alkoholisierte jugendliche Schreihälse“, sein. Da steht er auf der kleinen Bühne, Sie pfiffen, johlten, krakeelten. Sie blök- weist er sie in die Schranken. Glücklich. hinter sich aufgereiht die Kandidaten, klein ten sogar noch, als das Lied der Deutschen „Vater der Einheit Deutschlands & Euro- und brav wie Messdiener. Er winkt blin- gesungen werden sollte, a cappella, weil in pas“ steht auf dem Laken der Jungen zelnd, wackelt manchmal schildkrötenhaft jenen Tagen alles improvisiert werden Union. mit dem Kopf und reckt das Kinn nach musste. Man hörte sein eigenes Wort nicht, Es ist 19.13 Uhr, und jetzt singen sie oben, zum Rathaus hin. Jetzt gilt’s. geschweige denn die Stimmlage der ande- die Hymne. Ha! Wenig später treibt ein Sein Sekretär reicht ihm ein paar Zettel, ren. Jeder sang im eigenen Ton, und so hat zeltartiger, stahlblauer Anzug wieder an doch die beachtet er nicht. „Politik“, sagt die Hymne geklungen wie ein Chor tauber den Absperrungen vorbei, „Helmut, Hel- er, „ist zu wichtig als sie Hasardeuren und und zahnloser Greise. mut!“, schreien sie, die Anständigen, „hier Schreihälsen zu überlassen.“ Wen meint Die „Tageszeitung“ ließ die Kakofonie entlang, Herr Bundeskanzler“, die Panzer- er? Niemand auf dem Platz schreit. Ein auf Folie pressen und legte sie der Zeitung limousine wartet. Die Erscheinung schüttelt paar Jusos halten still fotokopierte Zettel bei. Dieser Hohn. Nie wieder ist er vor noch eine Hand und verschwindet. Ge- hoch, „Wir lassen uns nicht verkohlen“, dem Schöneberger Rathaus aufgetreten. schafft. Sogar die Hymne. die PDS muss sich erst noch sammeln. Es Fast 13 Jahre lang nicht mehr. Es ist Dienstagabend, und Helmut Kohl ist ruhig. Wen meint er? Und jedes Mal, wenn er „Rathaus Schö- ist wieder einmal aus dem Schatten der Orte sind nicht nur Orte. Sie sind be- neberg“ hörte, ist das Höhnen und Johlen Vergangenheit herausgetreten. wohnt von Geistern der Vergangenheit, die in seinen Ohren gewesen. Bis heute. Alexander Smoltczyk

der spiegel 36/2002 71 Werbeseite

Werbeseite Panorama Ausland DPA Georgische Truppen beim Pankisi-Tal, Georgadse

GEORGIEN wahlen zu erzwingen. Die Aktivitäten Ge- orgadses, dem gute Kontakte zum russi- schen Auslandsgeheimdienst SWR nach- Putins unerklärter Krieg gesagt werden, sind Teil einer Moskauer

Eskalationsstrategie gegen die Regierung KASSIN PAWEL oskauer Geheimdienste und Militärs arbeiten an Plänen des Nachbarlandes. Zwar dementieren Mzum Sturz des georgischen Präsidenten Eduard Sche- russische Militärs Vorwürfe aus Tiflis, russische Flugzeuge hät- wardnadse, 74. Eine Schlüsselrolle soll dabei Igor Georgadse ten am 23. August wieder das von tschetschenischen Kämpfern spielen, einst Minister für Staatssicherheit in Tiflis. Georgische kontrollierte Pankisi-Tal in Georgien bombardiert – ein Vor- Ermittler verdächtigen den Ex-KGB-Offizier, 1995 einen Mord- gang, den OSZE-Beobachter längst bestätigt haben. Doch pla- anschlag auf Schewardnadse organisiert zu haben. Georgadse nen russische Generalstäbler Militärschläge auf georgischem wird von Interpol gesucht und hält sich in einer der früheren Gebiet, sollte Tiflis versuchen, die tschetschenischen Partisanen Sowjetrepubliken versteckt. Dem SPIEGEL sagte er, er wolle über die russische Grenze nach Tschetschenien zu drängen. Mit Kräfte „von Kommunisten bis zu Monarchisten“ in einer „All- einer georgischen Demarche gegen den „russischen Staats- georgischen Patriotischen Allianz“ gegen den zunehmend un- terrorismus“ bei der Uno erreichten die bilateralen Beziehun- populären Schewardnadse sammeln. gen zwischen Moskau und Tiflis vorige Woche ihren Tiefpunkt. Georgadses Anhänger, darunter frühere Afghanistan-Kämp- Russlands Präsident Wladimir Putin verglich Georgien öffent- fer, bereiten für die nächsten Monate „Aktionen staatsbürger- lich mit Afghanistan unter dem Taliban-Regime, russische Be- lichen Ungehorsams“ vor, um so vorgezogene Präsidenten- obachter sprechen von einem „unerklärten Krieg“.

MALAYSIA grenze der malaysischen Teilstaaten Sa- eigentlich Mahathirs treuer Verbün- rawak und Sabah in ihre Heimat zu ge- deter – warnt, das Land könne in eine Massenverbannung langen. Auf der Massenflucht sollen Rezession schlittern, weil mehr als mindestens 26 Menschen in völlig über- 500000 freie Stellen vor allem in der schadet der Wirtschaft füllten Lagern ums Leben gekommen Landwirtschaft nicht mehr zu besetzen sein. Aufgebrachte Demonstranten ver- seien. Auch die sich nach der Asien- egen der Ausweisung von mehre- brannten in Jakarta und Manila malay- Krise von 1997 gerade wieder erholende Wren hunderttausend illegalen Ein- sische Flaggen und versuchten, die Bot- Bauindustrie befürchtet Millionenver- wanderern binnen wenigen Wochen schaften Kuala Lumpurs zu schleifen. luste. 70 Prozent der Bauarbeiter muss Premier Mahathir Mohamad nicht Sogar der Unternehmerverband – stammten aus Indonesien. nur heftige Schelte von den Philippinen und aus Indonesien einstecken. Jetzt klagt die Industrie des Schwellenlandes Malaysia, die unmenschliche Politik ge- fährde das fragile Wachstum. Seit An- fang August droht der autoritäre Regie- rungschef den rund zwei Millionen Gastarbeitern mit einer Geldstrafe von 10000 Ringgit (2680 Euro), sechs Stock- schlägen und bis zu fünf Jahren Gefäng- nis, wenn sie ohne Einwanderungspa- pier angetroffen werden. Fast eine halbe

Million Filipinos und Indonesier ver- YUSNI / AFPAHMAD (L.); / AFP (R.) DIRECTO JAY suchten deshalb, über die Dschungel- Bauarbeiter in Kuala Lumpur, Demonstrationen in Manila

der spiegel 36/2002 73 Panorama

JAPAN Vergebliche Klagen uch fast 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs weigert sich Ja- Apan hartnäckig, die Opfer von Kriegsgräueln der Kaiserlichen Armee zu entschädigen. Vergangene Woche verwarf ein Tokioter Bezirksgericht eine Klage chinesischer Opfer der berüchtigten Einheit 731: Sie hatte in der von Japan besetzten Mandschurei Kriegsgefangene für barbarische Menschenversuche missbraucht. Nach dem Krieg hatten die USA dem Lei- ter der Einheit, Shiro Ishii, eine Anklage erspart. Im Gegenzug musste Ishii helfen, die Forschungsergebnisse der Menschenversuche den USA zu übergeben. Mit dem Friedensvertrag von San Francisco von 1951 sowie nachfolgenden bilateralen Verträgen, so die japanische Rechtsauffassung, habe Tokio Ansprüche seiner Nachbarn auf staatliche Entschädigung ab- gegolten. Daher wies Tokio auch Forderungen Tausender asiatischer Frau- en zurück, die von der japanischen Armee im Krieg als Zwangsprostitu- ierte missbraucht wurden. Als we- sentliches Motiv für die Weigerung verweisen Historiker darauf, dass noch heute einflussreiche Politiker die Expansion des Kaiserreichs als Befreiungskampf gegen die Koloni- almächte verklären. So genehmigte Tokio im letzten Jahr ein Schulbuch, das etwa das Massaker von Nanking 1937 verharmlost. Premier Junichiro Koizumi pilgerte zweimal zum Yasu- kuni-Schrein, an dem auch Japans Opfer-Demonstration in Tokio, Hauptkriegsverbrecher als shintois- Vivisektion an Kriegsgefangenem tische Gottheiten verehrt werden. YOSHIKAZU TSUNO / AFPYOSHIKAZU / DPA

GRIECHENLAND SÜDAFRIKA Alexander der Umstrittene Streit um Aids-Listen it einem geplanten Felsporträt Anastasios Papadopoulos am Berg ie umstrittene Aids-Politik von Präsident Mgigantischen Ausmaßes wird der Kerdilio, 115 Kilometer östlich von DThabo Mbeki trifft auch in der Wirt- Streit um die Herkunft Alexander des Thessaloniki, Alexanders Antlitz schaft des Landes auf immer mehr Gegner. Großen neu belebt. Nach dem Vor- einmeißeln. Damit wollen die ameri- Die Regierung weigert sich seit Jahren, so bild des amerikanischen Mount Rush- kanischen Initiatoren des 45-Millio- genannte anti-retrovirale Mittel als Viren- more in South Dakota – Touristen nen-Dollar-Projekts die griechische hemmer landesweit abzugeben. Dadurch aus aller Welt wegen seiner in Stein Herkunft des Eroberers betonen. sind diese nur auf dem privaten Markt zu gehauenen Präsidentenköpfe bekannt Nachbar Mazedonien, ohnehin über unerschwinglichen Preisen erhältlich. Nun – will eine Gruppe um den in Chica- die wahre mazedonische Identität im hebeln große Konzerne die Anordnung aus. go lebenden griechischen Bildhauer Dauerstreit mit Athen, dürfte das Nach mehreren anderen Unternehmen will Vorhaben nicht gern sehen. die Firma De Beers, weltgrößter Förderer Schließlich werden auch in von Rohdiamanten, ihren Mitarbeitern die Skopje Ansprüche erhoben lebensrettenden, von Mbeki jedoch als Gift auf den Herrscher, der 356 vor verunglimpften Medikamente zur Verfügung Christus im antiken Makedo- stellen. Die Johannisburger Börse hingegen nien geboren wurde, genauer: plant, dass südafrikanische Konzerne künftig in Pella, das jedoch im heuti- in ihren jährlichen Finanzberichten mitteilen gen Nordgriechenland liegt. müssen, wie viele Mitarbeiter HIV-infiziert Aber auch in Athen müssen sind. In Statistiken sollen Hautfarbe, Ge- sich die Befürworter Kritik ge- schlecht und Familienstand erfasst und die fallen lassen. Die Skulptur sei wirtschaftlichen Folgen der Aids-Infektionen ein Monstrum, wettern Mitar- für das Unternehmen beziffert werden. beiter im Kultusministerium – Investoren könnten sonst den Wert der Un- passend zu Amerika, nicht ternehmen nicht mehr realistisch einschät-

KATHIMERINI ENGLISH EDITION ENGLISH KATHIMERINI aber zur lieblichen Landschaft zen. Das Vorhaben stößt bei den Gewerk- Alexander-Büste (Computersimulation) des Mittelmeers. schaften auf heftigen Widerstand.

74 der spiegel 36/2002 Ausland

ITALIEN BÜCHER Gesten gegen Die andere Seite Terrorismus der Wahrheit s wird eng für die ehe- ur Hasstiraden hat Oriana Fallaci Emaligen Mitglieder der Nfür jene übrig, die versuchen, Osa- Roten Brigaden und ande- ma Bin Laden und die Attentäter vom

rer italienischer Terror- / AFP / DPA CONTALDO ALESSANDRO 11. September 2001 zu verstehen, insbe- gruppen, die sich vor dem Persichetti nach seiner Auslieferung in Turin sondere für ihren italienischen Lands- Zugriff der Justiz nach mann Tiziano Terzani. Der hatte, im Frankreich gerettet hatten: Ihre über Staatschef François Mitterrand 1985 de- „Corriere della Sera“, den Angriff auf Jahrzehnte feste Fluchtburg ist nicht kretiert, werde Frankreich niemanden Amerika auch mit „dem Gefühl der mehr sicher. Vorvergangenen Sonntag ausliefern. Etwa 100 von insgesamt Ohnmacht des Geplünderten, der tiefen kamen die französischen Behörden zum 140 flüchtigen Aktivisten aus Italiens Demütigung einer ganzen Kultur“ er- ersten Mal einem römischen Ausliefe- blutigen siebziger und achtziger Jahren klärt. Fallaci antwortete mit einer Pole- rungsantrag nach und übergaben den – in denen über 400 Menschen Bomben mik gegen den Islam und westliche 40-jährigen Paolo Persichetti der italie- und Kugeln linker Terroristen zum Op- Multikulti-Träume, die, zu einem Buch nischen Polizei. Weil der Rotbrigadist fer fielen – fanden so im Nachbarland erweitert, Furore macht („Die Wut und an der Ermordung des Luftwaffengene- Unterschlupf. Die neue, konservative der Stolz“). Terzani nennt das Pamphlet rals Licio Giorgieri 1987 beteiligt war, französische Regierung sieht sich nun eine „brillante Lektion in Intoleranz“. wurde er 1991 zu 22 Jahren und sechs an Mitterrands Grundsatz nicht mehr Sein provozierender Artikel ist jetzt Monaten Haft verurteilt. Zuvor aber gebunden. Mitte September wird Itali- ebenfalls in Buchform erschienen: hatte er sich nach Frankreich abgesetzt. ens Justizminister Roberto Castelli sei- „Briefe gegen den Krieg“, zusammen Dort wurde er vorübergehend inhaf- nem Kollegen an der Seine, Dominique mit weiteren Beiträgen tiert, konnte dann jedoch unter dem Perben, 14 neue Auslieferungsanträge zum Thema Terror. Schutz der so genannten Mitterrand- übergeben. Der hat schon deutlich ge- Terzani, langjähriger Doktrin unbehelligt in Paris leben. We- macht, dass aus Paris weitere „Gesten Asien-Korrespondent des gen politisch motivierter Verbrechen, der Solidarität der Europäer gegen den SPIEGEL, lebt seit 1999 so hatte der ehemalige sozialistische Terrorismus“ zu erwarten seien. vorwiegend im indischen Himalaja in einer Hütte ohne Strom, Wasser und Telefon. Der Anschlag ATOM-ABRÜSTUNG auf das World Trade Center und vor allem die Unverminderte Gefahr Reaktion auf seinen offe- nen Brief trieben ihn liche Material noch immer in un- wieder nach Pakistan und Afghanistan – zureichend gesicherten Lagern zum Schreiben. Seine Beobachtungen wie zum Beispiel dem Atom- unterscheiden sich von denen der meis- komplex Majak im Südural. Eine ten westlichen Reporter. Er schildert, 1999 installierte deutsch-rus- wie das Ende der Taliban-Herrschaft sisch-französische Arbeitsgruppe mitnichten überall Jubel auslöste, denn hatte den Vorschlag geprüft, die die Glaubenskrieger hatten vielerorts nie in Betrieb genommene Ha- korrupte Kriegsfürsten vertrieben. nauer Brennelementefabrik in Stammesführer missbrauchten von Majak aufzubauen, dort das Plu- Amerikanern ausgegebene Satelliten- tonium zu Brennelementen zu telefone, indem sie Bombenangriffe auf verarbeiten und damit in eu- Rivalen auslösten. Solche Attacken töte- ropäischen Reaktoren Strom zu ten Hunderte und verwandelten gemä-

ANATOLY SEMEKHIN / ITAR-TASS / BILDERBERG SEMEKHIN / ITAR-TASS ANATOLY erzeugen. Danach wäre das Plu- ßigte Muslime in Fanatiker. „Der Lei- Russische Atomanlage in Majak tonium nicht mehr waffenfähig. denschaften Herr zu werden, scheint Weil die Kernkraftwerke den mir ungleich schwieriger, als die Welt wei Jahre nach der Einigung der Brennstoff kaufen müssten, hätten sich mit Waffengewalt zu erobern“, zitiert Zbeiden Atommächte USA und Russ- die Kosten der Plutoniumvernichtung Terzani Mahatma Gandhi. Politik, darin land, ihr nukleares Spaltmaterial dras- halbiert. Doch die rot-grüne deutsche stimmt er mit dem deutschen Politolo- tisch zu verringern, ist noch kein Kilo- Regierung mochte sich aus Rücksicht gen Ekkehart Krippendorf überein, ent- gramm des Waffenplutoniums unschäd- auf ihre atomkritischen Anhänger für stehe in ihrer höchsten Form aus der lich gemacht – und das liegt zumindest diese Lösung nicht erwärmen. Deshalb Überwindung der Rache. Oriana Fallaci zum Teil an der rot-grünen Bundesre- verscherbelte Siemens die Hanauer Fa- aber sieht sich selbst als eine Art Ra- gierung. Die USA und Russland waren brik für ein paar Millionen Euro nach chegöttin; sie spricht Zweiflern wie Ter- im September 2000 übereingekommen, Japan statt nach Russland. Jetzt wird zani die Menschenwürde ab. parallel je 34 Tonnen des Bombenstoffs die Plutoniumentsorgung wesentlich zu vernichten. Weil Russland aber die teurer. Moskau müsste eine neue Tiziano Terzani: „Briefe gegen den Krieg“. Aus dem dafür nötigen zwei Milliarden Dollar Brennelementefabrik in England kaufen Italienischen von Elisabeth Liebl. Riemann Verlag, Mün- nicht aufbringen kann, liegt das gefähr- – für rund 400 Millionen Dollar. chen; 224 Seiten; 16,90 Euro.

der spiegel 36/2002 75 Ausland DYLAN MARTINEZ / REUTERS (L.); / REUTERS MARTINEZ DYLAN DI LAURO / AP (M.); MARCO (R.) SHERWOOD.IT Ausschreitungen in Genua: „Vielleicht sind wir in etwas reingeraten, das viel größer ist als wir“

ITALIEN V-Männer im Schwarzen Block Die juristische Aufarbeitung der blutigen Straßenkämpfe beim G-8-Gipfel in Genua enthüllt: Um brutale Prügel-Orgien zu rechtfertigen, haben Italiens Ordnungshüter gelogen und gefälscht.

s war eine blutige Schlacht. Kiefer orgien. Über 400 Demonstranten wurden Noch sind die Genueser Amtsjuristen splitterten, Arme und Beine brachen, verhaftet, fast 600 verletzt, einer durch eine mit ihrer Arbeit längst nicht fertig. Doch EKöpfe platzten auf. Nahkampf-Profis Polizeikugel getötet. Entsetzt verfolgte schon jetzt brachten sie Ungeheuerliches der italienischen Polizei stürmten ein ganz Europa das Chaos an den Fernseh- ans Licht, etwa zum Auftritt der Staats- Schulgebäude, in dem junge Menschen aus schirmen. macht in der Pascoli-Schule. ganz Europa sich gerade zur Nacht bette- 13 Untersuchungsverfahren wurden seit- Der Einsatz habe gefährlichen, schwer ten. Die Stadt hatte ihnen das Quartier zu- dem eingeleitet. Einige davon, vom Parla- bewaffneten Krawallmachern gegolten, gewiesen. ment oder vom Innenminister initiiert, hatten die Behörden ihr rüdes Vorgehen „Wie unter Drogen“, sagt ein 21-jähriger folgten brav den politischen Vorgaben, begründet. Polizeifahrzeuge seien zuvor deutscher Zivildienstleistender, hätten die dass außer einigen persönlichen „Fehlern mit Steinen beworfen und während der Polizisten dort mit ihren Schlagstöcken und Versäumnissen“ (so das Mehrheits- Aktion 17 Beamte verletzt worden, einer gewütet. 93 Männer und Frauen wurden votum des Parlamentsberichts) in Genua davon beinahe tödlich. aufgegriffen und verhaftet, 62 von ihnen alles seine Ordnung hatte. Schließlich Auf einer internationalen Pressekon- mussten im Krankenwagen abtransportiert war Vizepremier Gianfranco Fini von der ferenz präsentierten die Behörden ein- werden, viele schwer verletzt auf Intensiv- postfaschistischen Alleanza Nazionale drucksvolle Belege: Furchtbare Schlag- stationen. seinerzeit selbst im Lagezentrum der Poli- waffen wie Spitzhacken und schwere Trauriger Höhepunkt eines politischen zei. Und Regierungschef Silvio Berlusconi Metallrohre hatten sie im Schulgebäude si- Sommerwochenendes in Genua: Vom 20. hatte sogleich unmissverständlich erklärt: chergestellt. Dazu zwei Molotow-Cocktails, bis 22. Juli vorigen Jahres hatten sich die „Ich stehe zur Polizei.“ Drei hohe Of- benzingefüllte Flaschen mit einer Wirkung Regierungschefs der sieben führenden fiziere der Genua-Einsatzleitung wurden fast wie Handgranaten. westlichen Industrienationen und Russ- in andere, gleichrangige Jobs versetzt. Nur, den Vernehmungen und Ermittlun- lands zum Meinungsaustausch versammelt. Das war’s. gen der Staatsanwaltschaft hielt die amtliche Etwa 300000 Menschen kamen zusammen, Die zuständigen Staatsanwälte machten Kriminalstory nicht stand. Stück für Stück um gegen die Politik der „Großen Acht“ zu es sich nicht so einfach. Sie vernahmen Po- kam heraus: Die polizeilichen Beweise demonstrieren. Auch die Staatsmacht war lizisten und Demonstranten, sichteten Fo- waren getürkt, der Anlass für den mit- mit mehr als 15000 Soldaten und Polizisten tos, werteten Videos aus und stellten erst ternächtlichen Einsatz war frei erfunden. vor Ort. Krawalle wie kurz zuvor beim EU- einmal das Gros der von der Polizei ange- So gab der Beamte, der den Steinhagel ge- Gipfel im schwedischen Göteborg sollte es strengten Strafverfahren gegen Teilnehmer gen die Polizei im Protokoll persönlich ver- in Genua nicht geben. der Protestaktionen ein. Nach einem Mo- bürgt hatte, am Ende an, er habe von dem Es kam viel schlimmer. Der G-8-Gipfel nat eröffneten sie acht neue Ermittlungs- Vorfall nur von einem Kollegen gehört, des- endete in Straßenschlachten und Gewalt- komplexe – gegen 148 Polizeibeamte. sen Name ihm leider entfallen sei.

76 der spiegel 36/2002 Getöteter Globalisierungsgegner Giuliani, suspekte Demonstranten*: Gab es einen zweiten Schützen?

Die Steine, hätte es sie denn gegeben, te. Der Schnitt könne nicht bei einem An- es „in der jüngeren Geschichte Europas wären ohnehin zu spät geflogen. Die Poli- griff entstanden sein, die Jacke müsse auf nicht mehr erlebt“ habe. Die Arbeit der zeiführung hatte schon am Vormittag die dem Boden oder auf einem Tisch gelegen Staatsanwaltschaft stützt diesen Befund. Aktion beschlossen. haben. Nur eine Gruppe unter den vielen tau- Die stolz präsentierten Molotow-Cock- Die Ordnungshüter seien „Opfer gewal- send „No Global“-Protestierern entkam tails erkannte der stellvertretende Polizei- tiger Aggressionen“ gewesen, hatte Poli- den Attacken der Ordnungshüter regel- chef von Bari, Pasquale Guaglione, auf Fo- zeichef Gianni De Gennaro beharrlich be- mäßig: der im Polizeijargon „Schwarzer tos und Videos wieder. Er selbst hatte sie hauptet. Es habe der Gewalt bedurft, „um Block“ genannte internationale Schläger- am Nachmittag in der Stadt, in einem Ge- auf die Gewalt zu antworten“. Die juristi- trupp, der seit etlichen Jahren bei vielen büsch, gefunden und sichergestellt. Ein sche Aufarbeitung des blutigen G-8-Gipfels Demonstrationen mitmischt, egal, wogegen hochrangiger Polizeioffizier hatte sie am zeigt indes ein anderes Bild. Polizeieinhei- es geht. Die schwarz gekleideten und ver- Abend dann eigens zur Schule gebracht, ten haben grundlos geschlagen und getre- mummten Krawallos zerschlugen Schau- was Amateurvideos belegen. In wessen ten, friedliche Demonstranten brutal nie- fenster und Mobiliar von 34 Banken, 126 Auftrag er das tat, ist nicht geklärt. Das dergeknüppelt, arglose Passanten mit Trä- Geschäften, 6 Supermärkten, 9 Postämtern Video zeigt nur, wie sich nahezu die kom- nengas beschossen. und steckten laut offizieller Bilanz 226 Au- plette Führung des italienischen Sicher- Nicht nur in der Pascoli-Schule, auch in tos an. Doch seltsam, obwohl sie ihr Unwe- heitsapparats die brennbaren Mitbringsel den Straßen Genuas und in den Zellen der sen oft nur wenige Meter neben einer mar- vor dem Einsatz interessiert zeigen lässt. Bolzaneto-Kaserne, in der Demonstranten tialisch ausgerüsteten Polizeimacht trieben, Auch die Spitzhacken und Metallrohre auf das Übelste malträtiert wurden, hatte wurde von den Schwarz-Block-Randalie- waren keine Waffen gewalttätiger Demon- der italienische Rechtsstaat sich vorüber- rern nicht einer auf frischer Tat verhaftet. stranten, sondern Werkzeuge von Bauar- gehend abgemeldet. Bei manchen Einsät- Und noch etwas war eigenartig. Im ver- beitern, die während der Sommerferien die zen führten sich die Ordnungshüter wie meintlich linksradikalen Randalehaufen, so Schule renovieren sollten. Sie lagerten in Schergen eines Dritte-Welt-Diktators auf. viel ist inzwischen klar, mischten Dutzende einem verschlossenen Raum, den, wie sich In Genua seien „die Menschenrechte in rechtsradikaler Schläger mit. Die Polizei herausstellte, erst die Polizei aufbrach. einem Ausmaß verletzt worden“, resü- wusste vorher darüber bestens Bescheid. In Bei der Befragung der 17 angeblich ver- mierte die Gefangenenhilfsorganisation einem internen Dokument, später in Zei- letzten Polizisten wollten 15 plötzlich kei- Amnesty International nach einer Befra- tungen veröffentlicht, beschreiben die Si- ne Aussage mehr machen. 2 gaben an, sie gung von Zeugen aus 15 Ländern, wie man cherheitsbehörden noch vor dem G-8-Gip- hätten sich durch eine Ungeschicklichkeit fel, wie Mitglieder der Neonazi-Gruppen selbst verletzt. „Forza Nuova“ und „Fronte Nazionale“ Nur der Beamte Massimo Nucera blieb sich unter die Anarchistentruppe mischen standhaft: Ein Mann habe ihn in der Schu- und Randale machen wollten, um „die Lin- le mit einem Messer angegriffen, nur dank ken“ in Misskredit zu bringen. Konsequen- seiner kugelsicheren Weste lebe er noch. zen hatten diese Erkenntnisse wohl nicht. Der Täter sei leider entkommen, habe aber Im Gegenteil. Englische Gesinnungsge- das Messer fallen lassen. Und der große nossen wurden von den Italo-Schlägern Schnitt quer durch seine Uniformjacke mit dem Hinweis eingeladen, die Polizei wurde im Fernsehen als Beweis in Groß- werde in Genua nichts gegen sie unter- aufnahme gezeigt. nehmen. „Wir könnten alles machen, was Ein Gutachten im Auftrag der Staatsan- wir wollten“, berichtete ein bekennender waltschaft kommt freilich zu dem Schluss, „Nazi aus Birmingham“ einem Zeitungs-

dass diese Geschichte kaum stimmen dürf- LANNI / ROPI MARCO reporter von der glücklichen Verheißung. Vizepremier Fini Neben den Nazis marschierten offen- * Beim Verlassen einer Carabinieri-Kaserne am 21. Juli 2001. Die Beweise waren getürkt bar auch Polizisten im schwarzen Umfeld

der spiegel 36/2002 77 Ausland mit. Ein Foto, verbreitet vom Demo-Ver- te. „Vielleicht“, sinnierte er in einem Zei- anstalter „Genoa Social Forum“, zeigt zum tungsinterview, „sind wir in etwas reinge- Beispiel eine Gruppe von Männern gegen raten, das viel größer ist als wir.“ 16 Uhr an jenem blutigen Samstag auf ei- Rätselhaft blieb bis heute auch, wie der ner Treppe. Einige sind in unauffälliges Zi- Demonstrant Carlo Giuliani, 23, ums Le- vil gekleidet, andere schwarz vermummt ben kam. und mit Stöcken bewaffnet, einer trägt Uni- Auf der Piazza Alimonda, im Zentrum form und Polizeihelm. Einträchtig kommen der norditalienischen Hafenstadt, wurde sie gerade aus einer Carabinieri-Kaserne. ein Carabinieri-Jeep von gewalttätigen De- Das italienische Fernsehen zeigte heim- monstranten rüde attackiert. Einer, Giu- lich gefilmte Szenen, in denen sich offen- liani, fand einen Feuerlöscher auf dem Bo- kundige Anarcho-Kämpfer mit Unifor- den, hob ihn in die Höhe und setzte an, ihn mierten treffen, eine Zigarette rauchen, durch das zerschlagene Heckfenster ins Po- plaudern – und wieder in den Straßenkrieg lizeifahrzeug zu schleudern. Da schoss der ziehen. im Wagen sitzende 20-jährige Carabiniere Auch der Regisseur Davide Ferrario, 46, Mario Placanica. Aus Angst und in Not- versichert, er habe traute Zusammenkünf- wehr, wie er sagt. te von Polizisten mit Maskierten, wie sie im Carlo Giuliani fiel aufs Pflaster, aus sei- Schwarzen Block herumlaufen, beobachtet nem Kopf quoll ein dicker Blutstrahl. Der und teilweise mit einer Videokamera ge- Jeep, plötzlich in hastiger Rückwärtsfahrt, filmt, bis er von der Polizei verjagt wurde. überfuhr den Sterbenden. Einer der vermeintlichen Straßenkämpfer Was anfangs klar und durch Fotos und habe sich sogar „eine Polizeimarke um den Filmaufnahmen gut belegt schien, wurde Hals gehängt“, ehe er sich einem Trupp im Laufe der Ermittlungen immer wider- Uniformierter näherte. sprüchlicher. Zweimal habe er geschossen, Der damalige Innenminister Claudio gab der junge Carabiniere zu Proto- Scajola hatte stets behauptet, in Genua habe ein Heer von 5000 Black-Block-Kra- wallos Krieg geführt. Doch die Staatsan- wälte Anna Canepa und Andrea Canciani bestätigten inzwischen nach Auswertung Hunderter von Fotos, Filmaufnahmen und Zeugenaussagen, was viele Beobachter schon vermutet hatten: Der harte Kern zählte kaum mehr als 200 Köpfe. Die freilich durften ungehindert Teile der Stadt zerstören und in den brennenden Straßen aufreizende Parademärsche mit Trommeln und Fahnen veranstalten. Die Ordnungsmacht griff erst ein, nachdem die

Schlägertrupps sich zurückgezogen hatten. PRESS / ACTION REX FEATURES Dann schoss die Polizei mit Tränengas in Ministerpräsident Berlusconi die verbliebene Menge der Demonstranten „Ich stehe zur Polizei“ und knüppelte nieder, was auf den Straßen war, darunter junge Katholiken, die die koll. Zwei Geschosshülsen wurden ge- Globalisierungskritik von Papst Johannes funden. Doch eine davon, so das ballisti- Paul II. nach Genua tragen wollten. sche Gutachten, passt nicht zur Waffe des Aber nicht nur die Polizei verhielt sich jungen Polizisten. Gab es einen zweiten rätselhaft, auch die militante schwarze Schützen? Schar agierte ungewöhnlich. Sie attackier- Eineinhalb Meter neben dem Auto be- te andere Demonstranten und Journalisten fand sich Guiliani, als er tödlich getroffen und fackelte entgegen ihren sonstigen wurde, sagt ein Gutachten. Ein Videofilm Allüren und Bekenntnissen nicht nur dagegen zeigt deutlich, dass Giuliani min- „Bonzenautos“ ab, sondern auch verbeul- destens drei, eher vier Meter vom Heck te Arme-Leute-Karossen. des Fahrzeugs entfernt war. Vor allem versuchte sie überhaupt nicht, Woher stammt der Feuerlöscher? Aus zur verbotenen „Roten Zone“ vorzudrin- dem Jeep? Wie ging die Heckscheibe des gen, in der die Staatenlenker speisten und Jeeps kaputt? Von innen oder von außen? diskutierten. Die vermummten Schläger Und warum griffen mehrere Dutzend Be- randalierten in den Außenbezirken und lie- amte, die in Reih und Glied mit Schild und ferten der Polizei so die willkommenen An- Schlagstock 50 Meter neben dem attackier- lässe, schon dort gegen Zigtausende Anti- ten Auto ihrer Kollegen standen und der Globalisten vorzugehen – weit entfernt Randale zuschauten, nicht ein? vom Sperrbezirk. Zufall, Unfähigkeit oder Die Aufklärung ist schwierig. Beam- Strategie? te der Spurensicherung brauchten da- Selbst ein 28-Jähriger, aus Nürnberg an- mals zwei Tage, bis sie am Tatort waren. gereister Black-Block-Randalierer, staunte Schneller war die Straßenreinigung. Die im Rückblick, wie unbehindert er mit sei- hatte schon längst alle Spuren besei- nen Freunden zündeln und zerstören durf- tigt. Hans-Jürgen Schlamp

78 der spiegel 36/2002 Werbeseite

Werbeseite Ausland

sagt der Schriftsteller und Unternehmer Zhang Xianliang, 65, aus dem Gebiet Ning- xia, der mit seinen Romanen über Chinas Arbeitslager bekannt geworden ist. Die Bonzen seien in der Regel konservativ und schlecht qualifiziert, „sie kennen nur die Macht, aber nicht das Recht“. Verwunderlich ist dies nicht: Die Vorge- setzten in Peking sind schlechte Vorbilder. Trotz ihres Versprechens, auf dem 16. Par- teitag ihre Posten an Jüngere abzugeben und damit erstmals in der Geschichte der Volksrepublik einen reibungslosen Wechsel zu bewerkstelligen, klammert sich die alte Garde an Amt und Würden. So will Parteichef Jiang Zemin – obwohl schon 76 Jahre alt – zumindest für eine Übergangszeit weiter die KP, die mächtige Militärkommission und das für die Taiwan- MICHAEL WOLF / VISUM MICHAEL WOLF Bauern bei Feldarbeit in Shaanxi: „Wir leben von der Hand in den Mund“

CHINA Lauer Wind In den armen Zentralprovinzen am Gelben Fluss wächst der Hass auf die korrupte KP. Die will sich auf dem 16. Parteitag erneuern – aber Parteichef Jiang Zemin klebt an seinem Sessel.

och über den Maisfeldern liegt auf nur darum, ob wir Kleidung, Nahrung und einem Lössberg der alte „Tempel das Schulgeld bezahlen können“, sagt ein Hder südlichen reichen Ernte“. In Gastwirt, der ein kleines Restaurant an den NIU / REUTERS GUNAG der Mitte der Anlage graben einige Männer Wasserfällen des Gelben Flusses stromab- KP-Vorsitzender Jiang ein tiefes Loch: das Fundament für eine wärts bei der Stadt Hukou betreibt. „Ob „Krähe auf einem trockenen Ast“ neue Pagode. „Neun Stockwerke, 30 Me- ein Jiang Zemin oder ein Hu Jintao Par- ter hoch wird sie“, berichten sie stolz. teichef wird: Für uns ändert sich nichts“, Politik verantwortliche Gremium führen, Es ist ein Verzweiflungsakt, den die sagt auch ein Arbeiter in der früheren Re- heißt es in Peking. Allenfalls das Amt des Menschen am Gelben Fluss in der Zen- volutionsmetropole Yan’an. Staatspräsidenten mag er KP-Kronprinz tralprovinz Shaanxi vollbringen. Mit dem Nach Ansicht der Bauern tragen viele Hu Jintao, 59, überlassen. Bau des Turms wollen sie höhere Mächte KP-Genossen eine gehörige Portion Mit- Jiang fürchtet offenbar, dass sich die Ge- gnädig stimmen. Die Anwohner von 18 schuld an ihrer Misere. Hilfsgelder aus nossen ohne ihn schnell wieder von seiner Dörfern kratzten dafür ihre Ersparnisse zu- Peking, so munkeln sie, landen nicht bei Theorie der „Drei Repräsentationen“ ver- sammen. Denn, so sagt Gao Yan, einer der den Ärmsten, sondern in den Taschen abschieden, die er im November sogar ins Arbeiter am Tempel: „Es geht uns nicht lokaler Funktionäre. Und anstatt Bewäs- Parteistatut schreiben lassen will. Um den gut, die Dürre ist einfach zu lang.“ serungskanäle, Kliniken und Schulen zu Genossen eine breitere Machtbasis zu ver- Die Götter und nicht die Genossen sind bauen, kaufen sich Kader protzige Dienst- schaffen, soll sie in Zukunft die „fort- für die Bauern letzte Hoffnung. Wenige wagen und errichten luxuriöse Amtsge- schrittlichen Produktivkräfte, die progres- Wochen vor dem 16. Parteitag in Peking, bäude, wo sie Freunde und Verwandte mit sive Kultur und die fundamentalen Inter- der nach Querelen in der Machtelite auf einträglichen Staatsjobs versorgen. essen des Volkes“ vertreten. Im Klartext Anfang November verschoben wurde und Zudem pressen die „kleinen Diktato- heißt das: Die KP will in dem von ihr prak- wie ein „lauer Frühlingswind“ („Volkszei- ren“ der Landbevölkerung zu viele Steuern tizierten Kapitalismus nicht mehr nur die tung“) das Land beglücken soll, könnte die und Gebühren ab. „Wir müssen für alles Partei der Arbeiter, Bauern und Soldaten, Stimmung der Bürger in Chinas Kernland Mögliche bezahlen“, klagt Bäuerin Wang sondern auch der privaten Unternehmer kaum schlechter sein. Mei, 40, die mit ihrem Mann einen kleinen und der wachsenden Mittelklasse sein. Schuld daran sind nicht nur Naturkata- Hof auf einer braunen Terrasse in windiger Schon bläst Jiang der Wind heftig ins strophen wie die Dürre in Shaanxi oder die Höhe am Gelben Fluss bewirtschaftet. Gesicht; Linke wie Liberale fühlen sich jüngsten Überschwemmungen am Jangtse: „Mal sind es 30 Yuan, mal 50.“ Wang: „Wir verraten. Heftige Kritik äußerte jetzt Bao Trotz aller Beschwörungen über die „un- leben von der Hand in den Mund.“ Tong, 66, früher Sekretär des vor dem verbrüchliche Einheit“ zwischen Partei und Die zerklüfteten Lösshänge am Gelben Tiananmen-Massaker 1989 gestürzten Par- Volksmassen, mit denen die KP ihren Kon- Fluss – der als „Mutter der Nation“ ge- teichefs Zhao Ziyang: Jiangs Theorie sei gress derzeit propagandistisch einläutet, hat priesene Strom, an dessen Ufer der legen- nicht der Beginn einer neuen Epoche, son- sich eine tiefe Kluft aufgetan zwischen de- däre Gelbe Kaiser herrschte – gehören zu dern sie gleiche einer „sterbenden Krähe nen da unten und denen da oben. den rückständigsten Regionen Chinas. Ei- auf einem trockenen Ast im Sonnenunter- „Mit uns hat der Parteitag nichts zu tun. nes der „größten Hindernisse für die Ent- gang“. Denn längst sei die KP „eine Partei Wir sind einfache Leute. Wir sorgen uns wicklung“ seien die Funktionäre vor Ort, der Reichen und Mächtigen geworden“,

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Werbeseite klagte er in einem Essay, den er trotz stren- ren. Als Lockmittel winkte die Fifa ger Überwachung an Gleichgesinnte ver- zusätzlich mit einer Million Dollar. schicken konnte. Das Regime, so Bao, un- Erfolgreich: Seit August jagen 20 terdrücke systematisch die Interessen der Mannschaften, einige von ihnen Bevölkerungsmehrheit: die von Arbeitern, rein serbisch, unter zuweil illustren Erwerbslosen und Bauern. Namen wie „Buduƒnost“ (Zukunft) Beispiel Zizhou, eine Kleinstadt in der oder „Slobodna“ (Freiheit) nach Nähe des Gelben Flusses: In dem Provinz- dem gesamtbosnischen Titel. Den nest scheint die Zeit in den siebziger Jah- besten Start erwischte „µiroki Bri- ren stehen geblieben zu sein. Die Bewoh- jeg“, der Hohe Hügel. Das vereinte ner leben in grauen Mietskasernen, das Bolzen bringe „ein Stück Norma- staatliche Kaufhaus ist längst geschlossen. lität“, heißt es im Umfeld des Ho- Der Kulturpalast, einst Hort revolutionärer hen Repräsentanten Paddy Ash- Opern, verstaubt. Das ungewöhnlich große down. Illusionen macht man sich neue Polizeipräsidium des Ortes deutet gleichwohl nicht: Dass damit etwa darauf hin, dass in Zizhou etwas nicht in auch die Widerstände gegen die ge- Ordnung ist. Und tatsächlich: Vor wenigen plante gemeinsame Armee, eines Jahren haben sich die Bauern gegen die der wichtigsten Projekte der inter- Partei aufgelehnt. nationalen Gemeinschaft, schwin- Zu unverschämt waren die Kader bei den, wird allgemein bezweifelt.

der Suche nach neuen Einnahmequellen / AP RADOVANOVIC SAVA Schon die ersten Begegnungen in geworden und hatten immer neue Steuern Serbische Fans in Sarajevo: „Hier ist Großserbien“ der neuen Liga, in der Profis und und Abgaben erfunden: für das Grasen von Amateure spielen, sorgten für Auf- Ziegen, das Füttern von Eseln, für das An- regung. Nach dem Match zwischen den pflanzen von Apfelbäumen, für die Stadt- BOSNIEN Mannschaften Çelik (Stahl) und Borac planung, Milizen, Armee, Geburtenkon- (Kämpfer) ging es ebenso kämpferisch wei- trolle und Straßenpflege. Bolzen mit Risiko ter: Aufgebrachte muslimische Çelik-An- Das Unerhörte geschah. Mit Hilfe von hänger attackierten den Bus der gegneri- Rechtsanwälten, Lehrern und Journalisten Erstmals seit dem Krieg spielen schen Fans mit Steinen. Die Polizei am erzwangen die Bauern in der nahe gelege- Austragungsort in Zenica hatte Mühe, die nen Bezirkshauptstadt Yulin ein Gerichts- 20 Fußballteams wieder in einer Meute zu trennen. Zuvor hatten serbische urteil, das die Abgabenlast halbierte. Doch gemeinsamen bosnischen Liga. Fans ihren Schlachtruf gebrüllt: „Karad¢iƒ für die friedliche Revolte, der sich zeitwei- Nationalisten suchen die sportliche Karad¢iƒ! Wir werden Zenica zu Grunde se Tausende Bauern anschlossen, musste Eintracht zu torpedieren. richten.“ Der untergetauchte Serbenfüh- einer bezahlen: Der Lehrer Ma Wenlin, rer steht ganz oben auf der Fahndungsliste der die Bauern beraten hatte, landete we- ußball ist Kampf. Auf dem Rasen wie der Sfor-Friedenstruppe. Nicht als Mas- gen „Störung der sozialen Ordnung“ für am Verhandlungstisch. Deshalb ist kottchen, sondern als Kriegsverbrecher. fünf Jahre hinter Gittern. FVincent Monnier geschafft, jahrelang „Jedes Spiel birgt zurzeit ein Risiko“, Wut und Enttäuschung über solche Will- stritt und zerrte der Fifa-Emissär. „Es war sagt Mehmed Spaho vom bosnischen Fuß- kür haben sich inzwischen bis in die von ein nervenaufreibender Prozess“, schildert ballverband. Auch kämen nicht in allen Zizhou 140 Kilometer entfernte Wiege der er den erbitterten Widerstand, den es zu Vereinen die besten Spieler zum Zuge, son- Revolution von Yan’an gefressen, wo Mao überwinden galt. Nach drei Jahren war der dern die der richtigen ethnischen Gruppe. und seine Genossen 1935 nach dem Langen Deal perfekt: In dieser Saison kickt Bos- Noch immer erschwert Misstrauen zwi- Marsch in Höhlenwohnungen ihr Quartier nien-Herzegowina, seit dem Dayton-Frie- schen Muslimen, Kroaten und Serben den aufgeschlagen hatten. „Wir sind so arm, densabkommen in ein serbisches und mus- Weg in eine gemeinsame Zukunft. Selbst weil wir das falsche politische System ha- limisch-kroatisches Gebiet geteilt, in einer führende Politiker tun sich schwer, die Vor- ben“, klagt Zhu Wei, der in einem der zu einheitlichen Liga. urteile auszuräumen. Jugoslawiens Präsi- Museen umgestalteten „Revolutionsstütz- Sieben Jahre nach dem Ende des jugo- dent Vojislav Ko∆tunica etwa unterließ es punkte“ Andenken verkauft. Gefordert sei slawischen Erbfolgekriegs hintertreiben bei seinem Besuch in Sarajevo Mitte Juli, radikaler Wandel: „Die KP ist zu korrupt serbische Nationalisten noch immer den sich für serbische Kriegsverbrechen im und deshalb nicht zur Reform fähig. Wir gemeinsamen Staat, sähen sich lieber ver- Bosnien-Krieg zu entschuldigen. In der brauchen ein Mehrparteiensystem.“ eint mit den serbischen Brüdern in Rumpf- bosnischen Presse hagelte es dafür harsche Inzwischen hat auch die Parteispitze er- Jugoslawien. So weigerten sich Politiker Kritik. kannt, dass sie sogar in ihrem Kernland und Sportfunktionäre aus der Republika Was in der Politik nicht überwunden ist, den Rückhalt verliert. Denn wenn erst die Srpska, dem gesamt-bosnischen Fußball- kocht beim Fußball hoch: Ernüchternd Regeln der Welthandelsorganisation grei- verband beizutreten. Erst war die Bilanz der ersten fen und China billige Agrarprodukte aus nach der Auslieferung des KROATIEN Partie der Nationalmann- den USA und aus Europa importieren Ex-Präsidenten Jugoslawi- schaften Jugoslawiens und muss, dürfte das Einkommen der 800 Mil- ens, Slobodan Milo∆eviƒ, Banja Luka Bosniens seit Kriegsende. lionen Bauern noch weiter hinter das der Symbolfigur für ein Groß- Es gab 44 Verletzte. Wäh- Boomregionen an der Küste zurückfallen. serbien, an das Kriegsver- BOSNIEN-HERZEGOWINA rend des Spiels in Sarajevo Der Schanghaier Wissenschaftler Cao brecher-Tribunal in Den Zenica grölten die Jugo-Anhän- Jingqing, der lange Zeit am Gelben Fluss Haag „wurden die Ver- Sarajevo ger, darunter zahlreiche die Stimmung erkundete, sieht schlimme handlungen nicht einfach“, JUGOSLAWIEN Fans aus der Serben-Re- Folgen voraus, falls die Partei die Bauern resümiert Monnier, „aber Republika publik: „Hier ist Groß- weiterhin als Bürger zweiter Klasse be- immerhin leichter“. Ohne Srpska serbien.“ Die Bosnier, mit handelt. Die Landleute, warnt er, seien wie Entgegenkommen, so die 0:2 unterlegen, konterten: Muslimisch- 50 km der Strom: „Oft sehr gemächlich, aber fähig Warnung, keine Teilnahme Kroatische „Allahu Akbar“, Allah ist zu enormer Gewalt.“ Andreas Lorenz an internationalen Turnie- Föderation groß. Marion Kraske

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Werbeseite Ausland ACTION PRESS ACTION Containerschiff „Zim Antwerp I“ (am vergangenen Donnerstag im Hamburger Hafen): Tipp von den Amerikanern?

Panzer- und Flugabwehrraketen 1985 im sen. Denn Weinstein-Schwager Cohen war WAFFENHANDEL Rahmen der Iran-Contra-Affäre. schon damals einschlägig aktenkundig. Gerald Steinberg, Sicherheitsexperte am 1992 hatte die portugiesische Polizei im Alte Bekannte israelischen Begin-Sadat-Zentrum für Stra- Hafen von Lissabon ein Versteck mit isra- tegische Studien: „Es gibt ein übergeord- elischen Panzermotoren entdeckt, die nach In Hamburg wurde eine netes politisches Interesse an informellen Iran verschifft werden sollten. Organisator Beziehungen zu Iran – in Erwartung eines der Lieferung: Eli Cohen. Der gestand, Lieferung israelischer Panzerteile Wandels der iranischen Politik gegenüber Panzer und auch Hawk-Luftabwehrrake- für Iran gestoppt. Indizien Israel.“ Hinzu komme, dass die durchaus ten illegal exportiert zu haben. Dennoch deuten darauf hin, dass Jerusalem stattlichen Gewinne aus solchen Geschäf- kam er verdächtig glimpflich davon: Ein die Waffenschieberei deckt. ten Jobs in der überdimensionierten Rüs- israelisches Gericht verurteilte ihn wegen tungsindustrie Israels sicherten. Waffenhandels und Steuervergehen zu drei ls Avichai Weinstein am Donners- Weinstein ist auch keineswegs in Haft – Monaten Haft auf Bewährung und einer tag der vergangenen Woche mit wie die israelische Zeitung „Maariv“ unter geringen Geldstrafe. Aseinem Anwalt sprach, gestand er Berufung auf seinen Anwalt Chaim Misgav Erstaunlicher noch: Cohen durfte weiter nur eines: „Es tut mir weh, dass ich ver- meldet, ist er bereit, der Polizei Rede und mit Waffen handeln. Auch im Jahr 2000, dächtigt werde, gegen die Sicherheits- Antwort zu stehen. nachdem er und Weinstein mit der Liefe- interessen Israels gehandelt zu haben. Ich Entsprechende Erfahrungen hat Wein- rung des kanadischen Militärgeräts aufge- arbeite schon lange mit dem Verteidi- stein bereits. Schon vor zwei Jahren war er flogen waren, zeigten sich die Behörden gungsministerium zusammen und verkau- beschuldigt worden, 1996/97, gemeinsam milde. Weinsteins Exportlizenz wurde zwar fe kein Rüstungsmaterial an Feinde des mit seinem Schwager Eli Cohen, kanadi- eingezogen – aber nur für kurze Zeit. Dann Staates Israel.“ sches Militärequipment über Großbritan- erhielt er sie zurück, und seine Firma PAD Schwer zu glauben. Am letz- war als Partner des Verteidigungsministe- ten Donnerstag bestätigten deut- riums wieder hoffähig. Und das, obwohl sche Behörden, was tags zuvor die PAD offiziell mit Immobilien handelt. in israelischen Zeitungen ge- Die Version der Israelis, sie seien jetzt standen hatte. Zollbeamte hat- von Weinstein getäuscht und ausgetrickst ten im Hamburger Hafen zwei worden, scheint, angesichts der Vergan- Container mit Panzerkettenglie- genheit des Händlers, kaum glaubhaft. dern entdeckt, die Weinstein mit Hinzu kommt: Schon die Angabe „Thai- dem Frachter „Zim Antwerp I“ land“ in Weinsteins Exportantrag hätte die von Israel aus verschifft hatte. Experten im israelischen Verteidigungsmi- Laut Weinstein waren sie für nisterium sofort misstrauisch machen müs- Thailand gedacht – das israeli- sen. Denn Panzerketten wie die in den sche Verteidigungsministerium Containern produzieren die Thais selbst. hatte eine entsprechende Ex- Doch auch die Darstellungen deutscher

portgenehmigung erteilt. Nach REUTERS Behörden sind widersprüchlich. Laut Zoll Angaben des deutschen Zolls Iranische M-113: Geheime Geschäfte mit Tradition war der Fund im Hamburger Hafen Er- sollten die Panzerteile „in den gebnis einer Routinekontrolle. In der In- Iran weitertransportiert werden“ – mit dem nien, Holland, Belgien und Singapur in den nenbehörde der Hansestadt ist dagegen Frachter „Iran Baakeri“. Empfänger: die Fir- Mullah-Staat geliefert zu haben. von einem Tipp der Amerikaner der Rede. ma „Ana-Trading“ – mit Sitz in Iran. Der Deal blieb für Weinstein und Cohen Sicher ist: Schon am 15. August hatten Vieles deutet darauf hin, dass die Affä- weitgehend folgenlos. Nach kurzer Unter- Beamte des Kölner Zollkriminalamts in re mehr ist als der mutmaßlich schmutzige suchungshaft wurden beide entlassen. Zu Wahrheit das Finanzministerium in Berlin Deal eines staatlich lizenzierten Waffen- einer Anklage wegen illegalen Waffenhan- gewarnt. Dort glaubte niemand, die händlers. Denn Weinstein stand schon dels kam es nicht. Die Einlassung der Be- Kettenteile seien für landwirtschaftliche früher im Verdacht, Waffen nach Iran ver- schuldigten, sie hätten nicht gewusst, dass Maschinen vorgesehen, wie in den Fracht- schoben zu haben. Und: Von Jerusalem ab- ihre Lieferung in Iran gelandet sei, so die papieren angegeben. Schließlich waren die gesegnete geheime Waffendeals zwischen Untersuchungsrichter, könne kaum wider- Teile baugleich mit jenen, die für US-Pan- Israel und Iran haben Tradition – aller zur legt werden. Dabei hätte ein Blick in die zer vom Typ M-113 benutzt werden. Und Schau gestellten Feindschaft zum Trotz. Akten der alten Bekannten genügt, um von denen hat Iran, aus Schah-Zeiten, Bekanntestes Beispiel: die Lieferung von sämtliche Alarmglocken schrillen zu las- noch 250 Stück. Gunther Latsch

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mit Rattengift, wie es Professor Walter Ha- Professor Graninger nach eingehender Un- SLOWAKEI sibeder von der Uni-Klinik Innsbruck, vor tersuchung binnen zwei Tagen aus dem zwei Jahren – in echter Todesgefahr – Verdacht der Lebensgefahr in die Freiheit Hamlet an der schon einmal Lebensretter Schusters, jetzt entlassen worden – nach Hause, ans ande- nicht auszuschließen wagt? re, slawische Ufer der Donau. Versuchter Präsidentenmord, das ist das Es gibt Dinge, sagen die Slowaken, die Donau Letzte, was der Slowakei derzeit noch fehl- gibt es so nur in der Slowakei. Der erste te. Drei Wochen vor den Parlamentswah- Präsident nach dem Ende der Tschecho- Das Geraune über einen angeb- len rangiert die Partei von Premier Mikulá∆ slowakei etwa, Michal Ková‡, verstrickte Dzurinda unterhalb von zehn Prozent. sich in einen Dauerdisput mit seinem Re- lichen Giftanschlag auf Präsident Sollte der Publikumsfavorit, Ex-Premier gierungschef, dem anti-westlichen Volks- Schuster beschert dem Land Vladimir Me‡iar, wieder das Rennen ma- tribunen Me‡iar. Eines Tages war dann des Nato- und EU-Anwärters neuen chen, stünde für das Land alles auf dem Ková‡s Sohn weg – entführt. Er wurde im politischen Flurschaden. Spiel. Beim Nato-Gipfel in Prag im No- Kofferraum eines in Österreich abgestellten vember und beim EU-Kalkül zur anste- Autos lebend wieder aufgefunden. iftmordversuche hatte ich noch henden Erweiterung schwingt als unver- Nach dem Ende der Amtszeit von Kovᇠnie“, sagt Michal Serbin, der Staats- handelbare Bedingung mit, dass mit Me‡iar gab es für eine Weile gar keinen Präsiden- Ganwalt, und lässt sich in der Es- kein Staat mehr zu machen sein sollte. ten mehr in der Slowakei. Ková‡s Rolle pressobar Trop von Bratislava Pampelmu- Und dann ein Präsident, der in Wähler- übernahm vorübergehend Me‡iar selbst sensaft kommen: „Slowaken bevorzugen umfragen noch auf gut zwei von hundert und erließ dabei, logischerweise, eine Am- normalerweise Messer oder Hammer.“ möglichen Sympathie-Prozenten kommt nestie für alles, was mit der Entführung zu Serbin ist ein kleiner Mann mit Mähne und der am Gift zu Grunde geht? Analysen tun hatte. 1999, endlich, sagten damals vie- und dem Ruf, unter den slowakischen der österreichischen Ärzte, in deren Obhut le, kam Schuster. Anklägern der mit den spektakulärsten Fäl- sich Schuster vergangene Woche begab, Der Waldarbeitersohn mit deutschen len zu sein. Elf Verfahren allein hat er vor- lassen Profaneres vermuten: Eine „hunds- Wurzeln, aufgewachsen in Metzenseifen in bereiten lassen gegen den Ex-Geheim- gewöhnliche“ Sommergrippe könnte der der Zips, verhinderte den Einzug Me‡iars in den Präsidentenpalast – mit ei- ner Biografie, die ihn als Alt-KP- Genossen seit 1964, verdienten Regionalpolitiker, Filmemacher, Sprachgenie und leutselige Sports- kanone ausweist. Einmal im höchs- ten Staatsamt, wurde Schuster mit seinem Begabungsprofil schnell zum Hansdampf in allen slowaki- schen Gassen, geschätzt als kultu- reller Brückenbauer auch und vor allem von Staatsgästen wie Johan- nes Rau. Doch noch nicht einmal ein Jahr im Amt, brach Schuster im Sommer 2000 zusammen. Die Ärzte rätselten und experi- mentierten am lebenden Objekt, Schuster verfiel unter staatlicher PAVEL NEUBAUER / DPA NEUBAUER PAVEL RED DOT / ACTION PRESS / ACTION RED DOT Obhut. „Schlaf süß, wir werden Bratislava, Staatschef Schuster (in der Klinik): „Schlaf süß, wir werden dich rächen“ dich rächen“, flüsterte Tochter In- grid zum Abschied am Bett, und dienstchef Ivan Lexa, der demnächst zum Anlass für die anhaltende präsidentielle am 28. Juni 2000, morgens um 3.20 Uhr, dritten Mal verhaftet werden soll. Malaise sein, ließ sich Professor Ernst Bod- verabreichte der Jesuitenpater Karol Dur- Und dann, vor gut einer Woche, noch ner vernehmen, der in den Neunzigern ‡ek dem Staatschef die Letzte Ölung. das: versuchter Giftmord am Präsidenten schon den maroden Václav Havel an die Dann kamen die Österreicher. Ärzte, der Republik, an Rudolf Schuster? Wieder Spitze Tschechiens zurückoperierte. Spezialisten aus Tirol, die ihn retteten. Sie fällt die Wahl der Staatsanwaltschaft auf Gegen die Theorie vom Schierlingsbe- flogen Schuster nach Innsbruck aus, trotz ihn, Serbin, als obersten Ermittler. cher spricht auch das Urteil des Wiener Multiorganversagens in Folge eines Darm- In ein Schwesternzimmer des Militär- Professors Wolfgang Graninger. Er, für ge- durchbruchs, und päppelten ihn wieder in krankenhauses von Bratislava wird er zi- lebten Stoizismus legendär, hatte 1996 sein Amt zurück. Schon damals erstattete tiert, wo unweit des siechen Staatspräsi- Österreichs Staatsoberhaupt Thomas Kles- die Familie Schuster Strafanzeige – gegen denten und eines Bataillons ratloser Ärzte til tagelang in den Tiefschlaf versetzt und die behandelnden slowakischen Ärzte, de- der Präsidentensohn Peter eine Anzeige danach Kritikern des so entstandenen nen sie tödliche Absicht unterstellte. Schus- gegen unbekannt wegen des Verdachts auf konstitutionellen Machtvakuums entspannt ters jüngste Flucht nach Wien, von den ge- versuchten Giftmord diktieren will. Zum entgegnet, wäre jemals die Frage aufge- meinen Slowaken mit Zorn und Spott Tippen wird eine Krankenschwester ver- kommen, „ob Österreich an die Ukraine begleitet, war so gesehen nur logisch. donnert. angeschlossen wird“, hätte man Klestil Der Präsident liebt sein Volk, kein Zwei- Großes Drama, einmal mehr, in der Slo- selbstredend „aufgeweckt und gefragt“. fel. Er liebt es so, wie es ist, Ärzte inklu- wakei. Politik mit Fallhöhe nach Art des Der neueste Patient aber, das slowaki- sive. Nur: Er weiß als alter Kommunist, Landes. Denn: Um ein Haar vergiftet wor- sche Klestil-Pendant Schuster, einer, der dass es Gleichere unter Gleichen gibt. Ru- den sein soll der höchste Mann im Staat. nach Meinung seiner Landsleute noch bei dolf Schuster ist jetzt 68. Er will seine Mit Bilsenkraut vielleicht, wie einst der schwerem Gewitter lächelt, weil er hinter Liebe zum Volk nicht mit dem Leben be- König in Shakespeares „Hamlet“? Oder jedem Blitz Fotografen vermutet, ist von zahlen. Walter Mayr

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Werbeseite Auf einer Büffelfarm nahe dem Mai- länder Flughafen Malpensa blitzte Bieri jedoch ab. Auch hier fürchteten die italie- nischen Büffel-Barone den potenziellen Wettbewerber. Der wurde doch noch fün- dig – auf morastigen Höfen im rumäni- schen Klausenburg und dann in Kronstadt, von wo er die ersten Wasserbüffel nach Schangnau brachte. Inzwischen grunzen im Talschluss um die Ortschaft bereits 70 Wasserbüffel, und die Anzahl von Kälbern wächst beständig. Büffel-Mozzarella aus dem Emmental, ironischerweise Zentrum des Hartkäses, wird von den Händlern heftig nachgefragt. „Der kommt und ist gleich wieder weg“,

MARKUS BÜHLER / LOOKAT BÜHLER MARKUS berichtet der Mazedonier Meksud Rifat, Bierihof-Wasserbüffel: „Es gab wahnsinnige Emotionen“ Eigentümer des „Chäslade“ im Bahnhof von Bern. felquarktorte und sogar Büffelbrot befin- In der Emmentaler Kleinwelt zwischen SCHWEIZ den sich im Angebot – ein Novum, bei dem Lützelflüh und Schangnau begegnete man der Quark im Teig mitgebacken wird. den Wasserbüffeln aus Rumänien zunächst Genügsam Der eigentliche Durchbruch gelang im skeptisch. Die Dörfler glaubten, wegen der Dorf aber mit Büffel-Mozzarella, den die „fremden Fötzel“ bald Mutanten auf den Molkerei von Christian Jaun penibel in Wiesen anzutreffen. Und hatte nicht Jere- und stur Handarbeit herstellt. 40000 Liter Büffel- mias Gotthelf, der große Schriftsteller des milch hat er voriges Jahr mit Gerinnungs- 19. Jahrhunderts, ein Emmentaler Dorf be- Ausgerechnet in der Heimat des enzymen wie bei der Fabrikation von Em- schrieben, das sich schnöde an den Teufel mentaler vermischt. Dann hat er heißes verkaufte? Hartkäses Emmentaler Wasser hinzugegeben, alles zu einem Brei „Die Leute sagten: Die spinnen, die sorgen Wasserbüffel für eine neue gerührt und den zu Mozzarella-Kugeln ge- Schangnauer“, erinnert sich Hans Bieri, edle Ware: Mozzarella. knetet. der Büffel-Pionier, „es gab wahnsinnige In Italien, dem Mutterland des Mozza- Emotionen.“ Doch da eine Paarung zwi- ppige Wiesen, die aussehen wie rella, wollte sich Jaun früher schon mit des- schen Büffelstieren und Kühen nicht mög- grün lackiert, erstrecken sich hoch sen Produktion bekannt machen. Doch die lich ist, beruhigten sich die Gemüter – erst Üüber Schangnau im hintersten Em- dortigen Kollegen knauserten mit ihrem recht, als die Emmentaler wahrnahmen, mental. Sie liefern das Frischfutter für dass die Eigenschaften der Büffel, Sturheit Kühe, aus deren Milch ein weltberühmter und Genügsamkeit, den eigenen durchaus Käse erzeugt wird: der Emmentaler mit den entsprachen. großen Löchern und dem Nussgeschmack. Die Bauern von Schangnau haben sich Doch hier, an der Grenze zwischen den mit ihrer Büffelmilch, die den dreifachen Kantonen Bern und Luzern, scheuchen die Preis von Kuhmilch einbringt, rechtzeitig Hütebuben nicht nur Rot-Weiß-Gefleckte für die Krise gewappnet. Denn mit dem aus den Ställen. Sie treiben auch stärkere Emmentaler steht es nicht mehr zum Kaliber auf die Weide: pechschwarze Besten, obschon er mit einem Jahresaus- Wasserbüffel, die mit Kuhglocken am Hals stoß von über 45000 Tonnen nach wie vor dem vertrauteren Vieh des Emmentals das Schwergewicht unter den Schweizer nachtrotten. Käsesorten ist. Doch in den Großlagern

In Schangnau, wo stolze Walmdachhöfe ZÜRICH / DPA / KEYSTONE FLUEELER URS und Felsenkellern etwa des Emmentaler- von alten Traditionen künden, haben die Käselager mit Emmentaler Riesen Emmi AG stapeln sich die Laibe bis Wasserbüffel eine Zeitenwende eingelei- „Wir spüren die Zurückhaltung“ zur Decke – der Export des so genannten tet. „Sie sind zu einem Wirtschaftsfaktor Großlochkäses ist um knapp ein Drittel geworden“, sagt Markus Schneiter, der Ge- Wissen – schweizerischer Büffel-Mozza- eingebrochen. meindepräsident. rella dünkte ihnen als unheimliche Kon- „Wir spüren die Zurückhaltung der eu- Übertrieben scheint das nicht. Im Gast- kurrenz. ropäischen Verbraucher“, klagt Roland haus „Löwen“ etwa gibt es Wasserbüffel- Ähnliche Erfahrungen wie der Besitzer Sahli, Geschäftsführer des Dachverbands Steak und Wasserbüffel-Bratwurst mit der Mozzarella-Molkerei machte auch Käseorganisation Schweiz. Und auch die Rösti. „Büffelfleisch schmeckt kräftiger und der Schangnauer Viehhalter Hans Bieri. ausländische Konkurrenz setzt dem origi- würziger als das vom Rind“, sagt Elisabeth Ihm hatte ein rumänischer Praktikant, nalen Emmentaler zu. Sahli schaudernd: Siegenthaler, die Wirtin des rustikalen Tan- den der Osteuropaverein Emmental ver- „In St. Gallen sah ich neulich eine Marke, nenholz-Lokals. mittelt hatte, vom Rahmgeschmack der die sich Allgäuer Emmentaler nennt.“ Vor kurzem waren die Mitglieder der Wasserbüffelmilch erzählt. Bieri erschien Für die Schangnauer hat der Käsefunk- Büffelgenossenschaft Schangnau im das wie die Mitteilung aus einer anderen tionär allerdings nur gute Nachrichten. Der „Löwen“ erschienen – zu einer Moden- Welt, weil die Milchpreise für seine Sim- Grund ist, dass sich just in der Schweiz schau mit Wasserbüffel-T-Shirts und Her- mentaler- und Red-Holstein-Kühe be- Mozzarella zum meistverzehrten Käse renhemden samt Krawatten, auf denen als denklich zurückgingen und ein zweites überhaupt entwickelt hat – noch vor dem Motiv Wasserbüffel prangten. Standbein hermusste. „Man sollte Was- Greyerzer und Raclette. Hans Bieri fühlt Und auch die Bäckerei Riedwyl-Oberli serbüffel halten“, forderte er am Stamm- sich dadurch bestätigt: „Wir hatten eine wirkt wie vom Büffelwahn gepackt: Büf- tisch des „Löwen“. feine Nase.“ Joachim Hoelzgen

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Werbeseite Titel Das zweite Rom Ein Jahr nach den Anschlägen auf New York und Washington hat sich die Welt verändert: Der Kampf gegen den Terrorismus macht die militärische Überlegenheit der USA deutlicher als je zuvor. Während alte Allianzen bröckeln, rüstet die Supermacht zu einem neuen Krieg gegen den Irak – und fordert Gefolgschaft statt Partnerschaft.

Einschlag des UA-Fluges 175 in den Südturm des World Trade Center: Unerträgliche Demütigung durch 19 Terroristen, die ihre Teppichmesser

m Tag, der die Welt verändert, schuldig, göttlich – was man eben so sagt les, was sie zu fassen kriegen. Fallen hilf- strahlt der Himmel tiefblau wie aus in seiner Hilflosigkeit angesichts des un- los über Schreibtische. Prallen wie Ge- Adem Malkasten von Franz Marc. vorstellbaren Grauens. Betäubt von dem schosse gegen Wände. Verglühen sekun- Die Sonne taucht die Blätter in ein kräfti- Glück, einem Höllenschlund entronnen zu denschnell und fast ohne eine Spur zu hin- ges Tizianrot. Selbst die Schatten sind in sein, der fast 3000 Menschen in den Tod ge- terlassen in der Feuersbrunst. diesen frühen Stunden des 11. September rissen hat. 9.02 Uhr, World Trade Center New York, 2001 an der Ostküste der Vereinigten Staa- 8.46 Uhr, World Trade Center New York, Südturm: Die von Terroristen gekaperte ten weich und flirrend und wie freundlich Nordturm: Die von Terroristen gekaperte Boeing 767 der United Airlines, Flug 175, dahingetupft, Cézanne-pastell. Es weht fast Boeing 767 der American Airlines, Flug 11, bohrt sich zwischen dem 78. und 84. Stock- kein Wind. jagt auf der Höhe des 96. Stockwerks in werk in den Wolkenkratzer. Während des Die Welt ist ein Poesiealbum. Und wird den Wolkenkratzer. Beim Aufprall zerfet- Einschlags befindet sich das Flugzeug in innerhalb weniger Minuten zu einem To- zen die Aluminiumtanks, der Treibstoff einer starken Kurvenlage: Offenbar hätten tenbuch. schießt heraus, entzündet durch den Fun- die Entführer ihr Ziel um ein Haar ver- Ein paradiesischer Morgen sei es gewe- kenflug der Stahlteile. Im ganzen Gebäude fehlt, sie mussten die Maschine im letzten sen, sollten später die gerade noch Davon- schreien Menschen auf. Klammern sich in Moment noch herumreißen. Die United ist gekommenen immer wieder sagen, un- Todesangst an Stühle, an Schränke, an al- bei ihrem Aufprall um einiges schneller als

92 der spiegel 36/2002 WIN MCNAMEE / REUTERS Präsident Bush*: Panische Leere

in die richtige Richtung ren- fert. Und es ist auch die Stunde, in der nen. Wer in dem Chaos nur neue Prioritäten bei der inneren Sicher- ausharrt, wird von den heit und der außenpolitischen Orientie- teuflisch schnell vorwärts rung gesetzt werden: Politiker erleben die züngelnden Flammen er- Zerreißprobe ihrer Karriere. fasst, im wahrsten Sinne George W. Bush beginnt diesen Tag in des Wortes eingeäschert. Sarasota (Florida) in einer Grundschu- Der südliche Turm stürzt le. Den Augenblick, als ihm sein Stabs- um 10.05 Uhr ein, der nörd- chef Andrew Card ins Ohr flüstert, dass liche um 10.28 Uhr. Und die vermeintlichen Unfälle sich als Anschlag mit den Twin Towers ver- auf Amerika entpuppt haben, hat ein Foto- schwindet die Welt, wie sie bis dahin war. DER ANFEUERUNGSSCHREI EINES Denn da ist nicht irgend- ein Hochhaus vom Terror PASSAGIERS WURDE gefällt worden, sondern das ZUM SCHLACHTRUF AMERIKAS. bedeutendste Symbol des Kapitalismus, das Schmuck- graf festgehalten: Der Präsident blickt, auf stück der westlichen Welt- einem Stuhl unter Zweitklässlern, aus- hauptstadt New York, der druckslos in eine imaginäre Ferne. Seine Inbegriff von Größe, Auto- Berater verbreiten später, Bushs Gesicht rität und Überlegenheit der spiegele nicht panische Leere wider, son- einzigen Supermacht der dern Entschlossenheit und Weitsicht. Erde, die sich bis dahin für Und es ist noch nicht vorbei. Um 9.45 unverwundbar hielt. Uhr geht die Serie der mörderischen An- „Nine/Eleven“ wird welt- schläge weiter: Erst spaltet American-Air-

ROBERT CLARK / AP ROBERT weit zu einem festen Be- lines-Flug 77 das riesige Pentagon, das Ner- durch die Kontrollen geschmuggelt hatten griff. Die Bilder dieses Tages venzentrum der größten Militärmacht, die haben sich unauslöschlich in die American vor ihr: 943 statt 782 km/h. das kollektive Gedächtnis aller Fernsehzu- Wie bei einem Erdbeben schwankt der Bo- schauer eingebrannt: Verzweifelte Men- den, schleudert die schiere Wucht des Auf- schen, die in einem letzten Akt der Freiheit pralls die Menschen in den Tod. Die struk- lieber aus 300 Metern in den sicheren Tod turellen Schäden am Gebäude sind noch springen als in dem Flammeninferno zu ver- verheerender als am anderen Turm. In dem glühen. Ascheverklebte Menschen, die aus Inferno, so wird später geschätzt, wird drei- den zusammenstürzenden Türmen heraus- bis fünfmal so viel Energie freigesetzt wie torkeln, davonlaufen, egal wohin, nur weg in einem Atomreaktor. vom Ort des Schreckens. Mitten in der Tragödie ereignen sich die In Amerika ist es die Stunde, in der Hel- Wunder, von denen Menschen ein Leben den geboren werden, symbolisiert durch lang erzählen werden. Eines der Treppen- den Feuerwehrmann, der sich selbstlos op- häuser bleibt intakt. Die von Panik und

Weinkrämpfen geschüttelten Menschen aus PRESS SIPA * Mit Stabschef Andrew Card in der Emma-Booker-Grund- den Stockwerken über der Einschlagstelle schule von Sarasota (Florida) bei der Nachricht vom Ein- Terrorchef Bin Laden haben eine Chance – sofern sie rechtzeitig schlag des zweiten Flugzeugs in das World Trade Center. „Gute Neuigkeiten“

der spiegel 36/2002 93 Titel JOEL ROBINE / DPA Bombardierung von Taliban-Stellungen in Nordafghanistan (im November 2001): Unvollständiger Sieg es je gegeben hat. Dann, es ist 10.03 Uhr, Nun machte die unerhörte Provokation Bush vernichtend geschlagen, erneut ins bohrt sich United Airlines 93 bei Shanks- aus einem bis dahin am Weltgeschehen un- Visier der Supermacht. Und jetzt fordert ville (Pennsylvania) in den Erdboden und interessierten US-Präsidenten zunächst die Hardliner-Crew um den Sohn des Golf- explodiert. Wohin die Terroristen diese einen Tröster der Nation und dann ei- Siegers einen gewaltsamen Sturz des Dik- Maschine ursprünglich steuern wollten – nen Kriegsherrn. In rascher Folge entwarf tators von Bagdad – zum Entsetzen vieler ins Weiße Haus, ins Kapitol? –, ist bis heu- George W. Bush Doktrinen, die sich mit sei- Verbündeter im Anti-Terror-Bündnis, vor te ungeklärt. nem Namen verbinden sollen – zunehmend allem der Araber und Europäer. Das Flugzeug reißt am Ende nur einen radikalere Entwürfe einer Weltordnung, in Die ganze Weltkarte hat sich neu geord- riesigen Krater in einen Acker, weil eine der die Vereinigten Staaten ihre Dominanz net: Allianzen, die jahrzehntelang gehalten Hand voll Passagiere den Todesmut zum voll zur Geltung bringen wollen. hatten, standen plötzlich zur Disposition. Angriff auf die vier Hijacker aufbrachte. Der 11. September erwies sich als Zeiten- Das Nordatlantische Verteidigungsbündnis „Let’s roll“ – „Los, packt sie“: Der An- wende: Auf den Kalten Krieg mit seiner etwa, das seine mächtigen Widersacher im feuerungsschrei des Netzwerkspezialisten atomaren Abschreckungslogik folgen nun Kalten Krieg erschöpft hatte, entdeckte, de- Todd Beamer, über sein Handy zu hören, klassiert von der Überlegenheit ist zum Schlachtruf Amerikas im Kampf IN RASCHER FOLGE ENTWARF PRÄSIDENT der Vereinigten Staaten, den eige- gegen den Terrorismus geworden. nen Bedeutungsverlust. Die Öl- Seit diesen Anschlägen, die sich jetzt BUSH ZUNEHMEND RADIKALERE staaten des Nahen Ostens können zum ersten Mal jähren, ist Amerika nicht ENTWÜRFE EINER NEUEN WELTORDNUNG. sich ihrer überragenden strategi- mehr so, wie es war. Es ist herausgefordert schen Bedeutung nicht länger völ- worden durch einen muslimischen Stein- die asymmetrischen Kriege des 21. Jahr- lig sicher sein, seit der Westen jetzt dem zeitpropheten, der von den Bergen des hunderts, mit denen die USA die Terroris- Kaspischen Meer mehr Interesse schenkt. Hindukusch herab seine Assassinen in die ten, die Bin Ladens apokalyptische Aus- Die dortigen Ölreserven locken plötzlich Welt schickte. Sie sollten, mal mit Apple- legung des Islam beseelt, verfolgen und als Alternative zum Persischen Golf. Laptops bewaffnet, mal auch nur mit Tep- möglichst beseitigen will. Und vielleicht gravierender noch: Auch pichmessern, einen größenwahnsinnigen Bisher wenig bedeutende Staaten rück- die Prosperität des vergangenen Jahr- Traum verwirklichen. ten plötzlich in den Brennpunkt des Welt- zehnts, vom Westen als Selbstverständ- Der charismatische Islamistenführer geschehens, weil sie den Terroristen Heim- lichkeit reklamiert, ist seit dem 11. Sep- Osama Bin Laden, der mitgeholfen hatte, statt gewährten – Afghanistan, Pakistan, tember in Gefahr. Zwar war die Blase der die Sowjettruppen aus Afghanistan zu ver- der Jemen, selbst das elende, bürgerkriegs- New Economy, die ewig wachsenden treiben, war zu einem Feldzug gegen die zerstörte Somalia gewannen strategische Wohlstand vorgegaukelt hatte, schon vor- letzte verbliebene Supermacht angetreten. Bedeutung. her geplatzt. Doch der Terroranschlag auf In der Vormacht der westlichen Welt hat- Mit der Begründung, Saddam Hussein das Herz des Kapitalismus zeigte verhee- te er den Hauptgegner seines eigentlichen könne Massenvernichtungswaffen an Ter- rende Folgen an der Wall Street – er ver- Ziels ausgemacht – der Wiederherstellung roristen weiterleiten, rückte auch der Irak, stärkte die Talfahrt des Kapitalmarkts, die eines einzigen islamischen Reiches, der Ge- 1991 von einer internationalen Allianz un- trotz zwischenzeitlicher Erholungen bis meinschaft aller gläubigen Muslime. ter Führung des US-Präsidenten George heute nicht gestoppt ist.

94 der spiegel 36/2002 GETTY IMAGES US-Spezialeinheit auf Patrouille in Ostafghanistan: Erbarmungslosen Zorn in Politik umgesetzt

Die Kursverluste an den US-Börsen ver- Die weltweiten Umwälzungen und das Karl Rove, der wichtigste Berater des breiteten Panikwellen rund um den Erd- drohende Unheil einer globalen Rezession Präsidenten, sprach von einem Fatalismus, ball. Weltweit scheint die Wirtschaft ge- waren allenfalls zu ahnen, als sich die der sich am 11. September ausgebreitet lähmt, der seit langem erhoffte Auf- Rauchschwaden über der Skyline von New habe, „dieses Gefühl, dass es noch mehr schwung will sich nicht einstellen. Nun York endlich verzogen. Zunächst konzen- (Terroristen) dort draußen gibt und dass treibt auch das Kriegstrommeln der USA trierte sich Amerika ganz auf sich selbst. sie, wenn sie etwa einen Bio-Angriff aufs den Ölpreis wieder nach oben. Erst kam die Trauer um die Toten und um Weiße Haus starten wollen, offensichtlich In- und ausländische Konzerne, die zur den Verlust des Gefühls, unverletzbar zu auch dazu in der Lage wären“. Verbesserung ihrer Erträge Kosten senken sein, weil die Ozeane im Westen und Osten Gegen die Ohnmacht entfaltete Ameri- mussten, entließen Zehntausende von Mit- dem Land bislang die Angreifer vom Leib ka die gemeinschaftsbildenden Seiten sei- arbeitern. Sollte es am 22. September in gehalten hatten. Terroranschläge auf US- nes Patriotismus, dazu eine nie dagewese- Deutschland, bei über vier Millionen Ar- Interessen hatte es zuvor vornehmlich in ne Hilfsbereitschaft und Spendengroßzü- beitslosen, zum Regierungswechsel kom- Übersee gegeben. 1998 wurden die Bot- gigkeit. Monatelang glich das Land einem men, dann hätten zu Schröders Scheitern schaften in Daressalam und Nairobi zer- Fahnen- und Flaggenmeer. – auch – die Anschläge von New York und stört, 2000 traf es den Zerstörer USS Der Patriotismus überbrückte verblüf- Washington beigetragen. „Cole“ im Hafen von Aden. fend wirksam die schreienden Gegensätze

Grönland Norwegen Island Weltpolizist USA Großbritannien Dänemark Länder mit US-Militärstützpunkten Niederlande Deutschland Insel-Stützpunkte Belgien Luxemburg Ungarn Usbekistan Kirgisien Griechenland Pazifik Portugal Italien Spanien Türkei Tadschikistan Süd- Japan USA Bahrein Afghanistan korea Puerto Rico Kuweit Ägypten Okinawa Wake Guantanamo Virgin Islands Katar Island Saudi- Ver. Arab. Emirate Hawaii Antigua Arabien Oman Honduras Guam Kwajalein Singapur Atoll Panama Atlantik Kolumbien Indischer Johnston Ozean Atoll Pazifik Venezuela Indonesien Peru St. Helena Diego Amerik. Samoa Garcia Australien

der spiegel 36/2002 95 Titel An der Quelle des Terrors Das korrupte Königreich Saudi-Arabien wird für die USA vom Partner zum Sicherheitsrisiko.

reunde seien ihre Völker, sagte wie auch innere Feinde. Der Saudi-Bot- bien den „Kern des Bösen“ nennen und beschwörend George W. Bush zu schafter wurde vor allem unter dem ers- dazu raten, im Notfall die Ölfelder zu be- FPrinz Bandar Ibn Sultan, dem ten Präsidenten Bush Dauergast im Wei- setzen. Ein Sturz Saddam Husseins im saudi-arabischen Botschafter in den USA, ßen Haus. Sein Spitzname bei der White- Irak ist nach Ansicht dieses Beraters auch auf seiner Ranch in Texas am vergange- House-Presse: „Bandar Bush“. deshalb so wünschenswert, „weil er zu nen Dienstag; Freunde „für die Ewig- Doch seit dem 11. September 2001 ist politischen Veränderungen in Riad führen keit“. Dann aßen die Familien zusam- nichts mehr in den Beziehungen zwi- wird“. Diese Meinung sei „nicht domi- men, die Herren spielten Golf, und der schen Washington und Riad so, wie es nant“ im Pentagon, erklärte Verteidi- Präsident führte den saudischen Gast zu war. Schon bald nach den Anschlägen gungsminister Donald Rumsfeld später seinen Lieblingsplätzen auf dem Landgut stellte sich heraus, dass 15 der 19 At- merkwürdig verschwommen und bedau- Prairie Chapel. Beide Seiten gaben sich tentäter Staatsbürger Saudi-Arabiens wa- erte vor allem, dass die Rede durchge- anschließend wortkarg und betonten den ren; auch bei den internierten Qaida- sickert war. privaten Charakter des ungewöhnlichen Kämpfern in Guantanamo Bay ist keine Eine Klage von Angehörigen der Ter- Treffens. andere Nationalität so zahlreich vertre- roropfer goss weiteres Öl ins Feuer. Es Und doch wurden – laut Geheimdienst- ten. Das Königshaus zeigte sich bei der geht um die unvorstellbare Summe von informationen – bei dem Tête-à-Tête in Verfolgung der Täter wenig kooperativ, tausend Milliarden Dollar; ausdrücklich Bushs Allerheiligstem Richtungsentschei- verwies darauf, man habe dem gebürtigen als Beschuldigter genannt ist die Regie- dungen getroffen. Der US-Präsident ver- Saudi-Araber Osama Bin Laden längst rung in Riad. Nach Angaben der „Sunday langte, dass Saudi-Arabien den amerika- die Staatsbürgerschaft entzogen, zwei Times“ am vorletzten Wochenende ha- nischen Militärs im Fall eines Irak-An- Wochen nach den Anschlägen von New ben die Anwälte der Kläger dem Gericht griffs wenn schon nicht die Benutzung York die Beziehungen zu den lange ja Unterlagen zur Verfügung gestellt, die das der Prince Sultan Air Base bei Riad, dann auch von den USA gehätschelten Taliban Königshaus schwer belasten. Bei zwei doch wenigstens logistische Unterstüt- abgebrochen. Treffen – 1996 und sogar noch 1998 – sol- zung und Überflugrechte zugestehe. Der Im Gegenzug verschärfte sich in Wa- len saudische Regierungsvertreter mit Bin Saudi antwortete kühl, das könne er sich shington der Ton. Ausgerechnet vor dem Laden gedealt haben: finanzielle Unter- kaum vorstellen. Jedenfalls so lange nicht, einflussreichen „Defence Policy Board“ stützung für al-Qaida und die Taliban ge- wie sein Land auch von Mitgliedern der des Pentagon durfte im Juli der Nahost- gen die Zusage, keinen Terror im König- US-Regierung in Terroristennähe gerückt Experte Laurent Murawiec Saudi-Ara- reich auszuüben. Riad dementierte wü- und von US-Gerichten mit Milliarden- klagen belästigt werde. Beide hielten sich US-Präsident Bush, Saudi-Botschafter Prinz Bandar in Texas: „Kern des Bösen“ ein Hintertürchen offen: Bush sagte, die letzte Entscheidung über einen Mili- tärschlag sei noch nicht getroffen; der Botschafter versprach, bei seinem Vater, dem Verteidigungsminister, vorstellig zu werden – und ließ Bush senior herzlich grüßen. Prinz Bandar, seit 1983 im Amt, ist die Symbolfigur für ein ganzes Zeitalter ex- zellenter amerikanisch-saudischer Bezie- hungen. Sie beruhten darauf, dass Riad den Erdölpreis stabil hielt und mit gigan- tischen Waffenkäufen die amerikanischen Rüstungskonzerne finanzieren half. Und dass Washington das korrupte Königs- haus militärisch stützte, dessen Men- schenrechtsverletzungen wie dessen Ex- port aggressiver islamistischer Lehren großzügig übersah. Die Annäherung zwi- schen den beiden Staaten erreichte 1991 ihren Höhepunkt, als die Saudis den Amerikanern beim „Desert Storm“ gegen Bagdad erlaubten, die Prince Sultan Air Base zum modernsten Luftwaffenstütz- punkt der Welt auszubauen und Tausen- de Soldaten permanent ins Wüstenreich

zu bringen – zum Schutz gegen äußere REUTERS

96 der spiegel 36/2002 tend. Um einem möglichen Einfrieren saudischer Gelder in den USA zuvorzu- kommen, sollen in den letzten Wochen fast 200 Milliarden Dollar, etwa ein Drit- tel der von Saudi-Arabern in den USA investierten Summe, nach Europa und Asien transferiert worden sein. Befürworter einer gemäßigten Linie gegenüber Riad, die etwa auf den ver- nünftigen, auch Israels Existenzrecht berücksichtigenden Nahost-Friedensplan des Kronprinzen Abdullah verweisen, ha- ben in Washington einen schweren Stand. Denn die Saudi-Kritiker kommen kei- nesfalls nur aus der Ecke der Pentagon- Scharfmacher; im US-Kongress sind es vor allem die Liberalen, die Sturm gegen das „undemokratische“ Riad laufen. Für das saudische Königshaus rächt sich nun

offensichtlich, dass es politische Refor- AAMIR QURESHI / AFP / DPA men verhindert hat. Um die Bevölkerung Bin-Laden-Anhänger in Pakistan weiterhin mit großzügigen Sozialleistun- 160 Religionsgelehrte fordern in einem Fruchtbarer Nährboden für Terroristen gen ruhig zu stellen, fehlt inzwischen das offenen Brief, mit Nicht-Muslimen tole- Geld. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen ranter umzugehen (Christen beispiels- der Klassen und Rassen, welche die USA sank von 1981 bis heute um über 70 Pro- weise, die auch nur privat eine Messe ab- sonst in Spannung halten. Doch auch die zent. Die Wirtschaft ist in der Rezession, halten, müssen mit einer Gefängnisstrafe unschöne Kehrseite des Patriotismus zeig- die Arbeitslosigkeit liegt bei über 20 Pro- rechnen). Allerdings ziehen nach einer te sich unübersehbar – die Ausgrenzung zent. Und die Geburtsrate ist eine der Drohung von Bin-Laden-Sympathisanten der deklarierten Feinde des Gemeinwesens höchsten der Welt. viele ihre Unterschrift zurück. Und im eigenen Land. Eine Stadt wie Dschidda erinnert mit Scheich Abd al-Rahman al-Sudais, Imam Die Regierung beschnitt die Rechte von ihren Glaspalästen und Wolkenkratzern, der Großen Moschee von Mekka, darf Inländern wie Ausländern, die in Verdacht mit den zahlreichen McDonald’s und weiter hetzen. Er erklärt in einer Fern- geraten waren. Über 1200 Inhaftierte durf- Starbucks an das texanische Dallas. Doch sehansprache, dass Gott die Juden „in ten monatelang keinen Anwalt sehen. Etwa es gibt kein einziges Kino, kein Theater, Schweine und Affen verwandelt“ habe 600 „ungesetzliche Kombattanten“, auf keine Disco. Religionspolizisten überwa- und verdammt die „vergiftete westliche dem Marinestützpunkt Guantanamo auf chen, dass die Speisesäle in den Restau- Kultur und ihre verrotteten Ideen“. Kuba anfänglich in Käfigen eingesperrt, rants nach Geschlechtern getrennt sind König Fahd, 81, Hüter der heiligen werden womöglich für unabsehbare Zeit, und während der fünf Gebetszeiten am Stätten von Mekka und Medina, und sein ohne rechtlichen Beistand, weggeschlos- Tag geschlossen bleiben; dass Männer kei- Hofstaat kommen ganz gut zurecht mit ne Frauen ansprechen und das muslimi- dem westlichen Gift. Wann immer sie ein- NEUE HELDEN ERLEICHTERTEN DIE sche Zwangskleid die Damen vollständig kaufen oder sich entspannen wollen, rei- verhüllt. Weil es neuerdings häufiger sen sie nach Europa – da mag ein Irak- TRAUERARBEIT: NEW YORKS vorkommt, dass Frauen ihre schwarze Krieg drohen, ein Rekorddefizit im Haus- FEUERWEHRLEUTE UND POLIZISTEN. Abaja mit bunten Mustern aufpeppen, halt klaffen, die Islamisten-Opposition haben die Tugendwächter die Textilfa- zum Sturm blasen. Die letzten Monate sen bleiben. Die Exekutive verfügte über briken und Boutiquen durchkämmt und verbrachte der gebrechliche Monarch in den Rechtsstaat, als gebe es keine Gewal- 82000 „Kleider der Schande“ beschlag- Genf, Mitte August flog er mit vier pri- tenteilung mehr. nahmt. Dschidda ist ein bisschen wie Dal- vaten Jumbo-Jets und mehreren hundert Zur Erleichterung der Trauerarbeit trug las – kontrolliert von den Taliban. Angestellten an die Costa del Sol – zur dagegen bei, dass Amerika viele Helden Religionspolizisten trieben am 11. März Freude der Geschäftsleute, denn bei sei- rund um die Bergungsarbeiten entdeckte: bei einem Feuer in der Schule Nr. 31 in nem letzten Besuch in Marbella gab „Kö- die Feuerwehrleute, die Polizisten und un- Mekka Dutzende Mädchen mit ihren nig Midas“ (so sein Spitzname) binnen zählige Helfer, die ihr Leben am World Stöcken in das brennende Gebäude acht Wochen 90 Millionen Dollar aus. Trade Center riskierten, um zu retten, was zurück, weil sie bei ihrer Flucht keine Spaniens Premier, der britische Minis- zu retten war. An sie wollen auch die Abajas trugen; 15 starben. Soll man als terpräsident und der amerikanische Organisatoren für die Gedenkfeiern am Fortschritt preisen, dass es nach den un- Außenminister haben für die nächsten 11. September erinnern, die im ganzen geheuerlichen Ereignissen immerhin ei- Wochen ihren Besuch in Marbella an- Land stattfinden sollen, mit New York als nen öffentlichen Aufschrei gab, dass der gekündigt. Sollte auch George W. Bush dem Zentrum der Trauer. Präsident der Mädchenerziehungs-Behör- anreisen, dürfte es ihm weniger um die Rudy Giuliani, damals New Yorker Bür- de zurücktreten musste? viel beschworene „Demokratisierung im germeister und die Stimme Amerikas nach Hoffnungszeichen und Rückschläge Nahen Osten“ gehen als darum, für sei- dem 11. September, wird mit der Lesung al- halten sich die Waage. Die Zeitung „al- nen Irak-Krieg zu werben. Das Fahd-An- ler Totennamen beginnen. Dabei gibt es Watan“ wagt, die Korruption in den Mi- wesen Mar Mar wird ihm wie eine zwei- noch Unstimmigkeit über die genaue Zahl nisterien zu kritisieren – allerdings wird te Heimat vorkommen: Es ist eine Kopie der Opfer in New York – 2823 oder doch bald darauf ihr Chefredakteur entlassen. des Weißen Hauses. Erich Follath weniger? Den gefühlsbetonten Höhepunkt der Feierlichkeiten dürfte der zeremoniel- le Marsch der Opfer-Angehörigen zum

der spiegel 36/2002 97 Die Vereinigten Staaten, im Einklang mit internationalen Institutionen und in Ein- tracht mit ihren Verbündeten: Das war ein Fall fürs politische Poesiealbum. Allerdings auch eher ein Zufall, Produkt der besonderen Umstände nach dem 11. September. Die Zusammenarbeit be- ruhte auf kühlem Kalkül. Präsident Bush und Ratgeber wie Verteidigungsminister Donald Rumsfeld oder Vizepräsident Ri- chard Cheney hatten sich beileibe nicht von streitbaren Unilateralisten zu ver- handlungsgläubigen Multilateralisten fort- entwickelt. Sie bevorzugten ein Amerika, das in seinen Entscheidungen völlige Frei- heit behält und sich nicht gebunden fühlt

GAMMA / STUDIO X / STUDIO GAMMA durch Verträge aus der Zeit des Kalten Flugzeugträger USS „Carl Vinson“, Begleitschutz: Triumph des Rechts Krieges. Die große Koalition für die erste Phase im Kampf gegen den Terrorismus Ground Zero bilden, dorthin, wo das sächlich gemacht. Eine weltweite Welle der war einfach ein Gebot der Vernunft. World Trade Center stand. Solidarität erreichte Amerika. Der Pariser Inzwischen ist die Euphorie über den Die Reden, die gehalten werden sollen, „Le Monde“ titelte: „Wir sind alle Ameri- angeblichen Triumph in Afghanistan ver- entstammen dem pathetischen Fundus der kaner.“ Alte Fronten und Schlachtordnun- flogen. Solange Bin Laden den amerikani- amerikanischen Nationalgeschichte. New gen waren auf einmal obsolet. schen Streitkräften nicht in die Hände fällt, Yorks Gouverneur George Pataki will die Eine kooperativere Welt schien sich an- bleibt der Sieg unvollständig. Hamid Kar- Gettysburg-Adresse rezitieren, die Abra- zubahnen: Russland, das bis dahin ver- zai ist der Wunschpräsident Washingtons, ham Lincoln 1863 auf die Toten des Bür- sucht hatte, mit Indien und China ein Ge- aber sein Aktionsradius beschränkt sich gerkriegs gehalten hatte. Bürgermeister gengewicht zu den USA zu bilden, trat der auf Kabul. US-Elitesoldaten müssen ihn Michael Bloomberg hat sich Franklin D. Anti-Terror-Koaliton bei und hoffte auf Tag und Nacht beschützen. Roosevelts Rede über die „Vier Freiheiten“ Verständnis für das harte Vorgehen in Geostrategisch brachte der 11. Septem- ausgesucht, gehalten am 6. Dezember 1941, Tschetschenien. Die Geheimdienste von ber eine bedeutsame Neuerung: Die Ame- dem Tag des japanischen Angriffs auf die Iran und Syrien übermittelten Erkennt- rikaner konnten sich in Afghanistan und US-Pazifik-Flotte in Pearl Harbor. nisse über al-Qaida ihren US-Kollegen, dem benachbarten Zentralasien festsetzen Bloombergs Wahl trifft ziemlich genau – die wohl weit reichendste Ver- die Seelenlage vieler Amerikaner. Dass sich DIE VEREINIGTEN STAATEN IN EINTRACHT änderung der amerikanischen eine Supermacht durch 19 arabische Selbst- Machtprojektion seit dem Ende mordattentäter, die ihre Teppichmesser MIT IHREN VERBÜNDETEN: des Kalten Krieges. Die US-Sol- durch die Flughafenkontrollen schmuggeln EIN FALL FÜRS POLITISCHE POESIEALBUM. daten in Usbekistan, Kirgisien konnten, derart demütigen lässt, überstieg oder Tadschikistan, wo islamis- das Fassungsvermögen der US-Bürger. Dass die nun solche Geschenke zu schätzen tische Terroristen fruchtbaren Nährboden die Terroristen aber mitten in Amerika den wussten. finden, lassen sich als Kämpfer im zähen Plan zur Entführung der vier Flugzeuge un- Israel sah für eine Weile, auf enormen Krieg gegen al-Qaida rechtfertigen. Sogar gehindert vorbereiten konnten, machte die Druck aus Washington, davon ab, den Ter- in Georgien bilden US-Militärs Spezialein- Demütigung unerträglich. Der erbarmungs- ror der Palästinenser zu vergelten. Paki- heiten der Regierung Schewardnadse aus, lose Zorn, der auf die Trauer folgte und bis stan wie Indien waren um Annäherung an die mit Billigung Russlands gegen Auf- heute in Politik umgesetzt wird, erwuchs Washington bemüht. Sudan, Jemen und ständische vorgehen sollen. aus der Hilflosigkeit am 11. September. die Philippinen gingen demonstrativ gegen Von überragender Bedeutung ist das Doch zunächst, für einen kurzen Mo- den einheimischen Terrorismus vor, zum zentralasiatische Gebiet, das einmal den ment, sah es so aus, als habe der Angriff Gefallen Amerikas. äußersten Rand des Sowjetimperiums bil- auf die USA die bisherigen Konflikte in- So fand der Krieg gegen das Qaida-Netz- dete, wegen seiner Ölressourcen. Amerika nerhalb der Staatengemeinschaft neben- werk und die Taliban in Afghanistan die baut vor für den Fall, dass sich am Persi- Billigung der internationalen Ge- schen Golf die Dinge überschlagen. meinschaft. Er war, verglichen mit Im Kriegskabinett in Washington fiel das den amerikanischen Präventiv- Stichwort Irak erstmals am 13. September, kriegsdrohungen von heute, gera- zwei Tage nach den Attentaten. Verteidi- dezu ein Triumph des Rechts. Wie gungsminister Rumsfeld war der Erste, der im Golfkrieg von 1991 ging dem darauf drängte, Saddam Hussein notfalls Angriff eine Resolution des Uno- gewaltsam zu stürzen. Er wiederholte es Sicherheitsrats voraus samt einem fortan wie ein moderner Cato im Zusam- Ultimatum an die Regierung in menspiel mit seinem Stellvertreter Paul Kabul, Osama Bin Laden aus- Wolfowitz; erst intern und dann, nach dem zuliefern. Der Präsident holte sich schnellen Sieg im Krieg gegen die Taliban, ein Mandat für den Angriff im auch in der Öffentlichkeit, in der die Deu- Kongress. Die Nato erklärte, erst- ter einer imperialistischen Sendung Ame- mals in ihrer Geschichte, den rikas wortmächtige Unterstützer finden. Bündnisfall. Alle Ideen von einer neuen Pax Ameri-

LUDOVIC MARIN / AFP MARIN LUDOVIC cana haben sich am Wunsch Washingtons Nato-Gipfeltreffen in Rom* * Bei der Gründung des Nato-Russland-Rats entzündet, Saddam Hussein in einem zwei- Bedeutungsverlust erkannt am 28. Mai. ten Anlauf zu stürzen. Er sehe seine Auf-

98 der spiegel 36/2002 Werbeseite

Werbeseite Titel

und danach James Baker, unterm Senior Außenminister, zur Gegenrede gegen das imperiale Lager aufschwangen, rätselten Insider: Wirft der 41. US-Präsident seine Truppen in die Schlacht, um den 43. zu bändigen? Oder fürchtet Bush senior, sein Sohn könne sich nicht selbst vom Einfluss der Cheneys und Rumsfelds befreien? Der Unterschied zwischen den beiden Lagern liegt in wichtigen Nuancen: Wäh- rend die Falken auf einen grundlegenden Wandel im Nahen Osten drängen – sie sind überzeugt, dass eine „Befreiung“ des Irak eine Demokratiebewegung in der ganzen Region auslöst –, setzen die Tauben auf ei- nen Wandel durch Verhandlungen. Denn dass ein Wandel im Nahen Osten – entwe- der zu mehr Demokratie oder zu mehr Bürgerkriegen oder zu beidem – auf Dau- er unvermeidlich ist, glauben nicht nur die Träumer von einem US-Imperium in Wa- shington. Die stets fragile Weltregion, mit Israel und dem Irak als Katalysatoren der

SHAH MARAI / AFP / DPA SHAH MARAI Konflikte, steht bedrohlicher denn je im Taliban, Panzer bei Kabul (im Oktober 2001): Apokalyptische Auslegung des Islam Zeichen von Krieg und Gewalt. Das liegt auch daran, dass der israeli- gabe „nicht im Nuancieren, sondern darin, Ironischerweise sind wieder alle Vetera- sche Regierungschef Ariel Scharon zu den zu sagen, was ich denke“, erklärte Präsi- nen des ersten Golfkriegs im Streit um die größten Nutznießern der Zeitenwende dent Bush und ordnete den Despoten in Legitimität des zweiten vereint. Die kultu- vom 11. September gehört. Der Hardliner eine „Achse des Bösen“ ein, die für ihn aus relle Hegemonie liegt noch bei den reinen kann seither sein Vorgehen gegen die Pa- dem Irak, Iran und Nordkorea besteht. Machtpolitikern, die für Amerika das lästinenser als Teil des internationalen Fast beiläufig wurden prompt die vor- Recht auf einen Präventivkrieg beanspru- Kampfes gegen den Terrorismus ausgeben. sichtigen Fäden nach Iran gekappt. Ebenso chen. Vorige Woche lieferte Vizepräsident Bis in die Wortwahl hat der Israeli sich sei- beiläufig sah sich auch der neue strategi- Cheney (1991 Verteidigungsminister der nem Washingtoner Vorbild angeglichen. sche Partner Wladimir Putin brüskiert, der Regierung Bush senior) die bislang promi- Bush im Januar 2002: „Unsere Nation be- nicht zufällig die Beziehungen Moskaus zu nenteste Begründung für den Krieg gegen findet sich im Krieg.“ Scharon zwei Monate allen drei „Schurkenstaaten“ in den letzten Saddam: Der irakische Diktator werde bald später: „Israel befindet sich im Krieg.“ Wochen intensiviert hat – vordergründig schon in den Besitz nuklearer Waffen ge- Israels arabische Nachbarn, Despotien aus rein ökonomischen Gründen, gemeint langen und wolle dann „den gesamten Na- zumeist, die dank des Ölbedarfs der west- aber auch als kleine Lektion an die Verei- hen Osten beherrschen, Kontrolle über ei- lichen Industriestaaten auf beständige nigten Staaten, dass die Missachtung Russ- nen Großteil der Energieressourcen ge- Nachsicht zählen konnten, sahen sich da- lands Folgen hat. Zum Kollateralschaden winnen, Amerikas Freunde in der Region gegen plötzlich in einem neuen Licht: Sie gehören auch die – zum Teil – vehementen bedrohen“. Deshalb liege für die Vereinig- standen da als Brutstätten des Terrors, den Einwände der europäischen Staaten gegen ten Staaten im „Abwarten ein größeres Ri- sie in ihrer Mitte gewähren ließen und zum einen nicht weiter begründeten Waffen- siko als im Handeln“. Man müsse, forder- Teil unterstützten, damit die Saat nicht in gang mit dem Irak. Amerika forderte Ge- ihren eigenen Ländern aufging. folgschaft, nicht Partnerschaft. DIE KLAMMHEIMLICHE FREUDE Unzählige Verschwörungstheo- In der Zeitrechnung nach dem 11. Sep- rien, die nach dem 11. September tember signalisierte die „Achse des Bö- ÜBER DEN TERRORANSCHLAG GING QUER begierige Abnehmer fanden – mal sen“-Philippika das vorläufige Ende einer DURCH DIE ARABISCHE WELT. war Israels Mossad, mal Ameri- möglichen kooperativen Weltordnung, in kas CIA die unheimliche Macht der alte Gegensätze an Gewicht verlieren, te der Vizepräsident, „die Schlacht zum hinter den Attentaten –, zeigten, dass die weil der Krieg gegen den Terrorismus neue Feind tragen“. Wahrheit als zu schmerzhaft empfunden Prioritäten setzt. Die kurze Phase konti- Mit der Ankündigung, notfalls zuzu- wurde: Es waren die Söhne wohlhabender nentübergreifender Harmonie war been- schlagen, bevor Saddam seine Drohungen Saudi-Araber und Ägypter, Kinder aus der det. Und in Amerika tobt die Auseinan- verwirklichen kann, nehmen die USA ein Mitte der arabischen Gesellschaft, die das dersetzung um moderate oder aggressive Recht auf Präventivkrieg für sich in An- Unvorstellbare getan hatten. Der Schlaf der Außenpolitik kompromissloser denn je seit spruch, das gegen Völkerrecht verstößt. Regime, so begann es den Herrschern zu dem 11. September. Die Uno-Charta verbietet jeden Einsatz dämmern, hatte Ungeheuer geboren. Denn nur die USA selbst können letzt- von Gewalt außer zur Selbstverteidigung – Und mehr noch als das. Die klamm- lich von einem Angriff auf den Irak ab- wie 1991, nach dem Einmarsch irakischer heimliche Freude, der Stolz über den mit sehen. Deshalb ist der „Kampf um die See- Truppen in Kuweit, oder nach dem 11. Sep- eiskalter Präzision geplanten und ausge- le des Präsidenten“, wie in Washington die tember. Amerika würde zudem einen ver- führten Terroranschlag, ging quer durch ideologische Dauerkontroverse heißt zwi- heerenden Präzedenzfall schaffen: Mit alle Schichten der arabischen Welt. Osama schen den Moderaten, die sich hinter derselben Begründung, größerem Unheil Bin Laden, der vermutliche Drahtzieher, Colin Powell versammeln, und den Radi- vorzubeugen, könnte Indien wegen der stieg über Nacht zum Helden eines Kul- kalen hinter Rumsfeld und Cheney, für Kaschmir-Krise Pakistan angreifen. turkampfes mit globalen Dimensionen auf. den Rest der Welt von überragender Als sich erst Brent Scowcroft, Nationa- „Im Herzen jeden Arabers war genau Bedeutung. ler Sicherheitsberater unter Vater Bush, das zu finden, was ihr Deutschen ,Scha-

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Werbeseite Titel denfreude‘ nennt“, sagt der syrische Phi- kanische Gesellschaft bietet sogar 13000 Gerade, schwungvolle Schrift auf einem losoph und überzeugte Säkularist Sadik al- Passagieren kostenlose Flüge an. An allen linierten, rosafarbenen Blatt mit blass- Asm. „Ich kenne keinen, bei dem es anders Flughäfen, an allen Zufahrten zu Man- blauer Tinte – was da jetzt in Briefform war – so rational, so gebildet, so pro-west- hattan, an der Golden Gate Bridge von San aufgetaucht ist, halten Graphologen mit ei- lich er sonst auch sein mochte.“ Francisco ebenso wie am Hoover Damm in niger Wahrscheinlichkeit für echt. Und für Besonders schwierig ist es für traditio- Nevada, gelten schärfste Sicherheitsbe- seine Anhänger ist sowieso klar: Bin Laden nelle US-Verbündete wie Saudi-Arabien stimmungen. hat sich zum Jahrestag seines Twin-Tower- (siehe Seite 96), Ägypten und Jordanien, Seit Ende Juli zirkulieren in Afghani- Triumphes zurückgemeldet. ihre Loyalitäten zu ordnen. Diese Regime stan und Pakistan Kopien eines Briefes, „Ich, euer Glaubensbruder Osama Bin zittern davor, dass Amerikas neue Ent- den der Mann geschrieben haben soll, den Mohammed Bin Awad Bin Laden, kann schlossenheit ihre Staaten vor eine Zer- Bush zum Weltfeind Nummer eins erklärt euch sagen, dass alle Verbeugungen vor reißprobe stellen wird. Radikale Prediger und zur Jagd ausgeschrieben hat , „tot oder der Supermacht nicht einmal die Bedeu- in der ganzen islamischen Welt könnten ei- lebendig“: Osama Bin Laden. Erklärter- tung eines Mückenstiches haben“, formu- nen Angriff auf den Irak genauso liert der Briefschreiber blumig. Das deuten, wie Bin Laden den Krieg klingt ganz nach dem Mann, der gegen seine Kämpfer gedeutet hat sich schon im Jahr 1998 zum Füh- – als Kreuzzug des Westens. Dass rer des Glaubenskampfs gegen sich eine religiös aufgeheizte Wut- die westliche Welt deklariert hat welle auch gegen die Amerika- und es zur „Pflicht eines jeden freunde in den arabischen Paläs- Muslim“ erklärte, „in jedem Land, ten richten müsste, verstehen de- wo immer möglich die Ameri- ren Bewohner am besten. Kein kaner und deren Verbündete zu arabischer Staat werde einen An- töten“. griff auf den Irak unterstützen, Osama Bin Laden ist, ob man es grollte vorige Woche Ägyptens sich eingestehen mag oder nicht, Husni Mubarak, Empfänger von der Mann des vergangenen Jahres. jährlich zwei Milliarden Dollar Einer, der dem Westen einen Ak- US-Hilfe. tionsplan aufzwingt und ihn zur Wie vor 2000 Jahren die antike Selbstdefinition zwingt. Ein Teufel, Weltmacht Rom, beherrscht heute der als Gottgesandter daherkommt, Amerika den Planeten, mit über 30 als Allahs Botschafter mit dem größeren Militärstützpunkten rund- Flammenschwert – und der bei um. Doch das Imperium Romanum dem Twin-Tower-Anschlag von scheiterte an seiner imperialen New York doch auch Dutzende von Überdehnung, als es an vielen Fron- Muslimen, philippinischen Putzhil- ten gleichzeitig Germanen, Perser fen, indonesischen Zeitungsver- und andere Barbaren niederhalten käufern, indischen Computerfach- musste. Das „neue Rom“, so spot- leuten in den Tod schickte. Ein is- tet der Harvard-Professor Joseph lamistischer Nero, der nur ein Ziel Nye über die imperialen Ambitio- kennt: das Rom der Neuzeit im nen vieler konservativer Amerika- Feuer verglühen zu lassen.

ner, werde schon früh genug auf die INA / GETTY IMAGES Osama Bin Laden und seine „neuen Barbaren“ stoßen und sei- US-Ziel Saddam: „Die Schlacht zum Feind tragen“ Qaida sind noch nicht besiegt. Erst ne Grenzen erkennen. am vergangenen Donnerstag wur- Der Anteil der USA am Weltprodukt be- maßen war die Ergreifung des Terroristen- den Details eines Uno-Untersuchungs- trägt heute knapp ein Drittel – genauso hoch chefs oberstes Kriegsziel Washingtons in berichts bekannt, in dem es heißt, al-Qai- ist der Anteil Japans, Deutschlands, Frank- Afghanistan – doch dieser Mann ist offen- da sei seit der zwangsweisen Aufgabe sei- reichs und Großbritanniens zusammenge- bar nicht zu fassen. Inzwischen halten ihn ner Positionen in Afghanistan eher noch nommen. Und mit seinen weltweit beneide- einige Experten in den USA für verblichen. schlagkräftiger geworden, „in jeder Hin- ten Wachstumsraten wird China ebenfalls Bei den massiven Bombenangriffen der sicht gesund und bereit, nach eigenem Be- schon bald zum Club der Großen gehören. Amerikaner in der Bergregion von Tora lieben anzugreifen“. Dem Terrornetz sei es Gerade der 11. September zeigte, gelungen, Finanzblockaden zu umgehen, was nicht ins Bild einer allmächtigen „AL-QAIDA IST IN JEDER HINSICHT die Summe der weltweit gesperrten Gelder Supermacht passt – auch die USA habe sich in den vergangenen acht Mona- können sich nicht aus dem lähmen- GESUND UND BEREIT, NACH EIGENEM ten nur mehr auf 10 Millionen Dollar be- den Pessimismus ihrer Wirtschaft BELIEBEN ZUZUSCHLAGEN.“ laufen – al-Qaida nehme aus Spenden aber befreien, selbst wenn Bush mit nahezu ungehindert jährlich 16 Millionen Steuererleichterungen und Konjunkturpro- Bora pulverisiert. Andere glaubten, der Dollar ein. grammen nachhilft. Im Gegenteil: Je be- Qaida-Chef könne seinem Nierenleiden er- Und dass der Terrorchef „Nine/Eleven“ harrlicher der Ölpreis pro Barrel unter der legen und irgendwo verscharrt sein. Doch mit seinen unsäglichen Folgen nur als Etap- Drohung eines neuen Irak-Kriegs sich der dafür fehlt jeder Beweis. penziel sieht, zeigen die Schlussworte in 30-Dollar-Marke nähert, desto näher rückt Die meisten Geheimdienstfachleute dem neu aufgetauchten Brief. Die Gläubi- auch die Gefahr eines weiteren, weltweiten schließen gerade aus der Tatsache, dass gen könnten sich darauf verlassen, „Zeu- Rückschlags. Bin Ladens Name im abgehörten Funk- gen des Falls der Vereinigten Staaten“ zu Hinzu kommt die Angst vor neuen An- verkehr der Qaida-Truppen monatelang werden, heißt es in dem Schreiben. schlägen. Für den Jahrestag der Terror- nicht mehr aufgetaucht ist, dass sich der Schon bald, verspricht der Autor, ge- angriffe auf New York und Washington ha- Boss erfolgreich abgesetzt hat: Die Mel- be es „gute Neuigkeiten in dieser Hin- ben europäische Fluglinien einen Teil ihrer dung seines Todes würde wohl irgendwo sicht“. Erich Follath, Hans Hoyng, Transatlantikflüge gestrichen. Eine ameri- ausgeplaudert. Gerhard Spörl, Bernhard Zand

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Werbeseite Sicherheitsberaterin Rice, Präsident Bush im Oval Office: „Dass Amerika verwundbar sein könnte, gehört schlicht nicht zum Erfahrungsschatz

SPIEGEL-GESPRÄCH „Die Terroristen hassen auch Berlin“ Die amerikanische Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice über den anhaltenden Schock des 11. September, die Erfolge im weltweiten Kampf gegen den Terror und die Notwendigkeit, Saddam Hussein zu stürzen

SPIEGEL: Dr. Rice, wo waren Sie an jenem SPIEGEL: Haben Sie da schon den Präsi- raum und versuchte, die wichtigsten Ak- Morgen des 11. September kurz vor 9 Uhr? denten benachrichtigt? teure für die Außen- und Sicherheitspoli- Rice: Ich stand an diesem Tisch hier und Rice: Er war auf einer Bildungsveranstal- tik zusammenzutrommeln. ordnete meine Papiere für die morgend- tung in Florida. Ich sagte: „Herr Präsident, SPIEGEL: Außenminister Colin Powell war liche Besprechung mit meinen engsten Mit- ein Flugzeug hat das World Trade Center gar nicht in Washington? arbeitern. Da kam mein Assistent ins Zim- getroffen.“ Er antwortete: „Was für ein Rice: Ich wähnte ihn zunächst in Kolum- mer und sagte: „Ein Flugzeug ist gerade ins schrecklicher Unfall. Halten Sie mich auf bien und dachte: Wenn das ein weltweiter World Trade Center gerast.“ Ich dachte dem Laufenden.“ Dann ging ich runter zur Angriff auf amerikanische Interessen sein automatisch an eine kleine zweimotorige Sitzung, wo ich die Nachricht erhielt, dass sollte, könnte es, bei all dem Terrorismus Maschine, die womöglich vom Kurs abge- ein zweites Flugzeug ins World Trade Cen- dort unten, keinen schlechteren Ort geben. kommen war. Etwas Ähnliches war in den ter geflogen sei. In diesem Augenblick Aber er war in Peru. Dann versuchte ich, Jahren zuvor schon mal passiert. wusste ich: Mein Gott, das ist ein Terror- CIA-Chef George Tenet zu erreichen und angriff, und sofort kam mir al-Qaida in den wenig später Verteidigungsminister Don Das Gespräch führten die Redakteure Stefan Aust, Hans Sinn, aber ich hatte keine Zeit, weiter dar- Rumsfeld. Doch da war bereits das Flug- Hoyng und Gerhard Spörl. über nachzudenken. Ich ging in den Lage- zeug ins Pentagon gestürzt. Jetzt erschie-

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SPIEGEL: Werden die Amerikaner sich je- SPIEGEL: Haben Sie denn im Rückblick eine mals wieder so sicher fühlen wie vor dem Erklärung dafür, warum so viele Exper- 11. September? ten bei den Geheimdienstorganisationen Rice: Nein. Es war ein schwerer Schock damals in die falsche Richtung geschaut für unser Land und hat gezeigt, dass un- haben? sere Verwundbarkeit in unserer Offen- Rice: Die Ausrichtung unserer Gedanken heit und Großzügigkeit liegt und dass und Erwartungen wird eben wesentlich die Terroristen diese Eigenschaften gegen durch die Erfahrung bestimmt. Auf der an- uns wenden konnten. Trotzdem konnten deren Seite haben wir ernsthaft versucht, diese Anschläge nicht den Selbstbehaup- uns der Gefahr durch al-Qaida zu stellen. tungswillen Amerikas schwächen oder Schon die Clinton-Regierung verfügte über zerstören. ein aggressives Programm; als wir unser SPIEGEL: Als Sie Ihr Amt übernahmen, war Amt antraten, hat sie uns darüber unter- der internationale Terrorismus bereits ein richtet. Clintons oberster Terror-Bekämp- wichtiges Thema. Was genau haben Sie fer, Dick Clarke, hat mich eineinhalb Stun- eigentlich erwartet? den lang gebrieft, und ich habe ihn dann in FOTOS: ERIC DRAPER / WHITE HOUSE / WHITE ERIC DRAPER FOTOS: von Generationen von Amerikanern“ Staatschef Bush, Mitarbeiter*: „Angriff von gewaltigem Ausmaß“

nen Sicherheitskräfte und beorderten mich Rice: Wir wussten, dass der Terrorismus der gleichen Funktion übernommen. Wir in den Bunker. Vizepräsident Dick Cheney eine große Gefahr war, wir wussten auch, haben uns natürlich auch anderes überlegt, war bereits da. dass al-Qaida eine große Gefahr für die was die Clinton-Regierung unserer Mei- SPIEGEL: Wurde nicht das ganze Weiße Vereinigten Staaten darstellte. Es gab nung nach versäumt hat. Es ist ja auch nicht Haus evakuiert? sogar kontinuierliche Bemühungen auf so, dass sich unsere Geheimdienste nicht Rice: Ja, man sagte uns, ein weiteres Flug- Seiten der Regierung, Anschläge von al- um al-Qaida gekümmert hätten. Sie führ- zeug halte womöglich auf das Weiße Haus Qaida zu vereiteln und die Mitglieder zu ten einen Kampf gegen die Terroristen von zu. Auf dem Weg in den Bunker rief ich verhaften. Aber all diese Bemühungen al-Qaida. Noch mal: Wir wussten mehr dar- den Präsidenten wieder in Florida an, der wurden erst nach dem 11. September dra- über, was sie im Ausland vorhatten als im bereits zur Air Force One zurückfuhr. Ich matisch verstärkt. Das Problem war: Wenn Inland. sagte: „Herr Präsident, Sie können nicht es keine einigermaßen konkreten Hin- SPIEGEL: Aber die Tragödie bestand doch hierher kommen. Es gibt einen Angriff auf weise gibt, ist es schwer, darauf richtig zu darin, dass FBI-Agenten in Phoenix und in Washington.“ reagieren. Minneapolis durchaus den richtigen Ver- SPIEGEL: Hatten Sie jemals mit einem sol- SPIEGEL: Es gab doch Hinweise in Hülle dacht hatten. Viele Details der drohenden chen Anschlag gerechnet? und Fülle. Gefahr waren bekannt, aber niemand hat Rice: In meiner akademischen Ausbildung Rice: Nach den Informationen, die wir im das Bild zusammengefügt. Liegt das an der habe ich mich auf Internationale Politik spe- Juni, Juli und August 2001 erhielten, deu- unhandlichen Größe der Institutionen? zialisiert und kann Ihnen gar nicht sagen, an tete alles darauf hin, dass wieder irgend- Rice: Ja sicher, und der Umbau unserer wie vielen Planspielen ich teilgenommen etwas im Ausland geschehen könnte. Das Geheimdienste ist deshalb in vollem Gang. habe, in deren Mittelpunkt ein solcher An- Gipfeltreffen der G-8-Staaten in Genua war Direktor Bob Mueller vom FBI war der griff von gewaltigem Ausmaß stand. Aber als möglicher Anschlagsort genannt wor- Erste, der gesagt hat, das FBI müsse akti- sich mit etwas gedanklich zu beschäfti- den. Einen Hinweis auf ein Ereignis in der ver werden beim Erfassen von Hinweisen. gen und es dann wirklich zu erleben sind Größenordnung vom 11. September hat es Weil die Vereinigten Staaten keinen In- zwei vollkommen verschiedene Dinge. Dass jedoch nicht gegeben. landsgeheimdienst wollten, ist das FBI ei- Amerika verwundbar sein könnte, gehörte gentlich nur eine Polizeibehörde. Das ent- schlicht nicht zum Erfahrungsschatz von * In der Emma-Booker-Grundschule in Sarasota (Florida) sprach unserer politischen Kultur und na- Generationen von Amerikanern. unmittelbar nach den Anschlägen. türlich auch der Erfahrung, dass es einen

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Angriff einer auswärtigen Macht auf ame- Epoche ein, in der sich die Menschen frag- te vielmehr als weltweiter Krieg gegen den rikanischem Boden so lange nicht mehr ten, welchen Gefahren sie nach dem Ende Terrorismus angelegt werden, weil es auch gegeben hat. Und eine Polizeibehörde des Kalten Krieges jetzt wohl ausgesetzt andere Länder gab, die für solche Terror- kann eben erst dann einschreiten, wenn seien. Viele Leute fragen sich: Wird eine angriffe verwundbar waren und dasselbe ein Verbrechen stattgefunden hat. andere Macht stärker werden … Schicksal erleiden könnten. Deshalb han- SPIEGEL: Das wird sich nun ändern? SPIEGEL: … und so die USA, die einzige delt es sich eben nicht um einen Rache- Rice: Ja, wir werden diesen Teil unserer verbliebene Supermacht, herausfordern? feldzug der USA. politischen Kultur wohl ändern und na- Rice: Andere fragen sich, ob kleinere eth- SPIEGEL: War es leicht, die Koalition für türlich auch einige der Aufgaben der be- nische Konflikte das Zusammenleben der diesen Krieg zu schmieden? troffenen Organisationen. So durften bei- Rice: Es war vielleicht nicht ganz spielsweise die CIA und das FBI ihre DIE TERRORISTEN HATTEN AFGHANISTAN einfach, aber es gab doch viele Erkenntnisse nicht teilen, was ebenfalls Länder, die sofort verstanden ha- historische Gründe hatte … PRAKTISCH GEKIDNAPPT, SIE ben, dass wir angesichts eines sol- SPIEGEL: … weil in der Vergangenheit auch WAREN DIE WAHREN HERREN DES LANDES. chen Terroranschlags einem ge- Amerikaner illegal ausspioniert worden meinsamen Sicherheitsrisiko aus- waren. Völker erschüttern. Werden es humanitäre gesetzt waren. Die Hilfsangebote, die wir Rice: Unnötige Barrieren wurden jetzt in Krisen sein, etwa Hungersnöte? Und dann aus aller Welt für den Kampf gegen den dem so genannten Patrioten-Gesetz nach plötzlich machte der 11. September alles Terrorismus erhalten haben, sind ja nicht dem 11. September aufgehoben. Deswe- klar: Was uns bedroht, ist der internatio- aus Sympathie für die USA hier eingetrof- gen auch der Umbau der Geheimdienste nale Terrorismus und möglicherweise auch fen. Ihnen lag vielmehr die Definition eines und die Einrichtung eines Ministeriums für Massenvernichtungswaffen in der Hand gemeinsamen Interesses zu Grunde. Ich Innere Sicherheit. Seine Aufgabe ist es, ein von feindlichen Staaten, die unter Um- erinnere mich an ein Gespräch des japani- ERIC DRAPER / WHITE HOUSE / WHITE ERIC DRAPER DAVID BOHRER / WHITE HOUSE BOHRER / WHITE DAVID Krisenmanager Rice (M.), Cheney (r.)*: „Aktiver Kampf“ Krisenmanager Bush*: „Gleiche Werte verteidigen“ tägliches Bedrohungsbild jener Gefahren ständen auch noch den Terrorismus unter- schen Premiers Koizumi mit dem Präsi- zu erstellen, denen die USA auf ihrem stützen. denten, als sie sich kurz nach dem An- eigenen Territorium ausgesetzt sind. SPIEGEL: War von Anfang an klar, dass schlag in Schanghai trafen. Koizumi sagte: SPIEGEL: In einer Rede an der Johns-Hop- Amerikas Antwort in einem Krieg gegen „Sie müssen diesen Krieg gegen den Ter- kins-Universität haben Sie den 11. Sep- den Terror und nicht in einzelnen Schlägen rorismus gewinnen, oder wir sind alle ver- tember mit der Zeit unmittelbar nach dem gegen die Terroristen bestehen würde? loren.“ Dieses Bewusstsein hat uns zu- Zweiten Weltkrieg verglichen. Warum? Rice: Unmittelbar nach dem 11. September sammengeschweißt. Rice: Ich glaube, dass sich internationale brauchte das Land Zuspruch, und deswe- SPIEGEL: Aber kann der Krieg in Afghani- Politik nicht beständig und gleichmäßig gen vermied der Präsident in seiner ersten stan als Erfolg gewertet werden, solange weiterentwickelt, sondern dass immer dann Ansprache das Wort Krieg. Aber noch am Osama Bin Laden nicht gefasst worden Entwicklungsschübe auftreten, wenn es ein gleichen Abend traf er eine wichtige Ent- ist? großes Erdbeben gegeben hat. Manchmal scheidung, als er feststellte, dass dieser An- Rice: Der Krieg in Afghanistan war schon ist es ein Krieg, der das austarierte Gleich- griff auf die USA nicht nur ein Angriff von in dem Maße ein Erfolg, in dem wir es al- gewicht der Kräfte erschüttert, wie bei- Terroristen war, sondern auch von denen, Qaida unmöglich machten, das Land wei- spielsweise der Zweite Weltkrieg. Ein an- die ihnen Schutz gewährt hatten. Da wur- terhin als Zufluchtsort zu nutzen. Die dermal wirbelt ein Zwischenfall wie der de erstmals deutlich, dass es sich bei Ame- Terroristen hatten das Land praktisch ge- 11. September das internationale System rikas Antwort um mehr handeln würde als kidnappt, sie waren die wahren Herren Af- durcheinander. Ich sehe den Zusammen- um die Jagd auf eine Qaida-Zelle. ghanistans. Deshalb konnten sie dort trai- bruch der Sowjetunion 1991 und den 11. SPIEGEL: Wie ist dann die Entscheidung für nieren und ihre finanziellen Transaktionen September gewissermaßen als zwei Buch- einen Krieg gegen den Terrorismus ge- durchführen. Das ist ihnen inzwischen al- stützen an. Sie klammern eine spezifische fallen? les verwehrt. Was immer sie jetzt noch un- Rice: Präsident Bush entschied, diesen ternehmen, sie können es nicht mehr so Krieg nicht allein im Namen der USA zu einfach und so wirksam durchführen wie in * Links: im Lageraum des Weißen Hauses am 11. Sep- tember 2001; rechts: mit Stabschef Andrew Card an Bord führen, und auch nicht nur, weil wir ange- Afghanistan. Überdies ist es uns gelungen, der Air Force One auf dem Rückflug nach Washington. griffen worden waren – dieser Krieg muss- gegen die Führungsriege von al-Qaida vor-

108 der spiegel 36/2002 zugehen. Einige ihrer Mitglieder haben wir netzwerk, das weltweite Ausmaße erreicht eine Bedrohung der internationalen Stabi- verhaftet, andere wurden getötet. Schließ- hat. Dieser Abwehrschirm erschwert lität und des Friedens darstellt? Zweimal ist lich sollten wir nicht vergessen, dass ein es den Terroristen, sich irgendwo zu er über seine Nachbarn hergefallen. Er hat Land befreit … verstecken. chemische Waffen gegen sein eigenes Volk SPIEGEL: … aber noch nicht befriedet wurde. SPIEGEL: Sind Sie denn mit der internatio- und seine Nachbarn eingesetzt. Er ist zwei- Rice: Sicher, die Lage ist schwierig, und nalen Zusammenarbeit immer noch so zu- mal bei dem Versuch ertappt worden, Afghanistan sieht sich noch gewaltigen frieden wie zu Beginn des Krieges? Nuklearwaffen in seinen Besitz zu brin- Herausforderungen gegenüber. Aber die Rice: Wir sind mit der internationalen Zu- gen, und verfügt über Unmengen von bio- Mädchen können wieder in die Schule ge- sammenarbeit sogar sehr zufrieden und logischen Waffen. Er verweigert noch im- hen. Man hört wieder Musik auf den glücklich. Viele Länder haben neue Ge- mer die Erfüllung jener Verpflichtungen, Straßen. Die Afghanen konnten gerade die setze erlassen und können jetzt die Finan- die er eingegangen war, nachdem er 1991 erfolgreichste Loya Jirga ihrer Geschichte zen der Organisation aufbrechen. Sie teilen den Krieg verloren hat. Vor vier Jahren abhalten, und selbst die Demokratie be- Geheimdiensterkenntnisse nicht nur mit hat er die Uno-Inspektoren rausgeschmis- ginnt Fuß zu fassen. Natürlich würden wir uns, sondern auch untereinander, so dass sen, und heute führt er sich so auf, als hät- liebend gern Osama Bin Laden fangen und das Anti-Terror-Netz immer breiter wird. te er damals den Krieg gewonnen. Das ist ihn zur Rechenschaft ziehen. Präsident Überall auf der Welt werden al-Qaida-Zel- der Grund, warum die Vereinigten Staaten Bush hat das so ausgedrückt: „Wir wissen len verhaftet. Dennoch müssen wir uns über einen Regime-Wechsel sprechen. nicht, ob er tot oder lebendig ist. Ist er tot, weiterhin auf unsere Aufgabe konzentrie- SPIEGEL: Glauben Sie, dass die Solidarität dann haben wir ihn gekriegt, ist er leben- ren, der Krieg ist keineswegs vorüber. Al- der europäischen Länder nach dem dig, dann werden wir ihn kriegen.“ Qaida hat lange Zeit gebraucht, sich ein- 11. September ein Einzelfall war? SPIEGEL: Ist die Bedeutung der Person zugraben, und wir brauchen lange Zeit, sie Rice: Nein, das war sehr viel mehr als ein Osama Bin Ladens überschätzt worden? auszugraben. Einzelfall. Das war eine Solidarität, die sich aus der Erkenntnis ableitete, dass es Paris oder London oder Berlin genauso hätte treffen können. Denn die Terroristen has- sen Berlin, London und Paris genauso wie New York und Washington, weil auch die- se Städte Sinnbilder einer freien und offe- nen Gesellschaft sind. Für mich drückte sich diese Gemeinsamkeit am deutlichsten in der Ausrufung des Verteidigungsfalls nach Artikel 5 des Nordatlantik-Vertrags aus. Damit war das Prinzip verwirklicht, dass ein Angriff auf ein Mitgliedsland ein Angriff auf alle Mitgliedsländer bedeutet. Wir haben immer geglaubt, der Artikel 5 könnte nach einem Angriff der Sowjet- union auf Europa angewandt werden. Iro- nischerweise trat er nun nach einem An- griff auf Amerika in Kraft. SPIEGEL: Aber es ist doch nicht zu leugnen,

GETTY IMAGES dass es unter den Verbündeten inzwischen Staatschef Bush, Verteidigungsminister Rumsfeld*: „Der Krieg ist keineswegs vorüber“ erhebliche Differenzen gibt. Rice: Wirklich bedeutsam ist für mich, dass Rice: Keiner von uns weiß ganz genau, wel- SPIEGEL: Und wenn das eines Tages erle- dieses Nato-Konzept – ein Angriff auf einen che Rolle er in der Befehlsstruktur von al- digt ist? ist ein Angriff auf alle – all jene unterschied- Qaida übernommen hatte. Wir wissen Rice: Dann gibt es noch andere welt- lichen Auffassungen relativiert, die wir natür- nicht, ob al-Qaida sehr hierarchisch aufge- weit operierende Terrorgruppen: Es gibt lich auch haben: Wir haben Auseinander- baut war oder ob – im Gegenteil – einzel- Hisbollah, es gibt Hamas, deren Bekämp- setzungen über einen kleinen Teil unseres ne Zellen hohe Eigenverantwortung tru- Handels. Wir gehen auch sicher gen. Dennoch ist klar, er war die einigen- MÜSSEN WIR DENN WIRKLICH NOCH unterschiedlich an das Problem de Figur, und vielleicht ist er das ja noch. des Klimawandels heran. Wir den- Auf jeden Fall ist seine Organisation ge- BEWEISEN, DASS SADDAM HUSSEIN EINE ken vielleicht auch unterschiedlich schwächt worden. BEDROHUNG DES FRIEDENS DARSTELLT? über Institutionen wie den Inter- SPIEGEL: Wie würden Sie denn den gegen- nationalen Strafgerichtshof. wärtigen Frontverlauf im Kampf gegen den fung nicht aus unserem Blickfeld gera- SPIEGEL: Wir denken ganz sicher unter- Terror beschreiben? ten darf. schiedlich über den Versuch, Amerikaner Rice: Zunächst einmal sind wir weiter- SPIEGEL: Denken Sie in diesem Zusam- von der Zuständigkeit des Gerichts auszu- hin damit beschäftigt, Taliban und al- menhang auch an den Irak? nehmen. Qaida-Mitglieder, die sich immer noch in Rice: Ich habe bereits vor dem 11. Septem- Rice: Aber das eine wichtige Feld, über das Afghanistan befinden, aufzuspüren. In ber gesagt, dass der Irak ein Problem dar- wir nicht unterschiedlicher Auffassung sind, Zusammenarbeit etwa mit den Regierun- stellt. Und er bleibt ein Problem auch nach auf dem wir die gleichen Werte verteidigen, gen des Jemen, der Philippinen oder dem 11. September. ist die Freiheit. Und wenn die angegriffen von Georgien versperren wir ihnen den SPIEGEL: Ist das Grund genug für einen Ein- wird, erinnert uns das daran, was wirklich Rückzug in neue Schlupflöcher. Dar- marsch? wichtig ist. Und deswegen halte ich den über hinaus profitieren wir von einem Rice: Im Irak ist ein Regime an der Macht, 11. September auch für eine wirklich trau- enormen Geheimdienst- und Ermittlungs- das seine Eigenschaften mehr als deutlich rige Erinnerung an das, was uns eint. gezeigt hat. Müssen wir denn wirklich im- SPIEGEL: Dr. Rice, wir danken Ihnen für * Vor dem beschädigten Pentagon am 12. September 2001. mer noch beweisen, dass Saddam Hussein dieses Gespräch.

der spiegel 36/2002 109 GETTY IMAGES (R.) GETTY IMAGES Anschlag auf den Nordturm des World Trade Center, Pilot Atta: „Der Tod wird euch einholen, auch wenn ihr in ragenden Türmen seid“ Attas Armee Wie dachten die Todespiloten des 11. September? Wie funktionierte die Gruppe? Wer war der Drahtzieher? Ein Jahr danach ermöglichen die Resultate der Ermittlungen, Berichte von Aussteigern und bisher nicht ausgewertete Dokumente einen Blick ins Innenleben der Bande.

s war nicht mehr viel Zeit zu verlie- sche abends nicht mehr. Dafür, versprach die Truppe testete die Tauglichkeit ihrer ren, es wurde ernst. Es ging darum, Atta dem Zweifelnden, warteten im Para- Soldaten, und wer nicht bestand, den ver- Ewer dabei sein wollte und konnte, dies schließlich 70 Jungfrauen und 70 Häu- stieß sie. und es ging darum, wer zu schwach war ser, und die 70 Jungfrauen würden ihm das Attas Armee zog in ihren Heiligen Krieg, und damit gefährlich. Leben im Jenseits mit Honig versüßen. und dafür brauchte der Kommandant Mär- Es war Ende 1999. „Ich mag keinen Honig“, sagte der jun- tyrer und keine Memmen. Und ausgerechnet jetzt beschwerte sich ge Deutsche. der junge Deutsche Shahid, dieser Be- Und das war eines dieser Signale, einer er Wahn der Hamburger hat über kehrte, auf den Mohammed Atta immer so dieser Schlüsselmomente, die Mohammed D3000 Menschen das Leben gekostet, stolz gewesen war, dieser Muslim, darüber, Atta zur Auswahl dienten. Ich mag keinen darunter wahrscheinlich zehn Deutsche. dass sie immer dieselben Koranstellen Honig, das hieß für Atta, dass da einer Eine Frau starb im Krankenhaus; die durchnähmen. Außerdem, was wollten sie nicht wirklich folgen wollte, nicht bis zum Leichenteile von vier weiteren Opfern denn schon ausrichten gegen die über- Letzten, nicht bis in den Tod. konnten nur mit Hilfe von DNA-Analysen mächtigen USA? „Man kann etwas tun, es Atta und seine Adjutanten Marwan al- identifiziert werden. Von fünf Deutschen gibt Wege“, sagte Atta, „die USA sind kei- Shehhi und Ramzi Binalshibh verlangten fanden sich nicht einmal sterbliche Über- ne Allmacht.“ Klarheit: Muslim oder Ungläubiger, was reste: Ihre Familien bekamen für die Bei- Und überhaupt, sagte der damals 18- sei der junge Deutsche denn nun? Aber in setzungen nur eine Urne mit Staub des jährige Deutsche dann, er sei jetzt schon in Wahrheit brauchten sie schon keine Ant- World Trade Center. der zwölften Klasse und noch nie auf dem wort mehr; von nun an zogen sie sich Ein Jahr ist vergangen seit den Anschlä- Kiez gewesen, und von Mädchen habe er zurück, von nun an gab es Geheimnisse gen vom 11. September, seit den vier noch immer keine Ahnung. und ein seltsames Schweigen, und wenn Flugzeugentführungen, seit den Angriffen Mädchen? der Zweifler die Küche in der Marienstraße auf World Trade Center und Pentagon. Mädchen waren fast so schlimm wie Ju- betrat, unterhielten die anderen sich von Es war ein Jahr, in dem über 600 deutsche den, Mädchen seien verboten, antwortete nun an auf Arabisch. Ende 1999 war Ermittler und Tausende Kollegen auf der Atta, und ausgehen solle der junge Deut- Schluss für den jungen Deutschen, denn ganzen Welt mit nichts anderem beschäftigt

110 der spiegel 36/2002 Titel waren als mit der Aufklärung des größten und grausigsten Anschlags aller Zeiten. Essen, beten, diskutieren – sie waren seltsame Freunde. Und heute lässt sich sagen, wie es zum 11. September kommen konnte. Wie Atta sei- nen Terrortrupp führte. Wie die Mörder des 11. September dachten, planten, handelten. Denn es gibt Zeugen, die Atta und sei- ne Bande begleitet haben, lange Zeit und in nächster Nähe – und die nun ihr Schwei- gen brechen wie der junge Deutsche Sha- hid. Es gibt einen Film, der eine Rede Osa- ma Bin Ladens zeigt und der auf Said Ba- hajis Festplatte gefunden wurde. „Wo auch immer ihr seid, der Tod wird euch einho- len, auch wenn ihr in ragenden Türmen seid“, droht Bin Laden da seinen Feinden. Es gibt Briefe, E-Mails, Akten, und vor allem gibt es das Archiv der Islam AG, die Mohammed Atta an der Technischen Uni- versität (TU) Hamburg-Harburg gegrün- det hatte, Berge von Zetteln und Tonbän- dern und Terror-Propaganda. Und das Hamburger Zeuge Marek, Mutter Christine alles verrät eine Menge über die Mörder; es erzählt ihre Geschichte teilweise neu, es macht die Geschichte ziemlich komplett. „Gott, lass ihre Frauen Witwen werden.“ Und darum lässt sich heute begreifen, wie aus Hamburger Musterstudenten zunächst Radikale, dann Bin-Laden-Rekruten und am Ende Massenmörder wurden. Einiges wussten die Fahnder damals, vor einem Jahr, bereits nach wenigen Tagen: Dass Atta und Marwan al-Shehhi die Pilo- ten waren, die das World Trade Center zum Einsturz brachten, wurde ihnen schnell klar; dass Ziad Jarrah und sein Trupp jene Maschine gekapert hatten, die auf einer Wiese in Pennsylvania zerschell- te, war gleichfalls schnell ermittelt. Und dass sich die Gruppe in Hamburg geformt und aufgeheizt hatte, ahnten sie nach ein paar Tagen. Was dann begann, war die Suche nach dem Motiv, die Fahndung nach den Hin- termännern, die Suche nach dem Draht- zieher des Massenmords. Hinterlassenschaften der Islam AG Die These, der junge Ägypter Moham- med Atta und seine Kumpane seien gleich- sam zur Ausbildung nach Deutschland Zentrum der Sekte, Heimat für alle. geschickt worden, hat sich inzwischen erledigt. Nichts spricht mehr für die Schlä- fer-Theorie – den spektakulärsten Terror- anschlag aller Zeiten haben ein paar Jungs begangen, die sich Stück für Stück in einen Hass gegen den Westen hineinsteigerten, als sie längst im Westen lebten. Zunächst hatten sie noch fleißig studiert, ganz so, als wollten sie die Chance nut- zen, Teil der für sie neuen, fremden Welt zu werden. Doch von Tag zu Tag wur- den sie gefährlicher; sie wurden Feinde des Systems, in dem sie lebten und das sie benutzten. Sie haben sich nicht akklima- tisiert in Deutschland, sie haben sich immunisiert. Shehhi jonglierte besonders gekonnt zwischen seinen zwei Welten. Er lebte von einem Stipendium der Vereinigten Arabi- schen Emirate, 4000 Mark pro Monat und Ehemalige Terroristen-Wohnung Marienstraße 54

einmal jährlich 10000 Mark; insgesamt wa- BAUER SPIEGEL (M.); WILFRIED SCHUMANN/DER F. DONIMIK CZIESCHE/DER SPIEGEL (O.);

der spiegel 36/2002 111 Titel THOMAS NIEDERMÜLLER / ACTION PRESS (L.); / ACTION NIEDERMÜLLER THOMAS (R.) RTC Generalbundesanwalt Nehm, Angeklagter Motassadeq: Wissentlich den Terror unterstützt? ren es in fünf Jahren über 220000 Mark, Darum ist die Suche nach Mister X Strippenzieher, eher schon der Buchhalter und dieses Geld war eine Art Fonds für längst eingestellt, kein Staatsschützer der Gruppe. Und darum kommt lediglich die Todespiloten. Wenn Shehhi zur Bot- glaubt mehr an ihn. Natürlich, der Befehl einer aus dem Umfeld der Gruppe der Rol- schaft nach Bonn musste, mietete er sich ei- sei von der Qaida-Spitze gekommen, ver- le des Mister X auch nur nahe. nen Mercedes. Und auch als er im August mutlich von dem weltweit gesuchten Cha- Mohammed Haydar Zammar, 41, ein 1999 ein Konto bei der Dresdner Bank lid Scheich Mohammed, einem Kuweiter, Deutsch-Syrer, der seit Anfang des Jahres eröffnete, bediente er sich der Vorzüge des einem Vertrauten Osama Bin Ladens, so in syrischer Haft sitzt, hatte Atta und sei- Kapitalismus: Mit Daueraufträgen und Ab- die Ermittler. Und natürlich gab es Helfer, ne Glaubensbrüder entdeckt und geför- hebungen am Automaten ging er an die Männer, die den Todespiloten den Rücken dert. Für Zammar war das nichts Unge- Grenzen seines Dispo-Kredits. freigehalten haben sollen wie Mounir al- wöhnliches, denn schon seit Jahren hatte er Aber er lief mit Turban herum und wei- Motassadeq, den Generalbundesanwalt Rekruten den Weg in die Lager Bin La- gerte sich, Sachbearbeiterinnen die Hand Kay Nehm in der vergangenen Woche an- dens gewiesen; „festes Schuhwerk und zu geben. „Das verbietet meine Religion“, geklagt hat (SPIEGEL 34/2002). warme Kleidung nicht vergessen“, riet er sagte er. Vor dem Hamburger Oberlandesgericht dem Nachwuchs. Dass das alles in Hamburg geschah, war müssen die Strafverfolger nun nachweisen, Zammar, der selbst in Afghanistan und Zufall, sonst nichts. Es hätte auch anders- dass Motassadeq wissentlich eine Terror- auf dem Balkan gekämpft haben soll, war wo in Deutschland und überall in Europa organisation unterstützt und damit Beihil- ein Mann der ersten Qaida-Generation in geschehen können. Es brauchte bloß einen fe zum Massenmord geleistet hat; der jun- Europa. Er begrüßte die jungen Wilden, Killer wie Mohammed Atta. ge Deutsche Shahid, heute 21 Jahre alt, wird die zweite Generation. Er stellte ihnen sein Der, dabei ist es geblieben, war der ent- der wichtigste Zeuge in diesem Prozess Netz zur Verfügung, er bereitete ihnen den scheidende Mann. Atta übernahm es, in sein. Motassadeqs Hamburger Anwälte Boden. Aber dann waren die Jungs groß, der Hamburger Diaspora nach Gleichge- Hartmut Jacobi und Hans Leistritz halten und Zammar wurde kaum noch benötigt, sinnten zu suchen. Er formte die Gruppe. die Beweismittel für „dürftig“; sie beruhten jedenfalls nicht als Kopf des Killertrupps. Er unterrichtete die anderen, er lebte vor, „teils auf mangelnder Kenntnis des islami- Atta brauchte keine Vaterfigur. was er von den anderen verlangte, er war schen Kulturkreises“, schreiben sie. Mo- Anfang der neunziger Jahre beginnt das Vorbild und Führerfigur. Und er beschloss, tassadeq, das scheint sicher, war keiner der erste Kapitel der Geschichte des 11. Sep- wer dazugehörte und wer draußen blieb. tember: Die jungen Männer Eine Sekte waren die Mörder des 11. Sep- kommen einer nach dem ande- tember, und Mohammed Atta war ihr Guru. ren nach Deutschland – gebil- Anfangs hatten die Fahnder noch ge- dete, so genannte wohlerzogene glaubt, sie müssten den Kopf der Ham- Typen, ins Ausland geschickt, burger Gruppe finden, jenen Mister X, der um zu studieren. Sie finden zu- die späteren Attentäter angestachelt und einander, sie entdecken ge- dafür gesorgt haben könnte, dass keiner meinsame Wurzeln, sie beten, wankelmütig wurde. So einen muss es ge- und ganz langsam werden sie geben haben bei diesem Anschlag, hatten radikal. die Fahnder gedacht. Atta, Binalshibh und Shehhi Es gab ihn nicht, sagen sie heute. ziehen 1998 erstmals zusam- Denn die Terrororganisation al-Qaida men, in der Harburger Chaus- funktioniert „wie ein Geflecht von Firmen see 115; wenig später mieten sie mit einem Stamm freier Mitarbeiter“, sagt drei Zimmer, Küche, Bad in der ein deutscher Ermittler. Die einzelnen Marienstraße 54. Am 9. Okto- Gruppen kommunizieren weltweit und ber 1999 heiratet Said Bahaji, verschlüsselt via Internet; finanziert wird und die Hamburger Islamisten- al-Qaida über Investments in aller Welt Prominenz erscheint vollzählig. und über Spenden, jährlich mehrere hun- Binalshibh spricht, und irgend-

dert Millionen Dollar, vor allem aus arabi- TIMES NEW YORK jemand hält die Videokamera schen Staaten. Und wenn eine Zelle erst ihr „Nationalsozialistisches Weltbild“: Atta mit Schwester drauf; dieses Band ist einer der Ziel und ihr Geld hat, arbeitet sie selb- im ägyptischen al-Arisch – Ende der achtziger Jahre Schätze der Ermittler. Die Isla- ständig bis zum Schluss. misten, ruft Binalshibh, müssten

112 der spiegel 36/2002 Der Anführer Der Chef und Der Hetzer Mohammed Atta seine Vollstrecker Mohammed führte die Hamburger Zelle Haydar Zammar in den Dschihad, war der Die perfekte Arbeitsteilung der Hamburger Zelle rekrutierte die Truppe für entschlossenste unter den al-Qaida-Camps, soll selbst Todespiloten, kam schon in Afghanistan und Bosnien 1992 als Strenggläubiger gekämpft haben, der 140-

GETTY IMAGES nach Deutschland und KNUT MÜLLERKNUT / DER SPIEGEL Kilo-Mann sitzt seit Anfang scharte bald als Lehrer eine des Jahres in Syrien in Haft radikale Gruppe um sich

Die Pilote n Die Helfer Marwan al-Shehhi Said Bahaji Ramzi Binalshibh war ein lebensfroher Typ, wickelte Mietangelegen- der zweite Mann hinter bevor er in afghanischer heiten und Verträge für die Atta, gilt als besonders Kleidung durch Hamburg Gruppe ab, hortete auf charismatisch, sollte selbst lief, sein Stipendium aus seinem PC neben einem Pilot werden, scheiterte am der Heimat von mehr Bin-Laden-Propaganda- US-Visum, kümmerte sich

als 220000 Mark in fünf Video diverse Ordner für WINFRIED ROTHERMEL / AP dann um Finanzen und GETTY IMAGES Jahren nutzte er zur Terror- die geschäftlichen Angele- hielt Kontakte zu Extremis- finanzierung genheiten der Attentäter ten in aller Welt Ziad Jarrah Zakariya Essabar Mounir al-Motassadeq kam 1996 aus dem war als Ersatzpilot für wurde vergangene Woche Libanon als Lebemann Binalshibh eingeplant, von der Generalbundes- nach Deutschland, er bekam aber kein US- anwaltschaft angeklagt, liebte den Alkohol und Visum; wie Bahaji und er soll die Atta-Crew als das Feiern, hatte eine Binalshibh verließ er Ham- Hamburger Statthalter APP/DPA AP GAMMA / X STUDIO Freundin, verwandelte burg vor den Attentaten, unterstützt haben, sich aber unter Attas Ein- alle drei werden weltweit als sie in den USA fluss in einen Extremisten mit Haftbefehl gesucht Flugunterricht nahm von den Juden befreit werden. Dann stim- formationen über Flugsimulatoren, aus dem der Elbe. Dort verwischen sie Spuren und men er und Shehhi Dschihad-Gesänge an. Internet gefischt im November 1999. erzählen, dass Atta gerade promoviere, mal Und im November des Jahres 1999 wol- Als Atta, Jarrah und Shehhi Anfang 2000 in Amerika, mal in Malaysia. Und von len die Jungs nicht mehr diskutieren, jetzt nach Hamburg zurückreisen, machen sie Hamburg aus schicken sie Geld für den wollen sie kämpfen. Darum machen sie sich die Wilhelmstraße 30 in Hamburg-Harburg Flugunterricht nach Amerika. auf den Weg nach Afghanistan, einer nach zum neuen Treffpunkt; nun wissen sie, dass Binalshibh, Essabar und Bahaji müssen dem anderen, und ihr Ziel sind vermutlich ihr bisheriges Leben vorüber ist. Atta alles gewusst haben. Denn am 5. Septem- die Trainingslager Osama Bin Ladens; Atta schreibt per E-Mail 31 Flugschulen in den ber sind die drei verschwunden, recht- reist am 29. November mit Turkish Airlines, USA an: „Wir sind eine kleine Gruppe jun- zeitig, um nach der Attacke nicht der Poli- Flug 1662, über Istanbul nach Karatschi und ger Männer aus verschiedenen arabischen zei ins Netz zu gehen. Binalshibh fliegt am 24. Februar wieder zurück. über Madrid und soll in einem der Hier klafft die große Lücke im Ermitt- BAHAJI, DER VERWALTER DER GRUPPE, Lager Bin Ladens in Afghanistan lungsverfahren, denn was in den Camps abgetaucht sein; Essabar ver- passierte, darüber wissen weder die Deut- WIRD IN EINEM AUSBILDUNGS- schwindet Ende August nach schen noch die Amerikaner besonders viel; LAGER IN AFGHANISTAN GESEHEN. Afghanistan; und Bahaji flieht selbst ihren Familien haben die Terroristen über Istanbul nach Karatschi, ruft ihre Ziele verheimlicht. Ein Brief der TU Ländern. Seit einiger Zeit leben wir zwecks aus einer Telefonzelle seine Frau an und Hamburg-Harburg, adressiert an Shehhi, Studium in Hamburg. Wir möchten gern wird wenig später in einem Ausbildungsla- gefunden in Kabul, legt nahe, dass er dort mit der Ausbildung für Flugzeug-Berufs- ger in Afghanistan gesehen. war, und wirkt, als hätte Shehhi eine Art piloten beginnen.“ Und, vier Wochen spä- Ausgerechnet Zammar aber blieb in Bewerbungsmappe mit auf die Reise ge- ter: „Es wäre auch hilfreich, etwas über Hamburg, und auch das spricht aus Sicht nommen. Sicher ist auch, dass das „Tali- die Dauer und die Flugzeugtypen, die beim der Ermittler dafür, dass er am Ende nicht ban-Office“ im pakistanischen Quetta die Training eingesetzt werden, zu erfahren.“ mehr viel gewusst haben kann. Wäre er Reisen organisierte. Und als wahrschein- Nicht nur die drei Todespiloten Atta, sonst nicht auch geflohen? lich gilt, dass in jenen Monaten des Jahres- Shehhi und Jarrah wollen an der Mission Nicht Zammar war der, der die Gruppe wechsels 1999/2000 die Idee entstand, Flug- teilnehmen. Auch Zakariya Essabar und führte. Das war Atta. zeuge als fliegende Bomben zu nutzen. Es Ramzi Binalshibh versuchen es, aber sie Es gab in den vergangenen Monaten ei- gibt sogar ein Indiz dafür, dass die Ham- kommen nicht durch, weil sie keine Visa er- nige Leute, die Einblick in das Netz des Ter- burger selbst diese Idee hatten und sich erst halten. rors gegeben haben. Leute sind das, die ein mit dem Vorschlag auf die Reise machten: Deshalb teilt sich die Gruppe. Drei rei- paar Monate oder auch ein paar Jahre lang In einem ihrer Computer fanden sich In- sen ab in die USA, die anderen bleiben an mitgelaufen sind, die mit Atta gebetet und

der spiegel 36/2002 113 KRAUSE / LAIF KRAUSE Zammars Heimatstadt Aleppo: „Festes Schuhwerk und warme Kleidung nicht vergessen“ gekocht haben und die dann, ra in diverse Kriegsgebiete gereist war. kurz vor dem grausigen Fi- Zwar war Bin Ladens Qaida für die deut- nale, ausgestiegen sind oder schen Staatsschützer damals kein großes abgestoßen wurden, weil sie Thema, aber diesen Zammar wollten sie von Atta als nur bedingt zu- sich dann doch genauer anschauen. Das verlässig eingestuft wurden Bundesamt für Verfassungsschutz bewies – so wie der junge Deutsche Sinn für Ironie und taufte die Aktion gegen Shahid, der seine Identität den 140-Kilo-Mann „Operation Zartheit“. schützen will, weil er sich Darum wurde bereits 1999 sein Telefon immer noch fürchtet. Was abgehört, und von Zeit zu Zeit drückten die Fahnder seit den An- sich auch Observantenteams vor den Ham- schlägen erarbeitet haben, burger Moscheen herum. Doch nach eini- aber auch manches, was sie gen Monaten endete die Operation; die Te- liegen ließen, ergibt eine be- lefonüberwachung hatte nicht viel ge- fremdliche Geschichte. bracht. Zammar blieb verdächtig, aber die Eine Geschichte des Verfassungsschützer hatten Wichtigeres zu

Wahns. MÜLLER KNUT tun. Die Republik erregte sich über Rechts- Eine Geschichte der Per- Beschuldigter Zammar: Die jungen Wilden empfangen radikale. Wer war da schon Bin Laden? fektion. Und wer waren erst Zammar und Atta? Eine Geschichte, die durch ihre „Wer hat die Atombombe erfunden? Die Als die Türme in New York in Schutt Schlichtheit besticht. Amerikaner“, rief Zammar. Und: „Wer und Asche lagen und Hunderte BKA-Be- Es ist eine Geschichte, die jene Fragen sind die größten Terroristen? Die so ge- amte, das FBI und die CIA in Hamburg beantwortet, die in den ersten Wochen nannte zivilisierte Welt.“ Zammar, 195 nach Spuren suchten, kam auch die Akte nach dem 11. September 2001 noch keiner Zentimeter groß und knapp drei Zentner „Zartheit“ wieder auf den Tisch. Ordent- beantworten konnte: Wie konnte es zu den schwer, stand in den Moscheen am Rand lich abgeheftet, fand sich darin die Ab- Anschlägen kommen? Welche Menschen und trank Tee, und wer etwas brauchte, schrift eines abgehörten Telefonats, das denken sich so etwas aus? Wie wurden die bat ihn um ein paar Minuten Gehör. Zam- einstmals nichts, nun aber vieles belegte. Todespiloten so, wie sie am Ende waren? mar war glaubwürdig für die anderen, weil Es ist der 17. Februar 1999. Es sind noch er den Heiligen Krieg bereits hinter sich neun Monate, bis die Hamburger, vermit- enn es überhaupt für die deutschen hatte, von dem die Jungen noch träumten. telt durch Zammar, sich auf den Weg nach WBehörden eine Chance gab, die An- Schon vor 1997 hatte der Verfassungs- Afghanistan machen werden. Bei Zammar schläge vom 11. September zu verhindern, schutz Zammar, der als Kind aus dem sy- klingelt das Telefon, der Hörer wird abge- dann war die Chance dieser Zammar. Er rischen Aleppo nach Hamburg gekommen nommen, und bei den Verfassungsschüt- war eine Art Statthalter Bin Ladens in war, unter Beobachtung genommen; tür- zern springt ein Bandgerät an. Hamburg, und als Atta und seine Glau- kische Behörden hatten den Tipp gegeben. Wo denn Zammar sei, will der Anrufer bensbrüder sich in ihren Hass hineinstei- Zammar, den seine Genossen „Bruder wissen. Der sei nicht da, erfährt er, aber gerten, drängte Zammar sie: Kämpft, Allah Haydar“ nannten, war aufgefallen, weil er wenn es eilig sei, könne man ihn unter ei- verlangt es von euch. mehr als 40-mal über Istanbul und Anka- ner anderen Nummer erreichen: Hamburg,

114 der spiegel 36/2002 Titel

76751830. Er sitze dort zusammen mit Mo- Aber sie hatte ihm erzählt, dass hammed, Ramzi und Said. sie gern ins „Pflaumenbaum“ in 76751830, das ist die Telefonnummer Fuhlsbüttel ging, und dort stand der Wohnung in der Marienstraße 54 in er eines Abends vor ihr. Harburg – der Terror-WG. Mohammed ist Im März 1997 war Hochzeit. Atta, Ramzi ist Binalshibh, Said ist Bahaji. „Ich bezeuge, dass es keinen In der Marienstraße hocken sie zusammen, Gott gibt außer Allah“, sagte und vielleicht ist es ja wieder einer dieser sie. Und von da an erlebte Tage, an denen Zammar drängt: Tut was! Christine diesen schleichenden Natürlich gilt das Gespräch heute als Verlust ihrer Freiheit, den sie wichtiges Beweismittel dafür, dass Zam- zuließ, weil es ja durchaus be- mar schon früh in engem Kontakt zu den quem sein kann, einen Mann zu späteren Attentätern stand. Staatsschützer haben, der alles regelt und alles werden ganz unruhig, wenn sie an das Tele- bestimmt. Erst betete sie mit, fonat denken. Einige meinen, es hätte kei- und dann trug sie Kopftuch, und nen Unterschied gemacht: Wie hätte irgend- irgendwann wurde sie eine Ge-

jemand ahnen können, was am 11. Sep- ANM SONNTAG BILD fangene in der eigenen Woh- tember geschah? Was für Möglichkeiten, Unsportlich und kränklich: Kind Atta mit Schwestern nung. Und beschimpft und ge- sagen andere. Hätte man doch die Ma- am Strand von Alexandria – Sommer 1975 schlagen. rienstraße observiert! Die Besucher über- Schon bald hielt Mareks Mut- prüft! Dann, wer weiß, hätte man vielleicht ter islamische Rituale ein, die sogar ihre Abreise in die USA bemerkt. anchmal fuhren sie zum Grillen an sie nie wirklich begriff. Sie wusch sich fünf- Ja, hätte man. Mden Bramfelder See in Hamburg. Sie mal am Tag und betrat das Bad stets mit Zammar verhöhnte die Fahnder noch hatten einen Fußball und den Koran im dem linken Fuß zuerst und murmelte ein nach den Anschlägen, sogar, als sie ihm Gepäck, außerdem Decken und Mineral- arabisches Gebet dazu. Warum? Sie tat es mit Beugehaft drohten. Für ihn gelte nur wasser, Gebäck und Gemüse, niemals einfach. das Gesetz Gottes, schimpfte er da, an Schweinefleisch, natürlich nicht. Moham- Es war Allahs Wille. nichtislamisches Recht fühle er sich nicht med Atta war lausig am Ball, aber den- Christine konvertierte zusammen mit ih- gebunden. noch mit dabei, und das Spiel wurde nur rer Tochter und den beiden jüngeren ihrer Aber heute sitzt Zammar in syrischer durch die Gebete unterbrochen. Spazier- drei Söhne zum Islam. In den folgenden Haft; dort gibt er sich sanftmütiger und ge- gänger guckten verwundert zu und auch Jahren verwandelte sich ihre Wohnung in steht Stück für Stück seine Rolle ein, was ein wenig amüsiert. Hamburg-Steilshoop zu einer Art ständi- auch an den Verhörmethoden liegen kann. Als es begann, war Marek, auch er ein gen Vertretung für Hamburger Muslime. Ja, er sei ein Werber für al-Qaida und auch junger Deutscher, gerade 14. Den Kopf hat- Und so kam es, dass ihr Sohn Marek, nun selbst bereit gewesen, für seinen Glauben te er voll mit Mädchen, einerseits. Aber Muhammed gerufen, kurz darauf zum en- zu sterben. Ja, 1998 habe er in der Kuds- da türmten sich auch all die Regeln des gen Kreis der radikalen Truppe gehörte. Moschee am Hamburger Hauptbahnhof Koran, andererseits. Denn Atta, 1992 aus Kairo eingereist, Atta und die anderen kennen gelernt. Ja, Denn Mareks Mutter Christine hatte Stadtplaner, Student an der Technischen natürlich seien sie ihm sofort als potenzi- Ende 1996 in einem Imbiss auf der Ree- Universität Hamburg-Harburg, einer, der elle Rekruten aufgefallen. Und ja, er habe perbahn einen Jordanier kennen gelernt. westliche Architektur hasste und alles, was sie gedrängt, nach Afghanistan zu fahren. Für sie war es nur eine Nacht, zunächst. der Westen in den Nahen Osten brachte, Rund 3000 Mark im Monat, Stütze und Kindergeld, habe er zur Verfügung gehabt, erzählt Zammar; die Hälfte sei für Frau und sechs Kinder draufgegangen, die an- dere Hälfte für den Dschihad. Aber was weiß er noch? Die Amerikaner haben in Afghanistan, in den Trümmern des Hauses von Bin Ladens früherem Militärchef Mo- hammed Atef, Zammars Reisepass gefun- den, ausgestellt vom Bezirksamt Hamburg- Nord. Die Deutschen hören bisher wenig aus Syrien. Was die FBI-Leute, die seit Mona- ten mit den Syrern bei der Vernehmung Zammars kooperieren, erfahren haben, verraten sie nicht. Das alles sei Sache der Syrer. Ende Juli reiste Ulrich Kersten, Prä- sident des Bundeskriminalamts, nach Da- maskus, um genauere Informationen zu erbitten. Die Syrer legen Zammar jetzt die Fragen der Deutschen vor. Eine entscheidende hat Zammar schon beantwortet. Hat er von Atta erfahren, wel- chen Auftrag die Gotteskrieger in Afgha- nistan bekamen? Nein, sagt Zammar. Als es ernst wurde, sei er nicht mehr dabei ge-

wesen, und von den Anschlägen habe er CNN / AFP nichts gewusst. „Das schwöre ich bei Gott.“ Al-Qaida-Trainingslager in Afghanistan: Das Taliban-Office organisierte die Reise

der spiegel 36/2002 115 Titel THE MIRROR / BULLS PRESS (L.); JANE'S INFORMATION GROUP (R.) INFORMATION PRESS (L.); JANE'S THE MIRROR / BULLS Pilot Jarrah mit Bekannten (2001), Islamistenführer Azzam: „Hier Zimmer, dort Paläste“ wurde Mareks Lehrer. Natürlich war Atta und am Sonntagabend ab 18 Uhr stand dabei, als Marek beschnitten wurde. Und Islam-Unterricht auf dem Stundenplan. wenn Marek heute im ärmellosen T-Shirt in Einer hielt ein Referat, Thema „Das Ge- einem Café am Berliner Tor in Hamburg bet“ oder „Die Frau im Islam“ oder „Fas- sitzt und bei Cola und vielen Zigaretten ten“, und dann predigte Atta. Natürlich von damals erzählt, dann wirkt er noch sei das alles wie bei einer Sekte gewesen, immer ein bisschen ehrfürchtig. sagt einer, der früh dazugehörte: „Nach „Der genoss unglaublichen Respekt“, einer Weile hast du nur noch zu den Mit- sagt Marek. „Der war ein Vorzeigemus- gliedern Kontakt, und du weißt nicht lim“, sagt seine Mutter, eine rothaarige mehr, was du machen sollst, wenn du aus- Frau, die heute wieder eine Halskette mit steigen willst.“ Kreuz trägt. Der Kreis zog sich zu. Atta nannte sich damals noch al-Amir, Oft trafen sie sich auch zum Kochen bei der Anführer. Atta in der Marienstraße oder gleich ne- Denn Atta schien ganz und gar für Allah benan bei Said Bahaji oder bei Mounir al- zu leben; selbst bei den Busfahrten durch Motassadeq. Kochen, sagt Marek, konnte Harburg, bei denen er in der letzten Reihe Atta vorzüglich, am besten Reispfannen, saß, murmelte er Koranverse vor sich hin. in die sie gemeinsam ihr Dönerbrot dipp- Der junge Marek und sein Bruder Julian ten. Essen, beten, diskutieren – Freunde zogen sich Gewänder an, wie sie Streng- eben, seltsame Freunde. gläubige tragen; ein Bart wuchs ihnen ja Im Anschluss an solche Mahle blieben noch nicht. Und Atta war sehr stolz auf die deutschen Jungs meist über Nacht in seine jungen Deutschen, zu denen noch der WG. Atta hatte das schönste Zimmer, ein dritter Konvertit gehörte. In Gruppen mit Schreibtisch, Bett, Aktenordnern und von 10, 15 Leuten trafen sich Attas Jünger einem 386er Computer. Binalshibh und in den Moscheen des Stadtteils St. Georg, Shehhi hatten nur Matratzen, und ihre und wenn Marek nicht funktionierte wie schmutzigen Klamotten warfen sie auf den befohlen, griff die Kontrolle. Haufen in der Ecke. Die Terror-WG, sagt Einmal hatte er eine Freundin, natürlich Marek, „war eine Heimat für alle“. heimlich, aber als die anderen spürten, dass Und so saßen sie dann auf dem Fußbo- er sich zurückzog, bohrten sie nach. Er den und diskutierten die Verschwörung des habe wohl „Teufelsgedanken“, schimpfte Atta. Und zu Hause tobte der Stiefvater. „Der hatte Sex, das riech ich doch“, schrie er, als Marek mal später heim- kam. Stundenlang redete der Alte auf ihn ein, so lange, bis Marek zum Telefonhörer griff und mit seiner Freundin Schluss machte. Atta hingegen wurde selten laut; er zischte nur, scharf und schneidend. „Ungläubige waren für ihn das Böse schlechthin“, sagt Marek. Drei-, mitunter viermal pro

Woche trafen sich Attas Leute AM SONNTAG BILD zum Beten; am Samstag lern- Er weinte nicht, er lachte nicht: Atta im Familien- ten sie in der Kuds-Moschee die urlaub auf dem Sinai – Ende der achtziger Jahre korrekte Lektüre des Koran,

116 der spiegel 36/2002 WILFRIED BAUER WILFRIED Terroristen-Unterschlupf Wilhelmstraße 30: „Eine Heimat für alle“

Weltjudentums und die Konflikte in Bos- Jedenfalls war dieser Atta, schmächtig, nien, Afghanistan und im Kosovo. unsportlich und beinahe kränklich, selten Atta, so empfanden es Marek und die entspannt. Er schloss die Augen zu Schlit- anderen Teilnehmer, war der Anführer. zen und presste die Lippen zusammen. Er Sein Wort hatte Gewicht, und „seine Be- weinte nicht, er lachte nicht. fehle“, sagt ein anderer Teilnehmer, „wur- Er war ein asketischer Terrorist. den befolgt“. Charismatisch war er, wil- Denn er hasste. Ein „nationalsozialisti- lensstark, gebildet und hochmoralisch, ein sches Weltbild“ attestieren ihm Teilnehmer Denker eben, kein Gefühlsmensch. West- der Koran-Runden. „Die Juden“, das wa- lich gekleidet war Atta, in grauen oder ren für ihn die reichen Strippenzieher der braunen Stoffhosen und einer blauen Medien, der Finanzwelt, der Politik, und Cordjacke, über die Schulter einen natürlich steckten auch hinter dem Einsatz schwarzen Lederrucksack gehängt; seine der Amerikaner am Golf die Juden, hinter Hemden und Krawatten kaufte er bei den Kriegen auf dem Balkan, in Tsche- C&A, und nur manchmal zog er den tra- tschenien, überall. Wer waren die Täter in Ägypten, die die Architektur, die DIE JUDEN, DAS WAREN FÜR MOHAMMED Kultur, letztlich den gesamten Is- lam ausrotten wollten? Klar, die ATTA DIE REICHEN STRIPPENZIEHER. UND IHR Juden. Und „das Zentrum des ZENTRUM WAR NEW YORK. Weltjudentums“, so sah es Atta, war New York. Atta wünschte sich ditionellen Kaftan an, und hin und wieder einen Gottesstaat vom Nil bis zum Eu- trug er einen Ring mit einem religiösen phrat, frei von Juden, und sein Befrei- Symbol. ungskrieg musste in New York beginnen. Spanische Ermittler spekulieren sogar, Dafür brauchte es die richtige Überzeu- dass der Terrorist Atta ein schwuler Terro- gung und natürlich die Bereitschaft zu ster- rist gewesen sei. Seine Homosexualität ben. Am 11. April 1996 verfasste Atta sein habe ihn unter Druck gesetzt, weil er dem Testament. Frauen, befiehlt er da, „sollen Bild, das sein Vater, ein Rechtsanwalt in weder bei der Beerdigung zugegen sein, Kairo, von ihm hatte, nicht entsprochen noch irgendwann später sich an meinem habe. So könne sein Wunsch entstanden Grab einfinden“; seine Genitalien seien sein, als Held des Islam zu sterben; so er- nur mit Handschuhen zu waschen. Wollte kläre sich, dass er in seiner WG aus- Atta nur vorsorgen? Oder wusste er schon schließlich Männer und am liebsten sehr fünfeinhalb Jahre vor den Anschlägen, dass junge Männer empfing. er in den Opfertod gehen würde?

der spiegel 36/2002 117 Titel WILFRIED BAUER (L.); KAY NIETFELD / DPA (R.) / DPA NIETFELD BAUER (L.); KAY WILFRIED Baracke der ehemaligen Islam AG, Versammlung im Audimax der TU Hamburg-Harburg*: „Ein Signal für Toleranz“

Ende 1998 verschwanden Shehhi und Die Ermittler nahmen ein paar Notiz- Gefängnis; andere leben unbehelligt in Binalshibh, und die Ermittler sind sicher, blätter und den Computer mit, und weni- Hamburg. dass sie sich im Ausland mit anderen Ex- ge Tage später holten sie noch ein wenig Auf der Studentenvollversammlung der tremisten trafen. Atta legte sich Anleitun- mehr ab, aber einen echten Schatz ließen Erstsemester stellte Bahaji die AG vor, wie gen zur Herstellung von Sprengstoff, Rohr- sie liegen: Kisten mit mehr als 100 Tonkas- sich Kommilitonen erinnern. Einer der und Brandbomben zu und Fachliteratur setten, eine islamische Bibliothek mit Le- neuen Studenten fragte: „Was macht ihr wie „The Terrorists Handbook“ und „The xika, Hetzschriften und Informationen denn da? Fundamentalismus?“ „Natür- Anarchists Cookbook“. über deutsche Moscheen und allerlei Wer- lich“, antwortete Bahaji lächelnd, „aber bematerial, sogar Adressenlisten, kommt doch mal vorbei, wir bauen hier DIE ERMITTLER NAHMEN NOTIZBLÄTTER UND ein Notizbuch und Testaments- nicht nur Bomben.“ vordrucke. Es war eine unge- Und nun, ein Jahr nach dem 11. Sep- DEN COMPUTER MIT – ABER DEN wöhnliche Nachlässigkeit bei die- tember, liegen die Reste der Islam AG in ECHTEN SCHATZ LIESSEN SIE LIEGEN. sen ansonsten so akribischen Er- der Abstellkammer, in sechs Kartons von mittlungen: Jeder Schnipsel kann Obi und Panasonic, neben Kisten mit Und natürlich brauchte es einen tiefen ja eine Bedeutung haben in diesem Ver- Orangensaft von der letzten Asta-Party. Glauben. Im Januar 1999 gründete Mo- fahren, jede Telefonnummer, jede E-Mail – Golden imprägnierte Koran-Überset- hammed Atta seine ganz private Kader- und hier lag das Zeug in Stapeln herum. zungen sind darunter, auf Türkisch, schule, und er taufte sie auf einen Namen, Und blieb liegen. Wochen später packten Deutsch, Französisch und Albanisch. Eine der nicht weiter auffiel: Islam AG. die Leute vom Asta die Sachen in Um- Broschüre über den Islam in Polen ist da- zugskartons, und dann sperrten sie Mo- bei und ein abgegriffenes Buch der Bahn- ie dunkelbraune Holzbaracke mit den hammed Attas Bücher und Bänder in eine verbindungen in Deutschland. Die letzte Dweißen Fensterrahmen liegt am Nord- Abstellkammer. „Die Beamten hatten ge- Fahrkarte liegt da, ein Guten-Abend-Ticket rand des Campus, Schwarzenbergstraße 91, sagt: Macht damit, was ihr wollt“, so Asta- von Dortmund nach Hamburg, Abfahrt hinter hohen Bäumen, als wollte man hier Mitglied Peter Stählin. 20:24 Uhr, 59 Mark, gültig für den 5. Sep- einen Schandfleck verstecken, neben all den Schon 1996 hatte Atta tember, sechs Tage vor modernen Gebäuden aus Glas und auber- die Idee mit der AG ge- den Anschlägen. ginefarbenem Klinker. In dieser Baracke habt. 1998 schrieb Baha- Es gibt hier „Romanti- kamen die Studenteninitiativen der TU ji an die „Präsidial Ver- sche Flugbilder aus Hamburg-Harburg unter; Raum Nummer waltung“ der TU und bat Deutschland“ und einen 10, rechte Seite, ist gleich neben den Ama- um einen Raum – „nach Bildband über Barcelo- teurfunkern. „Islam AG/Gebetsraum“ stand dem Vorbild unserer na. Touristisches Interes- damals auf dem grauweißen Türschild, und Evangelischen Kommili- se? Oder terroristisches? an der Tür klebte ein Foto aus Mekka. tonen“; eine Islam AG Es gibt zwei Gebetstep- Dahinter lag ein 14 Quadratmeter großer an dieser Uni sei doch piche und Unterlagen Raum; neben der Tür stand ein alter grau- „ein Signal für Tole- von Airbus: „5. 2. Air- er Computer; links an der Wand standen ranz“. Die Verwaltung borne Auxiliary Power Bücherregale. Die arabischen Schriftzeichen aber wollte nicht, und so APU ATA 49“. Gehörten waren auf den Buchdeckeln golden eingra- konnte Atta die Islam die Jarrah, dem Flug- viert, ganz rechts der „Holy Qur’an“. Hier AG erst auf der Asta-Sit- zeugbauer? Es gibt Un- saßen die Attentäter und ihre Helfer, hier zung vom 27. Januar terlagen darüber, dass waren sie unter sich, hier reifte ihr Plan. 1999 gründen; sieben Atta schon 1996 ein pro- Am 13. September 2001, gerade war be- Monate später machte fessionelles Kassettenko- kannt geworden, dass die Todespiloten an er sein Diplom. Viele piergerät kaufen wollte, der TU Hamburg-Harburg studiert hatten, Mitglieder von damals für 5000 Mark. rief Hendrich Quitmann, Asta-Vorsitzender sind heute entweder tot, Vor allem aber gibt es der TU, beim Verfassungsschutz an. „Ich auf der Flucht oder im „Mädchen sind verboten“: religiöse Bücher, und die glaube, wir haben da was für Sie“, sagte er. Student Atta in Büsum – ermöglichen Innenan- Quitmann sagt, er habe noch zweimal anru- * Mit Uni-Präsident Christian Anfang der neunziger Jahre sichten auf die Schulung fen müssen, ehe Polizeibeamte erschienen. Nedeß am 13. September 2001. und die Fanatisierung

118 der spiegel 36/2002 Werbeseite

Werbeseite WILFRIED BAUER WILFRIED Moschee an der Böckmannstraße in Hamburg-St. Georg: Schräge Mischung aus Verfolgungs- und Größenwahn dieser seltsamen Truppe, auf eine Welt vol- gesänge und Berichte über Fatwas, und Menschen gegen die „Nachkommen der ler Paranoia, auf eine schräge Mischung aus die Koranverse werden von Maschinen- Affen und Schweine“. Verfolgungs- und Größenwahn, manchmal gewehrsalven untermalt. Thema ist im- Studenten aus den Arbeitsgemeinschaf- politisch, manchmal naiv. Aus Saudi-Ara- mer wieder der Kampf um Palästina. „Je- ten und Initiativen, die sich damals in den bien, Pakistan, Afghanistan, Südafrika, der freie Muslim gehört zum Dschihad“, Nachbarzimmern trafen, der Arbeitskreis Ägypten und von den Philippinen stammt wütet der Prediger, „die Benutzung der der ausländischen Studierenden etwa, be- Mohammed Attas Propagandastoff. Waffe ist die plausible Logik“, denn „ich schreiben die Mitglieder der Islam AG als Einige dieser Schriften tragen Stempel habe nichts anderes gefunden als das ziemlich schweigsam. Man traf sie lediglich, der saudischen Botschaft in Bonn, das Buch Fließen des Blutes als eine Garantie für wenn sie in Flipflops über den Flur liefen „Freimaurerei“ zum Beispiel, in dem „wis- den Frieden“. und sich vor dem Gebet im Waschbecken senschaftlich“ belegt wird, dass in die US- Ein anderes Band, ein anderer Text: Lob die Füße reinigten. Ein harter Kern von Dollar-Note „Buchstaben des Wortes Zion“ den Mudschahidin! „Gott töte die Juden etwa 5 Studenten habe sich längere Zeit im eingraviert seien, was auf die „Einrichtung Gebetsraum aufgehalten, und ins- einer diktatorischen Herrschaft, einer Welt- DER KAMPF IST UNTER ANLEITUNG EINES gesamt seien rund 20 Studenten regierung nach dem Beispiel der Vereinten Mitglieder der AG gewesen. Nationen“ abziele; die „zionistische“ Frei- SULTANS ZU KÄMPFEN, DIESER KAMPF Für das korrekte Überleben im maurerei wolle „Würde, Ehre, Aufrichtig- GEGEN „DIE NACHKOMMEN DER SCHWEINE“. Alltag der Großstadt hielt Attas keit und Moral“ ausrotten, und „generell AG Kopiervorlagen bereit. Mit trachtet sie nach der Zerstörung aller for- und ihre Unterstützer, Gott reinige Jerusa- klaren Regeln und drastischen Anordnun- mellen Religionen, speziell des Islam“. lem von ihnen, Gott lass ihre Frauen Wit- gen. Wer nicht oder nur unregelmäßig bete, Solche Werke konnten die Mitglieder der wen und ihre Kinder Waisen werden und war „ein Abgefallener vom Glauben und Islam AG und andere Interessierte auslei- mach sie zur Beute der Muslime“, hetzt muss getötet werden“. Noch einmal, aus- hen; am 20. April 2000 trug sich Mohammed der Imam in seiner Freitagspredigt. drücklich: Dies sei eine Fatwa. Wer das Ge- Atta zum letzten Mal in die Liste ein. Viele Schlachtgesänge sind das, Aufputschmittel. bet vernachlässige, den strafe Gott, 15-mal der Bücher scheinen Binalshibh gehört zu Mit dem Thema „Dschihad“ haben sich insgesamt, 6-mal zu Lebzeiten, 3-mal haben, denn sie tragen seine Unterschrift die Mitglieder der Islam AG besonders eif- während des quälenden Todes, 3-mal im oder eine an ihn gerichtete Widmung: Dem rig beschäftigt. Ein Gelehrter namens Mo- Grabe und 3-mal beim Jüngsten Gericht. „ehrgeizigen jungen Mann“ sei viel Erfolg hammed Nassir al-Din al-Albani beschwört Das Fernsehen, natürlich von den Ju- zu wünschen, und es sei schön, dass Binal- die Pflicht zum Heiligen Krieg, zu einem den gemacht, gilt hier als „eine Tafel des shibh mit den „Guten der muslimischen Ju- Krieg, der unter Anleitung eines Sultans zu Teufels“, die den Menschen „in die Ver- gend in der Diaspora“ befreundet sei. kämpfen sei, also strategisch, weil der dorbenheit“ führen soll, und zwar durch Und die Kassetten stammen aus Saudi- Kampf Einzelner keine Früchte trage. Die- „schamlose Lieder, verwerfliche Fernseh- Arabien; es sind Freitagspredigten, Hetz- ser Kampf der guten, der einzig wahren serien, abartige Filme“.

120 der spiegel 36/2002 Titel

Wie kam einer wie Said Bahaji damit ches Fehlverhalten direkt auf zurecht, ein Deutsch-Marokkaner zwi- den Konsumenten überträgt. schen den Kulturen, aufgewachsen im Ems- „Folgst Du dem Rat von Gott land, einer, der die Formel 1 liebte und die oder wartest Du, bis Du krank Rennen nicht sehen durfte, weil das Fern- wirst?“, fragt der Autor. Schwei- sehen ja ein Werkzeug des Satans war? Es nefleisch übertrage Tuberkulo- war ganz einfach: Entweder man war für se und enthalte ungesundes Atta oder gegen ihn. Bahaji war für ihn. Fett, verursache Pickel, und die Genauso gefährlich war Musik. „Der Chinesen, die viel Schwein kon- Teufel und seine Soldaten von Juden und sumierten, hätten deshalb eine Christen“ hätten „Unmengen von Sängern schlechtere Volksgesundheit. und Sängerinnen zur Verfügung gestellt“, Auf losen Zetteln sind hand- die mit Geld und Wein ausgestattet gegen schriftlich Islamische Zentren den Islam Propaganda machten. von München über Riad bis Lei- Und dann enthält diese Mappe die An- cester vermerkt, dazu Treffen

ordnung, sich nicht an den „Feierlichkeiten AM SONNTAG BILD der Muslimischen Jugend, die der Ungläubigen“ zu beteiligen. Muslime Hass auf alles, was der Westen nach Kairo brachte: auch Reisen nach Islamabad in dürften zu solchen Festen keine Geschen- Stadtplaner Atta – Anfang der neunziger Jahre Pakistan angeboten hat. Und ke machen und nicht zusammen mit Un- dann haben die Fahnder da gläubigen essen, schon gar nicht zu Weih- noch ein dickes, weiß einge- nachten oder Silvester: „Der Muslim muss Selbstbefriedigung war sowieso Haram. bundenes arabisches Buch mit Goldschrift an diesem Tag nichts Besonderes unter- Meistens. Es gab aber auch Ausnahmen, auf dem Einband übersehen. Auf der ers- nehmen, sondern ihn als einen normalen für Männer, die es nicht mehr aushielten. ten Seite wurde mit Bleistift der Name Tag wie alle anderen Tage betrachten, als Bei der Furcht, ohne Selbstbefriedigung „Ziad“ eingetragen, wie in einem Schul- ob die Christen nicht gefeiert hätten.“ Ehebruch zu begehen, war Onanieren buch. Der Titel: „Die weltweite Ver- Es sind die Regeln einer Parallelwelt, durchaus Halal. Besser allerdings war es, schwörung“. Verfasser ist jener als Märty- mitten in Deutschland, und für die über- erst einmal eine Weile zu fasten. rer verehrte Abdullah Azzam, der 1989 in wiegende Anzahl der Muslime haben sie Ein Lesezeichen hat einer von Attas Sol- Pakistan Opfer eines Attentats wurde. Das keine Bedeutung. Es sind bizarre Regeln, daten an jener Stelle zurückgelassen, an Werk enthält Predigten, Lektionen und manchmal unfassbar dumm. der erlaubt wird, dass der Mann seine Vorträge zum Dschihad. Im Index wird auf Verboten: Augenbrauen zupfen. Grund: Zukünftige schon vor der Ehe sieht. Wel- Azzam-Zentren im pakistanischen Pescha- „Der Prophet verfluchte sowohl die Frau, che Art Sex gestattet war, steht hier auch: war, in Malaysia und in Australien verwie- die es vornimmt, wie die, die es vornehmen Es spielt keine Rolle, „ob der Ehemann auf sen. Azzam schreibt, der Dschihad müsse lässt.“ Verboten: Perücken. Grund: Siehe seiner Frau oder auf ihrem Rücken ist, so „um jeden Preis fortgesetzt werden“. oben. Erlaubt: Haarefärben. Grund: „Ju- lange es sich um Vaginalverkehr handelt“. Zwar gebe es den Militärdienst in jedem den und Christen färben ihr Haar nicht.“ In diesem Raum 10 lagen auch Listen arabischen Staat, aber wichtiger sei die So zerfiel Attas Welt in „Halal“ (erlaubt) mit Lebensmittelzusatzstoffen aus, damit „Armee Gottes“, in der jeder dienen soll. und „Haram“ (verboten). Haram waren jeder nachschlagen konnte, ob Kekse Ge- Dem Befehl Gottes müsse man eher folgen beispielsweise die Herstellung, Veröffentli- latine enthalten oder Emulgatoren oder als dem eines Führers in einem Land. chung oder auch nur das Betrachten auf- sonst irgendwas, was vom Schwein stam- „Der Dschihad hat Vorrang vor allen re- reizender Filmplakate. Und Lebensversi- men könnte. Das Schwein, so steht es in ei- ligiösen Handlungen, auch vor dem Ge- cherungen waren meistens Haram und das nem der frommen Bücher, sei „von Natur bet“, schreibt Azzam. Und damit das klar Wort „Israel“ natürlich immer – es hatte aus faul“ und fröne „dem Sex über die ist: „Der Dschihad bedeutet die Tötung.“ „Palästina“ zu heißen. Maßen“. Es ist zu befürchten, dass sich sol- Was lernte Jarrah, der bis zuletzt schwank- te, ob er nicht doch auf den westlichen Weg abbiegen sollte, hier? Er lernte dies: Mit einem „Zeugnis nach einem vierjähri- gen Studium kannst du eine Stelle mit 2000 Dirham bekommen. Hier gibt es ein Zeug- nis, mit dem du das Paradies, das so groß wie Himmel und Erde ist, betreten kannst. Dort dienst du 20 Jahre und kannst ein bisschen Geld sparen und irgendeine Frau heiraten. Hier wirst du mit 72 Jungfrauen verheiratet werden. Dort kriegst du zwei Zimmer, hier bekommst du Paläste.“ Die insgesamt drei Bücher Azzams wa- ren wohl die wichtigsten Leitfäden der Is- lam AG. Denn hier steht: „Osama Bin La- den hat gesagt: Jedem Araber, der zum Dschihad kommen will, werde ich sein Ticket und seine Reise mit seiner Familie fi- nanzieren.“ Es geht um den „jüdischen Po- lypen“, und es geht um deutsche und fran- zösische Ärzte, die in Afghanistan den Frauen die Gebärmutter herausschneiden würden, „damit sie keine Kinder mehr kriegen können“. Muslim Marek (l.) mit Familie (um 1998): Mit dem linken Fuß zuerst ins Bad Was diese Propaganda bewirkte, liegt auf der Hand. Die Gruppe brauchte keinen tauchte, vier Wochen vor den Anschlägen Piloten werden und wurde deshalb der Führungsoffizier, keine Drogen, keine Ge- in den USA. Binalshibh hatte zugenommen Kassenwart des Terrors. Am 25. September hirnwäsche. Sie befeuerte sich selbst. Und und war westlich gekleidet, das weiße 2000 etwa zahlte er in Hamburg 9629 Mark alles, was der verqueren Wahrnehmung Hemd in einer grauen Stoffhose. Hektisch ein, „von Privat zu Privat“, und am nächs- der Todespiloten entgegenstand, die Wirk- fuchtelte er mit zwei Mobiltelefonen herum, ten Tag holte sich Shehhi in Sarasota (Flo- lichkeit also, wurde so zu einer Finte des und sie gingen essen. Als er später merkte, rida) 4118,13 Dollar ab. Feindes. Gab es nicht auch nette Menschen dass er ein Handy im Imbiss „Hähnchen- Gemeinsam mit Mohammed Haydar im Westen? Ein Trick, alles ein Trick! Nach land Lades“ am Steindamm liegen lassen Zammar rekrutierte Binalshibh noch nach dieser Art Logik gab es gegen die Kälte hatte, rannte Binalshibh schwitzend zurück. der Abreise der anderen neue Kämpfer für des übermächtigen Westens irgendwann Ramzi Binalshibh, das weiß man heute, die afghanischen Camps; die letzten beiden nur noch ein Mittel – und wer das eigene war der zweite Mann hinter Atta, ein lus- gingen am 10. September 2001 auf die Rei- Überleben nicht mehr wichtig findet, der tiger, lebensgieriger Mann, aber immer se an den Hindukusch. kann sogar den Westen treffen. dann seltsam ernst, wenn der Chef in der Binalshibh war beliebter als Atta, Die Gruppe schottete sich ab. Shehhi sag- Nähe war. Binalshibh, der aus dem Jemen menschlicher, so empfanden es die anderen te sich los von allem Luxus und trug Bart kommt und sich viermal vergebens um ein in der Gruppe; er war der ideale Mann, um und afghanische Gewänder. Essabar ver- US-Visum bemüht hatte („Please send me Nachwuchs zu gewinnen, und darum hielt kaufte Fernseher und Videorecorder. Said the visa to this address: c/o Ahmed Al er Kontakte nach Berlin, München, Bonn Bahajis Schwester bat einen seiner Lehrer, Shibh, P.O. Box 10784, Sana’a, Yemen und Frankfurt am Main und Vorträge in mäßigend auf ihren Bruder einzuwirken; quickly as you can“), konnte keiner der den Hamburger Moscheen. der sei so radikal geworden. Und Binalshibh war der Reisekader auch Jarrah, der den Alkohol lieb- der Truppe; er war der Einzige, der te und das Feiern, hatte nun ent- illegal nach Deutschland gekom- schieden, dass es eine Ehre sei, für men war, und er blieb, weil er täu- Allah zu sterben. Er aß ab sofort schend echt aussehende, allerdings mit den Fingern, und auch er ließ gefälschte Immatrikulationsbeschei- sich einen Bart wachsen. nigungen der Hamburger Uni beim Am Ende schreibt Azzam: „Wir Ausländeramt vorlegen konnte. sind bereit, Amerika zu bekämp- Heute, nach seinem Verschwinden, fen, genauso wie wir Russland kennen die Fahnder seine Vita, sie bekämpft haben. Wir werden eins wissen, wie er mit Pässen und mit der beiden Ziele erreichen, ent- verschiedenen Namen jonglierte, weder den Märtyrertod oder den um nicht aufzufallen. Sieg.“ Dann folgt die Adresse: Denn Binalshibh hat Spuren „P.O. Box 1395 Peschawar, Paki- hinterlassen, in den Niederlanden stan“. Es ist möglich, dass Ziad etwa, in England, wo er vermut- Jarrah das Buch auf seiner Paki- lich den in den USA angeklagten stanreise gekauft hat. Zacarias Moussaoui traf, in Ma- laysia, wo er vermutlich mit ei- er junge Deutsche Shahid traf nem der späteren Entführer zu- DMitte August 2001 zum letzten sammenkommt. Und in Spanien,

Mal auf einen Offizier der Armee AM SONNTAG BILD Mitte Juli 2001, wenige Wochen Attas. Ramzi Binalshibh lief ihm „Der war ein Vorzeigemuslim, der genoss unheimlichen vor den Anschlägen. über den Weg, zwei Wochen bevor Respekt“: Stadtplaner Atta – Anfang der neunziger Jahre Atta und Binalshibh treffen sich Binalshibh über Spanien unter- ein letztes Mal, und dann fliegt

122 der spiegel 36/2002 Titel

Binalshibh ein letztes Mal zurück nach Deutschland. Am 5. September ver- schwindet er endgültig. Vom Flughafen Düsseldorf aus ruft er noch schnell zwei Vertraute in Hamburg an, und schließlich wählt er die Nummer eines Mannes na- mens Said al-Ghamdi; drei Minuten dauert das Gespräch. Ghamdi sitzt sechs Tage spä- ter in jener Maschine, mit der Jarrah ab- stürzt. Da ist Binalshibh längst weg. Darum gibt dieser Binalshibh den Er- mittlern bis heute einige Rätsel auf. Bei ge- fangenen oder gefallenen Taliban finden sie Kopien jenes Fotos, mit dem Binalshibh sich bei der US-Botschaft um ein Visum bemüht hatte. War Binalshibh wegen des 11. September zur Ikone geworden? Oder waren ihm wegen des 11. September Kopf- geldjäger auf den Fersen? Die Amerikaner waren für eine Weile sogar überzeugt, dass Binalshibh tot sei. Das FBI übermittelte ein Foto eines gefal- lenen Kämpfers ans deutsche BKA, aber dort war man sich nicht so sicher. Da mach- ten die Amerikaner einen Vorschlag: Sie hätten da die Hände der Leiche – ob die Deutschen die zur Überprüfung der Fin- gerabdrücke haben wollten? Per Luftpost? BKA-Chef Kersten lehnte dankend ab. WOLLEN DIE DEUTSCHEN DIE HÄNDE DER LEICHE HABEN? PER LUFTPOST VIELLEICHT? Der dritte Mann war Marwan al-Shehhi, in Ras al-Cheima in den Vereinigten Ara- bischen Emiraten geboren, Attas Diener und Hofnarr. Kurz vor Weihnachten 1999 kündigte Shehhi seinen E-Plus-Vertrag: „Grund für meine Kündigung ist, dass ich die Bundesrepublik verlassen werde. Ich bitte um Ihr Verständnis.“ Im Frühjahr 2000, zurück aus Afghanistan und kurz vor der Abreise in die USA, machte er im Ge- spräch mit einer Bibliothekarin eine düs- tere Andeutung: „Es wird Tausende Tote geben, ihr werdet noch an mich denken.“

Auch das World Trade Center soll er er- / DPA HONDA STAN wähnt haben. Und er ließ dafür sorgen, Abtransport des letzten Stahlträgers des World Trade Center: „Die USA sind keine Allmacht“ dass die Hamburger Wohnungen besen- rein übergeben wurden, dass keine Spuren er. Und einmal sagte er, es sei seine entzug fünf Wochen lang überwachten, blieben; sogar die Glühbirnen im Bad wa- Pflicht, Ungläubige zum Glauben zu be- ließen den schreienden Ehemann nicht ren herausgedreht. Das alles übernahm wegen, notfalls mit Gewalt, notfalls durch mehr zu ihr. sein Kumpel Motassadeq, vielleicht die Mord. Kein Sohn Gottes dürfe einen an- Es war zu Ende, und von einem Tag auf Nummer vier der Truppe. deren Sohn Gottes umbringen, sagte einer den anderen zog Mareks Mutter ihre zwei Und Said Bahaji, die Nummer fünf, war der Zweifler in Attas Armee. Wer kein Söhne aus Attas Kreisen heraus. der Verwalter. Bahaji, ein Deutsch-Marok- Muslim sei, sei auch kein Sohn Gottes, ant- Als die Familie nach dem 11. September kaner, kannte sich aus in diesem Deutsch- wortete Bahaji. 2001 vor dem Fernseher saß und die Fotos land, das Atta immer fremd blieb. Bahaji Dass der junge Marek nicht auch Teil der Täter sah, sagte Marek nicht viel. Er kündigte Handy-Verträge für die anderen, des Terrornetzes wurde, verdankt er seiner sagte: „Glück gehabt.“ Klaus Brinkbäumer, wickelte die Mietverträge ab. Auf seiner Mutter. Als es mehr und mehr Schläge setz- Dominik Cziesche, Georg Mascolo, Cordula Meyer, Andreas Ulrich Festplatte richtete er Dateien für die an- te, als sie längst abhängig war von Opiaten, deren ein: Atta erhielt den Ordner „Eige- als sie floh und irgendwann mit ihren Kin- ne Dateien/Brüder/Amir/“. dern am Flughafen Fuhlsbüttel stand, um Im nächsten Heft: Und wenn Atta nicht da war, über- irgendwohin abzuhauen, begriff sie, dass Die weltweite Jagd auf das Terroristen- nahm Bahaji auch die Erziehung der an- sie auf einem Irrweg war. Und da trennte Netzwerk al-Qaida – New York ein Jahr deren. Auf keinen Fall dürften sie Cola sie sich von ihrem Mann. Die Pfleger der nach den Anschlägen vom 11. September. trinken oder Marlboro rauchen, mahnte Hamburger Uniklinik, die ihren Drogen-

der spiegel 36/2002 123 Werbeseite

Werbeseite Trends Wirtschaft

FIRMENPLEITEN Promi-Prüfer unter Druck ine der bekanntesten deutschen EWirtschaftskanzleien, die Münchner Beratungsfirma Haarmann, Hemmel- rath & Partner (1209 Mitarbeiter), ist er- neut ins Blickfeld der Justizbehörden geraten. Die Augsburger Staatsanwalt- schaft ermittelt bereits seit rund einem Jahr gegen zwei Mitarbeiter der So- zietät wegen des Verdachts auf Kapital- anlagebetrug und Gründungsschwindel, weil diese vor dem Börsengang der inzwischen insolventen Augsburger Soft- ware-Firma Infomatec fünf kleinen Un- ternehmen der Firmengründer einen er-

staunlich hohen Wert von rund 100 Mil- VARIO-PRESS lionen Euro bescheinigt hatten. Nun Frankfurter Börse gerät die Kanzlei, die Promis wie Boris Becker oder den geflüchteten Lobbyis- KAPITALMARKT ten Karlheinz Schreiber vertritt, durch die Pleite der Brunnthaler Elektronik- firma Wichmann WorkX erneut ins Ge- Bilanzpolizei gegen Betrüger rede. Die Münch- ner Staatsanwalt- ngesichts der Bilanzskandale in den steht, dass die Darstellung der Wirt- schaft ermittelt AUSA und Europa will Bundes- schafts- und Finanzlage dieser Unter- gegen einen Ex- finanzminister Hans Eichel die Kapital- nehmen nicht den Tatsachen ent- Mitarbeiter von markt-Regeln in Deutschland drastisch spricht“. Dabei dürfen die Aufseher Haarmann, Hem- verschärfen und eine „Bilanzpolizei“ künftig auch die Erkenntnisse nutzen, melrath, der die schaffen, die Firmenabschlüsse über- die sie bei der Überprüfung anderer Un- Start-up-Firma wacht und kontrolliert. Die entspre- ternehmen, insbesondere von Banken, beriet und später chenden Pläne will Eichel am Dienstag gewonnen haben. Eichels Bilanzpolizei dort als Finanz- dieser Woche in einer Rede an der soll Firmen sogar zwingen können, sich chef anheuerte, Frankfurter Börse vorstellen. Demnach einen anderen Wirtschaftsprüfer zu su- wegen des Ver- soll vor allem die Bundesanstalt für chen – vor allem dann, wenn die Prüfer dachts auf Betrug Finanzdienstleistungsaufsicht (BAFin) „die Unabhängigkeitsregeln oder ande- und gemeinschaft- mehr Macht erhalten – und nach dem re zentrale Vorschriften der Rechnungs- licher Steuerhin- Vorbild der amerikanischen Börsenauf- legungsstandards nicht einhalten“. Zu- terziehung. Aus sicht SEC zu einer schlagkräftigen dem hat Eichel vor, sich in der nächsten Justizkreisen ver- Behörde ausgebaut werden. So sollen Legislaturperiode „intensiv um die Fort- lautet, dass das die BAFin-Aufseher künftig Sonderprü- entwicklung der Rechnungslegungs- Verfahren dem- fer in die Unternehmen schicken dür- standards für Kreditinstitute und Versi- nächst vermutlich fen, „wenn Anlass zu der Vermutung be- cherungsunternehmen zu bemühen“. auch auf einen

SABINE BRAUER SABINE noch in der Bera- Tewaag, Glas tungsfirma tätigen Mitarbeiter ausge- dehnt werde, der das umstrittene Info- MANAGER matec-Gutachten mit verfasste. Die Kanzlei hatte mehrere Jahresabschlüsse Pischetsrieder löst VW-Finanzvorstand ab von Wichmann WorkX testiert und dem Vorstand eine korrekte Buchführung und vier Monate nach seinem Amtsantritt greift VW-Chef Bernd Pischetsrieder bestätigt, obwohl sich wenig später her- Rdurch: Er löst den langjährigen Finanzvorstand Bruno Adelt, 62, ab. Auf der Auf- ausstellte, dass die Umsätze durch sichtsratssitzung am 6. September soll Adelts Vertrag, der erst im März bis Ende 2003 Scheingeschäfte um rund 25 Millionen verlängert worden war, aufgelöst werden. Der Finanzmanager Euro aufgebläht waren. Die Beratungs- gilt zwar als grundsolide, konnte aber Analysten und Kapital- firma, die ihre Testate später widerrief, anleger nicht für die VW-Aktie begeistern. Wenn die EU- gab bis Freitag vergangener Woche kei- Kommission das VW-Gesetz kippt, das dem Land Niedersach- ne Stellungnahme ab. Das Nachsehen sen bislang de facto eine Mehrheit auf der Hauptversammlung haben nun wohlhabende Privatanleger garantiert, ist die Unabhängigkeit des Konzerns gefährdet. – darunter der Noch-Ehemann von Deshalb soll sich der Neue – er kommt nicht aus dem VW- Uschi Glas, Bernd Tewaag – , die der Konzern – künftig stärker um internationale Anleger und Firma über ihren Gründer ein Darlehen Kurspflege kümmern. Pischetsrieder hat den Kandidaten bis-

von rund 3,6 Millionen Euro gewährten, lang nur dem Präsidium des Aufsichtsrats präsentiert und die VON BRAUCHITSCH WOLFGANG die nun wohl verloren sind. Herren zu „strengstem Stillschweigen“ verdonnert. Pischetsrieder, Adelt

der spiegel 36/2002 125 Trends

HAUSHALT Defizit über drei Prozent? xperten im Bundesfinanzministerium lastet. Angesichts der Bundestags- Erechnen damit, dass Deutschland in wahl hat sich Eichel entschlossen, diesem Jahr klar gegen das Defizit-Ziel die EU-Kommission nicht über die des Maastricht-Vertrags von drei Prozent bedrohliche Entwicklung zu infor- des Bruttosozialprodukts verstoßen wird. mieren und keine Höhe des zu er- Das Minus von Bund, Ländern, Gemein- wartenden Defizits anzugeben. Die den und Sozialversicherungen werde Mitgliedstaaten der EU sind ver- 2002 auf bis zu 3,5 Prozent anwachsen, pflichtet, jedes Jahr Ende August warnten die Beamten Finanzminister eine so genannte Maastricht-Mel- Hans Eichel schon vor Wochen. Die Bun- dung nach Brüssel zu schicken, die desregierung hat offiziell ein Defizit-Ziel das absehbare Defizit beziffert. Die

von 2,5 Prozent nach Brüssel gemeldet. Beamten hatten ihrem Minister in ROMANELLI ANNA-MARIA Der Grund für die ausufernde Neuver- einer Vorlage zwei Werte vorge- Eichel, Solbes schuldung: Wegen der schleppenden schlagen, mit denen er vor der EU- Konjunktur schrumpft das Steuerauf- Kommission das Gesicht hätte wahren tige Lage noch zu unübersichtlich sei, um kommen, zugleich steigen die Ausgaben können. Der optimistischere Wert laute- einen Jahreswert anzugeben. Über- für die Arbeitslosenunterstützung. Die te 2,6 Prozent, der realitätsnähere 2,9 schreitet das Defizit die im Maastricht- Kalkulation wurde noch vor der Hoch- Prozent. In einem Schreiben an EU-Kom- Vertrag festgelegte Obergrenze von drei wasserkatastrophe aufgestellt, die Bund missar Pedro Solbes will sich Eichel aber Prozent, droht Deutschland ein Verfah- und Länder mit zusätzlichen Kosten be- damit entschuldigen, dass die gegenwär- ren in Brüssel.

LUFTFAHRT Commerzbank in Berlin Preiskampf in Köln/Bonn it unliebsamer Konkurrenz müssen die Deutsche Luft- Mhansa und der Touristikkonzern TUI, die über ihre Part- ner Eurowings und Germania vom kommenden Herbst an in das Geschäft mit Billigflügen einsteigen wollen, an ihrem Hei- matflughafen Köln/Bonn rechnen. Verschärfter Wettbewerb droht dem TUI-Chef Michael Frenzel dort nicht nur durch

PAUL LANGROCK / AGENTUR ZENIT LANGROCK / AGENTUR PAUL die Deutsche BA oder den britischen Billigflieger Virgin Express, sondern demnächst auch durch die Chartergesell- IMMOBILIENFONDS schaft Air Berlin. Die aufstrebende Ferienfluggesellschaft (568 Millionen Euro Umsatz) hat ihren Direktverkauf an Tou- Ermittlungen gegen Commerzbank risten in den vergangenen Jahren deutlich ausgeweitet und fliegt schon jetzt von Köln Urlaubsorte wie Malaga, Catania ie juristischen Gefechte zwischen Commerzbank und ent- oder Thessaloniki an. Dtäuschten Anteilsbesitzern verschiedener Berliner Immobi- Ab November wollen lienfonds (SPIEGEL 35/2002) weiten sich aus. Neben 30 Man- die Berliner weitere danten des Münchner Anwalts Volker Thieler, zu denen Promi- Ziele wie Madrid oder nente wie Jürgen Drews und Fritz Wepper gehören, wehren Barcelona ansteuern, sich noch rund 30 weitere Anleger gegen die von der Com- das auch der neue merzbank angedrohten Zwangsvollstreckungen. Davon betref- TUI-Ableger Hapag- fen allein 16 Klagen von Ärzten und Apothekern die Fonds- Lloyd Express von immobilie Britzer Damm/Jahnstraße. Auf Grund zweier Straf- Dezember an bedient. anzeigen ermittelt die Berliner Staatsanwaltschaft in diesem Anfang nächster Wo- Fall gegen den Treuhänder wegen Untreue und gegen Verant- che wollen Air-Berlin- wortliche der Commerzbank wegen Prozessbetrugs. Bereits im Chef Joachim Hunold Herbst vergangenen Jahres wurde bei einer Berliner Filiale die und seine Kollegen zu- entsprechende Kreditakte beschlagnahmt. Bis jetzt geben sich dem über ein neues Ta- die betroffenen Banker gelassen. „Von den 16 Verfahren hat die rifsystem entscheiden, Commerzbank 12 in erster Instanz gewonnen“, sagt ein Spre- mit dem sie die Durch- cher, 4 weitere seien dort noch anhängig. Auch die Ermittlun- schnittspreise der neu- gen der Staatsanwälte fürchte man nicht: So habe etwa die Un- en Konkurrenten von tersuchung der Kreditakte „keine zweckfremde Mittelverwen- rund 70 Euro pro

dung“ ergeben. Die Strafanzeige wegen Prozessbetrugs enthal- Strecke noch unter- JENSEN / DPA RAINER te „falsche Verdächtigungen“. bieten möchten. Frenzel

126 der spiegel 36/2002 Geld

Aktien von Chipherstellern in Euro Quelle: Thomson Financial Datastream 40 40 MICRONAS AMD INFINEON 35 35 30 30 25 25 20 20 INTEL 15 15 10 10 2001 2002 2001 2002 2001 2002 2001 2002 5 5 SJ ASJ ASJ ASJ A

CHIP-AKTIEN „Hoffnungsloses Unterfangen“ achstumsraten von 20 Prozent hat- zugeben“. Entsprechend vage sind die Wte die Chip-Industrie noch im ver- Meinungen der Analysten. Vor allem gangenen Sommer für das Jahr 2002 er- für Intels Erzkonkurrenten AMD könn- wartet. Doch die Hoffnung, dass sich ten die nächsten Monate angesichts ei- die Halbleiter-Branche nach dem Kri- nes neu entflammten Preiskriegs „sehr senjahr 2001 wieder schnell erholt, hat schwierig werden“, glaubt Merrill- sich nicht erfüllt. Nach dem Umsatz- Lynch-Experte Michael Ramirez. Auch sturz um 32 Prozent im vergangenen beim Siemens-Ableger Infineon sehen Jahr werden die Umsätze nach den Pro- Analysten die Gefahr neuer Tiefstände. gnosen des amerikanischen Branchen- Eine der wenigen Erfolgsstorys in der verbands im laufenden Jahr allenfalls krisengeschüttelten Branche liefert der um drei Prozent steigen. Hauptgrund: Schweizer Chip-Hersteller Micronas. Die Industrie investiert zurzeit kaum in Als eines von gerade mal rund einem neue Computertechnik. Selbst Craig Dutzend Unternehmen liegt der Ne- Barrett, Chef beim Branchen-Primus In- max-Wert über seinem Emissionspreis tel, hält es inzwischen für ein „hoff- und steigt weiter. Experten raten den- nungsloses Unterfangen, eine Prognose noch zur Vorsicht. Inzwischen sei nur über das mögliche Ende der Krise ab- noch wenig Spielraum nach oben.

KONZERNE Telekom noch im Laufe dieses Jahres von einer größeren Beteiligung Trennt sich die Telekom trennen wird, um die Schuldenlast zu reduzieren. Mögliche Kandidaten: Die von T-Online? US-Mobilfunktochter Voicestream und die Internet-Tochter T-Online. er vom Telekom-Interims-Chef Während ein Verkauf von Voicestream DHelmut Sihler angekündigte Plan, wegen der extremen Überbewertung die Verbindlichkeiten des Bonner Kon- in der Bilanz jedoch mit hohen Son- zerns auf rund 50 Milliarden Euro zu derabschreibungen verbunden wäre, senken, hat in der Finanzwelt zu zahl- könnte sich die Telekom wesentlich reichen Spekulationen geführt. Denn einfacher von ihrem Anteil an T-Online das ehrgeizige Ziel lässt trennen. Positiv könnte sich nicht allein über Spar- T-Online-Aktie in Euro sich auf mögliche Ver- maßnahmen und eine Ver- seit dem Börsengang kaufspläne zudem auswir- schiebung von Investitio- am 14. April 2000 ken, dass das Unterneh- nen realisieren. Auch der 40 men vergangene Woche bevorstehende Verkauf des erstmals seit seinem Bör- TV-Kabelnetzes wird bei 30 sengang ein operatives weitem nicht ausreichen, Plus vorwies. Die Telekom die Schulden auf die von 20 selber will sich zu den Sihler angepeilte Marke zu Spekulationen nicht drücken. Immer mehr 10 äußern. Alle nur denkba- Analysten und Fonds- Quelle: Thomson ren Möglichkeiten, so Financial Datastream manager gehen deshalb 0 Sihler kürzlich, würden davon aus, dass sich die 2000 2001 2002 zurzeit geprüft.

der spiegel 36/2002 127 Im Zwielicht Während des Bör- senbooms haben sich Banken in den USA auf Kosten der Anleger berei- chert. Gegen die Citigroup wird jetzt ermittelt, Merrill Lynch zahlte 100 Millionen Dollar, um ein Verfahren abzuwenden, und gleich neun führende Banken werden in einer Klageschrift der Komplizenschaft im Fall Enron be- THOMAS DALLAL THOMAS schuldigt. DALLAL THOMAS Deutsche Bank Merrill Lynch Citigroup

BANKEN Die Ehre der Wall Street Selbst die weltgrößte Bank, die Citigroup, gerät jetzt in den Strudel der Enthüllungen um Bilanztricks, manipulierte Aktienkurse und geprellte Anleger: Die US-Finanzindustrie steht vor ihrem moralischen Offenbarungseid. Juristisch aber hat sie wenig zu befürchten.

er Aufstieg Sanford Weills vom te – es ist vor allem der moralische Offen- ten – und der am Ende viele Anleger Laufburschen einer New Yorker In- barungseid des amerikanischen Finanzge- ruinierte. Dvestmentbank zum Chef des welt- werbes. Grubman, Analyst der Citigroup-Tochter größten Finanzkonzerns Citigroup dauer- Es waren die großen Investmentbanken, Salomon Smith Barney, galt als Star seiner te 42 Jahre. Der Sohn polnischer Einwan- die eine riesige Börsenblase aufpusteten. Branche. Die Empfehlungen des Spezialis- derer hatte durch aggressive Übernahmen Und es waren Leute wie Jack Grubman, ten für Telekommunikationswerte trieben den Finanzkonzern Travelers aufgebaut, die mit ihren Analysen den Hype anheiz- die Kurse dieser Unternehmen in schwin- den er schließlich mit der Citicorp verein- ten, an dem die Banken kräftig verdien- delerregende Höhen. Die Aktie von World- te. Er drängte den ehemaligen Chef des Com pries er, bis sich herausstell- Fusionspartners, mit dem er die neue Citi- te, dass die Manager des Konzerns group leitete, aus dem Konzern – und wur- die Bilanzen und Umsätze ge- de der mächtigste Banker der Welt. schönt und die Gewinne frei er- Seither zittern sogar Giganten des Geld- funden hatten. Inzwischen musste gewerbes wie die Deutsche Bank vor Weill. Grubman gehen, mit einer Abfin- Sie fürchten, sie könnten eines Tages von dung in Höhe von 32 Millionen dem übermächtigen US-Konkurrenten ge- Dollar. schluckt werden. Viel Geld für einen, der offen- Jetzt können sie ein wenig aufatmen. sichtlich versagt hat. Aber die Denn die Citigroup steckt in Schwierigkei- Summe wird ein wenig plausibler, ten – und Weills steilem Aufstieg könnte wenn stimmt, was die Börsenauf- der abrupte Absturz folgen. sicht prüft. Inzwischen interessiert sich nämlich die Die SEC untersucht, ob Citi- US-Börsenaufsicht SEC für das Unterneh- group-Chef Weill seinen Star-Ana- men und dessen Chef, und auch die Staats- lysten dazu aufforderte, die Aktie anwaltschaft ist aktiv: Die weltgrößte Bank von AT&T besser zu bewerten, um steckt mittendrin im Skandal um habgieri- sich das Wohlwollen der Konzern- ge Manager, verlogene Analysten und ge- herren zu sichern. Das Telekom- fälschte Bilanzen. Unternehmen stand nämlich kurz Spätestens jetzt wird klar: Was mit En- davor, seine Mobilfunktochter an ron begann und mit WorldCom noch lan- die Börse zu bringen, und da

ge nicht endete, ist nicht nur der größte MAGAZIN BOSSE / MANAGER KATHARINA winkten für Investmentbanken lu- Skandal der neueren Wirtschaftsgeschich- Bank-Chef Weills: Druck auf den Star-Analysten? krative Aufträge. Auch für Salo-

128 der spiegel 36/2002 THOMAS DALLAL THOMAS KATHARINA BOSSE / MANAGER MAGAZIN BOSSE / MANAGER KATHARINA THOMAS DALLAL THOMAS CHRIS STEWART / S.F. CHRONICLE / S.F. CHRIS STEWART Credit Suisse First Boston Bank of America J. P. Morgan mon Smith Barney fiel ein solches Mandat Finanzindustrie die größte Spekulations- Boston (CSFB), Lehman Brothers, Bank ab. Der New Yorker Generalstaatsanwalt blase seit dem Börsencrash im Jahr 1929 of America, J. P. Morgan und Canadian Eliot Spitzer forderte AT&T inzwischen auf, möglicherweise wider besseres Wissen an- Imperial Bank of Commerce (CIBC). Unterlagen über den Börsengang heraus- geheizt? Vielleicht sogar mit kriminellen „Wall Street ist unehrlich“, glaubt der zugeben. Spitzer versucht seit Monaten, Methoden? Hat sie ihre eigenen Kunden, Anwalt Lerach, „es ist nicht nur Enron. den Wall-Street-Sumpf mit juristischen Mit- die Anleger, betrogen? Adelphia, Dynegy, Global Crossing, Tyco teln trockenzulegen. Und er ist dabei nicht William Lerach, Anwalt in der Kanzlei und Qwest, das sind alles Produkte der zimperlich. Milberg Weiss, ist von der Unredlichkeit Wall Street.“ Sein Partner Melvyn Weiss Um ein Verfahren abzuwenden, erklär- der Finanzindustrie überzeugt – und er will hat allein in den vergangenen 20 Mona- te sich die US-Investmentbank Merrill es am Beispiel Enron auch beweisen. ten über 180 Sammelklagen gegen Firmen Lynch zur Zahlung von 100 Millionen Lerachs Kriegserklärung erreichte die und Banken wegen inkorrekter und be- Dollar bereit. Auch hier hatten Analysten Wall Street am 8. April 2002, sie war trügerischer Börsengänge angestrengt. Aktien gegen die eigene Überzeugung 500 Seiten dick. In der erweiterten Enron- „Die gesamte Wall Street“, beschreibt empfohlen. Sammelklage wurden nicht nur das Ma- Weiss den Börsenboom der späten Neun- Doch der Fall Citigroup geht tiefer. Hier nagement und die Wirtschaftsprüfer des ziger, „war von Gier erfasst. Sie taten buch- glauben die Ermittler nachweisen zu kön- Betrugs bezichtigt, sondern auch zwei An- stäblich alles, um die Goldgräberstimmung nen, dass die Anleger bewusst getäuscht waltskanzleien – und neun der bedeu- beizubehalten.“ wurden, um der Bank (und deren Ma- tendsten Banken der Welt. Detailliert beschreibt die Klageschrift die nagement) finanzielle Vorteile zu ver- Wie ein Who’s who der Finanzwelt lesen Rolle der Banken als Teilnehmer und Nutz- schaffen – was die Bank bestreitet. sich die Namen der beschuldigten Geld- nießer an Enrons Schwindelimperium. Es geht um die Ehre der Citigroup – und häuser: Barclays, Deutsche Bank, Citi- „Statt die Öffentlichkeit vor dem Betrug zu um die Ehre der Wall Street. Hat die US- group, Merrill Lynch, Credit Suisse First schützen, entschieden sich die Banker wis- sentlich dafür, Täuschungspartner zu wer- den. Sie folgten dem Beispiel der Enron- Insider: reich werden auf Kosten Tausen- der unwissender Pensionäre und anderer Investoren, die oftmals ihre Lebenser- sparnisse der Firma anvertrauten – und verloren.“ Leitende Bankangestellte vertuschten, laut Klageschrift, den wahren Zustand von Enrons prekärer Finanzlage, während die Wertpapieranalysten der gleichen Bank ge- schönte Gutachten über die Firma angefer- tigt haben sollen. Sie gaben angeblich ver- deckte Kredite, um den Aktienpreis künst- lich hochzuhalten. Sie sollen beim Aufbau von Offshore-Partnerschaften, die Schein- geschäfte abwickelten und Enron-Schulden verschleierten, mitgeholfen haben. Als ein extremes Beispiel wird die von Enrons Finanzchef kontrollierte Firma LJM2 angeführt. Mit rund 150 Millionen

BRIAN SNYDER / REUTERS * Während einer Demonstration am Rande des Weltwirt- Proteste gegen Enron*: Schwindelimperium mit Hilfe der Banken schaftsgipfels am 4. Februar in New York.

der spiegel 36/2002 129 Wirtschaft

Dollar finanzierten J. P. Morgan, Chase, triebliche Altersversor- Millionen Dollar Wahlkampf- CIBC, die Deutsche Bank, CSFB, Lehman gung. Doch auf ein spenden an Politiker, 71 der Brothers und Merrill Lynch 1999 diese Un- Schuldbewusstsein der 100 Senatoren und 188 Abge- ternehmung fast vollständig. Circa hundert Banken warten sie verge- ordnete des Repräsentanten- Merrill-Lynch-Manager beteiligten sich bens. Stattdessen geriet hauses bekamen etwas davon persönlich daran, hohe Gewinne lockten. die Anhörung von Ma- ab. Ziel der Kampagne: Der Die Geldgeber, so will Lerach beweisen, nagern von Citigroup, Private Securities Litigation kannten den Zweck von LJM2: die Ab- J. P. Morgan und Merrill Reform Act, der die Haftbar- wicklung von Scheingeschäften. Lynch vor US-Senatoren keit von Unternehmen ge- Laut Klageschrift nutzte LJM2 noch 1999 Ende Juli zu einem trau- genüber den Aktionären das von den Banken gestellte Geld, um En- rigen Sittengemälde über stark einschränkt. ron-Aktiva zu kaufen, die die Firma auf den Zustand der Finanz- Am 22. Dezember 1995 dem Markt nicht losgeworden war: ein moral. hatten die Unternehmensin- Kraftwerk in Polen zum Beispiel oder Sie und ihre Firmen teressen gesiegt. Nach einem

eine Naturgasfirma im Golf von Mexiko. hätten nichts Falsches ge- / AP WILLENS KATHY langen, bitteren Kampf über- Die Verkäufe wurden als Enrons Einnah- tan, beteuerten die Ban- Staatsanwalt Spitzer stimmte der Kongress das men vermeldet: Die Profit-Vorhersagen, so ker unisono. Die Tatsa- Den Sumpf trockenlegen Veto Präsident Bill Clintons. schien es, waren erreicht worden, neue, che, dass sie Enron über Seither muss ein Opfer von überhöhte Gewinnprognosen wurden for- acht Milliarden Dollar Finanzhilfe gewähr- Wertpapierbetrug, das gegen den ver- muliert. Das Absinken der Börsenkurse ten und gleichzeitig das mühsam gestützte meintlichen Schädiger klagen will, „schlüs- war verhindert, und die Bankmanager, die Papier zum Kauf anpriesen, sei nicht an- sige Anhaltspunkte“ vorlegen, dass „jeder in LJM2 investiert hatten, kassierten, so stößig. Auch die Praxis, Zukunftslieferun- der Beklagten in betrügerischer Absicht“ Lerach, Millionen. Kurz danach kaufte En- gen Jahre im voraus zu bezahlen und zu gehandelt hat – kein anderes zivilrechtli- ron ihre Verkaufsposten stillschweigend verrechnen, sei gängig und müsse deshalb ches Verfahren benötigt eine solche Vor- wieder zurück. als sauberes Instrument gelten. aussetzung. Ähnlich soll die von J. P. Morgan finan- Den Vorsitzenden des Enron-Untersu- Dass jeder für den Wertpapierbetrug zierte, auf den englischen Kanalinseln an- chungsausschusses, Senator Carl Levin, be- Verantwortliche für den Gesamtschaden sässige Firma Mahonia gearbeitet haben. eindruckte das wenig. Für ihn sind die Ban- einstehen musste, wurde abgeschafft, die Laut Klageschrift verschleierte J. P. Morgan ken „die größten Teilnehmer an Enrons ge- Haftung selbst im Fall beabsichtigter, wis- schätzungsweise Zahlungen in Höhe von fälschten Transaktionen“. sentlich falscher Finanzangaben und Pro- fünf Milliarden Dollar, indem Enron Gas- Ob sich die Banken allerdings jemals für gnosen aufgehoben. Zudem wurde die und Ölkontrakte scheinbar an Maho- ihre Handlungen verantworten müssen, ist Höhe der Entschädigung, die ein betroge- nia verkauft, später aber zurückgenom- höchst fraglich. Besonders die Republika- ner Investor einfordern kann, beschränkt. men habe. ner haben dafür gesorgt, dass Banken und Der Oberste Gerichtshof hatte zudem 1994 Citigroup soll ihr in den Cayman Islands Anwaltskanzleien für Aktionärsverluste in einer spektakulären 5:4-Entscheidung niedergelassenes Tochterunternehmen Del- kaum haftbar zu machen sind. beschlossen, dass Anwaltskanzleien, Rech- ta benutzt haben, um Enron mit versteck- Im Jahr 1994 hatten die Republikaner nungsprüfer, Investmentbanken und ande- ten Darlehen in Höhe von 2,4 Milliarden sowohl das Repräsentantenhaus als auch re, die wissentlich Beihilfe zu einem Wert- Dollar zu stützen. CSFB lieh Enron eben- den Senat erobert; sofort begannen sie, an papierbetrug leisten, von den Opfern nicht falls 150 Millionen Dollar, auch diese, so den Wertpapiergesetzen zu rütteln. Wirt- belangt werden können. Lerach, durch Scheingeschäfte getarnt. schaftsprüfungsfirmen, Großunternehmen Auf Bundesebene ihrer Rechte derart 66 Milliarden Dollar verloren Enron-Ak- und Wall Street gaben Millionen für Lob- beschnitten, wichen Betrogene in die Ge- tionäre durch den Bankrott des Energie- byisten und Wahlkampfhilfe aus. Enron richtsbarkeit der Staaten aus. Als sich dort riesen und Tausende Angestellte ihre be- und seine Manager verteilten knapp sechs die gefürchteten Sammelklagen häuften, wurden die Lobbyisten in Washington er- neut aktiv. Mit Erfolg: Seit 1998 sind Wert- papier-Sammelklagen nur noch auf Bun- desebene zugelassen. Die Skandale von heute sind die Folge dieser Gesetzgebung. Die Kanzlei Milberg Weiss, Marktführer in Sachen Sammelkla- gen, hofft nun auf öffentlichen Druck, um diese Gesetze rückgängig zu machen. So- lange das nicht geschieht, müssen die Klä- ger beweisen, dass Banken an Vergehen wie Prospekt- oder Bilanzbetrug beteiligt waren oder ihre Pflicht vernachlässigt ha- ben, Unternehmen zu durchleuchten und Anleger korrekt zu informieren. „Die Verrottung des amerikanischen Fi- nanzsystems ist strukturell und systema- tisch“, urteilt die linksliberale Zeitschrift „The nation“, „es besteht aus Lügen, Betrug und und Diebstahl im großen Stil, aber die meisten dieser Vergehen wirken unpersönlich, weil die Transaktionen so komplex sind und entfernt scheinen

DENNIS COOK / AP von gewöhnlicher menschlicher Krimina- Citigroup-Manager vor Senatsausschuss: Trauriges Sittengemälde der Finanzmoral lität.“ Michaela Schießl

130 der spiegel 36/2002 Werbeseite

Werbeseite Wirtschaft

SPIEGEL-GESPRÄCH „Meisterwerk der Desinformation“ Der Ökonom Fredmund Malik über das amerikanische Wirtschaftswunder der neunziger Jahre als gigantischen Bluff, die Tricks der Statistiker, das falsche Vorbild USA und die neue Nüchternheit in deutschen Unternehmen

SPIEGEL: Herr Professor Ma- lik, Amerika wird von Bi- lanzskandalen überrollt, das Vertrauen der Anleger ist er- schüttert, die Börsenkurse sind am Boden. Taugt die US- Wirtschaft noch als Vorbild? Malik: Amerika ist sicher kein Vorbild mehr und hätte es in den vergangenen Jah- ren auch nicht sein dürfen. Das Wirtschaftswunder in den Vereinigten Staaten war lediglich ein Medienereignis, ein Meisterwerk der Desin- formation. In der ökonomi- schen Realität hat es nie stattgefunden. SPIEGEL: Aber die USA ver- zeichneten doch hohe Wachs- Fredmund Malik tumsraten und enorme Pro- lehrt seit 1978 in der duktivitätszuwächse. Schweiz an der Hoch- schule St. Gallen Malik: Die meisten dieser Zahlen sind falsch. Die Ame- Betriebswirtschaft mit rikaner haben sich systema- Schwerpunkt Unterneh- tisch schöngerechnet. mensführung. Seit 1984 Autos in Deutschland nicht leitet der gebürtige SPIEGEL: Meinen Sie damit, zu Verkaufspreisen ins So- die Zahlen wurden gefälscht Österreicher das Manage- zialprodukt eingerechnet, wie die Bilanzen der Kon- ment Zentrum St. Gallen. sondern mit der PS-Zahl zerne Enron und Worldcom? Malik, 58, berät zahl- multipliziert. Die Zahlen, die reiche Unternehmen – Malik: Fest steht, dass die den Boom in den USA bele- Amerikaner seit Mitte der vor allem deutsche. gen sollten, sind jedenfalls neunziger Jahre ein neues mit den deutschen in keiner statistisches Verfahren benutzen, das so ge- Weise vergleichbar, sie wurden massiv auf- nannte Hedonic Price Indexing. Es ver- gebläht. Das war ein gewaltiger Bluff. sucht zu berücksichtigen, dass sich die SPIEGEL: Wie stark ist denn die amerikani- Qualität von Gütern verbessert und sie sche Wirtschaft tatsächlich gewachsen? gleichzeitig billiger werden. So wurden die Malik: Es gab Wachstum im Finanzbereich, Zahlen um einen Faktor nach oben korri- allerdings als Folge einer Spekulationsbla- giert, der diese Leistung ausdrücken soll. se, und im Computersektor, wobei dieser Die Computerinvestitionen in den USA Bereich längst nicht so wichtig ist, wie die stiegen zum Beispiel von 1995 bis 2000 von Medien suggeriert haben. Wenn man die- 23 auf 87 Milliarden Dollar. Durch den se Effekte ausklammert, dann ergibt sich hedonischen Effekt wurden daraus 240 Mil- für die neunziger Jahre realwirtschaftlich liarden Dollar – rein statistisch, nicht real. Nullwachstum. SPIEGEL: Statistiker halten das hedonische SPIEGEL: Wieso ist dies keinem der renom- Verfahren aber gerade für realitätsnäher. mierten US-Ökonomen aufgefallen? Auch das Statistische Bundesamt wendet es Malik: Die interessensneutrale, kritische neuerdings an. Überprüfung der Wirtschaft ist, von Aus- Malik: Ich hoffe, das Amt besinnt sich eines nahmen abgesehen, nicht gerade die Stärke Besseren. Es mag gute Statistik sein, aber Amerikas. Die wirklichen Feinde des Kapi- es ist miserable Ökonomie. Auf diese Wei- talismus sind seine lautesten Befürworter.

se zu rechnen ist beinahe so, als würden Ein Teil der Ökonomen wurde sogar be- R.) (U. / GETTY IMAGES L.); SPENCER PLATT (O. PIRMIN RÖSLI

Das Gespräch führten die Redakteure Alexander Jung Börse in New York und Armin Mahler. „Amerika ist sicher kein Vorbild mehr“

132 der spiegel 36/2002 Produktivität Bruttoinlandsprodukt Beschäftigte in Unternehmen je Arbeitnehmer Veränderung gegenüber Vorjahr in Prozent +14 Veränderung Veränderung gegenüber gegenüber 1991 1991 in Prozent USA +5 Deutschland +12 in Prozent +23,9% +20 +10 gegenüber +4 USA USA 1991 +8 +15 +3 +6 Deutschland +2 +4 +10 +1 +2 +16,4% +5 gegenüber 0 1991 0 –2 2002 –1 Quellen: OECD; Statistisches Bundesamt; Deutschland 0 geschätzt Bureau of Labor Statistics –4 1991 93 95 97 99 01 1991 93 95 97 99 01 1992 94 96 98 00

zahlt von den Wall-Street-Firmen. Sie be- rale Ökonomen wie der Nobelpreisträger flügelten einen Börsenboom, der nicht auf Milton Friedman wissen, dass eine Rechts- Wertschöpfung gestützt war, sondern auf ordnung und eine Justiz nötig sind, damit Gier, auf Schulden, auf die Angst, die Chan- der Markt funktioniert. Auch wer das Kon- ce seines Lebens zu verpassen, und auf sys- zept des Shareholder-Value propagiert, der tematische Fehlinformationen, wie die Zin- das Aktionärsinteresse über alles stellt, darf kereien der Bilanzen von Unternehmen wie nicht glauben, dass er damit im Sinne des Enron oder Worldcom jetzt zeigen. Liberalismus handelt. Ein Unternehmen SPIEGEL: Das klingt ja beinahe nach einer hat nicht den Zweck, die Aktionäre reich Verschwörung. zu machen. Malik: Es bedurfte keiner Verschwörung, es SPIEGEL: Sondern? genügte der Zeitgeist: der Glaube an stetig Malik: Ein Unternehmen muss die Kunden steigende Gewinne, wachsende Produkti- zufrieden stellen und nicht die Aktionäre. vität und praktisch ewiges Wachstum. Es SPIEGEL: Die Aktionäre sind immerhin die war ein sich selbst verstärkender Prozess, Eigentümer des Unternehmens. Wieso soll- der erst zu enormen Höhenflügen führt und te der Vorstand nicht in ihrem Interesse dann zum Absturz. Diese Entwicklung ist handeln? vergleichbar mit der in den zwanziger Jah- Malik: Nur ein Unternehmen, das zufrie- ren. Damals wurde statt von einer „New dene Kunden hat, wird auch zufriedene Economy“ von der „New Era“ gesprochen. Aktionäre haben – umgekehrt geht die SPIEGEL: Wie konnte es erneut zu einer sol- Logik nicht auf. Das Problem ist: Es sind chen Fehleinschätzung kommen? zwei Arten von Eigentum zu unterschei- Malik: Ursache ist ein Neoliberalismus, der den. Eigentlich ist der unternehmerisch mit wirklichem Liberalismus nichts zu tun denkende Eigentümer der Kern einer hat. Liberal zu denken bedeutet keines- Aktiengesellschaft. Heute jedoch haben falls, bedingungslos dem Markt zu ver- es die Unternehmen mit kurzfristig den- trauen, der angeblich alles zum Besten kenden Anlegern zu tun, die nicht am richtet und stets klüger ist. Tatsächlich läuft Unternehmen, sondern an der Aktie in- der Markt immer nur hinterher: Er sagt teressiert sind. Sie können ihre Anteile uns nicht, wie wir handeln müssen, son- mit einem Telefonanruf oder einem Maus- dern lediglich, wie wir damals hätten han- deln sollen. Der Markt verhindert keine Fehler, er bestraft sie. SPIEGEL: Jetzt klingen Sie wie ein Kapita- lismuskritiker. Malik: Schon große liberale Denker wie Friedrich von Hayek wussten, dass der Markt höchst unvollkommen ist – aber alle anderen Lösungen noch viel schlechter sind. Entscheidend ist vielmehr die Freiheit jedes Einzelnen, sein Wissen und seine Fähigkeiten für seine Ziele und Zwecke verwenden zu dürfen. SPIEGEL: Wie sind die Unzulänglichkeiten

des Marktes in den Griff zu bekommen? / DPA GRUBITZSCH WALTRAUD Malik: Der Markt bedarf eines präzise Porsche-Werk (in Leipzig) durchdachten Regelwerks. Selbst so libe- „Permanentes Fitnesstraining“

der spiegel 36/2002 133 klick verkaufen. Kein Unternehmer kann SPIEGEL: Wenn das amerikanische Modell Sie sind dem Druck der Börse längst nicht sich auf diese Weise von seinem Betrieb ausgedient hat, worauf sollen die deut- so stark ausgesetzt, sie können langfristiger trennen. schen Unternehmer dann setzen? planen. Es ist auch ein Märchen zu be- SPIEGEL: Wollen Sie die Rechte der Ak- Malik: Auf die eigenen Stärken. Ich halte haupten, jedes Unternehmen brauche die tionäre beschränken? die deutsche Wirtschaft für deutlich leis- Börse, um an Geld zu kommen. Der Me- Malik: Man muss zumindest darüber nach- tungsfähiger als die amerikanische. Es ist dienkonzern Bertelsmann kann von Glück denken. Komplett ungeregelte Börsenope- relativ leicht, ein großes Unternehmen in reden, dass er in letzter Sekunde noch die rationen sind auch falsch verstandener Li- Amerika zu führen bei einem solch riesigen richtige Entscheidung getroffen und seine beralismus. Geld zu machen oder Geld zu Heimatmarkt von 275 Millionen Menschen. gesamte Strategie geändert hat. bewegen ist nicht dasselbe wie eine unter- Amerika war nie auf den Export angewie- SPIEGEL: Wenn dieser deutsche Weg die nehmerische Leistung zu erbringen. Die sen. Von Deutschland aus ein Weltunter- bessere Alternative darstellt, wie kommt US-Firmen haben keine echten Gewinne nehmen zu führen, bedeutet eine ganz es, dass die deutsche Volkswirtschaft in produziert, sondern im Grunde das Ge- andere Anforderung an Führung. puncto Wachstum in Europa den letzten genteil: lediglich Geldwerte an den Bör- SPIEGEL: Das Vorbild heißt also Deutsch- Platz belegt? sen. Mit dem Shareholder-Value haben die land? Malik: Bedenken Sie die besonderen Belas- Manager die wahre Aufgabe der Unter- Malik: Ich meine, ja. Tugenden, wie sie tungen, die Deutschland in den vergan- nehmensführung völlig aus den Augen Deutschland immer besaß, spielen heute genen Jahrzehnten zu tragen hatte: den verloren. wieder eine wichtige Rolle. Die deutsche teuren Wohlfahrtsstaat, die oft ungüns- SPIEGEL: Haben denn die Manager über- Wirtschaft versteht mehr von Kundennut- tigen Wechselkurse, die kämpferischen haupt eine andere Wahl? Sie werden doch zen und vor allem von Qualität als die Gewerkschaften, die Integration Europas von Fondsverwaltern fortwährend ange- meisten anderen Volkswirtschaften. Schau- und vor allem die Wiedervereinigung. Dar- trieben, die Gewinne ihrer Unternehmen en Sie sich nur die deutsche Automobilin- um sage ich: Deutschland ist eine Wirt- zu steigern. dustrie an. Vor zehn Jahren befand sie sich schaft, die ein permanentes Fitnesstraining Malik: Ich glaube, der Terror der Finanz- in einem desolaten Zustand, heute ist sie unter Sonderlasten hinter sich hat. analysten beginnt seine Wirkung zu ver- Weltspitze. Es ist bemerkenswert, dass in SPIEGEL: Aber wieso wurden in Amerika in lieren. Ich bin fest davon überzeugt, dass dieser Branche keine Amerikanisierung zehn Jahren mehr als 15 Millionen Arbeits- ein Rockefeller oder ein Morgan unter den des Managements stattgefunden hat. plätze geschaffen, während in Deutschland heutigen Bedingungen nicht an die Börse SPIEGEL: Mit Ausnahme von Daimler- die Zahl stagnierte? Ist das auch nur ein gegangen wäre. Sie hätten sich nicht jeden Chrysler. Statistiktrick? Tag schon im Frühstücksfernsehen von Malik: Richtig. Und da ist doch auffällig, Malik: Diese Zahlen zweifle ich nicht an, ich ziemlich unerfahrenen Kommentatoren sa- dass besonders erfolgreiche Unternehmen glaube allerdings, dass sich darunter viele gen lassen wollen, wie sie ihre Firmen wie BMW oder Porsche eigentümerdomi- Billigjobs verbergen. Verstehen Sie mich führen sollten. niert sind, in diesen Fällen von Familien. bitte nicht falsch: Die deutsche Wirtschaft Wirtschaft

Aber wie sieht es in den neu- Eisenbahn eingesammelt, danach gab es en Industrien aus? In der In- eine hervorragende Infrastruktur. Heute formationstechnologie domi- wäre die Ausbreitung des Internets nie so nieren weltweit doch klar die schnell vorangekommen, hätte es nicht die- USA. sen Technologie-Hype gegeben. Malik: Ich würde eine Branche Malik: Das mag sein. Aber das würde be- wie den Maschinenbau nicht deuten, dass der Mensch nichts dazulernt. einfach unter „Old Economy“ Wir dürfen nicht vergessen, dass dem Ei- verbuchen. Da gibt es viele senbahnboom der Wirtschaftskollaps folgte Unternehmen, die außeror- und dass der Börsenboom der späten zwan- dentlich technologieorientiert ziger Jahre ebenfalls im Debakel endete. sind. Ich gebe allerdings zu, SPIEGEL: Sehen Sie jetzt eine ähnliche Ge- dass Deutschland eine Spur in- fahr für die USA? novativer sein könnte. Malik: Alle Bedingungen sind erfüllt, dass SPIEGEL: Was die US-Wirt- sich die Entwicklung der dreißiger Jahre in

SPENCER PLATT / GETTY IMAGES SPENCER PLATT schaft ebenfalls auszeichnet, ähnlicher Form wiederholt. Es wird ver- Festgenommener Worldcom-Manager*: „Auf Gier gestützt“ ist ihre Dynamik, ihre Risi- mutlich schlimmer. kobereitschaft, der Mut zu Vi- SPIEGEL: Warum sind Sie so skeptisch? hat Probleme, keine Frage, aber welches sionen eben. Mangelt es nicht in Deutsch- Malik: In Amerika stehen die Ersparnisse Land hat keine? Es ist wirklich erstaunlich, land gerade daran? von zwei Generationen im Risiko, in den mit welcher Bewunderung, ja fast Ver- Malik: Bis Anfang der neunziger Jahre vergangenen zwei Jahren ist mit fünf Bil- klärtheit, hochrangige Manager von der stand im Brockhaus unter dem Eintrag „Vi- lionen Dollar so viel wie das halbe US-So- US-Wirtschaft schwärmen und gleichzeitig sion“ „Gesichts- oder Sinnestäuschung“. zialprodukt vernichtet worden. Noch hof- Deutschland schlecht machen. Diese Volks- Und genau das war es. Der Begriff der fen die Rentner darauf, dass sich ihre Porte- wirtschaft kann einiges. Sie ist leis- Vision hat den Träumern doch nur die feuilles wieder füllen. Was aber, wenn sie tungsfähig, und sie kann Probleme besser Möglichkeit gegeben, sich wichtig zu ma- merken, dass die Reserven weg sind? Es lösen als jede andere. chen. Viel bedeutsamer wäre es, eine bo- wird überall Verzicht geben. Nach der letz- SPIEGEL: Aber ist sie auch fähig, sich zu er- denständige Unternehmensstrategie zu ent- ten großen Wirtschaftskrise sind den Ame- neuern? In den traditionellen Bereichen, in wickeln. Was wir brauchen, ist eine neue rikanern soziale Konflikte erspart geblie- der Automobilindustrie oder im Maschi- Nüchternheit. ben. Ich fürchte, diesmal wird es nicht so nenbau, mag Deutschland Weltspitze sein. SPIEGEL: Es gibt die Theorie, wonach Pha- glimpflich ausgehen. sen der Übertreibung auch ihr Gutes ha- SPIEGEL: Herr Professor Malik, wir danken * In New York am 1. August. ben. Vor 150 Jahren wurde viel Geld für die Ihnen für dieses Gespräch. Werbeseite

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Werbeseite Wirtschaft MICHAEL DALDER / REUTERS MICHAEL DALDER Arbeitsminister Riester, erster Green-Card-Empfänger Wijaya*: „Wir brauchen die besten Köpfe“

ARBEITSMARKT „Lasst uns hier abhauen“ Einst waren ausländische Computerspezialisten heiß umworbene Stars. Doch mit dem Absturz der Hightech-Branche hat sich die deutsche Green Card für viele als rote Karte erwiesen: Ohne Sprachkenntnisse arbeits- und chancenlos, kehren nun viele frustriert in ihre Heimat zurück.

adja Sangpur**, Diplom-Computer- von denen es in Deutschland so wenige Sangpur nicht, als er, die Green Card in der ingenieur und Fachmann für Daten- gab, dass die Branchenverbände auf Hilfe Tasche, die bessere Zukunft vor Augen, Rbanken sowie Programmiersprachen aus dem Ausland drängten. sein Flugticket ins vermeintliche IT-Wun- aller Art, kam im Januar 2001 von Mumbai, Sangpur ließ sich gern anwerben. Hat- derland selbst bezahlte. Indien, nach Aachen, Deutschland. Und te der deutsche Bundeskanzler Gerhard „Eine Investition“, dachte er damals. es fing schon damit an, dass er sein Flug- Schröder nicht selbst gesagt: „Wir brau- „Eine dumme Idee“, denkt er heute. Sechs ticket selbst bezahlte. Vielleicht hätte ihn chen die besten Köpfe“? Da störte es Monate arbeitete er an seinem ersten Pro- das misstrauisch machen müssen. jekt. Große Firma, großer Auftrag. Damals, im Dezember 2000, als die New Zenit überschritten 490 492 Dann wurde die Marktlage schlech- Economy noch glaubte, ihr gehöre die Welt, 475 ter, und die große Firma kündigte waren ihre Manager, Personalberater und Beschäftigte in der den Beratungsvertrag mit Sangpurs Headhunter reihenweise nach Indien ge- deutschen Computer- kleiner Firma. Drei Wochen später flogen, nur um Leute wie Sangpur kennen branche in Tausend 418 kündigte die kleine Firma Sangpur. zu lernen. Das hat ihm geschmeichelt. Es Veränderung „Die haben mich einfach ent- roch nach Geld und Zukunft. 396 gegenüber sorgt“, sagt er jetzt. „Wie ein Stück Radja Sangpur entschied sich für eine 379 dem Vorjahr Dreck.“ kleine Beraterfirma, wie es sie eine Zeit +17% 300 Bewerbungen und vier Mona- lang zu Tausenden gab: Sie boten E-Busi- 336 te später ist Sangpur nun wieder in ness-Consulting, E-Commerce-Consulting +13% Indien. Seine Möbel hat er verkauft, oder E-Management-Consulting. Die Fir- 306 seine Ersparnisse aufgebraucht, um +10% men hatten keine Produkte. Sie handelten noch ein paar Wochen zu überleben, einfach mit dem Wissen von Leuten wie bevor er das Rückflugticket kaufen +6% Sangpur. Leute, die wissen, was eine Java- +4% musste, für sich und seine Frau. Plattform ist, wie man eine XML-Daten- Manchmal, wenn die Wut kommt auf bank strukturiert und ein Servernetzwerk –3% sich selbst, weil er seinen gut be- administriert. So genannte IT-Spezialisten, 0% 2002* zahlten Job in Indien aufgab, dann spricht er von der „roten Karte“ und 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 * Am 31. Juli 2000 in Nürnberg. *geschätzt von „einer Tragödie, die alles rui- ** Name von der Redaktion geändert. Quelle: Bitkom; Statistisches Bundesamt niert hat“. Weil sein Aufbruch nach

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Deutschland kein Schritt nach vorne war, gend Green-Cardler, die gleich mit drei Fir- sondern ein weiter Wurf zurück. men Pleite gegangen sind. Die alle drei In Indien arbeitet Sangpur jetzt als freier Monate bei ihm anklopften: Er müsse ih- Programmierer – „um meinen Namen wie- nen doch was Neues besorgen können. Die der ins Spiel zu bringen“. Wenn er Glück 200, 300, 400 Bewerbungen geschrieben hat, bekommt er seinen alten Job wieder. haben und nicht einmal ein Vorstellungs- Zwei Jahre gibt es die Green-Card- gespräch bekamen. Regelung inzwischen. Eigentlich heißt sie Im Internet-Forum von Trust7 herrscht „Verordnung über die Arbeitsgenehmigung inzwischen nur noch Resignation: „Lasst für hoch qualifizierte ausländische Fach- uns zusammenpacken und hier abhauen.“ kräfte der Informations- und Kommunika- Bleiben würden sie ja. Es gibt noch Be- tionstechnologie“. Green Card klingt aber darf, und wer gut ist und sich lange genug besser, wenn man „die besten ausländi- umschaut, kann einen Job finden. Aber schen Köpfe aus aller Welt“ ausgerechnet Green Card heißt: Nur wer eine Stelle hat, nach Deutschland holen will. darf in Deutschland bleiben. Wer seinen Die Bundesregierung sagt, man sei damit Job verliert, droht schneller rauszufliegen, „äußerst erfolgreich“ gewesen. Die erste als er sich um einen neuen Job bemühen Green Card hat Arbeitsminister Walter kann. Die Frist setzt der Sachbearbeiter in Riester persönlich an Harian- to Wijaya übergeben. Heute hängt sie als Museumsstück im Bonner Haus der Ge- schichte. Jeden Monat, betont die Bundesregierung, kom- men immer noch 60 bis 80 neue IT-Profis. Keiner aber weiß, wie viele jeden Monat das Land wieder verlassen. Frustriert, arbeitslos und ausgewiesen – dazu gibt es keine Statistik. Nichts dazu, wie viele längst wieder in die Heimat geflüchtet, wie viele arbeitslos sind, wie viele wei- terzogen nach Irland, Eng- land, Kanada, wo es der Branche offenbar noch bes-

ser geht. / REUTERS MICHAEL DALDER 100000 IT-Profis forderten Computerspezialist Porodenkow*: „Bayern ist schön“ die hiesigen Branchenver- bände. 20 000 erlaubte die Bundesregie- der jeweiligen Ausländerbehörde – mal rung. Weniger als 13000 sind gekommen. kürzer, mal länger. Aber eher kürzer. Auf den Boom der IT-Branche folgte der Mahindra Rekayasa* gaben sie sechs Absturz. Aus dem Strom der ausländischen Wochen – nachdem er gebettelt hat, weil Profis wurde ein Rinnsal. Der deutsche Ar- schon die Kündigungsfrist für seine Woh- beitsmarkt ist schlecht, auch und gerade nung drei Monate beträgt und weil auch für Computerspezialisten. Für Personal- Hochqualifizierte nicht immer von heute berater, die sich auf die Vermittlung von auf morgen einen neuen Posten finden. Vie- Green-Cardlern spezialisiert haben, ist er le Firmen lassen sich von Bewerbung bis katastrophal. Zusage zwei Monate Zeit. „Ich hab es ein- Detlef von Hellfeld hat über 13 000 fach nicht kommen sehen“, sagt Rekayasa. Green-Card-Interessenten aus 90 Ländern „Voll in die Fresse, aus heiterem Himmel.“ in seiner Datenbank. Im vergangenen Rekayasa ist Indonesier, chinesische Min- halben Jahr hat er sechs vermittelt. „Es derheit. „Bürger zweiter Klasse“, sagt er. geht überhaupt nichts mehr“, sagt Hell- Bei den Krawallen 1999 in Jakarta haben sie feld. Seiner Unternehmensberatung Trust7 zuerst die Chinesen aufgehängt. Kein Land, gehört die Internet-Adresse Greencard- in das man gern zurückkehrt. Aber es fragt .de. Darauf ist Hellfeld stolz, weil ihn auch niemand. Sein Ausweisungsda- er schneller war als alle offiziellen Stellen. tum: 23. August. Verlängerung abgelehnt Eine Vermittlungsplattform wollte er bie- wegen mangelnder Erfolgsaussichten. ten, eine Anlaufstelle für Programmierer, 400 Bewerbungen, drei Headhunter, ein jung, mobil, flexibel, hungrig. Vorstellungsgespräch, keine Deutschkennt- Mittlerweile ist die Trust7-Homepage nisse. Das ist seine Bilanz. Und das war zu eine Klagemauer der Desillusionierten, Ar- wenig zum Bleiben. Am 24. flog er zurück beitslosen, Wütenden. Die am häufigsten nach Jakarta. besuchte Rubrik heißt „Arbeitslos in „Ohne gute Deutschkenntnisse sind die Deutschland?“ Chancen heute minimal“, sagt Rekaya- Hellfeld ist sauer. Er sagt: „Wir behan- deln die echt beschissen.“ Er kennt genü- * Namen von der Redaktion geändert.

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Werbeseite Wirtschaft sa. Eigentlich verständlich, fügt er hinzu. haltsfristen der Green-Cardler bitte schön Der Markt ist eng, die Unternehmen sind großzügiger auslegen. wieder wählerisch. Das Volkshochschul- „Behördenchaos kennen wir in Russland Deutsch war zu wenig. Nur hätte man es sehr gut“, sagt Sergej Porodenkow*. „Nur ihm sagen sollen, bevor sie ihn in Indone- von Deutschland habe ich das nicht er- sien umwarben und bevor er dort sein wartet.“ Er klingt dabei nicht vorwurfs- Haus verkaufte, Frau und Kinder nachhol- voll, sondern nur ein bisschen enttäuscht. te. Vor der „großen Investition“ eben. Porodenkow kommt aus Nowosibirsk. Rekayasa hat bis zum letzten Moment Sein Job dort war gut, IT-Abteilungsleiter vor dem Telefon gesessen, zwölf Stunden für vier Leute, aber über 4000 Kilometer jeden Tag, immer das Flugticket nach Ja- bis nach Westeuropa. Also hat Poroden- karta im Blick. Hoffen auf den einen An- kow sich in München beworben. Es hätte ruf, der alles ändert. Am Ende aber war das auch irgendwo anders sein können auf der Geld knapp. Arbeitslosengeld hat Rekaya- Welt, aber er hat Verwandte am Max- sa nicht beantragt. Zwei Wochen fehlten Planck-Institut, und Familie ist immer eine ihm noch, um die benötigten zwölf Mona- gute Anlaufstelle. Nach 24 Stunden rief der te zu erreichen. Dann feuerten sie ihn. erste Personalchef an. Wahrscheinlich hätte er ohnehin kein Im November 2000 war Porodenkow in Arbeitslosengeld bekommen. Die meisten München. Im April 2002 war er arbeitslos. bekommen keines. Auch wenn sie länger Porodenkow ging schon am nächsten als zwölf Monate in die Arbeitslosenversi- Morgen zur Ausländerbehörde wegen sei- cherung einbezahlt und damit einen theo- ner Aufenthaltsgenehmigung. „Mit Papie- retischen Anspruch haben. ren muss man korrekt sein“, sagt er. Die

Arbeitslosengeld gibt es nur, wenn eine / BILDFOLIO BOSTELMANN BERT junge Frau in der Ausländerbehörde war Arbeitserlaubnis vorliegt. Die aber ist an Green-Card-Besitzer Rekayasa* sehr nett. Sie strahlte ihn zwischen zwei die Aufenthaltserlaubnis gebunden. Wird „Voll in die Fresse, aus heiterem Himmel“ Aktenordnern an und sagte: „Sie haben ein Green-Cardler arbeitslos, verfällt erst vier Wochen.“ Porodenkow sagte, er brau- das Aufenthaltsrecht, damit die Arbeitser- hab von jemandem aus Karlsruhe gehört, che kein Arbeitslosengeld, obwohl er dar- laubnis und schließlich der Anspruch auf der angeblich welches bekommen soll.“ auf Anrecht hat, sondern nur genügend Arbeitslosengeld. Doppeltes Pech: zu we- Keine Spur von Ironie. Zeit, um den Jobmarkt auszuloten. Die nig Zeit für die Jobsuche, zu wenig Zeit, „Unbefriedigend“ sei die Situation, heißt junge Frau zuckte mit den Achseln. Poro- um Arbeitslosengeld zu bekommen. Für es auch im Ausländerreferat der Bundes- denkow ging ein Zimmer weiter. die meisten ist das ein Schock. anstalt für Arbeit in Nürnberg. Man ver- Die nette junge Frau dort strahlte ihn Das Problem hat sich inzwischen rum- weist auf „die Problematik des Dualismus auch an und sagte: „Sie haben sechs Wo- gesprochen. Die Green-Cardler sind un- zwischen Aufenthaltsrecht und Arbeitser- chen.“ Porodenkow lächelte nicht zurück, tereinander vernetzt, meist über gemein- laubnis“. weil er ohnehin selten lächelt, aber gern same Foren im Internet. Viele haben in- Das Bundesarbeitsministerium hat in- Sätze sagt wie: „Ich bin ein hoch qualifi- zwischen die Konsequenz gezogen: Lieber zwischen beim Innenministerium „massiv zierter Profi. Ich nehme nicht jeden erst- gar nicht erst bei den Behörden arbeitslos interveniert“ und „dringend darum gebe- besten Job an.“ Also stand er wieder auf melden, um dafür immerhin Zeit für die ten, den Geist der Green Card zur Kennt- und ging zu dem großen Büro am Ende des Jobsuche zu gewinnen. nis zu nehmen“. Mitte Juli reagierte dann langen, frisch gewachsten Linoleumganges. Ahami Mizurruf* etwa sucht schon seit auch das Innenministerium und schrieb an Dort saß keine junge Frau, sondern ein vier Monaten in aller Stille, gemeinsam mit die Länder: Man solle doch die Aufent- gesetzter Herr, der auch nicht strahlte, dafür fünf ehemaligen Kollegen. „Das ist illegal, aber lange und bedächtig Porodenkows Le- ich weiß“, sagt er. Arbeitslosengeld? „Ich * Namen von der Redaktion geändert. benslauf las. Er sah die acht Jahre Berufs- erfahrung und nickte. Er sah auch das Sti- pendium für die Universität von Illinois, USA, den Abschluss als Computeringenieur und nickte wieder. „Ihnen geben wir“, sag- te er dann und machte eine lange Pause, die wohl dramatisch sein sollte, Porodenkow aber nur so vorkam, als müsse er noch über- legen, „Ihnen geben wir drei Monate.“ Porodenkow hatte nach drei Wochen ei- nen neuen Job. „Gutes Angebot“, sagt er. Allerdings nicht besser als die aus Ameri- ka oder Irland. Vielleicht gaben einfach die 1600 Euro für den gerade absolvierten Deutschkursus den Ausschlag. „Bayern ist schön“, sagt Porodenkow. Es klingt vor allem höflich. Die Bundesregierung verspricht, dass mit dem neuen Zuwanderungsgesetz vieles besser wird. Mehr Sicherheit, mehr Per- spektiven, kein Konflikt zwischen Aufent- halts- und Arbeitserlaubnis. Die Green Card, heißt es in Berlin, sei

D. MEHTA / CONTACT / AGENTUR FOCUS / AGENTUR / CONTACT D. MEHTA nur ein Testlauf. „Unterm Strich gelun- Software-Entwickler (im indischen Bangalore): Desillusioniert, wütend, arbeitslos gen.“ Thomas Schulz

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ein Schaltseil sich lösen könnte, und den ler immer mehr Baureihen im Programm AUTOINDUSTRIE Geländewagen X5, weil die Gefahr be- haben. Wenn 100000 Autos der 3er-Reihe stand, dass sich das Bremspedal lockert. ein Problem hätten, zähle dies in der Sta- Sogar das Flaggschiff der Münchner, der tistik des Kraftfahrt-Bundesamtes als ein Gefährliche neue 7er, musste nachgebessert werden. Rückruf. Wenn der Hersteller die gleiche VW tauschte bei einer Million Lupos Zahl an Autos, aber aufgeteilt in 50000 X5 und Polos die Zuleitung zum Bremskraft- und 50000 Minis, in die Werkstätten beor- Macken verstärker aus. Renault rief rund 500000 dere, dann seien es zwei Rückrufe. Immer häufiger rufen die Dieselfahrzeuge zurück, bei denen es zu Mag sein, dass dies die Statistik beein- Autokonzerne ihre Neuwagen Motorschäden kommen konnte. Volvo und flusst. Andererseits werden von der Flens- Saab überprüften Fahrzeuge mit abnehm- burger Behörde längst nicht alle Rückrufe in die Werkstätten zurück. baren Anhängerkupplungen, die sich mög- erfasst, sondern nur jene, bei denen der Der Grund: anfällige Technik und licherweise bei der Fahrt lösen könnten. Autohersteller sich vom KBA die Adressen knappe Entwicklungszeiten. Und Chrysler musste beim PT Cruiser die der Halter liefern lässt. Wenn aber bei neu- Tankanlage verbessern, weil die Gefahr be- en Modellen, die erst seit einem Jahr auf ie Autos werden über zugefrorene stand, dass bei einem Heckaufprall Benzin dem Markt sind, Probleme auftreten, über- Seen im schwedischen Lappland ge- ausläuft und sich entzündet. nehmen die Firmen die Kundenadressen Djagt, wo es dunkel und vor allem Kaum ein Hersteller bleibt verschont. von ihren Händlern und schreiben die Hal- kalt ist, bis zu minus 30 Grad Celsius. Sie Die Zahl der vom Kraftfahrt-Bundesamt ter direkt an. Außer ihnen erfährt niemand werden durch das Death Valley in Kalifor- (KBA) registrierten Rückrufe hat sich in etwas von der Aktion. Für den ADAC ist klar, dass es vor allem einen Hauptgrund für die steigenden Nach- besserungsaktionen gibt: Autos werden im- mer komplizierter, voll gestopft mit diffizi- ler Elektronik. Anfangs hatten sie einen Airbag, dann zwei, mittlerweile oft acht. Die Gefahr, dass die Sensoren defekt sind und deshalb ausgetauscht werden müssen, hat sich vervielfacht. „Wo mehr drin ist“, so Maximilian Maurer vom ADAC, „kann auch mehr kaputtgehen.“ Auch der Verdrängungskampf zwischen den Konzernen hat das Risiko erhöht. Von den Lieferanten werden ständig niedrigere Preise gefordert. Da fällt es manchem schwer, die Qualität zu halten. Neue Mo- delle werden in immer kürzeren Abstän- den auf den Markt gebracht. Die gleiche Entwicklungsmannschaft muss mehr Fahr-

FELIX FONTANE / DDP FONTANE FELIX zeugvarianten, vom Stufenheck über den 113 Geländewagen bis zum Familien-Van, kon- Zurück ins Werk struieren. „Da müssen bei den Herstellern Anzahl der Rückrufaktionen und den Zulieferern Fehler passieren“, sagt in Deutschland 94 Wolfgang Meinig von der Forschungsstel- 82 85 le Automobilwirtschaft in Bamberg. Bei Tests am Polarkreis und in der Wüs- te können viele Mängel entdeckt werden, Autoreparatur in Kaarst 62 aber längst nicht alle. Experten sind sicher, 57 58 „Da müssen Fehler passieren“ 52 dass die Zahl der Rückrufe kaum sinken 50 wird. Für die Besitzer ist das lästig. Ein nien gefahren, das als eine der heißesten Zeichen dafür, dass Autos unsicherer ge- Gegenden der Erde gilt, in der 50 Grad 35 worden sind, ist es aber nicht. Im Gegen- Hitze nicht unüblich sind. Insgesamt müs- teil: Dank ABS, Anti-Schleudersystem ESP, sen Testfahrzeuge mehrere Millionen Ki- Airbags und verbesserter Karosseriestruk- lometer zurücklegen, bevor ein Autoher- tur sind sie so sicher wie noch nie. Aber steller es wagt, ein neues Modell auf den mitunter eben auch anfälliger. Markt zu bringen. Auffällig selten müssen japanische Her- 1992 93 94 95 96 97 98 99 00 2001 Eigentlich dürfte so ein Fahrzeug keine Quelle: KBA steller in Deutschland Fahrzeuge in die Macken mehr haben. Und dennoch treten Werkstätten rufen. Ein Grund dafür: Wäh- Pannen auf, die nicht nur lästig sind, son- den vergangenen Jahren verdoppelt. „Was rend deutsche Hersteller für ein neues Mo- dern sogar den Insassen gefährlich wer- ist bloß mit unseren Autos los?“, fragt dell fast alle Teile entwickeln, übernehmen den können: Probleme an den Reifen, „Auto Bild“. Und die „Frankfurter All- Toyota und Konsorten sehr viele Aggrega- den Bremsen, der Lenkung oder den Air- gemeine“ empört sich: „Es ist einfach te des Vorgängers, die schon jahrelang er- bags. Und dann folgen Rückrufaktionen, ärgerlich, wie schludrig im 21. Jahrhundert probt sind. Zudem führen die japanischen in Deutschland im statistischen Durch- Autos gebaut werden.“ Hersteller neue Modelle in der Regel zuerst schnitt zwei in jeder Woche. Tendenz: Ganz so einfach lässt sich das Phäno- auf ihrem Heimatmarkt ein. Wenn es Pro- stark steigend. men aber nicht erklären. BMW-Manager bleme gibt, werden die in Japan beseitigt. Meldungen aus diesem Jahr: BMW rief verweisen darauf, dass die Statistik schon Dann erst werden die Fahrzeuge für den den Mini in die Werkstätten zurück, weil dadurch beeinflusst wird, dass die Herstel- Export gefertigt. Dietmar Hawranek

der spiegel 36/2002 143 Werbeseite

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GEBURTSHILFE Nachwuchs in Seattle esunde Vierlinge, die aus einem Geinzigen Ei erwuchsen, hat die Ärz- tin Bettina Westerburg-Paek, 34, auf die Welt geholt. „Das kommt nur einmal unter 50 Millionen Schwangerschaften vor“, vermutet die Deutsche, die am Medical Center der University of Washington in Seattle arbeitet. Dort hatte sie die werdende Mutter namens Korie Hulford acht Wochen lang um- sorgt – die Babys sollten möglichst lan- Hammerhai ge im Bauch bleiben. Die Mutter, die

ohne Reproduktionstechnik schwanger OKAPIA wurde, schaffte es bis in die 34. Woche. TIERE Feinsinniger Querkopf er T-förmige Kopf des Hammerhais gehört zu den staunenswerten Erfindun- Dgen der Natur – jetzt haben Forscher sein Geheimnis gelüftet. Bekannt war bis- her nur, dass der gewaltige Hammerkopf einen unvergleichlichen Panoramablick erlaubt, da die Augen auf den Ecken sitzen. Doch nun hat Stephen Kajiura vom Ha- waii Institute of Marine Biology entdeckt: Der Querkopf ist zugleich ein feinsinni-

BRIAN SMALE ger Sensor, mit dem der Raubfisch die elektrischen Felder von Heringen, Schwert- Westerburg-Paek mit Vierlingskind fischen, Sardinen, Menschen und anderen Beutetieren zielsicher zu orten vermag. Zwar tragen auch andere Haiarten Elektrosensoren auf ihren Köpfen. Doch dieser Am 21. August waren die Wehen zu hef- zusätzliche Sinn der Haie ist bei den Hammerhaien viel stärker ausgeprägt. Auf tig – der deutschen Assistenzärztin fiel ihren T-Köpfen zählte Kajiura weit mehr Elektrosensoren als auf den klassisch ge- die Ehre zu, den Kaiserschnitt zu formten Schädeln der Atlantischen Braunhaie. Der Forscher wies nach, dass die führen. Westerburg-Paek: „Die Eltern Hammerhaie damit im Vorteil sind: Dazu hielt er den Raubfischen einen künstli- haben schon zwei gesunde Buben zu chen Köder hin, der ein elektrisches Feld aufbaut. Während die Braunhaie das Ziel Hause und wollten noch ein Mädchen – immer mal wieder verfehlten, schnappten die Hammerhaie stets präzise zu. jetzt haben sie vier.“

PSYCHOLOGIE Scarabis: Die Stoiber-Plakate appellie- SPIEGEL: Strahlt das nicht Ernsthaftigkeit ren ans Gefühl: „Seht her, was wir für und Kompetenz aus? Botschaft für Sekunden sympathische Politiker haben.“ Das er- Scarabis: Dass Schröder sich mit wichti- fasst ein Mensch binnen Sekunden. gen Fragen wie Bildung, Innovation und Martin Scarabis, 33, SPIEGEL: Halten Sie die ästhetische Arbeitsmarkt höchst persönlich zu be- Werbepsychologe an Schröder-Kampagne für falsch? schäftigen scheint, kann ihm auch der Universität Scarabis: Man muss die Situation erken- Nachteile bringen. Mancher Wähler Münster, über den nen – der Kanzler am Autotelefon, beim mag sich fragen, was die Regierung da Plakatwahlkampf Aktenstudium – und den zweizeiligen geleistet hat – und dann fallen ihm nur von Bundeskanzler Slogan lesen. „Das Ziel meiner Arbeit? Pisa-Katastrophe, Arbeitslosenzahlen Gerhard Schröder Dass alle Arbeit haben“ ist noch ein sim- und komplizierte Hartz-Vorschläge ein. und Herausforderer ples Beispiel. Wer Schröder verstehen SPIEGEL: Die ehemaligen Kontrahenten

JÜRGEN SIEGMANN Edmund Stoiber will, muss lange gucken und nachdenken. Edmund Stoiber und Angela Merkel posieren in liebster SPIEGEL: Herr Scarabis, was bringen Zweisamkeit. Wahlplakate überhaupt? Scarabis: Merkel wirkt Scarabis: Eigentlich nehmen Menschen wie eine gute Ehefrau, Plakate eher beiläufig wahr. Sie haben so liebevoll-unterstüt- sich ja schon in den Medien ein Bild zend lächelt sie Stoiber von den Politikern gemacht. Die Schrö- an. Man kann den der-Kampagne ist allerdings auffällig: Eindruck bekommen, Sie wirkt fast so ästhetisch wie eine An- dass die CDU nichts an- zugwerbung. Stoiber präsentiert sich da deres zu bieten hat, als mit Angela Merkel viel konventioneller. für den Wahlkampf Der Vorteil: Er ist leichter zu verstehen. zurechtgemachte Per- SPIEGEL: Inwiefern? Wahlplakate mit Schröder, Stoiber und Merkel sonen.

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GESUNDHEIT ERFINDUNGEN Vormarsch der Seuchen Sprechende Die globale Erwärmung könnte zu einer Ausbreitung tropischer und subtropischer Handschuhe Infektionskrankheiten führen, warnt die Weltgesundheitsorganisation. Demnach bedroht in Paar Handschuhe, das die austra- allein die Malaria inzwischen 40 Prozent aller Menschen; jedes Jahr rafft die von Mücken Elische Gebärdensprache in geschrie- übertragene Seuche eine Million Erdenbürger dahin. benes Englisch übersetzen kann, hat der Forscher Waleed Kadous von der University of New South Wales in Syd- ney entwickelt. Die verkabelten Über- zieher wären prinzipiell auch bei allen anderen Gebärdensprachen einsetzbar und sollen es gehörlosen Menschen künftig erleichtern, mit ihrer Umwelt zu

Gebiete mit Malariarisiko Malariagebiete bedrohte Erkrankungen Bevölkerung weltweit Ausbreitung bei Krankheit Überträger in Tausend in Tausend Klimaerwärmung Malaria Mücke 2500000 300000 sehr hoch Bilharziose Saugwurm 600000 200000 hoch Elephantiasis Mücke 1000000 120000 wahrscheinlich Dengue-Fieber Mücke 2500000 50000* hoch Flussblindheit Kriebelmücke 120000 18000 möglich Leishmaniase Sandmücke 350000 12000 unbekannt / ARGUM BOSTELMANN BERT Schlafkrankheit Tsetsefliege 60000 5000 wahrscheinlich Gelbfieber Mücke 500000 2000* wahrscheinlich Jap. Enzephalitis Mücke 2400000 500* wahrscheinlich Quelle: WHO *Erkrankungen weltweit jährlich

SPORTMEDIZIN nach senkte das Dehnen die Gefahr ei- ner Verletzung nur um fünf Prozent – Unterricht in Gebärdensprache, Überflüssiges Stretchen im Schnitt dauert es folglich 23 Jahre, Übersetzer-Handschuh bis ein Sportler durchs Dehnen eine ll jene Menschen, die auf die lästi- Verletzung vermeidet. Statistisch sei kommunizieren. An allen fünf Fingern Agen Dehnübungen beim Sport ver- dieser Effekt „ohne Bedeutung“, so die sind die Übersetzer-Handschuhe mit zichten, können dies fortan ohne Autoren, und womöglich sogar nur ein Sensoren bestückt. Zudem registrieren schlechtes Gewissen tun. Das allseits Zufallsbefund. sie, ob die Hand nach oben oder unten empfohlene Stretchen des Kör- saust, ob sie nach rechts oder links pers bei der Leibesertüchtigung fährt. So können an beiden Händen ist offenkundig für die Katz: We- binnen fünf Millisekunden 22 Messwer- der mindert es den Muskelkater, te abgelesen werden; über ein Kabel noch senkt es das Verletzungsrisi- fließen die Daten in einen Computer. ko, meldet das „British Medical Dessen Software wiederum erkennt, Journal“ in seiner aktuellen Aus- welche Zeichen der Gebärdensprache gabe. Die Physiotherapeuten Rob ausgeführt wurden und übersetzt sie in Herbert und Michael Gabriel von geschriebenes Englisch. Die Worte er- der University of Sydney haben 5 scheinen schließlich auf einem Monitor. Studien an 77 Sportlern unter die Ein tauber Student hat das System vor Lupe genommen. Die Auswer- kurzem getestet – die Genauigkeit der tung aller Daten ließ den Mythos Übersetzung lag bei immerhin 95 Pro- vom segensreichen Stretchen zer- zent. „Das Ergebnis war schon sehr zu- platzen. „Das Dehnen vor oder frieden stellend“, kommentiert Forscher nach dem Sport bringt keinen Kadous. Seine „sprechenden Handschu- Schutz gegen Muskelkater“, lau- he“ will er jetzt weiterentwickeln. Spä- tet das Fazit der Forscher. Zudem ter sollen sie sogar mit einem tragbaren haben sie zwei Studien zum Ver- Transmitter verbunden sein, der die Be- letzungsrisiko begutachtet: Dem- deutung der Gebärden per elektroni- scher Stimme laut und deutlich aus-

Sportlerin beim Muskel-Dehnen VEY / JUMP KRISTIANE spricht. 146 Werbeseite

Werbeseite Kollision zweier Schwarzer Löcher*

WERNER BENGER / AEI / ZIB

ASTROPHYSIK Klang der Schwarzen Löcher Auf einem Acker bei Hannover entsteht ein neuartiges Teleskop: Die Forscher schicken Laserstrahlen durch Tunnel und wollen so das Beben des Raums nachweisen. Bei den hoch sensiblen Messungen stört sogar die Brandung der Nordsee.

echts wachsen Rüben, links reifen Soundeffekt: Vom „Vibrieren des Kos- errechnet, dann sendet sie dabei, wie ein Äpfel, und dazwischen lauschen For- mos“ ist da die Rede und vom „Zirpen Schiff im Wasser, eine Art Bugwelle aus – Rscher den Klängen des Alls: Es ist ein Schwarzer Löcher“, sogar vom „Urschrei eine Delle im Raum-Zeit-Gefüge, die sich eigenartiges Szenario, das sich dem Besu- des Universums“ und den „Wogen der Un- mit Lichtgeschwindigkeit durch die Weiten cher bietet, der zwischen Ruthe und Schlie- endlichkeit“. Der Wellblech-bedeckte Gra- des Alls fortpflanzt. kum in den staubigen Schäferberg einbiegt. ben wird zur „Antenne für kosmische Die Erde etwa funkt, indem sie um die Nichts lässt hier ein Hightech-Labor erwar- Sphärenmusik“ verklärt, die nichts Gerin- Sonne kreist, unermüdlich Schwerkraft- ten: der mit Wellblech gedeckte Graben am geres empfange als „Einsteins unvollende- wellen in den leeren Raum. Auch einer Ra- Wegrand nicht, die schlichten Baucontai- te Symphonie“. kete eilt ein gravitatives Signal voraus. ner nicht, und die beiden Trockenklos der In der Tat ist GEO 600 ein ehrgeiziges Selbst wer nur mit der Faust rüttelt, er- Firma Toi-Toi schon gar nicht. Projekt. Es soll bis an die äußerste Grenze schüttert damit das ganze Universum. Es gibt viele Forscher, die den Äußer- des Messbaren vorstoßen und nie zuvor Doch wen das fasziniert, den ernüchtert lichkeiten wenig Wert beimessen. Doch gehörte Signale aus dem Weltall auffan- eine zweite Schlussfolgerung aus Einsteins nur selten klaffen Schein und Sein so weit gen. Es geht um ein Phänomen, welches Theorie: All die Beben, die das Weltall auseinander wie bei dem Gravitationswel- das Vorstellungsvermögen des Menschen durchlaufen, sind geradezu lächerlich klein. lendetektor GEO 600 nahe Hannover. arg strapaziert: um Beben des Raums. Denn der Raum ist extrem steif. Ihn zu stau- Äußerlich strahlt das Gerät, das in der Die Existenz solcher Beben hatte schon chen oder zu strecken kostet solch enorme letzten Woche inmitten der Versuchsfelder Albert Einstein postuliert. Am 22. Juni 1916 Mengen von Energie, dass selbst der Crash von Obstbauinstitut und Tierärztlicher trug der große Physiker vor der Königlich ganzer Galaxien Raum und Zeit allenfalls Hochschule den wissenschaftlichen Probe- Preußischen Akademie der Wissenschaf- ein klein wenig zu kräuseln vermag. betrieb aufgenommen hat, den Charme ei- ten über eine „näherungsweise Integration Diese winzige Störung muss dann auch nes städtischen Umspannhäuschens aus. Die der Feldgleichungen der Gravitation“ vor. noch kosmische Distanzen durchmessen. Vorausberichte über das Forschungsprojekt Diese Gleichungen, berühmt unter dem Na- Den Planeten Erde erreicht sie so gut wie jedoch klingen eher, als handle es sich um men „Allgemeine Relativitätstheorie“, be- überhaupt nicht mehr: Selbst die heftigsten ein Konzerthaus mit transgalaktischem schreiben, wie jeder Körper den Raum rund zu erwartenden Schwerkraftwellen stau- um sich herum verformt. Wenn eine Mas- chen den Raum gerade einmal genug, um * Simulation vom Albert-Einstein-Institut bei Potsdam. se beschleunigt wird, so hatte Einstein nun die Entfernung von der Sonne bis zur Erde

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Ohr im Acker Laser-Interferometer zum Nachweis von Schwerkraftwellen Standorte von Laser-Interferometern

Spiegel LIGO Hanford, GEO 600 Hannover Strecke Washington 1 Ein Laserstrahl wird an des Laser- VIRGO Pisa einem halbdurchlässi- strahls 2 2 gen Spiegel geteilt. TAMA Tokio Strecke des Laser- 600 m 1 2 Beide Teilstrah- LIGO Livingston, Louisiana strahls 600 m len durchlaufen Tunnel, an deren Laser 3 Ende sie von Spie- geln zurückgewor- fen werden. Detektor Messergebnis im Detektor Gravitations- 3 Die zurückkehrenden Strahlen werden wellendetektor überlagert und miteinander verglichen. GEO 600 bei Sobald sich die Laufzeit eines der Teilstrahlen Hannover ändert, registriert dies der Detektor. Im Normalbetrieb ist das Gerät so jus- Ausgang tiert, dass sich die beiden zurückkeh- ist renden Lichtstrahlen exakt auslöschen. dunkel um den Durchmesser eines einzigen Atoms Der Aufbau ist stets gleich und im Prin- zu verändern. Wie sollte so etwas je mess- zip durchaus einfach: Ein Laserstrahl wird bar sein? in zwei Teilstrahlen aufgespalten. Diese Jeder Versuch muss vermessen anmuten durchlaufen dann zwei L-förmig angeord- Verändert eine Gravitationswelle Am Ausgang – und doch machte sich in den achtziger nete Tunnel. Am Tunnelende werfen Spie- die Laufzeit einer der beiden Teil- entsteht ein Jahren ein kleiner Trupp von Forschern vol- gel die beiden Teilstrahlen zurück. In ei- strahlen, so löschen sie sich nicht Interferenz- ler Selbstvertrauen daran, Geräte weit jen- nem Detektor werden sie miteinander ver- mehr vollständig aus. muster seits aller bisherigen Messrekorde zu ersin- glichen. Ändert sich nun die Laufzeit des nen. In Deutschland begann dann vor sieben Lichts unter dem Einfluss einer Gravita- Jahren eine Gruppe um den Laserphysiker tionswelle, so müsste das Instrument dies empfindlich genug, um deren aberwinzige Karsten Danzmann, zwei rechtwinklig zu- anzeigen (siehe Grafik). Wirkung dann auch zu spüren? Und kann einander liegende Gräben auszuheben: Das So weit die Theorie. Aber kann das es gelingen, die Fülle störender Einflüsse Interferometer GEO 600 entstand. In Japan, wirklich funktionieren? Erreichen uns unterschiedlichster Art vollständig zu un- Italien und den USA gruben die Forscher überhaupt ausreichend starke Schwer- terbinden? ähnliche Apparate in den Grund. kraftwellen? Ist der Detektor tatsächlich Schließlich lässt jeder in der Nähe fah- rende Lkw die Erde erbeben. Der Fußtritt jedes Spaziergängers erschüttert den Bo- den. Selbst die Anziehungskraft der vorbei- ziehenden Wolken wirkt auf die Spiegel. Im Takt der Gezeiten hebt und senkt sich zudem das Land. Und Erdbeben pflanzen sich durch ganze Kontinente hin fort und stören so das Experiment. Der Detektor von GEO 600 ist sogar empfindlich genug, um noch die Brandung der Nordsee zu spüren. Ist es wirklich möglich, all diese Effekte wegzudämpfen? Nicht alle von Danzmanns Kollegen sind davon überzeugt – zumal sie fürchten, dass jenes Geld, das für die neuen Interfero- meter ausgegeben wurde, nun bei ande- ren Forschungsprojekten fehlt. Wortführer der Skeptiker ist Jerry Ostriker, ein hoch angesehener Kosmologe von der Prince- ton University. Nie, sagt er, habe er Zwei- fel daran gehabt, „dass der Nachweis von Gravitationswellen uns einzigartige Ein- blicke in das Wesen des Kosmos verschaf- fen wird“. Die gegenwärtig gebauten De- tektoren aber halte er trotzdem für eine „ungeheure Verschwendung von Mitteln“. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass sie wirk- lich etwas sehen werden, halte er für „ver- schwindend gering“. Umstritten ist besonders die Frage, wie häufig messbare Schwerkraftwellen die Erde erzittern lassen. Ostriker ist überzeugt davon, dass die Betreiber der neuen Inter-

WOLFGANG FILSER / MPG FILSER WOLFGANG ferometer von viel zu optimistischen An- Justierarbeit im GEO-600-Labor: Konzerthaus mit transgalaktischem Soundeffekt nahmen ausgehen. Die nämlich setzen ihre

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Hoffnungen vor allem auf zwei Arten von eine noch gänzlich unbekannte Welt. Mit re horcht auf dem Gelände der ehemaligen Himmelsphänomenen. ihrer Hilfe lege sich der Mensch gleichsam Atomwaffenfabrik Hanford ins All. Zusam- Sicher ist, dass Supernovae gravitative ein völlig neues Sinnesorgan zu. Noch sei men kostete das Paar 365 Millionen Dollar. Schockwellen aussenden. Diese giganti- es zu früh, vorauszusagen, was alles er da- Die Deutschen hätten gern eine ähnlich schen Explosionen, mit denen das Leben mit werde wahrnehmen können. monströse Maschine gebaut – doch der Fall großer Sonnen endet, zählen zu den impo- So gehen die meisten Astronomen da- der Mauer durchkreuzte ihre Pläne. Für santesten Spektakeln, die der Sternenhim- von aus, dass es im Weltall gewaltige neue Forschungs-Großprojekte waren plötz- mel zu bieten hat. In einem gewaltigen Feu- Mengen von unsichtbarer, so genannter lich keine Mittel mehr übrig. Alles Geld soll- erball schleudert der sterbende Stern den dunkler Materie gibt. „Möglicherweise“, te nun in den Osten fließen. Großteil seiner Masse von sich. schwärmt Danzmann, „verklumpt sich die- Für die Forschungsgruppe in Hannover Ein- bis dreimal pro Jahrhundert ist ein se Materie und sendet Gravitationswellen begann eine Zeit radikalen Sparens. Statt, derartiges Spektakel in der Milchstraße zu aus. Dank ihrer könnten wir diese Schat- wie ursprünglich geplant, 150 Millionen beobachten – wollte GEO 600 sein Signal tenwelt erstmals sichtbar machen.“ Mark stand nun nicht einmal mehr ein auffangen, so müssten die Forscher folglich Versprechen wie dieses überzeugten die Zehntel dieser Summe bereit. Improvisa- 30 Jahre warten, womöglich sogar noch Geldgeber. Vor allem den US-Physikern ge- tionstalent und viel technische Finesse wa- länger. Ob aber Supernovae jenseits unse- lang es, die Zustimmung für zwei gewaltige ren nun gefragt. rer Galaxie mit der jetzt eingeweihten Ge- Interferometer zu bekommen. Das eine Zunächst beschlossen die Forscher, die neration von Interferometern nachweisbar reckt seine vier Kilometer langen Arme Armlänge ihres Instruments von geplan- sind, ist nicht gewiss. durch die Sümpfe von Louisiana, das ande- ten drei Kilometern auf nur noch 600 Me- Den Wissenschaftlern bleibt ter zu reduzieren. Was dabei an Präzision deshalb nur zu hoffen, dass ihnen verloren ging, konnten die Techniker durch der Zufall eine baldige Sternen- einen raffinierten Trick der Signalverstär- explosion beschert – oder aber sie kung wieder ausgleichen. müssen auf das Signal einer zwei- Dann hieß es, am Material zu sparen. ten Art von Quelle warten. Denn Laser und Spiegel, so viel war klar, mussten auch wenn zwei große Massen – extremen Ansprüchen genügen. Ohne ab- in Frage kommen Neutronenster- solute Frequenzstabilität des Lasers wäre ne und Schwarze Löcher – einan- das Experiment von vornherein zum Schei- der extrem schnell umkreisen, tern verurteilt. Und auch der Spiegel dann strahlen sie Energie als brauchte eine perfekte Oberfläche: Selbst Schwerkraftwellen ab. wenn er maßstabsgetreu bis auf die Fläche Weil sie so Energie verlieren, Deutschlands vergrößert würde, dürfte er stürzen sie aufeinander zu. Immer nicht einmal Unebenheiten von der Höhe wilder wirbeln sie umeinander eines Menschenhaars aufweisen. herum, immer höher frequente Enormes Sparpotenzial machten die For- Wellen funken sie dabei ins All. scher jedoch beim Bau des Vakuumrohrs Im letzten Moment, kurz bevor aus. Bei den amerikanischen Projekten hat- sie ganz miteinander verschmel- ten allein die vier Stahlrohre samt Trans- zen, verschießen sie einen letzten portkosten und Schweißarbeiten 150 Mil- Gravitationspuls, der so gewaltig Laserphysiker Danzmann: Stolz auf den Billigbau lionen Dollar verschlungen. Die Forscher ist, dass er auch auf Erden noch in Hannover kamen hingegen zu dem nachweisbar sein müsste. Schluss, dass statt Stahlrohren auch ge- Unklar ist allerdings, wie häufig ripptes Dünnblech genügt, wie es gemein- solche Crashs passieren. Danz- hin in Klimaanlagen verwendet wird. mann hält für denkbar, dass GEO Stolz präsentieren sie nun ihren Billig- 600 bereits im nächsten Jahr ei- bau: Ganze 6 Millionen Euro hat GEO 600 nes dieser Ereignisse beobachten gekostet, und die Not hat die Erbauer er- könnte – und in dieser optimis- finderisch gemacht. So lange tüftelten sie tischen Einschätzung sieht er sich an Spiegelaufhängung, an Signalverstär- bestätigt durch seine Kollegen kung und Auswertungs-Software herum, am Albert-Einstein-Institut bei bis die Empfindlichkeit von GEO 600 der- Potsdam. jenigen der gewaltigen Schwestergeräte in Dort nämlich ist es einer Theo- den USA ebenbürtig war. retikergruppe gelungen, die tücki- Nun laufen alle drei Interferometer syn- schen Einsteinschen Feldglei- chron – und sie sind auch aufeinander an- chungen für den Spezialfall zwei- gewiesen. Denn nur wenn ein Signal auf er Schwarzer Löcher in den Griff verschiedenen Kontinenten zugleich auf- zu kriegen und deren Kollision am taucht, können die Forscher sicher sein, Computer zu simulieren. Bis zu dass es sich nicht um eine irdische Störung drei Prozent der Gesamtmasse, so handelt. das Ergebnis, schießen die zu- In Louisiana zum Beispiel meldet das sammenkrachenden Giganten in Instrument bereits ein heftiges Beben und Gestalt von Schwerkraftwellen ins Wummern. Doch die Forscher reagieren All – deutlich mehr, als die For- nur genervt. Denn sie wissen längst, dass scher zuvor angenommen hatten. es sich weder um das Seufzen ferner Ga- „Das Spannendste aber“, fügt laxien noch um das Räuspern Schwarzer Danzmann hinzu, „kennen wir Löcher handelt. Die Signale stammen viel-

vielleicht noch gar nicht.“ Geräte / MPG (O.); FILSER WOLFGANG (U.) HANNOVER AEI / UNIVERSITÄT mehr von den Holzfällern in den Wäldern wie GEO 600 öffneten ein Tor in GEO-600-Tunnel: Tor in eine unbekannte Welt nebenan. Johann Grolle

150 der spiegel 36/2002 Werbeseite

Werbeseite Technik

Der Smart Roadster ist Ausdruck eines Smart, wenn alles gut geht, etwas über AUTOMOBILE totalen Marketingwandels im jüngsten und 120000 Autos verkaufen. kleinsten Ableger des DaimlerChrysler- Große Sprünge sind kaum noch zu er- Radikale Erdung Verbunds. Die einstigen revolutionären warten, denn der Smart taugt nicht zum Mobilitätsphantasien wurden einer radi- Massengefährt. Er ist mit 8520 Euro Basis- Die DaimlerChrysler-Tochter kalen Erdung unterzogen. preis weder wirklich billig noch universal „Wenn wir so weiterleben wollen wie einsetzbar, da nur zweisitzig. Gutsituierte Smart, anfangs eine Lachnummer, bisher, müssen wir uns ändern“, lautete Städter schätzen ihn als einparkfreudiges wandelt sich zur echten die öko-apostolische Werbebotschaft der Zweit- oder Drittfahrzeug. Doch diese Ei- Automarke. Der erste Ableger des frühen Smart-Jahre. Während die Manager, genschaft allein reicht nicht für den großen City-Flohs wird ein Sportwagen. unter ihnen der branchenfremde Uhren- Durchbruch. Unternehmer Nicolas Hayek, in wolkigen Mehr Modellvielfalt ist deshalb der ein- anchem Smart-Mitarbeiter wird Strategiekundgebungen den Wandel vom zige Weg zu mehr Kunden; der erste Schritt der Abschied schwer fallen vom Autohersteller zum interaktiven Mobilitäts- dazu soll das Spaßmobil Roadster sein. Bei M„Bio-Haus“. Das Gebäude aus dienstleister prognostizierten, kam die Ent- den Verkaufsprognosen gibt sich Renschler Holz und Glas, durchrankt von Riesen- wicklung des eigentlichen Fahrzeugs un- jedoch weit vorsichtiger als die einstigen pflanzen, gleicht eher einer Großgärtne- ter die Räder. Smart-Strategen: Der Roadster sei so kal- rei als der Schaltzentrale eines Autoher- Das 2,50 Meter kurze Winzmobil kipp- kuliert, dass er schon bei einem Jahresab- stellers. te bei forscher Fahrweise in nahezu alle satz um 10000 Stück rentabel ist. Der Entwicklungsaufwand hielt sich in Grenzen. Obgleich es äußerlich kaum Ge- meinsamkeiten zwischen dem Ur-Smart und seinem sportlichen Ableger zu geben scheint, haben die Modelle etwa 35 Prozent gleiche Teile. Das Heckmodul mit Motor, Antrieb und hinteren Fahrwerksteilen ist nahezu identisch. Auch der Roadster hat nur drei Zylinder, mit 0,7 Litern jedoch etwas mehr Hubraum als die City-Smarts. Der Motor leistet 82 PS, soll den Wagen in 10,9 Sekunden auf 100 km/h beschleunigen und im Norm- Durchschnitt weniger als 5,5 Liter Super- benzin auf 100 Kilometer verbrauchen. Zu einem Preis von voraussichtlich knapp 15000 Euro zeichnet sich eine Art Mühsamer Aufstieg „Sportwagen light“ ab, für den es welt- Verkaufte Smart-Fahrzeuge 116,2 weit keinen direkten Konkurrenten gibt. in Tausend Smart ist es damit zum zweiten Mal ge- 102 lungen, einen ganz anderen Fahrzeugtyp zu kreieren. In der dritten Stufe der Diversifizierung 80 wird die Daimler-Tochter diesen Exoten- status jedoch aufgeben. In zwei Jahren Neuer Smart Roadster 62,5 kommt der erste Smart-Viersitzer auf den „Puristische Fahrmaschine“ Markt. Nur mit ihm kann die Marke auf Stückzahlen kommen, die letztlich eine Smart zieht um: von Renningen bei gute Rendite abwerfen. Stuttgart ins benachbarte Böblingen. Auf Als Plattform-Partner für dieses Projekt dem Gelände der früheren IBM-Haupt- 20 dient die inzwischen zum Konzern ge- verwaltung entsteht der neue Firmen- hörende japanische Allerweltsmarke Mit- sitz. subishi. Der Smart mit zwei Sitzreihen wird Das Agglomerat nüchterner Bürohäu- also in entscheidenden Bauteilen mit fern- 1998 1999 2000 2001 2002 ser wird besser zu dem passen, was Smart, 1. Halbjahr östlichen Großserien-Kompaktwagen iden- einst Vision für neuartige Mobilitätskon- tisch sein. Die Marke wird dann endgültig zepte, heute ist: eine Automarke, sonst Richtungen. Die ohnehin verspätete Mo- dort ankommen, wo ihre Gründer niemals nichts. Nach außen zeigt sich der Image- delleinführung 1998 geriet zur medien- hin wollten: beim völlig konventionellen wechsel am neuen Modell, das im April wirksamen Lachnummer. In der Not er- Automobilbau. 2003 auf den Markt kommt: Der erste setzte Konzernchef Jürgen Schrempp das „In 20 Jahren“, sagt Geschäftsführer Ableger des City-Flohs wird ein Sport- unbedarfte Management durch gestandene Renschler, „wird Smart ein voll etablierter wagen. Daimler-Routiniers, die das Fahrwerk des Bestandteil der Autoindustrie sein.“ Die Knapp 800 Kilogramm leicht und etwa Taumelautos bald kurierten. salbungsvollen Öko-Sprüche der Gründer- 175 km/h schnell, soll der neue Smart Die Verkaufszahlen steigen seither kon- zeit wurden längst aus dem Marketing- Roadster eher uralte Traditionen aufgreifen tinuierlich (siehe Grafik) – wenngleich der Konzept verbannt. Das neue Smart-Motto als neue Wege einschlagen. Geschäftsfüh- einst geplante Absatz von 200000 Smarts heißt schlicht „open your mind“. rer Andreas Renschler sieht in dem Sport- pro Jahr noch lange nicht erreicht ist. „Das Der „Ur-Gedanke“, meint Renschler, gefährt eine „puristische Fahrmaschine“ war eine theoretische Zahl“, sagt Rensch- stecke schon noch drin, komme aber „nicht im Sinne alter englischer Mini-Roadster, ler, der im November 1999 die Geschäfts- mehr so von oben herab, wie das anfangs etwa eines Austin Healey Sprite. führung übernahm. In diesem Jahr wird vermittelt wurde“. Christian Wüst

152 der spiegel 36/2002 Werbeseite

Werbeseite Wissenschaft

klärungsmodelle der Krankheit dasjenige herausgesucht, das am besten die Wirkung des jeweiligen Medikaments erklären kann.“ Beim Reizdarmsyndrom sei das eine (durch das vorhandene Medikament beeinflussbare) Störung im Haushalt des Transmitterstoffs Serotonin im Darm. „Dann werden Chefärzte oder Univer- sitätsprofessoren gesucht und bezahlt, die auf Kongressen und in den Medien dieses Erklärungsmodell als maßgeblich und da- mit das Medikament als nützlich darstellen sollen“, sagt Becker-Brüser. Auch in dem australischen Strategiepapier wird die Gewinnung der wissenschaftlichen Mei-

FOTOS: KNOCHENGESUNDHEIT KURATORIUM nungsmacher als wesentlicher Schritt be- Osteoporose-Mobil (in Schwerin): Gesund hinein und krank wieder heraus? schrieben. Ein typisches Beispiel war auch die Kampagne „Alarmzei- MEDIZIN chen Sodbrennen!“. In Zusam- menarbeit mit dem ZDF wurde Spiel mit dafür geworben, bei Sodbren- nen zum Arzt zu gehen. Die da- bei vermittelte Warnung: Ohne der Angst die Verordnung von „Protonen- pumpenblockern“ (einer der Durch Aufklärungskampagnen Hersteller sponserte die Kam- werden Allerweltsleiden pagne, wie das „Arznei-Tele- gramm“ enthüllte) könne Spei- immer häufiger zu bedrohlichen seröhrenkrebs entstehen. Krankheiten aufgebauscht – Tatsächlich wurde in einer zum Wohle der Pharmaindustrie. Knochendichte-Messung: Aussagekraft umstritten aktuellen Untersuchung, die vor wenigen Wochen im „Deut- m Kampf gegen Knochenschwund tour- umstritten ist, was diese Untersuchung al- schen Ärzteblatt“ erschien, diese Behaup- ten Ärzte bis Mitte August mit einem lein über das tatsächliche Risiko aussagt, tung abgeschwächt: Selbst wenn schon ILkw durchs Land. Frauen über 60 Jahre einmal an Osteoporose zu erkranken. Krebsvorstufen bestehen sollten, fasst dar- konnten in der mobilen „Osteoporose-For- An Beispielen für Disease Mongering in Volker Eckardt von der deutschen Klinik schungs-Station“ unter anderem kostenlos mangelt es nicht. Vor allem Allerweltsleiden für Diagnostik in Wiesbaden den neuesten ihre Knochendichte messen lassen. Im Ge- wie Darm- oder Nagelpilz, Inkontinenz, Forschungsstand zusammen, sei die Ge- genzug erhofften sich die Mediziner des Ber- Sodbrennen oder das Reizdarmsyndrom fährdung geringer als angenommen. liner Zentrums für Muskel- und Knochen- werden durch groß angelegte Aufklä- Der einzige Effekt von Aufklärungs- forschung interessante Forschungsdaten. rungskampagnen in den Stand gefährlicher kampagnen, so Eckardt, sei bislang eine Schirmherrin war die SPD-Gesundheitsex- und behandlungsbedürftiger Krankheiten Verteuerung der Medizin – dennoch soll pertin Gudrun Schaich-Walch. erhoben – besonders, wenn ein passendes „Alarmzeichen Sodbrennen!“ wegen des Eine uneigennützige Aktion zu rein wis- Medikament zur Verfügung steht. „Erfolgs, der Leben retten kann“ (ZDF- senschaftlichen Zwecken? Nicht ganz. Fi- Diese Strategie zeigt sich auch in dem Begleitwort), weitergeführt werden. nanziert wurde das Forschungsmobil von vertraulichen Entwurf eines Schulungs- Oft bewegen sich die Kampagnen nach zahlreichen Pharmaunternehmen, die Me- programms, den das Fachblatt „British Ansicht des „Arznei-Telegramms“ am Rand dikamente gegen Knochenschwund anbie- Medical Journal“ kürzlich enthüllt hat. Das der Legalität. „Werbung zu machen, die auf ten. Und diesen Sponsoren geht es vor allem Programm wurde von einer PR-Firma im die Angst der Patienten zielt, ist laut Heil- um eines: möglichst viel Aufmerksamkeit Auftrag des Pharmaunternehmens Glaxo- mittelwerbegesetz verboten“, sagt Jutta Hal- erregen und Angst machen vor der still lau- SmithKline in Australien als Teil einer Mar- bekath, „aber gerade weil die Kampagnen ernden Osteoporose-Gefahr. Das zumindest ketingstrategie zur Behandlung des Reiz- mit existenziellen Gefühlen spielen, sind sie meint die Hamburger Professorin für Ge- darmsyndroms entwickelt. Dieses Syn- wahrscheinlich auch so erfolgreich.“ sundheitsforschung, Ingrid Mühlhauser. drom gilt allgemein als harmlose, psychisch Doch wo kein Kläger ist, da gibt es auch „Ich will Osteoporose nicht verharmlosen, bedingte Ausschlussdiagnose. keine Klage: An den Aufklärungskam- aber es könnte passieren“, so befürchtet sie, In dem PR-Papier, von dem Glaxo- pagnen beteiligen sich nicht selten Patien- „dass die Frauen gesund in den Truck rein- SmithKline sagt, es spiegele nicht die eige- ten-Selbsthilfegruppen, die manchmal auch gehen und so verunsichert wieder heraus- ne Meinung wider, heißt es: „Das Reizdarm- großzügig von der Pharmaindustrie be- kommen, dass sie sich krank fühlen.“ syndrom muss in den Köpfen der Ärzte als dacht werden. Ignoriert werden dabei von „Disease Mongering“ (Handel treiben wichtiges, klar umrissenes Krankheits- den Patienten oft die gesundheitlichen Fol- mit Krankheiten) nennen Kritiker die- bild etabliert werden.“ Und weiter: Auch gen einer Medikamenteneinnahme. ses Spiel mit der Angst der Patienten, das die Patienten „müssen überzeugt werden, So forderte ein Selbsthilfeverband in immer häufiger Bestandteil der Marke- dass das Reizdarmsyndrom eine weit ver- den USA die Wiedereinführung des Reiz- tingstrategien der Pharmakonzerne ist – breitete und anerkannte Krankheit ist“. darm-Präparats Alosetron. Das Mittel war und sich offenbar auszahlt: Etwa jede zwei- „Um da hinzukommen“, erklärt Wolf- zuvor nach Berichten über Todesfälle te Frau, bei der eine verminderte Knochen- gang Becker-Brüser, Mitherausgeber des vom Markt genommen worden – inzwi- dichte gemessen wurde, beginnt mit einer industriekritischen „Arznei-Telegramms“, schen ist es mit Einschränkungen wieder medikamentösen Therapie – obwohl höchst „wird zunächst aus der Vielzahl der Er- zugelassen. Veronika Hackenbroch

154 der spiegel 36/2002 Werbeseite

Werbeseite Verbreitung des Waschbären

BEN BEHNKE in Mitteleuropa Waschbären auf Nahrungssuche in Kassel: Vierbeinige Stadtstreicher Erstansiedlungen Quelle: 1945 Ulf Hohmann TIERE 1934 Berlin 1966 Randale unterm Dach Kassel Frankfurt Paris Der Waschbär macht es sich in deutschen Städten gemütlich. München Von Kassel bis Berlin richten die Tiere Chaos und 200 km Wien Verwüstung an. Die Plagegeister haben trotzdem viele Fans.

as Epizentrum der Bewegung liegt In Hamburg spazieren die dickfelligen Ban- Mülltonnen gehören noch zu den Kava- am Sängelsrain in Kassels Stadtteil den mittlerweile durch St. Pauli. liersdelikten der marodierenden Heerscha- DHarleshausen. Pünktlich um zehn Bereits zwischen 100000 und einer Mil- ren. Wenn Waschbären sich so richtig hei- Uhr abends kommen die tapsigen Horden lion Waschbären leben nach Schätzungen misch fühlen, geht es an die Bausubstanz. hinter dem Altenzentrum der Arbeiter- in Deutschland. Die Städte haben es den „Der Waschbär ruckelt so lange an den wohlfahrt aus dem Unterholz geschlichen. Tieren besonders angetan. Zehnmal so vie- Dachziegeln herum, bis eine der Schindeln Gleich im Dutzend hangeln sie sich auf die le Waschbären wie im Wald können dort endlich nachgibt“, berichtet Biologie-Diplo- Mülltonnen und schnabulieren die Reste auf der gleichen Fläche leben, haben For- mand Sascha Ljubisavljevic, der in Kassel von Karbonade und Kartoffelbrei. scher herausgefunden – Rangeleien mit der die Schlafplätze der „Stadtbären“ auskund- Etwa 500 Meter weiter die Straße hin- zweibeinigen Urbevölkerung inklusive. schaftet. Selbst dicke Schichten Isolierwol- unter rappelt es gleichzeitig gewaltig im „Kaum ein Tier polarisiert so sehr wie le verwandle das Tier ruck, zuck in hand- Dachgebälk: Morgenrabatz bei Familie der Waschbär“, sagt Ulf Hohmann von der liche Schnipsel. Einmal in einen Dachstuhl Nimmersatt. Marlene Kilkowski selig leb- Gesellschaft für Wildökologie und Natur- eingezogen, lasse der gesellige Schwerenöter te hier bis vor acht Wochen in puscheliger schutz. Für die einen knuddelige Schmu- dann kaum mehr locker: „Wenn es dem Gesellschaft. „16 Stück hatte Oma im setiere, seien Waschbären für die anderen Waschbär gefällt, bleibt er für immer.“ Haus“, berichtet Schwiegertochter Inge. die Plage schlechthin. Hohmann: „Da tref- Eine Posse deutscher Tierliebe brachte 20-mal habe der Dachdecker kommen fen Welten aufeinander.“ den in Nordamerika heimischen Kleinbären müssen. „Aber von mir werden Sie nichts Kassel ist die Waschbär-Hauptstadt Eu- einst nach Deutschland. Mit Schreiben vom Schlechtes über die Bären hören – Oma ropas. Wie Finger greifen die Wohnviertel 8. Februar 1934 schlug der hessische Geflü- hat die Tiere abgöttisch geliebt.“ im Westen in den Naturpark Habichtswald gelzüchter Rolf Haag dem örtlichen Forst- In Kassel ist der Bär los. Genauer gesagt: hinein. „Waldnähe, große Grundstücke, vie- amtsleiter die Auswilderung von zwei der Waschbär. Procyon lotor, so sein wis- le Obstbäume und wenig Verkehr“, nennt Waschbärpärchen am nordhessischen Eder- senschaftlicher Name, hat die hessische Hohmann als Gründe, weshalb die Stadt- see vor – „aus Freude, unsere heimische Stadt fest im Griff. Und nicht nur sie: In teile Harleshausen, Brasselsberg und Wil- Fauna bereichern zu können“, wie Haag zahlreichen Städten der Republik über- helmshöhe bei den Tieren so beliebt sind. anmerkte. Der leichtfertige Waschbärfan nimmt der possierliche Kleinbär inzwi- Seit über einem Jahr verfolgen der Zoolo- ahnte nicht, dass hinter den unschuldig schen das Regiment. Von Gießen bis Han- ge und sein Waschbär-Forscherteam im Auf- dreinblickenden Knopfaugen seiner Käfig- nover dinieren die Waschbären im Schutz trag der hessischen Landesregierung die insassen der Tatendrang gewiefter Alles- der Dunkelheit an den Komposthaufen. In vierbeinigen Stadtstreicher. Konfliktstoff ist könner steckte. 1956 schätzten Forstleute Berlin, Hannoversch Münden und Bad reichlich vorhanden. Geplünderte Kirsch- die Zahl der Waschbären schon auf 285 Tie- Harzburg raschelt es auf den Dachböden. und Mirabellenbäume oder ausgeräumte re. 1970 waren es bereits rund 25000 Exem-

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Werbeseite „Ich habe in einzelnen Häusern schon 30 bis 40 Waschbären gezählt.“ Für die Bewohner der waldnahen Stadt- teile sind das schlechte Nachrichten. Anfangs fanden viele die maskierten Untermieter noch putzig. Inzwischen jedoch liegen die Nerven blank. „Bei mir haben die Tiere die Firstziegel abgeräumt“, klagt etwa Stefan Hoffmann. Der 34-jährige Altenpfleger wohnt im Seniorenheim „Habichtswald“ in der Eschebergstraße. Vor einem Jahr sah Hoffmann erstmals eine Fähe mit ihren Jun- gen die Hainbuche neben seinem Haus hin- aufklettern. Seither ist Randale unterm Dach. Im Nachbargebäude haben die Tiere sogar schon teure Dekubitusmatratzen zerfetzt. Geplatzte Christbaumkugeln und zerrissene Akten bedecken dort den Dachboden. „Nachts prügeln die sich“, berichtet Hoff- mann. „Dann kann es ziemlich laut werden.“ Auch Ehepaar Seeliger aus Brasselsberg

FOTOS: BEN BEHNKE FOTOS: hat einen unerwünschten Untermieter im Zoologe Hohmann*: „Da treffen Welten aufeinander“ Dach. Vor zwei Jahren tauchte der Waschbär erstmals auf. „Kotstellen plare. Weitere Waschbären folgten den Pio- und Raubtiergeruch“ be- nieren vom Edersee. 1945 etwa entkamen klagt die Lehrerin im Ruhe- 25 Waschbären aus einer Waschbärzucht stand seither. Mit Bruckner bei Berlin. Und 1966 ließen amerikanische und Mozart auf Maximal- Air-Force-Piloten ihre Waschbärmaskott- lautstärke versuchte Seeli- chen in die Wälder von Saint-Gobain im ger schon, den Eindringling französischen Departement Aisne zurück. zu verscheuchen – ohne Er- Andere Tiere büxten aus Zoos aus. folg. Neuerdings setzt das Inzwischen ist der Siegeszug des Wasch- Ehepaar einen „elektroni- bären nicht mehr aufzuhalten. Auch im schen Hund“ ein: eine Art Harz, im Schwarzwald oder im Bayeri- jaulendes Mini-Megafon aus schen Wald wuseln die Tiere nächtens dem Supermarkt. Seither durchs Unterholz (siehe Grafik). Von der bellt es nachts blechern bei Bretagne bis in den Kaukasus, so glaubt Seeligers. Den Waschbären Hohmann, könnten Waschbären künftig kümmert auch das kaum. heimisch werden. Die Städte, so weiß der Biologe Ljubisavljevic, Waschbär-Schäden* „Die Tiere sind eine Forscher inzwischen, nehmen sie auf ihrem „Ich habe in Häusern schon bis zu 40 Tiere gezählt“ wahre Plage“, erregt sich Eroberungsfeldzug im Sturm. Frank Becker. Der 41- Ortstermin im Habichtswald bei Kassel: und UKW-Empfänger hat Ljubisavljevic das Jährige verkörpert die Radikallösung Hohmann, drahtig und im sandfarbenen Tier über Monate verfolgt. „Diese Fähe im gärenden Kasseler Waschbärkonflikt. Overall, erklimmt Waschbär-Schlafplatz schläft noch in einer Baumhöhle im Wald, Becker ist Jäger und daher notfalls für Nummer 03380. In zehn Meter Höhe holt sich ihr Fressen aber schon auf den die Todesstrafe. „Ich greife da ein, wo’s stemmt sich der Zoologe in die alte Eiche Komposthaufen in der Umgebung“, be- brennt“, sagt der Waidmann. Erst am Vor- und lugt vorsichtig in eine der Baum- richtet der Biologe. Damit gilt „2005“ dem tag hat Becker wieder einen Stadtbären in höhlen. Dann setzt er ein Blasrohr an und Forscher noch als schüchternes Exemplar der selbst gebauten Falle gefangen. Als Kö- jagt mit geblähten Backen einen Betäu- der Gattung Procyon. Andere Waschbären der nimmt er Knoblauchwurst oder Marzi- bungspfeil ins Dunkel. „Getroffen“, flüstert seien inzwischen ganz in die Stadt gezogen. panstollen. Hat Becker ein Tier erwischt, Hohmann vom Baum. Zehn Minuten spä- „Casanova“ etwa, den Ljubisavljevic bis fährt er in den Wald und erschießt es. ter wird eine eingeschlafene Waschbärin, Mai beobachtete, war ein echter City-Bär. „Spaß macht das nicht“, sagt er. „Aber sa- Kennnummer „2005“, abgeseilt. Tagsüber schlief er in der Martini-Brauerei, gen Sie mal jemandem, der vor Randale Ein Jahr lang hat das Tier seinen 80 bei DaimlerChrysler oder über dem Ver- nicht mehr schlafen kann, dass er einfach Gramm schweren Halsbandsender durch kaufsraum eines Sexshops. Nachts schlich mit den Tieren leben soll!“ die Nächte getragen. Nun nehmen die Bio- der „echte Kerl“ durchs Rotlichtviertel und Seit zehn Jahren geht Becker in Kassel logen das Gerät ab. Sie wiegen die Fähe, tollte im Park vor der Orangerie. auf Waschbärjagd. Der Waschbär gehöre werfen einen Blick auf das Allesfresser-Ge- „Für die Tiere ist die Stadt fast optimal“, einfach nicht hierher, findet der Jäger. Das biss der Sechs-Kilo-Waschbärin und auf die sagt der 31-jährige Forscher. Fast jede Fähe Tier plündere Singvogelnester, klagt er, und feingliedrigen Vorderpfoten. Sie gehören könne sich Nachwuchs leisten, weil es so mache heimischen Mardern oder Fleder- zu den wichtigsten Sinnesorganen des viel Nahrung gebe. „Der Waschbär ist an- mäusen die Schlafplätze streitig. „Die ha- Tieres. Selbst winzige Insekten kann der passungsfähig, kann sehr gut klettern und ben hier keine Feinde – das ist ein Riesen- Waschbär mit ihnen etwa am Grund klei- frisst fast alles“, preist Ljubisavljevic die problem“, glaubt Becker. Da muss der ner Gewässer ertasten. pfiffigen Tiere. Zudem könne er sich mit Waidmann ran. Jährlich 50- bis 100-mal Nach einer Stunde berappelt sich Wasch- vielen Artgenossen den Schlafplatz teilen: rückt er aus. Einen Waschbärpelz hat er in- bärin „2005“ und befreit sich selbst aus der zwischen sogar zur Waschbärmütze verar- „Aufwachkiste“, in die sie nach der Proze- * Links: mit betäubter Waschbärin auf deren Schlafbaum; beitet. „Doch wann ziehe ich die an?“, fragt dur verfrachtet wurde. Mit Handantenne Mitte: zerfetzte Matratzen, die als Nest dienten. sich Becker. „Damit traue ich mich nicht

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Werbeseite Wissenschaft BEN BEHNKE Waschbärfan Sommer: „Mir macht das Chaos Spaß“ vor die Tür.“ Denn auch der Jäger weiß, mann, „bekommen die jungen Weibchen dass die einfallsreichen Kleinbären durch- mehr Nachwuchs und gleichen den aus viele Fans in Kassel haben. Judith Som- Schwund sofort wieder aus.“ Wer einzelne mer etwa lebt seit vier Monaten mit zwei Störenfriede abschieße, mache einfach nur Waschbärjungen zusammen. Freiwillig. Platz für das nächste Tier. Vom Förster übernahm die 24-Jährige den „Wir werden uns mit den Waschbären ar- wenige Tage alten Waschbärrüden „Brain“, rangieren müssen“, sagt der Forscher. Den dessen Mutter vom Auto überfahren wur- Stadtvätern rät der Zoologe, den „Kom- de. Fähe „Mickey“ kam später hinzu. posthaufen-Wildwuchs“ einzudämmen und Unter dem T-Shirt trug Sommer die an- leer stehende Gebäude – als Schlafplatz be- hänglichen Kleinbären zunächst umher. In- sonders begehrt – abzureißen. Für Hausbe- zwischen bewohnen die spitzschnauzigen sitzer gelte als oberste Regel, dem Stören- Waschbär-Teenager ein eigenes Zimmer in fried den Weg aufs Dach zu verwehren. Sommers Wohngemeinschaft. Ein desola- Familie Lohr am Sängelsrain hat die Bot- ter Kletterbaum steht in der Mitte. Mehre- schaft schon verstanden. Während viele re Katzenklos muffeln vor sich hin. Es Anwohner ihre Häuser mit nutzlosen Kat- stinkt nach Raubtierkäfig. „Ideale Haus- zenmanschetten aus spitzen Metallstäben bewohner sind die Tiere nicht“, räumt die zu schützen versuchen (Hohmann: „Da Biologiestudentin ein, während sich Brain sitzt der Waschbär drauf und kratzt sich“), und Mickey auf der Spüle in der Küche gilt das Haus von Familie Lohr den For- um den Platz am tröpfelnden Wasserhahn schern tatsächlich als „waschbärfest“. balgen. „Aber mir macht das Chaos Spaß Breite, glatte Bleche über den Fallrohren – ich würde sie immer wieder nehmen.“ verhindern, dass die Tiere aufs Dach Kein Zweifel: An den possierlichen Tie- kommen. Die Hecke, über die Familie ren scheiden sich die Geister. Hohmann Waschbär früher das Lohrsche Anwesen und Ljubisavljevic wollen die erhitzten erkletterte, ist gestutzt. Ein schwerer Stein Gemüter mit Fakten kühlen. Die Tiere zu beschwert den Mülltonnendeckel. verhätscheln halten die Biologen genauso Vier Jahre ist es her, dass sich die Tiere im für falsch wie sie zu verteufeln. Haus der Lohrs einnisteten, „hinter dem Viele der hessischen Tiere seien mit ei- Zimmer meiner Tochter“, wie Martina Lohr nem Spulwurm infiziert, der in seltenen berichtet. Die Tochter schlief fortan bei den Fällen eine für Menschen tödlich verlau- Eltern. Lohr ließ Dachdecker kommen, fende Hirnentzündung verursachen kön- tränkte Tücher mit stinkendem Öl – doch ne, warnt Hohmann. Zu Hause im Wohn- ohne Erfolg: „Eines Abends tröpfelte es zimmer hätten die Wildtiere daher nichts dann aus der Ziehtreppe zum Dachboden.“ zu suchen. Gleichzeitig will der Forscher Die Tiere hatten sich durch die Verkleidung jedoch auch etwa den Vorwurf, dass der gebissen und den Speicher erobert. Waschbär die heimische Vogelwelt be- Erst die Beratung durch die Waschbär- dränge, so nicht stehen lassen: „Kein experten brachte Abhilfe. „Dieses Aben- Waschbär macht sich die Mühe, extra auf teuer hat uns mehrere aufreibende Jahre Bäume zu klettern, um Vogelnester aus- und mindestens 5000 Mark gekostet“, sagt zuräumen.“ Auch die Jagd auf die Tiere Lohr heute. „Es ist wirklich schön, das ei- hält er nicht für sinnvoll: „Wenn Wasch- gene Haus wieder für sich allein zu ha- bären intensiv bejagt werden“, so Hoh- ben.“ Philip Bethge

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Werbeseite Technik

die ersten Verkaufszahlen für den DVD- kriegen winken viele Jahre hohe Lizenz- ELEKTRONIK Recorder noch besser aus als seinerzeit die einnahmen für die von ihm durchgeboxte Zahlen für den DVD-Player“ – und die wa- Technik. Aufstand ren schon beeindruckend. So auch beim neuen DVD-Recorder: Vergangenes Jahr, vier Jahre nach der Drei verschiedene Systeme mit zum Teil Premiere der Bilderscheibe, wurden al- nur minimalen Unterschieden rangeln um der Zwerge lein in Deutschland knapp 1,6 Millionen die Gunst der verunsicherten Kunden. Ein DVD-Player verkauft, obwohl sie noch Jahr nach dem Verkaufsstart hat das von Schon bald soll die DVD das alte keinen Ersatz für den Videorecorder dar- Philips entwickelte System DVD+RW mit stellen, weil ihnen die Aufnahmemöglich- einem Marktanteil von rund 80 Prozent Videogeschäft ablösen. keit fehlt. eindeutig die Nase vorn. Weit abgeschlagen Doch die Hersteller streiten um Für 2002 rechnen Branchenexperten mit auf Platz zwei liegt das vom japanischen einheitliche Standards. Und einem Sprung auf rund drei Millionen ver- Konzern Matsushita favorisierte System die Kunden sind verunsichert. kaufter Geräte. Die Filmindustrie will 30 DVD-Ram mit lediglich rund 15 Prozent Millionen DVDs verkaufen. Damit würde Marktanteil. ormalerweise ist Gerard Kleister- die neue Trendmaschine erstmals die Ab- Der Grund für das eindeutige Votum ist lee kein Mann pathetischer Phra- satzzahlen der Videorecorder übersteigen. klar: Nur die auf DVD+RW-Recordern be- Nsen. Doch als der Philips- spielten Scheiben lassen sich pro- Chef vergangenes Jahr auf der blemlos auf fast allen DVD-Play- Funkausstellung in Berlin die neu- ern abspielen. este Entwicklung des niederlän- Doch der Vorsprung ist nur ein dischen Elektronikkonzerns vor- Etappensieg. Denn längst werkeln stellte, war ihm kein Vergleich die Ingenieure an der zweiten groß genug. Generation der DVD-Recorder, Mit der neuen Technik, fabu- die ab 2004 auf den Markt kom- lierte er, stehe die Industrie am men sollen. Sie arbeiten mit „Beginn einer neuen Ära“ – ähn- blauem Laserlicht statt dem bis- lich „wie nach der Mondlandung her üblichen roten, und sie haben 1969“. Ein Jahr nach dem Beginn eine weitaus höhere Speicherka- von Kleisterlees neuer Zeitrech- pazität. nung sehen sich die Philips-Mana- Anders als bei der ersten Ge- ger auf gutem Weg. „Der Ver- neration schien die Branche beim kaufsstart“, jubelt der deutsche zweiten Anlauf auf einen Sys- Philips-Statthalter Hans-Joachim temkrieg verzichten zu wollen:

Kamp, „ist phantastisch gelaufen.“ MICHALKE NORBERT Denn Anfang des Jahres stellten Das Gerät, das die Manager ins DVD-Recorder-Präsentation: „Wie nach der Mondlandung“ sich neun Elektronikgiganten hin- Schwärmen bringt, unterscheidet ter eine von Matsushita, Philips sich auf den ersten Blick kaum von zahl- Dass sich der herkömmliche Videorecor- und Sony entwickelte Technik namens losen anderen DVD-Playern, die seit eini- der überhaupt so lange halten konnte, hat „Blu-ray“. ger Zeit die Umsätze in der Unterhal- nicht zuletzt mit der traditionellen Uneinig- Der Frieden währte nur kurz: Vergange- tungselektronik kräftig ankurbeln. Nur ein keit der Elektronikindustrie zu tun. Nur in ne Woche sorgten die japanischen Konzer- Knopf mit der Aufschrift „Record“ signa- Ausnahmefällen, wie bei der Einführung ne Toshiba und NEC mit einem abwei- lisiert die Neuheit. der CD vor 20 Jahren, können sich die Gi- chenden Konzept für Schlagzeilen. Denn Damit wird der DVD-Player zum Auf- ganten der Branche schnell auf einheitliche anders als das Blu-ray-Konsortium will das nahmegerät hochgerüstet – und zugleich Standards für eine neue Technik einigen. Duo seine neuen Recorder schon im nächs- endgültig das Finale der Videorecorder-Ära Stur beharrt zunächst jeder Konzern auf ten Jahr in Japan einführen – und die sol- eingeläutet. Nicht mehr auf Bandkassetten den in seinen Labors erfundenen Lösun- len dann sogar die heute gängigen DVD- wie in den vergangenen drei Jahrzehnten, gen, bis sich ein System am Markt durch- Scheiben abspielen können. Ob es wirklich sondern auf glänzenden Silberscheiben von gesetzt hat. Dem Sieger in den System- dazu kommt, wird allerdings von Experten der Größe einer CD sollen die bezweifelt. „Das ist“, höhnt Phi- Kunden künftig TV-Mitschnitte Wachstumsbranche Elektronik für den Hausgebrauch lips-Manager Kamp, „der Auf- und Filmkopien archivieren. stand der Zwerge.“ Grund: In der Firmen wie Pioneer oder Mat- VERKAUFTE GERÄTE in Deutschland GERÄTE IN HAUSHALTEN Unterhaltungselektronik sind To- sushita (Panasonic, Technics), DVD-Player: 2001 in Prozent shiba und NEC nur Leichtgewich- aber auch Versender wie Otto Millionen 3,0 Mio. Farbfernseher 97,9 te. Hinter Blu-ray dagegen stehen oder Quelle haben den DVD-Re- 3,0 alle Giganten der Branche. Videorecorder: corder schon im Sortiment, wei- Videorecorder 78,5 Eine ganz neue Ära, wie sie tere werden im Herbst folgen. 2,5 2,9 Mio. mit der Einführung des DVD-Re- Und obwohl der Konkurrenz- corders begann, werden die Blau- kampf noch gar nicht richtig ent- 2,0 Hi-Fi-Systeme 67,9 lichtmaschinen ohnehin nicht ein- brannt ist, sind die Preise drastisch läuten. Auf absehbare Zeit wer- gefallen: Kosteten die ersten 1,5 39,9 Sat.-TV-Anlagen den Recorder mit beiden Laser- DVD-Recorder noch 2000 Euro, typen nebeneinander existieren – so kommen nun bereits Geräte für 1,0 17,5 Camcorder so wie heute VHS und Super- knapp 900 in die Regale. Quelle: GfU VHS. „Dem roten Laser“, glaubt Dieses Jahr könnte der Absatz 0,5 Philips-Mann Kamp, „gehört der auf 50000 Stück steigen, 2003 gar 40 000 7,9 DVD-Player Massenmarkt, der blaue ist die auf 150000 Geräte. Damit, glaubt Prognose Luxusvariante.“ Philips-Manager Kamp, „fallen 1997 1998 1999 2000 2001 2002 0,03 DVD-Recorder Klaus-Peter Kerbusk

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nen die Industrieländer oder die Tiger- de, statt knappe und lebenswichtige Res- UMWELT staaten Südostasiens vorgemacht hatten. sourcen zu schonen. Dieses Dogma gilt nicht mehr. „Wir ha- Der Kehrtwende in der Entwicklungs- Öko-Apostel in ben zu lange geglaubt“, sinnierte in Jo- Philosophie sollen nun Konsequenzen in hannesburg Kristalina Georgieva, die Um- der Kredit- und Finanzierungspraxis fol- weltdirektorin der Weltbank, „dass mit gen. Umweltdirektorin Georgieva kündig- steigender Flut alle Boote anfangen zu te bereits an, die Weltbank werde aus ei- Nadelstreifen schwimmen – auch die, die noch auf dem nem Fonds mehr als bisher „Geld für Um- Die Weltbank vollzieht beim Trockenen liegen. Inzwischen ist klar, dass weltdienstleistungen“ bereitstellen. Zum längst nicht alle ein Boot haben.“ Beispiel könnten Kommunen, die Wälder Uno-Weltgipfel in Johannesburg Unmissverständlich erklären die Welt- aufforsten, statt sie zu roden, aus diesem eine erstaunliche Kehrtwende – banker das Wohlstandsmodell der Indu- Fonds entschädigt werden. und fordert die sanfte Entwicklung. strieländer in ihrem Bericht für obsolet. Für den Erfolg des Weltgipfels spielte „Wir haben 10 oder 15 Jahre Zeit, neue die Wende der Weltbank Ende vergange- ie Botschaft klang wie tausendfach Wachstumsmodelle zu entwickeln“, sagt ner Woche indes keine Rolle. Im Gegenteil: gehört. Umso erstaunlicher war ihr Georgieva und verbreitet eine neue frohe Selbst eine ökologisch vernünftige Welt- DÜberbringer. Botschaft: „Wachstum und nachhaltige bank-Initiative, mit der das völlig sinnlose Pünktlich zum Uno-Nachhaltigkeitsgip- Entwicklung schließen sich nicht aus.“ und klimabelastende Abfackeln von Erdgas fel in Südafrika präsentierte die Weltbank Damit schwenkt die Weltbank auf eine bei der Ölförderung eingedämmt werden ihren Weltentwicklungsbericht 2003 – und Position ein, die Umweltaktivisten oder soll, geriet angesichts fehlender sonstiger AFP / DPA Eröffnungsfeier des Uno-Weltgipfels in Johannesburg: „Die Multis geben den Ton an“ vollzog darin einen überraschenden Kurs- auch der Uno-Umweltchef Klaus Töpfer Fortschritte bei den misstrauischen Nicht- wechsel. Was die Washingtoner Banker auf seit langem verbreiten – bisher jedoch ohne Regierungsorganisationen unter Ablen- 400 Seiten an Zumutungen austeilten, las erkennbare Konsequenzen. Nun aber stel- kungsverdacht. Beteiligt an dem Projekt sich passagenweise so, als hätten Globali- len sich die Weltbanker, noch immer Hass- sind, neben der Weltbank, die Regierung sierungskritiker ihnen den Griffel geführt. objekt vieler Globalisierungskritiker, an Norwegens und Ölmultis wie Shell und BP. Der reiche Norden, lautet beispielswei- die Spitze der Bewegung: Freiwillige Vereinbarungen zwischen der se eine Forderung der neuen Öko-Apostel • Seit den fünfziger Jahren seien zwei Mil- Industrie und einzelnen Staaten dürften in Nadelstreifen, dürfe seine Bauern nicht lionen Hektar oder 23 Prozent aller „keine Alibifunktion für fehlendes Regie- länger mit einer Milliarde Dollar protek- Äcker, Weiden und Wälder „degene- rungshandeln“ haben, monierte etwa die tionistischer Subventionen pro Tag mästen riert“, heißt es mahnend in dem neuen grünennahe Heinrich-Böll-Stiftung in Jo- – ein Ärgernis, das die Verhandlungen auf Weltbank-Bericht. hannesburg. Solche Initiativen könnten dem Weltgipfel in der vergangenen Woche • Die Kluft zwischen reichen und armen verbindliche multilaterale Vereinbarungen vergiftete und früh an den Rand des Schei- Ländern habe sich in den letzten 40 Jah- und die Formulierung konkreter Ziele nicht terns führte. ren verdoppelt – ebenso die Zahl der ersetzen. Vor allem aber elektrisierte die Dele- Menschen, die unter Überschwemmun- Die Physikerin Vandana Shiva, indische gierten in Johannesburg die klare Abkehr gen oder Trockenheit leiden. Symbolfigur der Anti-Globalisierungsbe- der Weltbank vom Leitbild einer „nach- • Das „Weltinlandsprodukt“ werde sich wegung, schimpfte sogar, der Gipfel drohe holenden Entwicklung“ für die Länder des bis 2050 auf 140 Billionen Dollar ver- die 1992 in Rio de Janeiro erzielten Fort- Südens. Die Dritte Welt, so die jahrzehn- vierfachen – eine Horrorvorstellung, schritte auszuhöhlen. Shiva: „Die multi- telange Doktrin, sollte sich auf denselben solange an „heutigen Produktions- und nationalen Unternehmen geben hier den harten Wachstumspfad begeben, wie es ih- Verbrauchsmustern“ festgehalten wür- Ton an.“ Gerd Rosenkranz, Birgit Schwarz

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Werbeseite Medien

TV-DUELL „Journalistisch zulegen“ ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender, 53, über die zweite Runde des TV- Wahlkampf-Duells und angriffslusti- gen Journalismus

SPIEGEL: Das erste TV-Duell zwischen Gerhard Schröder und Edmund Stoiber

JÜRGEN REHRMANN bestach durch ein enges Korsett. Lässt Buchclub-Filiale das Spektakel keinen Platz für hartes Nachhaken? BERTELSMANN das Lieblingskind Middelhoffs. Erstes Brender: Doch. Die Regeln sind zwar Opfer wäre die Internet-Tauschbörse eindeutig, aber sie lassen natürlich Napster, die voraussichtlich nach der Raum für überraschende Nachfragen Rückzug aus Entscheidung eines US-Konkursgerich- und auch Provokationen, die eine De- tes am Dienstag an den Medienkonzern batte interessant machen. fällt. Inzwischen gilt als wahrscheinlich, SPIEGEL: Nach dem ersten Duell bei dem Internet? dass Bertelsmann trotz Investitionen von Sat.1 und RTL drängte sich allerdings über 100 Millionen Dollar Napster kap- der Eindruck auf, die Fragen der Mode- enige Wochen nach dem Abgang pen wird. Das Thema gilt in Gütersloh ratoren seien den weichgespülten Politi- Wvon Vorstandschef Thomas Mid- als hoch sensibel, da sich Vorstand und kerantworten angepasst. delhoff wird zunehmend die neue stra- Aufsichtsrat noch nicht offiziell mit der Brender: Die Moderatoren des ersten tegische Ausrichtung des Bertelsmann- Zukunft des Internet-Geschäfts befasst Duells standen unter einem enormen Konzerns sichtbar. So plant die für das haben. Nervosität herrscht indes auch psychischen Druck. Der entfällt jetzt, Endkundengeschäft zuständige Direct- bei den Mitarbeitern der Tochterfirma und wir können von den Erfahrungen Group einen zügigen Rückzug in ihr BOL, seitdem sich in der Gütersloher der Premiere profitieren. Stammgeschäft mit den Buchclubs. Die Firmenzentrale Verkaufsgerüchte um SPIEGEL: An den starren Regeln soll DirectGroup müsse sich darauf konzen- den Online-Buchhändler immer mehr nichts geändert werden, neue Akzente trieren, „so schnell wie möglich zu Pro- verdichten. Bei der DirectGroup heißt fitabilität in ihrem Kerngeschäft und es, man nehme zu Marktgerüchten kei- Stamm-Märkten zurückzukehren“, kün- ne Stellung. Zumindest dürfte BOL mit digte der neue DirectGroup-Chef Ewald einem Verkauf weniger Probleme ma- Walgenbach intern an. Gemeint ist damit chen als Pixelpark: Bertelsmann sucht offenbar vor allem eine fast vollständige seit Monaten erfolglos einen Käufer für Aufgabe des Internet-Geschäfts, einst den defizitären Internet-Dienstleister.

PRESSE einem Monat und fängt in dieser Woche in gleicher Funktion beim Axel Sprin- Dubioser Wechsel ger Verlag an. Werner Kuhls, Geschäfts-

führer des DRS-Verlags, behauptet nun, / DPA MAELSA TOM ie Hintergründe des plötzlichen Gockels Ausstieg sei „von langer Hand Brender DVerlagswechsels beim deutschen vorbereitet“ gewesen und habe nur den Ableger des Musikmagazins „Rolling Zweck gehabt, die Lizenzrechte an den müssen also journalistisch gesetzt wer- Stone“ sind offenbar dubioser als ver- Axel Springer Verlag zu übertragen. den. Was werden ARD und ZDF bei mutet. Vor zwei Wochen war überra- Gockel weist die Vorwürfe zurück. Der der zweiten Runde am Sonntag anders schend bekannt geworden, dass schon DRS-Verlag erschien ihm in Auflösung, machen? die nächste deutsche Lizenzausgabe des Honorare und Lizenzen seien erst „mit Brender: Klar, dass wir journalistisch amerikanischen Kultmagazins mehrmonatiger Verspätung zulegen müssen. Deswegen werden Fra- nicht mehr im DRS-Verlag, gezahlt worden“. Kuhls wi- gen und Nachfragen so getrimmt, dass sondern im AS Young Me- derspricht vehement: Zwar es für Stoiber und Schröder schwer sein diahouse („Musikexpress“, habe es „finanzielle Proble- wird, nur Gelerntes von sich zu geben. „Yam“) des Axel Springer me“ gegeben, von einer Wir werden mit den Moderatorinnen Verlags erscheinen wird. Hin- Auflösung aber könne keine und den Redaktionen Gesprächsverläu- tergrund: Der amerikanische Rede sein. Nun wird vor Ge- fe, Themenfelder und geschickte Va- Lizenzgeber Rolling Stone richt weitergestritten. Der rianten des Nachfragens besprechen. LLC konnte den Hamburgern DRS-Verlag will gegen den SPIEGEL: Haben Sie nach der gepflegten kündigen, da die Lizenz an Lizenzentzug klagen, weil Langeweile der ersten Runde nicht eine Zusammenarbeit mit die Amerikaner den Vertrag Angst, dass nun keiner mehr zuschaut? dem langjährigen Chefredak- nicht unverzüglich nach Brender: Im Gegenteil. Nach dem Un- teur Bernd Gockel gebun- Gockels Kündigung aufge- entschieden kommt das Finale. Die Leu- den ist. Gockel kündigte vor Rolling Stone löst hätten. te wollen wissen, wer der Bessere ist.

der spiegel 36/2002 167 Medien Fernsehen TV-Vorschau Die Rosenkrieger Bloch: Schwarzer Staub Freitag, 20.15 Uhr, ARD Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD Jutta Speidel, das zeigte die Schau- Was der WDR heute präsentiert, ist spielerin schon in der Erfolgsserie die schwierige Geburt einer neuen „Um Himmels Willen“, beherrscht deutschen TV-Heldengestalt: die des das Spiel Kleider machen Leute. Psychiaters. Der Seelendoktor als Wenn sie als Nonne aus der Kutte ins Beobachter der Psyche ist eigentlich Kostüm springt, staunen nicht nur die der geborene Konkurrent des Zu- Männer. Auch diese leicht überdrehte schauers, denn auch das Publikum macht sich so seine Gedanken über

die Figuren eines Films und will sich MICHAEL FEHLAUER / WDR nicht so gern durch professionelle „Bloch“-Darsteller Kryll, Pfaff Deutungen bevormunden lassen. Um einen Psycho-Fachmann beliebt zu Seine Ehe kriselt vor sich hin. Da er- machen, müssen Buch und Regie jede scheint ein Patient, ein lungenkranker, Heldenverehrung des Seelenkenners längst aus dem Berufsleben aussortier- vermeiden. Peter Märthesheimer, Pea ter Elektriker (Michael Mendl), der Fröhlich (Buch) und Ed Herzog (Re- mehrere Selbstmordversuche hinter sich

gie) haben deshalb von der berühm- hat. Der Film vermeidet die seit Freud ARD / DEGETO ten englischen Polizeipsychologen-Se- üblichen Assoziationen vom Patienten, Speidel in „Die Rosenkrieger“ rie „Für alle Fälle Fitz“ mit Robbie der sich auf der Couch krümmt, Coltrane gelernt und ihren Helden während ihm der Analytiker die das Komödie mit Gunter Berger und Bloch (Dieter Pfaff) auf äußerst mit- Trauma verursachende Urszene ent- Dietmar Schönherr lebt vom Image- menschliche Maße geschrumpft: See- reißen möchte. Der unkonventionelle wechsel der Speidel, die ihre Grau- lenklempner Bloch ist fett, labil, neigt Bloch begleitet vielmehr den Elektriker mäusigkeit ablegt und eine begeh- zu Depression und Unzuverlässigkeit. durch den Alltag, trinkt mit ihm, und renswerte Frau wird. beide durchleben etliche Abenteuer bis zu einem bitteren Ende. Solches Ver- Das TV-Duell Schröder – Stoiber schmelzen von Patient und Analytiker widerspricht allen Abstinenzregeln der Sonntag, 20.30 Uhr, ARD/ZDF Profession, nützt aber der Spannung Nichts ist amüsanter als die Regeln, und den Abwechslungsbedürfnissen der die Unverständliches produzieren. Filmästhetik. Die Blicke in die Seele Die Verlesung der „Zeitkonten“ von kommen dennoch nicht zu kurz, denn Kanzler und Herausforderer im ersten Pfaff und seine Partnerin (Eva Kryll) Wahlduell war so erratisch wie einst zelebrieren aufs Sensibelste das Zer- die Vergabe von „Länderpunkten“ in brechen ihrer Liebe. Drei weitere der unvergesslichen RTL-Stripshow Filme der viel versprechenden Reihe „Tutti Frutti“. Sabine Christiansen sind geplant. und Maybrit Illner, bitte aufklären. TV-Rückblick tiefen falschen Mitleids. Den Lehrer Im Chaos der Gefühle ereilt sein Schicksal, als ihn seine Frau (Franziska Walser) wegen einer Affäre 28. August, ARD mit einer jüngeren Kollegin (Anna Er spielt Menschen mit Behinderungen Schudt) aus dem Haus wirft. So wirkt ohne Peinlichkeit und falsche Scham – des Lehrers Leiden wie eine Art Strafe. Edgar Selge, 53. Im Münchner „Polizei- Trotz seiner Krankheit entfaltet der ruf 110“ treibt er als Kranke einen un- einarmiger Kommissar widerstehlichen mitunter ein sarkasti- Charme, dem sich sches Spiel mit seinem seine tief verletzte Gebrechen. Am Mitt- Frau am Ende nicht woch zeigte Selge ei- entziehen kann. Der nen Gymnasiallehrer, Zuschauer merkte, der durch eine Hirn- dass Walser und Sel- blutung seine Sprech- ge auch privat ein fähigkeit verliert Ehepaar sind. Den (Buch und Regie: beiden gelangen die Diethard Klante). ehelichen Zimmer-

Wieder mied der / SWRKRAUSE-BURBERG schlachten anrührend Schauspieler die Un- Schudt, Selge in „Im Chaos der Gefühle und überzeugend.

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Werbeseite STEFAN ENDERS / BILDERBERG ENDERS STEFAN WAZ-Patriarchen Schumann, Grotkamp: Eine links, eine rechts, und in der Mitte bloß keinen fallen lassen

VERLAGE Leos langer Schatten In der Seifenoper um die Reste seines untergegangenen Imperiums plant Medien-Pleitier Kirch ein Finale furioso. Die Nebenrollen hat er allen alten Gegnern zugewiesen. Nun schaut er zu, wie nicht nur die Presse-Giganten WAZ und Springer aufeinander prallen.

anchmal, wenn Leo Kirch, 75, sei- ist sich der Alte sicher, trägt den Namen ging um 767 Millionen Euro. Und bald ging nen langen Weg Revue passieren von Mathias Döpfner, Vorstandschef des es um alles, denn nicht zuletzt der Krach Mlässt vom kleinen Filmhändler Axel Springer Verlags, an dem Kirch auch mit Döpfner brachte Kirch finanziell derart („La Strada“) zum allgewaltigen Schatten- nach dem Zusammenbruch seines eigenen ins Trudeln, dass er im Frühjahr zum In- mann deutscher Medien und wieder zurück Imperiums 40 Prozent der Aktien hält. solvenzrichter musste. Nun ist Kirch plei- ins Fast-Nichts – manchmal also beschleicht Zwei Jahre ist es her, da nickte Kirch die te, und sein altes Menschengeschäft wurde ihn dann eine Art fröhlicher Melancholie. Inthronisation des damals 37-Jährigen mit schrecklich kompliziert, seit man es ihm Weil Medien für ihn immer ein so span- ab. Noch am 14. Januar saß er mit seinem aus der Hand nahm. nendes „Menschengeschäft“ waren. Weil Vize Dieter Hahn und Döpfner im Berliner Scharen von Juristen und Managern, er zugibt, nicht selten auf den falschen Restaurant „First Floor“, ließ sich um- Bankern und Beratern versuchen seit Mo- Kopf statt die richtige Zahl gesetzt zu ha- schmeicheln und zu drei Flaschen Chateau naten, sein Milliarden-Imperium zu file- ben. Und weil selbst ein Marionettenspie- Pichon Longueville Comtesse de Lalande (je tieren. Der Pleitier sitzt derweil in der ler wie er weiß, dass er mit all den Perso- 300 Euro) einladen. Nachdem man ausein- Münchner Kardinal-Faulhaber-Straße, wo nalentscheidungen, die sich im Nachhin- ander gegangen war, geriet man aneinander. er einst seine Karriere begann. Und nun ein für ihn als Flop erwiesen, eine große Wenige Tage nach dem Treff begann sollen die Altbaubüros mit dem diskreten breite Straße pflastern könnte. Döpfner, seinen Großaktionär unter Druck „Sekretariat“-Schild noch einmal zum Epi- Eines der letzten und größten Steinchen zu setzen. Es ging um eine Option, die zentrum eines Bebens werden, das mög- im Mosaik seiner Fehlentscheidungen, da Kirch auszahlen sollte, und zwar sofort. Es lichst viele trifft:

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Paket an der Bank vorbei ausgerechnet an Ehe mit Hindernissen Besitzverhältnisse am einen Presse-Konkurrenten zu verkaufen? Wie sich die WAZ bei Springer einkaufen will Axel Springer Verlag Ausgerechnet an die WAZ-Gruppe, in dem seit Februar ausgerechnet der frühere SPD- Kanzleramtsminister Bodo Hombach mit am Steuer sitzt? Tatsächlich zeigen die Essener seit lan- Erben- gem Interesse: Schon vor Jahren wurden sie bei Kirch vorstellig und boten deutlich möglicher Leo Kirch gemeinschaft mehr als heute. Damals konnte es sich der Kauf 40,33%40,33% 50% konservative Katholik noch leisten, den Umsatz 2001: 1,90 Mrd. ¤ plus 10 Aktien vermeintlichen Linken von der Ruhr eine Abfuhr zu erteilen. Nun drängt es ihn zu Beschäftigte 2001: davon: Streu- einem letzten großen Coup. Und die Ver- etwa 12000 Friede Springer...... 90% lagsbosse drängen mit. besitz Axel Sven Springer.....5% Ariane Springer...... 5% Einerseits ist da ihre WAZ-Gruppe, 9,67 % ein von erfolgreichen Kaufleuten regier- ter Presse-Teppich sparsam produzierter Spezialmagazine, Anzeigenblättchen und Umsatz 2001: 2,86 Mrd. ¤ Beschäftigte 2001: 14069 Regionalzeitungen, die weniger durch Pro- Presse Auflage/Deutschland fil als Profit auffallen. Andererseits Sprin- ger, ein dem ideologischen Erbe Axel Cä- 17 Tageszeitungen 6,35 Mio. sars verpflichtetes Verlagshaus mit natio- inkl. Beteiligungen an Regionalzeitungen nalen Organen wie „Welt“ und „Bild“, aber seit geraumer Zeit auch vergleichs- 13 Wochenzeitungen/-zeitschriften 11,49 Mio. weise schlechten Bilanzen. Die Spar-Manager der WAZ verfolgen 3 14-tägliche Zeitungen/Zeitschriften 7,77 Mio. argwöhnisch die neokonservative Byzan- tinistik bei Springer. In Essen kolportieren 10 Monatszeitungen/ -zeitschriften 19,46 Mio. sie, dass die vier WAZ-Geschäftsführer zu- sammen nur ein Drittel dessen verdienten, Fernsehen Anteil was ihr Kontrahent Döpfner allein kassie- re. Auch deshalb würde man ihm gern mal Beteiligung an u. a. ProSiebenSat.1 11,5% das Sparen beibringen, das in solchen Krei- sen nur anders genannt wird: Suche nach Synergien. • Döpfner und dessen Förderin, Verlags- aber frühestens nach dem 10. September. Und die gäbe es nach WAZ-Rechnung erbin Friede Springer; Bis dahin räumte das Münchner Landge- ohne Ende: 80 Millionen Euro ließen sich • den Unions-Kanzlerkandidaten Edmund richt Kirch eine Gnadenfrist ein, den Ver- allein in Nordrhein-Westfalen sparen. Wür- Stoiber, der seinen einst umhegten Kirch kauf selbst zu steuern. Möglicherweise den die beiden Verlagsgiganten Vertrieb, fallen ließ, um nicht selbst in den Sog der wird die Frist sogar erneut verlängert. Anzeigen-Akquise oder Technik bundes- Pleite gerissen zu werden; Mal abgesehen davon, dass Kirch von den weit zusammenwerfen, fielen Kosten in • die Deutsche Bank, von der sich Kirch Banken millionenschwere Provisionen ver- deutlich dreistelliger Millionenhöhe weg – ohnehin betrogen fühlt. Bei ihr ist das sprochen wurden, wenn er den Deal noch ohne die arg sensiblen Redaktionen zu Springer-Paket verpfändet. Und sie will es im Alleingang über die Bühne bringt – der gefährden. Gemeinsam wären WAZ und auch an der Börse platzieren, kann das alte Mann will mehr: Genugtuung? Rache? Springer zum Beispiel die größten Ein- Er werde Springer mit in den Abgrund zie- käufer von Druckpapier in Europa. hen, soll er im dortigen Aufsichtsrat orakelt Seit die Ideen konkret und damit öffent- haben. Im Menschengeschäft spielen eben lich bekannt sind, geht es rund zwischen auch Gefühle eine große Rolle. München (Kirch), Essen (WAZ), Hamburg Und wie könnte man all die alten Geg- und Berlin (Springer), wo auch die große ner besser treffen als damit, das Springer- Politik zu Hause ist. Bayerns CSU-Wirt- schaftsminister Otto Wiesheu und Alt-Kanzler Helmut Kohl sind als Emissäre zwischen den Fronten unterwegs. Und seither fungieren die Springer- Blätter wie Megaphone für die Interessen der eigenen Verlagsspitze, auch wenn Döpfner beschwichtigt: „Ich habe keinen publizistischen Marschbefehl ausgegeben.“ Am Freitag vorvergange- ner Woche eröffnete Flagg- schiff „Bild“ das Feuer und

FOTOS: JOSÉ GIRIBAS FOTOS: warnte seine Leser vor einem Kontrahenten Friede Springer, Döpfner, Hahn, Kirch „dramatischen Linksruck“ Große Gefühle im Menschengeschäft bei der WAZ. An der Spitze

der spiegel 36/2002 171 Medien FRANZISKA KRUG / ACTION PRESS (L.); WILLI SCHNEIDER / PEOPLE PICTURE (R.) PICTURE SCHNEIDER / PEOPLE PRESS (L.); WILLI KRUG / ACTION FRANZISKA Springer-Erben Axel Sven, Ariane: „Hausgemachtes Problem“ des Konkurrenten sei ein „Machtkampf“ nur zu wünschen, dass dort mal wieder an- um den politischen Kurs des Verlags ent- ständige Kapitalisten Einzug halten, die sich brannt. Vom Machtkampf ums eigene Haus stärker um Erträge und weniger um Wahl- war in dem namenlosen Stück auf Seite kampf kümmern“, so Gabriel. zwei noch nicht die Rede. Immerhin habe „Bild“ in einer Kolum- Danach orakelte die „Welt am Sonntag“, ne zur Flut gerade Politiker „mit Vokabeln nicht näher benannte Experten befürchte- belegt, die stark an die Hugenberg-Presse ten, die Presselandschaft könne „neu aus- der zwanziger Jahre erinnern“. Die Sprin- gerichtet werden“ – und zwar „gegen den ger-Presse und „Bild“ seien „einfach zu ausdrücklichen Willen“ von Springer, wie wichtig“, schimpft der Ministerpräsident, „Bild am Sonntag“ wusste. Die „Welt“ dia- „um sie den Jungs zu überlassen, die nichts gnostizierte im „politischen Berlin“ gar ein anderes im Sinn haben, als der CDU im „Erdbeben“. Die Panik im Blatt mit dem September zum Wahlsieg zu verhelfen“. blauen Streifen und den ewig Und die WAZ? Ist sie wirklich roten Zahlen verwundert nicht: jener rote Medienriese von der Gerade dort könnten die WAZ- „Bei Springer Ruhr, der nun dauernd in die Männer nach Kräften sparen. sollten wieder Schlagzeilen gemenetekelte Ge- Tags darauf bot „Bild“ einen Kapitalisten genentwurf zu Springer? Medienwissenschaftler auf, der einziehen, die Als das Zeitungshaus 1948 ge- gar ein Meinungsmonopol wie sich weniger gründet wurde, legten schon die das von Italiens Ministerpräsi- alliierten Lizenzgeber fest, dass dent Silvio Berlusconi herauf- um Wahlkampf die Gesellschafter bitte schön po- ziehen sieht – nur eben linksge- kümmern.“ litisch fein austariert sein sollten. dreht. Vorher hatten sich bereits Der eine Gründer, Jakob Fun- die Generalsekretäre von CDU und CSU ke, war Konservativer. Der andere, Erich alarmiert zu Wort gemeldet. Brost, Sozialdemokrat. Eifersüchtig achte- Das Tremolo ging bis vergangenen Frei- ten die beiden Stämme darauf, dass alles in tag weiter. Und es wurde immer schriller. der Familie bliebe – im wahrsten Sinne des Am Ende erklärte eine Truppe von Sprin- Wortes: So heiratete Funkes Nachfolger ger-Chefredakteuren in einer gemeinsamen Günther Grotkamp eine von dessen Töch- Resolution ihre „Sorge“ angesichts der „ag- tern. Brost adoptierte sogar seinen Nach- gressiven Schritte“. Man konnte den Ein- folger Erich Schumann, der als Anwalt druck gewinnen, in Essen säße eine Horde einst Willy Brandt in Bonn beraten hatte. finsterster Altlinker, die den eher bis ehern Selbst der vermeintlich „rote“ Schu- konservativen Axel Springer Verlag im mann taugt nicht zum Kronzeugen: Als Handstreich erobern wolle. „Ich habe mich Privatmann überwies er Alt-Kanzler Kohl schon einige Male unterschätzt gefühlt“, nach dessen Spendenaffäre 800000 Mark sagt Hombach nüchtern. „In diesem Fall und wurde von der SPD prompt aus der fühle ich mich unbotmäßig überschätzt.“ Partei geschmissen. Niedersachsens Ministerpräsident Sigmar Schumanns Strickmuster für den wirt- Gabriel wurde es am Freitag zu bunt. Die schaftlichen Erfolg seines Konzerns ist ein- Springer-Presse fahre „kurz vor der Bun- fach: Eine links, eine rechts, und in der Mit- destagswahl eine ebenso hemmungslose wie te bloß keinen fallen lassen. Die „Westfäli- durchsichtige Kampagne“, so Gabriel zum sche Rundschau“ blieb als ehemaliges SPD- SPIEGEL. Der Verlag solle „endlich mit der Blatt ihrem Kurs weitgehend treu. Die absurden Unterstellung aufhören, dass es „Westfalenpost“ dagegen kommentiert kon- sich hier um eine politische Übernahme servativ. Und das Mutterblatt „WAZ“? Eu- handelt“. Stattdessen sei Springer „doch ropas größte Abonnement-Zeitung (täglich

172 der spiegel 36/2002 Werbeseite

Werbeseite verkaufte Auflage: rund 620000 Exemplare) besticht durch massenkompatiblen Klein- Riese von der Ruhr Die WAZ-Mediengruppe Klein-Journalismus. „Kost für schlichte Funke-Gruppe 50% 50% Brost-Gruppe Gemüter“, urteilt das „Medium Magazin“, Petra Grotkamp (16,7%*), Anneliese Brost (30%), was den WAZ-Chefredakteur Uwe Knüpfer G. u. R. Holthoff (16,7%*), Erich Schumann (20%) längst kalt lässt: „Das sind wir doch ge- Renate Schubries (16,7%*) *gerundet wohnt. Da fällt es schwer, sich jedes Mal Zeitungen und Auflage Anteil wieder aufzuregen.“ Zeitschriften Fernsehen Wenn es überhaupt eine Ideologie in Es- sen gibt, dann heißt sie Profit. Dumping- u. a. RTL Group 7,4 % 25 Tageszeitungen 3,97 Mio. tägl. Preise, konsequente Aufkäufe im Heimat- land NRW und radikaler Expansionskurs 28 Publikums- 2,22 Mio. wöchentl. Hörfunk Anteil in Ostdeutschland wie -europa sorgten zeitschriften u. 0,72 Mio. monatl. verschiedene Beteiligungen, u. a. dafür, dass auch in Krisenzeiten wie jetzt 4 TV-Beilagen 3,59 Mio. wöchentl. noch das alte Rendite-Postulat gilt: „Zehn Westfunk (Dienstleister) 100% Prozent plus x“. Aber gegen mehr Re- 30 Fachzeitschriften 1,07 Mio. monatl. Radio Essen 75% nommee hätte man wirklich nichts. Gera- de Hombach drängt intern auf mehr Qua- 133 Anzeigenblätter 7,24 Mio. monatl. Antenne Ruhr 75% lität und Ausbildung. 250 Kundenzeitschriften 60 Mio. jährl. Radio Sauerland 75% Als Springer sein öffentlich inszeniertes Spektakel begann, saß WAZ-Patriarch Grotkamp auf der Insel Juist. Schumann streifte durch Tansania und wollte eigent- lich Großwild ganz anderer Art erlegen. Zu Hause tat der junge Döpfner derweil Wochen noch wollten die WAZ-Männer man sich dieses Mal nicht einige, warte zur geplanten WAZ-Eroberung kund: „Das allenfalls in Frieden bei Friede einsteigen. man eben auf die nächste Chance. ist so erfolgversprechend, als wenn man in Nun regiert in Essen Kampfgeist und Das- Während Springer auf die Wirksamkeit der Wüste von Namibia Eisbären schießen wollen-wir-doch-mal-sehen-Attitüde ge- seiner publizistischen Trompeten baut, holt will.“ Der Vergleich traf geografisch nicht genüber den schnöseligen Hamburgern. die WAZ ihre Rechner und Juristen zu Hil- ganz, polierte aber endgültig das neue Man wäre mittlerweile sogar bereit, ei- fe. Jeder hat die Folterwerkzeuge, die zur Feindbild. nen „strategischen Preis“ zu zahlen, also eigenen Unternehmenskultur passen. Und wie das manchmal so ist in der Not: mehr, als das Springer-Paket eigentlich Die Springer-Aktien sind vinkuliert. Das Sie schweißt zusammen. Bis vor wenigen noch wert sei, sagt ein Insider. Und wenn bedeutet: Der Aufsichtsrat muss jedem Be- Medien sitzerwechsel zustimmen. Eher aber wür- Interesse der WAZ war immer betriebs- „Da wird er seine Show abziehen“, ahnt de man in Namibia doch auf Eisbären wirtschaftlich, nie publizistisch.“ ein hochrangiger Springer-Mann. Wenn er stoßen, als dass Friede Springer momentan Tatsächlich wurden nie Interventionen sein Aktienpaket dann noch hält, will der zum Einlenken bereit wäre. So ersannen bekannt. Ganz im Gegensatz zu Springer, Münchner eine Sonderprüfung der Ver- die Anwälte mehrere Szenarien, wie sich wo Kirch die Demission politisch unliebsa- lagsbilanz beantragen. die Hürde am elegantesten nehmen ließe. mer Chefredakteure persönlich verlangte. Auf einen derartigen Krawall freut man Die scheinbar sicherste Variante: Kirch Was die Lage noch unübersichtlicher sich schon jetzt, denn am Ende, so wird ge- soll seine PrintBeteiligungs GmbH, in der macht: Bei Springer tobt noch ein Macht- mutmaßt, könnte eine Ablösung von Vor- das Springer-Paket geparkt wurde, einfach kampf eigener Art: Verlagserbin Friede standschef Döpfner stehen. Pleite gehen lassen. Damit wären mögli- muss sich gegen ihre Stiefenkel Ariane und Es wird nun überhaupt wieder viel spe- cherweise alle aktienrechtlichen Verpflich- Axel Sven („Aggi“) zur Wehr setzen, der kuliert in Kirchs altem Menschengeschäft. tungen hinfällig. Langwierige Rechtsstrei- gegen die Gründerwitwe in den nächsten Hilft der Schweizer Verleger Michael Rin- tigkeiten, hoffen die Essener, ließen sich so zwei Wochen erneut vor Gericht gier Springer? Könnten andere vermeiden. ziehen will. Verlage wie Gruner + Jahr, Bau- Ein Fall fürs Kartellamt wäre das WAZ- Gemeinsam mit seiner Schwes- „Das Interesse er oder Madsack einsteigen? Springer-Geschäft ohnehin, weil die Kon- ter hält „Aggi“ fünf Prozent der WAZ war Oder steht gar wieder mal Ru- zerne zusammen rund 30 Prozent des deut- samt Sitz im Aufsichtsrat und be- immer pert Murdoch vor der Tür, den schen Pressemarkts kontrollierten. In vie- trachtet mit Argwohn den allzu betriebswirt- der „Tagesspiegel“ am Samstag len Teilbereichen sind beide aktiv, etwa vertrauensvollen Umgang zwi- schaftlich, nie kühn ins Rennen brachte? mit Regionalzeitungen, Programm- und schen seiner 60-jährigen Stief- Kirch jedenfalls freut sich über Spezialzeitschriften. oma und Vorstandschef Döpf- publizistisch.“ die Scharmützel im langen Aber wäre die Medienlandschaft wirk- ner. Der Krach mit WAZ und Schatten seiner Pleite. Wie sie lich schon in Gefahr, wenn „Bild der Frau“ Kirch sei „ein hausgemachtes Problem“, alle wieder aufgeregt murmeln und intri- (Springer) und das WAZ-Pendant „Echo ärgert sich Springer junior. gieren, kreischen und intervenieren – klei- der Frau“ künftig Kochrezepte austausch- Sein Großvater habe genau gewusst, ne Triumphe inklusive. ten? Drohen italienische Monopolsitten? weshalb er einst verfügte: „Zehn Prozent Als Springer-Chef Döpfner seinen Con- „Rein ökonomisch“ könnte die Partner- für Leo Kirch – und keine Aktie mehr.“ trollern nach dem letzten teuren Treffen schaft Springer sogar „ganz gut tun“, meint Leider hätten die Testamentsvollstrecker mit Kirch im Januar eine Spesenrechnung der Medienexperte Lutz Hachmeister, der unter Führung von Bernhard Servatius das über mehr als 1000 Euro servierte, winkten die ideologisierte Debatte „nur noch ana- „nicht so ganz hinbekommen“. die ab. Döpfner musste den Abend aus der chronistisch“ findet. „Blanker Unsinn“ sei Zu allem Übel steht Springer am 24. Sep- Privatschatulle bezahlen. Frank Hornig, die Berlusconi-Hysterie, sagt Horst Röper tember eine außerordentliche Hauptver- Marcel Rosenbach, Thomas Tuma vom Dortmunder Formatt-Institut. „Das sammlung bevor, die Kirch selbst initiierte. Szene

LITERATUR Flotte Traurigkeit ochen Schmitt heißt der Held von Jo- Jchen Schmidts Debütroman „Müller haut uns raus“. Eines Morgens kann er nur noch grinsen – eine halbseitige Ge- sichtslähmung ist schuld. Irgendetwas scheint schief gelaufen zu sein in Schmitts Leben, aber was? Hat ihn die sadomasochistische Beziehung zur schwermütigen Lyrikerin Judith ruiniert, die sich erst nach Jahren dazu herab- ließ, mit ihm zu schlafen? Oder begann das Desaster schon, als er kurz nach der Wende („ich kam gerade in ein Alter, in dem es für mich an der Zeit

gewesen wäre, erwachsen zu werden“) RALEIGH MUSEUM OF ART, CAROLINA NORTH Anselm kennen lernt, einen jüngeren Pieter Aertsen: „Speisekammer mit Maria, Almosen verteilend“ (1551) Maler, der mit unerträglicher Konse- quenz seine Entwicklung vorantreibt AUSSTELLUNGEN und überdies mit Heiner Müller kor- respondiert, Schmitts großem Idol? Autor Schmidt, 32, erzählt erfrischend Schlachtfest im Schlaraffenland und skurril vom Erwachsenwerden sei- nes Helden, das sich etwas länger hin- ppig blühende Blumenbuketts, verfüh- und Entwicklung der flämischen Stillleben zieht – und durchaus charakteristisch ist Ürerisch aufgestapelte Früchtepyramiden von 1550 bis 1680 und unterschlägt auch für die Berliner Studenten- und Pseudo- oder glänzende Würste und Schinken, die die düstere Seite dieses Genres nicht: Die so künstler-Boheme vom Prenzlauer Berg, ein Schlachtfest im Schla- genannten Vanitas-Bilder, bei der der Begriff „Regelstudienzeit“ raffenland suggerieren: Die die dem Betrachter dessen Angstreflexe auslöst. Die Erinnerungen Sujets altmeisterlicher Still- eitle Selbstsucht vorhalten an die ersten Jahre nach dem Mauerfall, leben verherrlichen das pral- und ihn – unter stereotyper als sich noch keiner vorstellen konnte, le Leben und ungezügelten Verwendung möglichst gru- er werde eines Tages auf der Schönhau- Genuss. Eine hinreißende selig gemalter Totenköpfe – ser Allee frühstücken, sind in ein feines Auswahl aus Flandern ist ans unvermeidliche Ende Licht aus Nostalgie getaucht. Mit erfri- jetzt unter dem Titel „Sinn seiner irdischen Freuden er- schendem Understatement lässt Schmidt und Sinnlichkeit“ in der innern. seinen Schmitt auch von mühsamen Essener Villa Hügel (bis 8. Schreibversuchen berichten („Nur Dezember) zu sehen. Sie do- Adriaen van Nieulandt:

wenn ich über meine grundlose Traurig- kumentiert die Entstehung MUSEUM HAARLEM HALS FRANS „Vanitasstillleben“ (1636) keit schrieb, ging es et- was flotter“): Hinter den munteren Schilderungen aus dem Milieu – Frauen- geschichten inklusive – BÜCHERPREIS „Lucía und der Sex“. Es soll vor- verbirgt sich das Porträt kommen, dass sich Frauen beim des Künstlers als junger Lustgrotten tun sich auf Lesen von Büchern in den Mann. Man folgt dem Schriftsteller verlieben. Die Kell- Helden gern durch sein s zu tun ist eine Sache, darüber zu schreiben nerin Lucía jedenfalls gibt, als sie unspektakuläres Leben: Eeine andere. Die „misslungenste, kläglichste, den bewunderten Lorenzo sich- „Ich besaß noch Kohlen unfreiwillig komischste Erotik-Szene in der moder- tet, ihrem Herzen einen Schubs für zwei Wochen und nen Literatur“ will der Berliner Autorenhaus-Verlag und spricht ihn an – mit so viel hatte Angst, mir neue zu bestellen, weil mit einem neuen Preis auszeichnen, dem „Spitzen Überschwang, dass im Nu eine die Kohlenmänner mich jedes Mal so Stift“. Verleger Manfred Plinke, der Bücher über Bettgemeinschaft daraus wird. offensichtlich übers Ohr hauten, dass das Bücherschreiben herausgibt, ereifert sich vor Die Liebe floriert, die Literatur ich ihnen besonders viel Trinkgeld gab, allem über abgegriffene Metaphern: „Da tun sich stockt: Erst gerät Lorenzo mit um mir nicht anmerken zu lassen, dass ‚Lustgrotten‘ auf, garniert von ‚üppigen Blütenblät- seinem neuen Roman in Abgrün- ich den Betrug mitbekommen hatte und tern‘. Oder man wird von einem ‚zitternden Opfer- de, dann taucht er selbst unter, mich nur nichts zu sagen traute.“ Wie stab überrascht, der den ‚Tribut der Leidenschaft‘ Lucía geht auf Schnitzeljagd, und unbekümmert Jochen Schmidt vom zollt.“ Neben John Grisham und Michel Houelle- ehe man sich’s versieht, haben Dasein seines Doppelgängers Schmitt becq hält Plinke Doris Dörrie für eine würdige sich auch auf der Leinwand das erzählt, erinnert bisweilen an den US- Preisanwärterin. Plinke setzt auf kritische Leser: Sie ungeschriebene Buch und das Autor David Sedaris. sollen Fotokopien verunglückter Sexszenen mit gelebte Leben phantastisch in- Quellenangaben beim Verlag einreichen. Eine Aus- einander verwickelt. Vielleicht Jochen Schmidt: „Müller haut uns raus“. C.H. Beck, wahl soll Anfang nächsten Jahres auf einer Lesung gewinnt der Spanier Julio Me- München; 352 Seiten; 19,90 Euro. in Berlin präsentiert werden. dem, 44, endlich auch hier eine

176 der spiegel 36/2002 KulturDachzeile

KOMIKER „Das Gebiss macht den Unterschied“ John Cleese, 62, Gewinnchancen ausrechnen. Doch zu- über seine Rolle gegeben: Auf der Pferderennbahn setze in der Las-Vegas- selbst ich, und bei den Windhunden Komödie „Rat drücke ich meinen Kindern ein wenig Race – Der nackte Geld in die Hand. Warum geht man Wahnsinn“ und auch sonst dorthin? die Globalisierung SPIEGEL: In „Rat Race“ treten britische des Humors und amerikanische Komiker gegen- einander an. Wer hat die Nase vorn? SPIEGEL: Mr. Cleese, Cleese: Das entscheidet das Publikum. warum zeigen Sie Die Briten lachen über eine komische in Ihrem neuen Situation. Die Amerikaner warten auf

CINETEXT Film so häufig die einen komischen Satz, der ihnen das Zähne? Signal zum Lachen gibt. Das muss man Cleese: Weil sie falsch sind. Vor einigen immer berücksichtigen. Jahren habe ich nämlich eine merkwür- SPIEGEL: Sie sind also gegen die Globa- dige Entdeckung gemacht: Ich kann lisierung des Humors? eine Perücke tragen oder eine Brille – Cleese: Unbedingt. Das ist eine Schan- jeder erkennt mich sofort. Das Einzige, de. Vor allem die Werbung, die weltweit was mich komplett in einen anderen gezeigt wird, nivelliert den Humor un- Menschen verwandelt, sind falsche Zäh- gemein. Er wird vermischt, verwässert – ne. Das Gebiss macht den Unterschied. und am Ende lacht kein Mensch mehr. SPIEGEL: Der Mann, den Sie in „Rat Race“ spielen, ist ein fanatischer Wetter. Wetten Sie selbst? Cleese: Es gibt genau zwei Bereiche meines Lebens, in denen die Vernunft siegt. Ich nehme keine Drogen, und ich wette nicht. SPIEGEL: Macht es Ihnen keinen Spaß, oder haben Sie Angst um Ihr Geld? Cleese: Ich war immer gut in Mathe. Ich kann meine

Szene aus „Rat Race“ CINETEXT

Kino in Kürze

Paz Vega in „Lucía und der Sex“ Fan-Gemeinde: „Lucía und der Sex“ ist leichter, verspielter, frivoler als frühere Medem-Werke, da- bei literarisch, hochtrabend und verführerisch; ein Kino-Kunststück, das sich gewaschen hat.

„K-19: Showdown in der Tiefe“. Man nehme ein wenig Männerschweiß, viel kaltes Wasser und jede Menge Pathos – fertig ist der U-Boot-Thril- ler: Mit diesem Rezept schickt Hollywood alle paar Jahre einen Regisseur los, um Wolfgang Petersens Klaustrophobie-Klassiker „Das Boot“ (1981) zu kopieren. Diesmal fiel die Wahl auf Kathryn Bigelow, Ex-Gattin von „Titanic“-Tauch- lehrer James Cameron. Doch Bigelows nach allen Regeln der Kunst entfachter Sturm im Wasserglas – mit einem müden Harrison Ford als Kapitän ei- nes maroden russischen Atom-U-Boots – vermag nicht zu überzeugen. Verglichen mit dem Drama, das sich vor zwei Jahren an Bord der „Kursk“ ab- gespielt hat, wirkt das (ebenfalls auf einer wahren Begebenheit beruhende) Schicksal von „K-19“

CINETEXT wie eine lustige Seefahrt.

der spiegel 36/2002 177 FOTOS: IMAGE.NET FOTOS: Blair Underwood, Julia Roberts in „Full Frontal“ Salma Hayek in „Frida“

KINO Heiligsprechungen am Lido Unter seinem neuen Chef Moritz de Hadeln setzt das Filmfestival Venedig mit Erfolg auf große Namen – wie Tom Hanks – und opulente Effekte. Erstmals seit langem dabei: deutsche Filme. u den Errungenschaften des schö- Löwe sei nichts mehr wert. Und irgendwie eigene Produktionsfirma und verkündete nen Jahres 1968, die leider nicht ge- ist der Eindruck entstanden, er meine, dass ihren Anspruch, die große mexikanische Zhalten haben, was sie versprachen, in letzter Zeit der Hauptpreis zu oft (näm- Malerin Frida Kahlo (1907 bis 1954) durch gehört die Totsagung des Filmfestivals von lich viermal in fünf Jahren) an nah- oder einen Film zu verewigen. Venedig, untermalt von Sprechchören und fernöstliche Filmwerke gegangen sei, die Sie ist nicht nur schön und glutäugig, Polizeiprügeln. Zweifellos war es ja nicht man doch bitte generell nicht überschätzen sie muss auch von einem pyromanischen nur eine bourgeoise und kapitalistische, solle. Durchsetzungsvermögen getrieben sein. Es sondern in ihrem Ursprung auch eine fa- Um diesem Verdacht eurozentrischer ist zuerst und zuletzt ihre Leistung, dass es schistische Leistungsschau. Arroganz ohne neue Wortwolken, doch den Film „Frida“ gibt, der das Festival in Ve- Doch die Veranstaltung war nicht totzu- optisch wirksam entgegenzutreten, brauch- nedig mit dem Überschwang einer mexika- kriegen: Sie ist zehn Jahre lang auf sparta- te de Hadeln sich, zu seinem Glück, bloß nischen Fiesta eröffnete, und dass der Film nischem Kurs dahingekrebst, programma- mit der schönen Chinesin Gong Li ablich- so ist, wie sie ihn wollte: groß und glorios. tisch in Sack und Asche und frei von preis- ten zu lassen, die er zu seiner Jury-Präsi- Hayek, 35, hat sechs Jahre gebraucht, geilem Konkurrenzgeschrei, bis endlich dentin gemacht hat. Auch seine Filmaus- um dieses Ziel zu erreichen, und sie ließ 1980 auch der Goldene Löwe auferstanden wahl zeigt, dass er mit Bedacht großen sich – während weit prominentere Stars wieder seine Mähne schütteln durfte. Stars und glamourösen Beauties Anlass wie Madonna oder Jennifer Lopez mit Fri- Dieses Jahr ist der 70. Geburtstag der ve- zu einer Venedig-Reise gegeben hat – da-Kahlo-Filmprojekten scheiterten – nicht nezianischen Filmfestspiele zu feiern, der von Sophia Loren und Catherine weltweit ältesten, an deren Eröffnung 1932 Deneuve bis zu Audrey Tautou noch der greise Kino-Erfinder Louis Lu- und Salma Hayek. mière als Ehrengast teilgenommen hatte. Über die schöne, glutäugige Das Jubiläum wird mit einer kleinen Re- Salma Hayek ist zu lesen, dass sie trospektive „antifaschistischer“ (hauptsäch- schon zu Hause in Mexiko ein lich russischer) Filme aus dem ersten Festi- Soap-Opera-Star gewesen sei, sich valjahrzehnt begangen, weshalb sich kein dann aber entschloss, Englisch zu Feierstündchen für Leni Riefenstahl ins Pro- lernen und in Hollywood noch gramm schleichen konnte, die ja damals am mal von vorn zu beginnen. Als ihr Lido auch herzlich bejubelt worden ist. klar wurde, dass sie dort doch im- Nun aber, da doch endlich alles gut zu mer nur als Latina-Lustobjekt be- sein schien, ist der neue Festivalchef Mo- gehrt sein würde, riss sie ihr Kar- ritz de Hadeln in ein Fettnäpfchen getreten, riereruder herum, gründete eine indem er gesagt haben soll, der Goldene Jury-Präsidentin Gong Li, * Mit Festivalchef Moritz de Hadeln (M.) und Gästen Festival-Eröffnung*: Verdacht

Sophia Loren, Edoardo Ponti (r.) am 29. August. eurozentrischer Arroganz / AFP / DPA GABRIEL BOUYS

178 der spiegel 36/2002 Jürgen Vogel, Benno Fürmann, Alexandra Maria Lara, Heike Makatsch, Nina Hoss, Mehmet Kurtulus in „Nackt“ Festival-Filme „Full Frontal“, „Frida“, „Nackt“: Viel Sachverstand, viel heiße Luft von ihrer Mission abbringen: so besessen Kenntnis – zwei aus Deutschland. Jahre- nes Kontrastprogramms namens „Contro- von Frida wie ein Jahrzehnt zuvor Isabelle lang hatten die Deutschen in Venedig (wie corrente“ („Gegenströmung“), das sich in Adjani von Camille Claudel. Hayek fand in in Cannes) nur am Katzentisch ihren Frust keiner sinnfälligen Weise vom Mainstream der Theatermacherin Julie Taymor eine nähren dürfen; nun sind sie wieder richtig des Löwen-Wettbewerbs unterscheidet, den passionierte Verbündete mit Sinn für das dabei, und zwar mit zwei Filmen von be- besten mit 50000 Euro zu honorieren hat: exzessive Lebensmelodram des Künstler- merkenswert gegensätzlicher Art. viel Sachverstand, viel heiße Luft. paares Frida Kahlo/Diego Rivera und mit Der eine, „Führer Ex“, der erste Spiel- Es wäre zumindest ein Witz, wenn Hol- Phantasie für die spezifisch Kahlosche film von Winfried Bonengel, 42, verfolgt lywoods Starregisseur Steven Soderbergh Theatralik, ihre surrealistische Selbstbe- halb dokumentarisch, von der Sozialisa- für seinen Film „Full Frontal“ mit Julia spiegelung und ihre Martyriumslust. tion im DDR-Zuchthaus bis zur Karriere Roberts in der Rolle eines zerstreuten Stars Ein Drehbuch, das aus eigener Kraft all nach der Wende, den Werdegang des Ex- diese 50000 Euro gewänne, denn er tritt die Volten, Affären und Krisen dieser aben- Neonazis Ingo Hasselbach. Mit dem an- diesmal programmatisch gegen den Main- teuerlichen Vita zu konzentrieren verstün- deren deutschen Film im Wettbewerb, stream an. Soderbergh hat sich den Luxus de, ist nicht zu Stande gekommen, obwohl schlicht „Nackt“ betitelt, wagt sich die Re- des Arrivierten geleistet, noch einmal wie mindestens sechs Autoren nacheinander gisseurin Doris Dörrie, 47, mit einem bei ein Anfänger angeblich rasch und billig, daran gewerkelt haben. Doch wo die Story ihr überraschenden Künstlichkeits-Ehrgeiz halbwegs mit einer leichten Videokamera sich eher linkisch von Anekdote zu Anek- an ein pointiertes Boulevardstück, in dem und halbwegs nach den dänischen „Dog- dote voranhangelt, stürmen Taymor und bei einer Dinnerparty drei Yuppie-Pärchen ma“-Spielregeln, einen Film zusammenzu- Hayek vorwärts und reißen all ihre promi- in ihren Beziehungsproblemen herumsto- improvisieren: „einen Film über Filmleute nenten Gaststars so energisch mit, dass ihre chern. Adieu „Schuh des Manitu“, scheint für Leute, die Filme lieben“ (Soderbergh), Sache gelungen ist: als opulentes Kinostück uns die Komödienmacherin zurufen zu der sich leider zu selbstgefällig in Num- und als filmische Heiligsprechung. wollen, jetzt sind High Heels angesagt! mern und Nümmerchen verzettelt. „Full Unter den 21 Spielfilmen, die in Venedig De Hadelns Programm ist hinreichend Frontal“, den Begriff für eine bestimmte um den Goldenen Löwen konkurrieren, mit bekannten, geschätzten Namen be- Kameraeinstellung, kann man diesmal mit sind drei aus Italien, drei aus Frankreich, stückt, um auf dem Papier so gut wie nur „Schuss in den Ofen“ übersetzen. drei aus den USA, drei aus Ostasien, kei- irgendeines zu erscheinen. Mehr noch, er Der Löwen-Wettbewerb allerdings muss ner aus Spanien und keiner aus Skandina- hat Glück gehabt, zumindest mit der Ou- sich noch als sehr stark erweisen, um plau- vien, aber – man nahm es mit Staunen zur vertüre: In den ersten drei Tagen drei ame- sibel zu machen, dass für einen der ersten rikanische Spielfilme, die sich sehen las- Beiträge der Controcorrente-Konkurrenz sen konnten („Frida“, „Full Frontal“ und dort kein Platz war, denn der jüngste Film „Road to Perdition“) und dazu als Gla- des Schweden Lukas Moodysson, 33, ist mour-Event der Auftritt von Sophia Loren, auf eine schmerzhaft zuschlagende Weise 67, am Arm ihres jüngsten Sohns, Edoardo fulminant wie sonst bisher keiner. Ponti, 29, der am Lido seinen Debütfilm „Lilja 4-ever“ erzählt die Geschichte ei- „Between Strangers“ präsentierte. ner Halbwüchsigen, die in einer einst so- Falls der Goldene Löwe tatsächlich, wie wjetischen, nun verslumten Provinzstadt de Hadeln meint, an Prestige eingebüßt hat, im Norden mit dem Überleben auf eigene liegt das wohl nicht zuletzt daran, dass de Faust beschäftigt ist, bis ein netter Helfer Hadeln die von seinem Vorgänger eingelei- sie nach Schweden lotst, wo Männer ihr tete Preis-Inflation fortsetzt. Neben der mit Gewalt beibringen, was sie zu Hause zehnköpfigen Löwen-Jury sind unabhängig nicht hatte lernen wollen: wie ein Mädchen zwei weitere je fünfköpfige Jurys zu Gange: die Beine breit macht und den Mund hält. Die eine fahndet quer durchs Gesamtange- „Lilja 4-ever“ ist ein kurzer Film über die bot nach dem besten Erstlingswerk, das sie Verzweiflung, der im Himmel endet. mit 100000 Euro belohnen soll, während Nun aber, worauf auch in Venedig mit

ERIC VANDEVILLE ERIC VANDEVILLE die andere Extrajury aus den 18 Filmen ei- der größten Spannung gewartet wurde:

der spiegel 36/2002 179 Kultur „Ich bin kein Streber“ Hollywood-Star Tom Hanks, 46, über sein Image und seinen neuen Film „Road to Perdition“

SPIEGEL: Mr. Hanks, beinahe jede neue befinde mich definitiv an der Spitze der Und Sie? Haben Ihre beiden jüngeren Rolle bringt Ihnen eine Oscar-Nomi- Gehaltspyramide. Ich bin selbst immer Söhne eine Ahnung davon, wie be- nierung ein und sorgt für Millionen- wieder überrascht, dass die Studios be- rühmt Sie sind? umsätze – Sie sind der wohl erfolg- reit sind, solche Summen zu zahlen. Hanks: Sie kommen allmählich dahin- reichste Schauspieler der Welt. Trotz- Nur: Ich weiß nicht, wie lange das noch ter. Aber sie kennen es auch nicht an- dem gelten Sie als netter Mann von gut gehen soll. Viele Filme scheitern in- ders. Für sie ist es normal, dass ich nebenan. Mögen Sie dieses Image? zwischen an den Gagen. Das ist absurd. manchmal monatelang weg bin oder Hanks: Eigentlich schon. Das heißt: Es Nehmen Sie „Catch me if you can“, hin und wieder im Fernsehen auftau- ist mir, ehrlich gesagt, ziemlich egal. den ich gerade gedreht habe … che. Manchmal werden sie auch von SPIEGEL: Trifft es denn überhaupt zu? SPIEGEL: … mit dem auch nicht ganz Fremden auf mich angesprochen, und Sind Sie wirklich nett? Oder spielen Sie billigen Leonardo DiCaprio und unter das verwirrt sie. den Leuten etwas vor? der Regie des Milliardärs Hanks: Ich glaube, ich bin ein ehrbarer Steven Spielberg. Mann, ein Gentleman, und ich arbeite Hanks: Ich wäre doch bescheu- sehr, sehr professionell. Außerdem hal- ert, wenn die Höhe meiner te ich mich für einen kreativen Künstler. Gage dazu führen würde, dass Und sobald ich einmal Ja gesagt habe ich nicht mehr mit den besten zu einem Projekt, bin ich ein absolut Leuten arbeiten kann. In solch loyaler Verbündeter. Ich respektiere je- einem Fall muss ich eben mit den, auch wenn ich nicht seiner Mei- etwas weniger zufrieden sein. nung bin. Wenn all das dazu führt, dass Alles über 300 Dollar pro Wo- man denkt, ich sei ein netter Mensch, che ist großartig. dann bin ich ein netter Mensch. SPIEGEL: Ihre Kollegen Harri- SPIEGEL: Und wenn manche Sie für ei- son Ford oder Robin Williams nen Langweiler halten … haben angefangen, sinistere Hanks: … kann ich es auch nicht än- Gestalten zu spielen, nachdem dern. Aber ich bin kein Streber und ihre Erfolge als Strahlemänner auch nicht blöd, soweit ich weiß. nachließen. In „Road to Perdi- SPIEGEL: Allein die Tatsache, dass Sie in tion“ spielen Sie jetzt einen einem Film mitspielen wollen, garan- Killer – warum? tiert, dass er gedreht wird. Wie gehen Hanks: Normalerweise sind die Sie mit dieser Verantwortung um? Bösewichte diejenigen, die ver- Hanks: Die einzige Frage, die ich mir bei suchen, James Bond umzule-

der Rollenwahl stelle, ist: Würde ich gen. Solche Rollen interessie- DUHAMEL / AP FRANCOIS diesen Film selbst gern im Kino sehen? ren mich nicht, weil es dort Hanks in „Road to Perdition“: „Ein großes Rätsel“ SPIEGEL: Ihrer Antwort auf diese Frage keine emotionale Entwicklung fiebert regelmäßig halb Hollywood ent- gibt. Aber ich suche auch nicht nach SPIEGEL: Einige Ihrer Kollegen zieht es gegen. Lässt Sie das völlig kalt? Rollen, die bestimmte Tabus verletzen. in die Politik, ein erheblich schlechterer Hanks: Natürlich spürt man einen ge- Ich muss keinen Heroinabhängigen spie- Schauspieler als Sie war sogar mal wissen Druck. Zumal die Branche ja len, um ernst genommen zu werden. US-Präsident. Würde auch Sie ein po- nur noch interessiert: Was hat der Film SPIEGEL: In „Road to Perdition“ geht es litisches Amt reizen? gekostet? Wie viel spielt er am ersten auch um das Verhältnis zwischen Vä- Hanks: Ich bin nicht qualifiziert, ameri- Wochenende ein? Mit der Qualität ei- tern und Söhnen. Sie sind bei Ihrem kanischer Präsident zu sein. Mein Auf- nes Films hat das nichts zu tun. Zum allein erziehenden Vater aufgewach- tritt in „Scott & Huutsch“ dürfte in die- Glück habe ich meine Arbeit erledigt, sen. Welchen Einfluss hatte das auf Ihre ser Hinsicht nicht ausreichen. Ich habe wenn die Zahlen herauskommen. Aber Deutung der Rolle? nicht mal die Qualifikation, Präsident diese Zahlen entscheiden am Ende dar- Hanks: Mein Vater war fast immer ver- eines Fanclubs zu sein. Na ja, vielleicht über, ob man aus Sicht des Studios gute heiratet, mit irgendwelchen Frauen, würde es für die Philippinen reichen. Arbeit geleistet hat oder nicht. mal mehr, mal weniger. Er hatte vier SPIEGEL: Genügt es nicht, populär zu SPIEGEL: Sprich: ob Sie die 25 Millionen Kinder, und wir hatten alle einen an- sein, um US-Präsident zu werden? Dollar wert waren, die Sie mittlerwei- deren Blick auf ihn. Für mich war er ein Hanks: Nein, tut es nicht. Jemand, der le pro Film verdienen. großes Rätsel. Ich wusste oft nicht, mit auf dem Bildschirm eine gute Figur Hanks: Ganz so viel ist es nicht … wem ich es eigentlich zu tun habe. Und abgibt, muss nicht unbedingt auch SPIEGEL: … sondern durch Gewinnbe- so einen Blick auf den Vater vermittelt ein guter Staatsmann sein. Aber diese teiligung oft sogar noch mehr. auch „Road to Perdition“. Verwechslung ist eines der größten Hanks: Es gibt da verschiedene Mög- SPIEGEL: Der Killer, den Sie spielen, Probleme in der amerikanischen Po- lichkeiten. Aber Sie haben Recht: Ich spricht zu Hause nicht von seinem Job. litik. Interview: Martin Wolf

180 der spiegel 36/2002 Tom Hanks als angeblich eiskalter Killer in „Road to Perdition“. Bei genauerem Hinsehen erweist sich dieser Michael Sul- livan, der bis zum Winter 1931 in Al Capo- nes Imperium als treuer Pflegesohn eines Provinzbosses seinem Killerjob nachgeht, als gottesfürchtiger Familienvater (siehe Interview). Hanks, der natürlich schon als epocha- ler Einfaltspinsel Forrest Gump ein großer Charakterdarsteller war, macht das impo- sant: Bärenhaft in eine Aura von Düsternis, Schwere, ja Schwerfälligkeit gehüllt, aber blitzflink wie eine Viper, wenn es darauf ankommt, wer zuerst am Drücker ist. Das ist der Aufstieg in die James-Stewart-Klas- se: Es gelingt „Road to Perdition“ (der die- se Woche auch in die deutschen Kinos kommt), den Profikiller, den verächtlichs- ten aller Antihelden, zum Helden zu mo- numentalisieren, indem er ihn vorführt, als wäre er der Träger eines Shakespeareschen Königsdramas oder einer biblischen Ur- väterlegende. Man denkt bei der Gestalt dieses einsa- men Rächers weniger an einen Gangster als an eine Westernfigur, denn das Gangster- kino ist immer moralisch relativ, das Wes- ternkino jedoch absolut, und Sullivan geht es ums Prinzip: „Road to Perdition“ („Weg zur Verdammnis“) zeigt den Saulus als Paulus, der sein Mordhandwerk einsetzt, um die Welt vom Bösen zu reinigen. Als er auch den letzten Schritt wagt, den zum Va- termord, und seinen Gangster-Pflegevater samt dessen Paladinen mit der Maschi- nenpistole niedermäht, bleibt das Bild stumm, und das ist, als hielte Gott selbst für einen Augenblick fassungslos den Atem an. Dem britischen Theatermacher Sam Mendes, 37, ist mit „American Beauty“ 1999 ein Kinodebüt gelungen, wie man es so gekonnt, artistisch virtuos und wir- kungsbewusst kaum je gesehen hat. Und der zweite Streich nun, „Road to Perdi- tion“, tritt mit dem Anspruch des geplan- ten, gewollten, sich einer großen Tradition stellenden Meisterwerks an: Bild um Bild entfaltet der Film mit epischem Atem, mit gediegenster Altmeisterlichkeit eine Epo- chenszenerie, die den Bewunderer ihrer Finesse stets auch ein wenig auf Distanz hält – das Kalkül des Grandiosen ist all- gegenwärtig. Wenn der Film aber blutig zur Sache kommt, wenn also Mendes dem guten Kil- ler Sullivan das inkarnierte Böse entge- genstellt, einen Mordbuben, dem Jude Law als wahrhaft satanischer Springteufel Ge- stalt gibt, dann delektiert der Film sich an den Kugelwechseln und Blut spritzenden Massakermomenten mit genüsslicher Bra- vour: Da ist nichts, was John Woo besser gekonnt hätte. Das Festival hat – nach „Frida“ und „Lilja 4-ever“ – mit „Road to Perdition“ in drei Tagen drei Heiligsprechungen zu Stan- de gebracht; das ist mehr, als der Papst schafft. Urs Jenny der spiegel 36/2002 181 Kultur

Sie spielt Leticia Musgrove, die Bildung, seine Erfahrungen. Er erzählt von Frau eines Schwerverbrechers, dem Lebensweg, der hinter ihm liegt. Ich der im Süden der USA auf dem wollte, dass der Zuschauer die Last spürt, elektrischen Stuhl hingerichtet die meine Figur zu tragen hat.“ wird. Als auch noch ihr Sohn bei In der Tat lädt der Film seinen zwei einem Unfall stirbt, stürzt sie sich Hauptfiguren viel auf. In der ersten Hälfte in eine Affäre mit dem weißen folgen die Schicksalsschläge im Zehnmi- Gefängniswärter Hank Grotow- nutentakt, die engsten Verwandten der bei- ski (Billy Bob Thornton). Sie den Protagonisten sterben, und bald schei- ahnt nicht, dass er ihren Mann nen sie fast allein auf der Welt zu sein: Erst bei seinem letzten Gang beglei- der Tod bahnt ihrer Liebe den Weg. tet hat – und zudem aus einer Doch melodramatisch wirkt „Monster’s Familie von Rassisten stammt. Ball“ trotzdem nicht. Gerade in den Mo- Auf all das, was sich Schau- menten, wenn die Figuren von ihren Ge- spieler meist wünschen und was fühlen überwältigt werden, wahrt der Film Stars stets verlangen, musste Distanz. Als Leticia vom Tod ihres Sohnes

CINETEXT Halle Berry bei diesem Film des erfährt, verfolgt der Zuschauer ihren Zu- Peter Boyle, Berry in „Monster’s Ball“ in Ulm geborenen Regisseurs sammenbruch durch eine Scheibe: Leticia Schicksalsschläge im Zehnminutentakt Marc Forster, 33, verzichten: Die will zum OP, wird zurückgehalten, schlägt Figuren sprechen nur wenige, um sich und sackt dann in sich zusammen, meist sehr einfache Sätze, und Großauf- während ihre Schreie verstummen. FILM nahmen sind selten. Berry wirkt in „Mons- „Ich fühlte mich ganz frei, unbedrängt, ter’s Ball“ wie vom Leben schwer gezeich- weil Marc, der Regisseur, uns nicht mit Lust aus der net – in Wirklichkeit ist sie aber eine strah- Großaufnahmen auf den Leib rückte“, er- lende Erscheinung. zählt Halle Berry, springt vom Stuhl auf, Als Glamour-Girl, das jedes Pflaster un- simuliert mit den Händen die Bewegung Verzweiflung ter sich in einen Laufsteg verwandelt, fla- der Kamera und beugt sich nach vorn auf nierte sie voriges Jahr durch den Ac- den Interviewer zu – bis der seine nächste Im Frühjahr gewann Halle Berry als tionthriller „Passwort: Swordfish“. In der Frage komplett vergessen hat. Polit-Satire „Bulworth“ (1998) machte sie „Eine Figur wie Leticia führt jeden erste schwarze Schauspielerin Warren Beatty wieder Beine, und dem- Schauspieler an Orte seiner Innenwelt, die den Oscar für die beste Hauptrolle nächst wird sie den neuen James-Bond- er im wirklichen Leben nie freiwillig auf- in dem Film „Monster’s Ball“ Film veredeln. In „Monster’s Ball“ bewegt suchen würde. Und weil man über seine – er kommt jetzt in die Kinos. sie sich dagegen ungelenk, beschwerlich Schritte irgendwann gar nicht mehr nach- auf dem harten Boden der Tatsachen. denkt und sich ganz in der Rolle verliert, a stand sie nun auf der Bühne, in ei- Berry: „Wenn ich mich einer Figur nähe- muss man dem Regisseur blind vertrauen. nem Kleid, das so aussah, als hätten re, frage ich mich zuerst immer: Wie be- Gerade dann, wenn man vergisst, dass man Dsich die schönsten Blumen der Welt wegt sie sich, wie geht sie, wie steht sie, wie gefilmt wird, braucht man Schutz.“ an ihrem Körper emporgerankt. Mit beiden sitzt sie? Der Gang eines Menschen verrät Das galt vor allem für die Liebesszene Händen umklammerte sie die Trophäe, viel über ihn: über seinen Charakter, seine zwischen ihr und Thornton, die für Ge- schluchzte, brachte kaum einen Satz her- sprächsstoff sorgte, weil sie in den USA aus, und für einen Moment provozierte sie um eine Minute gekürzt werden musste. In die Frage: Sind sogar ihre Tränen schwarz? Europa ist sie in voller Länge zu sehen. Ende März dieses Jahres erhielt Halle Berry: „Im Drehbuch stand: ,Nun haben Berry als erste farbige Schauspielerin den sie leidenschaftlichen, animalischen Sex.‘ Oscar für die beste Hauptrolle. Sie wurde Was man auf der Leinwand sieht, ist unse- von Weinkrämpfen geschüttelt, und das re Interpretation dieser Worte.“ Publikum war gerührt. Beifall brandete Vielleicht noch nie haben zwei Schau- durch die Reihen, als sie die Auszeichnung spieler in einem Film mit vergleichbarer all den schwarzen Darstellern vor ihr wid- Intensität dargestellt, wie aus tiefster Ver- mete, die ihr den Weg gebahnt hatten. zweiflung größte Lust erwächst, wie Trau- Dieser Auftritt war Hollywoods bisher er, Schmerz und Begehren in einem Akt schönstes Happy End des Jahres. Die Er- wilder Zärtlichkeit verschmelzen. griffenheit der 34-Jährigen, deren Film „In dieser Szene geht es nicht nur dar- „Monster’s Ball“ nun in die deutschen Ki- um, wie zwei Menschen ihre sexuellen Be- nos kommt, wirkte absolut aufrichtig. Und dürfnisse befriedigen, sondern darum, wie wenn sie nur gespielt gewesen sein sollte, sie eine Verbindung zueinander herstellen hätte Berry den Preis erst recht verdient. und dadurch ihre Einsamkeit überwinden. Was er ihr bedeutet, erklärt sie selbst Dies ist der Kuss, der beide ins Leben so: „Wie viele Oscar-Verleihungen hat es zurückholt. Sie sind nackt, körperlich wie gegeben, bei denen kein einziger schwar- seelisch, und da umarmt sie das Leben.“ zer Schauspieler für die Hauptrolle nomi- Erwacht aus der emotionalen Erstarrung, niert war? Die Situation verbessert sich, finden sie zurück in die Zeit der Unschuld. aber nur langsam. Eine Rolle wie die in Am Ende sitzen sie wie zwei Kinder auf ei- ,Monster’s Ball‘ kommt so selten – dafür ner Treppe, essen Eis und sehen zum Him- hätte ich mein letztes Hemd gegeben.“ mel hoch. Der Zuschauer folgt ihren Bli- cken, betrachtet die Sterne und ist bereit, so Glamour-Star Berry lange zu warten, bis er wieder auftaucht:

Vom Laufsteg auf den Boden der Tatsachen TOBIS der Komet Halle. Lars-Olav Beier 182 Werbeseite

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chester der Welt. Der elfte Chef in der 120- jährigen Geschichte des Klangkörpers, der erste Brite am deutschen Gral: „Ich werde Teil dieser Stadt, ich werde sie prägen.“ Zur Feier des Tages werden am Wochen- ende rund um Scharouns berühmte ocker- gelbe Konzertschachtel erstmals über 30 farbenfrohe Fahnen wehen, viele mit Rattles Konterfei: dem Mann, der frischen Wind verheißt. Im Henschel Verlag erscheint die erste deutschsprachige Biografie über den Diri- genten, deren Autor Nicholas Kenyon durch Rattles „musikalische Urgewalt“ auf dem „Weltpodium“ bereits eine „Art per- manenter Revolution“ ausbrechen sieht: „Dies könnte die Musikwelt verändern.“ Zusammen mit SFB/Arte, der Londoner BBC und dem japanischen Staatsfernse- hen NHK nimmt die EuroArts Medien-AG Rattles Antrittsvorstellung für TV und DVD auf. Gleichzeitig schneidet EMI Clas- sics das Hauptwerk des Abends, Gustav Mahlers fünfte Sinfonie, live mit, liefert den Mitschnitt bereits nach drei Wochen

PETER ADAMIK aus und erhofft sich einen Absatz in mehr- Berliner-Philharmoniker-Chef Rattle: Glamour und Gloriole fach fünfstelliger Höhe. In den – auch optisch aufgemöbelten – Innereien der Philharmonie wird eine Aus- MUSIK stellung über Rattles Vorgänger arrangiert. Im Schatten der Ahnengalerie lädt Josef Ackermann, als oberster Deutscher Banker Hörsturz in der Hauptstadt neuer Wohltäter des philharmonischen Eli- tetrupps, zum Abendmahl. Johannes Rau Mit einem Galakonzert beginnt der britische kommt zu lauschen und zu tafeln, in seinem Gefolge alle namhaften Schöngeister der Stardirigent Sir Simon Rattle Ende dieser Woche seine Hauptstadt – echte und selbst ernannte. So Amtszeit als Chef der Berliner Philharmoniker. kann es denn richtig losgehen mit dem Ruck durch Deutschlands promi- ieser Mann ist ein Lacherfolg. Hier nentestes Konzerthaus. ein Joke, da ein Bonmot. Gerade Doch auf diese Weise? Dnoch leiser Filou, im nächsten Mo- Wenn der neue Amtsinha- ment Clown, schräg, bühnenreif. Im Ge- ber am kommenden Frei- spräch oder im kleinen Kreis spielt er gern tag den Taktstock hebt, Simon im Wunderland. Charming das Gan- bimmeln zunächst ein paar ze, locker und herrlich britisch. Das ist der Kuhglocken, dann tönt zu Popstar Rattle, der mit dem Glamour. hohem Bläsergezirp sin- Aber auch die andere Nummer steht auf nenfroh ein Horn, und die seinem Programm: der fanatische Einpau- Streicher tuscheln und ku- ker, der radikale Erneuerer. In Birming- scheln. Klingt ganz so, als ham, am Startplatz seiner Karriere, hat er wollte der Neue sich ein- in 18 Jahren 934 Konzerte gegeben und schmeicheln. mehr als 10000 Stunden geprobt. Wer ihn Aber das Opus 17 des bri- wählt, muss auf viel gefasst und darf auf tischen Zeitgenossen Tho-

noch mehr gespannt sein. Das ist der Pult- / BILDERBERG ENGLER mas Adès, das Rattle zur star Rattle, der mit der Gloriole. Berliner Philharmonie: Feuer und Flamme Berliner Startnummer ge- Sein Job, sagt er, sei „alles andere als ein wählt hat, heißt „Asyla“, Kinderspiel“: so eine philharmonische Bri- zu bringen habe, dann ist es Freude.“ Sein und das meint, durchaus doppeldeutig, Zu- gade mit über 100 Köpfen und Instrumen- Glaubensbekenntnis steht ihm meist ins fluchtsorte und Irrenanstalten. Und so ten und Spielweisen durch Hunderte von Gesicht geschrieben: Beim Schlussakkord bricht denn auch plötzlich der Wahnsinn Notenblättern auf ein dünnes Stöckchen strahlt Her Majesty’s geadelter Lockenkopf aus, die Musik dreht durch. Trompeten einzuschwören und auf diese Weise Klang gern in cinemascopischer Breite. schmettern, Posaunen röhren, das Schlag- zu erzeugen, und zwar intelligent und kor- Diese Woche hat Sir Simon Rattle, 47, zeug wuchtet. Philharmonischer Techno. rekt und auch noch richtig schön. Egal, ob besonders gut lachen: Er ist ganz oben an- Solch haarigen Stoff wird Rattle den bei strengem Bach oder in Wagners „herr- gekommen, auf dem Hochsitz von Nikisch, Berlinern demnächst häufiger zumuten: lich maßlosem ‚Tristan‘“. Furtwängler, Karajan. Für zehn Jahre über- „Asyla“ ist nur ein Vorgeschmack auf den Aber was rüberkommen soll, ist vor al- nimmt er die Leitung der Berliner Phil- drohenden Hörsturz in der Hauptstadt. lem eines: dass ihm Musik Spaß macht und harmoniker und damit die Regentschaft Vorbei die seligen Zeiten, da die phil- dass dieser Spaß ansteckt: „Wenn ich etwas über eines der besten und stolzesten Or- harmonischen Programme vor allem klas-

184 der spiegel 36/2002 Werbeseite

Werbeseite Kultur sischen Liebreiz und romantische Seelsorge Doch der lächelnde Rattle hat einen Dick- Dienstes. Die personalidentischen „Berli- verstrahlten. Aus dem abgehangenen Stan- schädel und das selbstbewusste Orchester ner Philharmoniker“ hingegen traten als dardsortiment bietet Rattle seinem Publi- den Dünkel der Erwählten. An Grund für profitorientierte Gesellschaft bürgerlichen kum statt der gewohnten Filetstücke allen- Stunk wird es nicht fehlen. Rechts auf und sahnten ohne Rücksicht auf falls Spar-Ribs: In den 44 Konzerten, die Schon bei Rattles ersten Gastauftritten Öffentlichen Dienst und künstlerische An- der Neue für seine erste Saison eingeplant vor mehr als zehn Jahren gab es schlagen- sprüche auf dem freien Markt der Medien hat, kommen Mozart und Beethoven de Wetter. Die von Rattle gewünschte phil- ab – ein Unding, an dem bis dahin keiner kaum, Schumann und Brahms überhaupt harmonische Erstaufführung der (nachträg- zu rütteln wagte. nicht vor; Schluss mit Schlemmen. lich vervollständigten) 10. Mahler-Sinfonie Nun ist, dank Rattle, nach über zwei- Stattdessen annonciert Rattle Filigranes beispielsweise fiel aus, weil die Philhar- jährigem Machtkampf Schluss damit: Die von Debussy, Frommes von Messiaen und moniker das Stück schlichtweg nicht moch- beiden Schein-Orchester wurden in eine vielerlei extravagante Spezereien: Henzes ten. Eine geplante Bartók-Aufnahme schei- Stiftung überführt und verschmolzen, die neue (10.) Sinfonie beispielsweise, ein Auf- terte am Eigensinn des Orchesters: Das einst allmächtigen Vermarkter entmachtet, tragswerk des Neutöners Heiner Goebbels hielt sich nicht an die vereinbarte Beset- die Rechte des neuen Chefdirigenten auf- oder, abendfüllend, die düstere Suite zung. Die Proben für eine Haydn-Sinfonie gewertet: Rattle ist jetzt auch Künstleri- scher Leiter der Philharmonie und zudem im Stiftungsvor- stand – rein rechtlich ein Über- Karajan. Doch ein Hosianna über die endlich geordneten Verhält- nisse scheint verfrüht. Schon tritt die noch blutjunge „Stif- tung Berliner Philharmoni- ker“ als Konzertveranstalter auf und hat für Ende Septem- ber pikanterweise die Wiener Philharmoniker, Konkurren- ten seit alters her, in die Ber- liner Philharmonie geladen – zu Eintrittspreisen, die weit unter der Norm für derlei Ga- las liegen. Das gibt Ärger. Denn dagegen wehrt sich der Verband der Deutschen Konzertdirektionen mit einer Klage: Die Stiftung würde mit Mitteln der öffentlichen Hand „die Preise privater Konkur- renten unterbieten“ und ver- halte sich „in Vernichtungs- absicht wettbewerbswidrig“. Die attackierte Institution kon- tert, es sei ihre Pflicht, „hoch-

RUTH WALZ RUTH karätige Musik zu Preisen an- „Tristan“-Aufführung unter Rattle in De Nederlandse Opera in Amsterdam (2001): „Öffnung zur Weltmusik“ zubieten, zu denen die Mit- glieder des Klägers eine Ver- „Blood on the Floor“, in der sein Lands- liefen aus dem Ruder, weil die selbstherr- anstaltung nicht durchführen können.“ mann und Zeitgenosse Mark Anthony lichen Musiker einen Teil der Streicher Jetzt muss der Kadi entscheiden. Turnage den Herointod seines Bruders aus- nach Hause geschickt hatten, ohne den Pikanterweise sind dieselben Berliner gemalt hat: Tonkunst aus dem Fixermilieu. Dirigenten auch nur zu informieren. Philharmoniker wegen derselben Wiener Eine Zumutung ist Rattles Reform Nach seiner Wahl zum Chef im Juni 1999 Philharmoniker gleichzeitig über ihren gleichwohl nicht. Im Gegenteil: Nach 34 war Rattle also gewarnt: Die Philharmonie neuen Boss verschnupft. Rattle, so die traditionshörigen Karajan-Jahren und trotz konnte, wie sein Biograf Kenyon urteilt, Meuterer in Berlin-Mitte, hätte den saf- programmatischer Reformen durch Rattles durchaus eine „Schlangengrube“ sein, Vor- tigsten Brocken aus dem internationalen Vorgänger Abbado haben die Berliner sicht schien geboten. Und eins war von Plattentopf, seine Live-Produktion aller Philharmoniker eine Wende ins Präsens Anfang an klar: Unter dem dualen System, Sinfonien und Klavierkonzerte Beetho- bitter nötig. Rattle wird Remedur schaffen an dem sich das Orchester jahrzehntelang vens, ausgerechnet den österreichischen (müssen), und noch scheinen auch die Mu- gesund gestoßen hatte, würde er in kei- Gegenspielern zugeschustert, wo doch siker Feuer und Flamme: für Rattles „Öff- nem Fall arbeiten, tat Rattle gleich zu Be- auch seine Berliner am karg gewordenen nung des Repertoires zur Weltmusik“, für ginn seiner Vertragsverhandlungen kund. CD-Tropf hingen und barmten. die „große pädagogische Koalition von Er wusste, warum. Eine Abordnung des Orchesters ver- Klassik und Jugend“, kurz, für den radi- Seit der von Karajan vergoldeten Blüte- suchte, den Chef umzustimmen und den kalen Wandel vom altbackenen Spielverein zeit der Schallplatte bildeten Berlins Star- Auftrag doch noch zu angeln. Aber Rattle zum „Klangkörper des 21. Jahrhunderts“. musiker einen Klangkörper mit Januskopf: blieb hart: „Ich kann doch meine Berliner Bleibt abzuwarten, ob all das gut geht. Das „Berliner Philharmonische Orchester“ Amtszeit nicht mit einem Wortbruch in Jetzt, während der Flitterwochen des neu- war eine subventionierte Institution des Wien beginnen.“ Diesmal lacht er nicht. en Bundes, wird beiderseits in die Harfe Senats, seine Mitglieder waren besser Er lächelt bloß, und das gequält. gegriffen: kein schöner Land in dieser Zeit. verdienende Angestellte des Öffentlichen KLAUS UMBACH

186 der spiegel 36/2002 Werbeseite

Werbeseite WOLFGANG LANGENSTRASSEN / DPA / DPA LANGENSTRASSEN WOLFGANG Schriftsteller Grass (1999), Arbeitsdienstler Grass (1944): Was der Soldat erlebt, könnte der Dichter erfunden haben

AUTOREN „Als ich die Angst schätzen lernte“ Der Dichter im Krieg: Michael Jürgs über den jungen Günter Grass Am 16. Oktober wird der Es blieben die folgenden Stunden im nahe alt, die ungeduldig auf den Krieg warteten. Schriftsteller Günter Grass 75. gelegenen Luftschutzraum, dem ehemali- Sie kommen nicht mehr zurück, liegen jetzt Aus diesem Anlass erscheint im gen Bierkeller der Thomasbrauerei, Ein- irgendwo verscharrt in den Weiten Russ- Bertelsmann-Verlag die erste schlag um Einschlag, gespeichert im Kopf. lands. Jeden Tag, noch bevor es richtig hell umfangreiche Biografie über Eine ähnliche Situation des Schreckens – ist, müssen die Neuen antreten, werden in den Nobelpreisträger: „Bürger flackernde Glühbirnen, weinende Kinder, einer Ausbildungskompanie gedrillt.

LAIBLE Grass“. Biograf Michael Jürgs, luftraubender Staub – ist in der „Blech- Es läuft so brutal ab, wie es der Schüler 57, ehemals Chefredakteur trommel“ beschrieben, wenn sich Oskar mit Günter in Erich Maria Remarques Roman der Zeitschriften „Stern“ und „Tempo“, der Liliputanerin Raguna in einem Berliner „Im Westen nichts Neues“ gelesen hat. Da- schrieb unter anderem Bücher über Luftschutzkeller in Sicherheit bringt, weil von erzählt er übrigens mal dem Kollegen Romy Schneider, Axel Springer und Luftalarm ausgelöst wurde. Autobiografisch Remarque anlässlich eines nachbarschaft- Richard Tauber; er lebt in Hamburg. Der diese Angst, absolut autobiografisch, be- lichen Besuchs im Tessin, wo Grass in den SPIEGEL veröffentlicht einen Auszug drohlich, wie sie der junge Günter erlebt sechziger Jahren mit seiner Familie regel- aus dem dritten Kapitel der Grass-Bio- haben muss. „Absolut nicht, das ist in ganz mäßig den Sommer verbringt. grafie, das die Jahre 1944 bis 1952 um- andere Dimensionen übersetzt, aber natür- Die Jungen werden schikaniert und ge- fasst. Das Buch erscheint nächste Woche. lich begünstigt aus eigener Erfahrung und schliffen, zynisch unter dem Motto „Boden- Erkenntnis“, widerspricht der alte Grass. freiheit messen“ angekündigt, was konkret unächst sieht er von Berlin nur bren- Eigene Erfahrung also: Weiterfahrt, raus bedeutete, unter einem verrosteten Panzer, nende Hinterhöfe. Der Truppen- aus der brennenden Metropole, bis zur vor- der unsicher im bereits herbstsumpfigen Ztransport, in dem der 16-jährige Gün- gesehenen Endstation in der Nähe von Schlamm stand, vorsichtig auf dem Rücken ter Grass mit vielen anderen hockt, die Dresden. Unterbringung in einer Kaserne. liegend durchzukriechen. Allen war die auch erst so alt sind wie er, fährt im Schritt- Da gibt es genügend leere Betten. In denen tödliche Gefahr bewusst, jederzeit von der tempo an rauchenden Trümmern vorbei. lagen vor ihnen andere, kaum 19, 20 Jahre Masse erdrückt werden zu können. Die Häuser, zu denen sie mal ge- Die Ausbilder genossen ihre hörten, stehen dicht an den Schie- Macht und spielten mit der Furcht nen, die sich wie Schneisen durch der Rekruten. Jagten sie anschlie- die Großstadt ziehen. Wer da ßend mit aufgesetzter Gasmaske wohnt, hat mit dem nie endenden auf schrägem Hang so lange im Rattern der Räder, das sich Tag Kreis herum, bis sie aus Erschöp- und Nacht an den Mauern bricht, fung nicht mehr konnten. Die zu leben gelernt. Seit den Angrif- Wut der Getriebenen ist groß, fen der alliierten Bomber jedoch aber ohnmächtig. Einige schwö- kommen Tag und Nacht neue ren, sich zu rächen, falls sie einem Geräusche hinzu. Die Mauern dieser verdammten Schleifer mal brechen tatsächlich. zufällig an der Front begegnen Plötzlich stoppt der Zug. Heu- würden. Ist wohl auch passiert, lende Sirenen. Feindliche Flug- aber leider wohl zu selten. zeuge dröhnen am Himmel. Alle In den letzten Monaten des

raus, schnell, schnell. So etwas hat- NOVOSTI Krieges treffen hier auf weitem te Günter Grass noch nie erlebt. Sowjetischer Vormarsch auf Berlin (1945): „Iwan, Iwan“ Feld hinter den Kasernen die Jun-

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Werbeseite Kultur gen, die Abenteuer herbeisehnen, auf des- dem ging mein Schwenk nicht schnell gekündigt wird dieser mit martialischen illusionierte Alte, die abkommandiert genug, und er trat mich ins Kreuz. Ich Parolen als Entlastungsangriff für die wurden von der Luftwaffe, weil die kaum schlug mit dem Auge gegen einen metal- kämpfende Truppe mittels moderner Jagd- noch Maschinen hat, also kein Boden- lenen Aufsatz und wurde richtig wütend panzer, doch es bleibt bei der Ankündi- personal mehr braucht. Die Männer wer- vor blindem Schmerz. Am liebsten hätte gung. Die Panzer waren zuvor schon auf den deshalb verächtlich, aber wegen mög- ich dem gleich eine reingehauen, aber der Minen gefahren und deshalb ausgefallen. licher linientreuer Mithörer lieber flüs- Feldwebel hielt mich fest, beruhigte mich. Grass ist bei seinem ersten Einsatz ternd, Hermann-Göring-Spende genannt. Am Ende der Übung ging es zurück in Panzerschütze ohne Panzer, und schon die- Ihr täglich ausgeübter Druck, der die pu- die Kaserne. Der Feldwebel befahl mir, sen ersten Einsatz hat er nur knapp über- bertären Aggressionen von Jugendlichen meinen Stahlhelm aufzubehalten und lebt. Was dabei allerdings passierte, hört gegen Erwachsene steigert, hat allerdings ihn zum Rapport zu begleiten. Und dann sich, trotz aller Tragik einzelner Schicksa- manchmal grotesk anmutende hat er einem höheren Vorge- le, nacherzählt wieder so absurd, so Folgen. setzten Meldung erstattet, wie komisch an, wie von Grass, Dichter, er- An die erinnert sich der Lieb- „Es roch nicht unmenschlich mich, den ihm ja funden und nicht wie von Grass, Soldat, haber des Grotesken natürlich nach Helden- anbefohlenen Richtschützen, der selbst erlebt. genau. Ob ich denn wisse, was Leutnant behandelt hatte. Er Geschehen ist es in der Nähe von Sprem- ein Richtschütze sei, fragte mich tod, es roch wurde degradiert, stellen Sie berg. Die deutschen Truppen waren auf Günter Grass, als er davon er- nach einer sich das vor, degradiert. Auf der der Flucht, nicht nur an diesem Frontstück zählte, und nuckelte an der voll gepinkelten einen Seite haben die in diesem hatte die Dämmerung der braunen Götter Pfeife. Ich schüttelte den Kopf, Hose.“ Verbrecherregime Menschen ge- begonnen. Sie brauchten dringend Kano- keine Ahnung, Militärisches hat quält, bis denen buchstäblich nenfutter. Letzte Reserven wurden, wenig mich noch nie interessiert. Blut und Wasser aus allen Poren mehr als hundert Kilometer von den Gren- Also macht er mich kundig: „In den lief, aber auf der anderen Seite galt bis zen Berlins entfernt, gegen die vorrücken- drei noch funktionstüchtigen Panzern auf zum Schluss irgendeine Heeresvorschrift, de sowjetische Armee eingesetzt. dem Gelände wurde, jeweils in wechseln- die unter Strafandrohung eingehalten wer- Alles natürlich längst nur noch Rück- der Besetzung, trainiert für den bevor- den musste.“ zugsgefechte, doch im Großdeutschen stehenden Ernstfall. Ein Leutnant als Kom- Noch funktioniert die Post einiger- Rundfunk als taktische Meisterleistung des mandant, ein Feldwebel als Ladeschütze, maßen, Günter Grass hätte Briefe nach Führers, als freiwillige Frontbegradigung ich als Richtschütze, abwechselnd Ziel Hause schreiben und zu seinem 17. Ge- verkündet. Grass, 17 Jahre alt, war einem suchend, Turm schwenkend. Der Kom- burtstag auch welche bekommen können. Stoßtrupp zugeteilt, der die in Wahrheit mandant saß über mir, gab seiner Be- Mit kleinen Freuden des Alltags ist es vor- unübersichtliche Lage erkunden sollte. zeichnung entsprechend Kommandos und bei, als nach ein paar Wochen der Ausbil- Unterwegs hatten sie zwei Verwundete auf- schaute aus seinem Zielfernrohr raus, dung wirklich der Ernstfall beginnt. An- gesammelt, so genannte Freiwillige, die zum Volkssturm gezwungen worden wa- sie viele Biwakfeuer mit dunklen Gestal- ren. Fahrzeuge gab es nicht. ten, aber die sangen russische Lieder, keine Dem Jüngsten wurde befohlen, sich in vom Hänschen klein. Sie waren von Fein- der Dunkelheit an die nächste erreichbare den umgeben. Also schlugen sie sich Straße zu stellen und zu warten, ob ein möglichst geräuschlos durchs Gebüsch, im- Lastwagen vorbeikomme, der die verletz- mer in der Sorge, entdeckt zu werden. ten alten Männer mitnehmen könnte. Es Grass schleppte zwar eine italienische Ma- kam tatsächlich einer, aber der fuhr mit schinenpistole mit, hätte aber im Bedarfs- aufgeblendeten Scheinwerfern und hatte fall gar nicht gewusst, wie er die bedienen eine Stalinorgel auf der Ladefläche, gehör- musste. Nach einem Spurt über eine te also ganz offensichtlich nicht zur deut- Brücke, begleitet von Schüssen, die sie schen Wehrmacht. „Ich habe noch gerufen aber verfehlten, nach einem Dauerlauf ‚Iwan, Iwan‘ und mich instinktiv rechts in über lehmige Äcker, erreichten sie ein eine Kiefernschonung geworfen, und da Dorf. Am Ortseingang war ein deutscher hörte ich auch schon eine Explosion.“ Was Panzer als Sperre eingegraben. Daneben aus den anderen seiner Gruppe geworden ein Haus, in dem Licht brannte. Davor Sol-

ist, hat er nie erfahren. DIZ daten in vertrauten Uniformen. Sie glaub- Soldat Grass war allein im Wald, und es Hingerichteter Deserteur (1945) ten, unter Kameraden zu sein. Von wegen. war Nacht, und er hatte Angst. Es roch „Laut pfeifen und sich selbst Mut machen“ Sie hatten auf deren Befragen keine nicht nach Heldentod und Abenteuer, es Marschbefehle vorzuweisen, nur eine pas- roch nach seiner voll gepinkelten Hose. Ir- zweiflung. Erst als der Unbekannte die Me- sende Geschichte zu erzählen. gendwann vernahm er näher kommende lodie zurückpfiff, wusste er, dass es kein Wer aber ohne gültige Papiere erwischt Geräusche, hörte jemanden durchs Unter- Feind sein konnte, der im Dunkeln auf ihn wurde in diesem Mittelabschnitt, der dem holz tapsen. Da pfiff der Junge in seiner lauerte. Nazi-Bluthund Feldmarschall Schörner Furcht den Anfang von „Hänschen klein Wie sich herausstellte, war der Pfeifer unterstand, galt als Deserteur, wurde von geht allein in die weite Welt hinein“, denn aus dem Wald ein „mit allen Wassern ge- einem Standgericht zum Tode verurteilt „laut pfeifen, sich so Mut zu machen ist als waschener“ Obergefreiter, im Zivilberuf und anschließend aufgeknüpft. Überall Methode überliefert“, wird Dichter Grass Friseur in Berlin. Junge, sagte der, als Ers- schon hatte Günter Grass sie hängen sehen mal in einer seiner Reden als Empfehlung tes müssen wir hier weg, und dies schnell. in den Dörfern, durch die er vor jener für alle Fälle des Lebens vortragen. Klingt Gemeinsam robbten sie raus aus dem Attacke am Kiefernwald gekommen war, im Nachhinein souverän und gut, aber da- Wald. Am Rand der Wassergräben, die Jungs seines Alters an den Bäumen der mals ging es um Leben oder Tod und war den Forst umgaben und gegen die abge- Hauptstraßen, die „in der Regel Adolf-Hit- nur ein spontaner, riskanter Einfall aus Ver- ernteten Weizenfelder abgrenzten, sahen ler-Straße hießen“, oder erwachsene Män- Kultur ner, Pappschilder um den Hals, auf denen ter in der Schulter, der verkapselt heute stand: „Ich bin ein Feigling“. noch in ihm steckt, und einem Streifschuss Auch dieses verdrängte Kapitel deut- am Bein. Diese Kugel hatte Folgen. Ge- scher Geschichte hat Grass nie verges- troffen worden war dabei eins der aus dem sen. Mehr als 20 000 deutsche Soldaten Keller geklauten Gläser mit Stachelbeer- sind als Deserteure zum Tode verurteilt grütze. Die lief nun süß klebrig an ihm her- worden. Immer wieder fordert er öffent- unter und lockte in den nächsten Tagen lich Gerechtigkeit für die „eigentlichen Helden des Krieges“, weil die es waren, die den Mut hatten, „sich der verbreche- Bestseller rischen Tat zu verweigern. Sie brach- ten die Größe auf, Angst zu zeigen. Sie Belletristik folgten nicht blindlings jedem Befehl. 1 (1) Diana Gabaldon Das flammende Ungehorsam hieß ihre Tugend“, schreibt er zum 50. Jahrestag des Kriegsendes Kreuz Blanvalet; 29,90 Euro an den japanischen Literaturnobelpreis- 2 (2) Jonathan Franzen Die Korrekturen träger Kenzaburo Oe, der in seinem Ant- Rowohlt; 24,90 Euro wortbrief eigene Erfahrungen des Um- gangs mit Deserteuren in 3 (–) Nicholas Sparks Das Lächeln Japan schildert. Die ent- der Sterne Heyne; 17 Euro sprechenden Urteile der 4 (–) Patricia Cornwell Das letzte Revier Kriegsgerichte sind im Fe- bruar 1995, als sie ihren Hoffmann und Campe; 21,90 Euro Briefwechsel beginnen, in 5 (–) Stephen King/Peter Straub beiden einst verbündeten Das schwarze Haus Heyne; 26 Euro Ländern noch immer nicht aufgehoben, das Thema De- 6 (10) Paulo Coelho Der Alchimist serteure noch immer ein Diogenes; 17,90 Euro Tabuthema. Neues für Der Friseur aus Berlin und Scarpetta-Fans: 7 (5) Minette Walters Der Nachbar Die Gerichts- Goldmann; 22,90 Euro der Junge aus Danzig, die medizinerin wird ein Zufall zu Kriegskamera- des Mordes an 8 (3) Henning Mankell Wallanders den gemacht hat, wurden einer Konkurren- erster Fall und andere Erzählungen über Nacht in den Keller ge- tin verdächtigt sperrt, alles Weitere sollte Zsolnay; 24,90 Euro am nächsten Tag verhandelt werden. To- 9 (4) Doris Dörrie Das blaue Kleid desangst hatten sie, wie sich Grass erin- Diogenes; 16,90 Euro nert, seltsamerweise nicht, aber gewaltigen Hunger. Deshalb machten sie sich erst ein- 10 (8) Donna Leon Das Gesetz der Lagune mal über die Töpfe und Einweckgläser in Diogenes; 19,90 Euro den Regalen her, stopften sich und ihre 11 (6) Martin Walser Tod eines Kritikers Taschen mit allem voll, was es gab. Es schi- en sich um den Vorratskeller eines Bau- Suhrkamp; 19,90 Euro ernhofs zu handeln. 12 (14) Günter Grass Im Krebsgang Auch aus diesem klassischen Mundraub Steidl; 18 Euro sollte sich wieder eine klassische Grass- Geschichte mit absurden Folgen ent- 13 (7) Joanne K. Rowling Harry Potter wickeln. Da sie am anderen Morgen keine und der Feuerkelch Carlsen; 22,50 Euro Geräusche mehr über sich hörten, schlich 14 (12) John Grisham Die Farm Günter vorsichtig die Treppe hinauf. Die Kellertür war nicht mehr verschlossen. Er Heyne; 22 Euro schaute raus und machte sich kundig. Die 15 (15) Joanne K. Rowling Harry Potter Panzersperre war verlassen, die gestern und die Kammer des Schreckens noch strammen Verteidiger des deutschen Carlsen; 14,50 Euro Restvaterlandes hatten sich nachts aus dem Staub gemacht, nach Westen. 16 (9) Joanne K. Rowling Harry Potter So machten sich auch die beiden aus und der Gefangene von Askaban dem Keller auf den Weg. Richtung Cottbus. Carlsen; 15,50 Euro Im Nacken die vorrückende feindliche In- fanterie, neben sich einen stetigen Strom 17 (13) Elizabeth George Vergiss nie, dass von Flüchtlingen. Als sie auf eine Einheit ich dich liebe Blanvalet; 19,90 Euro der Wehrmacht stießen, konnte sie nach 18 (–) Håkan Nesser Der Tote vom Strand ihren Papieren keiner fragen. Denn es be- gann an genau diesem Zeitpunkt überfall- BTB; 21,90 Euro artig ein Gefecht, schlugen Granaten von 19 (11) Paul Auster Das Buch der Illusionen russischen Panzern ein, fielen Schüsse, Rowohlt; 19,90 Euro schrien voller Panik jene Offiziere, die ge- rade den starken Mann gegeben hatten. 20 (16) Jean M. Auel Ayla und der Stein Günter Grass erwischte es mit einem Split- des Feuers Heyne; 25 Euro

192 der spiegel 36/2002 ganz andere Heerscharen an, hungrige sachen für Nichtleser“ verdichtend erin- Ameisen. Deren Bisse waren schmerz- nert: „Als ich mit meinen siebzehn Jahren hafter als die Verwundung. Waschen konn- / und einem Kochgeschirr in der Hand, / te er sich nirgends, eine zweite Hose besaß gleich jenem, mit dem meine Enkeltochter er nicht. Luisa / auf Pfadfinderreise geht, am Rand / In einer „Kurzen Geschichte“ hat sich der Straße nach Spremberg stand / und Grass in den ironisch-biografischen „Fund- Erbsen löffelte, / schlug eine Granate ein: / Die Suppe verschüttet, / doch ich kam / Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fach- leicht angekratzt nur / und glücklich davon.“ magazin „Buchreport“; nähere Informationen und Auswahl- kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller Seinen Begleiter, den Friseur, hatte es wirklich schlimm getroffen, dem hatte ei- Sachbücher ne Granate beide Beine zerfetzt. Er lag da, blutend, 1 (4) Oriana Fallaci stöhnend, grün im Gesicht Die Wut und der Stolz List; 18 Euro und bat ihn um eine Ziga- 2 (1) Dalai Lama Der Weg zum Glück rette. Bevor Grass ihm die Herder; 16,90 Euro anzünden und zwischen die 3 (8) Stefan Klein Die Glücksformel Lippen stecken konnte, rich- Rowohlt; 19,90 Euro tete er sich aber halb auf und „verlangte von mir: 4 (3) Werner Tiki Küstenmacher/ schau nach, Junge, ob mein Lothar J. Seiwert Simplify Skandalöser Ver- Sack noch dran ist, los, your life Campus; 19,90 Euro kaufsschlager: mach schon“. Der war noch Die italienische 5 (–) Markus Wolf Freunde sterben nicht Journalistin wet- dran. Das Neue Berlin; 17,50 Euro tert gegen die Auch dieses Erlebnis hat muslimische Welt Günter Grass, der gerühmt 6 (16) Hans-Olaf Henkel wird, sich alles merken zu Die Ethik des Erfolgs Econ; 22 Euro können, alles zu speichern und bei Bedarf 7 (6) Marion Gräfin Dönhoff abzurufen, für eine Szene in der „Blech- Was mir wichtig war Siedler; 18 Euro trommel“ verfremdend benutzt. Wäh- 8 (5) Waris Dirie Nomadentochter rend des Kampfes um die Polnische Post Blanvalet; 21,90 Euro in Danzig wird Hausmeister Kobyella getroffen. Schon tödlich verwundet, 9 (7) Peter Scholl-Latour Der Fluch des fordert er seinen Mitstreiter Jan Bronski neuen Jahrtausends C. Bertelsmann; 22 Euro auf, zwischen seinen Beinen zu forschen, 10 (12) Spencer Johnson ob noch alles da sei. Die Mäuse-Strategie für Manager Erst danach beginnt Ariston; 14,90 Euro das makabre letzte „Todesangst Skatspiel, in dessen 11 (2) Martin Doerry Mein verwundetes hatten sie Verlauf er stirbt und Herz DVA; 24,90 Euro dennoch als Toter die seltsamerweise 12 (–) Milda Drüke Die Gabe der Karten in den Hän- nicht – aber Seenomaden Hoffmann und Campe; 21,90 Euro den halten soll, weil gewaltigen 13 (9) Stephen Hawking man den dritten Hunger.“ Das Universum in der Nußschale Mann zum Skat eben Hoffmann und Campe; 25,95 Euro braucht. So plötzlich, wie er begann, ist der An- 14 (14) Kathrin Finke/Rainer Karchniwy griff vorbei. Es liegen um Grass herum die „Erzählt mir doch nich, dasset Leichen zerrissener Soldaten, die meisten nich jeht!“ Mitteldeutscher Verlag; 15 Euro nicht älter als er. Es zwitschern wieder die 15 (10) Traudl Junge Bis zur letzten Vögel in der Schonung, als ob nichts ge- Stunde – Hitlers Sekretärin erzählt schehen sei. Es verlangt ein Major, der ge- ihr Leben Claassen; 19 Euro rade vor Angst die Hosen voll geschissen 16 (17) Dona Kujacinski/Peter Kohl hat und noch stinkt, wieder Respekt vor Hannelore Kohl – Ihr Leben seinem Rang. So wie die frühen Erlebnis- Droemer; 19,90 Euro se seiner Kindheit haben ihn einige Er- kenntnisse nach diesem Angriff geprägt: 17 (15) Donata Elschenbroich dass man vor angeblichen Helden keinen Weltwissen der Siebenjährigen Respekt haben muss. Dass sich die Natur Kunstmann; 16,90 Euro um den Tod von Menschen nicht schert. 18 (11) Susanne Fröhlich/Constanze Vor allem seine Erfahrung, „als ich die Kleis Jeder Fisch ist schön – wenn Angst schätzen lernte“, war hilfreich. er an der Angel hängt W. Krüger; 16,90 Euro Denn wer einmal richtige Todesangst ge- habt hat, beschissene Furcht, stürmt nie 19 (–) Helmut Schmidt/Sandra mehr blindlings auf Befehl ins Verderben. Maischberger Hand aufs Herz Grass umschreibt es so, „dass ich nur zu- Econ; 20 Euro fällig lebe“ und er deshalb die Pflicht habe, 20 (20) Robert Gordon Elvis auch im Namen derer zu sprechen, die ge- Goldmann; 49,90 Euro fallen sind. ™

der spiegel 36/2002 193 Kultur

zerte ausverkauft, Zusatzarenen konnten gebucht werden, so was braucht Vorlauf. POP Die neue Platte von Herbert Gröne- meyer wurde sehnsüchtiger und mit min- destens ähnlicher Heilserwartung herbei- Die Krönung der Erschöpfung gesehnt als die Vorschläge der Hartz-Kom- mission. Die letzten Alben des mit dem Benjamin von Stuckrad-Barre über Lied „Männer“ und einer Hauptrolle im Film „Das Boot“ Anfang der achtziger „Mensch“, die neue Platte von Herbert Grönemeyer Jahre sehr bekannt gewordenen Künstlers waren stets zeitnah zu Bundestagswahlen Stuckrad-Barre, 27, lebt in Es wird im zwischenmenschlichen Be- erschienen und wurden von der großen Berlin und veröffentlich- reich rumgestochert, wenn Herbert Gröne- Gemeinde als Nebellaternen genutzt, die te zuletzt den Prosaband meyer eine neue Platte veröffentlicht, Textheftchen waren die Mundorgeln einer „Deutsches Theater“ (Ver- sein Status erlaubt es ihm wie jedem erfolg- diffus sich als „irgendwie links“ einord- lag Kiepenheuer & Witsch, reichen Künstler, Interviews meistbietend nenden Schar Lichterkettensteher. 2001) zu verschachern: Titelblatt gegen Exklusiv- Zur so genannten Wiedervereinigung gerede, mehrseitige Fotostrecke gegen Vor- pünktlich erschien eine klar durchfor-

n dieser Woche erscheint PRESS MEYER / ACTION THOMAS abmaterial. Üblich wie legitim sind diese mulierte, dadurch etwas dröge Platte, die eine neue Platte von Her- Tauschgeschäfte, Werbung muss sein, aber Grönemeyer heute als seine „bornierteste, Ibert Grönemeyer, und wenn eine neue dann bitte mit maximaler Wirkung, so ent- langweiligste“ bewertet, und die hieß tat- Platte von Herbert Grönemeyer erscheint, fällt die Komplettprostitution. Der Verweis sächlich „Luxus“. Seine Funktion zu jener sind sofort alle Zeitungen und Sender voll aufs neue Werk fällt pflichtschuldig und Zeit war definiert, seine Posen wurden damit. Mit ihm, weil immer ein unglaub- unverfänglich aus, etwa mit knallharten automatistisch, die Gesellschaftskritik wur- liches Buhei veranstaltet wird, wenn eine Sachfragen der Sorte: Was ist an Ihrer neu- de zum keyboardbeladenen, risikolosen neue Platte von Herbert Grönemeyer er- en Platte anders? Wie finden Ihre Kinder Selbstläufer. Luxus eben. scheint, alles sehr wichtig und geheim, die neuen Lieder? In jener Zeit wurde bei Grönemeyers wer spricht ihn zuerst, wer fotografiert Als Grönemeyer im Juni eine Presse- Frau Anna Henkel Brustkrebs diagnosti- ihn wann, und wer hat die Platte bereits konferenz in London gab, damit der Tru- ziert. Man mag die Litanei von der der im Blatt, bevor der Künstler sie im Kasten bel beginnen konnte, der Kartenvorver- Kunst dienlichen Leidenserfahrung aus berechtigten Kitschverdachtsgründen nicht allzu vorschnell anwenden, doch in der Rückschau stellt diese private Zäsur auch einen jähen Bruch in Grönemeyers Musik dar. 1993 erschien mit „Chaos“ seine im Grunde erste wirklich gute Platte, natür- lich hatten die davor ihre Zeit, ihre un- sterblichen Hits, ihre Platinveredelungen, ihre Rekordumsätze. Doch „Chaos“ war schwieriger, tiefer, weniger schubidu. Es ist natürlich ein Leichtes und ebenfalls sehr kitschig, im Nachhinein mit klarer Such- vorgabe ein Werk auf Hinweise auszu- wringen, man wird Belege für alles finden, doch die Zahl der Vorausahnungen und Unwetterwarnungen, wörtlich wie über- tragen, die Grönemeyers Lieder seit den

JÖRG CARSTENSEN / DPA (L.); EMI (R.) / DPA JÖRG CARSTENSEN neunziger Jahren enthalten, ist exorbitant. „Die Natur nimmt das Heft in die Hand“, sang er auf „Chaos“, „jede Ord- nung verschwimmt“, die radikalen Untergangssze- narien hatten dabei etwas irritierend Optimistisches – oder hysterisch Vergnügtes? Helmut Kohl wurde noch Sänger Grönemeyer, CD-Cover: „Habe dich sicher in meiner Seele“ mal gewählt. 1998 erschien vor Schröders lauer Periode hat, so ungefähr geht der Wettbewerb, kauf der großen Konzert- Grönemeyers „Bleibt alles weil Herbert Grönemeyer ein Superstar ist. reise startete schließlich, anders“. Seine Frau, be- Dadurch liest man dann meist sehr früh wurde sehr luftig über kannte er später, habe ihm sehr viel darüber, dass Herbert Gröne- die neuen Lieder gesprochen, hören durf- recht hanseatisch-herzlich zu seiner „ersten meyer eine neue Platte aufgenommen hat, te sie niemand, aber den Termin verpassen guten Platte“ gratuliert. „Stell die Uhr auf aber wie die eigentlich klingt, diese neue auch nicht, weil ja alle da gewesen sein null, wasch den Glauben im Regen“, sang Grönemeyer-Platte, das steht kaum je ir- würden. Und waren, natürlich. Die Platte er. Ein halbes Jahr nach Veröffentlichung gendwo, denn die Texte darüber mussten werde „Mensch“ heißen, war zu erfahren. der Platte starben innerhalb von einer Wo- ja vor ihr fertig sein. Eine Art Hase-und- Summ, summ, summ, machte der Medien- che Grönemeyers Frau und sein Bruder an Igel-Spiel. apparat, und bald waren die ersten Kon- Krebs. „Die letzte Version vom Paradies“

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Werbeseite Kultur entwarf Grönemeyer auf „Bleibt alles an- Das Abliefern linear erzählter Kirchen- zwanzigjähriger Verspätung ein Platten- ders“ im staunenswert stimmfesten Be- tagsbesucherhits für gemeinsame Gesin- scratch-Sound – das hat Stil. Und Streicher- wusstsein der herannahenden Katastrophe nungsbusfahrten, das einige Jahre zum Teil arrangements, die ihm auf früheren Platten herzzerreißend: „Denk auf deiner Zeitreise in seinen Zuständigkeitsbereich fiel, hat oft zu bloßem Balladenmarzipan gerieten, mal an mich, vielleicht bleibt was unterm Grönemeyer inzwischen komplett dran- zu uninspirierten Feuerzeugschwenkrouti- Strich.“ Der Strich war gewaltig. gegeben; musikalisch wie textlich ist nestartsalven, Streicher also haben auf der „Es ist wie nach einer großen Explosion, „Mensch“ vieldeutig und schlank zugleich, neuen Platte eine tatsächliche Funktion. und man liegt da mit einer Aktentasche jeder Takt ein Amalgam aus jammerfreier Nicht zu viel, aber wenn – dann. Dann und guckt zu, wie alles zerstört ist“, sprach Trauer und unerbittlicher, sich vom Tod, sehr. „Embrace your courage“, habe ihn Grönemeyer im ersten Interview nach dem nein, von dem doch nicht einschüchtern sein Produzent und Mitkomponist Alex Sil- Tod seiner Frau. „Die einzigen Zeilen, die lassender, kompromissloser Liebe. va ein ums andere Mal angehalten. „Fata- mir eingefallen sind, sind die für die Als nach Bekanntwerden des Todes listischer“ sei er geworden, erklärt Gröne- Todesanzeige.“ Welch beklemmend zu- seiner Frau geistesgestörte Reporter an meyer einleuchtend, und man hört es in treffende Zeilen er im Nachhinein in sei- Grönemeyers Tür klingelten und ihn frag- der Musik. Ein ungeheurer Kraftakt müs- nen eigenen Liedtexten finden konnte, er- ten, wie es ihm denn jetzt gehe, so ganz sen die Aufnahmen gewesen sein, ein per- schreckte ihn selbst, erzählte er später. „Ich ohne Frau, murmelte er fassungslos und manenter Flirt mit dem Zusammenbruch. brauch dich zurück, zum Überleben, deine mit gutem Schockreflex in die Gegen- Und dann das – „Mensch“! Nie klang er Schmetterlinge im Eis“, hatte er gesungen, sprechanlage: „Meine Frau ist kernge- ungekünstelter. FOTOS: EMI FOTOS: Szenen aus Grönemeyer-Videoclip „Mensch“: Nach dem privaten Super-GAU ein künstlerischer Quantensprung damit die Umkehrung seines Herzschmer- sund!“ Daraufhin stellten die Schmieran- Die Phrase der „Krise als Chance“ ist zers „Flugzeuge im Bauch“ geschaffen. ten eine Balkenüberschriftsfrage, die sie mit Vorsicht anzuwenden, oft genug ist sie „Gib mir mein Herz zurück, ich brauch unbedingt auch in Selbstgespräche ab und nichts weiter als ein Beruhigungsmittel der deine Liebe nicht“ – der Vers war hohl ge- zu einfließen lassen sollten: „Ist er jetzt Verschontgebliebenen. Doch ist aus Gröne- worden. Er brauchte die Liebe, und sein verrückt?“ meyers privatem Super-GAU tatsächlich Herz zurück wollte er schon gar nicht. Nein, bloß konnte der Tod Anna Henkel ein künstlerischer Quantensprung erwach- Seine Tochter, erzählt Grönemeyer, habe und Herbert Grönemeyer nicht scheiden – sen. Wacher, erprobter, dabei nicht abge- ihm verboten, mit der Musik aufzuhören, „Habe dich sicher in meiner Seele / Ich klärt, eher extraromantisch. Es tat Gröne- und der allein erziehende Vater nahm sich trag dich bei mir, bis der Vorhang fällt“, meyers Tochter sehr recht daran, ihren Va- den Befehl zu Herzen, doch ob er je wie- singt er nun trotzig. ter ans Klavier zurückzunötigen. Wann ist der Töne finden würde und Worte, ja Lie- Diese Platte klingt so: Im Frühtau über ein Mann ein Mensch? Jetzt. Und hier. Weil der, und zwar durchaus auch ausgespro- eine tags zuvor gemähte Wiese laufen. Das er lacht, weil er lebt. Weil er singt und weil chen mutvolle, das war lange Zeit unge- gemähte Gras liegt noch da, ist noch feucht, er, stimmt, hier und da auch wieder hin- wiss. Im Jahr 2000 sah man Grönemeyer färbt einem noch das Hosenbein, riecht reißend grölt. Und weil er, nun ja, doch: erstmals wieder auf einer Bühne, und zwar noch stark. Und trotzdem geht man auf tanzt. Und hymnisch Mut fasst, jedes Lied recht unglücklich bei „Wetten, dass…?“ kurz geschorenem Neuland. Neues Gras als Ruckrede gegen eingeschlafene Füße ver- herumstehend, eine wenig originelle Trio- wird wachsen. Wieder wird jemand mähen. stehbar, drinnen wie draußen: „Dreh dich Cover-Version darbietend; der Bühnen- Ja. Doch statt nun vorschnell das Abge- um, dreh dein Kreuz in den Sturm / Geh bildner hatte ein großes, während des kappte zusammenzuharken und aus dem gelöst, versöhnt, bestärkt / Selbstbefreit Vortrags von einer Säge malträtiertes Herz Licht, aus der Sonne zu schaffen, dass es den Weg zum Meer“. Jawohl, die Natur gebastelt, und Grönemeyer, auf dessen schimmeln und unkontrolliert, unbere- hat das Heft in die Hand genommen. Worte man so gespannt gewesen war, chenbar stören wird, eines Tages, ließ Und Grönemeyer ist wieder in Form, sang doch wirklich, bedrückend war das: Grönemeyer alles liegen und ging tapfer poltert los, natürlich, es ist ja bald wieder „Da, da, da.“ weiter. An manchen Stellen waren wider Wahl: Kanzler und Kandidat seien beide Doch dann hat er seine Sprache wie- Erwarten kleine Blüten dem Mäher ent- „Sturmschäden von 16 Jahren Kohl“, die dergefunden, eine neue sogar. Nun ist kommen. Andere Stellen sind auf Jahre Wahlmöglichkeit zwischen „vier Jahren „Mensch“ erschienen – und es ist tatsäch- entwurzelt, lange werden sie unbewach- flach oder halbflach“ sei wohl kaum aus- lich seine allerbeste Platte bislang. Erfolg- sen bleiben. reichend, Deutschland müsse sich daran reich obendrein: Das Titellied führt seit Nun, Neuanfang ist der größte Kitsch. Es gewöhnen, in anderen Zeitzyklen zu den- drei Wochen die deutschen Charts an. Der geht nicht. Nicht bei null. Das zeigt Grö- ken. Wen man wählen soll, singt er diesmal erste Nummer-eins-Hit für Grönemeyer nemeyer mit dieser Platte, auf der er sich nicht. Beziehungsweise steht Grönemey- überhaupt. Nein, auch „Männer“ war nur alles traut. Da alles vom Punk-Revival ers Spitzenkandidatin leider nicht auf dem auf Platz sieben damals, tatsächlich. redet, ertönt auf „Mensch“ mit zünftiger, Wahlzettel: die Liebe. ™

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FUSSBALL Tribun der Fankurve Der oft belächelte Trainer Peter Neururer ist der Mann der Stunde im Bundesliga-Betrieb. Mit dem VfL Bochum schaffte er den Sprung aus der Zweitklassigkeit an die Tabellenspitze. Nutzt der Coach mit dem Leumund des Maulhelden seine wohl letzte Chance, ernst genommen zu werden?

o manches gerät dieser Tage beim ist der Diplom-Sportlehrer aus Marl, Kreis Doch plötzlich häufen sich die Möglich- Überraschungsersten der Bundesliga Recklinghausen, herumgereicht worden keiten zum positiven Denkansatz. Neuru- Sin Bewegung, ein Sonderzug „mit wie ein Dorftrottel. Durch die Wett- und rer, der binnen 15 Jahren zehn Profitrainer- Sambawagen“ zum Beispiel. Im Oktober Spielshows der Sendeanstalten haben sie Stationen durchlief, lässt das Team seiner soll er fürs Auswärtsspiel bei Bayern Mün- ihn geschoben wie einen der unvermeidli- elften Station erfrischenden Konterfußball chen auf die Schiene gesetzt werden. Auf chen Semipromis aus der Schlagerbranche. spielen: Nach drei Siegen in Folge rangiert Handzetteln sucht man Mitreisende unter Die Sportreporter warfen ihm ein Stich- der VfL Bochum an Position eins – der den Fans des VfL Bochum – ebenso, zur wort zu, und Neururer brabbelte los. vorläufig letzte Triumph, beim Champions- Stärkung des Sicherheitspersonals, „Hun- Klamotten habe ihm seine Tochter wieder League-Finalisten Bayer Leverkusen, ge- deführer mit eigenem Wachbegleithund“. herausgelegt, befand er dann etwa selbst- lang dank Neururers bestechender Taktik. Die Euphorie ist groß rund ums Ruhr- ironisch mit Blick auf die mutige Farb- So ist der viel belächelte Coach genau- stadion. Verzückte Verehrerinnen der Spie- komposition seines Aufzugs, „mit denen so wie der VfL, der binnen zehn Jahren ler hinterlassen auf dem Beton der Arena kannste Eier abschrecken“. viermal ab- und wieder aufstieg, auf dem handschriftlich Zeichen der Anbetung („I Oder er ächtete, als er den Spielern die besten Weg, allmählich vom Publikum love Michael Bemben – gez. Seine Frau“). Cola verbot, in seiner manierierten Sprache ernst genommen zu werden. Und am Trainingsplatz dokumentieren die den „Genuss von Zuckerlimonaden“. Und Sechsmal wurde Neururer, der lange im Rentner ihr Wohlgefallen, indem sie dem noch ein Spruch: Wenn man die Abwehr Ruf stand, das „größte Windei in dieser Trainer noch nach Feierabend zugucken. nicht stärke, werde die Anzeigetafel vor Branche von Blendern“ („Süddeutsche „Da, ku’ma, der knipst ihm“, rief letzte lauter Gegentoren „zur Lichtorgel“. Lei- Zeitung“) zu sein, von seinen Arbeitge- Woche einer der Zaungäste in mustergül- der wisse der „Emporkömmling“ immer bern gefeuert. Jetzt scheint er zu ahnen: alles besser, klagten mit Bochum ist seine letzte Chance, in der der Zeit die Berichterstat- höchsten Klasse sesshaft zu werden. ter. Und sobald die von Entsprechend benimmt er sich, er ver- Neururer betreuten Mann- sucht es zumindest. Ständig bereut er bei schaften schwächelten, öffentlichen Auftritten seine „übertriebene hielten sie ihm die all- Außendarstellung“ der Vergangenheit – zu vorlauten Prognosen was ihn jedoch nicht daran hindert, wei- vor oder kommentierten terhin omnipräsent zu sein. genüsslich „Peterchens Vorigen Dienstag zum Beispiel hatte Talfahrt“. Als einmal beim Neururer – pünktlich zum Treffen mit Bo- Italiener sein Kreislauf chums Clubchef Werner Altegoer – eine kollabierte („Ich war blass Seite aus der „Bild“-Zeitung gerissen und wie ein Eiswürfel“), wit- ins Seitenfach seines Dienst-Mercedes ge- zelte anderntags wenig legt. Darauf waren Fotos zu sehen, die den zartfühlend ein Boule- Trainer mit Shorts und Herrensocken auf vardblatt: „Statt Cognac- einer Harley Davidson zeigen. Als der Prä- Soße kam der Notarzt.“ sident nach der Herkunft der unvorteil- Kurz vor Beginn dieser haften Abbildungen fragte, konnte Neuru- Saison, in der ihn die rer einwenden: Die seien viele Jahre alt. Bundesliga fünf Jahre Die gleiche Zeitungsseite präsentierte

FIRO nach seinem Rauswurf ihn jedoch auch mit Schürze in der heimi- Bochumer Profis: „Eigentlich überragende Offensive“ beim 1. FC Köln erstmals schen Küche – ganz aktuell und passend wieder sieht, kündigte ihn zur veröffentlichten Selbstauskunft: Auch tiger Ruhrgebietsgrammatik, und siehe da: der Moderator Michael Steinbrecher im am Herd sei er „eine Granate“. Während auf dem Rasen ein Pressefotograf „ZDF-Sportstudio“ mit einem Tonfall an, Um seine Aufmachung schert er sich bäuchlings sein Arbeitsgerät in Position mit dem er auch einen sprechenden Hund nicht. In den Perioden der Arbeitslosig- brachte, versuchte Chefcoach Peter Neu- präsentieren könnte: „Hier isser wieder!“ keit, die sich in seiner Karriere auf 66 Mo- rurer fürs Bild einen Fußball mit der Stirn Prompt geriet der berüchtigte Maulheld nate summieren, trug er manchmal tage- zu jonglieren. Doch nach höchstens zwei in Verdacht, er peile mit dem Bochumer lang einen blauen Bademantel. Mit seinen Berührungen fiel die Kugel immer ins Gras. Klassenneuling umgehend den Meistertitel Goldkettchen, dem Schnauzbart und der Da feixten die Rentner: „Schonn is’ der an. Neururer dementierte in seiner ge- bisweilen etwas gestrigen Langhaarfrisur Ball widda wech.“ schwollenen Gelehrten-Rhetorik: Wer ihn passt Neururer in jeden Manta. Zugleich Über Peter Neururer, 47, das wissen die so verstanden habe, der „hätte zu Recht passt er, wenn er etwa bei der Aufstiegs- Fans, kann man sich getrost lustig machen. über meine Person im negativen Bereich feier mit entblößter Brust über den Rasen Spott ist der gewohnt. Zeit seiner Karriere Denkmöglichkeiten“. stapft, jedoch auch auf jeden Stehplatz.

198 der spiegel 36/2002 Derlei methodisches Vorgehen hat nicht jeder erwartet. Auch Präsident Altegoer war skeptisch, als auf der Suche nach einem Nachfolger für Ex-Nationalspie- ler Bernard Dietz kurz vor dem Jahreswechsel der Name Neuru- rer im Vorstand fiel. Er zog zunächst „die Augenbrauen hoch“, ließ sich aber in einem zweistündigen Gespräch über- zeugen, dass der Kandidat „ein ganz seriöser Arbeiter sein kann“. Ähnlich, erinnert sich der Club-Chef, habe es sich seiner- zeit mit Klaus Toppmöller ver- halten. Auch der sei mit „dem Ruf des Lautsprechers“ in Bo- chum angetreten. Dann führte er den VfL in den Uefa-Cup, und inzwischen gilt er, nach Erfolgen mit Bayer Leverkusen, als echte Trainer-Koryphäe. Neururer dagegen lebt immer noch unter permanentem Recht- fertigungsdruck. Dass er in sei- ner Sturm-und-Drang-Zeit beim 1. FC Saarbrücken Vorstandsmit- glieder als „Idioten“ beschimpf- te, sei mit besonderen Umstän- den zu erklären: „Bestimmte Mächte“ hätten ihn zur Opposi- tion „geradezu genötigt“. Dabei gefiel es ihm im Saarland gut: Wenn er im Porsche bei Rot über die Ampel brause, frohlockte er dort einmal, „klatscht die Polizei Beifall“. Jedes Engagement endete ir- gendwie im Reinfall. Bei Hertha BSC, wo er nur 76 Tage wirken durfte, habe er das nackte Chaos

TEAM2 vorgefunden. Und dass ihn beim

VfL-Cheftrainer Neururer: „Ganz seriöser Arbeiter“

Dank seiner natürlichen Kumpelhaftig- Neuerdings sorgt er auch keit ist er in der Bundesliga so etwas wie mit seinem Fachverstand für der letzte bezahlte Pfleger der Proleten- Aufsehen. Deutlich erkennbar kultur. In einem Fußballfilm („Gib mich wurde in den ersten Bundesli-

die Kirsche“) mimte Neururer den Wirt ei- ga-Wochen, dass der vermeint- HENNES MULTHAUP ner Dortmunder Fankneipe. lich so schlichte Klassenclown Schalke-Coach Neururer (1990)*: Vom Chef gefeuert Er werde „als Publikumstyp angese- das VfL-Team systematisch auf hen“, hat der volksnahe Trainer erkannt, Erstliganiveau getrimmt hat. Entlang einer FC Schalke, den er vor dem Abstieg in die und er erklärt sich das so: „Vielleicht ver- durchaus kühnen Strategie des Machbaren dritte Liga gerettet hatte, Präsident Günter körper ich dieses Leben im Fußball.“ Für hat er die personellen Verstärkungen aus- Eichberg feuerte, als das Team auf einem einen wie Neururer, der bei seinen Clubs gesucht. „Unser System“, erläutert er, „ba- Aufstiegsplatz stand, hat Neururer bis im Schnitt nur zehn Monate arbeiten durf- siert auf einer soliden Defensiv-Ordnung, heute nicht verwunden. Gleich nach der te, scheint die Popularität als Tribun der die aber nur Grundlage für unsere eigentlich Fankurve eine lebenswichtige Konstante. überragende Offensive sein soll.“ * Mit Clubpräsident Günter Eichberg.

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Entlassung wurde der Fußball-Lehrer, im- eine Marionette des eigenen Aberglaubens mer noch wohnhaft in Gelsenkirchen-Buer, geworden, seit er einmal mit 17 zum Pro- das Schalke-Mitglied Nummer 8222767. betraining bei DJK Gütersloh die angeblich Natürlich hält er sich für einen „sehr Glück bringenden Socken vergessen hatte. guten Trainer“. Zum Gewinn solcher Er- „Deshalb“, meint er, brach er sich Mittel- kenntnisse setzt er die Maßstäbe einer fuß und Wadenbein. Quizshow an. „Mit jedem Trainer der So könnten Chronisten die Laufbahn des Welt“ nehme er es zur Überprüfung von ehemaligen Stadtverbandschefs der Jun- Detailwissen auf. Bekäme der Quiz-König gen Union Marl durchaus als eine nur ge- den besten Job, behauptete Neururer legentlich unterbrochene Pechsträhne wer- schon vor dreieinhalb Jahren, dann „bin ten. Einmal löschte sein Sohn Jörn verse- ich bald bei Real Madrid“. hentlich die Informationen über mehr als Dann war er jedoch bei Kickers Offen- tausend Fußballer aus seiner mühsam ge- bach und LR Ahlen. Ihm fehle „die große speisten privaten Datenbank. Akzeptanz nach oben“, bekannte er. Noch so eine Panne passierte im Mallor- Es ist wohl sein Glück und auch sein ca-Urlaub. Da folgte Neururer vor ein paar Pech, dass Neururer mit Beginn des Un- Jahren der königlichen Einladung auf Juan terhaltungszeitalters im Fußball die Bühne Carlos’ Inselresidenz. Doch der ihn emp- betreten hat. Wo zunehmend der Enter- fing, war nicht der Monarch, sondern tainer im Trainer gefragt und gefördert Show-Master Tommy Ohrner von der „Ver- wird, traut man Vielrednern wie ihm steckten Kamera“. gleichzeitige fachliche Qualitäten nicht zu. Es ist wohl diese Aura des Losers, die Zumindest fallen sie nicht auf. Eher sprö- den Sohn eines leitenden Angestellten in einem Chemiekonzern zu dem Schluss „Ich bin kein Trainer, kommen lässt: „Ich bin kein Trainer, der der von Bayern München von Bayern München angerufen wird.“ Das ist wohl wahr, und so scheint der angerufen wird.“ Stehaufmann der Zunft schon am oberen Ende der Karriereleiter angelangt. de Kollegen wie den Wolfsburger Wolf- Manchmal wacht er zwar nachts auf und gang Wolf halten Nichteingeweihte auto- hat geträumt, dass er die Meisterschale in matisch für kompetent. der Hand hält. Aber im Grunde hat Das leidige Image plagt Neururer indes- Neururer, im Wesenskern mehr Genießer sen nur scheinbar. „Ich war nie beim di- als Malocher, alle wichtigen Ziele erreicht. plomatischen Dienst“, formuliert er kokett. Ob Bochum ein Sprungbrett ist? „Wohin Den Leumund des Sprücheklopfers will er soll ich denn noch springen? Ich war doch Profi Pritzel in Berlin sich gezielt erarbeitet haben. Schließlich schon überall.“ habe er – ohne Vergangenheit als aktiver Noch bei jedem neuen Verein hat der Profi – als junger Coach auf sich aufmerk- Trainer Neururer zunächst auf der Grund- sam machen müssen. Der Vorstopper lage von Spieler-Befragungen ein Sozio- Neururer hatte nur auf Amateurplätzen ge- gramm der zu therapierenden Mannschaft grätscht, bei der Spielvereinigung Marl, erstellt. Geradezu liebevoll beschimpft er TRENDSETTER dem VfB Remscheid, STV Horst-Emscher seine Profis bei Gelegenheit als „Vollfriseu- und ASC Schöppingen. re“, „Hammerwerfer“ oder „Muscheltau- Avantgarde der Bei den Medienschaffenden erfreute cher“, weil er „nie Beleidigungen aus der er sich bald einiger Beliebtheit – und er Fäkalsprache“ in den Mund nehmen will weiß auch, warum: „Bei mir kommt im- und dieser niedliche Quatsch außerdem sein Großstadt mer was raus. Und wenn es der letzte Markenzeichen ist. Scheiß ist.“ So hat er sich eingerichtet in seiner Welt Ob BMX-Radler, Skateboarder Oft haben sie ihn den „Christoph Daum der krausen Grundsätze. Seiner „absoluten für Arme“ genannt, den Vergleich hält er Lebensmaxime“ zu folgen fällt ihm nicht oder Crossgolfer: Die für „eine Beleidigung“. Neururer, der Meis- schwer: „Schweigen ist feige.“ Werbeindustrie entdeckt die ter der Übertreibung, kann nämlich im Ge- Seine Redseligkeit ist für ihn demnach sportlichen Grenzgänger. gensatz zum einstigen Rivalen über sich Zivilcourage. Neururer hält Mahatma selbst lachen. Als er viel Geld im Kasino Gandhi und Martin Luther King für „die ls Fußballer oder Tennisspieler hät- verlor, habe er sich „nicht mehr bewegt – größten meiner Zeitgenossen – leider bei- te es Timo aus Hamburg-St. Pauli um keine Kalorien zu verbrauchen“. de tot“. Ungefragt teilt er mit, dass er ein Awahrscheinlich nicht sehr weit ge- Nicht alle begeistern sich für seinen Hu- „differenzierter Pazifist“ sei, was in etwa bracht. Partys verlässt der mit reichlich mor. Nach einem 3:7 mit Hertha BSC bedeutet: Im persönlichen Verteidigungs- Tätowierungen verzierte Rock-Fan in der scherzte Neururer, höher habe er „bisher fall würde er türmen, es sei denn, er könn- Regel erst nach Sonnenaufgang. Und wenn nur im Tipp-Kick“ verloren. Die Spieler te anderen helfen. „Dann würde ich auch er seinen sportlichen Neigungen nachgeht, fühlten sich beleidigt. das Mittel der Gewalt anwenden.“ sieht er sich am liebsten in der Rolle des Die Sätze rutschen ihm einfach heraus, Das ist schön gesagt von Sankt Peter, Bürgerschrecks. er kann nichts dafür. Am Ende ist er nicht dessen Wirken womöglich doch auf ir- Timo, 28, Kampfname „Gewalt“, ist mal für den Schnauzbart verantwortlich: gendeinen Bestimmungsort zusteuert. BMX-Radfahrer und in der Szene eine „Den will meine Frau so.“ Worauf es ankomme, außer auf einen gu- große Nummer. Unlängst katapultierte er Und die Haare, mein Gott: Zum Friseur ten Start in die Saison, wurde er neulich ge- sich mit seinem Bike, einem bulligen Mo- gehe er „grundsätzlich nur nach Niederla- fragt. „Immer“, entfuhr es Peter Neuru- dell mit kleinen, breiten Reifen und einem gen“. Das ist sein Schicksal: Der Mann ist rer, „auf ein gutes Ende“. Jörg Kramer Rahmen aus einer besonders stabilen

200 der spiegel 36/2002 Auf dem Eisbach in München ACTION PRESS ACTION Trendsportarten BMX-Radfahren, Surfen, Skateboarden: „Sehnsucht nach dem Außergewöhnlichen“

kannt zu haben. Die recht vermarktet. So sicherte sich die Fast- schrillen Aktivisten Food-Kette Burger King die Rechte an dem hält der Wissenschaft- BMX-Fahrer Ryan Nyquist und servierte ler indes keineswegs zum Whopper-Menü den Radheroen als für durchgeknallt, son- Spielzeugfigur. dern erkennt in ihnen Der Einsatz der Konzerne befördert „Trendsetter“. mittlerweile aber auch in Deutschland so Denn die Avant- manchen Local Hero unverhofft in den Sta- garde der Großstädte tus des Sportprofis. Im vergangenen Jahr hört spezielle Musik, stellte der Berliner Timo Pritzel vor lau- trägt spezielle Kla- fenden Kameras mit 5,12 Metern den Welt- Bei den X-Games motten und läuft nur rekord im BMX-Hochsprung auf. Nun ist in Philadelphia in Marken-Turnschu- Pritzel, 25, mit seiner Bestleistung im hen. Auch die Spra- Guinnessbuch verzeichnet und überdies ELSA / GETTY IMAGES / ALLSPORT / GETTY IMAGES ELSA CHRISTOPH LEIB CHRISTOPH che der Extremisten gut im Geschäft. ist nicht leicht zu ver- Auf seinem Trikot prangen Logos von Chrommolybdän-Legierung, über eine stehen. „Grinden“, so heißt eine Übung, Firmen wie Sony und dem Fahrradherstel- Rampe und segelte aus zehn Meter Höhe bei der die Skateboarder mit ihrem Ge- ler Scott, zudem hat Pritzel einen Klei- in die Alster. Ein anderes Mal stürzte er fährt Treppengeländer hinunterschrubben. dungs- und einen Schuhsponsor. Das Ein- sich mit Anlauf von der Kaimauer im Ham- Es ist eine eigene Welt. zige, was er noch selbst kauft, sagt er, „sind burger Hafen und landete zwischen krei- Doch sosehr Insider-Magazine wie Unterhosen“. schenden Touristen auf einem Elbanleger. „brett“ oder „freedom bmx“ die Sozial- Ein Abflauen des Booms ist nicht zu Einlagen solcher Art mögen Freunden romantik des Ghettos herbeischreiben: erwarten. Schließlich suchen sogar Her- der klassischen Leibesübung wie das Ende Längst hat die Industrie die sportli- steller wie Adidas, von jeher eher dem tra- des Abendlandes vorkommen. Doch die chen Grenzgänger entdeckt. Um sich auf ditionellen Sport verbunden, die Nähe zu Zeiten, da Jugendliche Sport vornehmlich dem Markt zu etablieren, verfahren die den jungen Wilden. Seit Jahren produziert zum Zweck der Körperertüchtigung trie- Konzerne nun nach einem im Sport- die Firma aus Herzogenaurach spezielle ben und sich auf Bolzplätzen oder der Tar- business hinlänglich bekannten Muster – Skaterschuhe. Da ist es geradezu zwin- tanbahn trimmten, scheinen vorbei. und setzen auf die Werbekraft der Helden gend, ein Skateboardteam zu unterhalten Vor allem in Großstädten entdecken der Zunft. und das größte deutsche Talent, den Ba- Kids immer verrücktere Austragungsstät- Vor allem in den USA, dem Mutterland dener Jeremy Reinhard, 18, unter Vertrag ten für immer wunderlichere Hobbys. In aller Trendsportarten, hat der Kommerz zu nehmen. Berlin nutzen BMX-Radler und Skate- die Szene bereits fest im Griff. So erfand Den Kontakt zur hiesigen Trendsport- boarder eine im Bau befindliche U-Bahn- der Disney-Konzern schon vor acht Jahren szene fördern die Adidas-Strategen durch Röhre unter dem Potsdamer Platz als Half- die „X-Games“, eine Art Olympia der mo- das gezielte Sponsoring von Veranstaltun- pipe. In Hamburg schlagen Crossgolfer auf dischen Bewegungsformen. Von der jüngs- gen, bei denen sie den Kids neue, extra- Baustellen im Freihafen ab. In München ten Auflage der Leistungsschau in Phila- vagante Sportstätten anbieten: Diesen trifft sich die dortige Surfszene bei Hoch- delphia berichtete der Haussender ESPN Samstag startet der Turnschuhgigant die wasser zum Ritt auf einer stehenden Wel- im August 600 Stunden lang, woraufhin „Berlin City Games“. Auf dem Programm le im Eisbach im Englischen Garten. die „Süddeutsche Zeitung“ mäkelte, Ska- stehen unter anderem ein Street-Basket- Gelobt sei, was schräg ist. Schon glauben ter und BMXer seien „im Mainstream an- ball-Turnier auf einem Hausdach in Berlin- Freizeitforscher wie Harald Michels von gekommen“. Mitte sowie eine Woche später ein Fuß- der Sporthochschule in Köln eine „allge- Denn auch die Stars der Szene werden ball-Turnier („Pool-Soccer“) auf dem meine Sehnsucht“ nach dem „Außer- mit Werbeverträgen in Millionenhöhe ein- Grund eines stillgelegten Schwimmbads in gewöhnlichen in der Massenkultur“ er- gekauft und anschließend zielgruppenge- Friedrichshain. Gerhard Pfeil

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Redaktion Politik: BERN Joachim Hoelzgen, Gutenbergstraße 54, 3011 Bern, Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 Ralf Beste, Petra Bornhöft, Annett Conrad, Martina Hildebrandt, Tel. (004131) 3720252, Fax 3720253 E-Mail: [email protected] Jürgen Hogrefe, Horand Knaup, Alexander Neubacher, Ralf BRÜSSEL Dirk Koch; Winfried Didzoleit, Sylvia Schreiber, übriges Ausland: Neukirch, Dr. Gerd Rosenkranz, Christoph Schult, Alexander Szan- Bd. Charlemagne 45, 1000 Brüssel, Tel. (00322) 2306108, Fax 2311436 New York Times Syndication Sales, Paris dar. Reporter: Matthias Geyer; Redaktion Wirtschaft: Markus Dett- JERUSALEM Annette Großbongardt, P.O. Box 2799, Shamei St., Telefon: (00331) 47421711 Fax: (00331) 47428044 mer, Frank Hornig, Christian Reiermann, Michael Sauga, Ulrich Jerusalem 91027, Tel. (009722) 6224538-9, Fax 6224540 Schäfer JOHANNESBURG Birgit Schwarz, P. O. Box 2585, Parklands, für Fotos: Autor: Jürgen Leinemann Johannesburg 2121, Tel. 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(004822) Europa: zwölf Monate ¤ 188,76 Beckmann, Wolfram Bickerich, Christian Habbe, Manfred Schnie- 6216158, Fax 6218672 Außerhalb Europas: zwölf Monate ¤ 266,24 denharn, Peter Stolle, Dr. Rainer Traub, Kirsten Wiedner WASHINGTON Dr. Gerhard Spörl, 1202 National Press Building, Halbjahresaufträge und befristete Abonnements PERSONALIEN Dr. Manfred Weber; Petra Kleinau, Katharina Washington, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, Fax 3473194 werden anteilig berechnet. Stegelmann WIEN Walter Mayr, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431) ✂ HAUSMITTEILUNG, INFORMATION Hans-Ulrich Stoldt 5331732, Fax 5331732-10 Abonnementsbestellung bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an CHEF VOM DIENST Thomas Schäfer, Karl-Heinz Körner (stellv.), DOKUMENTATION Dr. Hauke Janssen; Jörg-Hinrich Ahrens, Werner SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Holger Wolters (stellv.) Bartels, Dr. Helmut Bott, Viola Broecker, Heiko Buschke, Heinz 20637 Hamburg. 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204 der spiegel 36/2002 Chronik 24. bis 30. August SPIEGEL TV

SAMSTAG, 24. 8. amtes sind im vergangenen Jahr fast MONTAG, 2. 9. 197500 Ehen geschieden worden. Betrof- 23.15 – 23.55 UHR SAT.1 HOCHWASSER I Mehr als 600000 Chinesen fen waren 153500 minderjährige Kinder. fliehen vor der Überflutung der Provinz SPIEGEL TV REPORTAGE Hunan. MITTWOCH, 28. 8. Warum die Türme fielen Das World Trade Center und sein SONNTAG, 25. 8. PROZESS Vier Jahre nach dem ICE- Konstrukteur Unglück von Eschede beginnt in Celle HOCHWASSER II Die norddeutschen Deiche Ihr Bau galt als Revolution der Inge- der Prozess gegen Ingenieure der nieurskunst, selbst dem Einschlag einer widerstehen den Wassermassen. Neue Deutschen Bahn und des Radherstellers. Evakuierungen sind nicht erforderlich. Boeing 707 sollten die Türme widerste- hen. Und dennoch stürzten sie am 11. Die bayerische Staatsregierung hält am ANKLAGE Generalbundesanwalt Nehm umstrittenen Ausbau der Donau mit erhebt in Zusammenhang mit den September 2001 brennend in sich zusam- Staustufen fest. Terroranschlägen vom 11. September Anklage gegen den Marokkaner DUELL I Der Kanzler und der Kandidat al-Motassadeq. Der 28-Jährige soll treffen erstmals zum Fernseh-Duell die Mordpiloten gekannt und gefördert aufeinander. Urteil des Wahlvolkes: haben. unentschieden. FRAUEN Im Iran erhalten auch die Frauen DONNERSTAG, 29. 8. das Recht auf Ehescheidung – bisher hat- EKLAT Hamburgs Innensenator Ronald ten dies nur die Männer. Schill nutzt eine Rede zur Flutkatastro- phe für Angriffe auf die Ausländerpolitik MONTAG, 26. 8. und den Bundestag. Wegen Überschrei- GIPFEL In Johannesburg beginnt die bis- tung der Redezeit wird ihm das Mikrofon lang größte Uno-Konferenz. 40000 Teil- abgestellt.

nehmer aus 190 Ländern beraten bis zum PRESS / ACTION U.K. PAPPIX 4. September über nachhaltige Entwick- IRAK Die Bundesregierung geht weiter Terroranschlag in New York lung und Umweltschutz. auf Distanz zu den USA: In Kuweit sta- tionierte Soldaten und Panzer sollen im men. Konstruktionsfehler oder unaus- HOCHWASSER III Die Bundesregierung Fall eines Angriffs auf den Irak zurückge- weichliche Folge eines wahnsinnigen bringt ein „Flutopfersolidaritätsgesetz“ zogen werden. Attentats? auf den Weg. Für den Wiederaufbau soll FESTIVALS Mit einem Film über die mexi- ein Fonds von 7,1 Milliarden Euro zur DONNERSTAG, 5. 9. Verfügung stehen. kanische Malerin Frida Kahlo eröffnet in Venedig die 59. Biennale. 22.15 – 23.10 UHR VOX VERBOT Die spanische Justiz verbietet die SPIEGEL TV EXTRA radikale Baskenpartei Batasuna. FREITAG, 30. 8. Schnäppchenjagd DUELL II DIENSTAG, 27. 8. Auch das zweite TV-Duell wird Im Zeichen der Wirtschaftskrise boomen ohne Guido Westerwelle stattfinden: Der Billiganbieter: Die Jagd nach preisgünsti- SCHEIDUNGEN Die Zahl der Ehescheidun- FDP-Parteichef scheitert mit einer Be- gen Angeboten der Industrie nimmt im- gen hat einen neuen Höchststand erreicht: schwerde vor dem Bundesverfassungsge- mer kuriosere Dimensionen an. Nach Angabe des Statistischen Bundes- richt. SAMSTAG, 7. 9. 22.00 – 23.50 UHR VOX

Vor Hawaii haben SPIEGEL TV SPECIAL Meeresforscher ein Der Traum von Ruhm und Reichtum – japanisches U-Boot die schönen Mädchen von Brasilien entdeckt, das 1941 Raus aus der Armut: Davon träumen täg- unmittelbar vor dem lich Tausende Mädchen (und Jungen) in Angriff auf Pearl einem Land, in dem 20 Millionen Men- Harbor versenkt schen von einem Euro am Tag leben. Hilf- worden sein soll. reiches Startkapital: schauspielerisches Talent, um eine Rolle in den beliebten Telenovelas zu bekommen.

SONNTAG, 8. 9. 21.55 – 22.40 UHR RTL SPIEGEL TV MAGAZIN Stadt im Schatten – wie New York die Apokalypse verarbeitet; Tragischer Held – warum ein Anti-Terror-Experte das FBI verließ und am Ground Zero starb; Zen- trale des Bösen – wie die Hamburger Zelle von al-Qaida funktionierte. AP

205 Register

gestorben ren so genannte und verdammte Opas Kino. Aber Opa holte die verlorenen Söhne in die William Warfield, 82. Familie zurück, produzierte Anfang der Für ein paar Jahre war Achtziger die Fassbinder-Filme „Lola“ und der farbige Baptisten- „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ und sohn aus Arkansas ein heimste dafür sogar Preise ein: 38 Goldene wahrer Weltstar: als Leinwände erhielt er insgesamt. Horst Krüppel Porgy, der mit Wendlandt starb am vergangenen Freitag einem füllig-geschmei- an den Folgen einer Krebserkrankung. digen Bass-Bariton un-

widerstehlich um seine AP Per Anger, 88. Als der junge schwedische Bess buhlte. Warfield Jurist seine diplomatische Laufbahn im hatte Gesangsausbildung und erste Auf- Januar 1940 in Berlin der Nazi-Herrschaft tritte am Broadway bereits hinter sich, als begann, wurde ihm schnell klar, dass es für 1952 in den USA die Everyman Opera offizielle Verhandlungen schon zu spät war. Company gegründet wurde, die mit Gersh- Unter großer persönlicher Gefahr kontak- wins Dreiakter „Porgy and Bess“ und ihm tierte er Untergrundbewegungen, spionierte als männlichem Hauptdarsteller auf Groß- und erfuhr so von der drohenden Invasion tournee ging. Nach der Premiere in Dallas Skandinaviens durch die Deutschen. Seinen und etlichen Auftritten in den Vereinigten Mut und sein Helden- Staaten tourte die Truppe durch europäi- tum stellte er vor allem sche Metropolen wie Wien, Berlin und in Budapest, das seine London und machte Amerikas erste Volks- nächste Auslandsstation oper fast über Nacht zu einem internatio- wurde, unter Beweis, nalen Hit. Höhepunkt der Reise wurde als er, zusammen mit 1955 ein einwöchiges Gastspiel an der dem schwedischen Di- Mailänder Scala, in der Warfield und seine plomaten Raoul Wal- damalige Ehefrau Leontyne Price – beide lenberg, Tausende von

grandios bei Stimme und glänzend als Dar- / AP WEINE LEXIUS Juden vor den Greif- steller – umjubelt wurden wie sonst nur trupps Adolf Eichmanns Callas und Tebaldi. Noch im selben Jahr und dem sicheren Tod im Konzentrationsla- startete der ebenso kultivierte wie be- ger rettete. 1956 – nun akkreditiert in Wien scheidene Sänger eine Konzertreise mit – war seine Hilfe erneut gefragt, als er Tau- dem Philadelphia Orchestra und holte sich sende bei ihrer Flucht unterstützte – diesmal ein Jahr später in der New Yorker Carne- vor dem kommunistischen Regime in Un- gie Hall, als Solist im Mozart-Requiem, un- garn. Anger hielt stets das Gedenken an ter der Leitung von Bruno Walter endgül- Raoul Wallenberg wach und versuchte le- tig auch die Weihe klassisch-abendländi- benslang, das Rätsel um dessen Entführung scher Tonkunst. William Warfield starb am und wahrscheinlicher Ermordung in der So- 25. August an den Folgen eines Sturzes. wjetunion aufzuklären. Per Anger starb am 25. August in Stockholm. Horst Wendlandt, 80. „Ich halte meine Nase in den Wind, und wenn ich nichts rie- berufliches che, dann ist da auch nischt“, pflegte er zu sagen. Weil das selten vorkam, wurde er Wolfgang Hetzer, 51, Ministerialrat, hat einer der erfolgreichsten Produzenten des sich im Streit mit dem Bundeskanzleramt deutschen Films. Wendlandt, 1922 in Crie- durchgesetzt. Der Sicherheitsexperte – im wen bei Schwedt geboren, bewies fast vier Kanzleramt zuständig für den Kampf gegen Jahrzehnte lang ein un- die Organisierte Kriminalität und illegale trügliches Gespür für Rüstungsgüter – hatte im Januar in einem Kinostoffe, die in der Aufsatz für die Zeitschrift „Der Krimina- Luft lagen: Über 30 Ed- list“ über Innenminister und gar-Wallace-Filme tra- dessen juristische Ausbildung gespottet. gen sein Signet und Der Text stieß allerdings weder im Innen- lockten rund 60 Mil- ministerium noch im Kanzleramt auf Hu- lionen Zuschauer in mor. Hetzer wurde vom Dienst suspendiert die Kinos, 1962 tat er (Begründung: „So was macht man nicht“)

mit der Karl-May-Ver- / DPA MAELSA TOM und anschließend ins Wissenschaftsminis- filmung „Der Schatz terium versetzt. Seine vorgesehene Ab- am Silbersee“ und der anschließenden ordnung an die Spitze des Europäischen „Winnetou“-Saga eine wahre Goldgrube Amtes für Betrugsbekämpfung (Olaf) blieb auf. Später verhalf der Mogul, der in der aus. Doch Hetzer reichte gegen die Schrit- Buchhaltung der UFA seine Karriere im te des Bundeskanzleramtes Klage ein – und Filmgeschäft begonnen hatte, den Komi- hatte Erfolg. Außergerichtlich einigte sich kern Otto und Loriot zum Sprung auf die das Kanzleramt mit dem Spitzenbeamten Leinwand. Er personifizierte das von den zu dessen voller Zufriedenheit. Hetzer trat deutschen Jungfilmern in den sechziger Jah- am Montag seinen Dienst in Brüssel an.

206 der spiegel 36/2002 Werbeseite

Werbeseite Personalien

Hermann Scheer, 58, SPD-Bundestags- der Mentalität: Während ei- abgeordneter, und sein Parteifreund Mi- nes seiner 16 Bosporus-Ur- chael Müller, stellvertretender Vorsitzender laube habe er sich einmal mit der SPD-Bundestagsfraktion, wollen die einem türkischen Bürgermeis- Chinesen missionieren. Die beiden Um- ter zum Essen getroffen. Der weltpolitiker haben sich vorgenommen, anatolische Macho, anstatt höf- das Milliardenvolk von der Solarenergie lich nach einer Zigarre zu fra- zu überzeugen. Sie tre- gen, habe einfach das Victory- ten demnächst jeden Zeichen gemacht – schon seien Monat eine halbe Stun- zwei Kellner herbeigeeilt, der de im dortigen staatli- eine mit der Zigarre, der ande- chen Fernsehen auf, um re mit einem brennenden die regenerative Sonnen- Streichholz. Er wolle die energie anzupreisen. freundlichen Türken ja nicht Scheer, Träger des Al- beleidigen, zitiert „Hürriyet“

ternativen Nobelpreises, den Bayern, „aber wenn sie PRESS KRUG / ACTION FRANZISKA und Müller müssen ihr sich in Deutschland so beneh- Ehepaar Borer-Fielding Vorhaben selbst bezah- men, dann fliegen sie raus“. Im

len. China Central Tele- / OSTKREUZ JENS RÖTZSCH Übrigen bedauert Beckstein, es nicht wie schäftigt derzeit die Boulevardpresse der vision (CCTV) stellt Scheer Altkanzler Kohl zu einer türkischen Hauptstadt. Ehefrau Shawne, 33, hatte am zwar die Sendezeit zur Schwiegertochter gebracht zu haben: Sein 13. August die Beamten gerufen. Den Hin- Verfügung, die Produktion geht zu Lasten ältester Sohn, Jurist wie der Vater, habe ein tergrund des Notrufs halten die Ermittler der Deutschen, und die haben schon be- „sehr hübsches Mädchen“ aus der Tür- zurück. Die „Bunte“ suggeriert einen Zu- gonnen, Spenden dafür zu sammeln. kei zur Freundin gehabt, doch leider – die sammenhang mit einem spektakulären Auf- Familie der jungen Dame sei mit der Ver- tritt von Borers vermeintlicher Bekannt- Günther Beckstein, 58, bayerischer In- bindung „in keiner Weise“ einverstanden schaft Djamile Rowe, 35, beim „längsten nenminister und seit Jahren passionierter gewesen. Laufsteg der Welt“ zwei Tage zuvor. Die Anatolien-Urlauber, macht den Türken aufreizenden Bilder von Rowe in einem wenig Hoffnung auf einen baldigen EU- Thomas Borer-Fielding, 45, ehemaliger weißen Brautkleid hätten bei Shawne of- Beitritt. Nicht nur beim Marktzugang für Schweizer Botschafter in Berlin, kämpft fenbar zu großer Aufregung geführt. Borer- ausländische Unternehmen hapere es, noch immer mit den Nachwirkungen seiner Fielding hingegen erklärt, seine Frau habe klagte er einer Redakteursrunde der Ta- angeblichen Sex-Affäre. Ein nächtlicher Po- Geräusche gehört und deshalb die Polizei geszeitung ,,Hürriyet“, sondern auch bei lizeieinsatz in seiner Potsdamer Villa be- gerufen. Weil die Polizisten bei dem Be-

Samantha Bond, 39, Laura Bailey, 32, kanische Schauspielerin Gwyneth Paltrow weiß so gut wie nichts vom Hofmachen, und Amanda Donohoe, 40, allesamt bri- war mit der Klage zitiert worden, nur und was er weiß, ängstigt ihn.“ Samantha tische Schauspielerinnen, ließen sich von zweimal habe sie, in diesem Frühjahr in Bond (als Miss Moneypenny in bislang drei der Wochenzeitung „The Sunday Tele- London, ein Rendezvous, sprich Date, mit „James Bond“-Filmen zu gewissem Ruhm graph“ in Stellung bringen gegen zwei un- einem britischen männlichen Wesen ge- gelangt) dagegen: „Der englische Mann britische Damen, die es gewagt hatten, an habt. Die kanadische Journalistin Leah hat Charme, und seine Zurückhaltung den Verführungskünsten des britischen McLaren hatte davor schon im „Specta- beim ersten Treffen spricht nur für ihn.“ Mannes öffentlich zu zweifeln. Die ameri- tor“ gehöhnt: „Der moderne Engländer Laura Bailey (langjährige Gefährtin Ri- chard Geres) hält gar die „um- ständliche, von hinten durch die Brust ins Auge zielende britische Art des Werbens“ für „ein Kulturgut“. Und Amanda Donohoe (Star der amerikani- schen TV-Serie „LA Law“) weiß, „erst wenn man im Aus- land gelebt hat, realisiert man, dass die englischen Kerle in Ordnung sind, really“. Eine dif- ferenziertere Auskunft erteilte Geraldine Somerville, eben- falls Schauspielerin („Gosford Park“): Sie liebe „den selbst- ironischen Humor der English Men und deren Faible für Ver- lierer“, in „Amerika“ seien

REX FEATURES (L.) SUNDAY TELEGRAPH (M.); MISSION PICTURES / ACTION PRESS / ACTION (M.); MISSION PICTURES TELEGRAPH (L.) SUNDAY REX FEATURES (R.) „Verlierer nicht so populär“.

Donohoe, Bond, Bailey such in der Villa eine Pistole des Typs SIG macht.“ Nicht alle Frauen unter zwanzig beschlagnahmten, für die der Ex-Botschaf- sind zugelassen bei der Hagelabwehr. Wenn ter keinen Waffenschein besitzt, hat sich nicht jungfräulich, so müssen sie doch un- nun auch die Staatsanwaltschaft Potsdam verheiratet sein. He, Tag und Nacht auf eingeschaltet. Mit Spannung erwarten In- ihrem Posten: „Ich will hier bleiben. Einen sider auch eine Gerichtsverhandlung vor Freund finde ich später immer noch.“ dem Berliner Landgericht, bei der Rowe zu der vermeintlichen Sex-Affäre aussagen Gerhard Schröder, 58, Bundeskanzler, soll. In der vergangenen Woche hatte sich zeigt auch in Wahlkampfzeiten seine Sym- ein Berliner Geschäftsmann gemeldet, der pathie für Leute selbst aus dem gegne- angab, Rowe im Auftrag eines Unbekann- rischen Lager. Bei der Einweihung des Lo- ten mit mehreren 10 000 Euro gesponsert zu gistikzentrums einer bundesweit agieren- haben. Die Visagistin hatte erst eine Affä- den Drogeriekette in Landsberg bei Halle re mit Borer-Fielding bestätigt, dann ihre wollte Schröder gerade auf den roten Aussage wieder zurückgezogen. Knopf drücken, der den Warenfluss in Be- wegung setzt. Doch unter den versammel- He Liefang, 17, chinesische Schülerin, ist in ten Gästen war auch der CDU-Minister- diesem Jahr eines von 55 Mädchen, die ei- präsident von Sachsen-Anhalt, Wolfgang ner vor drei Jahrzehnten eingeführten sehr Böhmer, 66, der, von Beruf Gynäkologe, eigentümlichen von Technikwahn und wohl um die 11 000 Geburten in seinem Le- Aberglauben bestimmten Tätigkeit nach- ben begleitet hat. Da ging der gut gelaun- gehen. Die jungen Frauen, sie müssen Tee- nies sein im Alter zwischen 16 und 19 Jah- re, so will es der Brauch, bekämpfen von Mai bis in den Oktober hinein die ortsüb- lichen Hagelstürme über Longxian, einem Landstrich im nördlichen China. Doch während andernorts Flugzeuge mit Hagel- abwehrchemikalien in den Himmel steigen, schießen die Mädchen Chemikalien aus ur- alten Flugabwehrgeschützen in den dräu- enden Himmel. „Mein Großvater erzählte mir, dass Hagelstürme junge Mädchen

fürchten“, sagt He. In lokalen Berichten OSSENBRINK FRANK heißt es, in den vergangenen 30 Jahren hät- Schröder, Böhmer ten Hunderte von jungen Frauen mehr als 75000 mit Chemikalien gefüllte Granaten in te Kanzler noch mal ans Mikrofon und heranziehende Hagelwolken geschossen. bat den Landesherrn, doch bitte mitzu- „Natürlich funktioniert es“, sagt Wang helfen beim Knopfdrücken. Böhmer wehr- Shuaixiong, ein kommunistischer Kader te zunächst ab: „Aber Sie haben doch die von der zuständigen Wetterstation, „sonst ruhige Hand, Herr Bundeskanzler!“ Der hätten wir das nicht schon so lange ge- Kanzler konterte: „Nein, wer so viele Kin- der auf die Welt gebracht hat wie Sie, für Artilleristin He den ist so ein roter Knopf ein Klacks.“

Matthias Rößler, 47, sächsischer Staats- minister für Wissenschaft und Kunst (CDU), wurde beim Elbhochwasser auf ganz besondere Weise Hilfe zuteil. Bei der Überflutung seines Hauses im Dresdner Stadtteil Cossebaude bis zur halben Höhe des Erdgeschosses wurde ausgerechnet ein indianischer Regengott im Heim des Christ- demokraten vom Wasser verschont. Das etwa 40 Zentimeter hohe Artefakt über- stand die Fluten unbeschadet in einer Vi- trine im Erdgeschoss. Verantwortlich für die wundersame Rettung war ein Stapel alter SPIEGEL-Ausgaben, der auf einer Kommode unter der Vitrine lagerte. Das Papier quoll durch das heranströmende Wasser auf, hob die Glasplatte an der Un- terseite der Vitrine Stück für Stück in die Höhe, „und konstant fünf Millimeter über dem Wasser schwebte der indianische Gott“. Rößler: „Da könnte man glatt aber-

RICKY WONG gläubisch werden.“

der spiegel 36/2002 209 Hohlspiegel Rückspiegel Aus der „Gewerkschafts-Praxis“: „Wenn Zitate wir heute in eine moderne, vollautomati- sche Fabrikhalle eintreten, dann sehen wir Die „Frankfurter Rundschau“ zum fast keine Menschen, sondern im Gegenteil SPIEGEL-Bericht „Europa – Verfas- nur noch einige Frauen an verschiedenen sungskonvent zur EU-Reform“, wonach Kontrollpunkten stehen.“ der Europa-Ausschuss des Bundestages schon jetzt wesentlich zur Weiter- entwicklung der Europäischen Union Stellengesuch in der Zeitschrift „Öko-Test“: beigetragen hat (Nr. 7/2002): „Ich, 27 Jahre, suche eine Ausbildung als Köchin oder Bäckerin in Recklinghausen. Aber von der Machtlosigkeit des Bundes- Habe leider keinen Schulabschluss, da ich tages gegenüber „denen in Brüssel“ mag seit fünf Jahren in NRW wohne.“ der Vorsitzende des Ausschusses nichts hören. „Was wir wollen“, sagt der CDU- Politiker Friedbert Pflüger, „das können wir auch.“ … In dieser Wahlperiode hat der Ausschuss „Geschichte gemacht“, zitiert Pflüger den SPIEGEL. Das sonst eher mäke- lige Magazin bescheinigt den Abgeordneten, ihnen sei zu verdanken, dass der Konvent, der eine europäische Verfassung erarbeiten soll, kein regierungsabhängiger Zirkel ge- Aus den „Lüdenscheider Nachrichten“ worden ist, sondern ein formal unabhän- giges Gremium unter Beteiligung der na- tionalen Parlamente. Aus der „Frankfurter Rundschau“: „Nach Einschätzung der Frankfurter IHK stellen Die „Frankfurter Neue Presse“ zum aber auch die ersten Kreditinstitute wieder SPIEGEL-Bericht „Terrorismus – Schick- gezielt Menschen ein.“ salhafte Begegnung im Münsterland“, wonach ein beim Anschlag auf das World Trade Center am 11. September Aus der „Frankfurter Allgemeinen“: gestorbener Deutscher und der mut- „Nach Auskunft von Pathologen der Uni- maßliche Helfer der Todespiloten, versität Frankfurt handelt es sich um einen al-Motassadeq, sich kannten (Nr. 34/2002): jungen Mann, der seit mindestens 30 Jah- ren tot ist. Die Knochen seien wahrschein- Al-Motassadeq, geboren in der alten ma- lich seit 80 Jahren vergraben gewesen, teil- rokkanischen Königstadt Marrakesch, kam te die Polizei gestern mit.“ 1993 nach Deutschland, als er gerade 19 Jah- re alt war. In Münster lernte er Deutsch, spielte Fußball in der Kreisliga-Mannschaft des FC Gievenbeck und jobbte nebenbei in der Küche einer Gaststätte, die, wie der SPIEGEL recherchierte, den Eltern eines Mannes gehörte, der bei den Anschlägen vom 11. September im World Trade Center Aus der „Neuen Westfälischen“ ums Leben kam.

Bildunterschrift im Bielefelder „Westfalen- Der SPIEGEL berichtete … Blatt“: „Ludger Volmer: Bonusflug mit minderjährigem Sohn bezahlt.“ … in Nr. 35/2002 „USA –Wachsender Widerstand gegen die Todesstrafe“ über den Fall Toronto Patterson, der für einen dreifachen Mord, begangen mit 17, zum Tode verurteilt worden war.

Am vergangenen Mittwoch wurde Patterson Aus dem „PS report“ im Gefängnis von Huntsville (Texas) per In- jektion hingerichtet. Zwei Stunden zuvor hatte der Supreme Court, der im Herbst Aus dem „Braunschweig Report“: „Er ist eine Grundsatzentscheidung über das Min- ungebrochen, der Trend zum Single-Da- destalter bei der Todesstrafe fällen will, mit sein. Insgesamt 13,5 Millionen Singles le- 6:3 Stimmen den Antrag auf Verschiebung ben in unserem Land, zurzeit 7,8 Millionen der Exekution verworfen. Am vergangenen Frauen und 5,7 Millionen Männer. Das Montag ist außerdem der 110. rechtskräftig sind 17 Millionen Bundesbürger, die es Verurteilte aus der Haft entlassen worden, vorziehen, allein zu sein. Erstaunlich, dass weil ein neuer DNS-Test zweifelsfrei seine nur noch 19 der 81 Millionen Deutschen Unschuld erwiesen hatte: Eddie Joe Lloyd als Paar zusammenleben.“ hatte 17 Jahre hinter Gittern gesessen.

210 der spiegel 36/2002