Der Nationalsozialistische Untergrund, Das Ringen Um Aufklärung Und Die Folgen Für Die Demokratische Und Politische Kultur in Thüringen
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Andreas Förster / Hajo Funke Der nationalsozialistische Untergrund, das Ringen um Aufklärung und die Folgen für die demokratische und politische Kultur in Thüringen LANDESBÜRO THÜRINGEN Impressum Herausgeber: Dr. Paul Pasch Friedrich-Ebert-Stiftung Landesbüro Thüringen, Nonnengasse 11, 99084 Erfurt Redaktion: Andreas Förster, Hajo Funke Verantwortlich: Dr. Paul Pasch, Eva Nagler Lektorat: Sönke Hallmann Innengestaltung und Satz: Pellens Kommunikationsdesign GmbH, Bonn Titelgestaltung: Frank Ruprecht Druck: Brandt GmbH, Bonn ISBN: 978-3-96250-173-0 ©2018 FES Landesbüro Thüringen https://www.fes.de/landesbuero-thueringen/ Jede Form der Wiedergabe oder Vervielfältigung, auch auszugsweise, erfordert die schriftliche Zustimmung der Friedrich-Ebert-Stiftung. Andreas Förster / Hajo Funke Der nationalsozialistische Untergrund, das Ringen um Aufklärung und die Folgen für die demokratische und politische Kultur in Thüringen „Wir alle sollten auch nach diesem Prozess nicht aufhören, nach Antworten zu suchen. Vielleicht werden wir nie alles erfahren, aber wir werden die unzähligen Puzzleteile sammeln und zusammenfügen, bis das Bild der Wahrheit vor unseren Augen zu erkennen ist. Dann müssen auch alle anderen hinsehen.“ (Yvonne Boulgarides, Witwe des ermordeten Theo Boulgarides, in ihrem Plädoyer im Münchener NSU-Prozess) „Zwar ist Wahrheit ohnmächtig und wird in unmittelbarem Zusammenprall mit den bestehenden Mächten und Interessen immer den Kürzeren ziehen, aber sie hat eine Kraft eigener Art: Es gibt nichts, was sie ersetzen könnte.“ (Hannah Arendt) INHALT Vorwort .................................................................................................... 4 Einleitung ............................................................................................... 10 Kapitel 1: Das Urteil. Seine Grenzen ........................................................ 13 Kapitel 2: Made in Thüringen .................................................................. 26 Kapitel 3: Das Amt .................................................................................. 35 Kapitel 4: Im Zwielicht – Der Verfassungsschutz und seine Agenten ........ 42 Kapitel 5: Mundlos, Böhnhardt, Zschäpe – & Co.? ................................... 56 Kapitel 6: Rätselhafter Tod in Eisenach .................................................... 69 Kapitel 7: Offene Fragen ......................................................................... 78 Kapitel 8: Akte zu. Akte zu? .................................................................... 85 Fazit ........................................................................................................ 90 Nachwort ................................................................................................ 92 Abkürzungsverzeichnis ............................................................................ 95 Literaturverzeichnis ................................................................................. 96 4 Der nationalsozialistische Untergrund VORWORT Als im November 2011 die erschreckende Serie von Morden und Anschlägen der Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) um Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe bekannt wurde, löste das Ausmaß der Ver- brechen mit bundesweit mindestens zehn Toten in der deutschen Öffentlichkeit Trauer und Betroffenheit aus. In der Folge versprach nicht nur Bundeskanzlerin Merkel bedingungslose Aufklärung. Im Sommer 2018 ging der NSU-Prozess nach mehr als fünf Jahren und knapp 450 Verhandlungstagen vor dem Oberlandesgericht München zu Ende. Ange- klagt waren neben Beate Zschäpe vier weitere frühere oder noch aktive Rechtsextremisten, denen eine Unterstützung der Terrorgruppe vorgeworfen wurde. Der NSU soll nach den Erkenntnissen der Ermittler_innen neun Mi- granten und eine Polizistin ermordet sowie zwei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle verübt haben. Nach dem Tod der beiden mutmaßlichen Haupttäter Mundlos und Böhnhardt am 4. November 2011 wurde der Über- lebenden des einstigen NSU-Trios, Beate Zschäpe, Mittäterschaft an diesen Taten und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Die übrigen vier Angeklagten mussten sich wegen Beihilfe zum Mord bzw. Unter- stützung einer terroristischen Vereinigung verantworten. Der Prozess wurde vom 6. Mai 2013 bis zum 11. Juli 2018 unter dem Vorsitz von Manfred Götzl vor dem 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts München verhandelt. Beate Zschäpe wurde unter anderem wegen Mittäterschaft in zehn Mord- fällen, versuchtem Mord, schwerer Brandstiftung sowie Gründung und Mit- gliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Richter stellen zudem die besondere Schwere der Schuld fest. Das Ringen um Aufklärung und die Folgen für die demokratische und politische Kultur in Thüringen 5 Die Unterstützer des NSU-Trios Ralf Wohlleben (früherer NPD-Funktionär) und Carsten Schultze wurden wegen Beihilfe zum neunfachen Mord durch Be- schaffung der Tatwaffe zu zehn bzw. drei Jahren Haft verurteilt. André Eminger wurde wegen Beihilfe zu einem Sprengstoffanschlag, zum Raub und wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung, Holger Gerlach wegen Unter- stützung einer terroristischen Vereinigung zu zweieinhalb bzw. drei Jahren Gefängnisstrafe verurteilt. Aber auch nach der Verkündigung der Gerichtsurteile kann von einer umfas- senden Aufklärung der grausamen Machenschaften des NSU-Trios und seiner Mittäter_innen nicht die Rede sein. Vielmehr stellt sich immer noch die Frage: Was wissen wir überhaupt, sechseinhalb Jahre nachdem Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in einem Wohnmobil bei Eisenach starben und Beate Zschäpe sich der Polizei stellte? Wissen wir tatsächlich, warum zehn Menschen Opfer einer obskuren Terrorzelle namens NSU wurden? Wissen wir, ob es nicht noch mehr Morde gab?Wissen wir, ob nicht noch andere Mittäter_innen existieren, das Trio also tatsächlich nur ein Trio war? Auch nach der Urteilsverkündung lauten die Antworten Nein, Nein und noch mal Nein. Längst wurden nicht alle Spuren verfolgt, und so bleiben viele Fragen offen. Dabei war der Ermittlungsaufwand enorm. Hunderte Beamt_innen von Bun- des- und Landesbehörden ermittelten. Um die 600 Zeug_innen, Sachverstän- dige und Opfer wurden vorgeladen. Das öffentliche Interesse am 64 Millionen Euro kostenden Prozess ist weitgehend erloschen. Das hat auch politische Gründe: Denn auf die Fragen, die zu Beginn des Prozesses gestellt wurden, nämlich nach staatlichen Ermittlungsfehlern und einer möglichen Mitverant- wortung für die Mordserie sowie Sanktionen innerhalb der Behörden, wollte die Bundesanwaltschaft keine Antworten suchen. Darüber hinaus beschäftigten sich zwei Untersuchungsausschüsse des Bundes- tages und fast ein Dutzend Landtagsausschüsse mit der Frage, wie ein paar Rechtsterrorist_innen raubend und mordend durch die Republik ziehen konn- ten, ohne dass jemand auch nur von ihrer Existenz ahnte. Die Untersuchungs- ausschüsse haben ausgezeichnete Arbeit geleistet. Insbesondere der Unter- 6 Der nationalsozialistische Untergrund suchungsausschuss des Thüringer Landtags hat zum Teil weitreichende Erkenntnisse zu Art und Ausmaß rechtsextremer und rechtsterroristischer Netzwerke und ihrer Taten vorgelegt und immer wieder als Nebenergebnis tiefe und aufschreckende Einblicke in das rücksichtslose Eigenleben der Dienste und Konsequenzen für Politik, Polizei, Justiz und die Öffentlichkeit gebracht. Auch nach der Urteilsverkündung fällt die Bilanz der Aufklärung ernüchternd aus. Das ist darauf zurückzuführen, dass die Ermittlungsbehörden vielen Spu- ren und Hinweisen nicht nachgegangen sind, die tiefer in das undurchsichtige Geflecht aus gewaltbereiten Neonazis, zwielichtigen Verfassungsschutzspitzeln und Geheimdiensten führen könnten. Zu groß war offenbar der politische Druck auf die Bundesanwaltschaft, in möglichst kurzer Zeit eine einigermaßen belastbare Anklage für einen Prozess zu erheben. Und so spart die Anklage- schrift eine Mitverantwortung staatlicher Behörden für die NSU-Mordserie konsequent aus. Die von der Bundesanwaltschaft in ihrer Anklage vertretene Theorie einer ab- geschotteten dreiköpfigen Terrorzelle scheint für den Staat die praktikabelste Lösung zu sein: • Die beiden angeblichen Todesschützen sind nicht mehr am Leben, sodass man ihnen die Täterschaft nicht nachzuweisen braucht. • Polizei und Verfassungsschutz werden lediglich Fehlverhalten und Ver- säumnisse in ihrer Arbeit zugeschrieben, was ihre Mitverantwortung für die NSU-Mordserie unter eine haftungspflichtige Grenze schiebt. • Das hat dazu geführt, dass die Hauptauseinandersetzung vor dem Münch- ner Oberlandesgericht nicht zwischen Verteidigung und Anklage verlief, sondern zwischen Nebenanklage und Anklage. Und so war der Prozess in München kein herkömmlicher Strafprozess, sondern ein Instrument der Opferfamilien und ihrer Anwälte, die Aufklärung der Hintergründe der Mordserie in der Öffentlichkeit voranzutreiben. Und diese Opfer sind Opfer in zweifacher Hinsicht: Die mutmaßlichen Rechts- terroristen des NSU erschossen neun Kleingewerbetreibende – acht türkisch- Das Ringen um Aufklärung und die Folgen für die demokratische und politische Kultur in Thüringen 7 und einen griechischstämmigen. Das zehnte Opfer war eine Polizistin aus Thüringen. Bei zwei Bombenanschlägen in Köln wurden außerdem mehr als 20 Menschen zum Teil lebensgefährlich verletzt. Jahrelang vermutete die Poli- zei, dass die Opfer in kriminelle Machenschaften verstrickt gewesen und sie deshalb Opfer der türkischen Mafia geworden seien. Die Opferfamilien waren