Ulla Plener (Hrsg.) Die November­ revolution 1918/1919 in Deutschland Für bürgerliche und sozialistische Demokratie Allgemeine, regionale und biographische Aspekte

Beiträge zum 90. Jahrestag der Revolution evolution 1918/1919 in Deutschland evolution 1918/1919 ­ ­­ r Die November

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Rosa-Luxemburg-Stiftung Manuskripte 85 Manuskript85-Plener.qxd 25.08.2009 15:01 Uhr Seite 3

Rosa-Luxemburg-Stiftung

ULLA PLENER (HRSG.)

Die Novemberrevolution 1918/1919 in Deutschland

Für bürgerliche und sozialistische Demokratie

Allgemeine, regionale und biographische Aspekte

Beiträge zum 90. Jahrestag der Revolution

Karl Dietz Verlag Manuskript85-Plener.qxd 25.08.2009 15:01 Uhr Seite 4

Ein herzlicher Dank an Helga Brangsch für die umfangreiche Mitarbeit bei der Herstellung des Manuskripts.

In den vorliegenden Beiträgen folgt die Schreibweise nur teilweise der letzten Rechtschreibreform – sie wurde den Autoren überlassen, Zitate eingeschlossen.

Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe: Manuskripte, 85 ISBN 978-3-320-02205-1 Karl Dietz Verlag Berlin GmbH 2009 Satz: Marion Schütrumpf Druck und Verarbeitung: Mediaservice GmbH Bärendruck und Werbung Printed in Manuskript85-Plener.qxd 25.08.2009 15:01 Uhr Seite 5

Inhalt

Zum Geleit 7

WERNER BRAMKE Eine ungeliebte Revolution. Die deutsche Novemberrevolution 1918/1919 im Widerstreit von Zeitgenossen und Historikern 11

MARCEL BOIS/REINER TOSSTORFF „Ganz Europa ist vom Geist der Revolution erfüllt“. Die internationale Protestbewegung am Ende des Ersten Weltkrieges 41

HARTMUT HENICKE/MARIO HESSELBARTH Chance der Revolution: Soziale Demokratie war möglich 61

OTTOKAR LUBAN Neue Forschungsergebnisse über die Spartakuskonferenz im Oktober 1918 68

ULLA PLENER Zum Verhältnis demokratischer und sozialistischer Bestrebungen in der Revolution 1918/1919 79

INGO MATERNA Berlin – das Zentrum der deutschen Revolution 1918/1919 92

LENNART LÜPKE/NADINE KRUPPA Von der politischen Revolution zur sozialen Protestbewegung: Die Revolution im Ruhrgebiet 1918-1920 104

JUDITH PAKH Die Revolution in Hessen – einige Grundzüge 131

MARIO HESSELBARTH Zur Novemberrevolution 1918/1919 in Thüringen 147

SILVIO REISINGER Die Novemberrevolution 1918/1919 in 163

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HELMUT SCHWARZBACH Die revolutionären Kämpfe in Zittau 1918-1920 181

GÜNTER WEHNER Die Stahlwerker von Hennigsdorf bei Berlin in der Novemberrevolution 187

RALF HOFFROGGE Räteaktivisten in der USPD: Richard Müller und die Revolutionären Obleute in Berliner Betrieben 189

GERHARD ENGEL Draufgängertum zwischen Diktatur und Demokratie: Johann Knief in der revolutionären Hochburg 200

FLORIAN WILDE Ernst Meyer vor und während der Novemberrevolution im Jahre 1918 210

ECKHARD MÜLLER Der streitbare Freireligiöse Adolph Hoffmann: politisches Wirken vor und während der Novemberrevolution 1918/1919 232

MIRJAM SACHSE Marie Juchacz: Reflexionen der Novemberrevolution 1918/1919 in der „Gleichheit“ 249

WOLFGANG BEUTIN Intellektuelle in der Revolution 262

HARTMUT HENICKE Zu den Weltkriegsrevolutionen 1918/1919 und ihrem Platz in der Geschichte 283

PETER SCHERER Die Bedeutung der Novemberrevolution 1918 für die deutsche und europäische Geschichte 296

WERNER BRAMKE Zwei Revolutionen im November 304

Namensverzeichnis 309 Autorinnen und Autoren 326

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Zum Geleit

Die Erinnerung an die Revolution 1918/1919 in Deutschland wurde vor 1989/ 1990 besonders von der westdeutschen und wird seitdem von der gesamtdeutschen offi- ziellen Geschichtspolitik aus dem öffentlichen Bewusstsein an den Rand bzw. ganz verdrängt. So ist im Prospekt der Ausstellung „Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen aus zwei Jahrtausenden“ des Deutschen Historischen Museums in Ber- lin, der staatlichen Leiteinrichtung für dieses Thema, über den Abschnitt 1871-1918 („Kaiserreich und Erster Weltkrieg“) abschließend zu lesen: „1918 kapitulierte Deutschland, Wilhelm II. musste abdanken. Der Krieg setzte in Deutschland und in anderen Teilen Europas neue republikanische Kräfte frei.“ Und der folgende Ab- schnitt 1918-1933 („Weimarer Republik“) wird mit dem Satz eingeleitet: „Aus den revolutionären Erschütterungen nach dem Ersten Weltkrieg ging das Deutsche Reich 1918 als parlamentarische Demokratie hervor.“ Der Begriff Revolution wird tunlichst vermieden. Unter der Fragestellung „Wie und wo entstand die demokrati- sche Ordnung in Deutschland?“ bot die Berliner Landeszentrale für Politische Bil- dung 2008 einen „historischen Stadtrundgang“ durch Berlin an – Anlass und Schwerpunkt war die Märzrevolution 1848. Und der Berliner Senat will den 18. März zum „nationalen Gedenktag zu Ehren des Geburtstags der Demokratie“ er- klären (und einen entsprechenden Antrag in den Bundesrat einbringen): Die März- revolution 1848 sei Teil einer länderübergreifenden Bewegung gewesen und habe sich gegen Fürstenwillkür und Absolutismus in den damaligen deutschen Klein- staaten gerichtet. Die Tatsache stimmt, nur: Erreicht wurde dieses Anliegen nicht in- folge der Märzrevolution (da scheut man auch den Begriff nicht) 1848, sondern im Ergebnis der November-Revolution 1918 – erst da musste Wilhelm II. abdanken, und Deutschland wurde Republik. Der Geburtstag der Republik ist der 9. Novem- ber – dieser müsste zum deutschen Staatsfeiertag erklärt werden. Allerdings ist das ein schwieriges Datum in der deutschen Geschichte, weil es auch den 9.11.1923 und den 9.11.1938 gab. Aber beide Daten hängen eben mit der November-Revolution 1918 zusammen. Auf den inneren Zusammenhang dieser drei 9. November verweist Peter Scherer (S. 300f.): Faschismus – „das politische System der Konterrevolution“ – war auch die Antwort auf die Revolution vom November 1918; der Hitler-Putsch 1923 und der Pogrom 1938 wurden nicht zu- fällig gerade an einem 9.11. inszeniert. Ähnlich Werner Bramke (S. 13). Bramke greift außerdem den vierten 9.11. der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts auf – den Mauerfall 1989 infolge einer Volksbewegung in der DDR. Er vergleicht ihn mit dem 9.11.1918 und fragt auch da nach dem Zusammenhang, u. a. nach der Verbindung von politischer Demokratie mit der sozialen Frage – das Anlie- gen breiter Volksschichten 1918 und nach 1989, – eine Frage, die den heute in

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Deutschland Herrschenden und Regierenden unbequem ist und sie wohl auch des- halb die Erinnerung an die Revolution 1918/1919 möglichst verdrängen möchten. So erweist sich auch heute wie vor 1989/1990 in Ost und West der Zusam- menhang Geschichte – Geschichtsschreibung – aktuelle Politik. Die hier vorliegenden Beiträge entstammen überwiegend der aus Anlass des 90. Jahrestages der Revolution 1918/1919 vom Förderverein für Forschungen zur Ge- schichte der Arbeiterbewegung gemeinsam mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin am 31. Oktober und 1. November 2008 durchgeführten wissenschaftlichen Tagung. Es ging um allgemeine, regionale und biografische Aspekte in der Revolu- tion unter der Fragestellung: für bürgerliche und/oder sozialistische Demokratie? Beiträge und Diskussion führten zu dem Schluss: In dieser Revolution ging es den Akteuren um die bürgerliche und um die sozialistische (soziale) Demokratie. Der herausragende Platz der Revolution 1918/1919 in der deutschen Geschichte erweist sich, so das Ergebnis der Tagung, mindestens in dreierlei Hinsicht: 1. Ihr Hauptergebnis: Sie beendete den Ersten Weltkrieg, brachte Deutschland den Frieden, stürzte das Kaisertum und etablierte die Republik mit allgemeinem Wahlrecht, auch für Frauen, der Trennung von Staat und Kirche u. a. demokrati- schen Maßnahmen sowie einigen nach jahrzehntelangem Kampf endlich gewähr- ten sozialen Rechten für die Lohnarbeitenden. 2. Das erfolgte nicht aufgrund eines Parlamentsbeschlusses, sondern war das Resultat breiter, in erster Linie von der Arbeiterbewegung getragener spontaner Massenaktionen. 3. Deshalb war der demokratischen Revolution ein ausgeprägter sozialer und basisdemokratischer Grundzug eigen, was sich besonders in der Bildung und dem anfänglichen Wirken der Arbeiter- und Soldatenräte und in der Forderung nach Sozialisierung niedergeschlagen hatte. Insgesamt ging es also um Frieden, demokratische Republik, individuelle staatsbürgerliche Freiheiten – und um die Lösung der sozialen Frage, um kollek- tive soziale Rechte aller, die Eigentumsfrage eingeschlossen. Mit der Annahme der Verfassung in Weimar im August 1919 wurde die bür- gerlich-demokratische Staatsordnung in Deutschland etabliert, und sie bedeutete auch den Durchbruch zur Anerkennung wesentlicher Rechte der Lohnarbeitenden. Insofern war die Revolution 1918/1919 die erste erfolgreiche Revolution in Deutschland – und das wurde maßgeblich von der Arbeiterbewegung erreicht. Diese Erkenntnis wurde auf der Tagung mit konkretem Material aus verschie- denen Regionen Deutschlands untersetzt: In Berlin, in Hessen, in Thüringen, in Sachsen, im Ruhrgebiet und anderswo – überall bildeten sich die Räte spontan, von unten, setzten sie sich basisdemokratisch für die Republik und die soziale De- mokratie ein (darunter Räte geistiger Arbeiter in Berlin, München, Wien; ein Hausfrauenrat in Jena u.a.m.). Vielerorts hatten sie – mit friedlichen Mitteln, als soziale Gewalt – anfänglich (vor allem im November und Dezember 1918) die reale Macht verkörpert, in einigen Fällen auch Betriebe übernommen. Dabei

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wurde hier und da die mögliche Parallelität, auch Verschränkung der parlamenta- rischen, auf Parteien gestützten und der basisdemokratischen Räte-Macht erwo- gen – eine Frage, die 1945 noch einmal gestellt wurde und für die aktuelle Dis- kussion der Linken von Interesse sein könnte. Eine weitere mit konkreten Fakten belegte Erkenntnis: Es waren überall die Kräfte der Konterrevolution – die Reaktion, das Militär –, die zur Waffengewalt griffen und den Bürgerkrieg entfachten. Dagegen waren die revolutionären Kräfte zu schwach, nicht zuletzt wegen ih- rer Zersplitterung, auch in den Regionen, – „die sozialistische deutsche Arbeiter- bewegung ging weitgehend unvorbereitet in diese Revolution“. (S. 22) Die Füh- rer ihrer einflussreichsten Partei, der MSPD, wirkten als Bremser, Gegner der Räte und der tiefgreifenden sozialen Umwälzung; sie wollten nur die parlamenta- rische Republik – und sie verbündeten sich dafür mit der Konterrevolution, im Zentrum Berlin ebenso wie in den Regionen. Die Mehrheit der USPD vertrat ein (vages) Konzept des dritten Weges (also Nationalversammlung mit dem Gegen- gewicht der Räte), das aber wegen mangelnder Unterstützung seitens der linken Minderheit, auch außerhalb dieser Partei, gescheitert war.– „Das Scheitern des Konzepts muss aber nicht dessen Illegitimität oder grundsätzliche Fehlkonstruk- tion beweisen.“ (S. 26) Die radikale Linke (Spartakusbund/KPD) hatte zu wenig Einfluss auf die in Bewegung gekommenen Arbeitermassen und ebenfalls kein klares Konzept. Im Unterschied zu dem in der Literatur vorherrschenden negati- ven Urteil über diese Linke fragte Werner Bramke nach ihrer „positiv aufstören- den Rolle“ in der Revolution, nach ihrer im Antikriegskampf wurzelnden demo- kratischen und humanistischen Tradition, die sie in Deutschland "als legitime, unbequeme, aber vorwärtstreibende Kraft" ausweise, weshalb sie „in einer demo- kratischen Gesellschaft nicht einfach ausgegrenzt werden sollte“.(S. 26/27) So wurde die Tagung von einer differenzierten, pauschale Urteile vermeidenden Sicht auf die Akteure der Revolution bestimmt. Davon zeugen auch die biografi- schen Beiträge, darunter über das Agieren vieler Intellektuellen, sowie Auskünfte über positive gewerkschaftliche Stellungnahmen zu Revolution, Räten und Soziali- sierung. Die (im einzelnen noch nicht beantwortete) Frage wurde aufgeworfen, wie breit die soziale Basis der Revolution über die Arbeiterschaft hinaus – oder nicht – war, was ihre Ergebnisse entsprechend beeinflussen musste. Ein in den Beiträgen und in der Diskussion behandelter Aspekt war die notwen- dige globale Sicht und die Einordnung der Revolution in Deutschland in das dama- lige internationale Geschehen als Bestandteil der revolutionären Umwälzungen in- folge des Weltkrieges. Bezogen auf die in der Diskussion vorgetragene These von der Vorbild- (gar Leit-) Funktion der deutschen Revolution 1918/1919, die ihr eher als der Oktoberrevolution 1917 in Russland zukäme, wurde zweierlei unterschieden: 1. International unvergleichlich stärker ausgestrahlt hat die Revolution in Rus- sland, sie bildete die „globale Klammer“ der damaligen revolutionären Ereignisse in Europa und in der ganzen Welt. Auch nach Deutschland kam der Impuls für die

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Rätedemokratie aus Russland – so die damaligen Akteure (vgl. z. B. S. 84), darun- ter auf dem Gründungsparteitag der KPD: Die Bildung der Arbei- ter- und Soldatenräte sei das Stichwort der deutschen Revolution – „und wir sollen es nie vergessen, wenn man uns mit den Verleumdungen gegen die russischen Bol- schewisten kommt, darauf zu antworten: Wo habt Ihr das Abc Eurer heutigen Re- volution gelernt? Von den Russen habt Ihr’s geholt: die Arbeiter- und Soldatenräte (Zustimmung)... Die russische Revolution war es, die die ersten Losungen für die Weltrevolution ausgegeben hat.“1 Das bleibt auch 90 Jahre später wahr. 2. Der oben festgestellte ausgeprägte soziale und basisdemokratische Grundzug der (angesichts ihrer Ergebnisse) bürgerlich-demokratischen Revolution 1918/1919 in Deutschland reflektierte das damalige Potenzial (Chance) für einen neuen Typus der Demokratie – der sozialen Demokratie, dessen Realisierung die Brüche der deut- schen – und damit europäischen – Geschichte 1933, 1938, 1939-1945 eventuell ver- mieden hätte. Aber dieses Potenzial hat sich nicht realisiert. Und so bleibt am Ende, dass es doch die Oktoberrevolution von 1917 in Russland und ihre Folgen waren, die das europäische und Weltgeschehen im 20. Jahrhundert – wenn auch nicht im Sinne ihrer damaligen maßgebenden Akteure – weitgehend bestimmt haben. Die hier vorgelegten Beiträge enthalten eine Fülle bisher nicht oder wenig be- kannter Tatsachen und Vorgänge der Revolutionszeit 1918/1919, auch Präzisie- rung bekannter Fakten (vgl. Zeitpunkt, Ort, Ablauf und Zusammensetzung der Oktober-Konferenz der Spartakusgruppe 1918, S. 68ff.) sowie Anregungen für weitere Revolutionsforschungen, darunter (in Anlehnung an , vgl. S. 68/69) über die soziale (kollektive) „Psyche als geschichtlicher Faktor“. Für die sozialistisch orientierte Linke bleiben die Erfahrungen der Revolution 1918/1919 von wesentlichem Interesse: Der Durchbruch zu demokratischen und so- zialen Rechten war Ergebnis der Bewegung Hunderttausender, ja Millionen von „un- ten“, der sozialen Gewalt „der Straße“; es waren in erster Linie demokratische, mit so- zialen Anliegen verbundene Forderungen, die die Massen auf die Straßen trieben; die Ideen der Demokratisierung von Staat und Wirtschaft materialisierten sich in der Rä- tebewegung und ihrer Forderung nach Sozialisierung, nach Wirtschaftsdemokratie; es war – neben der ausschlaggebenden Waffengewalt der Konterrevolution – nicht zu- letzt die Zersplitterung der sozialistisch orientierten Linken, die ein Weitertreiben der Revolution hin zur sozialen (sozialistischen) Demokratie behinderte. Es hätte nicht un- bedingt „eine revolutionäre Partei“ geben müssen – aber die (bewusste) Einheit des Handelns der verschiedenen linken Kräfte war geboten. Sie ist es heute auch. So bleibt das Studium der Revolution 1918/1919 eine Quelle für das aktuelle Nachdenken über den weiteren Weg der Linken. Denn heute steht immer noch wie 1918/1919 – neben der Verteidigung demokratischer Persönlichkeitsrechte – die Lösung der (alten) sozialen Frage auf der Tagesordnung. Ulla Plener

1 Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Berlin 1974, S. 498.

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WERNER BRAMKE Eine ungeliebte Revolution. Die deutsche November- revolution von 1918/1919 im Widerstreit von Zeitgenossen und Historikern1

Lohnt es, an eine Revolution zu erinnern, die aus dem öffentlichen Bewusstsein weitgehend verschwunden ist? Haben nicht auch die Fachleute ihr Desinteresse in den letzten zwanzig Jahren bekundet, indem sie kaum Neues zu Tage förderten und sich, wenn überhaupt, dann zumeist nur im Zusammenhang mit anderen The- men über die deutsche Revolution von 1918/1919 äußerten? Das Forschungsinteresse an der Revolution von 1918/19 hat schon deutlich vor der Wiedervereinigung nachgelassen. Ulrich Kluge konnte bereits 1985 in seiner Gesamtdarstellung zur Novemberrevolution seit Längerem kaum noch Neues in den Forschungen zu dieser Revolution entdecken, und zwar weder in der westdeutschen noch in der ostdeutschen Geschichtswissenschaft, wobei er in letzterer noch weni- ger Bewegung sah.2 Im Jubiläumsjahr 1988 schien noch einmal in zweierlei Hinsicht eine gewisse positive Unruhe in die fast eingeschlafene Diskussion um diese Revolution zu kommen: In der DDR erschienen zum 70. Jahrestag der Novemberrevolution mehrere Beiträge, die veränderte Akzentuierungen gegenüber der bisherigen, von der Führung der SED verordneten oder abgesegneten Linie erkennen ließen.3Weil es in diesen Darstellungen immer auch um die KPD und damit um die eigene Par- teitradition ging, darf angenommen werden, die neue Offenheit war von den Par- teioberen als Signal im Entspannungsprozess der Achtzigerjahre gewünscht oder wenigstens nicht behindert worden. In den von mir zusammen mit Ulrich Heß ge- schriebenen Beitrag jedenfalls hat es kein Hineinreden gegeben, obwohl der Auf- satz in der zentralen und damit offiziösen geschichtswissenschaftlichen Zeitschrift erschien. Dessen Erscheinen ohne irgendwelche Auflagen wurde gewiss auch durch die Empfehlung vom unlängst verstorbenen Wolfgang Ruge, der in Fach- kreisen der DDR großes Ansehen genoss, ermöglicht. Der Zwang zur Entspannung in den Außenbeziehungen und der Druck von Glasnost im Inneren hatte schon seit Jahren (noch vor Gorbatschow und vor der

1 Der Beitrag bildet das erste Kapitel eines Buchprojektes zum Thema „Die Revolution von 1918/19 über Leip- zig“ (Arbeitstitel). Das Buch erscheint 2009 im Leipziger Universitätsverlag. 2 Siehe Ulrich Kluge: Die deutsche Revolution 1918/1919. Staat, Politik und Gesellschaft zwischen Weltkrieg und Kapp-Putsch, Frankfurt/Main 1985, S. 30, 36. 3 Siehe Jürgen John: Das Bild der Novemberrevolution 1918 in Geschichtspolitik und Geschichtswissenschaft der DDR, in: Heinrich August Winkler: Weimar im Widerstreit. Deutungen der ersten deutschen Republik im geteilten Deutschland, München 2002, S. 43-84, hier S. 82f. Zu den von der vorgegebenen Linie abweichen- den Publikationen rechnete John auch den von mir und Ulrich Heß verfassten Aufsatz: Die Novemberrevolu- tion in Deutschland und ihre Wirkung auf die deutsche Klassengesellschaft, in: Zeitschrift für Geschichtswis- senschaft (ZfG) 36 (1988), H. 12, S. 1059-1073.

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Kenntnis des Begriffs im politischen Sprachgebrauch) eine gewisse Entkramp- fung im deutsch-deutschen wissenschaftlichen Meinungsstreit bewirkt. Das betraf insbesondere der Politik nahe Forschungsfelder wie die Revolutionsgeschichte und die Widerstandsforschung. So gab es 1988 keine Probleme, Heinrich August Winkler zu einem Vortrag über die deutsche Revolution von 1918/1919 an die Karl-Marx-Universität Leipzig einzuladen. Auch erfolgten keine Auflagen für die Veranstaltung selbst, am öffentlichen Vortrag und an der Diskussion nahmen interessierte Wissenschaftler und Studenten nach ihrem Gusto teil. Der Vortrag er- schien wenig später in der „Historischen Zeitschrift“, dem traditionsreichsten ge- schichtswissenschaftlichen Periodikum.4 Winkler und ich hofften auf neue Im- pulse für die Forschung und die Intensivierung des deutsch-deutschen Dialogs. Wir ahnten nicht, dass das Erscheinen unserer Aufsätze in der für die von uns ver- tretenen Staaten jeweils wichtigsten Geschichtszeitschrift das Ende der deutsch- deutschen Diskussion über die Revolution von 1918/1919 bedeutete. Die Ursachen für das allmählich nachlassende Interesse an dieser Revolution sieht Rürup in der Entwicklung der Forschungen selbst und dabei besonders in der Veränderung der methodischen Ansätze.5 Die Ende der Fünfzigerjahre des 20. Jahrhunderts verstärkte Hinwendung zur sozialgeschichtlichen Methode und in diesem Zusammenhang zur Geschichte der Arbeiterbewegung hatte in der bundesdeutschen Geschichtsschreibung zu bemer- kenswerten Veränderungen in der Sicht auf die Revolution von 1918/19 geführt. Wurde bis dahin von einer ernsten Bedrohung des Durchbruchs zur Demokratie 1918 durch bolschewistisch-spartakistische Kräfte ausgegangen, erbrachten wich- tige Forschungen zu den Räten vor allem durch Eberhard Kolb6 und Peter von Oertzen7 die Erkenntnis, eine reale bolschewistische Bedrohung habe nicht be- standen. Die Rätebewegung wurde nun als wichtige, teilweise als entscheidende Kraft für die Etablierung der neuen Demokratie anerkannt. Der Siegeszug der So- zialgeschichte, so Rürup, machte diese und deren theoretische Fundierung zur herrschenden Lehre.8 Herrschende Lehren führen aber irgendwann zur Erstarrung beziehungsweise zur Erschlaffung. Als seit dem Ende der Siebzigerjahre die All- tags- und die Frauengeschichte verbreitetes Interesse bei Forschern und in der Öf- fentlichkeit fanden, traten die wichtigsten Themen der Sozialgeschichte im Ver- lauf der Achtzigerjahre in den Hintergrund. Eine solche Argumentation hat Plausibilität für sich. Denn gerade die Alltags- geschichte und die gleichfalls im Vormarsch befindliche Mentalitätsgeschichte

4 Siehe Heinrich August Winkler: Die Revolution von 1918/19 und das Problem der Kontinuität in der deut- schen Geschichte, in: Historische Zeitschrift (HZ) 250 (1990), S. 300-319. 5 Siehe Reinhard Rürup: Die Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichte. Vortrag vor dem Ge- sprächskreis der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn am 4. November 1993, Bonn-Bad Godesberg 1993, S. 18- 20. 6 Siehe Eberhard Kolb: Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918-1919, Düsseldorf 1962. 7 Siehe Peter von Oertzen: Betriebsräte in der Novemberrevolution, Düsseldorf 1963. 8 Siehe Rürup, Revolution von 1918/19, S. 16f.

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nahmen die „kleinen Leute“, was auch heißt kleine Gruppen und Individuen, ins Visier. Gleiches gilt für die Kulturgeschichte, die seit den Neunzigerjahren, in ge- wisser Hinsicht zum Missvergnügen vieler Sozialhistoriker, ein neuer Trendsetter wurde. Staatsaktionen erschienen aus der Perspektive dieser methodischen Schu- len für viele Forscher nicht mehr „in“ zu sein. Aber eine solche Erklärung lässt manches offen. So darf man etwas salopp for- mulieren: Die Revolution war ja keine Staatsaktion, sondern ein Aufruhr gegen den Staat, getragen gerade von den „kleinen Leuten“! Hier äußerte sich massen- haft ein neues Selbstbewusstsein, das eine neue politische Kultur begründete. Dem intensiver nachzugehen hätte ein lohnendes Ziel sein können. Es hätte z. B. nahegelegen zu untersuchen, wie die Frauen zur Revolution gestanden haben. Das geschah nicht. Die Untersuchungen zur sozialen Lage der Frauen im Krieg und in den unruhigen Zeiten von Revolution und früher Republik nehmen die Frauen zu- meist nicht als Akteure, sondern als von den Wirren Betroffene wahr. Nachdenklich stimmt weiter, dass im Aufstieg der Erinnerungskultur und Ge- schichtspolitik zu wissenschaftlichen Teildisziplinen mit großer öffentlicher Be- achtung gerade seit der Vereinigung von DDR und BRD 1990 die Revolution von 1918/1919 wie eine arme Waise behandelt wird. Die Leser werden sich erinnern, wie in den zurückliegenden Jahren relativ oft in den Medien vom 9. November in der deutschen Geschichte die Rede gewesen ist. Besondere Beachtung fanden die Pogrom-Nacht vom 9. November 1938 als negativer Fixpunkt und als Contra- Diktion dazu der Fall der Mauer am 9. November 1989, mit dem der Weg in die Freiheit unumkehrbar gemacht worden sei. Selbst Hitlers Bierkeller-Putsch am 9. November 1923 ist seit geraumer Zeit häufiger im öffentlichen Gespräch als der Durchbruch zur Demokratie am 9. November 1918.9 Dabei hat das Geschehen, das mit den anderen drei Erinnerungspunkten verbunden ist, eine innere Bezie- hung zu den Novemberereignissen von 1918. Hitlers Coup 1923 wurde möglich, weil 1918/1919 den schlimmsten Feinden der Republik zu viel Spielraum gege- ben wurde. Was diese nutzten, um schließlich die Weimarer Demokratie zu besei- tigen und später zur Vernichtung der deutschen und europäischen Juden überzu- gehen, wofür das Pogrom von 1938 das Signalzeichen darstellte. Diese drei Stationen markierten keinen zwangsläufig zu begehenden Weg, aber ihre Zusam- menhänge sind unübersehbar.10 Auf Geschichtsschreibung wirkt immer Politik ein. Auch auf die künftigen Hi- storiker werden politische Gespräche im Elternhaus, in der Schule sowie eigene Lektüre und, wie heute, vielleicht am stärksten die Massenmedien Einfluss ausü- ben. Später kommt das eigene Erleben und nicht selten Erleiden von aktueller Po- litik hinzu. Der für unser Thema so wichtige Historiker Arthur Rosenberg steht

9 Ein gewisses Gegengewicht bildeten Veranstaltungen, vor allem vom DGB organisiert, zu sogenannten run- den Jahrestagen der Revolution von 1918/1919, um die Aktualität der damaligen Kämpfe für die Bewältigung der heutigen Probleme zu zeigen. 10 Siehe dazu den Beitrag von Peter Scherer im vorliegenden Band.

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beispielhaft für Letzteres. Aber auch Politiker werden durch den Bildungsgang und den Gang der Geschichte selbst wenn nicht vorgeprägt, so doch beeinflusst – sofern es ihnen nicht nur um die Karriere geht. Nach dem Zweiten Weltkrieg sahen alle Menschen in Deutschland, die irgendwie mit dem politischen Geschäft verbunden waren, sich nahezu zwanghaft verpflichtet, sich mit der jüngsten Geschichte des ei- genen Landes auseinanderzusetzen. Das betraf ganz besonders die Entstehung und das Scheitern der Weimarer Republik sowie den Absturz in die Nazi-Diktatur. In Westdeutschland waren die Väter des Grundgesetzes in ihrer Arbeit bemüht, Fehler in der Weimarer Verfassung, die nach ihrer Meinung das Scheitern der er- sten deutschen Republik begünstigt hatten, zu vermeiden. In dieser Verfassung wurden die Eckpunkte für die repräsentative, wehrhafte Demokratie gesetzt.11 Die meisten Arbeiten der bundesdeutschen Historiker über die neueste deutsche Ge- schichte spiegeln diese Intention des Grundgesetzes wider, auch in der Bejahung der Fünf-Prozent-Klausel oder in der Skepsis gegenüber Volksbefragungen. In Ostdeutschland diente die Auseinandersetzung mit der Novemberrevolution leitmotivisch für den Entwurf des anderen deutschen Staates. Das Buch Otto Gro- tewohls „Dreißig Jahre später“12 steht dafür. Der Verzicht auf die Sozialisierung der wirtschaftlichen Schlüsselpositionen und auf die Rätemacht nach russischem Vorbild galten der SED-Führung als die schwerwiegendsten Mängel der Novem- berrevolution. Diese Fehler seien auf das Fehlen einer einheitlichen Arbeiterpar- tei zurückzuführen. Als diese und damit als legitime Erbin der besten revolu- tionären Kräfte in der Revolution sah sich die SED. Die Lehre von der Einheit der Arbeiterbewegung wurde zur verpflichtenden Grundlage für die Arbeit aller Hi- storiker, die sich mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts befassten. In beiden Teilen Deutschlands hatte die Auseinandersetzung mit der Revolution von 1918/1919 und mit der Weimarer Republik auch immer eine legitimatorische Funktion. Das galt für die Zeit der Staatsgründungen umso mehr, als deren Pro- motoren auf den Gang der Geschichte in den zurückliegenden drei Jahrzehnten gewissen Einfluss genommen hatten. In Ost und in West steckten aber die Besat- zungsmächte den Rahmen für die grundsätzliche Ausrichtung und damit auch für die Arbeit an den Verfassungen ab. Dabei schreckten auch die Westmächte in ih- rer Kontrollfunktion nicht vor direkten Eingriffen zurück. Der Spielraum für die Staatsgründer im Westen war jedoch erheblich größer als der für ihre nunmehri- gen Gegner im Osten. Ob das für die direkte Arbeit an den Verfassungen gilt, ist bis heute nicht wirklich geklärt. Die Untersuchung von Johannes Frakowiak über die Ausarbeitung der sächsischen Landesverfassung lässt beträchtlichen Spiel- raum auch für die daran beteiligten Vertreter der bürgerlichen Parteien (die damals diese Bezeichnung noch verdienten) erkennen.13 Erst mit dem voll einsetzenden 11 Siehe John, Bild der Novemberrevolution, S. 46f. 12 Siehe Otto Grotewohl: Dreißig Jahre später. Die Novemberrevolution und die Lehren der Geschichte der deut- schen Arbeiterbewegung, Berlin 1948. 13 Siehe Johannes Frakowiak: Soziale Demokratie als Ideal. Die Verfassungsdiskussionen nach 1918 und 1945, Köln-Weimar-Wien 2005.

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Kalten Krieg 1948 wurde die Herrschaft der SED und in dieser die Dominanz der Kommunisten durchgesetzt, auch bei der Entwicklung eines verbindlichen Ge- schichtsbildes. Der Kalte Krieg beeinflusste auch die Entwicklung der Geschichtswissenschaft in Westdeutschland, zumindest was die Zeitgeschichte betraf. Das Bild, das die Hi- storiker von der Revolution von 1918/1919 entwarfen, war wesentlich von der An- nahme geprägt, damals sei der Kampf um Demokratie oder einen diktatorischen So- zialismus ausgetragen worden. Das suggerierte eine Vorwegnahme von Zuständen, die nun das geteilte Deutschland kennzeichneten. Diese vorherrschende Sicht wurde erst Ende der Fünfzigerjahre mit der Hinwendung zur Geschichte der Arbeiterbe- wegung und mit dem Siegeszug der sozialgeschichtlichen Methode erschüttert. Die in diesem Rahmen betriebenen Forschungen fanden starke öffentliche Beachtung. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass wachsendes Unbehagen an restau- rativen Zügen in der Politik und in der Gesellschaft diesen Forschungen den Boden bereiteten. Die in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzenden Untersuchungen von Eberhard Kolb14 und Peter von Oertzen15 über die Räte in der Novemberrevolution ließen die Revolution insgesamt in einem positiveren Lichte erscheinen als bisher. Das förderte aber auch ein Nachdenken über demokratische Alternativen in der Ge- genwart, also in den Sechzigerjahren. Die neu gewonnenen Positionen erhielten in den folgenden zwei Jahrzehnten in weiteren Arbeiten ihre Bestätigung. Die sozialgeschichtliche Arbeitsweise war, wie Rürup konstatiert, zur herrschenden Lehre geworden. Die von ihm gesehene, damit zusammenhängende Stagnation zeigte sich schon in der ersten Hälfte der Achtzigerjahre, wie Kluge angemerkt hatte. Damit einher ging eine wieder skep- tischere Beurteilung der Revolution von 1918/1919 auch bei Wissenschaftlern, die sich große Verdienste bei der Erforschung der Arbeiterbewegung und dieser Re- volution erworben hatten. Heinrich August Winkler sah 1984 im Rätesystem kei- ne taugliche Alternative zum Parlamentarismus. Auf einem Symposium 2002 in Leipzig bezeichnete er Revolutionen als unzeitgemäß: Durch sie würden die kom- plexen Zusammenhänge moderner Industriegesellschaften zerrissen werden.16 In der DDR gab es weniger Spielraum für eine öffentliche kontroverse Dis- kussion über die Novemberrevolution. Bis zum Anfang der Fünfzigerjahre war die Zeitgeschichtsforschung auf die „marxistisch-leninistische Theorie“ festgelegt worden. Was nicht zuletzt hieß, die Forschung hatte ihren Beitrag zur Formulie- rung und Propagierung ideologischer Doktrinen zu leisten. Diese Einengung schloss solide Untersuchungen über die Revolution, vor allem auf lokaler und re- gionaler Ebene, nicht aus. Diese wurden zumeist in den Fünfzigerjahren unter An- leitung und Kontrolle von Parteiinstitutionen in Vorbereitung auf den 40. Jahres-

14 Siehe Anm. 6. 15 Siehe Anm. 7. 16 Siehe Heinrich August Winkler: Ein umstrittener Wendepunkt: Die Revolution von 1918/19 im Urteil der westdeutschen Geschichtswissenschaft, in: ders.: Weimar im Widerstreit, S. 33-42, hier S. 37.

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tag der Novemberrevolution erarbeitet. Es handelte sich dabei zumeist um quel- lenmäßig gut fundierte Arbeiten, von denen auch die westdeutsche Forschung profitierte. Meinungsstreit, allerdings unter dem abschirmenden Dach, das die Parteioberen errichteten, blieb aber nicht aus. Erinnert sei an die Auseinanderset- zungen über den Charakter der Novemberrevolution. Galt diese unter den Kom- munisten, aber auch anderen Sozialisten in der Weimarer Republik und bis in das erste Jahrzehnt der Nachkriegszeit als letztlich fehlgeschlagene sozialistische oder auch bloße bürgerliche Revolution, so legten Thesen der Parteiführung 1958 die Kompromissformel fest: Die Novemberrevolution war eine bürgerliche mit teil- weise proletarischen Mitteln durchgefochtene Revolution.17 An diese gewisser- maßen kanonische Charakterbestimmung hatten sich alle, selbst der bekannte so- wjetische Historiker Jakov Drabkin, zu halten.18 Diese Diskussion mutet heute auf den ersten Blick skurril an. Sehen wir ge- nauer hin, verrät der Streit um den Charakter der Revolution die Unsicherheit oder doch Unentschiedenheit bei der Beantwortung der Frage, wie stark der kommu- nistische respektive radikalsozialistische Faktor in der Revolution gewesen sei. Die Beantwortung dieser Frage war die Voraussetzung für die Bewertung der Perspektive und der Langzeitfolgen der Novemberrevolution. Die SED-Führung glaubte, mit der Kompromissformel die Herrschaft der Arbeiterklasse, die sich in der Partei verkörpern sollte, historisch legitimieren zu können. Die kleinbürger- lich-demokratischen Kräfte – den Blockparteien wurde nun dieser Klasseninhalt zuerkannt – könnten dieser Führung vertrauen, auch aus den Lehren der Revolu- tion heraus. Denn das wichtigste Ergebnis der Revolution sei in der Gründung der KPD zu sehen, ohne deren Kampf gegen Faschismus und Krieg die Gründung der DDR nicht möglich gewesen wäre. Die kleinbürgerlichen Kräfte könnten sich also der Führung der SED mit gutem Gewissen anvertrauen. Für eine kurze Zeit schien der 1974 offiziell eingeführte Terminus „antiimpe- rialistische Volksrevolution“19 die Monotonie in der Forschungsdiskussion aufzu- brechen. Es ist nicht wirklich geklärt, woher der Impuls für diesen Rückgriff auf den von Marx verwendeten Begriff kam. Konsequenzen, sprich mehr Freiraum für alternative Sichten, erwuchsen daraus nicht, ein Begriff wurde gegen einen ande- ren ausgetauscht.20

17 Siehe Die Novemberrevolution in Deutschland (Thesen anlässlich des 40. Jahrestages), Berlin 1958, S. 34f. Siehe dazu Mario Keßler: Die Novemberrevolution in der Geschichtswissenschaft der DDR: Die Kontrover- sen des Jahres 1958 und ihre Folgen im internationalen Kontext, in: JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, H. III/2008, S. 38-58. 18 Siehe Jakov Drabkin: Die Novemberrevolution 1918 in Deutschland, Berlin 1968. Guten Bekannten D.s zu- folge hatte dieser sinniert: Er sei eigentlich der Meinung gewesen, die Novemberrevolution müsste als ge- scheiterte sozialistische Revolution angesehen werden; aber wenn die deutschen Genossen von einer bürger- lich-demokratischen Revolution sprechen, dann möge es so sein. 19 Siehe Klassenkampf, Tradition, Sozialismus. Von den Anfängen der Geschichte des deutschen Volkes bis zur Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik. Grun- driß, Berlin 1974, S. 388. 20 So auch die Schlussfolgerung bei John, Bild der Novemberrevolution, S. 78.

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Anders als in der westdeutschen Forschung, wo mit dem Vormarsch der Sozi- algeschichte in lokalen und regionalen Untersuchungen nicht selten grundsätzli- che Fragen gestellt und oft auch beantwortet wurden, blieben die regionalge- schichtlichen Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung und zur Novemberrevolution brav auf der Parteilinie, dabei auch deren Windungen be- gleitend.21 Die wichtigste Ursache dafür lag in der Anleitung und Kontrolle durch Institutionen der SED, besonders über die Kommissionen zur Erforschung der Ge- schichte der örtlichen Arbeiterbewegung.22 Die Gängelei wurde von professionel- len und Laienhistorikern oft als lästig empfunden. Die Parteizugehörigkeit der meisten von ihnen wirkte jedoch disziplinierend, woraus oft eine Selbstdiszipli- nierung entstand, verbunden mit dem Gedanken: Vielleicht haben die Genossen da oben doch die größere Weisheit. Nicht selten spielte die Überlegung mit, durch ei- nige Zugeständnisse kann ich die Substanz meiner Forschungen retten. Verbunden war ein solches Verhalten mit einem Sichanpassen an wissenschaftliche Hierar- chien. Es war oft schwer, originelle Ideen gegen bekannte Wissenschaftler, nicht nur aus Parteiinstitutionen, auch aus der Akademie und aus Universitäten zu be- haupten. Die Vertreter der „niederen Ebene“ und Seiteneinsteiger hatten nicht sehr gute Chancen gegen die „Platzhirsche“ und deren Klientel. So entstand eine Selbstgenügsamkeit, die bei nicht wenigen anhielt, als in den Achtzigerjahren der Spielraum größer wurde, größer vermutlich, als viele dachten. Die letzte Überlegung soll durch einen Verweis auf Forschungen in der DDR zu den bürgerlichen Revolutionen23 gestützt werden. Die wichtigsten Impulse gin- gen dafür von einem Leipziger Forschungszentrum, geleitet von Walter Markov und Manfred Kossok, aus. Markov darf wohl als bedeutendster Kopf der DDR- Geschichtswissenschaft und als eine der faszinierendsten Persönlichkeiten unter den deutschen Historikern des 20. Jahrhunderts angesehen werden. Als junger Wissenschaftler, der bei Arthur Rosenberg promoviert hatte, trat er nach(!) der Er- richtung der NS-Herrschaft der KPD bei. Nachdem eine von ihm geleitete Wider- standsgruppe von der aufgespürt worden war, musste er eine Zuchthaus- strafe bis zur Befreiung 1945 in Einzelhaft abbüßen. Zunächst an der Universität Bonn als Wissenschaftler tätig, folgte er 1946 einem Ruf an die Universität Leip- zig, wo er sich nach der Berufung zum Professor der Französischen Revolution von 1789-1794 zuwandte.24 Das Thema ließ ihn zeitlebens nicht mehr los, aber als universell denkender Historiker schloss für ihn die Auseinandersetzung mit der

21 Forschungen zur Arbeiterbewegung bis zum Ersten Weltkrieg waren zumindest seit den Achtzigerjahren we- niger Zwängen unterworfen. 22 Diese waren nach einer Weisung des Zentralkomitees der SED im Oktober 1951 gegründet worden. Siehe Werner Bramke: Widerstandsforschung in der Regionalgeschichtsschreibung der DDR. Eine kritische Bilanz, in: Klaus Schönhoven/Dietrich Staritz (Hrsg.): Sozialismus und Kommunismus im Wandel. zum 65. Geburtstag, Köln 1993, S. 451-466, hier S. 455f. 23 Zum bürgerlichen Revolutions-Zyklus wurden in der DDR-Forschung die Revolutionen vom Ende des 16. Jahrhundert bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gerechnet. 24 Siehe Walter Markov: Zwiesprache mit dem Jahrhundert. Dokumentiert von Thomas Grimm, Berlin 1989, S. 152-177.

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großen Revolution der Franzosen die Beschäftigung mit der Geschichte der Re- volutionen überhaupt ein. Für Markov waren es glückliche Umstände, dass er sich länger als ein Jahrzehnt mit dem Germanisten Hans Mayer, dem Philosophen Ernst Bloch und dem Romanisten Werner Krauss, alle drei international hoch ge- schätzte Wissenschaftler und Antifaschisten,25 austauschen konnte. Der ihm ei- gene weite Blick bestimmte später die Arbeiten des Zentrums für Revolutionsge- schichte. So konnte sich ein Arbeitskreis mit einem Klima entwickeln, das offen für Fragen und unorthodoxe Denkweisen war wie wohl kein anderes Forum der Gesellschaftswissenschaftler der DDR. Daran partizipierten Wissenschaftler des In- und Auslandes, die die Anregungen aufnahmen und ihrerseits Ideen einbrach- ten. Die Diskussionen auf diesem Forum betrafen hauptsächlich die bürgerlichen Revolutionen seit dem Beginn der Neuzeit26 und bis zum Ende des 19. Jahrhun- derts. Es kamen aber auch Forscher, die sich mit Revolutionen im 20. Jahrhundert, vornehmlich mit denen in der „Dritten Welt“, befassten, zu Wort. Der sogenannte sozialistische Revolutionszyklus stand in den Achtzigerjahren mehrfach auf der Tagesordnung, doch wurde nie wirklich eine Brücke von den bürgerlichen zu den russischen Revolutionen geschlagen. Die deutsche Novemberrevolution blieb lange Zeit ganz ausgespart. Ich hatte mich seit den Sechzigerjahren mehrfach bei meiner Beschäftigung mit dem Militarismus, mit der Geschichte der Arbeiterbewegung und mit der Sozial- geschichte der deutschen Mittelschichten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der Novemberrevolution und deren Folgen herumgeschlagen. Eine erste Pu- blikation zu dieser Revolution erschien jedoch erst 1983.27 Hierbei handelte es sich um einen bestimmten Aspekt des Revolutionsgeschehens. Eine grundsätzli- che Bewertung erlaubte ich mir erst fünf Jahre später in dem bereits erwähnten, zusammen mit Ulrich Heß verfassten Aufsatz.28 Unzufrieden mit den bisherigen Forschungen in der DDR über die Novemberrevolution, aber auch mit dem Bild in der westdeutschen Geschichtsschreibung seit Ende der Siebzigerjahre, erschien mir die von Manfred Kossok und Wolfgang Küttler aufgestellte These, es gebe „keine Modelle, sondern nur Wege von Revolutionen“29 auch für das 20. Jahrhun-

25 Wenn heute von den großen Wissenschaftlern nach dem Kriegsende an der Leipziger Universität gesprochen wird, werden zuerst Ernst Bloch und Hans Meyer, mit gewissem Abstand Walter Markov und dann – wenn überhaupt – Werner Krauss genannt. Sehr zu Unrecht, denn Letzterer war ein international hoch geschätzter Romanist. Als Mitglied der Widerstandsgruppe um Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack war er zunächst zum Tode, dann zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden. 26 Das bedeutet, seit dem 16. Jahrhundert, wobei der Bauernkrieg als Teil einer frühbürgerlichen Revolution einbezogen wurde. 27 Siehe Werner Bramke: Zum Verhalten der Mittelschichten in der Novemberrevolution, in: ZfG 31 (1983), H. 8, S. 691-700. 28 Siehe Bramke/Heß, Novemberrevolution (Anm. 8). Von U. Heß stammen die Passagen über die Entwicklung in Deutschland im Krieg. 29 Siehe Manfred Kossok/Wolfgang Küttler: Die bürgerliche Revolution: Grundpositionen einer historisch-ver- gleichenden Analyse, in: Manfred Kossok (Hrsg.): Vergleichende Revolutionsgeschichte, Probleme der Theo- rie und Methode, Berlin 1988, S. 1-114, hier S. 9f.

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dert zutreffend zu sein. Daher ordnete ich die Revolution von 1918/19 keinem Zy- klus zu, vermied den Vergleich mit der Oktoberrevolution in Russland, an der die deutsche Revolution in der DDR-Geschichtswissenschaft sonst gemessen wurde. Ich kennzeichnete die deutsche Novemberrevolution als einen „Versuch […], eine Demokratie ganz neuen Typs zu schaffen“, der tiefe und lange Zeit nachwirkende Spuren hinterließ.30 Damit grenzte ich mich auch von der seit den Achtzigerjahren in der BRD vorherrschenden Sicht ab, die einzig realistische Perspektive habe 1918/1919 in der Errichtung der repräsentativen parlamentarischen Demokratie gelegen. Diese Sicht schien mir gleichfalls zu formelhaft, auf eine Lösung hin aus- gerichtet. In ihr wurde nicht berücksichtigt, dass – wie es auch von den Zeitge- nossen gesehen wurde – der Ausgang der Revolution über längere Zeit offen war. Auch fand in dieser Version von der historischen Aufgabe der ausgeprägte soziale Grundzug der Revolution kaum Beachtung. Zu einer intensiven Diskussion über diesen Artikel kam es nicht mehr, kaum ein halbes Jahr nach dessen Erscheinen setzte mit den Auseinandersetzungen über die manipulierten Kommunalwahlen vom Mai 1989 die akute Finalkrise der DDR ein. Die „friedliche Revolution“ veränderte gründlich den Schauplatz deutsch- deutschen Geschichtsstreits mit dem gewissen Zwang des Aufeinanderreagie- rens.31 Dabei hatten neue politische Unsicherheiten, auf die Rürup schon 1993 hin- wies32 und die seitdem beträchtlich größer geworden sind, und wissenschaftlich längst nicht schlüssig begründete Hypothesen genügend Anlässe für ein neues Be- denken früheren Streits über die Revolution von 1918/1919 geliefert. Der Umsturz in der DDR erfolgte nach herrschender Meinung durch eine Re- volution, eine friedliche zwar, aber immerhin durch eine Revolution. Das Chaos war ausgeblieben. Das widersprach dem Denken von der Unzweckmäßigkeit von Revolutionen in den modernen Industriegesellschaften.33 Also hätte die Revolu- tion von 1918/1919, die erste und bis 1989 einzige in einer modernen Industrie- gesellschaft, wieder auf den Prüfstand geschichtswissenschaftlicher Diskussion gestellt werden sollen. Gravierende politische Verunsicherungen, die dem Kollaps des sozialistischen Systems bald folgten, müssten für die Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik, die sich nach dem faschistischen Desaster immer wieder mit Fragen und Mahnungen positiv in die Politik eingemischt hatte, herausfordern. Scheinbar gut bestellte Felder sind zu besichtigen und gegebenenfalls neu zu be- ackern. Die soziale Frage ist, was die wenigsten erwartet haben, wieder zu einer fast alle Politikbereiche bedrängenden Frage geworden. Die internationalen Kon- flikte sind heute weniger beherrschbar als zu den Zeiten des sich abschwächenden

30 Bramke/Heß, Novemberrevolution, S. 1065. 31 Wobei der Zwang, auf westdeutsche Herausforderungen zu reagieren, in der DDR größer war als auf der anderen Seite. 32 Siehe Rürup, Revolution von 1918/19, S. 20f. 33 Auch deshalb herrschen unter westdeutschen Historikern Unsicherheiten, ob man den Umbruch in der DDR als eine Revolution bezeichnen soll.

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Kalten Krieges seit den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Das müsste herausfordern, Schnittpunkte der internationalen Geschichte, an denen Weichen für Langzeitentwicklungen gestellt wurden, erneut unter die Lupe zu nehmen, um – mehr kann wohl Geschichtswissenschaft nicht – die Politik auf Gefahren auf- merksam zu machen, wenn mögliche Alternativen unbeachtet bleiben. Die Revo- lution von 1918/1919 gehört zu solchen Schnittpunkten. Das würde freilich auf- störende Unruhe in die Historikerzunft bringen, in einer Zeit, wo der Satz „Dazu gibt es keine Alternative!“ zu einem beherrschenden Schlagwort geworden ist.

Der Streit um die Ausgestaltung der Demokratie 1918/1919

Demokratie oder bolschewistische Diktatur, man könnte auch formulieren: Sein oder Nichtsein, diese Alternative wird heute in der Forschung nicht mehr gesehen. Es herrscht Übereinstimmung darüber, die große Mehrheit der Bevölkerung wollte 1918 Frieden und – mit einigen Prozent Abstrichen – demokratische Ver- hältnisse. Ob aber die parlamentarische, repräsentative Demokratie das erstrebte und auch das beste Ziel gewesen sei, ist fraglich, zumindest aber nicht mit der Be- stimmtheit zu behaupten, wie es heute geschieht. Die Bewährung dieses Typs der Demokratie in der deutschen und in der österreichischen Bundesrepublik nach 1945, also in Ländern, die gleichermaßen von der Revolution nach dem Ersten Weltkrieg erschüttert wurden, kann nur bedingt als Beweis für die vermeintlich beste Lösung herangezogen werden. Die Ausgangssituation bei der Gründung die- ser Republiken war eine ganz andere als die für die Geburt der Weimarer Repu- blik in der Revolution von 1918/1919. Am Ende des Ersten Weltkriegs befand sich der Kapitalismus in der schwersten Krise seit seinem Bestehen. Man darf wohl hinzufügen, spätere Krisen haben die- ses Ausmaß nicht mehr erreicht. Auch die Sieger waren davon mehr oder minder betroffen, nicht nur schwache Mächte wie Italien. Das Bewusstsein, dass nicht nur die zu Schuldigen erklärten Mittelmächte für die entsetzlichen Zerstörungen und ungeheuren Menschenverluste verantwortlich gemacht werden sollten, beein- flusste das Denken vieler Menschen in den Sieger- und neutralen Ländern. Der Aufschwung der Befreiungsbewegung in den Kolonien hing mit diesem Denken zusammen. Die Furcht vor dem Bolschewismus in den westlichen Demokratien, für uns heute schwer verständlich, war nicht zuletzt eine Reaktion regierender Po- litik und von Meinungsmachern auf Krisenerscheinungen in den Demokratien. Und als gefährliche Krisenerscheinungen wurden von Friedens- und anderen de- mokratischen Bewegungen imperialistische Strömungen bei allen Großmächten vor dem und im Ersten Weltkrieg und auch bei den Friedensschlüssen zu Recht ausgemacht. Nicht zuletzt geriet das Weltwirtschaftssystem, das vor dem Krieg recht gut funktioniert hatte, durch diesen und durch die revolutionären Wirren da- nach arg und anhaltend durcheinander.

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Revolutionen brechen zumeist spontan oder durch Erhebungen aus, in denen elementar gewonnene Erfahrung als Triebkraft wirkt. So sah es Hannah Arendt mit dem Blick auf die Amerikanische und die Französische Revolution von 1789.34 Gerade das überraschende Moment stellt die Gegenrevolution oft vor un- lösbare Probleme, auch wenn der Revolution eine längere Inkubationszeit voraus- gegangen ist. Das gilt auch für die Novemberrevolution 1918. Da hatten seit spä- testens dem Frühsommer 1918 die stellvertretenden Generalkommandos und zivile Behörden eine stark verbreitete Unzufriedenheit und sogar Systemverdros- senheit in bisher der Monarchie treuen Kreisen signalisiert.35 Dennoch war der monarchistische Machtapparat wie gelähmt oder reagierte konfus, was ganz be- sonders für die viel gepriesene militärische Führung in Deutschland zutraf. Die Untersuchung von Ernst-Heinrich Schmidt über das Heimatheer im November 191836 führt uns das unwiderlegbar vor Augen. Eigentlich hätten nach den Erfah- rungen mit der Revolution in Russland 1917/1918 die und die stellvertretenden Generalkommandos auf die Revolution in deren An- fangsverlauf vorbereitet sein müssen. Immerhin waren spätestens mit der sich ab- zeichnenden Niederlage im Westen ab Anfang August 1918 die Anzeichen von Sympathien unter den Soldaten für Leninsche Losungen und die russische Räte- bewegung erkennbar gewesen. Der Hauptgrund für die hilflos machende Überraschung im Heeres- und Staats- apparat ist wohl in der Wucht und der Massenbeteiligung, mit welcher der Aufstand in Kiel einsetzte, und in der Geschwindigkeit, mit der sich die Revolution ausbrei- tete, zu sehen. Es dürfte kaum eine andere Revolution gegeben haben, die in der er- sten Revolutionswoche von einer solchen Massenbewegung getragen wurde und so erfolgreich verlief wie die deutsche Revolution im November 1918. Es ist deshalb merkwürdig und spricht nicht von der Sachkenntnis Charles Tillys, wenn dieser in seinem hoch gelobten Buch über die europäischen Revolutionen die deutsche Re- volution von 1918/19 nicht einmal erwähnt.37 Ebenso wie die Masse der Aufständi- schen ist deren Entschlossenheit und zielsicheres Handeln gegenüber den alten Machtinhabern hervorzuheben. Und das, obwohl eine koordinierende Instanz fehlte, welche die regionalen Zentren verbinden konnte! Die Forderungen der Matrosen und Soldaten anderer Waffengattungen und der mit ihnen verbündeten Arbeiter wa- ren einerseits auf das Nächstliegende gerichtet, auf die Freilassung der politischen Gefangenen, auf ein neues Verhältnis zwischen Soldaten und Offizieren sowie auf eine bessere Versorgung. Andererseits entstanden wie aus dem Nichts die Arbeiter- und Soldatenräte als neue Organe demokratischer Macht, wie es sie in einem Land der entwickelten Industriegesellschaft noch nicht gegeben hatte.

34 Siehe Hannah Arendt: Über die Revolution, München-Zürich 2000, S. 307; Oliver Marchart: Die Welt und die Revolution, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 2006, Nr. 39, S. 33-38, hier S. 35. 35 Siehe Archivalische Forschungen, Bd. 4/IV, Berlin 1959, S. 1540 f., 1552f., 1561f. 36 Siehe Ernst-Heinrich Schmidt: Heimatheer und Revolution 1918. Die militärische Gewalt im Heimatgebiet zwischen Oktoberreform und Novemberrevolution, 1981. 37 Siehe Charles Tilly: Die europäischen Revolutionen, München 1999.

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Diese Leistungen verdienen eine hohe Würdigung und können nicht nur als von temporärer Bedeutung abgetan werden. In gleichem Atemzug ist aber zu sagen: Die sozialistische deutsche Arbeiterbewegung ging weitgehend unvorbereitet in diese Revolution, was auf unterschiedliche Weise für alle ihre Gruppierungen zu- trifft. Dieser Feststellung widerspricht nur scheinbar das selbstbewusste und zu- meist zielklare Agieren der Räte bis zum 9. November. Die deutsche Arbeiterbewegung hatte sich in einer autoritär regierten Gesell- schaft als die demokratische Alternative herauskristallisiert und dabei vielfälti- ge Formen der Selbstverteidigung entwickelt. Ihre Gliederungen, auch die auf der lokalen Ebene, mussten dabei oft selbstständig handeln, ohne die großen Zusam- menhänge aus dem Blick zu verlieren. Durch ihre sich im Krieg rapide ver- schlechternde soziale Lage wurden sich die Arbeiter der sich wieder verschärfen- den Klassenspannungen38 deutlicher bewusst als ihre Führer, die sich Illusionen über ihren Einfluss auf staatliche Entscheidungen, etwa im Interfraktionellen Aus- schuss, machten. In den großen Streiks im April 1917 und im Januar/Februar 1918 erlebten die Arbeiter nicht den Burgfrieden, sondern die Anzeichen eines Burg- krieges. Die Beteiligten der Ausstände sahen sich dabei von den Führungen der MSPD und den Gewerkschaften im Stich gelassen. All diese über eine lange Zeit gemachten Erfahrungen wirkten wie eine elementare Schulung, welche die Arbei- ter in den Werken und in der Armee besser auf den großen Konflikt vorbereitete als die von der Wirklichkeit etwas abgehobene Führerschaft. Die elementar ge- wonnene revolutionäre Schulung im politischen Kampf ermöglichte es, den rich- tigen Zeitpunkt zum Aufstand zu erfassen und die Entwicklung bis zum 9. No- vember voranzutreiben. Dann bedurfte es weiter reichender Perspektiven. Die deutsche Sozialdemokratie verstand sich auch nach Friedrich Engels’ Tod 1895 und bis zum Ersten Weltkrieg als sozialistische und letztlich auch revolu- tionäre Partei. Die Verweigerung voller politischer Rechte und die permanente Ausgrenzung in vielen Bereichen der Wilhelminischen Gesellschaft wirkten stär- ker als die Chancen für eine Integration. Es war der Klassenkampf von oben, der die Marxsche Lehre von der Unversöhnlichkeit der Gegensätze zwischen den bei- den Hauptklassen Bourgeoisie und Proletariat weiter glaubhaft erscheinen ließ. Allerdings erwies sich Marx’ Vorhersage über die Entwicklung hin zu einer Zwei- klassengesellschaft als falsch. Auch innerhalb der Arbeiterklasse zeigten sich größere, die Klassengrenzen teilweise sprengende Differenzierungen. Die Schicht der Angestellten wuchs schneller als jede andere große soziale Gruppe und ent- sprach wenig einem neuen Proletariat. Das aber brachte die Theorie von der Un- vermeidlichkeit der proletarischen Revolution ins Wanken. Eine Minderheit in der Sozialdemokratie um erkannte diesen Zug der Zeit. Andererseits erwuchs mit dem Aufkommen des Imperialismus eine neue gesamtgesellschaftli- che Bedrohung, was dank der bahnbrechenden Untersuchungen Rudolf Hilfer-

38 Siehe Jürgen Kocka: Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914-1918, Frankfurt/Main 1988, S. 173; Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, München 2003, S. 6.

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dings38 niemand deutlicher wahrnahm als die klassenkämpferische Arbeiterbewe- gung und was revolutionäre Potentiale stärkte. So wurden sehr widersprüchliche neue Entwicklungen in der Sozialdemokratie zwar bemerkenswert klar gesehen, nicht aber zur Grundlage neuen strategischen Denkens gemacht. Der Sozialismus blieb das erklärte Ziel der Bewegung, im Tageskampf um die Verbesserung des täglichen Lebens diente diese immer wieder artikulierte Perspektive aber mehr zur Beruhigung, wenn nicht zur Erbauung, trotz der heftigen Attacken der Linken ge- gen diesen Kurs. Doch obwohl Letztere mit dem Eintreten für den politischen Massenstreik als elementares revolutionäres Kampfinstrument die Sozialdemo- kratie hindern wollten, zur bloßen Reformpartei zu werden, wussten auch sie kei- nen gangbaren Weg zur Revolution und auch nicht, wie der künftige sozialistische Staat aussehen sollte. Auch keine sozialistische Partei außerhalb Deutschlands entwickelte ein in sich geschlossenes Konzept zur Verwirklichung der von Marx und Engels entworfenen kommunistischen respektive sozialistischen Vision, was die Schwierigkeit, wahr- scheinlich die Unmöglichkeit einer solchen Aufgabe verdeutlicht. Dort, wo dies – aber auch nur in Teilen – in Angriff genommen wurde, erwiesen sich die Konse- quenzen als verhängnisvoll. Der Versuch der Bolschewiki, die Herrschaft der Ar- beiterklasse nach einem vorbereiteten Rahmenprogramm in einem Land zu er- richten, wo diese Klasse kaum zehn Prozent der Bevölkerung ausmachte, bedingte geradezu diktatorisches Regieren, aber nicht einer Klasse, sondern einer Partei, die dazu den nötigen Apparat aufbaute. Doch es verwundert, dass in der deutschen Arbeiterbewegung der Räte-Idee so wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Im- merhin hatte es schon in der Französischen Revolution von 1789-1794 und noch deutlicher in der Pariser Kommune Keimformen der Räte gegeben. Hannah Arendt wies darauf hin, dass Marx, zunächst von diesen Organen der Kommune überrascht, schnell deren Potenzen erfasste.40 Sein mehr spontaner Hinweis auf die Kommune als neuen Staatstyp, als gewissermaßen die Urform der Diktatur des Proletariats,41 wurde oft zitiert, aber nicht wirklich weiter verfolgt. Auch nicht von der Spartakusgruppe, die mit ihrer antimilitaristischen Agitation während des Krieges die sozialistische Revolution vorbereiten wollte. Sie folgte damit der Ori- entierung der Zweiten Internationale, beschlossen auf deren Stuttgarter Kongress von 1907, wenn ein imperialistischer Krieg ausbrechen sollte, dann müssten die Sozialisten auf dessen schnelle Beendigung hinarbeiten und die Voraussetzungen für den Sturz der Klassenherrschaft schaffen.42 Obwohl die Spartakusgruppe als einzige der sozialistischen Gruppierungen eine gezielte revolutionäre Propaganda betrieben und damit, vor allem dank der

39 Siehe : Das Finanzkapital, 1910 erschienen, wurde zur wichtigsten Grundlage für Imperia- lismustheorien. 40 Siehe Arendt, Über die Revolution, S. 318-330. 41 Siehe Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 17, Berlin 1962, S. 313-362, hier S. 362. 42 Siehe Internationaler sozialistischer Arbeiter- und Gewerkschaftskongress. Protokoll 1907, S. 41.

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Popularität Karl Liebknechts, auch Wirkung erzielt hatte, besaß sie keine Chance, die Führung der Revolution zu übernehmen oder auch nur deren Verlauf nachhal- tig zu beeinflussen. Die Führungsrolle konnten nur die Mehrheitssozialisten aus- üben, nicht allein wegen der zahlenmäßigen Mehrheit. Sie waren von den drei so- zialistischen Gruppierungen, die aus der alten Sozialdemokratie hervorgegangen waren, am wenigsten von inneren Auseinandersetzungen betroffen und verfügten, was wohl am meisten ausmachte, über den größten Anteil am alten Parteiapparat. Die deutsche Sozialdemokratie hatte ihre imponierende Stärke ganz wesentlich ihrem vorzüglichen Organisationswesen zu verdanken. Davon profitierte nun die MSPD und ganz besonders ihr Vorsitzender , der den Apparat be- herrschte. Diesen Vorteil der MSPD konnte die USPD, die bei der Parteispaltung 1917 nur in einigen Regionen, darunter in der Leipziger, die deutliche Mehrheit und damit auch den Apparat gewonnen hatte, trotz starkem Wachsen der Mitglie- derzahl, nicht wettmachen. Außerdem differierten in ihrer Führung die Ansichten über den einzuschlagenden Kurs weit mehr, als dies bei der MSPD der Fall war. So war die paradoxe Situation gegeben, dass eine sich kaum noch als revolu- tionär verstehende Partei die Führung in der Revolution übernahm. Aus unserer heu- tigen Sicht gab es dazu kaum eine Alternative. Die Zeitgenossen hielten auch andere Optionen für möglich. Friedrich Ebert, ein Revolutionsführer ohne Neigung, aber aus machtpolitischem Kalkül, war sich seiner Sache keinesfalls immer sicher. Die MSPD, darüber gibt es heute kaum Zweifel, arbeitete auf die Errichtung der parlamentarischen Republik, mit deutlichen sozialen Verbesserungen für die Arbeiterschaft, hin. Eberts zunächst tiefe Abneigung gegen die Revolution ent- sprang nicht monarchistischen Sympathien, sondern der Furcht vor einer kommu- nistischen Machtübernahme. Die Rätebewegung war für ihn und andere wichtige SPD-Führer eigentlich ein Störfaktor, was nicht ausschloss, dass sich die MSPD ihrer geschickt zu bedienen verstand. Und wie der Reichsrätekongress im De- zember 1918 bewies, gebrauchten die Mehrheitssozialdemokraten die Rätebewe- gung zu allererst dazu, dass diese sich selbst abschaffte. Die Orientierung auf die demokratische Republik verband MSPD und USPD, jedenfalls was deren Mehrheit betraf. Hierbei spielte der Bezug auf einen Hinweis von Friedrich Engels eine nicht unwichtige Rolle. Dieser hatte in seiner Analyse des Erfurter Programms 1890 empfohlen, die Sozialdemokratie möge den Kampf um die demokratische Republik zu einer ihrer Leitlinien machen.43 Diese Emp- fehlung war nicht zuletzt den Bedingungen, mit denen es die Sozialisten in der da- mals noch stabilen Monarchie zu tun hatten, geschuldet gewesen, konnte aber in dieser allgemeinen Formulierung auch unterschiedlichen Sichten in einer Zeit ge- recht werden, wo es schwer war, zum Kompromiss zu gelangen. Friedrich Ebert und seine Vertrauten gaben ihre Politik als dem Sozialismus dienend oder direkt als sozialistisch aus. Es ist zu fragen, sprachen sie aus, ließen

43 Siehe Heinrich Potthoff/Susanne Miller: Kleine Geschichte der SPD 1848-2002, Bonn 2002, S. 55f.

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sie plakatieren, was sie wirklich erstrebten? Glaubten sie im Ernst daran, später, nach den Wirren der Revolution, mit einer Mehrheit in der Nationalversammlung ihre zeitweiligen Verbündeten und unverbesserliche Monarchisten wieder aus den Machtpositionen zu vertreiben, oder hofften sie tatsächlich auf deren Bekehrung zur Demokratie? Glaubten sie tatsächlich, ebenfalls später, wenn die Normalität des kapitalistischen Wirtschafts-Alltags eingetreten war, die Sozialisierung, sei es nur die von einigen Schlüsselbereichen, parlamentarisch dekreditieren zu können? Wenn sie das wirklich glaubten, waren sie hoffnungslose Illusionisten, also Fehl- besetzungen in ihren Positionen. Der Zeitraum für grundsätzliche Veränderungen im Prozess einer Revolution ist zumeist kurz, in der deutschen Revolution war dieser sehr kurz, spätestens Anfang Mai, vielleicht schon nach den Märzkämpfen 1919 abgeschlossen. Dennoch änderten die sozialdemokratischen Führer ihren Kurs nicht und hofften weiter. Oder, so drängt sich eine zweite Frage auf, täusch- ten diese Führer die Mitglieder ihrer Partei mit sozialistischen Losungen, weil sie ihre Anhänger und die Massen überhaupt für unreif hielten, sich in eine neue Si- tuation hineinzudenken? Es wäre dann nicht die bloße Gier nach Macht gewesen; ein Vorwurf, den man den meisten sozialdemokratischen Führern in der Weimarer Republik wirklich nicht machen kann. Aber diese Täuschung wäre trotzdem nicht einfach als zweckdienliches taktisches Manöver, also als kleiner, aber noch er- laubter Machiavellismus zu interpretieren. Für eine große Partei mit großer Tradi- tion muss eine solche Taktik, an einem historischen Wendepunkt praktiziert, wo nur Wahrheit der geschichtlichen Situation gerecht wird, verhängnisvolle, irrepa- rable Folgen haben. Die SPD war gewiss die stabilste demokratische Partei in der Weimarer Demokratie, in ihrer republikanischen Gesinnung unanfechtbar, wie noch ihre Haltung bei der Abstimmung über Hitlers Ermächtigungsgesetz im März 1933 bewies. Das nimmt sie aber von einer grundsätzlichen kritischen Prü- fung nicht aus. Die Partei der Unabhängigen Sozialdemokraten zählte nicht wenige hervorra- gende Intellektuelle zu ihrem Führungsstab, während unter ihren Mitgliedern der Arbeiteranteil noch größer als in der MSPD war. Die Unterschiedlichkeit der po- litischen Auffassungen rührt vor allem daher, dass sie sich als radikale Friedens- partei konstituiert hatte, wobei zunächst das Eintreten für einen sofortigen Frie- den, nicht aber eine bestimmte Variante der Demokratie im Vordergrund stand. Mit dem Ausbruch der Revolution und mit dem Waffenstillstand am 11. Novem- ber musste aber das strategische Ziel festgelegt werden. Der Kompromiss des drit- ten Weges, also Nationalversammlung mit dem Gegengewicht der Räte, war schon früh infrage gestellt worden, als es der USPD nicht gelungen war, die Wahlen zur Nationalversammlung so lange hinauszuschieben, bis durch die Räte entscheidende Maßnahmen der Umgestaltung, so die Sozialisierung wichtiger Wirtschaftszweige, auf den Weg gebracht worden seien. Das Konzept des dritten Weges wurde aber nicht nur von früheren Reformisten und Zentristen abgelehnt oder halbherzig vertreten, es entsprach auch nicht den Vorstellungen einer starken

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linken Minderheit mit Basen in Mitteldeutschland, und dem Ruhrgebiet, die wie Spartakus und später die KPD ein Rätedeutschland anstrebten. Das Schei- tern des Konzepts muss aber nicht dessen Illegitimität oder grundsätzliche Fehl- konstruktion beweisen. Zu bedenken ist zunächst, dass die Revolution von der Arbeiterbewegung ge- tragen und ganz überwiegend von Arbeitern ausgefochten worden ist. Nun ist es in Revolutionen meistens so, dass die Hauptakteure der Revolution von deren po- sitiven Resultaten wenig abbekommen, nicht selten die Verlierer sind. In Deutsch- land gab es aber den besonderen Fall, dass die Arbeiterschaft die demokratische Republik gegen die in ihrer Mehrheit ablehnenden, distanzierten oder gleichgülti- gen bürgerlichen Schichten durchsetzte. Die Arbeiterräte, die nicht nur von Ar- beitern der sozialen Herkunft nach besetzt werden mussten, hätten die von Anfang an bedrohte Republik schützen können. Berücksichtigen wir das internationale Umfeld, so wäre diesen Räten vermutlich keine dauerhafte Perspektive beschie- den gewesen. Sie hätten aber bei längerem Bestehen als Organe der politischen Macht durch eine frühe Sozialisierung der Schwerindustrie und eine Bodenreform den unnatürlich großen Einfluss der Vertreter der Schwerindustrie und der Großa- grarier auf die Politik verhindern können. Das hätte der Weimarer Demokratie eine ganz andere Chance als die gehabte eröffnet. Die Sicht auf die radikale Linke (Spartakusgruppe, -bund/KPD und kleinere Gruppen) hat sich in der bundesdeutschen Geschichtsschreibung im Fortgang der Forschungen über die Revolution versachlicht. Es ist kaum mehr die Rede von bolschewistischer Bedrohung, die Bezeichnung Spartakus-Aufstand für die Ja- nuarkämpfe 1919 wurde als Legende erkannt, partielles Lob wird den scharfsin- nigen Analysen Rosa Luxemburgs und deren demokratischer Gesinnung und dem Mut Karl Liebknechts gezollt. Nur noch wenig bezweifelt wird, dass der Terror erst als „weißer Terror“, vor allem über die , zum oft gebrauchten Mittel in politischen Auseinandersetzungen in Deutschland geworden ist. Geblieben ist jedoch die vorherrschende Sicht auf die radikale Linke als die ei- nes störenden oder destruktiven Faktors in der Revolution und später. Bisher wurde die Frage umgangen, ob die Linke nicht auch eine positiv aufstörende Rolle gespielt, Entwicklungen vorangetrieben hat. Ich verwies in diesem Zusammen- hang auf den Antikriegskampf. Wenn akzeptiert wird, dass die radikale Linke in der Revolution nicht als terroristische Kraft aufgetreten ist, dann sollte unvorein- genommen untersucht werden, welche Faktoren ihre spätere überwiegend – aber nicht ausschließlich! – destruktive Haltung gegenüber der demokratischen Repu- blik bewirkten. Dabei darf nicht ausgeblendet werden, dass es in der Frühzeit der NS-Diktatur, mit der noch frischen Erinnerung an die Weimarer Zeit, die Kom- munisten waren, die zum Symbol des Widerstandes wurden, Solidarität gegenü- ber Nichtkommunisten übten. Ein solches Verhalten konnte nicht aus dem Nichts heraus geboren, ohne eine humanistische Tradition entstanden sein. Zu befürchten ist, es wird in Deutschland, anders als in anderen Ländern, noch viel Zeit verge-

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hen, bis die Linke als legitime, unbequeme, aber vorantreibende Kraft gesehen wird, die in einer demokratischen Gesellschaft nicht einfach ausgegrenzt werden sollte.

Wer gegen wen?

Ein klarer Verlauf der Frontlinien war – anders als 1848/1849 – in der Anfangs- periode der Revolution und zumindest bis zum 24. Dezember 1918 für die Betei- ligten nur schwer zu erkennen. In der Revolution des 19. Jahrhunderts blieben die Grenzlinien zwischen den Demokraten und Liberalen auf der einen und ihren monarchistischen Gegnern auf der anderen Seite trotz aller Differenzen in beiden Lagern immer kenntlich. 1918/19 gab es nicht einfach zwei sich gegenüberstehende Lager. Die Gegner der autoritären Herrschaft waren uneins darüber, gegen wen der Hauptstoß zu richten sei, während die Anhänger der Monarchie und Feinde eines jeden Sozialismus sich – jedenfalls was ihre führenden Kräfte betraf – relativ früh zum Kompromiss untereinander und mit einem Teil der Sozialisten zusammenfanden. Daraus resul- tierte zunächst die Ungewissheit, wer die Rolle als Hegemon in der Revolution er- reichen und welche Bundesgenossen von diesem bevorzugt werden würden. Für die Führung der MSPD, die durch geschicktes und verdecktes Agieren bis zum 10. November die Hegemonie an sich gezogen hatte, gaben die Erfahrungen im In- terfraktionellen Ausschuss den Ausschlag für die Wahl bevorzugter Partner. Dabei hätten diese Erfahrungen wenigstens ebenso sehr zur Warnung, zur Distanz wie zur Kooperation Anlass geben sollen. Ein klares Ja zur Demokratie war nur bei den Linksliberalen erkennbar, was diesen einen zeitweilig starken Aufwind be- scherte. Bei den Nationalliberalen und im Zentrum war eine solche Entscheidung umstritten. Sogenannte Vernunftrepublikaner, die sich nur mit Bedauern von der Monarchie verabschiedeten, und Anhänger einer autoritär zu gestaltenden Staats- macht zählten in diesen Parteien mindestens genauso viel Anhänger wie die er- klärten Republikaner. Das Bedenklichste aber war bei den Rechtsliberalen und im Zentrum das überwiegende Vertrauen auf die militärische Führung. Die Spitzen dieser Parteien hätten eigentlich von dem sie überraschenden späten Eingeständ- nis des militärischen Desasters, das doch bereits am 8. August 1918 offensichtlich gewesen war, ernüchtert sein müssen. Sie sahen aber trotzdem das Heil Deutsch- lands, das sie mit ihren eigenen Interessen identifizierten, von einer herausgeho- benen militärischen Führung in der deutschen Politik abhängen. Dazu trug die schon vor dem Krieg gepflegte und im Krieg intensivierte Zusammenarbeit von Großindustriellen und Großagrariern mit dem Militär entscheidend bei.44 So

44 Siehe Arthur Rosenberg: Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik, hrsg. von Kurt Kersten, Frank- furt/Main 1955, S. 99f.

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wurde die Stellung der Sozialisten zum Militärproblem zur Entscheidungsfrage der Revolution. In der wissenschaftlichen Literatur wird seit geraumer Zeit das Bündnis Eberts und der MSPD mit der Obersten Heeresleitung (OHL) als problematisch, in wich- tigen Details kritisch, meist aber als alternativlos abgehandelt. Nur eine Minder- heit hält die Kooperation mit der OHL und deren Nachfolgeinstitutionen für ver- hängnisvoll und nicht zwingend notwendig. Für letztere Auffassung können gewichtige Gründe angeführt werden. Den damals Verantwortlichen wird zunächst zugutegehalten, in einer Situation gehandelt zu haben, in der innere und äußere Bedrängnisse fast jeden Tag Entschei- dungen von großer Tragweite erforderten, ohne dass deren Folgen bis in die letzte Konsequenz übersehen werden konnten. Dass die Zusammenarbeit mit der OHL und die Schaffung der Freikorps die Grundlagen für den Faschismus und dessen Aufstieg zur Macht initiierten, war auch beim Ende der Revolution im Frühjahr 1919 nicht abzusehen gewesen. Wohl aber hätte der Rat der Volksbeauftragten er- kennen können, ja müssen, dass er mit der militärischen Führung höchstens einen bedingten Helfer auf Zeit fand, der in der SPD nie wirklich eine Verbündete, son- dern ein Mittel zum Zweck sah. Kurzum, die Wandlung von einem Saulus zu einem Paulus, woran die MSPD-Führung offensichtlich glaubte, mutet seltsam an. Für eine Partei, die sich intensiv mit der Geschichte auseinandersetzte und aus der Geschichte ihre Legitimation ableitete, hätte die Rolle des Militarismus in der deutschen Politik seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit ungebrochener Konti- nuität bis zum Beginn der Novemberrevolution kein Buch mit sieben Siegeln sein dürfen. 1848/1849 Exekutor der Konterrevolution, im Kampf gegen die Pariser Kommune der eigentliche Scharfmacher, dem Bismarcks Politik noch zu lasch er- schien, im Kampf gegen die Sozialdemokratie bis zum Ersten Weltkrieg – immer drängte die militärische Führung auf drakonische Maßnahmen gegen demokrati- sche Bestrebungen. Das Heer war die Hauptstütze der Monarchie, deren Expo- nenten sich 1916 in die direkte Abhängigkeit von der OHL begaben. Akzeptieren wir, dass es für die sozialdemokratische Führung aufgrund der in- ternationalen Konstellation 1914 nicht einfach war, dem „Burgfrieden“ auszuwei- chen, so hätte sie sich nicht trügerischen Illusionen bezüglich ihrer neuen „Part- ner“ hingeben dürfen. Stattdessen hielt sie in einem falschen Patriotismus still und aufmüpfige regionale Leitungen, wie in Leipzig, an, mit Kritik an der imperiali- stischen Zielsetzung zurückhaltend zu sein. Schon Arthur Rosenberg verwies dar- auf, gerade diese Kritik wäre notwendig gewesen, damit die SPD als glaubwür- dige demokratische Macht hätte Stärke zeigen können.45 Endlich aufwachen hätte die Führung der nunmehr MSPD müssen, als die Marineleitung im Sommer 1917 die Matrosenproteste gegen die unzumutbare Behandlung durch die Offiziere mit brutaler Härte niederschlug und dabei wortbrüchig wurde. In der Forschung wird

45 Siehe ebenda, S. 76f.

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dieser Vorgang viel zu wenig beachtet. Die Hinrichtung von Albin Köbis und Max Reichpietsch, die alles andere als Revoluzzer waren, zeigte den Matrosen, der Ma- rineleitung durfte man nicht vertrauen und nur von Macht zu Macht begegnen. Der Aufstand in Kiel und die schnelle Ausweitung der Revolution 1918 sind ohne diese Erfahrung nur schwer zu erklären. Nicht einmal der selbstmörderische Ver- such der Marineleitung Ende Oktober 1918, die Flotte zu opfern, um das Ansehen der Marine und damit deren Position in künftiger Rüstungspolitik zu retten,46 ließ Friedrich Ebert Abstand davon nehmen, am 10. November sich durch seine ge- heime Vereinbarung mit General in die direkte Abhängigkeit von der OHL zu bringen. Gerade weil Groener, anders als viele andere Generale, berechenbar und auf seine Weise ein glaubwürdiger Mann war, wäre mindestens äußerste Vorsicht geboten gewesen. Denn selbst wenn Hindenburg und Groener von der Absicht der Marineleitung nicht bis ins Detail informiert gewesen sind (was bei der Kommando-Struktur denkbar war), so hätten sie in der Situation, in der sich Deutschland befand, entschieden gegen den geplante Flottenvorstoß pro- testieren müssen. Stattdessen übten sie billigende Zurückhaltung. Sie zeigten un- missverständlich ihre ungebrochene Treue zur Monarchie und wollten nach deren Zusammenbruch das Heer als die wichtigste Institution der alten Zeit in die neue Zeit hinüberführen. Die MSPD und mit ihr der Rat der Volksbeauftragten befan- den sich somit bereits im frühen Stadium der Revolution in teilweiser direkter Ab- hängigkeit von der monarchisch gesinnten Heeresführung. Dabei hätte schon nach Ablauf der ersten Revolutionswoche der Rat der Volks- beauftragten, wenn er schon mit den Militärs bedingt kooperieren wollte, seine Bedingungen von einer Position der Stärke aus durchsetzen können. Das Heimat- heer war nicht mehr in der Hand der zuständigen Generalkommandos, der preußi- sche Kriegsminister konnte keine Befehle eigenmächtig erteilen, und das Feldheer war, wie in der OHL festgestellt werden musste, zur Verteidigung der Monarchie nicht bereit. Es war überhaupt im Innern nicht einsetzbar, wie sich spätestens am 24. Dezember in Berlin im Kampf mit der Volksmarinedivision zeigte, als die von der Front zurückgeführten Truppen unter dem Befehl des Generals Lequis beim Anrücken Tausender Demonstranten, darunter viele Frauen, auseinanderliefen.47 Es hätte also die Chance bestanden, in Kürze neue Streitkräfte mit den Solda- tenräten als oberste Kommando-Instanzen aufzubauen. Dagegen werden in der Li- teratur meist zwei Einwände vorgetragen: erstens der Zwang zu schnellem Han- deln, um die Truppen in der von den Siegermächten verlangten relativ kurzen Frist zurückzuführen, wozu man die militärischen Fachleute benötigte; zweitens das Fehlen von genügend Freiwilligen für eine republikanische Truppe, die für die Si- cherheit der neuen Macht die Gewähr bot.

46 Siehe Karl-Volker Neugebauer (Hrsg.): Grundkurs Militärgeschichte, Bd. 2, München 2007, S. 72. 47 Siehe Wolfgang zu Putlitz: Unterwegs nach Deutschland. Erinnerungen eines ehemaligen Diplomaten, Berlin 1964, S. 13-16. Putlitz hatte als Leutnant der Garde-Ulanen am Kampf teilgenommen. Seine Schilderung ent- spricht den Darstellungen in der wissenschaftlichen Literatur.

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Bei Ersterem zeigt sich der Mangel an Kenntnissen in der Militärgeschichte, der in den meisten Darstellungen über die Revolution zu erkennen ist. Logistische Unternehmen wie Aufmarsch und Rückführung werden von den militärischen Stä- ben in enger Zusammenarbeit mit zivilen Fachleuten vorbereitet und durchge- führt. Im Krieg waren für diese Zusammenarbeit enge Netzwerke entstanden. Die daran direkt beteiligten Militärfachleute waren zumeist Offiziere der unteren bis mittleren Ebene. Von diesen militärischen Fachleuten wären genügend zu gewin- nen gewesen. Das Beispiel Österreich, dessen Lage mit der in Deutschland ver- gleichbar war, hat das bewiesen.48 Nach einem zunächst chaotischen Beginn ver- lief die Rückführung nicht schlechter als in Deutschland. Noch weniger stichhaltig ist der zweite Einwand. In diesem wird das Unbeha- gen mancher Autoren deutlich zuzugeben, dass der Rat der Volksbeauftragten keine ernsthaften Anstalten machte, eine starke Volkswehr aufzubauen, um die OHL nicht zu verprellen. Dafür gibt es eine drückende Beweislast.49 Zwar trifft zu, dass bestimmte Aufrufe auf wenig Resonanz bei Arbeitern stießen, wofür es je- doch gute Gründe gab: Die Arbeiter, gerade auch militärisch ausgebildete und zurückgekehrte Frontsoldaten, hatten keine Lust, sich von den alten Offizieren und Unteroffizieren wieder schurigeln zu lassen. Das aber wäre geschehen, denn die OHL konnte ohne größeren Widerstand nach kurzzeitiger Verunsicherung durch die Soldatenräte bald wieder die Kommandogewalt der alten Offiziere durchsetzen. Die hinhaltende Taktik Friedrich Eberts spielte ihnen dabei in die Hände.50 Dort wo es möglich war, unter dem Kommando der Soldatenräte Volks- wehren zu bilden, geschah dies mit Erfolg, nicht nur in Österreich, wie die Bei- spiele München und auch Leipzig bewiesen. Solche Wehren sicherten Ruhe und Ordnung, sie waren allerdings zu Operatio- nen außerhalb der deutschen Grenzen kaum geeignet. Für solche gab es auch keine zwingende Notwendigkeit, da die Grenzen vorerst und bis zur Herstellung der vollen Souveränität Deutschlands durch die Siegermächte garantiert waren. Durchaus mögliche Übergriffe größeren Ausmaßes seitens polnischer Nationali- sten lagen nicht im Interesse der Sieger, kleinere Grenzscharmützel hätten von de- mokratischen Wehren erfolgreich bestanden werden können. Diese Wehren hätten den Sockel des neuen Heeres auf der Grundlage des Versailler Vertrages bilden können. Doch genau das war von den Militärs und den alten Eliten nicht gewollt. Die neue sollte zum Kern eines späteren sogenannten Volksheeres werden, mit welchem wieder Großmachtpolitik zu betreiben war. Da störten von

48 Siehe Francis L. Carsten: Revolution in Mitteleuropa 1918-1919, Köln 1973, S. 20-23. 49 Siehe Heinrich August Winkler: Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918-1924, Berlin-Bonn 1984, S. 70f. In Österreich gelang es, eine einsatzfähige Volks- wehr zu schaffen. Siehe Detlef Lehnert: Die Weimarer Republik. Parteienstaat und Massengesellschaft, Stutt- gart 1999, S. 65. 50 Ebert gab dem Druck General Groeners nach, indem er den Beschluss des Reichsräte-Kongresses über die Hamburger Punkte zur Entmachtung der Offiziere hinhaltend behandelte. Siehe Carsten, Revolution in Mitte- leuropa, S. 58f.

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Arbeiter- und Soldatenräten geführte Milizen. Freikorps, aus der Konkursmasse des alten Heeres und mit jungen Freiwilligen gebildet, Einwohnerwehren und Grenzschutzformationen unter dem Kommando nationalistischer Offiziere sollten die Basis für die neue Wehr bilden. Die Politik des Rates der Volksbeauftragten lieferte dafür die Grundlagen. Dabei wollten Ebert als faktischer erster Regierungschef und bald darauf als Reichspräsident sowie die sozialdemokratischen Kabinettsmitglieder gewiss nicht einer imperialistischen Politik auf lange Sicht den Weg bereiten. Was aber wollte Ebert wirklich? Wie sollte nach den persönlichen Intentionen der drei den Rat der Volksbeauftragten dominierenden Sozialdemokraten Ebert, Scheidemann und Landsberg die Perspektive Deutschlands gestaltet werden? Aus den bisherigen Forschungen treten nur eindeutig die klare Orientierung auf die parlamentarische Staatsform und die Abneigung gegenüber den Räten hervor. Aber der Weg dorthin hing entscheidend von den Partnern aus dem bürgerlichen Lager, mit denen man sich zusammentun musste, ab. Warum vertraute vor allem Ebert, der eigentliche Weichensteller, den Militärs, nach all den Erfahrungen und obwohl er selbst, zumindest nach außen, eine ganz unmilitärische Persönlichkeit zu sein schien? War es sein Patriotismus, der selbst durch den Soldatentod zweier Söhne nicht erschüttert wurde und blind glauben ließ, seine Bindung an Deutsch- land sei die gleiche wie die der kaiserlichen Offiziere? Persönliche Aufzeichnun- gen darüber existieren nicht.51 Schlussfolgerungen können wir nur aus Erinnerun- gen anderer an Gespräche mit ihm und aus den von ihm und von den anderen Mitgliedern des Rates getroffenen Entscheidungen ziehen. Die offiziellen Er- klärungen geben wegen der sozialistischen Phraseologie nur bedingt Aufschluss. Sie bleiben zudem in militärischen Fragen bis zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Aufstellung von bewaffneten Formationen oder über die Kommandoge- walt relativ unbestimmt. Offenkundig fühlten sich Friedrich Ebert und seine Vertrauten so weit in die bürgerliche Gesellschaft integriert, dass für sie die Klassenbindung zweitrangig geworden war. Daher vertrauten sie mehr den Ordnungskräften des alten Staates als möglichen neuen aus ihrer eigenen Bewegung, der sie sich teilweise entfrem- det hatten. Hierbei handelte es sich nicht nur um die Entfremdung, die sich mit der Herausbildung der drei Strömungen vor allem im Jahrzehnt vor dem Krieg und in diesem selbst eingestellt hatte. Auch die unterschiedlichen Erfahrungen von Parteiführern, die von der Regierungsbürokratie dringend gebraucht wurden, und von Arbeitern, die im Krieg trotz Burgfrieden die Klassenpolarisierung sehr deut- lich spürten, schufen Spannungen, die durch die Anfangserfolge der Revolution zeitweilig überbrückt wurden. So blieb der Parteiführung nichts anderes übrig, als sich weiter sozialistischer Losungen zu bedienen, was ihnen wiederum das Mis- strauen der neuen Verbündeten eintrug. Das aber konnte nur durch Zugeständnisse 51 Persönliche Aufzeichnungen und Briefe gingen im Zweiten Weltkrieg verloren. Es ist auch unsicher, ob sol- che Aufschluss gegeben hätten, weil sich Friedrich Ebert mit persönlichen Äußerungen zurückhielt.

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an die militärische Führung abgebaut werden, die im eigenen Führungskreis Zweifel auslösten, zumal Ebert entscheidende Fragen aus eigener Machtvollkom- menheit entschied und spätere Kritik daran harsch abwies. Sebastian Haffner zeichnete daher das Bild eines kleinbürgerlichen Politikers, der wie ein Hand- werksmeister seine Gesellen anraunzt, gegenüber vornehmer Kundschaft aber verbindlich bis devot auftritt.52 Es sei dahingestellt, ob durch dieses treffend ge- zeichnete Erscheinungsbild (im wörtlichen Sinne) das Selbstverständnis Eberts als Politiker richtig wiedergegeben wird. Wahrscheinlich verstand er sich von dem Moment an, als er die Macht an sich gezogen hatte, als Sachwalter aller Deutschen und in diesem Sinne schon vor der Wahl zum Reichspräsidenten nicht mehr als er- ster Mann der Arbeiterbewegung, sondern als erster Bürger in Deutschland. Ge- rade dann ist aber danach zu fragen, ob er für diese selbst übernommene Verant- wortung die Voraussetzungen mitbrachte. Zu solchen Voraussetzungen gehörten durchaus der Wille zur Macht und das Gespür für den Weg dahin. Wenn aber da- bei die Perspektive unklar gesehen wurde und persönliche Animositäten, gar Hass eine wichtige Rolle spielten, dann handelte es sich um einen fehlgeleiteten Macht- willen. Hass war in beiden Flügeln der Revolution von Anfang an da. Die Verletzun- gen im Richtungsstreit bis 1914 und verstärkt seit dem Ausbrechen der Minder- heit der Sozialdemokratie aus der Burg eines nur scheinbaren inneren Friedens mussten die Handlungen der Repräsentanten der Flügel beeinflussen. Rosa Lu- xemburgs Attacken gegen die Führer des rechten Flügels, besonders gegen Schei- demann, lassen solchen Hass erkennen. Aber wie sollte es nicht zu Hassgefühlen kommen, wenn der Feind im Inneren – und diesen erkannte Rosa Luxemburg lange vor Ausbruch der Revolution sehr klar – brutal auf sie einschlug und dabei Unterstützung von ihren Gegnern, aber noch nicht direkten Feinden (!) in der Ar- beiterbewegung erhielt? Wenn wir verfolgen, wie mit diesem Hass in der Revolution umgegangen wurde, bleibt festzustellen: Der Hass mündete bei Spartakus und dann in der KPD nicht in eine Gewaltpolitik, obwohl es dafür bei den Linksradikalen Befürworter gab. Man könnte jetzt aber sagen, für eine Gewaltpolitik ohne Wenn und Aber fehlten die Mittel, was zutrifft, aber nicht aus der Welt schafft, dass die Führer des Spartakusbundes auf Überzeugungsarbeit und Massendemonstrationen setzten. Das hätten die Führer der MSPD wenn schon nicht würdigen, so doch bei langjähriger Kenntnis der ihnen Gegenüberstehenden in Rechnung stellen sollen. Es gab im Verlauf der Revolution mehrfach Möglichkeiten zur Deeskalation zur rechten Zeit, so am 24. Dezember 1918 und nach dem 4. Januar 1919. Diese wur- den, da gibt es keinen Zweifel, bewusst nicht genutzt. Hassgefühle und eine falsche Beurteilung der seit dem Januar entfesselten Militärs leiteten weiter die Politik der mehrheitssozialistischen Führer. Die von der Soldateska verübten mas-

52 Siehe Sebastian Haffner: Die deutsche Revolution, München 1991, S. 83.

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senhaften Morde wurden offensichtlich als – wie heute gesagt werden würde – be- dauerliche, aber nicht zu verhindernde „Kollateralschäden“ angesehen. Über die zweifelhafte Rolle, die sozialdemokratische Politiker im Zusammenhang mit der Ermordung von und Rosa Luxemburg spielten, hat Klaus Gietin- ger bisher nicht Widerlegtes geschrieben.53 Eine offizielle Verurteilung des unsäg- lichen „Vorwärts“-Beitrages,54 durchaus als Mordhetze zu verstehen, blieb aus. Wenn es ein echtes Erschrecken nach Bekanntwerden der Morde gegeben hat, warum wurde dann nicht die gerichtliche Untersuchung der Vorgänge um den Mord der Führung der militärischen Formation, in der die Morde verübt wurden, aus der Hand genommen? Nach den Gräueltaten im März in Berlin wurden keine persönlichen Konsequenzen gezogen. Hauptverantwortliche wie Oberst Wilhelm Reinhard blieben im Dienst. Obwohl der zeitweilige Berliner Stadtkommandant, verantwortlich für die Erschießung der 29 Matrosen in den Märzkämpfen, als ver- bohrter Monarchist und rabiater Antisemit bekannt war, nannte ihn Friedrich Ebert einen „tüchtigen Offizier“55. Wenn wir annehmen, auch Ebert und seine Mitarbeiter litten an den Brutalitä- ten ihrer vermeintlichen Helfer und waren überzeugt: Wir müssen das grausige Zwischenspiel durchstehen, um die Republik in deren Geburtswehen nicht im Stich zu lassen, danach beginnt die eigentliche Aufbauarbeit – so erlagen sie ei- nem Irrtum mit zwangsweise fatalen Folgen. Sie verbündeten sich nicht mit Re- sten einer geschlagenen Macht, sondern mit Kräften, die zeitweilig erschüttert, de- ren Grundlagen aber voll erhalten geblieben waren. Die ungesühnten Morde belasteten die Republik auf eine nicht zu überschätzende Weise. Bei Berücksich- tigung des nationalistisch aufgeheizten Klimas erschienen die Mörder in patrioti- schen Kreisen – und dazu gehörten auch viele der „Vernunftrepublikaner“ – als Verteidiger des Vaterlandes. Das Militär, nun Reichswehr, wurde wieder zur Klammer der Nation, mit den Soldaten und Offizieren, die Verbrechen verübt hat- ten, aber als unbescholten gelten konnten, da sie nicht juristisch belangt worden waren. Das nach den Wahlen vom Januar 1919 scheinbar breite Bündnis der Re- publikaner konnte, ja musste unter diesen Bedingungen schnell bröckeln. Die lauen Republikaner auf der rechten Seite suchten, von taktischen Zwängen befreit, bald neue Bündnisse ohne Sozialdemokraten. In der Arbeiterbewegung links von der MSPD musste deren Politik abstoßend – hier im wertneutralen Sinne gemeint – wirken. Der starke Zustrom zur USPD seit dem Ende der Revolution war die Folge. Die Masse dieser zumeist Arbeiter kann nicht als der Demokratie feindlich

53 Siehe Klaus Gietinger: Eine Leiche im Landwehrkanal. Die Ermordung Rosa Luxemburgs, Berlin 1995, S. 73-75, 107-109. 54 In einem „Gedicht“ hatte ein Artur Zickler im „Vorwärts“ am 13.1.1919 faktisch zum Mord an Karl Lieb- knecht und Rosa Luxemburg aufgerufen. 55 Siehe Otto-Ernst Schüddekopf: Das Heer und die Republik. Quellen zur Politik der Reichswehrführung 1918- 1933, Hannover-Frankfurt/Main 1955, S. 17. Der damalige Stadtkommandant von Berlin Reinhard hatte die Erschießung der 29 Matrosen befohlen. Im Sommer 1919 bezeichnete er die Mitglieder der Regierung als „Lumpengesindel“.

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eingestellt angesehen werden, sie erstrebten eine nicht rechtslastige Republik. Un- ter den Radikallinken in der USPD und in der KPD waren viele in ihrer Position nicht verfestigt. Aber die ungesühnten Morde, besonders an ihren großen Vorbil- dern Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, erbitterten sie und entfremdeten sie dieser Republik. Das Letztgenannte gilt auch für nicht wenige Demokraten aus bürgerlichen und kleinbürgerlichen sowie aus intellektuellen Kreisen. Künstler und Publizisten wandten sich während der Weimarer Republik oft den Verbrechen und den Ver- säumnissen in der Revolution zu, dabei die SPD, sicher oft zuspitzend, doch sel- ten grundlos, belastend. Bekannt geblieben sind die Dramen Ernst Tollers (beson- ders „Hoppla, wir leben“) und Bernhard Kellermanns Roman „Der 9. November“ sowie Kurt Tucholskys Glossen und Gedichte. Dessen bitter-ironische Sentenz „Die deutsche Revolution hat im Jahre 1918 im Saale stattgefunden“56 wurde oft zitiert, allerdings zumeist ohne den Nachsatz: „Die Möglichkeiten, die trotzdem auf der Straße gelegen haben, sind von Ebert und den Seinen verraten worden.“57 Weniger in der Erinnerung geblieben, aber damals heftige Diskussionen auslö- send, sind die Artikel und ein Bühnenstück Ehm Welks. Als einer der damals be- kanntesten Publizisten ging er in den ersten Jahren der Weimarer Republik in der „Braunschweigischen Morgenzeitung“ und im angesehenen „Leipziger Tageblatt“ mit der Drohung von rechts ins Gericht.58 Sein Drama „Gewitter über Gottland“ behandelt im historischen Gewand der Störtebeker-Sage die Probleme der Revo- lutionszeit. Die von Erwin Piscator inszenierte Berliner Aufführung löste 1927 den vielleicht größten Skandal in der Theaterszene der Weimarer Republik aus.59 Aufschlussreich ist auch eine Äußerung Hermann Hesses. Er schrieb 1929 an den Verleger Heinrich Wiegand, er teile „doch ein klein wenig die kommunistische Aversion gegen die deutschen Menschewiki, die Patrioten anno 14 waren und Pa- trioten heute sind, die an der Revolution nicht teilgenommen haben, den Eisner wie den Liebknecht im Stich gelassen haben, aber als Erben auf deren Stühlen sit- zen […] Wenn schon Revolution und Machtkampf, dann auch durchführen und Ernst machen.“60 Viele Künstler und Publizisten in der Weimarer Republik hatten ein Gespür für die politischen Probleme der Zeit und deren historische Wurzeln. Sie durchbra- chen zeitweilig die kulturelle konservative Hegemonie. Das Nachdenken darüber blieb in der SPD aus. Solche Versäumnisse sollten den Historikern heute zu den- ken geben, wenn über die Revolution von 1918/1919 geschrieben und gesprochen wird.

56 Kurt Tucholsky: Deutschland, Deutschland – unter anderen, Berlin 1958, S. 24. 57 Ebenda. 58 Siehe Konrad Reich: Ehm Welk. Stationen eines Lebens, Rostock 1977, S. 69-74. 59 Siehe ebenda, S. 148-172. 60 Zit. nach: Eike Middell: Hermann Hesse, Leipzig 1972, S. 200.

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Die internationale Dimension der Revolution

Der Erste Weltkrieg veränderte die internationalen Beziehungen von Grund auf. Das Ausscheiden der drei Hauptverlierer Deutschland, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich, alle drei autoritär regierte Staaten, als wichtige Mitspieler im Konzert der Großmächte bedeutete einerseits einen Triumph der westlichen De- mokratien. Andererseits führten die durch den Krieg bedingte Verschiebung der Kräfte innerhalb der westlichen Mächte zugunsten der USA und die gleichzeitige Herausforderung durch das revolutionäre Russland zu einer irreparablen Störung des bisher leidlich ausbalancierten Gleichgewichts zwischen den Mächten. Daher mussten die verbliebenen Großmächte ein starkes Interesse am Gang der Revolu- tion in Deutschland, einer immer noch potentiellen Großmacht, haben. Dieses Problem ist in der Revolutionsforschung bisher zumeist etwas einseitig, vor allem unter dem Gesichtspunkt behandelt worden, welchen Spielraum die Siegermächte dem Rat der Volksbeauftragten gewährten. Auch die führenden Politiker des Westens trieb die Sorge um, Deutschland könnte von der russischen Revolutionswelle überrollt werden und damit außer Kontrolle geraten. Sie sahen im Rat der Volksbeauftragten einen in ihrem Sinne stabilisierenden Faktor, ohne allerdings dadurch zu Milderungen der Vertragsbe- dingungen für einen Friedensschluss veranlasst zu werden. Die Mehrheitssozialdemokraten setzten, um keine Irritationen bei den Sieger- mächten zu erwecken und aus ihrer antibolschewistischen Grundhaltung heraus, von Anfang an auf eine unzweideutige Westorientierung. Das war an sich konse- quent. Dort jedoch, wo sie versuchten, die Westorientierung und die Annäherung an die militärische Führung in Deutschland zu verbinden, mussten sie in ein un- auflösbares Dilemma geraten. Ein erster vorentscheidender Schritt auf diesem Weg noch während des Krieges war ihre Stimmenthaltung bei der Abstimmung über den Brester Frieden. Wenn nicht vorher die bereits genannten Faktoren, dann hätte dieser von deutscher Seite aus im- perialistische Friedensvertrag die SPD-Führer von Bundesgenossen, die diesen Ver- trag durchboxten, ein für alle Mal abhalten müssen. Für eine sozialdemokratische Partei war eigentlich nichts anderes denkbar als ein klares Nein. Bereits hier verloren Friedrich Ebert und seine Anhänger an Glaubwürdigkeit, und dieser Vertrauensver- lust war nicht wiedergutzumachen. Gewiss war ihre Lage schwierig, innenpolitisch, aber auch bei Berücksichtigung der Tatsache, dass der Vertrag mit einer Regierung abgeschlossen wurde, die nicht lange davor eine gewählte Volksvertretung davonge- jagt hatte. Aber stärker musste wiegen, dass sie einen Raub gigantischen Ausmaßes faktisch unterstützten. Nicht zu vergessen: Die Politiker, die später in der Revolution die Regierungspolitik bestimmten, begaben sich früh ohne Not in eine Falle. Ihre Be- fangenheit gegenüber der Ordnungsmacht wurde zu einer Gefangenschaft. In diesem Zusammenhang ist eine Frage zu berühren, vor der die etablierte deutsche Historikerzunft ausweicht. Die meist verhaltene Kritik an der erwähnten

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Entscheidung oder am Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Sowjetruss- land hätte eigentlich zur Überlegung führen müssen, ob es nicht Alternativen in der Politik gegenüber Russland nach dem Ausbruch der Revolution in Deutsch- land gegeben habe. Selbst wenn im Rat der Volksbeauftragten geglaubt wurde, die Januarkämpfe seien ein Spartakisten-Putsch gewesen, so war nach diesen Kämp- fen die Gefahr beseitigt. Dem Rat und den Militärs muss zudem klar gewesen sein, dass von Russland in den Wirren des Bürgerkrieges keine ernstzunehmende Einmischung in Deutschland drohte. Vielmehr musste der Sowjetstaat an einem leidlich guten Verhältnis zu Deutschland interessiert sein. Dass Lenin eine solche Politik verfolgte, hatte er bewiesen. So wäre die Möglichkeit für mehrere Optio- nen gegeben gewesen. Die heutige deutsche Geschichtsschreibung berücksichtigt kaum die damals noch leidlich offene Situation, den Ausgang der Kämpfe in Russ- land betreffend. Der Sieger im Bürgerkrieg musste nicht zwangsläufig den Weg einschlagen, den er dann genommen hat. Wenn seit geraumer Zeit eingeschätzt wird, das Zurückweisen Maos und Ho Chi Minhs durch die USA habe erst die ein- seitige Festlegung Chinas und Nordvietnams auf einen prosowjetischen Weg un- umkehrbar gemacht,61 dann bietet sich eine vergleichbare Schlussfolgerung auch für Sowjetrussland an. Entkräften lässt sich eine solche Überlegung auch nicht durch den Einwand, der Rapallo-Vertrag habe den Stalinismus nicht verhindert. Denn einmal war 1922 Lenin durch seine Krankheit als Führer der Sowjetunion faktisch ausgefallen, und die Strukturen der Herrschaft waren sehr wesentlich an- ders als die zu Anfang des Jahres 1919. Und nicht zu vergessen: Der jahrelange Bürgerkrieg, auch von den Gegnern der Bolschewiki mit großer Brutalität und mit Unterstützung der Westmächte geführt, hatte zur Barbarisierung der Herrschaft beigetragen. Die Hypothese, die Siegermächte hätten kein Vertrauen zu den Räten als Machtinstitutionen im zivilen oder gar im militärischen Bereich gehabt, ist mehr vermutet als bewiesen. Der Rat der Volksbeauftragten wurde doch nicht deshalb von den Siegern als rechtmäßige deutsche Regierung akzeptiert, weil er sich auf geschulte hohe Berufsbeamte und Berufsoffiziere stützte, sondern weil er als de- mokratisches Organ aus dem Sturz der alten Ordnung hervorgegangen war. Was das alliierte Misstrauen gegen die Räte und besonders die Soldatenräte in den be- setzten Gebieten betrifft, so ist nachgewiesen worden, dass es sich hierbei um sug- gerierte bzw. lancierte Meldungen aus dem Auswärtigen Amt handelte.62 Viel stär- ker als gewiss vorhandene Vorbehalte gegenüber Räten im militärischen Bereich wog in Frankreich und Großbritannien die tief verwurzelte Ablehnung des deut- schen Militarismus. Darin waren sich die französischen und englischen Politiker einig, nicht nur während der Verhandlungen über den Versailler Vertrag. In Cle- menceaus Erinnerungen63 wird das ebenso deutlich wie später in der Skepsis bis

61 Siehe Stephen Maxner: Die USA und Vietnam, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 2008, Nr. 27, S. 25-32, hier S. 26. 62 Siehe Freya Eisner: . Die Politik des libertären Sozialismus, Frankfurt/Main 1979, S. 95.

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Ablehnung des militärischen Widerstandes gegen Hitler durch die britischen ver- antwortlichen Politiker. Für die Revolutionszeit gibt es jedenfalls keinen belast- baren Beleg für die Ablehnung eines Milizheeres mit Soldatenräten. Überhaupt ist die Zurückhaltung der Siegermächte, was die innerdeutschen Machtverhältnisse betraf, hervorzuheben. Deutschland wurde eben nicht mit Russland gleichgesetzt.

Vor einer neuen Sachlichkeit im Umgang mit der Literatur?

Bei einer Wiederbelebung der Revolutionsforschung wird vielleicht nach neuen Quellen gefragt werden. Das gilt nicht so sehr für die neuen Länder, wo zu DDR- Zeiten viel aus Quellen geschöpft wurde, woraus neue Interpretationen erwachsen können. Gemeint sind in erster Linie die heute polnischen, teilweise russischen Gebiete, also Ost- und Westpreußen, Schlesien und Hinterpommern. Die hier zu erschließenden Quellen könnten wichtige Aufschlüsse zur Formierung der Ge- genrevolution, doch auch zum Verhalten der ländlichen und städtischen Mittel- schichten liefern. Es sei hierzu nur eine These aufgestellt. In der Wahlforschung gilt eine große Kontinuität im Wählerverhalten von der Kaiserzeit bis zur späten Weimarer Republik für ausgemacht. Berücksichtigen wir die große Unzufrieden- heit bei Kriegsende in den Mittelschichten, deren in der Revolution zunächst aus- bleibende Unterstützung für die alte Macht, deren Exponenten sie bisher zumeist gewählt hatten, ergibt sich die Frage: Wäre bei einem anderen Verlauf der Revo- lution nicht ein Kontinuitätsbruch denkbar gewesen? Scheinbar lange Trends kön- nen auch über mögliche jähe Wendungen hinwegtäuschen. Vielleicht noch wichtiger als das Stöbern in polnischen und russischen Archi- ven wird sein, das bisher über die Revolution Geschriebene unvoreingenommen zu visitieren. Über die meiste Zeit in der Spanne von 1919 bis heute haben die Au- toren von einem deutlich erkennbaren politischen Standpunkt aus geschrieben. Das galt während der Weimarer Republik besonders für die Erinnerungs-Literatur. Die akademisch etablierte Geschichtsschreibung hielt sich mit großen Versuchen über die Revolution zurück. Arthur Rosenbergs „Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik“ war ein Solitär. Im Autor erkennen wir die seltene Verbin- dung zeitweiligen Engagiertseins in herausgehobener politischer Position und da- nach die abgeklärte Sicht auf erlebte und mitgestaltete Geschichte. In der NS-Zeit dominierte die Sicht auf die „November-Verbrecher“, letztlich auch bei Histori- kern von Rang in kultivierter Version wie in der noch heute und übrigens auch in der DDR hoch gelobten Sächsischen Geschichte von Kötschke/Kretzschmar.64

63 Siehe Georges Clemenceau: Größe und Tragik eines Sieges, Stuttgart-Berlin-Leipzig 1930, Kap. 15, S. 205- 223. Clemenceau verliert kein Wort gegen die Räte. Dafür sind seine Ausführungen vom tiefen Misstrauen ge- genüber der deutschen Militärpolitik und die den Militarismus stützenden Kräfte geprägt. 64 Siehe Rudolf Kötzschke/Hellmut Kretzschmar: Sächsische Geschichte, Bd. 2, Dresden 1935. Diese Sicht gilt für die ganze Zeit der Weimarer Republik.

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Auf die Forschungsliteratur in der Zeit des Kalten Krieges und bis zur Vereini- gung ist bereits oben eingegangen worden. Es ist zu wünschen, dass in einer Wiederbelebung der Diskussion um die deut- sche Revolution von 1918/1919 das Überlieferte an Literatur unbefangener als in den Jahrzehnten davor zu Rate gezogen wird. Das gilt aus meiner Sicht einmal für die Literatur über andere europäische Revolutionen des gleichen Zeitraums. Auch die politische Diskussion um das Europa von heute und morgen sollte dazu ani- mieren. Bei deutschen Autoren ist eine nicht übersehbare Distanz zu diesen Re- volutionen und zur Literatur darüber erkennbar. Die Vergleichsmöglichkeit bleibt dadurch eingeschränkt. Zum Beispiel fällt auf, wie wenig Francis L. Carstens ver- gleichende Betrachtung über die „Revolution in Mitteleuropa 1918-1919“65 aus- gebeutet wird, obwohl sich dessen Vergleich zum Verlauf in den deutschen Län- dern und in Österreich als sehr produktiv erweist. Über die Gründe der Enthaltsamkeit soll hier nicht gemutmaßt werden. Auch dass die russische Revo- lution (richtiger: die drei Revolutionen in Russland von 1905 bis 1917) sehr ein- seitig im Kontrastprogramm der Bedrohung erscheint, wird dem Zusammenhang, auch dem strukturellen Zusammenhang von deutscher und russischer Revolution nicht wirklich gerecht. Eine Fallstudie zur russischen Oktoberrevolution in dem Sammelband „Große Revolutionen der Geschichte“ weist auf einen positiven An- satz in dieser Richtung hin. In dieser ordnet Dietrich Beyrau die bolschewistische Revolution in den europäischen Kontext von der Französischen Revolution 1789 bis zur Zweiten Internationale ein,66 was das Verständnis für die Umwälzungen in Russland bis 1921 fördert. Ein vergleichbarer Blickwinkel würde die Sicht auf die deutsche Revolution schärfen. Neue Aufmerksamkeit verdienen auch die vielfältigen Erinnerungen. Sie wur- den bisher in erster Linie in ihrem informativen Gehalt ausgeschöpft, was Sinn machte, um sich von subjektiven Positionen wie Animositäten der Autoren gegen ehemalige Konkurrenten nicht aufs Glatteis führen zu lassen. Aber es gab auch Se- lektionen, die dem subjektiven Standpunkt der Historiker geschuldet waren. Von solcher Selektion waren auch unverzichtbare Kronzeugen betroffen. Walter Oehme, ein bekannter Publizist, 1918 prominenter Soldatenrat im Ostheer, saß in den entscheidenden Tagen der Revolution im Vorzimmer Friedrich Eberts „Da- mals in der Reichskanzlei“.67 Seine hochinteressanten Erinnerungen von 1958 wurden in der westdeutschen Literatur fast vollständig gemieden, doch auch in der DDR, wo sie erschienen, nur sehr sparsam genutzt. Gleiches lässt sich von den Er- innerungen von Wolfgang zu Putlitz sagen, der nicht nur über den Kampf am 24. Dezember 1918 als Teilnehmer berichtet, sondern auch sonst interessante Schil- derungen über Offiziere und Adlige in der Revolutionszeit liefert.68 Westdeutsche

65 Siehe Carsten, Revolution in Mitteleuropa (Anm. 48). 66 Siehe Dietrich Beyrau: Die bolschewistische Revolution 1917-1921, in: Peter Wende (Hrsg.): Große Revolu- tionen der Geschichte. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, München 2000, S. 190-207. 67 Siehe Walter Oehme: Damals in der Reichskanzlei. Erinnerungen aus den Jahren 1918/19, Berlin 1958.

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Historiker verhielten sich beiden Autoren gegenüber wie im Kalten Krieg üblich: Der ehemalige Sozialdemokrat Oehme und Kritiker des Ebert-Kurses wirkte als Störenfried. Bei Putlitz war es noch ärger. Dieser leistete – wohl als einziger deut- scher Diplomat in gehobener Position – frühzeitig Widerstand gegen den Kriegs- kurs Hitler-Deutschlands, und zwar in Konspiration mit dem „Feind“ Großbritan- nien. Schlimmer noch, er ging nach einigen Irrfahrten nach dem Krieg in die DDR und äußerte sich kritisch über seine ehemaligen Kollegen, die ihre Karriere nun bruchlos in der BRD fortsetzten. Wolfgang zu Putlitz’ Erinnerungen sind zudem nicht als historische Erinnerun- gen in engerem Sinne, sondern als Erinnerungen eines an Abwechslungen reichen Lebens gedacht und der „schönen“ Literatur zuzurechnen. Die verhältnismäßig geringe Beachtung von Erinnerungsbüchern in der neueren deutschen Ge- schichtsschreibung hat mit einem gewissen Hochmut professioneller Historiker und mit dem literarischen Anspruch in Erinnerungsbüchern zu tun, was heißt, sie sind oft gut und leicht lesbar. Womit Historiker in unseren Landen ihr Problem ha- ben. Was den Abstand von DDR-Historikern zu den Erinnerungen von Oehme und Putlitz betrifft, so dürfte auch deren nicht unbedingt der Partei gemäße Diktion eine Rolle gespielt haben. Wenn Rürup 1993 zu Recht hervorgehoben hat, der Aufschwung der Revoluti- onsforschung in der BRD sei wesentlich der Hinwendung zur Sozialgeschichte zu verdanken gewesen und deren Bedrängnis durch konkurrierende Sichten habe das Bild der Revolution verblassen lassen, dann ist aber auch auf neue Chancen zu verweisen. Die Hinwendung zur kulturgeschichtlichen Sicht oder wenigstens de- ren Einbeziehung eröffnet eine solche Chance. Diese wird anderswo bereits gese- hen. Im von Heiko Haumann herausgegebenen Sammelband „Die Russische Re- volution 1917“69 beziehen die Autoren, alle an der Universität arbeitend, intensiv die sogenannte schöne Literatur ein. Der Herausgeber selbst zitiert in sei- nem Beitrag über die Ursachen der Revolution natürlich Gorkij, aber auch C`´echov und Leo Tolstoj. Diese Autoren zeigten ein großes Gespür für heranreifende Kon- flikte und die dahinter liegenden Ursachen. Nach der Oktoberrevolution waren es wieder Künstler, die bald auf die Fehlentwicklungen verwiesen, erneut Gorkij, dann Pasternak und die eher als unpolitisch geltenden Paustovskij und Korolenko. Wer sich mit der deutschen Revolution von 1918/1919 befasst, ist gut beraten, auf ein ebensolches Gespür bei deutschen Autoren zu achten, wofür oben Namen genannt wurden.70 Verfolgt man die künstlerische Widerspiegelung der Revolution in den Jahrzehnten nach dem Ereignis, vor allem in der Literatur, doch auch in der bildenden Kunst, so kann der Historiker etwas über die Langzeit- und Tiefenwir- kung des Umbruchs erfahren. Mehr aber noch darüber, wie es die Historiker und die Politiker verstanden haben, etwas von dem Atem dieser Revolution zu erhal-

68 Siehe Putlitz, Unterwegs nach Deutschland (Anm. 47). 69 Siehe Heiko Haumann (Hrsg.): Die Russische Revolution 1917. Köln-Weimar-Wien 2007.

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ten. Dann wird auffallen, dass – obwohl die Gründer beider Staaten am Beginn ei- ner neuen Zeit die intensive Auseinandersetzung mit den Ursprüngen der ersten Republik für wichtig gehalten haben – Künstler davon höchst selten inspiriert wurden. Was wenigstens den Historikern zu denken geben sollte.

70 Siehe auch den Beitrag von Wolfgang Beutin im vorliegenden Band.

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MARCEL BOIS, REINER TOSSTORFF „Ganz Europa ist vom Geist der Revolution erfüllt“. Die internationale Protestbewegung am Ende des Ersten Weltkrieges

Zeitgenossen erlebten den Ersten Weltkrieg als den bis dahin schrecklichsten und opferreichsten Krieg. Vier Jahre lang litten sie unter seinen direkten Auswirkun- gen, viele weitere Jahre unter seinen langfristigen Folgen. Es war der erste Krieg, in dem im großen Maßstab Flugzeuge, U-Boote und Giftgas eingesetzt wurden. Fast zehn Millionen Soldaten kamen in den Schlachten von Verdun, Tannenberg und anderswo ums Leben, doppelt so viele wurden verletzt. Abseits der Front star- ben mindestens weitere zehn Millionen Zivilisten an Hunger und entbehrungsbe- dingten Krankheiten. Der Erste Weltkrieg war der erste globale Krieg. Der mit ihm einhergehende Vertrauensverlust der Bevölkerung gegenüber ihren jeweiligen Herrschern war ebenfalls global. Millionen Menschen gingen in den Jahren 1917-20 zwischen Petrograd und Barcelona auf die Straße. Sie protestierten für Frieden und gegen die schlechte Versorgungslage infolge des Krieges. Vielfach entmachteten darüber hinaus Sol- daten ihre Offiziere, Arbeiter besetzten die Fabriken und Bauern das Land. In vie- len Regionen bildeten die Menschen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte. Nahezu in ganz Europa mussten die Herrscher um ihre Macht bangen. Im März 1919 no- tierte der britische Premierminister Lloyd George besorgt: „Ganz Europa ist vom Geist der Revolution erfüllt. Die Arbeiter sind nicht nur von einem tiefen Gefühl der Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen, wie sie vor dem Krieg bestan- den, ergriffen, sondern von Groll und Empörung. Die ganze bestehende soziale, politische und wirtschaftliche Ordnung wird von der Masse der Bevölkerung von einem Ende Europas zum anderen in Frage gestellt.“1 In der Forschung wird diese Ansicht geteilt. So schreibt Donald Sassoon: „Das Ausmaß der Arbeiterunruhen und des aufflammenden revolutionären Potentials der Jahre 1918 bis 1920 ist einmalig im zwanzigsten Jahrhundert geblieben.“2 Ho- ward Zinn macht darauf aufmerksam, dass die Bewegung keineswegs auf Europa beschränkt gewesen sei. Er spricht von „einer weltweiten Welle von Nachkriegs- rebellionen“.3 Auch Philip Yale Nicholson sieht in jenen Jahren eine „weltweite Erhebung der Ausgebeuteten und Unterdrückten“.4 In der Tat kam es zu dieser Zeit nicht nur in Europa zu Aufständen, Streiks und Protesten, sondern auch in den In-

1 Zit. nach Julius Braunthal: Geschichte der Internationale, Berlin und Bonn 1978, Bd. 1, S. 186. 2 Donald Sassoon: One Hundred Years of Socialism. The West European Left in the Twentieth Century, New York 1996, S. 32. 3 Howard Zinn: Eine Geschichte des amerikanischen Volkes, Bd. 6: Reformen, Repressionen und der Erste Weltkrieg, Berlin 2006, S. 109. 4 Philip Yale Nicholson: Geschichte der Arbeiterbewegung in den USA, Berlin 2006, S. 213.

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dustriestaaten auf anderen Kontinenten. Zudem erfuhren die antikolonialen Be- wegungen einen ersten Höhepunkt. Die Welt erlebte eine internationale Protest- bewegung, wie es sie in dieser Dimension nicht einmal 1968 gegeben hat. Im Folgenden soll diese Bewegung in ihrem globalen Maßstab skizziert wer- den. Viele Ereignisse in unterschiedlichen Ländern können dabei nur angedeutet werden. Lediglich den Entwicklungen in West- und Südeuropa soll etwas mehr Platz eingeräumt werden, handelte es sich doch bei Staaten wie Frankreich, Groß- britannien und Italien um Nachbarn und/oder Weltkriegsgegner des Deutschen Reiches. Obwohl deren Herrscher den Krieg gewannen, hatten sie mit ähnlichen Widerständen im Innern zu kämpfen wie der deutsche Kaiser. Gelegentlich wurde im Rahmen von Veranstaltungen und Konferenzen anläss- lich des 90. Jahrestages der deutschen Revolution deren Vorbildfunktion für an- dere Länder betont.5 Tatsächlich spielte Deutschland als hoch industrialisierter Staat mit der weltweit größten organisierten Arbeiterbewegung eine wichtige Rolle in der globalen Bewegung nach dem Krieg. Die Initialzündung ging jedoch von der Revolution in Russland aus. Und nicht nur das: Die Menschen, die welt- weit gegen den Krieg und für soziale Gerechtigkeit protestierten, sahen im revo- lutionären Russland ihr Vorbild für eine bessere Welt.

Proteste und Revolutionen in den europäischen Mittelmächten

Im Zentrum der globalen Bewegung stand Europa. Gleich fünf Herrschaftshäuser überstanden den Krieg nicht – oder, um es mit den Worten Eric Hobsbawms aus- zudrücken: Europa erlebte eine Revolution, die „alle Regime von Wladiwostok bis zum Rhein hinwegfegte“6. Bereits im Februar 1917 stürzten Arbeiter, Bauern und Soldaten in Russland die seit 450 Jahren despotisch regierende Zaren-Monarchie und gründeten im ganzen Land Räte („Sowjets“). Das bis dahin noch in halbfeudalen Strukturen steckende Land demokratisierte sich in den nächsten Monaten rasch. Orlando Figes meint: „Russland wurde praktisch über Nacht in ‚das freieste Land der Welt’ verwan- delt.“7 Im Oktober8 übernahm nach einem weiteren Aufstand eine auf die Räte ge- stützte revolutionäre Regierung unter Führung der Bolschewiki die Macht im Land. Die neue Regierung setzte sich für sofortige Friedensverhandlungen ein und

5 Siehe den Tagungsbericht von Rainer Holze „Für bürgerliche und/oder sozialistische Demokratie? Tagung zur Novemberrevolution 1918/1919“ in: JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 2009, H. I, S. 167-170. 6 Eric Hobsbawm: Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhundert, München 2002, S. 93. 7 Orlando Figes: Die Tragödie eines VolkeS. Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924, München 2001, S. 382. 8 Zur Zeit der beiden Revolutionen hielt sich Russland noch an den Julianischen Kalender, welcher gegenüber dem in Westeuropa gängigen Gregorianischen Kalender um 13 Tage „nachhing“. Erst am 31. Januar 1918 wechselte die sowjetische Regierung zum Gregorianischen Kalender. Der nächste Tag wurde zum 14. Februar erklärt. Die Februarrevolution 1917 fand daher eigentlich im März statt, die Oktoberrevolution im November.

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gab den Völkern des ehemaligen russischen Reichs das Recht auf volle nationale Selbstbestimmung. Arbeiter nahmen die Fabriken und Betriebe unter ihre demo- kratische Kontrolle. Das Land der Großgrundbesitzer wurde unter den Bauern verteilt, und in der Armee wählten die Soldaten nun ihre Offiziere. Ein enormer gesellschaftlicher Aufbruch erfasste Russland – das Land, das kurz zuvor noch in ganz Europa als „Hort der Reaktion“ gegolten hatte.9 Von Russland aus erfasste die revolutionäre Bewegung den restlichen Konti- nent. Ein Jahr später, im November 1918, besiegelten die Streiks und Proteste von Arbeitern und Soldaten das Ende der monarchistischen Ordnung in Deutschland. Die Akteure der Revolution entmachteten nicht nur Kaiser Wilhelm II., sondern alle 22 deutschen Könige, Herzoge und Fürsten und legten so den Grundstein für einen demokratischen Neuanfang. Zudem beendeten sie Deutschlands Beteiligung am Ersten Weltkrieg. Bayern und Bremen wurden für kurze Zeit Räterepubliken.10 Im gleichen Monat näherte sich auch die zweite große zentraleuropäische Monar- chie, Österreich-Ungarn, unter dem Druck revolutionärer Erhebungen ihrem Ende. Nach einem Aufstand ungarischer Soldaten dankte Kaiser Karl I. ab, und der Vielvölkerstaat brach auseinander. Die slawischen Minoritäten rebellierten und gründeten eigene Staaten. Im deutschsprachigen Teil – vor allem in Wien und Oberösterreich – bildeten sich einflussreiche Arbeiterräte.11 Im ehemaligen Teil- staat Ungarn wurde im Frühjahr 1919 eine Räterepublik proklamiert, im Sommer auch in der slowakischen Stadt Ko`s´ice. Die Herrscher der Mittelmächte Bulgarien und Türkei mussten nach dem Krieg ebenfalls abdanken.12 Aber nicht nur die im Krieg unterlegenen Staaten erlebten Aufstände und Mas- senstreiks, sondern auch die gegnerischen Entente-Mächte. Francis L. Carsten hat darauf hingewiesen, „dass alle Revolutionen der Jahre 1917 bis 1920 in besiegten Staaten stattfanden“, dennoch habe es „revolutionäre Situationen auch in dem ei- nen oder dem anderen der Siegerstaaten, vor allem in Italien“, gegeben.13 Denn auch in diesen Ländern hatte sich im Verlauf des Krieges eine Opposition heraus- gebildet, die vor allem seit Ausbruch der Revolution in Russland großen Zulauf

9 Aus dem enormen Literaturbestand zur Geschichte der Revolution in Russland sei hier nur auf einige neuere Standardwerke verwiesen, die in deutscher Sprache vorliegen: Figes, Tragödie; Manfred Hildermeier: Die Russische Revolution 1905-1921, Frankfurt a. M. 1989; Helmut Altrichter: Rußland 1917. Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Paderborn u. a. 1997; Dietrich Beyrau: Petrograd, 25. Oktober 1917. Die russische Re- volution und der Aufstieg des Kommunismus, München 2001; Bernd Bonwetsch: Die Russische Revolution 1917. Eine Sozialgeschichte von der Bauernbefreiung 1861 bis zum Oktoberumsturz, Darmstadt 1991; Die- trich Geyer: Die Russische Revolution. Historische Probleme und Perspektiven, Göttingen 1985; Richard Lo- renz u.a. (Hrsg.): Die russische Revolution 1917. Der Aufstand der Arbeiter, Bauern und Soldaten. Eine Do- kumentation, München 1981; Heiko Haumann (Hrsg.): Die Russische Revolution 1917, Köln u.a. 2007. 10 Zu Bremen siehe Peter Kuckuk (Hrsg.): Revolution und Räterepublik in Bremen, Frankfurt a. M. 1969, sowie Beitrag von Gerhard Engel in diesem Band. 11 Siehe Francis L. Carsten: Revolution in Mitteleuropa 1918-1919, Köln 1973, S. 87. Siehe auch: Hans Haut- mann: Geschichte der Rätebewegung in Österreich 1918-1924, Wien 1987. 12 Siehe Hobsbawm, Zeitalter, S. 83. 13 Francis L. Carsten: Revolutionäre Situationen in Europa 1917-1920, in: Dirk Stegmann u.a. (Hrsg.): Indu- strielle Gesellschaft und politisches System. Beiträge zur politischen Sozialgeschichte. Festschrift für Fitz Frischer zum siebzigsten Geburtstag, Bonn 1978, S. 375-388, hier S. 375.

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erfuhr. Vielerorts konnten die Herrschenden jedoch großen Teilen der Bevölke- rung durch eine chauvinistische Siegespropaganda das Gefühl vermitteln, diese erhielten einen wie auch immer gearteten Ausgleich für die Opfer und Entbehrun- gen der Kriegsjahre. So gelang es ihnen zumeist, die Dynamik der Opposition und deren Radikalisierung und Entwicklung hin zu einer systemgefährdenden Kraft zu blockieren.

Frankreich: Radikalisierung der Linken

In Frankreich erging es den Kriegsgegnern bei Beginn der Kampfhandlungen nicht anders als denen in den Mittelmächten. Sie waren – selbst in der Linken – völlig isoliert.14 Zunächst konzentrierten sie sich auf die Gewerkschaftsbewegung, die Confédération Génerale du Travail (CGT). Diese war ihrem Selbstverständnis nach bis zu Kriegsbeginn revolutionär-syndikalistisch und damit auch antimilita- ristisch ausgerichtet, schwenkte aber im August 1914 genauso wie die „marxisti- schen“ Politiker der SPD auf eine Pro-Kriegs-Haltung um. Auch die weniger ein- flussreichen Sozialisten vollzogen den Schwenk ihrer deutschen Brüder. Sie traten sogar in die Regierung ein und garantierten der französischen Republik eine reibungslose Kriegsproduktion. Doch während die SPD-Führer im Verlauf des Krieges immer stärker zu einer Stütze der staatlichen Kriegsführung wurden (ohne dabei realen Einfluss, nicht einmal Regierungsposten, zu gewinnen) und die Anti- Kriegs-Strömung aus der Partei warfen, vollzog sich in Frankreich ein umgekehr- ter Prozess. Zwei Ereignisse des Jahres 1917 beschleunigten diese Entwicklung: die brutale Unterdrückung von Anti-Kriegs-Meutereien im Lande und der Aus- bruch der Februarrevolution in Russland. Im September 1917 verließen die So- zialisten die Regierung unter dem Eindruck einer nach Stockholm einberufenen Friedenskonferenz der Zweiten Internationale (diese kam aber letztendlich durch den Boykott der Entente-Regierungen, die den Delegierten die Reise verboten, nicht zustande). Im Verlaufe des Jahres 1918 vertiefte sich die Linkswende der So- zialisten. Auf dem Parteitag im Oktober drängte schließlich der pazifistische den rechten Flügel aus der Führung, hielt aber zugleich deutlich Distanz zur kleinen, mit den Bolschewiki sympathisierenden revolutionären Strömung.15 14 Das noch immer maßgebliche Werk über die französische Anti-Kriegs-Bewegung stammt von einem ihrer wichtigsten Protagonisten: Alfred Rosmer: Le mouvement ouvrier pendant la guerre, 2 Bde., Paris 1936, 1959 [Reprint Aubervilliers 1993]. Die Darstellung reicht nur bis zur Revolution in Russland, da die gesammelten Materialien des Verfassers für die Fortführung des Textes im Gefolge der deutschen Besatzung verloren gin- gen. Für die unmittelbare Nachkriegszeit, unter dem besonderen Blickwinkel der Herausbildung der Kom- munistischen Partei, vgl. die folgenden beiden Standardwerke: Annie Kriegel: Aux origines du communisme français 1914-1920. Contribution à l’histoire du mouvement ouvrier français, 2 Bde., Paris 1964; Robert Wohl: French in the Making, 1914-1924, Stanford 1966. Einen breiteren Blick auf die allge- meine Situation der Arbeiterschaft und im Vergleich mit der Situation in Großbritannien liefert John N. Horne: Labour at war: France and Britain 1914-1918, Oxford 1991. 15 In dieser Frage verhielt es sich ähnlich in der CGT, wo sich die pazifistische Linke mit der Mehrheitsführung aussöhnte. Beide lehnten die bolschewistische Machteroberung ab.

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Derweil setzte die nach Ausscheiden der Sozialisten neu gebildete Regierung unter Ministerpräsident Georges Clemenceau den Krieg mit Hilfe des neuen Alli- ierten USA erfolgreich fort. Infolge dessen polarisierte sich die französische Ge- sellschaft. Geprägt von der Siegesstimmung und von Befürchtungen, es könne doch noch zu einer breiten Radikalisierung kommen, machte Clemenceau Zuge- ständnisse gegenüber der Arbeiterbewegung, etwa durch die Einführung eines Ta- rifvertragsrechts oder des Acht-Stunden-Arbeitstags Anfang 1919. Solche sozial- politischen und ökonomischen Konzessionen fielen den Herrschenden umso leichter, als sie vom Friedensvertrag reiche Entschädigung aus Deutschland er- warteten. Weitergehende ökonomische Kämpfe blieben darauf hin zersplittert und scheiterten an der politischen Unentschiedenheit der CGT und der Sozialisten. Die Tatsache, dass sich die Mitgliederzahl der CGT im Verlaufe des Jahres 1919 ver- doppelte, zeigte jedoch die kämpferische Stimmung innerhalb der Arbeiterbewe- gung an. Zugleich führten die Wahlen im November 1919 zu einem drastischen Rechtsruck, vom Parlament sagte man, es sei vom Blau der französischen Unifor- men geprägt („chambre bleu horizon“). Während sich die Linke ausdifferenzierte – eine kleine Gruppierung, die mehr anarchistisch als marxistisch war, konstituierte sich im Sommer 1919 als einflus- slose kommunistische Partei –, wurden entscheidende Arbeitskämpfe verloren. 1920 gelang es der Regierung, einen großen Eisenbahnerstreik niederzuschlagen. Im Ergebnis führte das allerdings zu einer weiteren Radikalisierung der Soziali- sten, die Ende Dezember 1920 auf ihrem Parteitag in Tours den Beitritt zur Kom- munistischen Internationale (Komintern) beschlossen, womit die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) von Beginn an als Massenpartei entstand. Dadurch ge- warnt, ergriff die Gewerkschaftsführung alle Mittel, um einem ähnlichen Schick- sal zu entgehen. Das Ergebnis war die Spaltung der CGT Ende 1921. Zur Radikalisierung der französischen Arbeiterbewegung hatte nicht zuletzt der Kampf gegen die maßgeblich von Frankreich betriebene Militärintervention ge- gen das revolutionäre Russland beigetragen. Zwar hatte ein von Sozialisten und CGT unternommener Generalstreikversuch am 21. Juni 1919 – als Teil einer ge- planten internationalen Aktion zur Hilfe der bedrohten Sowjetrepublik – in einer Niederlage geendet. Umso erfolgreicher war die Bewegung unter den französi- schen Interventionstruppen selbst, wo es im April 1919 zu einer regelrechten Meuterei in der französischen Schwarzmeerflotte kam, welche einen wichtigen Beitrag zum bolschewistischen Sieg leistete.

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Großbritannien: Shop Stewards und irischer Befreiungskrieg

Die britische Anti-Kriegslinke war wesentlich schwächer als jene in Frankreich.16 Sie sollte auch nach 1917 nur eine Minderheitsbewegung darstellen. Lange Zeit blieb auch in der Labour Party der pazifistische Flügel marginal. Allerdings sollte man nicht übersehen, dass es in Großbritannien eine wie in keiner anderen der Großmächte breite, nach Tausenden zählende Bewegung von Kriegsdienstver- weigerern gab, die oftmals religiös beeinflusst waren. Hinzu kam eine revolu- tionäre Anti-Kriegs-Bewegung, deren Kern die Shop Stewards bildeten – ge- werkschaftliche Vertrauensleute vor allem in der Metallindustrie. Sie waren die organisierende Kraft der Bewegung, ähnlich den revolutionären Obleuten in Deutschland. In ihrer Hochburg, der „Red Clydeside“ (wie man Glasgow und Umgebung bezeichnete), gelang es ihnen bereits 1915, eine soziale Protestbewe- gung um sich herum aufzubauen: das Clydeside Workers Committee. Hierbei handelte es sich um eine regelmäßige Zusammenkunft der Shop Stewards wich- tiger Betriebe – eine Art embryonale Rätestruktur. Deren Aktivisten kamen aus der Linken, aus sozialistischen und syndikalistischen Gruppierungen. Indem sie die allgemeine Notsituation zum Gegenstand von Forderungen machten, konnten sie über diesen Kreis hinaus Einfluss gewinnen. Darüber hinaus speisten sie sich aus der Bewegung von Facharbeitern in der Rüstungsindustrie, die gegen die Ab- wertung („dilution“) ihres Facharbeiterstatus aufgrund der Erfordernisse der Kriegswirtschaft protestierten – ein Umstand, den eine nicht sehr gut meinende Historiographie gerne zu einer rein berufständisch motivierten Bewegung abqua- lifiziert. Die Regierung Lloyd Georges stand diesen Entwicklungen keineswegs passiv gegenüber. Erste Repressionen setzten bereits 1916 in Glasgow ein, hatten aber zur Folge, dass sich die Shop-Steward-Bewegung auf andere Industriegebiete (vor allem im Norden Englands) ausbreitete. Hierzu trug zudem die massive Durch- setzung der „dilution“ in der gesamten Rüstungsindustrie des Landes bei. Den- noch blieb der Einfluss der Shop Stewards außerhalb der Clydeside eher be- schränkt. Die Labour Party hielt derweil weiterhin an der Kriegsunterstützung fest. Doch auch hier erschütterte der im Zuge der Februarrevolution in Russland erfolgte Friedensappell des Petrograder Sowjets die Mehrheitsverhältnisse in der Partei. Die Regierung, in der Labour vertreten war, desavouierte die den Krieg unterstüt- zende Parteiführung durch das Verbot einer Teilnahme. Ähnlich wie die französi- schen Sozialisten war die Partei so gezwungen, die Koalitionsregierung im Som- mer 1917 zu verlassen. Als eine ihrem Selbstverständnis nach nicht-marxistische

16 Zum folgenden siehe James Hinton: The First Shop Stewards’ Movement, London 1973; Walter Kendall: The Revolutionary Movement in Britain 1900-21. The Origins of British Communism, London 1971; Donny Gluckstein: The Western Soviets. Workers’ Councils versus Parliament 1915-1920, London 1985, S. 59-89; Horne, Labour at War.

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Partei bewegte sie sich nun nach links. Mit der Annahme eines neuen Programms (sowie einer neuen Parteistruktur) auf der Parteikonferenz in Nottingham im Ja- nuar 1918 gab sich Labour eine radikal-reformistische Orientierung: In der berühmten „clause four“ forderte die Partei künftig das öffentliche Eigentum an den Schlüsselindustrien – bis die Passage 1995 von Tony Blair gestrichen wurde. Im Dezember 1918 fanden die ersten (halbwegs) allgemeinen Wahlen statt, an denen sich Männer über 21 Jahren und Frauen ab 30 beteiligen durften. Die nach der Farbe der britischen Uniformen benannten „khaki elections“ zeigten jedoch, dass die politische Stimmung weiter von chauvinistischen Siegeserwartungen ge- prägt war. Zwar konnte Labour an Stimmen ordentlich zulegen, doch gegen die Kriegskoalition der Liberalen unter Lloyd George und der Konservativen kam die Partei nicht an und gewann aufgrund des Mehrheitswahlrechts nur wenige Abge- ordnetensitze hinzu. Allerdings erlebte gleichzeitig das spalterische Projekt einer eigenen patriotischen – „national-sozialen“ – Arbeiterpartei, das von Führern des rechten Flügels der Gewerkschaften verfolgt worden war, eine vollständige Nie- derlage. In der darauffolgenden Zeit wurde das Land von den ökonomischen und sozia- len Folgen des Kriegs erschüttert. Speziell ging die Furcht vor einer breiten Ar- beitslosigkeit umher, da die demobilisierten Soldaten ihre Arbeitsplätze besetzt vorfinden würden. So kam es im Januar 1919 in Glasgow unter Führung des Cly- deside Workers’ Committee zu einem Streik vor allem für Arbeitszeitverkürzun- gen und die Einführung der 40-Stunden-Woche. Dieser wurde brutal niederge- schlagen. Auch weitere ökonomische Kämpfe blieben angesichts der Siegeskonjunktur erfolglos, die erst 1921 durch eine jähe Wirtschaftskrise been- det wurde. Von da an sollte vor allem die Lage der Bergarbeiter in den Mittelpunkt der sozialen Auseinandersetzungen rücken. Die revolutionäre Linke um die Shop Stewards blieb in Verbindung mit einigen kleinen sozialistischen Gruppen im Verlaufe des Jahres 1919 marginal und wei- terhin zersplittert. Nur langsam kamen Diskussionen über die Bildung einer kom- munistischen Partei zustande. Gegründet wurde die KP dann erst Anfang August 1920. Insgesamt war es den Herrschenden gelungen, einer tendenziell kritischen Si- tuation durch eine Reihe von Zugeständnissen wie Acht-Stunden-Arbeitstag, Aus- weitung der „englischen Woche“ (d. h. der Fünfeinhalbtagewoche) und Lohner- höhungen entgegenzuwirken. Dennoch ließen die Kampagne gegen die britische Unterstützung Polens im russisch-polnischen Krieg, die im Mai 1920 zum Dock- arbeiterboykott des Waffentransporters Jolly George führte, oder die ansch- ließende „Hände weg von Sowjetrussland“-Kampagne, die Lloyd George zur Auf- gabe aller Interventionspläne zwang, erahnen, welches Potential in der britischen Arbeiterbewegung steckte. Diese konnte jedoch nicht verhindern, dass die Regierung den Unabhängig- keitskampf in ihrer ersten Kolonie, in Irland, blutig bekämpfte. Einen ersten An-

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stoß hatte diese Bewegung durch den Osteraufstand 1916 erfahren, der von repu- blikanischen und gewerkschaftlichen Gruppen in Dublin getragen worden war. Breite Teile der irischen Gesellschaft hatten ihm noch abwartend gegenüberge- standen.17 Im Dezember 1918 brachten dann die „khaki elections“ in Irland – das ja noch mit Großbritannien verbunden war – eine „grüne“ Mehrheit in Gestalt der revolutionären Nationalisten von Sinn Fein zustande. Im Januar 1919 kam es zu ersten Angriffen durch die Irische Republikanische Armee (IRA), die von Sinn Fein geschaffene Miliz, auf die koloniale Polizeimacht. Die britische Armee schlug umgehend zurück. Daraufhin tobte für zwei Jahre ein blutiger Befreiungs- kampf, der zwar mit einer zunächst stark eingeschränkten Unabhängigkeit (Frei- staat statt Republik), aber auch mit einer Teilung des Landes entlang konfessio- neller Grenzen endete. Die irische Arbeiterbewegung wurde in diesem Befreiungskampf als eigenständige Kraft weitgehend zerrieben. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte sie noch unter sozialistischer und syndikalistischer Führung in Dublin und Belfast Streiks führen können, die die konfessionellen Grenzen ge- sprengt hatten. Die nationalistische Mobilisierung und die konfessionelle Spal- tung – die größte Konzentration der irischen Arbeiterklasse war im protestanti- schen Belfast mit seinen bedeutenden Werften – hatte die irische Linke marginalisiert, auch wenn sie in Teilen der IRA weiterhin ein gewisses Echo fin- den konnte. Die Unabhängigkeit war zudem keineswegs mit einer sozialen Um- wälzung der irischen Gesellschaft verbunden. Dennoch hatte der Unabhängigkeitskampf auf die Sympathien der internatio- nalen Arbeiterbewegung setzen können. Die Bolschewiki in Russland hatten sich schon 1916 für die Osteraufständischen erklärt, doch später hatten sie nicht viele Möglichkeiten, aktive Solidarität auszuüben, – waren sie doch selbst in einen Bür- gerkrieg verwickelt. Bedeutender war die Unterstützung, die aus den USA kam – zum Teil sogar aus den Gewerkschaften: Dort wurde Geld für die Iren gesammelt und Waffenschmuggel organisiert.

Italien: Die zwei „roten Jahre“

Sieht man von dem Sonderfall Irland – einerseits Teil einer Siegermacht, anderer- seits Kolonie – ab, so gelang es den Herrschenden in Frankreich und Großbritan- nien, die Entwicklungen in ihren Ländern halbwegs unter Kontrolle zu halten.

17 Speziell zur Rolle der irischen Arbeiterbewegung im nationalen Befreiungskampf siehe die Arbeiten von Em- met O’Connor: in Ireland, 1917-1923, Cork 1988; Ders.: James Larkin, Cork 2003; Ders.: Reds and the green: Ireland, Russia and the 1919-43, Dublin 2004. 18 Siehe dazu Christian Riechers: Antonio Gramsci. Marxismus in Italien, Frankfurt a. M. 1970; Gluckstein, The Western Soviets, S. 162-211; Gwyn A. Williams: Proletarian Order: Antonio Gramsci, Factory Councils and the Origins of Italian Communism, 1911-1921, London 1975; Angelo Tasca: Glauben, gehorchen, kämpfen. Aufstieg des Faschismus, Wien u. a. 1969; Paolo Spriano: The Occupation of the Factories: Italy 1920, Lon- don 1975; Ignazio Silone: Der Fascismus, Frankfurt a. M. 1978 [Original 1934].

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Hier gab die Tatsache, den Krieg gewonnen zu haben, letztlich den Ausschlag. Doch es gab auch eine Siegermacht, die – wenn auch mit Verspätung – eine wirk- liche revolutionäre Erschütterung erlebte: Italien.18 Zu Beginn des Ersten Weltkrieges blieb der südeuropäische Staat zunächst neu- tral, schloss sich dann aber 1915 den Entente-Mächten an. Die Arbeiterbewegung hatte den Kriegseintritt überwiegend bekämpft. Dennoch existierte auch eine kriegsinterventionistische Linke. Diese Strömung war vor allem unter den Syndi- kalisten stark, zum Teil aber auch in der Sozialistischen Partei (PSI). Einige radi- kale Sozialisten wie Benito Mussolini brachen mit der Partei – wohin ihr Weg führte, ist bekannt. Insgesamt war die PSI aber pazifistisch dominiert, da sich be- reits vor 1914 ein Großteil des rechten Parteiflügels abgespalten hatte (weil die Mehrheit ihm nicht bei seiner Unterstützung für den italienischen Kolonialkrieg in Libyen folgen wollte). Entsprechend führte die Arbeiterbewegung schon seit 1915 eine breite öffentliche Anti-Kriegsagitation durch, die im Oktober 1917 nach der verheerenden Niederlage bei Caporetto (Karfreit) beinahe zu einer mit Rus- sland vergleichbaren Entwicklung geführt hätte. Die Armee zeigte Auflösungser- scheinungen und eine revolutionäre Krise schien bevorzustehen. Diese konnte je- doch abgewendet werden – unter anderem indem britische und französische Truppen zur Stabilisierung der Front entsandt wurden. Dennoch wuchs der Unmut über den Krieg. Innerhalb der PSI führte dies zu ei- nem Linksruck. Dieser fand seinen Ausdruck auf dem Parteitag im September 1918, als die Sozialisten von einer pazifistischen zu einer revolutionären (im Sprachgebrauch der Partei: „maximalistischen“) Position übergingen. Diese Ent- wicklung stand ganz unter dem Zeichen der Solidarität mit der Revolution in Rus- sland. Unmittelbar nach dem Eintreffen der Nachricht von der Gründung der Kommunistischen Internationale (März 1919) beschloss die Sozialistische Partei (und damit auch der von ihr geführte Gewerkschaftsbund) den Beitritt. Auch die in Italien nicht unwichtigen Syndikalisten erklärten, sich der Komintern ansch- ließen zu wollen. Seit Kriegsende durchzog eine immer breitere Welle von ökonomischen und sozialen Kämpfen das Land. Sie nahm ein solches Ausmaß an, dass die Jahre 1919 und 1920 als „biennio rosso“, als die zwei roten Jahre, in die Geschichte Italiens eingehen sollten. Bei den Wahlen im November 1919 errangen die Sozialisten mit einem revolutionär-marxistischen Programm 30 Prozent der Stimmen. Einige So- zialisten entfalteten nun eine Agitation für die Umwandlung der bestehenden Be- triebsräte in politische Machtorgane, in Räte nach russischem Vorbild. Doch diese Position wurde nur von einer Minderheit innerhalb der PSI vertreten, vor allem in Italiens Industriehauptstadt Turin vom dortigen Parteiorgan Ordine Nuovo („Neue Ordnung“) um Antonio Gramsci sowie von den Neapolitanern um Amadeo Bor- diga (mit der Zeitung „Il Soviet“). Die Parteiführung und die Führung der Syndi- kalisten hielten hingegen ihre Partei bzw. ihre Unionen für ausreichende revolu- tionäre Organisationen: Räte bräuchte man nicht.

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Den Höhepunkt der Arbeitskämpfe stellten die Betriebsbesetzungen im August und September 1920 in Norditalien dar. Die Sozialistische Partei und ihre Ge- werkschaft trieben diese Kämpfe jedoch nicht zur Machteroberung weiter, son- dern stimmten stattdessen einer Prüfungskommmission zu, die über die Arbeiter- Mitbestimmung in den Betrieben entscheiden sollte. Daraufhin wurden die Kämpfe abgebrochen. Die Bewegung hatte damit ihren Höhepunkt überschritten. Ihr Niedergang wurde durch die Auseinandersetzung um die Verantwortung für die Niederlage verschärft. Infolgedessen trennte sich im Januar 1921 der linke Flügel von den Sozialisten und gründete die Kommunistische Partei Italiens (KPI). Im Jahr darauf verließ auch der rechte Flügel um die Gewerkschaftsführer die Sozialisten. Die nun gespaltene Arbeiterbewegung war mit einem neuen Gegner konfron- tiert, der sich seit dem Frühjahr 1919 formiert und langsam vorgekämpft hatte. Das bürgerliche Italien hatte sich durch die Pariser Friedensverträge trotz territo- rialer Zugewinne nicht ausreichend berücksichtigt gefühlt. Der Eindruck, um die „Früchte des Sieges“ betrogen worden zu sein, verbreitete sich unter vielen Kriegsveteranen und wurde zum Ausgangspunkt für eine neue Partei, die sich mit Mussolini an der Spitze aus zumeist ehemaligen kriegsinterventionistischen Lin- ken formierte: die Faschisten. Damit Italien eine wirkliche Führungsstellung er- reichen könne, erklärten sie, müsse es zunächst den Feind im Inneren, die Arbei- terbewegung, besiegen. Diese Position machte sie schnell zu einer von Bürgertum und Staat mehr oder weniger offen protegierten Hilfstruppe. Auf die zwei roten Jahre folgten nun die zwei schwarzen. In einem blutigen Bürgerkrieg wurde die ge- spaltene Arbeiterbewegung zerschlagen und schließlich im Oktober 1922 eine Dik- tatur um Mussolinis Faschisten errichtet. In nur zwei Jahren hatte sich die politische Lage grundlegend gewandelt: vom Vorabend einer sozialistischen Revolution zu ei- ner zerstörten Arbeiterbewegung. Das war der Preis, den diese dafür zu bezahlen hatte, im günstigen Augenblick nicht entschieden vorwärts geschritten zu sein.

Schweiz und Niederlande: Massenbewegung in kriegsneutralen Staaten

Auch an den im Krieg neutralen Ländern war die globale Bewegung nicht vorü- bergegangen. Dies gilt etwa für die Niederlande, über die Horst Lademacher, Chronist der Landesgeschichte, schreibt: „Innenpolitisch förderte der Krieg der Großmächte auch in diesem neutralen Land die Radikalisierung der Arbeiterbe- wegung.“19 Die Sozialdemokratie bewegte sich nach links und propagierte zeit- weise revolutionäre Forderungen. Selbst in der vermeintlich stockkonservativen Schweiz kam es zu einem Auf- schwung der Massenbewegung. Das Land erlebte, eingepfercht zwischen den

19 Horst Lademacher: Geschichte der Niederlande. Politik, Verfassung, Wirtschaft, Darmstadt 1983, S. 316.

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kriegführenden Staaten, eine schwere soziale Misere. Darauf reagierten Sozialde- mokraten (SP) und Gewerkschaften mit einem landesweiten Generalstreik vom 11. bis 14. November 1918. Sie kämpften für die Verwirklichung eines Pro- gramms umfassender Sozialreformen und einer weiteren Demokratisierung der Gesellschaft, also keineswegs für ein revolutionäres Programm nach bolsche- wistischem Vorbild.20 Angesichts der Mobilisierung des Staates, der Militär ein- setzte, und der Unentschlossenheit der sozialistischen und gewerkschaftlichen Führungen wurde der Streik abgebrochen. Daraufhin zerbrach die Linke. Der re- volutionäre Flügel der SP spaltete sich von der Partei ab und bildete eine zunächst stark zerstrittene Kommunistische Partei, die nur über sehr begrenzten Einfluss verfügte. Als weitere Folge des Streiks, der trotz der gegenteiligen Propaganda des Staates niemals den Charakter eines Aufstandes hatte, brach die Schweiz die quasi-diplomatischen Beziehungen zu Sowjetrussland ab. Einer der ganz wenigen diplomatischen Kanäle der jungen Sowjetrepublik in Richtung Westen in der da- maligen Zeit ging damit verloren.

Spanien: Die drei „bolschewistischen Jahre“

Das am tiefsten von der revolutionären Erschütterung erfasste neutrale Land war Spanien.21 Der Staat befand sich seit der Niederlage im Krieg gegen die USA im Jahre 1898 mit dem Verlust der letzten bedeutenden Kolonien Kuba, Puerto Rico und Philippinen in einer strukturellen Krise. Durch die Neutralität im Weltkrieg konnte das spanische Bürgertum fabelhafte Geschäfte mit beiden Seiten machen. Doch die exorbitanten Gewinne flossen weder in Lohnerhöhungen noch in Neuin- vestitionen. Zugleich führte der Export vieler Agrarprodukte und Industriegüter zu einer hohen Inflation. Dies rief den Unmut breiter Schichten der Arbeitnehmer- schaft auf den Plan. Die Unzufriedenheit ergriff sogar das Militär. Im Jahre 1917 kamen deren Protest, die Forderungen der Arbeiter sowie das Verlangen des ka- talanischen Bürgertums nach einer umfassenden Staatsreform und Autonomie für diesen wirtschaftlich wichtigsten Teil des Landes zusammen. Doch sowohl der Versuch oppositioneller Abgeordneter im Mai 1917, die Wahl einer Nationalver- sammlung zu erzwingen, als auch jener der Gewerkschaften im August 1917, mit Hilfe eines Generalstreiks ökonomische Forderungen durchzusetzen, scheiterten. Dennoch schien es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis die spanischen Ar-

20 Siehe Willi Gautschi: Der Landesstreik 1918, Zürich 1988. 21 Siehe dazu Walther L. Bernecker: Arbeiterbewegung und Sozialkonflikte im Spanien des 19. und 20. Jahr- hunderts, Frankfurt a. M. 1993, S. 60-68; Gerald Meaker: The Revolutionary Left in Spain 1914-23, Stanford 1974; Angel Smith: Anarchism, Revolution and Reaction. Catalan Labour and the Crisis of the Spanish State, New York/Oxford 2007, S. 225-359; Francisco J. Romero Salvadó: The Foundations of Civil War. Revolu- tion, Social Conflict and Reaction in Liberal Spain, 1916-1923. Einen literarischen Blick auf die Kämpfe in Barcelona hat Victor Serge in seinem autobiographisch gefärbten Roman „Geburt unserer Macht“, München 1976, geworfen.

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beiter das russische Beispiel nachahmen würden. Insbesondere die starke anarchi- stische und anarchosyndikalistische Bewegung erklärte den Sowjetstaat zum Vor- bild. Das agrarisch geprägte Andalusien mit seinen großen Latifundien, vor allem aber Katalonien mit seiner Industriearbeiterschaft wurden jetzt zu Zentren der so- zialen Agitation. Die folgende Zeit ging als „trienio bolchevique“ – die drei bol- schewistischen Jahre – in die spanische Geschichte ein. Der anarchosyndikalisti- sche Gewerkschaftsbund CNT (Confederación Nacional del Trabajo – Nationaler Arbeitsbund), weitaus stärker als die Sozialisten, wuchs rapide an. Verfügte er 1916/17 nur über 70.000 Mitglieder, so verzehnfachte sich deren Zahl bis Ende 1919. Ungefähr die Hälfte der Neumitglieder stammte aus Katalonien – und dort vor allem aus der Metropole Barcelona. Das Geheimnis dieses Aufschwungs lag in der Bildung der „sindicatos únicos“, eine Art Industriegewerkschaft auf der Ebene von Einzelbetrieben, in der jeweils die verschiedenen Berufsorganisationen aufgingen. Diese Tatsache konnten die Anarchisten als Hebel für die Streikkämpfe einsetzen, um ganze Betriebe oder gar Branchen lahmzulegen. Im Frühjahr 1919 waren es vor allem die Elektrizitätswerke Kataloniens, die im Zentrum eines großen und monatelangen Streiks standen. Zahlreiche kleinere Arbeitskämpfe folgten. Das hierdurch aufgeschreckte Bürgertum, das noch kurz zuvor hartnäckig ge- gen die Regierung in Madrid für die Herstellung der katalanischen Autonomie an- gekämpft hatte, vollzog nun eine politische Kehrtwende. Im engen Bündnis mit dem Militär wurde ein veritabler Bürgerkrieg entfesselt. Ab Frühjahr 1920 herr- schte der weiße Terror in Barcelona. Gedungene Pistoleros, wenn nicht gleich die Polizei, jagten die wichtigsten Aktivisten der CNT und brachten sie kurzerhand um – sie wurden, wie es hieß, „auf der Flucht erschossen“. Reaktionäre katholi- sche Arbeitervereine wurden in „freie Gewerkschaften“ umgewandelt, die ver- meintlich „günstigere“ Verträge mit den Arbeitgebern abschlossen. Zwar brachten die folgenden drei Jahre zeitweilige Zugeständnisse und gele- gentliche Rücknahmen der Terrormaßnahmen im Gefolge von Regierungswech- seln in Madrid und Manövern liberaler Regierungen. Doch faktisch befand sich nun die CNT, die sich noch im Dezember 1919 auf ihrem Kongress kurz vor der Revolution gesehen hatte, auf dem Rückzug. In dieser Situation behaupteten sich die Anarchisten gegen die Anhänger des Anschlusses an die Kommunistische In- ternationale, die auf dem Kongress noch die Mehrheit gehabt hatten. Auch die eher in Madrid und vor allem im Norden über Einfluss verfügenden Sozialisten nahmen nun davon Abstand, das bolschewistische Beispiel nachzuahmen. Die sich von Anarchisten und Sozialisten abspaltenden kommunistischen Strömungen sollten marginal bleiben.

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Streikwelle in den außereuropäischen Industriestaaten

Auch Staaten außerhalb Europas wurden von der Bewegung erfasst – auf allen Kontinenten. In Nordamerika stellten die USA das Zentrum der Proteste dar. Der Kriegseintritt 1917 befeuerte den hier schon existenten Unmut in der Arbeiter- schaft, wie Philip Yale Nicholson schreibt: „Die Streikwelle ebbte nicht ab, son- dern erreichte während der ersten sechs Kriegsmonate sogar eine neue Rekord- höhe: Zwischen dem 6. April und dem 5. Oktober [1917] gingen durch Streikaktionen über sechs Millionen Arbeitstage verloren. Deutschland und seine Verbündeten – das war nur der eine Feind. Der andere schien die einheimische Ar- beiterklasse zu sein.“22 Als sich nach dem Krieg die soziale Lage der Arbeiter- schaft – zu der im zunehmenden Maße auch Frauen und Afroamerikaner gehörten – durch eine Inflation massiv verschlechterte, streikten 1919/20 erneut tausende Arbeitnehmer in nahezu jedem Industriesektor. Allein in den Kohlegruben waren 800.000 Arbeiter im Ausstand, in der Stahlindustrie über 300.000, die – allerdings erfolglos – für die gewerkschaftliche Organisierung dieses Industriezweigs kämpften.23 Von besonderer Bedeutung waren die Generalstreiks in Seattle im Fe- bruar und, nördlich der Grenze, im kanadischen Winnipeg im Mai/Juni 1919. Sie entzündeten sich – nach dem Lohnstopp während des Weltkriegs – an Lohnforde- rungen, doch warfen sie schnell auch weitergehende Forderungen auf. Durch ihre branchenübergreifende Organisationsformen drückten sie eine tiefgehende Radi- kalisierung aus, die von syndikalistischen Organisationen wie die Industrial Wor- kers of the World („Wobblies“) beeinflusst war und wogegen die jeweiligen Staatsorgane massiv vorgingen. Trotz dieser staatlichen Repressionen erhielten die Organisationen der Arbeiterbewegung zu dieser Zeit großen Zulauf. Auf der anderen Seite des Pazifik gingen die Menschen ebenfalls für bessere Lebensbedingungen auf die Straße. In Japan führte die im Krieg verschlechterte Versorgungslage zu einer „Streikbewegung in einem bislang nicht gekannten Aus- maß“.24 Diese setzte sich auch in den ersten Nachkriegsjahren fort. So legten im September 1919 etwa 16.000 Werftarbeiter in Kobe die Arbeit nieder und er- kämpften – erstmals in der japanischen Geschichte – den Acht-Stunden-Arbeits- tag. Schon ein Jahr zuvor – im Sommer 1918 – erfassten schwere Reis-Unruhen den Inselstaat. Sie begannen in dem kleinen Fischerdorf Uozo, wo Ende Juli die einheimischen Frauen den Abtransport von Reis verhinderten, der durch die Regie- rung beschlagnahmt worden war. Innerhalb weniger Wochen breiteten sich die Un- ruhen wie ein Lauffeuer über das ganze Land aus: „Allerorts wurden Reisläden und Speicher gestürmt, Großhandelskontore, Behörden, Niederlassungen der Wucherer und Polizeistationen angegriffen. Es kam zu regelrechten Straßenschlachten.“25 Die

22 Nicholson, Arbeiterbewegung, S. 206. 23 Nicholson, Arbeiterbewegung, S. 213. Siehe auch: Jeremy Brecher: Streiks und Arbeiterrevolten. Amerikani- sche Arbeiterbewegung 1877 bis 1970, Frankfurt a. M. 1975, S. 95-129; Zinn, Geschichte, Bd. 6, S. 105-113. 24 Rudolf Hartmann: Geschichte des modernen Japan. Von Meiji bis Heisei, Berlin 1996, S. 132.

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Unruhen dauerten 50 Tage und erfassten 436 Städte in nahezu allen Präfekturen. Die Angaben über die Zahl der Beteiligten schwanken. Die optimistischsten Schätzun- gen gehen von einem Viertel der japanischen Gesamtbevölkerung aus.26 In der Südafrikanischen Union, zu dieser Zeit einer der wenigen unabhängi- gen Staaten auf dem afrikanischen Kontinent27, setzte die Bewegung etwas später ein. Aber auch sie stand im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg. Ein wich- tiger Wirtschaftszweig der Union war der Goldbergbau. Die durch den Krieg be- dingte Inflation ließ den Goldpreis – mit einer kleinen Unterbrechung 1920/21 – stark sinken. Die Unternehmer begegneten dem mit Arbeitsplatzabbau. Das Re- sultat war eine von Januar bis März 1922 andauernde Streikbewegung der (Gold-)Bergarbeiter im Minengebiet am Witwatersrand bei Johannesburg (nach der Region „Rand Revolt“ genannt), die schnell bürgerkriegsähnliche Züge annahm. Die Regierung setzte 20.000 Soldaten mit Panzern, Artillerie und Flugzeugen gegen die Arbeiter ein. 219 Tote und 591 Verwundete waren die Folge. 7.600 Arbeiter wur- den entlassen, 46 wegen Mordes und Hochverrates angeklagt. Die Gewerkschafts- bewegung wurde durch die staatlichen Repressionen nahezu zerschlagen. Ge- schwächt hatte sie sich jedoch schon zuvor selber, indem sie die von Regierung und Unternehmern vorangetriebene Spaltung zwischen weißen und schwarzen Arbeitern unterstützte. An dem Bergarbeiterstreik beteiligten sich fast ausnahmslos weiße Ge- werkschaftsmitglieder (von deren Streikführern hatten nicht wenige eine lange Tra- dition in der englischen sozialistischen Bewegung). Zwei Jahre zuvor hatten bereits 71.000 schwarze Arbeiter gestreikt – ohne Beteiligung ihrer weißen Kollegen. Auch diese Bewegung wurde von der Polizei niedergeschlagen.28 Der fünfte Kontinent wurde nach dem Krieg ebenfalls zum Schauplatz der weltweiten Bewegung: Australien erlebte die größte Streikwelle seiner bisherigen Geschichte. 1919 verlor die Industrie des Landes 6,3 Millionen Arbeitstage durch Streiks und Aussperrungen.29 In der Bergbausiedlung Broken Hill in New South Wales befanden sich die Arbeiter 18 Monate – von Mai 1919 bis November 1920 – im Ausstand. Von April bis Juni 1919 führten zudem die Seeleute einen Streik durch, und es gelang ihnen, die meisten ihrer Forderungen nach verbesserten Ar- beitsbedingungen durchzusetzen.

25 Ebenda, S. 126. 26 Siehe ebenda, S. 126. 27 Die Südafrikanische Union wurde 1910 als sich selbst regierender Dominion des britischen Empires durch den Zusammenschluss der britischen Kapkolonie und der Kolonie Natal mit der Südafrikanischen Republik (Transvaal) und dem Oranje-Freistaat gegründet. 28 Siehe Jörg Fisch: Geschichte Südafrikas, München 1990, S. 248-251. Für eine ausführliche Geschichte vgl. Jeremy Krikler: White Rising. The 1922 insurrection and racial killing in South Africa, Manchester 2005. We- gen des sozialen und politischen Kontextes, der einerseits mit der Herausbildung der Kommunistischen Par- tei, andererseits mit der des Afrikaner-Nationalismus verbunden ist, ist die Bewertung dieses äußerst militant geführten Streiks Gegenstand heftiger Diskussionen. Siehe z. B. die entsprechenden Beiträge in der zwischen 1988 und 1995 im Exil erschienen Zeitschrift South African Searchlight. 29 Siehe Stuart MacIntyre: The Oxford History of Australia, Vol. 4: 1901-1942. The Succeeding Age, Melbourne 1986, S. 183. Vgl. auch Chris Harman: A People’s History of the World, London/Chicago/Sydney 1999, S. 437.

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Lateinamerika zwischen Revolte und Repression

Sehr deutlich artikulierte sich die Protestbewegung in Südamerika – und das, ob- wohl lediglich Brasilien aktiv am Krieg beteiligt war.30 In Peru etwa kam es zwi- schen 1910 und 1920 wiederholt zu Ausständen. 1919 führte die Arbeiterschaft in Lima und anderen Küstenstädten einen erfolgreichen Generalstreik durch: Sie setzte den Acht-Stunden-Arbeitstag und weitere Verbesserungen durch. Im gleichen Jahr gab es Streiks und Demonstrationen gegen steigende Lebenshaltungskosten. Diese endeten jedoch in Zusammenstößen mit der Armee und etwa 400 Toten.31 In Bolivien kam es während des Krieges zu schweren politischen Auseinan- dersetzungen. Vor allem unter den Bergarbeiten und städtischen Lohnabhängigen wuchs die Unruhe. Erstere streikten bereits seit 1917. Einen Höhepunkt der Pro- teste markierte dann ein Generalstreik der Eisenbahner und Telegraphenange- stellten Anfang 1920. Die wachsende Bewegung und das zunehmend repressive Vorgehen der Regierung führten schließlich im Juli 1920 zu einem unblutigen Umsturz, in Zuge dessen die Republikanische Partei die regierenden Liberalen ab- löste – und die ersten Sozialgesetze verabschiedete.32 Der Machtwechsel markierte zudem den „Beginn ununterbrochener und zunehmend heftiger werdender Aus- einandersetzungen“.33 So folgte beispielsweise ein Jahr später ein Aufstand der Bauern von Jesús de Machaca gegen die Usurpation ihrer Ländereien durch Groß- grundbesitzer.34 Im südlichen Nachbarland Argentinien brachten während des Krieges stei- gende Inflation und damit einhergehende erhebliche Verteuerung der Lebenshal- tungskosten bei stagnierenden Reallöhnen die unteren sozialen Schichten enorm in Bedrängnis. Die Arbeiterbewegung des Landes, die zu den ältesten des Konti- nents gehörte, reagierte ab 1917 mit einer zunehmenden Zahl von Aufständen – vor allem im Transportsektor und der Kühlfleischindustrie. Peter Waldmann meint: „Die Jahre von 1917 bis 1920 zählen […] zu den in sozialer Hinsicht tur- bulentesten in der jüngeren Geschichte der Republik. Streiks und soziale Unruhen waren an der Tagesordnung, die gewerkschaftliche Mobilisierung erreichte Re- kordmarken.“35 Im Januar 1919 spitzten sich in Buenos Aires die Auseinanderset- zungen während der so genannten „semana trágica“ („tragische Woche“) zu. Das Militär schlug einen Generalstreik nieder. Zahlreiche Tote und Verletzte waren die Folge.36 Ein Landarbeiteraufstand in Patagonien 1921/22 wurde ebenfalls blutig von der Armee beendet.37

30 Involviert waren zudem noch die beiden Kolonien Britisch-Guyana und Französisch-Guyana. 31 Siehe Lewis Taylor: Peru, in: Walther L. Bernecker (Hrsg.): Handbuch zur Geschichte Lateinamerikas, Bd. 3: Lateinamerika im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1996, S. 761-820, hier S. 767. 32 Siehe Léon E. Bieber: Bolivien, in: Bernecker, Handbuch Lateinamerika, S. 821-846, hier S. 828. 33 Ebenda, S. 829. 34 Siehe ebenda, S. 831. 35 Pater Waldmann: Argentinien, in: Bernecker, Handbuch Lateinamerika, S. 889-972, hier S. 901. 36 Siehe ebenda, S. 902.

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In Brasilien erlangte die Arbeiterbewegung „wie anderswo […] in den Jahren 1917 bis 1920 eine nationale Bedeutung“.38 Im Juli 1917 beteiligten sich 45.000 Arbeiter an einem Generalstreik in São Paulo. Dieser löste ähnliche Aktionen in Rio de Janeiro und in anderen Orten aus.39 In den nächsten zwei Jahren folgten weitere Arbeitskämpfe. Ähnlich wie in den anderen Ländern Lateinamerikas rea- gierte der Staat mit Unterdrückung und Deportationen. Auch Chile erlebte in den frühen 1920er Jahren eine Streikbewegung.40 Und Uruguay, das über hohe Exportüberschüsse verfügte, führte bereits 1915 nach ei- ner langen Auseinandersetzung unter dem Druck einer starken sozialistischen und syndikalistischen Arbeiterbewegung – als eines der ersten Länder der Welt – den Acht-Stunden-Arbeitstag für städtische Arbeiter ein.41 In den Jahren danach folg- ten weitere Verbesserungen beim Arbeitsschutz, den Bedingungen für Frauenar- beit und der Unfallversicherung. 1919 wurde eine einheitliche aus Steuern finan- zierte Altersrente eingeführt, 1923 schließlich ein Mindestlohn für Landarbeiter.

Die antikolonialen Kämpfe

Auch an den Kolonien ging die globale Bewegung nicht vorbei. Bei den bislang dargestellten Protesten standen die Forderungen nach Beendigung des Krieges und nach der Verbesserung der sozialen Lage breiter Schichten der Bevölkerung im Zentrum. In den Kolonien war es zumeist der Wunsch nach nationaler Selbst- bestimmung. Verhältnismäßig ruhig blieb es in den von Frankreich beanspruchten Gebieten. Zwar löste die Rekrutierung in Französisch-Afrika während des Krieges Unruhen und eine Massenflucht der einheimischen Bevölkerung in die angrenzenden briti- schen Territorien aus.42 Doch erfolgten Aufstände in Tunesien (1915/16) und im Aurès-Gebirge (1916) lediglich „in von der Kolonialmacht wenig erfassten Rand- gebieten“43. Größere Probleme hatten die Niederlande mit ihren Besitztümern in Südosta- sien. 1919/20 kam es zu großen Streiks auf den Zuckerplantagen Indonesiens. In den Jahren zuvor war die 1912 gegründete Befreiungsorganisation Sarekat Islam (Islamische Vereinigung) zur Massenbewegung geworden. Bereits 1914 hatte sie

37 Siehe ebenda, S. 904. Der argentinische Historiker Osvaldo Bayer hat der Geschichte des „tragischen Pata- goniens“ ein mehrbändiges, – u. a. im Exil in Deutschland während der argentinischen Militärdiktatur ent- standenes – leider nur auf Spanisch erschienenes Werk gewidmet. Er hat zahlreiche weitere Arbeiten zum An- archismus und Syndikalismus in diesem Land verfasst, die die Hauptkraft des sozialen Protestes bis zum Aufkommen der Kommunistischen Partei Anfang der zwanziger Jahre darstellten. 38 Paul Cammack: Brasilien, in: Bernecker, Handbuch Lateinamerika, S. 1049-1168, hier S. 1070. 39 Siehe ebenda, S. 1070. 40 Siehe Alan Angell: Chile seit 1920, in: Bernecker, Handbuch Lateinamerika, S. 847-888, hier S. 850. 41 Siehe Hans-Jürgen Puhle: Uruguay, in: Bernecker, Handbuch Lateinamerika, S. 973-1016, hier S. 985. 42 Siehe Rudolf von Albertini: Europäische Kolonialherrschaft 1880-1940, Zürich 1976, S. 291. 43 Ebenda, S. 232.

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knapp 370.000 Mitglieder. Auch die seit 1908 gegründeten Gewerkschaften er- hielten enormen Zulauf.44 Wirklich erschüttert wurde in der Zeit des Ersten Weltkrieges aber vor allem das britische Kolonialreich. In zahlreichen Ländern rebellierten die Menschen ge- gen das Empire – so im heutigen Irak. Das Zentrum dieser Revolte befand sich in den südlichen und zentralen Gebieten des Landes. Der Aufstand, der später als Re- volution von 1920 bezeichnet werden sollte, dauerte nahezu ein halbes Jahr und kostete mehr als 2000 britische Soldaten das Leben.45 In der benachbarten nordiranischen Provinz Gilan gelang es im Frühsommer 1920 der Partisanenbewegung der angali mit Hilfe der Roten Armee, die Truppen des Empire für einige Monate aus der Region zu vertreiben. Anfang Juni erober- ten sie die Hauptstadt und riefen eine Räterepublik aus – die Persische Sozialisti- sche Sowjetrepublik.46 Im britischen Protektorat Ägypten hatte sich eine Unabhängigkeitsbewegung entwickelt, an deren Spitze die Wafd-Partei stand. Als ihr Führer Saad Zaghlul 1919 festgenommen und nach Malta deportiert wurde, brachen Unruhen aus, die sich von den Städten über nahezu das ganze Land ausbreiteten. Es kam zu massi- ven Demonstrationen, Streiks und Sabotageakten gegen die Kolonialmacht. Briti- sche Produkte wurden boykottiert, Soldaten überfallen und auf Vertreter des Em- pire Attentate ausgeübt. Die Proteste führten schließlich zur Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1922.47 Auch in Indien wehrte sich in der Nachkriegszeit die Bevölkerung gegen die Unterdrückung durch das britische Empire. In Bombay beteiligten sich 125.000 Textilarbeiter und -arbeiterinnen an einem Streik. Hier sowie in Madras und Ben- gal fanden Hungerunruhen statt, in Kalkutta gewaltsame Proteste von Schuldnern gegen Kreditgeber. In vielen weiteren Städten gab es zwischen 1918 und 1920 De- monstrationen und Streiks.48 Weltweiten Protest erregte im April 1919 das Massa- ker von Amritsar im Punjab. Während eines Generalstreiks in der Stadt ließ der britische Militärkommandeur auf eine friedliche Kundgebung schießen. Hunderte Tote waren die Folge. Dieses Massaker wurde zum Fanal für die indische Unab- hängigkeitsbewegung. 1920 rief Mahatma Gandhi die „Kampagne der Nichtko- operation“ aus – eine Bewegung zivilen Ungehorsams, an der sich Millionen In- der beteiligten. Sie boykottierten britische Waren, Schulen, Universitäten, Gerichte und die 1920 abgehaltenen Wahlen.49 Der indischstämmige britische Kommunist Rajani Palme Dutt berichtete wenige Jahre später: „Die revolutionäre

44 Siehe ebenda, S. 154. 45 Siehe Peter Sluglett/Marion Faouk-Sluglett: Der Irak seit 1958. Von der Revolution zur Diktatur, Frankfurt a. M. 1991, S. 20; Tariq Ali: Bush in Babylon. Die Re-Kolonisierung des Irak, München 2005, S. 56. 46 Siehe Hans Georg Ebert u.a.: Die islamische Republik Iran, Köln 1987, S. 11-22. 47 Siehe Albertini, Kolonialherrschaft, S. 205. 48 Siehe Harman, People’s History, S. 454. 49 Siehe Hermann Kulke und Dietmar Rothermund: Geschichte Indiens. Von der Induskultur bis heute, München 1998, S. 359-361.

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Unruhe war allgemein; gewaltige Demonstrationen, Streiks, Hartals und Kämpfe mit Millionen Beteiligten erschütterten das Land, und in den Jahren 1919-1922 war das [britische] Imperium in Indien ernsthaft bedroht.“50 Allerdings sollte der Unabhängigkeitskampf niemals eine solche Dynamik annehmen, dass er auch die gesellschaftlichen Verhältnisse, etwa durch eine Agrarrevolution, in Frage gestellt hätte. Er blieb im Wesentlichen unter Kontrolle der bürgerlich-nationalistischen Kongress-Partei (bzw. in den entsprechenden Gebieten unter der der Muslim- Liga). Unter dem Einfluss der Oktoberrevolution 1917 in Russland wurde auch hier eine Kommunistische Partei gegründet; sie sollte aber über eine beschränkte Massenunterstützung nicht hinauskommen.51 Auch im benachbarten Afghanistan herrschte seit Jahrzehnten eine stark aus- geprägte anti-britische Stimmung. Lange Zeit kollidierten im Land am Hindu- kusch, das seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine Kolonie des Empire war, britische und russische Interessen. Im Zuge der Oktoberrevolution 1917 verzichtete die So- wjetmacht jedoch auf jegliche Ansprüche. Daraufhin erklärte Amanullah Khan, Sohn und Nachfolger des im Februar 1919 ermordeten Emirs Habibullah Khan, die Unabhänigigkeit von Großbritannien. Die Briten versuchten, dies durch den dritten Anglo-Afghanischen Krieg seit 1839 zu verhindern. Geschwächt durch den Ersten Weltkrieg und die Massenbewegung in Indien nach dem Massaker von Amritsar, brach die britische Armee nach nur wenigen Wochen die Kampfhand- lungen ab. Im August 1919 erkannte das Empire Afghanistan als souveränen und unabhängigen Staat an. Von sozialistischen Ideen beeinflusst, erließ Amanullah in den kommenden Jahren einige weitgehende Reformen – vor allem im Bildungs- sektor. Es wurde versucht, ein öffentliches und für alle Afghanen, auch Frauen, verpflichtendes Schulwesen aufzubauen. Zudem reformierte er 1921 die Famili- engesetzgebung. Inzucht und die Verheiratung von Kindern wurden verboten, die Rechte von Ehefrauen verbessert. Auch wenn viele Maßnahmen auf dem Papier blieben und vor allem auf dem Land von reaktionären Mullahs verhindert wurden, war dies der erste Versuch des Aufbruchs Afghanistans in die moderne Welt. Er wurde zwar im Wesentlichen „von oben“ durchgeführt, dennoch machten sich hier die Auswirkungen der Oktoberrevolution auf das sowjetische Zentralasien durch- aus bemerkbar. Dagegen kam es im bevölkerungsreichsten Land der Erde, in China, zu einem wirklichen gesellschaftlichen Aufbruch „von unten“.52 Das Reich der Mitte hatte zwar nie seine formale Selbständigkeit verloren, doch hatten sich die Imperial-

50 R. Palme Dutt: Das moderne Indien, Hamburg 1928, S. 62. 51 Siehe hierzu Sobhanlal Datta Gupta: Comintern and the Destiny of Communism in India: 1919-1943, Kalkutta 2006. 52 Von der zahllosen Literatur zu China sei hier nur erwähnt: Manabendra Nath Roy: Revolution und Konterre- volution in China, Berlin 1930; Deng Zhongxia: Anfänge der chinesischen Arbeiterbewegung 1919-1926, hrsg. von Werner Meißner und. Günther Schulz, Reinbek 1975; James P. Harrison: Der lange Weg zur Macht. Die Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas von ihrer Gründung bis zum Tode von Mao Tse-tung, Zürich 1978, S. 16-75; Richard Lorenz (Hrsg.): Umwälzung einer Gesellschaft. Zur Sozialgeschichte der chi- nesischen Revolution (1911-1949), Frankfurt a. M. 1977.

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mächte weitgehende ökonomische Zugeständnisse und territoriale Sonderrechte erzwungen. Die Chinesen hofften, dass mit der Niederlage eines dieser Staaten – nämlich Deutschlands – im Weltkrieg dessen quasi-kolonialen Ansprüche im Nor- den des Landes wegfallen würden. Diese Erwartungen wurden durch die Sieger- mächte enttäuscht, die Deutschlands Rechte einfach an Japan übertrugen. Am 4. Mai 1919 begann, ausgehend von Demonstrationen der Pekinger Studenten, eine breite antiimperialistische Kampagne, die zunächst auf Intellektuelle be- schränkt war und lediglich eine geistige Wiedergeburt des Landes propagierte. Doch sie setzte schnell politische und soziale Kräfte frei, die weit darüber hinaus- gingen und sich zunehmend an der jungen Sowjetrepublik orientierten – diese hatte als einzige Macht auf ihre Sonderrechte in China verzichtet. Zahlreiche Stu- denten lernten Fremdsprachen und gingen dann ins Ausland, viele nach Russland. Marxistische Klassiker wurden zum ersten Mal ins Chinesische übersetzt. Die Be- wegung drang tief in die Gesellschaft ein. Gewerkschaften wurden gegründet, vor allem in dem ökonomisch weiter entwickelten Süden des Landes (um Kanton) und in der Metropole Shanghai. Dort wurde im Juli 1921 die Kommunistische Partei aus der Taufe gehoben. An der Gründung waren wichtige Wortführer der „4.-Mai- Bewegung“ beteiligt. Die bürgerlich-nationalistischen Kräfte der Guomindang unter Sun Yatsen formierten sich ebenfalls neu. Nur wenige Jahre darauf begann die zweite chinesische Revolution von 1925 bis 1927, deren Schlagkraft maßgeb- lich auf der jungen Arbeiterbewegung beruhte.

Das Vorbild: die Revolution in Russland

Es war keineswegs Zufall, dass alle Kontinente gerade in den Jahren 1917 bis 1920 einen derartigen Aufschwung sozialer Bewegungen erlebt haben. Zumeist war der Erste Weltkrieg – direkt oder indirekt – Auslöser der Proteste. Die Völker verlangten das Ende der Kampfhandlungen oder demonstrierten gegen kriegsbe- dingte Arbeitslosigkeit, Lohnkürzungen und Versorgungsengpässe. Die globale Klammer für diese Bewegung bildete die Revolution in Russland. Weltweit schauten die Menschen auf den neuen Sowjetstaat. Die dortigen Ereig- nisse stellten für sie eine enorme Inspiration dar. So benannten Arbeiter während eines wochenlangen Streiks in Valencia Straßen nach „Lenin“, den „Sowjets“ und der „Oktoberrevolution“.53 Jean Carrière und Stefan Karlen betonen, der Auf- schwung der zentralamerikanischen Arbeiterbewegung in den 1920er Jahren sei „unter dem Einfluss äußerer Faktoren wie der Mexikanischen Revolution und der russischen Oktoberrevolution“54 erfolgt. Alan Angell erklärt, die „verschärften Klassenkonflikte“ im Chile jener Zeit seien eine „Auswirkung[...] der bolsche- wistischen Revolution in Russland auf eine damals schon organisierte Arbeiterbe-

53 Siehe Harman: People’s History, S. 436. 54 Hartmann, Geschichte, S. 133.

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wegung“.55 Zu Japan erklärt Rudolf Hartmann: „Einen nicht geringen Anteil am Aufschwung der Streik- und Gewerkschaftsbewegung hatten sozialistisch orien- tierte Gruppen, die sich unter dem direkten Einfluß der russischen Oktoberrevo- lution formierten.“56 Zusammenfassend schreibt Eric Hobsbawm über den Einfluss der Sowjets auf die globale Bewegung: „‚Völker hört die Signale’, so beginnt der Refrain der In- ternationale in Deutsch. Und diese Signale kamen laut und klar aus Petrograd und aus Moskau […]. Sie wurden überall dort gehört, wo Arbeiterorganisationen und sozialistische Bewegungen, gleich welcher Ideologie, operierten. Die Tabakarbei- ter Kubas, von denen nur wenige überhaupt wussten, wo Russland lag, gründeten ‚Räte’; in Spanien werden die Jahre 1917-19 noch heute das ‚Bolschewistische Duo’ genannt, obwohl die regionale Linke dort leidenschaftlich anarchistisch war, politisch also dem entgegengesetzten Lager von Lenin angehörte; revolutionäre Studentenbewegungen entstanden 1919 in Peking (Beijing) und 1918 in Córdoba (Argentinien), von wo aus sie sich bald über Lateinamerika ausbreiten und re- gionale Revolutionsführer und Parteien hervorbringen sollten. […] Die Okto- berrevolution prägte […] auch die größte Massenorganisation Indonesiens, die Nationale Befreiungsbewegung ‚Sarekat Islam’. ‚Diese Aktion des russischen Volkes’, schrieb eine türkische Provinzzeitung, ‚wird eines schönen Tages zur Sonne werden und die ganze Menschheit erleuchten.’ Im fernen Innern von Aus- tralien feierten hartgesottene (und hauptsächlich irisch-katholische) Schafscherer, die ansonsten kein erkennbares Interesse an politischer Theorie zeigten, den Ar- beiterstaat der Sowjets. […] Kurz gesagt, die Oktoberrevolution wurde überall als welterschütterndes Ereignis empfunden.“57 Diese Beschreibung illustriert sehr deutlich die Vorbildfunktion, die die Erhe- bung in Russland auf Arbeiter, Soldaten und Bauern in verschiedenen Ländern hatte. Sie und nicht – wie gelegentlich behauptet – die deutsche Revolution von 1918/19 inspirierte Millionen Menschen weltweit.

55 Angell: Chile, S. 850. 56 Hartmann, Geschichte, S. 133. 57 Hobsbawm, Zeitalter, S. 90f.

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HARTMUT HENICKE, MARIO HESSELBARTH Chance der Revolution: Soziale Demokratie war möglich

Die Revolution in Deutschland von 1918/19 war Teil der Weltkriegsrevolutionen in Mittel- und Osteuropa. Diese bewirkten den Zusammenbruch der aus der „Hei- ligen Allianz“ von 1815 überkommenden Autokratien des Kontinents, indem sie Russland, Österreich-Ungarn, Deutschland und somit das Europa des 19. Jahr- hunderts umwälzten. Vom Rhein bis Wladiwostok, vom Baltikum bis zum Balkan entstand ein neues Staatensystem. Die Weltkriegsrevolutionen wurzelten in der allgemeinen Erschöpfung der am Krieg 1914 bis 1918 beteiligten Völker, in deren Streben nach Demokratie und nationaler Unabhängigkeit – nicht zuletzt auch in der Einsicht der arbeitenden Klassen in die Friedensunfähigkeit der expansiven und kriegsgewinnlerischen Wirtschaftsunternehmen, ihrer imperialistisch agieren- den Regierungen und Militärführungen. Mit den Forderungen nach Frieden ohne Annexion und Kontribution, nach Demokratie, Bodenreform und Sozialisierung nahmen diese Volksbewegungen im Vergleich zu allen früheren Revolutionen ei- nen epochal neuen Charakter an. Die Friedensforderung wandte sich gegen den imperialistischen Krieg, und die Sozialisierungsforderung stellte die gesell- schaftspolitische Systemfrage. Zwischen Oktober 1917 und August 1919 konsti- tuierten sich Räterepubliken, die in Russland langfristig, in anderen Ländern nur zeitweilig währten. In Ungarn kam es erstmalig zu einer Regierungsbildung, in der sich Sozialdemokraten und Kommunisten vereinigten. Der Revolution in Deutschland kam eine kontinentale Schlüsselrolle für die Gestaltung der Nachkriegsverhältnisse zu. Das industriekapitalistische und kultu- relle Entwicklungsniveau der Gesellschaft sowie Reife und Organisiertheit der Ar- beiterschaft eröffneten die historische Chance, unter dem politischen Einfluss der sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften nicht nur die Überreste des Feudalismus vollständig zu beseitigen. Auch die sozialen Negativwirkungen des Kapitalismus waren zu begrenzen, wenn öffentliche und staatliche Kontrolle der Verfilzung von Wirtschaft, Militär, Parteien und Staatsregierung entgegenwirken würden. In Gestalt der Räte schufen spontan tätige Volksmassen neue Organisati- onsformen, die potenziell imstande waren, die angestrebte bürgerlich-parlamenta- rische Demokratie durch Institutionen konsequenter Volkssouveränität zu ergän- zen und zu vertiefen. Adel und Bürgertum waren infolge der Kriegsniederlage diskreditiert und an- gesichts der Volksrevolution paralysiert. Die Initiative lag allein bei der Sozialde- mokratie und den Gewerkschaften. Diese waren ideologisch in verschiedene Richtungen gespalten. Aber die von den reformsozialistischen Führern erkannte Logik der Kapitalkonzentration und Wirtschaftsregulierung, die Beispielwirkung der russischen Oktoberrevolution auf die Linkssozialisten in der USPD und das

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allgemeine Veränderungspotenzial in der sozialdemokratischen und gewerk- schaftlichen Basis eröffneten die Chance für eine tief greifende sozial orientierte Demokratisierung der bürgerlichen Gesellschaft Deutschlands auf privat- und staatskapitalistischer Grundlage. Indes rief diese denkbare historische Alternative, insbesondere unter dem Ein- druck des Bürgerkrieges in Russland und einer ähnlichen Polarisierung in Deutschland, alle Kräfte der Gegenrevolution auf den Plan. Und der Gegensatz zu den Burgfriedenspolitikern in den Führungsspitzen von Sozialdemokratie und Ge- werkschaften machte ein Zusammengehen der Linkssozialisten mit diesen un- möglich. Das linkssozialistische Konzept der Übernahme der kapitalistischen Wirtschaft durch das zur Staatsmacht gelangte Industrieproletariat nach dem Vor- bild Sowjetrusslands war für die Mehrheit der deutschen Gesellschaft nicht kon- sensfähig. Unter der politischen Verantwortung der sozialdemokratischen Provi- sorischen Regierung wurde die Revolution, gestützt auf die militärische Führung des untergegangenen Kaiserreichs, trotz möglicher radikaler politischer und so- zialer Reformen auf Ziele begrenzt, die weit hinter den Absichtserklärungen des Würzburger Parteitages der Reformsozialisten von 1917 und den mit der Revolu- tion gegebenen Chancen zurückblieben. Das betraf vor allem die Militärreform, die vom letzten Kanzler des Kaiserreiches und Vorsitzenden der provisorischen Revolutionsregierung Friedrich Ebert hintertrieben wurde, weil dieser es vorzog, sich auf die alte kaiserliche Exekutive zu stützen, als auf die reale Machtbasis sei- ner Partei innerhalb der Arbeiterschaft. Das besiegelte das Schicksal der Revolu- tion.

Weichenstellung zwischen Revolution und Gegenrevolution

Die Bolschewiki, der linke Mehrheitsflügel der russischen Sozialdemokratie, wa- ren die politische Kraft, die sich an die Spitze der revolutionären Umwälzung der russischen Gesellschaft stellte und der Massendesertion von der Front, der spon- tanen Aufteilung des Großgrundbesitzes und der Arbeiterkontrolle über die Indu- strie mit der Bildung der Sowjetregierung eine staatliche Lenkung und rechtliche Legitimität zu geben vermochten. Das „Dekret über den Frieden“ gab allen in den Weltkrieg verstrickten Völkern die Hoffnung auf einen annexionsfreien und be- dingungslosen Frieden. Als aber die Regierungen Deutschlands und Österreichs der Sowjet-Republik den Raubfrieden von Brest-Litowsk aufzwangen, begriffen große Teile der Arbeiterschaft, dass dieser Friede nur den Zweck verfolgte, den Krieg im Westen fortzusetzen. Der Krieg konnte also nur durch die Intervention von unten beendet werden. Nunmehr fand die seit Kriegsausbruch betriebene An- tikriegsagitation der Spartakusgruppe u. a. linker Gruppen zunehmende Resonanz innerhalb der Arbeiterschaft. Die europäischen Linken gründeten ihr Friedens- konzept auf die Resolutionen der Internationalen Sozialistenkongresse in Stuttgart

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1907, Kopenhagen 1910 und Basel 1912. Diese sahen vor, eine durch den Krieg ausgelöste Krise zum Sturz des Kapitalismus, der ökonomischen Ursache des Weltkrieges, auszunutzen. Die politischen Massenstreiks im Januar 1918 waren der Anfang vom Ende der Monarchien der Mittelmächte. In Deutschland bereite- ten von nun an revolutionäre Betriebsobleute mit dem Zentrum in Berlin den be- waffneten Aufstand zum Sturz des Kaisertums und der Diktatur der Obersten Hee- resleitung vor. Die Siege der Entente an der Westfront und auf dem Balkan ließen die militärische Disziplin der deutschen und österreichischen Truppen zusam- menbrechen. Die Kriegsmüdigkeit auch der Zivilbevölkerungen schlug im Herbst 1918 in Widerstand um. Der plötzliche Autoritätsverlust der monarchistischen Staats- und Militärführungen, die Kriegsdienstverweigerungen der Soldaten und die spontanen Massenerhebungen bewirkten letztlich den Ausbruch der Revolu- tion. Es waren rasch gebildete regionale Arbeiter- und Soldatenräte, die dem or- ganisierten Aufstand zuvorkamen. Für die Durchschlagkraft der Revolution im Machtzentrum Berlin war es vor- teilhaft, dass diese bereits das ganze Land erfasst hatte. Als der von bewaffneten Arbeitern flankierte Sternmarsch der Belegschaften der Industriebetriebe nach Mitte die Straßen füllte und sich ihnen die Soldaten der Garnison an- schlossen, begriff die sozialdemokratische Führung, dass die Beteiligung ihrer Partei an der letzten kaiserlichen Regierung und ihre Aufrufe zu Ruhe und Ord- nung keine zeitgemäße Antwort auf die Systemkrise waren. Jetzt forderte der Par- teivorsitzende Friedrich Ebert den Kanzler Max von Baden auf, ihm unverzüglich dieses Amt zu übertragen und die Abdankung des Kaisers zu veranlassen. Als die Massen den Reichstag erreichten, sah sich Philipp Scheidemann am 9. November gezwungen, die deutsche Republik auszurufen. Karl Liebknecht proklamierte kurz darauf vom Balkon des Schlosses die sozialistische Republik. In einer Nacht- sitzung einigten sich SPD und USPD auf eine paritätische Koalition und aner- kannten die Vollversammlung der Berliner Räte als die höchste Machtausübende Autorität. Die Obleute sahen in dieser Koalition die parlamentarische Demokra- tie. Um diese zu vertiefen, bestellten sie einen Vollzugsrat mit ihrer Führungs- autorität Richard Müller an der Spitze. Tags darauf bestätigte der Berliner Arbei- ter- und Soldatenrat im Zirkus Busch den Rat der Volksbeauftragten mit den gemäßigten Sozialdemokraten Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann, Otto Lands- berg und den Unabhängigen Sozialdemokraten , und Emil Barth. Als die Obleute ihre Liste für einen Vollzugsrat als Kontrollorgan der provisorischen Regierung präsentierten, verlangten die Soldatendelegierten Parität zwischen SPD und USPD wie zwischen Arbeitern und Soldaten und droh- ten mit Militärdiktatur im Falle der Ablehnung ihrer Forderung. Ihrem Willen wurde entsprochen. Ebert hatte sein Ziel erreicht, sich an die Spitze der Revolution gestellt, um sie ins bürgerlich-demokratisch-parlamentarische Fahrwasser zurückzulotsen. Denn er fühlte sich eher als letzter Reichskanzler des Kaiserreichs, denn als Vorsitzen-

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der des Rates der Volksbeauftragten. Am späten Abend erreichte ihn über eine ge- heime Telefonleitung im Reichstag General Wilhelm Groener, er versicherte ihn der Unterstützung der Heeresführung und verlangte die Beendigung des „bol- schewistischen Räteunwesens“. Von diesem denkwürdigen 10. November an schwelte zunächst und eskalierte in den folgenden Wochen der Konflikt zwischen den Arbeiter- und Soldatenräten und der bestehenden Verwaltung. In jenen Regionen des Reiches, wo der linke Flügel der USPD stark war wie in Bayern, im Ruhrgebiet, in Sachsen, in der preußischen Provinz Sachsen und in den Freien Hansestädten nahm der Streit um die Kompetenzverteilung von legislativer und exekutiver Gewalt offen konfronta- tive Formen an. In den agrarisch geprägten Regionen des Südwestens und Nordo- stens begnügten sich die Räte mit Kontroll- und Beratungsfunktionen und vor- wiegend kommunaler Politik. Hier hatten gemäßigte Sozialdemokraten und Gewerkschafter das Sagen in den Räten. Die politische Bedeutung der Soldaten- räte reduzierte sich infolge der Demobilisierung. Wegen ihrer heterogenen, mehr- heitlich bäuerlichen und kleinbürgerlichen Zusammensetzung stärkten sie mit ih- rer Forderung nach paritätischer Machtverteilung den gemäßigten Flügel. In ihrem Antimilitarismus waren die Räte jedoch konsequent revolutionär, weil sie in der Generalität und dem Offizierskorps von Beginn an zu Recht die Konterrevo- lution sahen. Die Widersprüchlichkeit dieser Umstände zeigte sich auf dem Reichsrätekon- gress vom 16. bis 19. Dezember in Berlin. Der Kongress, auf dem die Gemäßig- ten entsprechend der sozioökonomischen Struktur des Reiches die Mehrheit hat- ten, beschloss die Aufhebung des Belagerungszustands, eine Amnestie, die Abschaffung der Zensur, die Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für Männer und Frauen ab dem 20. Lebensjahr, Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit sowie Wahlen zur Nationalversammlung. Damit stand fest: Deutschland würde eine parlamentarische Demokratie mit entspre- chenden Machtpositionen der bürgerlichen Parteien bekommen. Ebert hatte von nun an allen Grund, auch die einzige revolutionäre Entscheidung des Reichsräte- kongresses, das Militär der Kontrolle der Räte zu unterstellen, zu hintertreiben. Denn dieser Beschluss traf den Nerv seiner Kooperation mit Groener. Wichtige Weichenstellungen für die künftige Sozial- und Wirtschaftsordnung waren Mitte November in den Verhandlungen der Gewerkschaften mit den Unter- nehmerverbänden erfolgt. Die Gewerkschaften erreichten die Alleinvertretung der Arbeitnehmerinteressen, volle Koalitionsfreiheit, paritätische Schlichtungsaus- schüsse, Kollektivvereinbarungen der Berufsvereinigungen mit den Arbeitgebern, Einführung kollektiver Arbeitsverträge, Gründung von Arbeiterausschüssen in den Betrieben über 50 Mitarbeiter, den Achtstundenarbeitstag und die Verbesse- rung der Sozial-, Alters- und Arbeitslosenversicherung sowie die Wiedereinglie- derung der Heimkehrer in die Betriebe. Mit diesen Ergebnissen waren jahrzehn- telange gewerkschaftliche Forderungen erfüllt. Aber das Großkapital behielt seine

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wirtschaftliche Macht und damit politischen Einfluss. Lediglich eine Minderheit der Gewerkschaftsfunktionäre trat für eine ökonomische Neuordnung der Wirt- schaft ein. Die Zentralarbeitsgemeinschaft (ZAG) der Unternehmer und Gewerk- schaften war aber auch der Schwäche der provisorischen Regierung geschuldet, mit den Problemen der unmittelbaren Nachkriegssituation fertig zu werden. Mit der ZAG nahmen Unternehmer und Gewerkschaften die Lösung der wirtschaftli- chen Probleme in eigene Regie. Die Unternehmer verstanden diese Allianz aller- dings lediglich als Zwischenlösung. Mit dem Reichsrätekongress waren endgültig die Würfel gefallen, wenngleich die USPD noch die Chance gehabt hätte, im Zentralrat, dem künftigen Exekuti- vorgan des Rätekongresses, im gleichen Maße Einfluss zu gewinnen wie die Obleute im Berliner Vollzugsrat. Aber sie beteiligte sich nicht mehr an der Wahl des Zentralrates, was ein schwerer politischer Fehler war. Der zweite Fehler der USPD-Führung war ihr alternativloser Austritt aus dem Rat der Volksbeauftragten nach den opferreichen aber siegreichen Kämpfen zwischen Volksmarinedivision und Reichswehrtruppen am Heiligabend. Diese politische Konzeptionslosigkeit veranlasste die radikale Minderheit der USPD um die Spartakus- u. a. linke Grup- pen, zur Jahreswende die Kommunistische Partei Deutschlands zu gründen. Schon bald rächte sich, dass die Räte die Aufstellung einer Volkswehr unter- lassen hatten. Mit dem Geld der deutschen Wirtschaft, organisiert von der Anti- bolschewistischen Liga, schufen die Generale inzwischen aus Offizieren, Berufs- soldaten und Arbeitslosen Freikorps, die sich unter dem Oberkommando des Sozialdemokraten vorbereiteten, tabula rasa zu machen. Die Kämpfe in Berlin vom 10. bis 15. Januar waren symbolisch für den letzten Macht- kampf zwischen bürgerlicher und proletarischer Demokratie. Nach dem Weih- nachtsaufstand der Volksmarinedivision verließen die USPD-Volksbeauftragten die provisorische Reichs- und preußische Regierung. Letztere setzte daraufhin auch den linken Berliner Polizeipräsidenten ab, der verfassungsrechtlich unter dem alten Regime der preußischen Regierung unterstand. Emil Eichhorn hatte dieses Amt jedoch vom Berliner Arbeiter- und Soldatenrat erhalten. Insofern be- deutete seine Entlassung einen provokativen Anschlag auf die letzte Bastion der Rätemacht. Das löste den zweiten Aufstand nach dem 9. November aus. Die Gar- dekavallerieschützendivision unter dem Kommando des Hauptmann Waldemar Pabst schlug diesen brutal nieder. Mit dem weißen Terror in Berlin und der Er- mordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts begann der Bürgerkrieg, den zu vermeiden die sozialdemokratische Führung angetreten war. Sie hatte das Volk permanent zu Ruhe und Ordnung aufgerufen, nachdem sie am 3. Oktober 1918 vom Kaiser zwei Regierungssitze ohne Amt erhalten hatte und Deutschland de facto eine parlamentarische Monarchie geworden war. Wenn die revolutionären Kräfte in diesem Stadium keine Mehrheit mehr fan- den, wie die Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 bewiesen, dann vor allem deshalb, weil am 11. November 1918 der Waffenstillstand in Kraft ge-

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treten und das wichtigste Ziel der Revolution erreicht war. Darüber hinaus war die diskreditierte Monarchie durch eine bürgerlich-parlamentarischen Republik ab- gelöst worden. Für das Experiment Rätemacht im Interesse eines Teils der Indu- striearbeiterschaft hatte die Mehrheit der deutschen Bevölkerung kein Interesse. Die zu erwartenden Friedensbedingungen verdrängten zudem die Opposition ge- gen Kriegsgewinnler, Junker und Generale und erzeugte eine nationale Empörung gegen die Siegermächte. Anfang Mai fiel mit der Münchener Räterepublik die letzte Bastion der deutschen Revolution.

Fazit

Im Gegensatz zu den Identifikation stiftenden Revolutionen anderer Völker er- schien die deutsche Revolution von 1918/19 in den historischen Wertungen und Erinnerungen nicht als Ruhmesblatt. De facto verkörperte die Weimarer Republik die erste bürgerlich-demokratische Staatsordnung Deutschlands. Sie war von kei- ner Partei ernstlich gewollt. Die Konservativen setzten auf Restauration. Das bür- gerliche Lager, einschließlich der sozialdemokratischen Führung, verabscheute die volksrevolutionäre Art ihres Zustandekommens. Veteranen der Arbeiter- und Soldatenräte und linker Gewerkschaftsgruppen hätten lieber eine Kombination von Räten und Parlament gesehen. Die kommunistische Linke wollte die alleinige Rätemacht. Die deutsche Revolution 1918/19 war die erste Revolution in einer großindu- striellen Gesellschaft. Mit der bestorganisierten Arbeiterschaft der Welt und der politisch erfahrensten Sozialdemokratie und Gewerkschaft bestanden die Voraus- setzungen für eine Vertiefung der tradierten bürgerlich-parlamentarischen Demo- kratie durch eine soziale Demokratie. Erstmals bestand die historische Chance, das Freiheitsversprechen der französischen Revolution durch deren Solidaritäts- versprechen zu ergänzen. Mit der Rätedemokratie schuf das Proletariat spontan eine Form der direkten Selbstverwaltung, deren verfassungsrechtliche Integration in die parlamentarische Demokratie denkbar war. Gleichermaßen entsprach die Sozialisierungsforderung dem hohen Vergesellschaftungsgrad der Wirtschaft. Unter dem Eindruck des Bruchs der russischen Oktoberrevolution mit der Ver- gangenheit und potenziell möglichen ähnlichen Entwicklungen in Deutschland or- ganisierte sich hier jedoch die Gegenrevolution vom konservativen bis zum gemäßigten sozialdemokratischen Flügel. Geleitet von den Sachzwängen der Kriegsniederlage und Friedensbedingungen, der Umstellung der Kriegs- auf Frie- denswirtschaft und der Interventionsgefahr sowie geprägt von den tradierten bür- gerlichen Demokratieauffassungen des 18. und 19. Jahrhunderts erkannten die gemäßigten Sozialdemokraten und Gewerkschafter weder die Notwendigkeit des radikaldemokratischen Bruchs mit den aristokratischen Machtpositionen ge- schweige denn den demokratischen Neuansatz der Räte. Die strikte Ablehnung

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außerparlamentarischer Masseninitiativen der eigenen Basis, die absolute Unter- ordnung unter die verfassungsrechtliche Legalität und die daraus resultierende Abhängigkeit von der monarchischen Exekutive hinderten die sozialdemokrati- sche Führung an einer konsequenten Vollendung der bürgerlich-demokratischen Revolution. So betrieb sie an diesem historischen Scheidepunkt eine restaurative Politik und vertiefte damit die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung. Die Führungsschwäche der USPD und der mangelnde Kampfgeist ihrer Führungs- kräfte bewirkten den vorzeitigen Rückzug aus wichtigen Machtpositionen, was den Einfluss der gemäßigten Sozialdemokraten stärkte. Die Fehleinschätzung der historischen Situation durch die radikalen Linken innerhalb der KPD und deren Maximalismus bewirkten deren Isolation. Und dennoch: Ohne den Volksaufstand und das in allen neuzeitlichen Revolutionen zu beobachtende Hinausweisen über das real mögliche Ziel wäre letzteres gar nicht erreicht worden. Der Niedergang der Revolution war nicht zuletzt von außen beeinflusst. Das Friedensdiktat der Siegermächte stärkte die Gegenrevolution. Die Oktoberrevolu- tion in Russland verlor trotz erneuter Zuspitzung der politischen Gegensätze während der Nachkriegskrise bis 1923 ihre Funktion als Initialzündung einer eu- ropäischen Revolution. Rosa Luxemburg schrieb 1918: „In Russland konnte das Problem (die Verwirklichung des Sozialismus – der Verf.) nur gestellt werden. Es konnte nicht in Russland gelöst werden, es kann nur international gelöst werden.“1

1 Rosa Luxemburg: Zur russischen Revolution, in: Dies., Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 365.

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OTTOKAR LUBAN Neue Forschungsergebnisse über die Spartakuskonferenz im Oktober 1918

„Die wichtigste Initiative der Spartakisten in den Wochen vor der Revolution war die Einberufung einer am 7. Oktober [1918] in Berlin tagenden illegalen Konfe- renz von Vertretern der Spartakusorganisationen aus dem ganzen Reichsgebiet und von Linksradikalen, die nicht der USPD angehörten.“ Mit diesen Worten hob Susanne Miller die Bedeutung dieses Treffens der – neben den revolutionären Obleuten – am entschiedensten auf einen revolutionären Umsturz drängenden Kräfte auf dem linken Flügel der deutschen Sozialdemokratie hervor, und sie ging auf einer Drittel-Druckseite auf die wesentlichen Ergebnisse der Tagung ein.1 In keinem der die Arbeiterbewegung in der Vorrevolutionszeit behandelnden Werke, ob in Ost oder West, fehlt eine Schilderung der Spartakus-Oktoberkonferenz. Da- bei fallen die Darstellungen über den Verlauf der Konferenz in vielen relevanten DDR-Publikationen wesentlich ausführlicher aus als in denen der „Westhistori- ker“.2

Forschungsstand

Erstaunlicherweise haben alle Schilderungen eines gemeinsam: Die einzige Quel- lengrundlage ist der von den Veranstaltern herausgegebene Konferenzbericht, der in der illegalen Zeitschrift Spartacus Nr. 12 vom Oktober 1918 und in der in Deutschland ebenfalls illegal verbreiteten deutschsprachigen Zeitschrift aus Mos- kau Weltrevolution Nr. 53 vom 24. Oktober 1918 abgedruckt wurde; im ersten Schriftstück ohne die behandelten Resolutionen, im zweiten mit dem Text der Re- solutionen, aber mit einigen Auslassungen im eigentlichen Bericht über den Ta- gungsverlauf.3 Nach diesen Berichten auf der Konferenz waren „Vertreter der Spartakusorganisationen aller wichtigen Bezirke und Orte Deutschlands vertreten,

1 Siehe Susanne Miller: Die Bürde der Macht. Die deutsche Sozialdemokratie 1918-1920, Düsseldorf 1978, S. 42 (Zitat), S. 42 f. 2 Siehe z. B.: Heinz Wohlgemuth: Die Entstehung der KPD. Überblick, Berlin 1978, S. 218-220; J[akow] S. Drabkin: Die Novemberrevolution 1918 in Deutschland, Berlin 1968, S. 85-88. 3 Siehe Spartakusbriefe, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1958, S. 469- 471; Ernst Drahn/Susanne Leonhard (Hrsg.): Unterirdische Literatur im revolutionären Deutschland während des Weltkrieges, Berlin 1920, S. 113-118; Neuauflage [Reprint nur mit dem Teil der von S. Leonhard her- ausgegebenen Dokumente, aber mit der gleichen Seitennummerierung]: Susanne Leonhard (Hrsg.): Unterir- dische Literatur im revolutionären Deutschland während des Weltkrieges, Frankfurt/Main 1968, S. 114 („Re- solution zur weltpolitischen Lage“), S. 115-117 („Aufruf an die Bevölkerung“); nach Drahn/Leonhard auch wiedergegeben in: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Reihe II, Bd. 2, November 1917-Dezember 1918, Berlin 1957, S. 228-234.

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ferner mehrere Ortsgruppen der sog. linksradikalen Bewegung, die bekanntlich der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei nicht angehören.“ Die Teilnehmer informierten über die von ihnen durchgeführten Aktionen. Dabei hatten die örtli- chen Gruppen in der Zusammenarbeit mit der USPD nur dann gute Erfahrungen gemacht, wenn die Gruppe Internationale in den Städten und Regionen die Mehr- heit stellte. Weiterhin wurde die Förderung der Militäragitation, die Zusammenar- beit mit der sozialistischen Jugendbewegung besprochen und der Zusammen- schluss der Linksradikalen mit der Spartakusgruppe vollzogen, ohne dass die Linksradikalen der USPD beitraten. Bemerkenswert: Die letztere Aussage fehlte in der “Weltrevolution”, was auf – zumindest noch nicht vollständig ausgeräumte – Unstimmigkeiten zwischen den beiden Gruppierungen hindeutet, wie sich bei der Auswertung weiterer Quellen zur Konferenz bestätigt (siehe unten). Den rus- sischen Genossen wurde die „brüderliche Sympathie“ übermittelt, gegenüber den inhaftierten deutschen Genossen, speziell Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, eine Solidaritätserklärung abgegeben. Beschlossen wurde, Arbeiter- und Solda- tenräte in allen Orten zu gründen, falls sie nicht bereits vorhanden waren. Die „Grundidee“ einer vorgelegten „Resolution zur weltpolitischen Lage“ wurde ge- billigt, „ohne sie [die Resolution] zum Beschluß zu erheben“. Dagegen erhielt ein Aufruf an die Bevölkerung die volle Zustimmung der Konferenzteilnehmer4 und wurde offensichtlich in der zweiten Oktoberhälfte in vielen Städten und Regionen weit verbreitet. Die Behörden entdeckten die entsprechende Flugschrift „Wir sind in die letzte Periode des Krieges eingetreten…“ mit der Unterschrift „Die Gruppe Internationale (Spartakusgruppe) [,] Die Linksradikalen Deutschlands“ bei Arbei- tern auf der Vulkanwerft in Hamburg sowie in großen Mengen bei einem Spar- takusmann in Duisburg.5 Nach einer Charakterisierung der politischen Entwick- lung wurde in diesem Aufruf eine Reihe von Forderungen aufgestellt wie Freilassung aller politischen Gefangenen, Aufhebung des Belagerungszustands und des Hilfsdienstgesetzes, Sozialisierung der Banken, der Schwerindustrie so- wie Verkürzung der Arbeitszeit und Festsetzung von Mindestlöhnen, Enteignung der landwirtschaftlichen Groß- und Mittelbetriebe und deren Leitung durch Dele- gierte der Landarbeiter und Kleinbauern, eine „durchgreifende Umgestaltung des Heereswesens“ mit mehreren Einzelpunkten (die „Hamburger Punkte“ des 1. Reichsrätekongresses kündigen sich hier an). Zwar wird auch die „Abschaffung der Einzelstaaten und Dynastien“ gefordert, doch nicht expressis verbis die Ab- schaffung des halbabsolutistischen Staatssystems und stattdessen die Republik oder ein Regierungssystem der Arbeiter- und Soldatenräte. Insgesamt macht die- ser sehr lange Aufruf – besonders in der ersten Hälfte - einen langatmigen zerfa- serten Eindruck. Es fehlen ein paar zündende übergreifende Parolen.

4 Siehe Spartakusbriefe, S. 469-471, S. 471, S. 470 (in der Reihenfolge der Zitate). 5 Siehe Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde [BArch Berlin], R 3003, J 810/18, Nr. 1, Bl. 2 f.; Leo Stern (Hrsg.):Archivalische Forschungen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 4/IV, Berlin 1959, S. 1723-1726.

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Es ist nicht zu verstehen, warum in der kommunistischen Parteigeschichts- schreibung und in der DDR-Nachkriegshistoriographie der Konferenzbericht der Veranstalter nicht durch Archivalien und Erinnerungsberichte ergänzt und korri- giert wurde. Sogar in den kommunistischen Zeitungen und Zeitschriften der Zwi- schenkriegszeit sowie in der 1929 erschienenen offiziellen ersten Parteigeschichte „Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution“,6 deren Verfasser sich auf viel- fältige Materialien und reichlich Zeitzeugenaussagen stützen konnten, findet man keine zusätzlichen Informationen über die Oktoberkonferenz. Nur in zwei Regio- nalstudien westlicher Historiker gibt es Hinweise auf spätere Aussagen von Be- teiligten über die Konferenz.7

Falsches Datum, falscher Ort, der russische Botschafter als Autor des Aufrufes

Bei einer Nachprüfung der bisher bekannten Angaben muss schon das Datum kor- rigiert werden. Am 9. Oktober 1918 lud das Mitglied der Spartakusführung Ernst Meyer seinen früheren Kollegen aus der „Vorwärts“-Redaktion Rudolf Franz, der unterdessen als Redakteur bei der „Leipziger Volkszeitung“ arbeitete, zu „einem Familienfest, dem Freunde aus dem ganzen Reich beiwohnen…“ ein, und zwar zum 12. Oktober abends und zum 13. Oktober ganztägig. Anlaufpunkt sollte das Büro Ernst Meyers bei der ROSTA, der russischen Telegraphenagentur, in der im Zentrum Berlins gelegenen Friedrichstraße sein.8 In zwei zeitgenössischen Brie- fen, zum einen von der wie Meyer zur Spartakusführung gehörenden Käte Duncker und zum anderen vom russischen Botschafter Adolph Joffe, wird dieses Datum bestätigt.9 Die Oktober-Konferenz der Spartakusgruppe hat also nicht am 7., sondern am 12. und 13. Oktober 1918 stattgefunden, wahrscheinlich mit voller Besetzung nur am 13., mit einer Besprechung im kleineren Kreis am 12. Oktober. Dies ist insofern von Bedeutung, als dass damit die Zeit für die organisatori- sche und agitatorische Vorbereitung des angestrebten revolutionären Umsturzes für die sich mit dieser Konferenz gerade neu sammelnden linksradikalen Kräfte kürzer ausfiel, zumal ihre Personaldecke noch immer sehr dünn war. Die falsche

6 Siehe Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution [Reprint der Ausgabe von (Berlin)1929], Frankfurt [Main] 1970, S. 177 f. Hier wird lediglich der Text des Aufrufes mit der falschen Angabe des Konferenzda- tums “1.[sic!] Oktober“ wiedergegeben. 7 Volker Ullrich: Die Hamburger Arbeiterbewegung vom Vorabend des Ersten Weltkrieges bis zur Revolution 1918/19, Hamburg 1976, hier: Bd. 1, S. 605-609, Bd. 2, S. 220 (Anm. 60), S. 221 (Anm. 63); Sylvia Neuschl: Geschichte der USPD in Württemberg oder Über die Unmöglichkeit, einig zu bleiben, Esslingen 1983, S. 155. 8 BArch Berlin, NY 4020, Nr. 5. Rudolf Franz konnte nicht teilnehmen. 9 Käte Duncker schreibt in einem Brief an ihre Tochter Hedwig am17.10.18 von einer „Spa[rtakus]. Konferenz vom ganzen Reich“ am vergangenen Sonntag (Stiftung Archive der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde [SAPMO BArch], NY 4445, Nr. 236, Bl. 90). Adolph Joffe geht in einem Brief an Lenin vom 13. Oktober 1918 auf die Spartakuskonferenz von „Gestern“ ein. Da der 12sei- tige handgeschriebene Brief offensichtlich nachts, also in seinem letzten Teil schon am 14., geschrieben wor- den ist, meint Joffe höchstwahrscheinlich den 13. Oktober (Russländisches Staatsarchiv für sozialpolitische Geschichte (RGASPI), Moskau, Fonds 5, Verzeichnis 1, Akte 2134,Bl. 41 Rücks. )

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Datumsangabe im veröffentlichten Bericht erfolgte zur Irreführung der Politi- schen Polizei. Auch eine falsche Ortsangabe war nach Joffe ursprünglich vorgesehen, und zwar Erfurt.10 Doch im „Spartacus“ wurde überhaupt keine Stadt genannt, nur im Bericht der „Weltrevolution“ die unrichtige Angabe .11 Tatsächlich hat die Tagung in Berlin stattgefunden, wie der Mitorganisator Ernst Meyer Ende 1920 in einer Rezension des Dokumentenbandes von Drahn/Leonhard, in dem der Konfe- renzbericht enthalten ist, angemerkt hat.12 Wie Ernst Meyer zwei Jahre nach der Oktoberkonferenz berichtete, wurde die „Resolution zur weltpolitischen Lage“, bei der die Versammlung lediglich die Grundidee akzeptiert hatte, vom Hamburger Linksradikalen Fritz Wolffheim prä- sentiert, der Aufruf an die Bevölkerung, der beschlossen und später massenhaft als Flugschrift Verbreitung fand, wurde von der Tagung vorgelegt.13 Der Verfasser dieses Aufrufes war jedoch nicht Paul Levi oder ein anderes Mitglied der Spartakusführung, sondern der russische Botschafter Joffe. Dieser teilte am 13. Oktober in einen Brief an Lenin mit, dass es „mir nur mit großer Mühe gelungen ist, ihre [der Konferenz] Zustimmung zu einer Proklamation zu erlangen, die ich geschrieben hatte und anbei mitschicke.“14

Differenzen zwischen den Hamburger Linksradikalen und Spartakus

Tatsächlich hat es um diesen Aufruf eine lebhafte Diskussion gegeben. Der Ham- burger Wolffheim erhob Einwände gegen den Abschnitt, in dem die Auflösung der Truppe an der Front mit massenhafter Desertion als Beginn der Revolution ge- kennzeichnet und die Desertion zur Nachahmung empfohlen wurde. Nach einem polemischen Bericht Wolffheims aus dem Jahre 1920 schloss sich die Mehrheit seiner Auffassung an. Levi ließ eine Redaktionskommission einsetzen und ver- sprach Wolfheim, dafür Sorge zu tragen, dass keine Aufforderung zur Desertion im Aufruf enthalten sein würde.15 Tatsächlich wird im gedruckten Text des Aufrufs nur verklausuliert die Tatsache einer steigenden Zahl von Deserteuren als Beginn

10 Am Ende des Briefes vom 13. Oktober informiert Joffe Lenin, dass als offizielles Tagungsdatum der 7. und als offizieller Tagungsort Erfurt genannt werden sollen (ebenda, Bl. 44 Rücks. ). 11 Siehe Susanne Leonhard (Hrsg.): Unterirdische Literatur, S. 113 (im kurzen einleitenden Text, der sich aber auf die „Weltrevolution“ stützte). 12 Siehe E. M.: Revolutionäre Literatur während des Krieges, in: Die Internationale, Zentralorgan der USPD, 17. November 1920, Nr. 17 [im Original auf der Titelseite falsch: Nr. 27], S. 3. 13 Siehe ebenda. 14 Zitiert nach: Alexander Vatlin: Im zweiten Oktober. Lenin, die Niederlage des Deutschen Reiches und die außenpolitische Wende der Bolschewiki, in: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 2007, S. 180- 200, hier: S. 195. 15 Siehe Heinrich Laufenberg/Fritz Wolffheim (im Auftrage der Ersten Bezirkskonferenz des Bezirks Nord der Kommunistischen Arbeiterpartei): Kommunismus gegen Spartakismus. Eine reinliche Scheidung, Hamburg, 1. Mai 1920, in: Archiv der sozialen Demokratie, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn-Bad Godesberg, Nachlass Paul Levi, M181.

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revolutionärer Kämpfe und mehr als Zeichen der militärischen Auflösung er- wähnt.16 Hier hatte Levi aufgrund der Stimmung auf der Sitzung offensichtlich et- was eingelenkt, ohne den Passus mit der Desertion vollständig zu streichen. Einfacher hatte es Levi, der das Hauptreferat hielt und wohl die gesamte Sit- zung leitete, mit einem weiteren Antrag Wolffheims, die Gewerkschaftsfrage und damit die von den Linksradikalen propagierte Einheitsorganisation von Partei und Gewerkschaft auf die Tagesordnung zu setzen. Nach den Erinnerungen des Kon- ferenzteilnehmers Jacob Walcher fand Wolffheim für diesen Antrag aber keine Mehrheit. Levi konnte sich in diesem Falle – nach Walcher – mit den Argumen- ten durchsetzen, für die Gewerkschaftsfrage sei eine gründliche Beratung not- wendig, im Augenblick stünden jedoch die Fragen, die direkt mit der Vorbereitung der Revolution zusammenhingen, im Vordergrund.17 Ähnlich wie bei Walcher kommt in den Erinnerungen des Konferenzteilnehmers Fritz Rück aus Stuttgart zum Ausdruck, dass es Paul Levi gelang, „von der Feststellung aus, daß der Zu- sammenbruch der Militärmaschine und des Kaiserreiches eine Tatsache sei, man sich bereits in einer Revolution befinde und nun jeder an seinem Platz und an sei- nem Ort die notwendigen organisatorischen und agitatorischen Konsequenzen zu ziehen habe“, eine Einigung auf der Basis des im Aufruf enthaltenen Programms zu erreichen.18 Wahrscheinlich versuchte Wolffheim aber, noch mit einem weite- ren Antrag zur Anerkennung der Einheitsorganisation, die als Kommunistische Partei während der Revolution entstehen sollte, zu kommen. Damit wäre es zu ei- ner Loslösung der Spartakusgruppe von der USPD gekommen, die von der Spar- takusführung zu diesem Zeitpunkt noch abgelehnt wurde. Nach stichwortartig nie- dergeschriebenen Erinnerungen Wolffheims aus dem Jahre 1925 hatte er den Antrag gestellt, „dass die ganze revolutionäre Bewegung im Augenblick des Auf- standes als kommunistische Partei in Erscheinung treten soll, dass sich die Partei von unten nach oben aufbauen, ihre Orientierung aber von den bestehenden Spit- zen der Bewegung erhalten solle. Antrag abgelehnt durch Manöver von Paul Levi.“19 Es sieht so aus, als ob Wolffheim dem Versammlungsleiter Paul Levi Schwierigkeiten bereitete, sich aber nicht durchsetzen konnte.

16 Siehe Susanne Leonhard (Hrsg.): Unterirdische Literatur, S. 115. 17 Siehe Jacob Walcher: Erinnerungsbericht, S. 36. (Bezirksparteiarchiv der SED Berlin, V5/ 011, jetzt Landes- archiv Berlin). 18 Fritz Rück: November 1918. Die Revolution in Württemberg, o. O, o. J. [Stuttgart 1958, Selbstverlag des Ver- fassers], S. 15. 19 Siehe Fritz Wolffheim: Notizen über die Geschichte unserer Bewegung zum Gebrauch des Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft für revol. Politik, Genossen Emil Geiger [1925 geschrieben], in: SAPMO BArch, Ry 1/I, 5/5, Bd. VII, Nr. 1, S. 91.

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Erfolgreiche integrative Bemühungen Levis

Zum Thema einer Zusammenarbeit mit der USPD könnte ebenfalls ein Antrag vorgelegen haben. In den von der Polizei in Duisburg bei dem Spartakusmann Ul- rich Rogg beschlagnahmten Papieren befindet sich neben anderen Konferenzma- terialien auch eine Resolution, die offensichtlich aus Duisburg selbst oder einer örtlichen Spartakusgruppe gekommen und für die Oktoberkonferenz gedacht war. Hierin werden einerseits die MSPD und die USPD scharf angegriffen, aber ande- rerseits sollen die Unabhängigen zur Beteiligung an Massenaktionen gedrängt werden. Ein Austritt aus der USPD „ist absolut zu verwerfen als in diesem Zeit- punkt zwecklos“.20 Wie dem offiziellen Konferenzbericht zu entnehmen ist, war in dieser Frage auf der Tagung ein unverbindlicher Kompromiss gefunden worden. Die USPD-Politik in Bezug auf den Wilson-Frieden und die Parlamentarisierung wurde als nichtrevolutionär, als Ablenkung vom Ziel einer „Herbeiführung der Revolution“ verurteilt. Die Zusammenarbeit mit der USPD in den Orten, in denen die Spartakusgruppe in der Minderheit war, sei nicht günstig gewesen. Konse- quenzen für das zukünftige Verhalten wurden nicht gezogen.21 Die Spartakusführung versuchte offensichtlich, auch in weiteren Punkten mit einigen Zugeständnissen an die Linksradikalen integrativ zu wirken. Neben dem Fortfall einer Aufforderung zur Desertion, die allgemein keinen Anklang auf der Konferenz gefunden hatte, wurde im „Spartacus“ im Gegensatz zur „Weltrevolu- tion“ erwähnt, dass die Teilnehmer mit der „Grundidee“ der von Wolffheim vor- gelegten „Resolution über die weltpolitische Lage“ „einverstanden“ gewesen seien. Eine Ablehnung blieb Wolffheim damit erspart. Weiterhin wurde im offizi- ellen Bericht des „Spartacus“ ein „Zusammenschluß der Linksradikalen Bewe- gung mit der Spartakus-Organisation“ und „eine feste gemeinsame Grundlage“ konstatiert, ein Passus, der in der „Weltrevolution“ ebenfalls nicht enthalten ist.22 Diese entgegenkommende Haltung der Spartakusführung wurde von den Linksra- dikalen, wie einem Kommentar in ihrem Organ „Arbeiterpolitik“ zu entnehmen ist, durchaus positiv aufgenommen.23

Teilnehmer der Konferenz

Nach den Erinnerungen Jacob Walchers handelte es sich bei der Oktoberkonferenz um eine kleine Zusammenkunft mit höchstens 30 Teilnehmern, was für ein illega- les Treffen durchaus als angemessen erscheint.24 Wegen der fehlenden Überliefe-

20 BArch Berlin, R 3003, J 810/18, Nr. 1, Bl. 40 (Hülle), darin Bl. 4 mit RückS. („Politische Lage und Aufga- ben“). 21 Siehe Spartakusbriefe, S. 470. 22 Siehe ebenda. 23 Siehe Volker Ullrich: Die Hamburger Arbeiterbewegung, Bd. 1, S. 608.

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rung sind nur wenige Teilnehmer namentlich bekannt geworden. Zweifelsfrei ste- hen als Teilnehmer fest: Ulrich Rogg aus Duisburg, der dort ein dichtes Netz von Spartakusvertrauensleuten in der USPD-Organisation der Region aufgebaut hatte; Fritz Rück, württembergischer USPD-Landesvorsitzender und Redakteur des Stuttgarter „Sozialdemokrat“; Fritz Wolffheim, Vertreter der Hamburger Linksra- dikalen, einer Gruppe, die nach zwei Verhaftungswellen im März und Mai 1918 stark dezimiert war25; Jacob Walcher, früherer linker Redakteur der „Schwäbi- schen Tagwacht“ aus Stuttgart, der nach seiner 1915 erfolgten Umsiedlung nach Berlin von 1917 bis Mai 1918 aus beruflichen Gründen weitgehend politisch pas- siv geblieben und erst wieder durch Käte Duncker und Fritz Rück – besonders ab Oktober 1918 – in die illegale politische Arbeit miteinbezogen worden war26; so- wie , Leiter der Spartakusgruppe in Braunschweig27. Von der Spartakusführung waren auf der Oktoberkonferenz anwesend Käte Duncker und Ernst Meyer, Berlin, sowie der noch in Frankfurt lebende, aber seit Mai 1918 häufig nach Berlin kommende Rechtsanwalt Paul Levi28, nach einer Be- merkung Wolffheims29 eventuell auch der Partei- und Literaturhistoriker Franz Mehring. Die weiteren Spartakusführer Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches und Karl Schulz (zwischen Mai und August in der Spartakusleitung30) waren in Haft, Clara Zetkin in Stuttgart krankheitsbedingt nicht reisefähig. Die zahlenmäßig schwache Vertretung der Spartakusführung verdeutlicht die äußerst dünne Personaldecke der linksradikalen Bewegung.

Die Auswirkungen der Oktoberkonferenz

Es hätte nahe gelegen, dass auch ein Vertreter der Bolschewiki, eventuell der rus- sische Botschafter Joffe, auf der Spartakuskonferenz aufgetreten wäre, wie dies der bolschewistische Vertreter Pjotr Stu`c´ka auf einer internen USPD-Reichskon- ferenz Mitte September 1918 getan hatte.31 Doch da die russische Botschaft scharf

24 Mündliche Auskünfte Jacob Walchers gegenüber dem Verfasser am 2. Juli 1969. 25 Siehe Volker Ullrich: Die Hamburger Arbeiterbewegung, Bd. 1, S. 604. 26 Walcher wohnte im zentralen Berliner Stadtteil Moabit und hatte 1917/18 einen langen Anfahrtsweg zu sei- ner Arbeitsstelle in Nowawes (heute: Babelsberg) bei Berlin (Mündliche Auskünfte Jacob Walchers gegen- über dem Verfasser am 2. Juli 1969). 27 Mündliche Auskünfte von Walter Merges, Sohn von August Merges, gegenüber dem Verfasser am 16. März 1969. 28 Erst am 5. November 1918 bekundete Levi in einem Kassiber für die inhaftierte Rosa Luxemburg, dass er am folgenden Wochenende nach Berlin übersiedeln werde (Kassiber abgedruckt in: Ottokar Luban: Zwei Schrei- ben der Spartakuszentrale an Rosa Luxemburg (Juni 1917; 5. November 1918), in: Archiv für Sozialge- schichte, XI, 1971, S. 225-240, hier: 238). 29 „Teilnahme an der Oktoberkonferenz nach Zusammenwirken mit Mehring und Ernst Meyer“ Wolffheim, Notizen, in: BA Berlin, Ry 1/I, 5/5, Bd. VII, Nr. 1, Bl. 91. 30 Siehe Ottokar Luban: Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden gegen und Leo Jogiches (1915-1918). Einige Ergänzungen zu ihren politischen Biographien, in: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz (IWK), Jg. 31 (1995), H.3, S. 328 f.

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von der Politischen Polizei beobachtet wurde und deshalb die russischen Genos- sen befürchten mussten, dass die Spartakuskonferenz auffliegen würde, wurde – wie einem Brief des in Berlin weilenden russischen Wirtschaftsexperten Miljutin an Lenin zu entnehmen ist – darauf verzichtet.32 Stattdessen besuchte nach der Konferenz Käte Duncker von der Spartakusleitung – eventuell gemeinsam mit weiteren Spartakusführern Levi, Meyer und Mehring – die russische Botschaft, um den russischen Genossen und der gerade frisch eingetroffenen Sekretärin der Internationalen Sozialistischen Kommission der Zimmerwalder Bewegung Ange- lica Balabanoff über die Spartakuskonferenz zu berichten.33 Aus verschiedenen Briefen an Lenin spiegelt sich der Eindruck wider, den die russischen Genossen und Angelica Balabanoff aufgrund der Berichte über die Spartakuskonferenz und weiterer Informationen aus der linken Szene gewonnen hatten. Joffe berichtete vom Einverständnis der Spartakusführer mit der von ihm vorgeschlagenen Taktik der provokativen Straßendemonstrationen mit einem er- sten Versuch bei der Reichstagseröffnung, hatte aber wenig Hoffnung auf einen Erfolg: „Es ist ein Unglück, dass sie so schwach sind.“ Seine Hoffnung setzte er vor allem auf die aus den Gefängnissen und von der Front zurückerwarteten pro- minenten Persönlichkeiten.34 Angelica Balabanoff berichtete Lenin in einem Schreiben vom 19. Oktober 1918 nach ihrem Berlin-Aufenthalt über ihre Ge- spräche mit den deutschen Linken, sie hätte auf ihre konkrete Frage, welchen Ein- fluss „sie unter den Massen besitzen“, von den Spartakusführern „keine konkrete Antwort erhalten“.35 Im Schreiben Miljutins an Lenin von Mitte Oktober 1918 be- zieht sich der russische Wirtschaftsexperte ebenfalls auf die Spartakuskon- ferenz: „Die Spartakisten machen keinen sehr starken Eindruck. Sie hatten eine Konferenz. Haben Verbindungen zur Provinz und zur Armee. Besitzen zwei legale Zeitungen (Die eine hat eine Auflage von 4000 Exemplaren, die andere 1500 [„Der Sozialdemokrat“, Stuttgart, und die „Arbeiterpolitik“, Bremen], un- sere „Prawda“ hatte 1917 stets eine Auflage von 50.000 bis 60.000 Exempla- ren). Sie haben noch keine einzige Demonstration durchgeführt und organisiert, von mehr gar nicht zu reden… Schließlich gibt es noch einen illegalen „Arbeiter- rat“, in dem 400.000 Arbeiter zusammengeschlossen sein sollen [die Revolu- tionären Obleute]. Dies ist eine bedeutendere Angelegenheit. Es ist jedoch eigen- artig: die Spartakisten haben zu ihm fast keine Verbindung. Das trifft auch auf unsere Leute zu.“36

31 Siehe Vatlin, Im zweiten Oktober, S. 183. 32 Siehe RGASPI, Fonds 5, Verzeichnis 1, Akte 1204, Bl. 1. 33 Siehe Brief K. Dunckers an ihre Tochter Hedwig vom 17.10.1918, in : SAPMO BArch, NY 4445, Nr. 236, Bl. 90. 34 Siehe Brief Joffes an Lenin vom 13.{14.} Oktober 1918, in: RGASPI, Fonds 5, Verzeichnis 1, Akte 2134, Bl. 41 Rücks. 35 RGASPI, Fonds 5, Verzeichnis 3, Akte 80, Bl. 2 Rücks. 36 Schreiben Miljutins an Lenin, ohne Datum [nach dem 14. Oktober 1918], in: RGASPI, Fonds 5, Verzeichnis 1, Akte 1204, Bl. 1.

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Die Aussage Miljutins über die fehlende Verbindung der Spartakusführung zu den revolutionären Obleuten erstaunt. Denn es hätte nahe gelegen, dass alle den revolutionären Umsturz anstrebenden Kräfte zusammengearbeitet hätten. Eine Er- klärung findet sich in einem Bericht des führenden Spartakusmitglieds vom 15. September 1918. Pieck, der als desertierter Soldat im März 1918 nach Holland geflüchtet und in die Redaktion der deutschsprachigen sozialisti- schen Zeitung „Der Kampf“ in Amsterdam eingetreten war, hatte in der ersten Hälfte des Septembers illegal Berlin besucht und mit der Führung der Revolu- tionären Obleute gesprochen. Die revolutionäre Erhebung sei für den Januar 1919 geplant, so jedenfalls die Erwartung der deutschen Revolutionäre in der ersten Septemberhälfte 1918. Die Leitung der Betriebsvertrauensleute hätte die Kontakte zur Spartakusgruppe abgebrochen, da diese zu stark von der Politischen Polizei beobachtet werde.37 Die Politische Polizei in Berlin hatte Ende März und Mitte August 1918 der Spartakusorganisation vernichtende Schläge versetzt und schrieb sich deshalb Ende September 1918 das Verdienst zu, durch die Aushebung der Jo- giches-Gruppe Ende März und der Holz[Karl Schulz]-Gruppe Mitte August alle Pläne der revolutionären Linken für einen Generalstreik zunichte gemacht zu haben, zumal der Polizei im August das „gesamte Adressenmaterial“ [der Spar- takuszentrale] in die Hände gefallen sei.38 Offensichtlich war in die Spartakus- gruppe – wahrscheinlich durch die Zusammenarbeit mit den Hamburger Linksra- dikalen39 – ein Polizeispitzel eingedrungen. Die revolutionären Obleute hatten damit allen Grund, gegenüber der Spartakusgruppe Distanz zu wahren. Höchstwahrscheinlich hatte dies auch Auswirkungen auf die von der Spar- takusgruppe unter der Schirmherrschaft Joffes für die zweite Oktoberhälfte ange- strebten Massendemonstrationen in Berlin, an denen sich die USPD zunächst nicht beteiligte. Hier mag der dominierende Einfluss der zur Führung der revolu- tionären Obleute gehörenden Parteigrößen der Berliner USPD, des Reichtagsab- geordneten und des – in Vertretung für den inhaftierten Wilhelm Dittmann amtierenden – Parteisekretärs Ernst Däumig, eine große Rolle gespielt zu haben. Joffe jedenfalls stellte in einem weiteren ausführlichen Schreiben an Le- nin vom 19. Oktober auch nach der Spartakuskonferenz vom 13. Oktober keine wesentliche Verbesserung der Revolutionsaussichten in Deutschland fest: Wäh- rend die Armee zerfalle, gäbe es einen Stillstand der revolutionären Gärung im Proletariat, „weil es keine Partei gibt, die die Massen ständig revolutionieren und alle Fehler der regierenden Parteien ausnutzen konnte. Es ist zweifellos so, dass die Scheidemann-Leute [die MSPD] immer noch die große Popularität haben.“

37 Siehe Jean-Claude Montant: La propagande extérieure de la France pendant la Première Guerre Mondiale. L’exemple de quelques neutres européennes, thèse pour le doctorat de l’État , université de Paris I, Panthéon- Sorbonne 1988, S. 1489 f. 38 Siehe Bericht der Politischen Polizei Berlin vom 28. September 1918, in: Landesarchiv Berlin, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 15842, Bl. 131. 39 Siehe Volker Ullrich: Die Hamburger Arbeiterbewegung, Bd. 1, S. 558-563.

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Das hätte sich gerade bei Nachwahlen zum Reichstag in Berlin gezeigt, wo die MSPD 2/3, die USPD nur 1/3 der Stimmen erhalten habe.40 Eine von Joffe ange- regte Demonstration der Spartakusgruppe am 16. Oktober vor dem Reichstagsge- bäude und in der Innenstadt, der sich die Unabhängigen nicht angeschlossen hat- ten, machte wegen der geringen Beteiligung nur einen „kläglichen Eindruck“.41 Bei den Hamburger Linksradikalen konnte der Historiker Volker Ullrich eine Belebung der revolutionären Bestrebungen als Folge der Oktoberkonferenz fest- stellen. Dies gilt auch für Duisburg mit Ausstrahlung auf die gesamte Region. In beiden Fällen wurde von den Strafverfolgungsbehörden durch Verhaftung aller linksradikaler Aktivisten dieser intensivierten Vorbereitung auf die Revolution schnell ein Ende bereitet.42 Unter den in Berlin gegebenen Bedingungen war von einem Auftrieb der revolutionären Bewegung in der zweiten Oktoberhälfte und in den allerersten Novembertagen kaum etwas zu bemerken. Zwar gab es eine große Willkommensdemonstration am 23. Oktober für den per Amnestie aus dem Zucht- haus entlassenen Karl Liebknecht, der in den folgenden zwei Wochen bejubelte Auftritte auf USPD-Versammlungen hatte. Auch intensivierte der am 26. Oktober aus dem holländischen Exil zurückkehrende Wilhelm Pieck die Flugblattagitation der Spartakusgruppe erheblich. Doch zu der von den Spartakusführern erhofften Steigerung der Massenaktionen zur spontanen revolutionären Erhebung kam es nicht. Verzweifelt beklagte der Spartakusführer Hermann Duncker das Zurück- weichen der Demonstranten vor der Polizei beim Empfang Liebknechts am 23. Oktober sowie die Passivität der Berliner Arbeiterschaft am 5. November ange- sichts der revolutionären Aktionen in anderen Teilen Deutschlands, der Versamm- lungsverbote in Berlin und der Ausweisung der Russischen Botschaft.43 Ange- sichts der durch die Verhaftungswellen vom März und August 1918 dezimierten Führer- und Helferschar konnte die Spartakusgruppe in Berlin keinen größeren Einfluss auf die revolutionäre Entwicklung nehmen, da – wie Levi am 5. Novem- ber an Rosa Luxemburg schrieb – „uns ja augenblicklich jeder Mechanismus fehlt, der selbständig Massen in Bewegung setzen könnte...“44 Mit ihrem Revolutionskonzept der sich bis zur spontanen revolutionären Erhe- bung steigernden Massenaktionen steckte die Spartakusführung zwischen der USPD-Führung und den revolutionären Obleuten fest: Die Leitung der USPD hielt eine Revolution eigentlich für unmöglich, und die Obleute mit Däumig und Ledebour beharrten auf ihrem Plan einer sorgfältig vorbereiteten einmaligen Ak- tion, eines revolutionären Massenstreiks mit bewaffnetem Umsturz.45 In welchem

40 RGASPI, Fonds 5, Verzeichnis 1, Akte 2134, Bl. 46 41 Ebenda, Bl. 47. 42 Siehe Volker Ullrich: Die Hamburger Arbeiterbewegung, Bd.1, S. 608-610; BArch Berlin, R 3003, J 810/18, Nr. 1, insbeS. : Bl. 2-4. 43 Nachlass Hermann und Käte Duncker, BA Berlin, NY 4445, Nr.155, Bl.303, o. D.; Bl. 306, 5.11.1918. 44 Zit. nach Ottokar Luban, Zwei Schreiben der Spartakuszentrale an Rosa Luxemburg, S. 239. 45 Siehe hierzu Ottokar Luban: Spartakusgruppe, revolutionäre Obleute und die politischen Massenstreiks in Deutschland während des Ersten Weltkrieges, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen [der Ruhr-Universität Bochum], Heft 40.

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Ausmaße die gerade in den Wochen vor dem 9. November massenhaft verbreite- ten Spartakusflugblätter und die mündliche Agitation eines Karl Liebknecht zur Steigerung der Revolutionsbereitschaft beigetragen haben, ist schwer abschätzbar. Im Aktionsausschuss der revolutionären Obleute, dem einzigen wirkungsvollen revolutionären Gremium in Berlin, hat Liebknecht mit seinem Drängen auf bal- dige Aktionen auf jeden Fall bewirkt, dass die bremsende Wirkung der USPD- Führer nicht zur Geltung kam. Von der Konferenz der Spartakusgruppe vom 13. Oktober 1918 selbst ist infolge der bis in die zweite Oktoberhälfte andauernden Verhaftungsmaßnahmen keine revolutionierende Wirkung ausgegangen.

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ULLA PLENER Zum Verhältnis demokratischer und sozialistischer Bestrebungen 1918/1919

Zum Gesamtthema drei Vorbemerkungen:

Erstens: Demokratische und sozialistische Bestrebungen in der Arbeiterbewe- gung gründen sich auf den „der Menschheit angeborenen Drang zur Freiheit“ und auf die „Explosivkraft demokratischer Ideen“, von denen Friedrich Engels 1853 mit Bezug auf die französische Revolution 1789 sprach.1 Dabei geht es um die Entfaltung der schöpferischen Fähigkeiten des Menschen, um seine Selbstbestim- mung, und das ist gerade dem (lohn)arbeitenden Menschen eigen, ist es doch die Arbeit, die die materielle Grundlage für das Schöpfertum der Gattung Mensch bildet. Der Freiheitsdrang ist die ständige Triebfeder des Demokratiestrebens in den werktätigen Klassen und Schichten. Deshalb wurden in ihren Reihen die in der französischen Revolution verfochtenen demokratischen Prinzipien Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit schon 1789 aufgegriffen und darüber hinaus die soziale Freiheit und soziale Gleichheit aller Menschen – also die soziale Demokratie – gefordert. 1848 fand das seinen Niederschlag im Ruf der Pariser Proletarier nach der „sozialen Republik“; 1871 wurde die Pariser Kommune die bestimmte Form einer solchen Republik; 1905 und seit Februar 1917 die Sowjets in Rus- sland. 1918/1919 waren das nach deren Vorbild in Deutschland und anderswo in Europa die Räte.2 Zweitens: Ausdruck der „Urwüchsigkeit“ des Demokratiestrebens und seiner sozialen Zuspitzung war (und bleibt) die Spontaneität der dafür immer wieder ent- stehenden Bewegungen und deren spontanes Schöpfertum, die konkreten Formen der gesellschaftlichen Organisation betreffend: Kommune, Sowjets, Räte, nach 1945 in Deutschland Komitees und Ausschüsse verschiedener Art – und das von unten, aus der Gesellschaft heraus und stets als Formen der unmittelbaren, der (Basis)Demokratie. Wohl gerade deshalb waren sie in ihrer überwiegenden Mehr- heit radikal-demokratisch, d.h. sozial orientiert - und gerade deshalb forderten und praktizierten sie die Einheit von legislativer und exekutiver Gewalt.3 Drittens: Zugleich ist auf Faktoren hinzuweisen, die das spontane Demokratie- streben der Lohnarbeitenden hemmen. Dazu gehört vor allem der Widerspruch ih- rer Klassenlage im Kapitalismus: Diese ruft – schon durch den Doppelcharakter

1 Engels in MEW, Bd. 9, S. 17. 2 Siehe Peter von Oertzen: Betriebsräte in der Novemberrevolution, Düsseldorf 1963, S. 298. 3 Siehe dazu Ulla Plener: Über Spontanität, zwei Demokratietraditionen in der Arbeiterbewegung und die Position von , in: Republik im Niemandsland. Ein Schwarzenberg Lesebuch, Schkeuditz 1997, S. 227 ff.

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der kapitalistischen Lohnarbeit bedingt (sie ist entwürdigend-abhängig – und be- dürfnisbefriedigend) – nicht nur die ständige Rebellion gegen politische und ökonomische Abhängigkeiten hervor, sondern auch die Anpassung an diese.4 Die Entwicklung der materiellen Produktivkräfte, die zyklische Bewegung der kapita- listischen Produktion mit ihren wirtschaftlichen Aufschwüngen boten dem Ka- pital periodisch und immer wieder auf höherer Stufe die Möglichkeit, die Bedürf- nisse der materiellen, später zunehmend auch der geistigen Existenz der Lohnar- beitenden in einem bestimmten Maße zu befriedigen und damit Teile der Lohnar- beiterschaft an das System zu binden, was sich z. T. in der Beschränkung der Rebellion auf Reformen innerhalb des Kapitalismus niederschlägt. In dieser Rich- tung wirkt auch der Doppelcharakter der bürgerlichen parlamentarischen Demo- kratie: Sie eröffnet der Lohnarbeiterschaft und anderen demokratischen Kräften Möglichkeiten für ihren politischen und sozialen Emanzipationskampf; und sie ist zugleich eine Form der bourgeoisen Herrschaft, deren politische Einrichtungen (allgemeines Wahlrecht, Parlamente, Versammlungs- und Pressefreiheit u.a.m) auch größeren Teilen der Arbeiterschaft zugute kommen und sie so an die bürger- liche Demokratie binden.5 Und das umso nachhaltiger, je länger diese Verhältnisse wirken, je verzweigter dieses politische System, je umfangreicher und organisier- ter die Lohnarbeiterschaft ist – ein (der) Grund, warum es in Russland 1917 leich- ter war als in Westeuropa, die Revolution zu beginnen, aber – so Lenin – schwe- rer sein würde, sie dort fortzusetzen.6 Diese drei Faktoren – das urwüchsige Demokratiestreben in der Lohnarbeiter- schaft, seine Spontaneität und die gegen ihn wirkenden Hemmnisse – bestimmten den Ablauf der Revolution von 1918/1919 in Deutschland. Nicht zuletzt schlug sich während der Revolution konkret nieder, was Oskar Negt generalisierend zum Zusammenhang von „Arbeit und menschliche Würde“ fest- stellt: Es ging – und geht auch heute – um „reichhaltigere Formen der Arbeit“, „in denen die Menschen sich in ihren Ansprüchen an Selbstverwirklichung wiederer- kennen, weil sich ihre individuelle Tätigkeit gleichzeitig als verantwortungsbewus- ste Arbeit für das Gemeinwesen erweist. Die in der lebendigen Arbeit steckenden Potentiale schöpferischer Phantasie und Gestaltungsmacht lassen sich innerhalb der von Kapital und Markt definierten Grenzen kaum sinnvoll und ausreichend entfal- ten. So wandern sie aus, verlassen das offizielle System, verpuppen sich gleichsam, indem sie sich in vielfältig verkleidete Arbeitsutopien flüchten. Aber diese Arbeit- sutopien verschwinden nicht einfach, sondern bilden riesige Vorratslager, die von Zeit zu Zeit auf Verwirklichung drängen und weit Entferntes manchmal ganz in die Nähe rücken.“7 Die Revolution 1918/1919 war so ein Zeitpunkt.

4 Siehe Engels in MEW, Bd. 2, S. 344/345; Marx in ebenda, Bd. 23, S. 765; Lenin, Werke, Bd. 27, S. 206. 5 Siehe dazu Ulla Plener: Arbeiterbewegung - demokratische Hauptkraft im Kapitalismus, Berlin 1988, S. 182- 183, 187 (mit Verweisen auf entsprechende Aussagen von Marx, Engels, Rosa Luxemburg, Lenin). 6 Siehe Lenin, Werke, Bd. 27, S. 85; Bd. 31, S. 104; Bd. 32, S. 498/499. 7 Oskar Negt: Kleiner Epilog zu: Arbeit und menschliche Würde, Göttingen 2001, S. 714.

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Demokratische und sozialistische Bestrebungen in der Revolution – eine gewerk- schaftliche Sicht

Die sozialistisch orientierten Gewerkschaften reflektierten seit ihrem Entstehen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die demokratischen, um soziale Rechte und Freiheiten erweiterten Bestrebungen in der Lohnarbeiterschaft: Als Verfech- ter der politischen Ökonomie der Lohnarbeitenden8 stritten sie besonders für deren (kollektive) soziale Rechte, in Deutschland etwa seit dem Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert auch für deren Mitbestimmungsrechte im Betrieb und In- dustriezweig bzw. in der Wirtschaft. Der demokratische Fortschritt im Kapitalismus, die soziale Gesetzgebung ein- geschlossen, war in Westeuropa, so auch in Deutschland, dem Wirken der Arbei- terbewegung, auch der gewerkschaftlichen, zu verdanken. Zugleich reflektierten sich in dieser Bewegung, und zwar in verschiedenen ihrer Teile jeweils unter- schiedlich, die Demokratiebestrebungen in der Lohnarbeiterschaft ebenso wie die o.g. Hemmnisse. So auch im 1893 gegründeten Deutschen Holzarbeiterverband (DHV), an dessen Spitze jahrzehntelang stand.9 Dieser bestimmte während des Weltkriegs und in der Revolution 1918/1919 (sowie dann bis 1933) konzeptionell und in der Tat das Wirken der in der Generalkommission vereinten sozialistisch orientierten Gewerkschaften entscheidend mit (obwohl er nie Mit- glied der Generalkommission war). Die in dieser Gewerkschaft 1918/1919 vertre- tenen Positionen liegen den folgenden Ausführungen zugrunde.10 Um das Agieren dieser Gewerkschafter in der Novemberrevolution zu verste- hen, müssen die Leitlinien, die ihr Handeln schon vor 1918 bestimmt hatten, ge- nannt werden. 1. Unter Sozialismus verstand man im DHV eine menschenwürdige, von Aus- beutung u.a. Abhängigkeiten freie gesellschaftliche und Rechtsordnung, in der je- dem Menschen alle materiellen und geistigen Güter zugänglich sind und er sich als Persönlichkeit frei entfalten kann. Diese angestrebte Ordnung wurde ethisch (aus dem Menschsein des Arbeiters) und politökonomisch (das Problem Eigen- tumsordnung, gestützt auf Marx, eingeschlossen) begründet. Es ging um den Zu- sammenhang Menschsein – Gerechtigkeit (gleiches Recht für alle) – Eigentums- ordnung – Demokratisierung der Wirtschaft, also um radikale, weil auch soziale und die Wirtschaft einschließende, Demokratie. Der Zusammenhang von Demo- kratie und Sozialismus wurde eindeutig artikuliert.

8 Siehe dazu Marx in: MEW, Bd.16, S. 11. 9 Peter v. Oertzen zählte ihn neben Paul Umbreit zu den „zwei klügsten sozialdemokratischen Gewerkschaf- ter(n)“. Siehe Ders. , Betriebsräte, S. 268. 10 Siehe dazu auch Ulla Plener: Gewerkschaftliche Positionen 1918/1919 zu Aktionen und Gewalt, Sozialisie- rung und Räten, in: Revolution – Reform – Parlamentarismus, Schkeuditz 1999, S. 91-95. 11 Siehe Holzarbeiter-Zeitung (HZ), vom 5.1.1918.

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2. Die politische Ökonomie der Lohnarbeiterschaft zugrundegelegt, wurde für die materielle und geistige Höherentwicklung der Arbeiterschaft auf dem Wege der Reformen noch im Kapitalismus gestritten; nicht zuletzt hielt man dafür eine funktionierende Wirtschaft für notwendig. 3. Der Staat wurde als Träger der gesellschaftlichen Gesamtinteressen (des „Volksganzen“) verstanden, also auch der Arbeiterschaft (aber nicht nur ihr!) ver- pflichtet. 4. Die ethische Motivation bedingte, dass im Kampf um politische und soziale Rechte bewaffnete Gewalt, die (im Wortsinne) „Gut und Blut der Arbeiter“ ge- fährde, abgelehnt wurde; so auch der Bürgerkrieg (und der politische Mas- senstreik), der Gewalt heraufbeschwöre, die Wirtschaft zerstöre, den Massen Not und Elend bringe. 5. Die erstrebte Demokratisierung der Eigentumsordnung, der Wirtschaft könne nur allmählich, schrittweise erfolgen. Gewerkschaftliche Organisation und Aufklärung seien dafür die Hebel (Organisation kam vor Aktion!), die Einheit der Arbeiterbewegung (auch der politischen) für den Erfolg notwendig. Zusammengenommen bedeuteten diese Leitlinien: die demokratischen und so- zialen (sozialistischen) Anliegen wurden nicht voneinander getrennt – sie sollten im Laufe eines allmählichen (Transformations-) Prozesses erreicht werden. Die genannten Leitlinien blieben 1918/1919 für die Führung des DHV maßge- bend – erfuhren aber infolge der Revolution eine gewisse Radikalisierung und wurden konkretisiert. Hier soll auf die Stellung zu zwei Grundfragen der Revolu- tion näher eingegangen werden: zur Sozialisierung und zu den Räten. Die Revolution selbst wurde als Ergebnis spontaner politischer Aktionen ohne Widerspruch angenommen: Schon die Oktober-Revolution von 1917 in Russland wurde in der „Holzarbeiter-Zeitung“ (HZ), dem Organ des DHV, zustimmend re- flektiert11; den politischen Massenstreiks in Deutschland im Verlauf des Jahres 1918 Verständnis entgegengebracht; die am 3. Oktober 1918 eingesetzte Regie- rung als „Volksregierung“ und „Gewähr für eine demokratische Entwicklung im Interesse der Arbeiterklasse“ begrüßt. Am 26.10.18 hieß es in der HZ, eine neue Epoche habe im Zeichen der Weltrevolution begonnen; Deutschland befinde sich „mitten in der Revolution, die sich konsequent und unaufhaltsam weiterent- wickelt“. Und: „Wir können den Gang der Revolution beeinflussen, aber nicht etwa durch die Entfesselung des blutigen Bürgerkrieges, sondern durch den festen Zusammenschluss der Arbeiter.“ Der Abschluss des Abkommens der Gewerkschaften mit den Unternehmerver- bänden vom 15.11.18 sei, so gab Leipart (er war der Verhandlungsführer seitens der Gewerkschaften) zu, „durch die Revolution erheblich beschleunigt worden“.12 12 Nach: Ulla Plener: Theodor Leipart (1867-1947). Persönlichkeit, Handlungsmotive, Wirken, Bilanz - Ein Le- bensbild mit Dokumenten; 1. Halbband: Biographie, 2. Halbband: Dokumente (im folgenden Leipart II). Ber- lin 2000/2001. Hier Leipart II, S. 272. So Leipart auch schon am 3.12.18: „... tatsächlich (habe) die Revolu- tion insoweit einen Einfluss auf die Verhandlungen mit den Unternehmervertretern ausgeübt..., dass wir nach der Revolution naturgemäß weitergehende Forderungen gestellt haben“. Ebenda, S. 235.

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Und nicht nur das: Der Inhalt des Abkommens konnte gerade aufgrund des 9.11. um den Achtstunden-Arbeitstag u. a. Festlegungen, für die die Gewerkschaften Jahrzehnte gekämpft und die die Arbeitgeberseite noch am 8.11. abgelehnt hatte, erweitert werden. Das Abkommen war ein durch die Revolution bewirkter Schritt nach vorn bei der Durchsetzung der politischen Ökonomie der Lohnarbeiterschaft gegen die politische Ökonomie des Unternehmertums. Auf dem Verbandstag des DHV im Juni 1919 schätzte Leipart ein: „Die Arbei- ter haben einen großen Sieg errungen, aber(!) der Kampf ist noch nicht zu Ende. Der Kapitalismus hat uns Konzessionen machen müssen, aber er ist noch nicht be- siegt.“13 Und auf dem Gewerkschaftskongress in Nürnberg im Juli 1919 sagte er: Nach der (November-) Revolution habe man geglaubt, „bei der schnellen Durch- führung der politischen Revolution sei auch die soziale Revolution bald vollen- det“; aber: „Man vergaß dabei die alte Wahrheit, dass die Demokratie nur die er- ste Voraussetzung für die Durchführung des Sozialismus ist.“14 Da bewegte sich Leipart ganz auf der Linie von Marx und Engels (die auch Rosa Luxemburg und Lenin vertraten). Sozialismus verband man im DHV (bzw. setzte ihn gleich) mit Sozialisierung. Die Sozialisierung wurde als „die Überführung der Produktion in den Besitz und die Verwaltung der Allgemeinheit“ erläutert (so Fritz Tarnow, Leiparts Gleichgesinnter und Nachfolger als Vorsitzender des DHV, auf dem Verbandstag des DHV im Juni 1919).15 Im Einklang damit führte Leipart in Nürnberg im Juli 1919 aus: Aufgabe der Gewerkschaften sei es, die soziale Revolution durchzu- führen, den Sozialismus zu verwirklichen16 – und das hieß: die Sozialisierung der Produktion, wie Tarnow das erläutert hatte, was aber „eine längere Zeit dauern wird“. Leipart ebenda: „Ich bin gegen jede unberechtigte Verzögerung, gegen jede Verschleppung der Sozialisierung“, und er empfiehlt, in den „Richtlinien für die künftige Wirksamkeit der Gewerkschaften“, die er auf dem Kongress begründete, „auszusprechen, dass die Gewerkschaften im Sozialismus die höhere Form der volkswirtschaftlichen Organisation erblicken. Also auch die Gewerkschaften ver- langen die baldige Verwirklichung des Sozialismus...“ Dieses (erstmalige) pro- grammatische Bekenntnis der freien Gewerkschaften zum Sozialismus wurde in die in Nürnberg beschlossenen „Richtlinien“ aufgenommen.17 Sozialisierung bedeutete also im Verständnis dieser Gewerkschafter, den So- zialismus zu verwirklichen. Da die Revolution, so Leipart in Nürnberg, mit der politischen Demokratie „nur die erste Voraussetzung für die Durchführung des Sozialismus“ gebracht habe, müsse „die Revolution fortgesetzt werden“. Aber: „nicht durch Putsche, nicht durch Waffengewalt, auch nicht mit wilden Streiks...

13 Leipart II, S. 261. 14 Ebenda, S. 270. 15 Nach HZ, 28.6.1919. 16 Leipart II, S. 271, 276. 17 Siehe Leipart II, S. 276.

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Wir wollen die strikte Durchführung der Demokratie, des Mehrheitswillens in der Gesetzgebung und Verwaltung. Wir wollen diese Entwicklung auch nicht in dem langsamen bedächtigen Tempo der Evolution, sondern ich für meinen Teil bin auch damit einverstanden, dass sie gefördert wird im Tempo der Revolution, mit festem energischen Willen und äußerster Anstrengung aller geistigen und physi- schen Kräfte.(Beifall) Dazu können und wollen die Gewerkschaften mithelfen mit der ganzen Kraft unserer geeinten(!) starken Organisation.“18 Ein tragender Gesichtspunkt war dabei: Die Sozialisierung könne nicht das Werk der Arbeiter allein sein, es müssten dazu die Fachleute – Techniker, Ingeni- eure, Betriebsleiter – herangezogen werden, um ein störfreies Funktionieren der sozialisierten Wirtschaft – auch während und vor allem nach der Revolution – zu sichern. Auf dem DHV-Gewerkschaftstag im Juni 1919 unterbreitete Tarnow kon- krete Vorstellungen über die Sozialisierung in der Holzindustrie.19 Neben der Sozialisierung standen im Zentrum der gewerkschaftlichen Diskus- sion 1918/1919, so auch im DHV, die überall spontan entstandenen Räte. Auf der Gauvorsteherkonferenz des DHV Anfang März 1919 hieß es dazu: „Die Arbei- terräte sind eine Errungenschaft der Revolution. Sie sind kein einheimisches Ge- wächs, sondern aus dem revolutionären Russland übernommen“; es hätten auch andere, „der deutschen Eigenart angepasste“ Organisationsformen „Träger des Revolutionsgedankens“ sein können, aber: „Wir müssen die Tatsache anerkennen, dass der Gedanke der Arbeiterräte in der deutschen Arbeiterschaft schnell Boden gefasst hat“, und es stünde „doch unzweifelhaft fest, dass sehr große Teile der deutschen Arbeiterschaft die Erhaltung und den Ausbau des Rätesystems wün- schen“; Arbeiterräte und Gewerkschaften seien keine Gegensätze, sie sollten eng zusammenarbeiten.20 Dabei wurde zwischen Betriebsräten und territorialen Räten unterschieden. Die Betriebsräte wurden als von Arbeitern des jeweiligen Betriebes demokra- tisch gewählte Organe verstanden, die ihre Mitbestimmung, auch Mitentschei- dung in allen(!) sie betreffenden Betriebs- und Produktionsfragen und damit ihre neben dem Unternehmer gleichberechtigte Stellung im Betrieb realisieren sollten. Sie (nicht die Gewerkschaften) sollten die Träger der Produktion im Betrieb sein.21 Ihre Aufgaben und Rechte sollten in Tarifverträgen festgeschrieben werden. Hier ging es um die „wirtschaftliche Demokratie im Betriebe“ – auch als Weiter- führung der „politischen Revolution“ vom November hin zur „sozialen Revolu- tion“: „Die gleichberechtigte Stellung, d.h. also die wirtschaftliche Demokratie im Betriebe, ist noch nicht der Sozialismus, wohl aber eine seiner Voraussetzungen“, sie sei deshalb „geradezu der Brennpunkt des wirtschaftlichen Klassenkampfes zwischen Kapital und Arbeit“ geworden.22 Die Gewerkschaften würden dabei

18 Leipart II, S. 270. 19 Siehe dazu Plener, Gewerkschaftliche Positionen 1918/19. 20 HZ, 5.4.1919. 21 Leipart II, S. 253.

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nicht überflüssig werden: Sie hätten gegenüber der Betriebsleitung (auch gegenü- ber dem Betriebsrat als Träger der Produktion) die ökonomischen Interessen (Lohnhöhe, Arbeitszeit) der Lohnarbeitenden wahrzunehmen (und das auch in so- zialisierten Betrieben, auch später im Sozialismus!). Den Regierungsentwurf für ein Betriebsrätegesetz kritisierte Leipart als unzureichend.23 Die territorialen Arbeiterräte wurden von Leipart (im Unterschied z. B. zu Fritz Paeplow vom Bauarbeiterverband, der sie strikt ablehnte) als „politische Organe der Revolution“ gefasst und anerkannt. Sie sollten „gewählt (werden) in Urwah- len, nicht etwa aus den Betriebsräten heraus, sondern durch Urwahl der Gesamt- heit der Arbeiterschaft eines Ortes, eines Gemeindebezirks oder eines größeren Wirtschaftsgebiets“ und „könnten dann neben den ihnen in der allgemeinen Wirt- schaftsorganisation gesetzlich zugewiesenen Rechten und Pflichten auch die so- zialen und kommunalpolitischen Aufgaben übernehmen“ – „als Vertretung der Ar- beiterschaft innerhalb des Gemeindebezirks“. Über die praktische Durchführung dieser Ideen sollte noch nachgedacht werden: „Wie kann man die Arbeiterräte in das Wirtschaftsleben einfügen, wie kann man ihnen wirklich praktische Aufgaben zuweisen, die sie auch erfüllen können? Das ist nicht so einfach, das kann man nicht aus dem Handgelenk schütten, sondern das muss eingehend überlegt und er- wogen werden.“24 Und: „Die Arbeiterräte als politische Organe sollten für die Lö- sung der wirtschaftlichen Aufgaben die Gewerkschaften heranziehen, die in jah- relanger Arbeit Erfahrungen gesammelt haben und die insbesondere bei der bevorstehenden Sozialisierung dazu reifer Industriezweige unentbehrlich sind“; sie „bilden nach wie vor die stärkste Gewähr für eine dauerhafte Vertretung der wirtschaftlichen Arbeiterinteressen“.25 Im Zusammenhang mit der Rätediskussion unterbreitete Leipart einige Überle- gungen zur „allgemeinen Wirtschaftsorganisation“, deren tragende Säule „Selbstver- waltungsorgane der Volkswirtschaft“ sein sollten, zusammengesetzt aus Vertretern der Arbeiter, der Betriebe, der Gemeinden, des Handels, der Konsumenten usw.26 Zusammengenommen enthielten die während der Revolution angestellten Überlegungen zu Sozialisierung und Räten (den betrieblichen und den territoria- len) erste Vorstellungen zur Demokratisierung der Wirtschaft (Wirtschaftsdemo- kratie) als transformatorischer - demokratischer - Weg zum Sozialismus. Sie wur- den in den 20er Jahren weiterentwickelt.27

22 Jahrbuch des DHV für 1919, Berlin 1920, S. 25-27. 23 Siehe Leipart, u.a. auf dem Nürnberger Kongress, in: Leipart II, S. 273/264. 24 So Leipart in der Vorständekonferenz der freien Gewerkschaften am 25.4.1919. Siehe Leipart II, S. 251-253. 25 Leipart II, S. 239. 26 Leipart II, S. 253. Siehe Peter von Oertzen: Sozialisierung im Marxschen Sinne sei ein System radikaler de- mokratischer Selbstverwaltung, in: Ders. , Betriebsräte, S. 230. 27 Siehe dazu Ulla Plener: Wirtschaften fürs Allgemeinwohl – Weg zur sozialen Gerechtigkeit. Zur Geschichte und Aktualität der sozialdemokratischen Ur-Idee: Wirtschaftsdemokratie, Berlin 2006 (2. erweiterte Auflage), Kapitel II, S. 19-26. Zum Umgang mit der Idee Wirtschaftsdemokratie nach dem 2. Weltkrieg ebenda, Kapi- tel III, S. 27-49; in den Jahren 1990-2000 ebenda, Kapitel IV, S. 50-124.

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Die demokratischen Forderungen der Gewerkschaften während der Revolution – mit den Aktionen und vor allem der spontanen Rätebewegung im Rücken – fan- den ihren Niederschlag in Geboten der am 11. August 1919 in Weimar ange- nommenen (bürgerlichen) Verfassung (Art. 151, 159, 165).28 „Den Gewerkschaf- ten war damit“, so Michael Schneider, „durch die Verfassung das Recht auf Mit- bestimmung und Einflussnahme nicht nur im sozialpolitischen Bereich, sondern auch bei der Gestaltung des gesamten Wirtschaftslebens zugesprochen worden...“29 Die vom sozialistischen Ideal geleiteten Vorstellungen für die Praxis, wie sie von Gewerkschaftern um Theodor Leipart während der Revolution entwickelt wurden, waren konkreter und führten weiter als die Postulate des immobilen Kautskyschen „Marxismus“, der in der Revolution keine „Anleitung zum Han- deln“ bieten konnte.30 Diese Gewerkschafter orientierten sich an der Demokra- tisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse als Prozess, sie stritten für die De- mokratisierung in der Wirtschaft, konkret für die Demokratisierung der Ver- fügungsgewalt über das Eigentum an den volkswirtschaftlich entscheidenden Pro- duktionsmitteln, zusammengefasst in der Erkenntnis: über konsequente – radi- kale, weil die Wirtschaft einschließende, – Demokratie zum Sozialismus. 90 Jahre danach bleiben diese Vorstellungen für die neue Linke aktuell und an- regend. Auch heute gilt: Nur die allseitige, alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens – Wirtschaft, Medien, Bildung u.a.m. – erfassende radikale Demokratisie- rung führt zum Sozialismus. Denn dieser kann nichts anderes sein als die ver- wirklichte konsequente – also radikale – Demokratie.31 Und: Das kann nur infolge einer breiten und starken Bewegung „von unten“, aus der Gesellschaft heraus durchgesetzt werden.

28 Nach Art. 151 sollte die Ordnung des Wirtschaftslebens „den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen“; Art. 159 bestimmte die rechtli- che Voraussetzung der Gewerkschaftsarbeit: „Die Vereinigungsfreiheit zur Wahrung und Förderung der Ar- beits- und Wirtschaftsbedingungen ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet“; Art. 165 erklärte Ta- rifverträge als rechtsverbindlich und legte fest: „Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken.“ Es waren Ein- richtungen vorgesehen wie Betriebs- und Bezirksarbeiterräte sowie ein Reichsarbeiterrat; Bezirkswirtschafts- räte und der Reichswirtschaftsrat, die Arbeits- und Wirtschaftsverhältnisse regeln sollten. Siehe Verfassungen der deutschen Länder und Staaten. Von 1816 bis zur Gegenwart, Berlin 1989, S. 250-253. 29 Michael Schneider: Höhen, Krisen und Tiefen. Die Gewerkschaften in der Weimarer Republik 1918 bis 1933, in: Ulrich Borsdorf (Hrsg.): Geschichte der deutschen Gewerkschaften. Von den Anfängen bis 1945, Köln 1987, S. 302. 30 Siehe dazu Peter von Oertzen: „Der blinde Glaube an die Macht der `Entwicklung` und die Verwerfung jeder konkreten Zukunftsperspektive hatten die Sozialisten an der Schwelle der Revolution ohne ein brauchbares Aktionsprogramm gelassen. Nur für den Ausbau der Sozialpolitik und vor allem für die Schaffung einer parlamentarischen Demokratie besaß die Sozialdemokratie praktikable Vorstellungen.“ (Ders. , Betriebsräte, S. 253/254; auch S. 35, 37, 44, 49, 231-233, 264, 291). 31 Siehe dazu Plener, Wirtschaften, Kapitel V und VI, S. 125-190.

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Rosa Luxemburg zu Sozialismus und Demokratie in der Revolution 1918. Drei Bemerkungen

1. Während der Revolution war Rosa Luxemburg der Meinung, der Sozialismus stünde unmittelbar auf der Tagesordnung. Ihr Satz auf dem Gründungsparteitag der KPD, „Wir sind wieder bei Marx, unter seinem Banner“, meinte genau das: Die KPD sei bei dem Marx, der 1848 der Auffassung war, die Bewegung stünde unmittelbar vor der Verwirklichung des Sozialismus. Nachdem sie die von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest vom Februar 1848 benannten 10 Maß- nahmen wiedergegeben hatte, die 1848 für „die fortgeschrittenen Länder... ziem- lich allgemein in Anwendung kommen können“32, schlussfolgerte sie: „Wie Sie sehen, sind das mit einigen Abweichungen dieselben Aufgaben, vor denen wir heute unmittelbar stehen: Die Durchführung, Verwirklichung des Sozialismus.“ Nach der Revolution hätten Marx und Engels diesen Standpunkt als Irrtum aufge- geben. Aber 1918: „... was damals Irrtum war, (ist) heute Wahrheit geworden; und heute ist unmittelbare Aufgabe, das zu erfüllen, wovor Marx und Engels 1848 standen“.33 Das war für sie die Konsequenz der Entwicklung seit Ende des 19. Jahrhun- derts. Schon in ihrem Zusatz zur Resolution über Militarismus und internationale Konflikte auf dem Stuttgarter Kongress der Sozialistischen Internationale 1907 (vom Kongress angenommen, auf den SI-Kongressen 1910 und 1912 bestätigt) hatte sie formuliert, im Falle des Kriegsausbruchs seien die Arbeiter und ihre par- lamentarischen Vertreter verpflichtet, „für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, um die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur politischen Aufrüttelung der Volksschich- ten und zur Beschleunigung des Sturzes der kapitalistischen Klassenherrschaft auszunutzen“.34 In der Junius-Broschüre schrieb sie 1916: Der „brutale Siegeszug des Kapitals in der Welt... stellte die kapitalistische Weltherrschaft her, auf die al- lein die sozialistische Weltrevolution folgen kann“.35 Darauf war ihr Wirken an der Spitze der Spartakusgruppe bzw. des Spartakusbundes gerichtet. Jedoch: Als die Revolution gekommen war, hatten sie und die anderen Führer des Spartakusbundes keine konkreten Maßnahmen, Schritte formuliert, an denen sich die in Bewegung gekommenen Massen in ihrer praktischen Tätigkeit orien- tieren konnten, – auch nicht die im Kommunistischen Manifest von 1848 ent- haltenen, die ja „mit einigen Abweichungen“ durchaus hätten eine Orientierung sein können. „Alle Macht den Räten!“ – ja, aber was sollten diese konkret tun,

32 MEW, Bd. 4, Berlin 1959, S. 481/482. 33 Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin 1974, S. 489/490. 34 Dies,. ebenda, Bd. 2, Berlin 1972, S. 236. 35 Dies, ebenda, Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 160. 36 Ingo Materna: Januar 1919. „Die Ordnung herrscht in Berlin“, in: Neues Deutschland, Berlin, Beilage „Rosa und Karl“, Januar 2009, S. 4/5.

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welche Maßnahmen sollten sie sofort ergreifen? Ingo Materna zu den Ereignissen in Berlin Anfang Januar 1919: „... Auch die am 6. Januar erneut im Tiergarten zu Hunderttausenden zusammenströmenden Massen erfuhren nicht, wie es weiterge- hen sollte: ‚Nieder mit der Gewaltherrschaft der Ebert-Scheidemann. Es lebe der revolutionäre Sozialismus!’ Aber was tun? Enttäuscht verließen die Demonstran- ten das Zentrum...“ Ein USPD-Arbeiterrat schilderte am 9. Januar die Lage nach dem 6./7. Januar 1919 so: „Die Massen riefen nach den Führern, um die Direkti- ven zu weiteren Taten zu bekommen, doch die Führer waren nicht vorhanden...“36 Das fehlende Maßnahmeprogramm als „normalen“, natürlichen Zustand be- gründete Rosa Luxemburg vor der Novemberrevolution sogar „theoretisch“ in ihrem (Selbstverständigungs-) Manuskript „Zur russischen Revolution“: ... „die praktische Verwirklichung des Sozialismus als eines wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Systems“ liege „völlig im Nebel der Zukunft“, sie werde durch die schöpferische Kraft der (an der Bewegung) teilnehmenden Volksmasse realisiert.37 Nun, im November/Dezember 1918 und im Januar 1919, war die aktive Volks- masse in Bewegung, sie bildete örtliche und Betriebs-Räte – aber sie wusste nicht, was konkret zu tun war. Es kam 1918, wie Friedrich Engels es in seiner Kritik des Programmentwurfs der Sozialdemokratie im Juni 1891 vorausgesagt hatte: „... Man schiebt allgemeine, abstrakte politische Fragen in den Vordergrund und ver- deckt dadurch die nächsten konkreten Fragen, die Fragen, die bei den ersten großen Ereignissen, bei der ersten politischen Krise sich selbst auf die Tagesord- nung setzen. Was kann dabei herauskommen, als daß die Partei plötzlich, im ent- scheidenden Moment, ratlos ist, daß über die einschneidendsten Punkte Unklar- heit und Uneinigkeit herrscht, weil diese Punkte nie diskutiert worden sind.“38 Das war 1918/1919 der Fall – und die Mehrheit der Lohnarbeitenden und anderer Volksschichten folgte den rechtssozialdemokratischen Führern. 2. Rosa Luxemburg unterlag hier wohl ihrer – weitgehend illusionären – Vor- stellung von „der Arbeiterklasse“, die (in ihrer „Ganzheit“?) die kapitalistische Klassenherrschaft stürzen und „aus sich heraus“ die richtigen Maßnahmen ergrei- fen werde. Auch sie rechnete wohl (wie Lenin und die Bolschewiki 1921, was Clara Zetkin diesen damals vorhielt) „mit dem deutschen Proletarier als einer ge- schichtlichen Kategorie und nicht mit dem deutschen Arbeiter, wie er konkret ist“.39 Im Brief an Franz Mehring vom 1. Juli 1917 kritisierte Clara Zetkin die Spartakusführung wegen ihrer Ablehnung, an der nach Stockholm einberufenen sozialdemokratischen Friedenskonferenz teilzunehmen. Sie erwarte, schrieb sie, nichts von den Verhandlungen, dennoch hätten die Spartakusdelegierten dort eine wichtige Aufgabe: Sie müssten dort „klären & vorantreiben ... wegen der Massen,

37 Siehe Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 359/360. 38 Friedrich Engels, MEW, Bd. 22, Berlin 1963, S. 234. 39 Clara Zetkin an Lenin, 14.4.1921, in: Briefe Deutscher an Lenin 1917-1923, Berlin 1990, S. 230. 40 Zit. nach Ottokar Luban: Der Einfluss Clara Zetkins auf die Spartakusgruppe 1914-1918, in: Ulla Plener (Hrsg.): Clara Zetkin in ihrer Zeit. Neue Fakten, Erkenntnisse, Wertungen, Berlin 2008, S. 83.

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die mit den modernen Umlernern oder mit den zahmen Oppositionellen gehen. Lediglich auf die muss es uns ankommen, wenn wir politisch kämpfen & nicht [nur] propagieren wollen... Ich finde, unsere [Spartakus-]Freunde begehen den al- ten Fehler weiter, dem wir unsere Erfahrung und Enttäuschung verdanken. Sie rechnen nicht mit der Psyche der Arbeitermassen, namentlich der deutschen Ar- beitermassen, & diese Psyche ist auch ein geschichtlicher Faktor... Die Ereignisse haben bewiesen, dass der Deutsche das passivste, unpolitischste aller ‚sozialen Tiere’ ist... Aber gerade weil dem so ist, müssen wir mit einer langsamen, schmerzlichen Aufklärungs- & Erziehungsarbeit rechnen... Je kleiner noch unsere Zahl & je geringer unsere Mittel, umso notwendiger, dass wir jede Gelegenheit nutzen, um zu den Massen zu reden...“40 3. In seiner jüngsten Veröffentlichung befleißigt sich Manfred Scharrer (wie schon in der Monographie „Freiheit ist immer...“ Die Legende von Rosa und Karl, Berlin 2002) des „Nachweises“, Rosa Luxemburg habe seit November 1918 die „maßlose Kampagne gegen die Nationalversammlung... angeführt“ und „die Ab- kehr von den Prinzipien einer allgemeinen demokratischen Republik... theoretisch begründet“, indem sie die „Diktatur des Proletariats“ forderte. „Für Demokraten“ gebe es „keinen Grund, Rosa Luxemburg mit ihrer anti-demokratischen Wendung zur proletarischen Diktatur als Verfechterin der wahren Demokratie zu feiern“.41 Damit ist die Frage nach dem Verhältnis von Demokratie und Sozialismus in Rosa Luxemburgs Programm gestellt und danach, was „wahre Demokratie“ ist. Scharrers „Beweisführung“ (besser: Trick) besteht in dreierlei: Zum einen setzt er den Begriff Diktatur des Proletariats gleich mit „all den Ver- brechen, die im Namen des [sowjetischen] Kommunismus und Sozialismus ver- übt wurden“ in den vergangenen 70 Jahren – und er unterstellt Rosa Luxemburg ein solches Verständnis der proletarischen Diktatur. Zum anderen vertritt er – wie schon seinerzeit Kautsky und heute alle bürger- lichen Ideologen – das bürgerlich-liberale Verständnis von Demokratie, von de- mokratischer Republik: Demokratie reduziert er auf die individuellen freiheitli- chen Bürgerrechte. Zum dritten unterstellt er, die sozialistische bzw. sozialdemokratische Arbeiter- bewegung hätte ebenfalls nur dieses liberale Demokratieverständnis vertreten. Es ist schlicht absurd, Rosa Luxemburgs Verständnis der Diktatur des Proleta- riats mit dem unter Stalin entarteten System, genannt Diktatur des Proletariats, gleichzusetzen. Mit Marx, Engels, Lenin und der ganzen sozialistisch orientierten Arbeiterbewegung ging es ihr stets darum, über die für die Arbeiterklasse und alle Volkskräfte notwendigen bürgerlich-liberalen, individuellen Freiheitsrechte hin- aus die sozialen – kollektiven – Freiheitsrechte, die erst die dauerhafte Inan- spruchnahme der individuellen Rechte real werden lassen, zu erobern. Es ging ihr um die soziale – die sozialistische Demokratie.

41 M. Scharrer: Diktatur ist die wahre Demokratie. Rosa Luxemburg in der November-Revolution, in: Helga Grebing (Hrsg.): Die deutsche Revolution 1918/19, Berlin 2008, S. 239-263, hier S. 259.

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Scharrer zitiert viele Aussagen Rosa Luxemburgs von 1918, darunter aus ihrem Manuskript „Zur russischen Revolution“, aber nicht die entscheidende Passage über Diktatur des Proletariats als sozialistische Demokratie mit ihrem „sozialen Kern“: „... Wir unterschieden stets den sozialen Kern von der politischen Form der bürgerlichen Demokratie, wir enthüllten stets den herben Kern der sozialen Un- gleichheit und Unfreiheit unter der süßen Schale der formalen Gleichheit und Freiheit – nicht um diese zu verwerfen, sondern um die Arbeiterklasse dazu anzu- stacheln, sich nicht mit der Schale zu begnügen, vielmehr die politische Macht zu erobern, um sie mit neuem sozialen Inhalt zu füllen. Es ist die historische Aufgabe des Proletariats, wenn es zur Macht gelangt, anstelle der bürgerlichen Demokratie die sozialistische Demokratie zu schaffen, nicht jegliche Demokratie abzuschaf- fen... Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassen- herrschaft und dem Aufbau des Sozialismus. Sie beginnt mit dem Moment der Machteroberung durch die sozialistische Partei. Sie ist nichts anderes als Diktatur des Proletariats. Jawohl: Diktatur! Aber diese Diktatur besteht in der Art der Ver- wendung der Demokratie, nicht in ihrer Abschaffung, in energischen, entschlos- senen Eingriffen in die wohlerworbenen Rechte und wirtschaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft, ohne welche sich die sozialistische Umwälzung nicht verwirklichen lässt...“42 Bei den „entschlossenen Eingriffen in die wohlerworbenen Rechte und wirt- schaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft“ ging (und geht) es um Eingriffe in die Eigentumsverhältnisse, um deren Demokratisierung – also um ra- dikale (und deshalb – im Gefolge – soziale/sozialistische) Demokratie. Sozialis- mus verstand Rosa Luxemburg als radikale Demokratie. Das war auch der Inhalt der 10 Punkte des Kommunistischen Manifests 1848! Die im Verlauf des Jahres 1918 überall in Deutschland unter dem Einfluss der Revolution in Russland 1917 spontan entstandenen Arbeiter- und Soldatenräte waren dafür die zutreffenden Organe – deshalb Rosa Luxemburgs Forderung „Alle Macht den Räten!“ Wenn Scharrer schreibt, Rosa Luxemburgs „Abkehr von der demokratischen Republik“ (eine „Abkehr“, die er postuliert, aber nicht nachweist, weil sie nicht nachzuweisen ist) habe „den grundsätzlichen Bruch mit der demokratisch-soziali- stischen Arbeiterbewegung“ bedeutet, so verschweigt er, dass „die demokratisch- sozialistische Arbeiterbewegung“ – das war die sozialdemokratische Arbeiterbe- wegung – seit Marx und Engels 1848 für die soziale Republik, die soziale Demokratie gestritten hat, die mehr sein sollte als die bürgerlich-liberale Demo- kratie, nämlich eine soziale (schließlich sozialistische) Demokratie. So auch Teile der sozialdemokratisch/sozialistisch orientierten Gewerkschaften, wie oben am Beispiel des Deutschen Holzarbeiterverbandes ausgeführt. In Deutschland stand dafür erklärtermaßen die SPD – und das noch in ihrem Berliner Grundsatzpro- gramm von 1989, das bis 2006 gültig war.

42 Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd.4, S. 363.

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Das Streiten für die konsequente, über bürgerlich-liberale Freiheiten hinaus- führende radikale Demokratie – das ist das unabgegoltene bei Rosa Luxemburg, das ist ihr Vermächtnis. Die heutige Linke sollte dafür kämpfen, es zu verwirkli- chen.

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INGO MATERNA Berlin – das Zentrum der deutschen Revolution 1918/1919

Am Ende des 19. Jahrhunderts war Berlin, die Millionenstadt, längst mit ihrem Umland zusammengewachsen, wurde aber bekanntlich erst 1920 zu Groß-Berlin zusammengefasst.1 Unbestritten war Berlin das politisches Zentrum Preußens und Deutschlands, größtes Industriezentrum, zugleich größte Handwerker- und Han- delsstadt, Finanzzentrum, Verkehrsmittelpunkt; weltweit bekannt waren seine Wissenschafts- und Kulturinstitutionen; es war auch riesige Garnisonsstadt – Ka- sernopolis mit jeder Menge Rüstungsfabriken, mit Bischofssitz und es war Me- dienmittelpunkt. Vernachlässigt, bewusst vergessen oder übersehen wird jedoch meistens, dass Berlin das Zentrum der deutschen Arbeiterbewegung war, – das ha- ben wir den allgemein zugestandenen Attributen hinzuzusetzen und unterstreichen es in unserem heutigen Zusammenhang. Schon 1905 hatten sich die 6 Berliner Reichstagswahlkreis-Vereine der SPD mit den umgebenden Kreisen Teltow- Beeskow-Storkow-Charlottenburg und Niederbarnim zum „Verband der Wahlver- eine Groß-Berlins und Umgegend“, eine über das spätere Groß-Berlin weit in die brandenburgische Provinz greifende Organisation, zusammengeschlossen; sie zählte 1914 über 120.000 Mitglieder, die bei den Reichstagswahlen 1912 sieben der acht Wahlkreise gewinnen konnte. 45 der Berliner Stadtverordneten waren 1913 Sozialdemokraten und von den 10 preußischen SPD-Landtagsabgeordneten kamen 7 aus Berlin. Von etwa 560.000 organisationsfähigen Berufstätigen gehör- ten über 300.000 den sozialistischen Gewerkschaften an.2 Gerade diese sozialde- mokratische Dominanz in der Haltung der Berliner Einwohnerschaft verstärkte die ohnehin traditionelle Abneigung bedeutender deutscher Bevölkerungsschich- ten und einiger Kleinstaaten gegen die preußische Hauptstadt; die fortbestehende staatliche Eigenständigkeit besonders der süddeutschen Bundesstaaten, der wei- terhin auch verfassungsrechtlich gestützte Partikularismus, widerspiegelten sich in der Ablehnung Berlins, dieses „Molochs“. Das hier nur skizzierte Bild der Hauptstadt gewann mit Ausbruch und im Ver- lauf des Ersten Weltkrieges schärfere Konturen, Tendenzen verstärkten sich zu Dominanzen. Als neuer Typ entstand in der Meinung vieler einfacher Menschen der „Raffke“, der Kriegstreiber und Kriegsgewinnler, dem der Kriegsprofit über alles ging und der ein Schlemmerdasein führte, das der verarmten hungernden Be- völkerung Klassengegensätze emotional erlebbar machte. Und wie selbstver-

1 Siehe allgemein: Geschichte Berlins, hrsg. von Wolfgang Ribbe. Forschungen der Historischen Kommission zu Berlin, 2 Bde., Berlin 2002, hier Bd. 2. 2 Siehe immer noch am ausführlichsten im Detail: Geschichte der revolutionären Berliner Arbeiterbewegung, hrsg. von der Bezirksleitung der SED, Kommission zur Erforschung der örtlichen Arbeiterbewegung. Bd. 1. Von den Anfängen bis 1917, Berlin 1987.

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ständlich konzentrierten sich die ganze zunehmende Kriegsmüdigkeit und der Un- mut auf das Kriegszentrum. In Berlin selbst kam es nach der ersten allgemeinen Kriegsbegeisterung bald zu Hungerunruhen und im Juni 1916 erstmalig zum po- litischen Streik von 55.000 Rüstungsarbeitern gegen die Verhaftung und den Pro- zess Karl Liebknechts.3 Hatte bis dahin das nationalistische „Deutschland, Deutschland über alles“ der jungen deutschen Soldaten z. B. bei den Kämpfen um das belgische Langemark das einsame Votum Karl Liebknechts am 2. Dezember 1914 im Reichstag gegen die Kriegskredite und sein „Der Hauptfeind steht im ei- genen Land!“ 1915 auch in der Arbeiterschaft übertönt, so begann sich seit 1916 eine Antikriegsbewegung zu entwickeln, deren Träger vor allem die Arbeiter- schaft in der Rüstungsindustrie, deren Agitatoren linke Sozialdemokraten, Ge- werkschaftler und bürgerliche Pazifisten (Bund Neues Vaterland z. B.) waren. Die bereits vor dem Krieg in der Sozialdemokratie geführten Auseinanderset- zungen um den Kurs der Partei, z. B. um die Stellung zum Massenstreik und zur Rüstungspolitik, gewannen mit Kriegsausbruch neue Dimensionen und erfuhren in der Kriegskreditfrage ihre krasse Zuspitzung. War einerseits die Zahl der bei- tragszahlenden Mitglieder (bei Berücksichtigung der „Eingezogenen“) von 1914 im Agitationsbezirk Groß-Berlin mit 121.689 Mitgliedern auf 76.355 (1916) bzw. 6.475 (1917) zurückgegangen4, so spaltete andererseits die Zustimmung der SPD- Führung zu den Kriegskrediten und zum „Burgfrieden“ die Partei zunächst poli- tisch-ideologisch und schließlich auch organisatorisch. Für Berlin war dieser Pro- zess sehr kompliziert und durch einzelne Schritte charakterisiert, die hier nicht im Detail dargelegt werden müssen.5 Die markantesten waren indes: die allmähliche Formierung der Linken mit Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches u.a. zur Spartakusgruppe; ihr Verbleiben in der zentristischen Gruppierung um Georg Ledebour, Hugo Haase, Ernst Däumig u. a., der Führung der USPD und deren Reichstagsfraktion; der fortschreitende Meinungsumschwung in den Betrieben und die Herausbildung der Bewegung oppositioneller Gewerkschaftsfunktionäre, die als Ob- und Vertrauensleute in den Rüstungsfabriken, den Branchenkommis- sionen, schließlich auch in der mittleren Ortsverwaltung des Deutschen Metall- arbeiter-Verbandes (DMV) als wichtigster Berliner Gewerkschaftsorganisation einflussreiche Positionen gewannen. Im Sommer 1917 zählte nach der Spaltung die Stadtverordnetenfraktion der SPD 23, die der USPD 22 Mitglieder. Am 1. Juli 1917 hatte die USPD in Berlin 25.000, die SPD etwa 6.500 Mitglieder. Somit

3 Siehe die Einleitung zu: Dokumente aus geheimen Archiven. Bd. 4, 1914-1918. Berichte des Berliner Polizeipräsidenten zur Stimmung und Lage der Bevölkerung in Berlin. Bearb. von Ingo Materna und Hans- Joachim Schreckenbach unter Mitarbeit von Bärbel Holtz, Weimar 1987 (zit. als: Berichte 1914-1918). 4 Siehe Dieter Fricke: Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1869 bis 1917, 2 Bde, Leipzig 1987, Bd. 1, S. 377. 5 Siehe die Literatur in: Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenräte in der Revolution 1918/19. Dokumente der Vollversammlungen und des Vollzugsrates. Vom Ausbruch der Revolution bis zum 1. Reichsrätekongress. Hrsg. von Gerhard Engel, Bärbel Holtz und Ingo Materna, Berlin 1993, S. XVIII, Anm. 40 (zit. als: Groß- Berliner A.- und S. - Räte,1.)

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hätte die Mehrheits-SPD (so seit ihrer Neugründung am 28. April 1917) in Berlin Minderheits-SPD heißen müssen. Bis zum Ausbruch der Revolution ging die Zahl der USPD-Mitglieder auf etwa 18 – 20.000 zurück, die SPD hatte zu diesem Zeit- punkt etwa die gleiche Mitgliederzahl. Die Linken wuchsen mit den sich entwickelnden Massenstreiks nach den Revolutionen in Russland vom Februar und Oktober 1917 im April 19176 und im Januar 19187. Mit den Arbeiterräten entstanden neue Formen zur Leitung der Mas- senbewegung neben den herkömmlichen Partei- und Gewerkschaftsorganisatio- nen – jetzt konnte Berlin deutlich als Vorort der Antikriegsbewegung, wohl auch als zentraler Ort der heranwachsenden Revolution gelten. Es zeigten sich bereits die Stärken, aber auch die Schwächen der Bewegung: Spontaneität und Massen- beteiligung, Kampfbereitschaft und Solidarität, zugleich relative Isolation ge- genüber anderen Mittelpunkten der Bewegung, Meinungsverschiedenheiten in der Führung und Zielsetzung, deren prinzipielle Unterschiede zunächst durch ge- meinsame Streikforderungen und die Beteiligung rechtssozialdemokratischer Funktionäre z. B. am Groß-Berliner Arbeiterrat Ende Januar 1918 überdeckt wur- den. Der fortdauernde Belagerungszustand, die Inhaftierung oder Einberufung von Spartakus- und USPD-Funktionären, das faktische Fehlen einer oppositionel- len Massenpresse –neben dem rechtssozialdemokratischen „Vorwärts“, der seine Auflage noch steigern konnte, – schränkten die Möglichkeiten einer klärenden po- litischen Auseinandersetzung über Fortgang und Ziele der Bewegung stark ein. Am 7. November 1918 schrieb Harry Graf Kessler in sein Tagebuch: „All- mähliche Inbesitznahme, Ölfleck, durch die meuternden Matrosen von der Küste aus. Sie isolieren Berlin, das bald nur noch eine Insel sein wird. Umgekehrt wie in Frankreich (1789 – I.M.) revolutioniert die Provinz die Hauptstadt, die See das Land“.8 Obgleich sich Ende Oktober 1918 der „Vollzugsausschuß des Arbeiter- und Soldatenrates“ in Berlin aus Revolutionären Obleuten, leitenden USPD- Funktionären und Spartakusführeren bildete (die Anwesenheit des Pionier-Ober- leutnants Eduard Walz bis zu seiner Verhaftung am 3. November rechtfertigte of- fenbar auch die Bezeichnung „Soldatenrat“!), kam es zunächst nicht zu einem ge- schlossenen und entschlossenen Aufruf zum revolutionären Aufstand. Man muss allerdings in Rechnung stellen, dass sich in der Hauptstadt nach wie vor ein machtvoller Militär- und Polizeiapparat befand, der insbesondere nach der Ver- haftung von Walz von der „revolutionären Bedrohung Berlins“ überzeugt war. So begann die Revolution mit dem Aufstand der Matrosen, „an der See“, in Wil- helmshaven und Kiel, wo sich Arbeiter und Soldaten mit ihnen zusammenschlos- sen für die Beendigung des Krieges und revolutionäre demokratische Verände-

6 Siehe dazu am ausführlichsten Heinrich Scheel: Der Aprilstreik 1917 in Berlin, in: Revolutionäre Ereignisse und Probleme in Deutschland während der Periode der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution 1917/1918, hrsg. von Albert Schreiner, Berlin 1957, S. 1-88. 7 Siehe Walter Bartel: Der Januarstreik 1918 in Berlin, in: ebenda, S. 141-184. 8 Harry Graf Kessler: Tagebücher 1918-1937, Frankfurt a.M. 1961, S. 18; zit. nach Heinrich A. Winkler: Wei- mar 1918-1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993, S. 29.

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rungen.9 Ihnen folgten zahlreiche Orte an den Küsten, in Nord- und Westdeutsch- land, in Stuttgart, und am 7. November wurde in München die erste Monarchie ge- stürzt und die demokratische Republik ausgerufen. Einen „demokratischen“ Staat hatte die kaiserliche Koalitionsregierung unter Max von Baden mit SPD-Beteili- gung durch Teilparlamentarisierung am 26./27. Oktober und durch Versprechen von Frieden und demokratischen Freiheiten am 4. November angekündigt. Doch diesen Weg zum Frieden ohne Revolution, mit Kaiser und ohne Republik verhin- derte die revolutionäre Massenerhebung zwischen dem 3./4. und dem 9. Novem- ber, beginnend an der Küste; der entscheidende Schlag kam jedoch aus Berlin am 9. November mit Generalstreik und bewaffneten Demonstrationen. Es erfolgte die Übergabe des Reichskanzleramtes von Max von Baden an Friedrich Ebert, die Proklamation der freien deutschen Republik, womit ein bürgerlich-parlamentari- scher Staat gemeint war, durch Philipp Scheidemann vom Reichstagsgebäude aus, Karl Liebknecht verkündete vom Balkon des Stadtschlosses der Hohenzollern die freie sozialistische Republik, die sich auf die Arbeiter- und Soldatenräte stützen sollte. Die „Berliner Republik“ war ausgerufen! Der revolutionären Erhebung stellte sich kaum Widerstand entgegen, millionenfach wurden die hochgeschwo- renen Eide gebrochen. Entscheidungsschwäche, Plan- und Tatenlosigkeit der Mi- litärbefehlshaber waren wesentlich für den raschen, relativ unblutigen Sieg der vermeintlichen Revolutionäre, die sich in Berlin an die Hebel der Macht gesetzt hatten. An diesen hatten sie bereits seit Anfang Oktober teil. Sie wurde ihnen am 9. und 10. November von den alten Machthabern übergeben, und sie verbündeten sich sofort mit deren funktionierenden und agierenden Teilen, um die Macht real ausüben zu können. Das Bündnis Ebert-Groener fand seine provinziellen und ört- lichen Parallelen: Führende Militärs arrangierten sich mit den Aufständischen, ihren revolutionär gebildeten Kampforganen, den Räten. Ähnliches vollzog sich bekanntlich auf anderen Ebenen.10 Berlin wird (oder bleibt) Zentrum der Revolution, der Republik und ihrer lei- tenden Organe: der Reichsregierung, jetzt Rat der Volksbeauftragten. Die Vollver- sammlung der Berliner A.- und S.-Räte bildet am 10. November im Zirkus Busch den Vollzugsrat, vorgeblich zentrales Macht- und Kontrollorgan der sozialisti- schen Republik. In beiden leitenden Revolutionsorganen zeigt sich der Kompro- misscharakter des Erreichten: das Zusammenwirken der sozialdemokratischen Parteien, die demokratische Beteiligung der Arbeiter und Soldaten an den Macht- organen, die Einigung auf den Aufruf „An das werktätige Volk“, der die soziali- stische Republik verkündet – dem stimmen alle Versammelten zu. Die Spartakus- gruppe lehnt jedoch die Beteiligung am Vollzugsrat der Räte, die Zusammenarbeit mit „Regierungssozialisten“ ab – eine sektiererische Position, die erst im Februar 1919 aufgegeben wird, als die Räte ihren ursprünglich nicht unbedeutenden Rang

9 Siehe Ernst-Heinrich Schmidt: Heimatheer und Revolution 1918. Die militärischen Gewalten im Heimatge- biet zwischen Oktoberreform und Novemberrevolution, Stuttgart 1981, S. 204 ff. 10 Siehe ebenda, S. 433 ff.

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bereits weitgehend eingebüßt haben. In der „Geschichte der deutschen Arbeiter- bewegung“, Band 3, wurde nach langen Diskussionen die Fehlentscheidung be- schönigend als „nicht elastisch genug“ charakterisiert.11 Der Groß-Berliner Voll- zugsrat erklärte wie der Rat der Volksbeauftragten seine Zuständigkeit für das Reich, für Preußen und für Berlin, wenn auch zunächst nur provisorisch, bis zu dem in Aussicht genommenen gesamtdeutschen Rätekongress12, der das „Proviso- rium“ beenden und ein für das Reich dauerhaft legitimiertes leitendes Räteorgan anstelle des Berliner Rates wählen sollte. Zunächst waren in den zentralen Revolutionsgremien Berliner Funktionäre do- minant. Die örtliche Herkunft, die Verbindung zur Basis, zur „Hausmacht“, war für die Reputation beider Institutionen, für ihr Ansehen bei der Bevölkerung im ganzen Reich von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Man muss daran erin- nern, dass es nicht überall als ein Vorzug galt, ein Berliner Funktionär zu sein. Das Ansehen der Hauptstadt hatte, wie erwähnt, während des Krieges als Zentrum der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Diktatoren nicht gerade gewonnen. Nun waren weder die Volksbeauftragten der SPD Ebert, Landsberg und Scheide- mann, noch die der USPD Barth, Dittmann und Haase seit Geburt Berliner, jedoch waren sie als Funktionäre längst vor dem Krieg in der Hauptstadt ansässig; Emil Barth indessen, als einziger mit dem Berliner Proletariat durch seine Funktion im DMV verbunden, wirkte zudem im Rat der Volksbeauftragten und bis zum 20. November gleichzeitig im Vollzugsrat. Ähnlich enge Beziehungen zur Berliner Arbeiterbewegung wie Barth hatten die leitenden Genossen des Vollzugsrates; be- zeichnenderweise gab es lediglich im technischen Apparat des Vollzugsrates Frauen. Allerdings waren auch hier keine gebürtigen Berliner unter den Führungs- kadern: der Vorsitzende Richard Müller (USPD) kam aus Thüringen13, der solda- tische Kovorsitzende, zunächst Hauptmann von Beerfelde (bis zum 12. Novem- ber)14, dann (bis zum 8.1.1919) Brutus Molkenbuhr15 ebenso wenig aus Berlin wie die Arbeiterräte Ernst Däumig16 und Georg Ledebour17. Die beiden letzteren waren wie Barth mit der Berliner Arbeiterbewegung eng verbunden, sie waren beide im Zentralvorstand der USPD, Ledebour seit 1900 Mitglied des Reichstags für Ber- lin VI. Dazu kam eine ganze Phalanx aus den etwa 100 Revolutionären Obleuten: Paul Eckert, Paul Wegmann, Paul Neuendorf von der USPD, sowie Ernst Jülich,

11 Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 8 Bde., Bd. 3, Berlin 1966, S. 108. 12 Groß-Berliner A.- und S. -Räte, Bd. 1, S. XXVI, XXVIII, 34. 13 Jetzt liegt erstmalig seine präzise Biographie von Ralf Hoffrogge vor: Richard Müller. Der Mann hinter der Novemberrevolution, Berlin 2008; siehe auch ders., Räteaktivisten in der USPD: Richard Müller und die Re- volutionären Obleute, in: JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 2008, H. 1, S. 36- 45. Nachzutragen wäre für Ebert Walter Mühlhausen: Friedrich Ebert 1871-1925. Reichspräsident der Wei- marer Republik, Bonn 2006; zu Hugo Haase Dieter Engelmann/Horst Naumann: Hugo Haase. Lebensweg und politisches Vermächtnis eines streitbaren Sozialisten, Berlin 1999. 14 Siehe Groß-Berliner A.- und S. -Räte, S. 20, Anm. 12. 15 Siehe ebenda, S. 16, Anm. 7. 16 Siehe ebenda, S. 5 (mit Lit.). 17 Siehe ebenda, S. 8.

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Oskar Rusch, Max Maynz, Franz Büchel.18 Somit war der Vollzugsrat hinsichtlich der personellen Zusammensetzung deutlich ein Berliner Organ. Die Soldatenräte vertraten zwar Berliner Truppenteile, waren aber durchweg keine „Berliner“, son- dern spiegelten eine breitere deutsche Landsmannschaft und andere soziale Schichten wider. Aus den zunächst gewählten Soldaten sind neben den erwähnten Vorsitzenden wohl Eduard Walz19 und Hans Paasche20 zu erwähnen sowie Max Cohen-Reuß21 und der „Arbeiterrat“ Hermann Müller, zwei prominente Mitglieder des Partei- vorstandes der SPD.22 Cohen-Reuß trug mit Julius Kaliski Überlegungen zur Rä- tebewegung bei, die die Mehrheit des Parteivorstandes ablehnte. Einem Vorschlag der SPD-Fraktion entsprechend, bildeten die Berliner Soldatenräte am 20. No- vember einen gesonderten Vorstand mit Alfred Gottschling als Vorsitzenden, der Anfang Dezember Mitglied des Vollzugsrates wurde.23 Es war sicher auch eine Folge der von Berlinern dominierten Zusammensetzung des Vollzugsrates, dass sich „sehr bald...in weiten Teilen des Reiches eine starke Missstimmung gegen den Berliner Vollzugsrat geltend“ machte, wie Hermann Müller in seinen „Erin- nerungen“ feststellte. Er zitiert den S.-Rat Gerhardt: „Der Vollzugsrat hat nicht Fühlung mit den Süddeutschen aufgenommen, sondern die Vertreter der süddeut- schen Kameraden mussten erst hierher kommen.“24 Dies traf zu diesem Zeitpunkt so nicht mehr zu, denn bereits am 15. November bedankte sich der Vollzugsrat bei der „Republik der Bayrischen Arbeiter- und Soldatenräte“ für deren „brüderlichen Gruß“ und forderte sie auf, „gemeinsam alle Kräfte einzusetzen, die Errungen- schaften der Revolution zu sichern und auszubauen“.25 Am 23. November nahmen zwei Vertreter des A.- und S.- Rates Badens (Emil Baer und Johannes Krayer) – sie hatten am 21. November Gespräche mit den Berliner Vorsitzenden geführt – sowie drei Delegierte von etwa 400.000 Soldaten der Ostfront an der Vollzugs- ratssitzung teil; sie wurden in den Rat aufgenommen. Sehr bedeutsam war die Teilnahme von Regierungsvertretern Preußens und Bayerns (mit Kurt Eisner) als der größten deutschen Bundesstaaten an der Sitzung des Vollzugsrates am 25. No- vember26 sowie die Anwesenheit von Kieler Delegiertern am 26. November27, spä- ter (am 30.11.) von Delegierten aus Bremen und München28. Als weitere Vertreter

18 Zu allen Arbeiterräten siehe ebenda, S. 22 ff. 19 Zu E. Walz ebenda, S. 16. 20 Zu H. Paasche (ebenda S. 23) ist nachzutragen Werner Lange: Hans Paasches Forschungsreise ins innerste Deutschland. Eine Biographie. Mit einem Geleitwort von Helga Paasche, Bremen 1995. 21 Ebenda, S. 34. 22 Siehe Hermann Müller: Die Novemberrevolution. Erinnerungen, Berlin 1928, S. 104 f. 23 Siehe Groß-Berliner A.- und S. -Räte, Bd.1, S. XXXIII. 24 Hermann Müller, Die Novemberrevolution, S. 106. Wörtlich übereinstimmend mit Groß-Berliner A. und S. - Räte, Bd. 1, S. 414 (Sitzung des VR am 28.11.1918). 25 Groß-Berliner A.- und S. -Räte, Bd.1, S. 66 f. 26 Siehe ebenda, S. 234 ff., 316 ff., 355. 27 Siehe ebenda, S. 357, 374. 28 Siehe ebenda, S 469, S. 480 f.

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der Länder wurden Max König und Lemke für Elsaß-Lothringen (!), Fritz Heckert und für Sachsen sowie der Arbeiterrat Heinrich Schäfer für die be- setzten linksrheinischen Gebiete Mitglieder des Vollzugsrates, wobei Heckert (Spartakusbund) und Heldt (SPD) ihre Arbeit im Rat nicht aufnahmen.29 Schließ- lich beschloss der Vollzugsrat nach der Soldatenratskonferenz am 1.12.18 in Bad Ems seine Erweiterung um fünf Delegierte der Soldatenräte der im Westen be- findlichen Truppen; dann traten noch drei Abgeordnete des Zentralrats der Marine (sogenannter 53er Ausschuss) hinzu, so dass der Vollzugsrat am Vorabend des Rä- tekongresses 45 Mitglieder zählte, die mehrheitlich der SPD folgten, und deutlich über seine ursprüngliche Zentriertheit auf Berlin hinausgewachsen war. Er ent- sprach damit der politischen Zusammensetzung vieler deutscher Räte. Trotz des anfänglichen Paritätsprinzips SPD – USPD, was eigentlich dem Räteprinzip wi- dersprach, hatte die SPD bald vielerorten die Mehrheit errungen, zumal längst nicht überall USPD- oder gar Spartakusorganisationen existierten.30 Entscheidend für die politische Rolle des Vollzugsrates waren jedoch seine Politik, seine Beschlüsse und sein Vermögen, diese zu verbreiten und zu realisie- ren. Erst daran lässt sich die Stellung Berlins im Revolutionsprozess festmachen. Gerhard Engel hat in seinem Aufsatz über den Vollzugsrat als zentrales Räteorgan darauf hingewiesen,31 dass der Vollzugsrat entsprechend seinem Anspruch „haupt- stadtübergreifende Probleme“ behandelte, also Berlin als Zentrum der revolu- tionären Veränderungen zu respektieren war – so die Verlautbarung über die exe- kutive Gewalt, gerichtet auf Reich, Preußen und Hauptstadt. Aber der Aufruf war lediglich an die Arbeiter und Soldaten Groß-Berlins gerichtet. So auch der Aufruf zur Bildung der Roten Garde, die Wahlrichtlinien für die Arbeiterräte, die Ressorts des Vollzugsrates. Andererseits schickte man Kuriere ins Land, bestimmte formal Bildung und Zusammensetzung der Preußischen Regierung, die Überprüfung der preußischen Regional- und Lokalbehörden. Schließlich gab es Ansätze, direkt Reichskompetenz in Anspruch zu nehmen, z. B. Berlin als europäische Hauptstadt zu behaupten – so der Aufruf an die Völker Frankreichs, Italiens, Englands und Amerikas. Ernst Däumig hatte mit dem Entwurf seiner Leitsätze die Grundsätze revolutionärer Politik ausgearbeitet und damit die Rolle Berlins deutlich gemacht. Kernpunkt der Leitsätze war: „proletarische Demokratie“ gegen die „bürgerlich- demokratische Republik“. Diese Leitsätze wurden am 16./17. November im Voll- zugsrat diskutiert und mit 12 gegen 10 Stimmen abgelehnt. Schließlich ent- sprach der Aufruf des Vollzugsrates zur gesamtdeutschen Delegiertenkonferenz am 23. November seiner zentralen Rolle, die Entscheidung aber war verschoben.

29 Siehe ebenda, S. XXXVI. 30 Siehe ebenda, S. XXXVII. 31 Siehe Gerhard Engel: Der Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte Groß-Berlins als zentrales Räteorgan (Über Zentralisation und Dezentralisation in der deutschen Rätebewegung), in: 75 Jahre deutsche November- revolution. Schriftenreihe der Marx/Engels-Stiftung, Bd. 21, Köln 1994, S. 151-161.

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Und doch: Obgleich es keine umfassende Orientierung oder gar Organisation der Revolutionsbewegung, der Räte, gab – die Forderungen in den verschiedenen Zentren der Revolution waren bei Ausbruch der Revolution in den Hauptpunkten identisch oder ähnlich: schleunigste Herbeiführung des Friedens, Beseitigung des monarchistischen Regimes, eine freie demokratische Republik, Brot, demokrati- sche Rechte und Freiheiten in einer sozial gerechten Gesellschaft. Allgemein war auch die Illusion, mit dem 9./10 November sei bereits die sozialistische Republik errungen, und Träger der politischen Macht seien die Räte. Gefordert wurde viel- fach die Verbindung zur russischen Sowjetrepublik.32 Die Auseinandersetzungen um die Weiterentwicklung des revolutionären Pro- zesses entbrannten, eigentlich waren sie nur kurzzeitig bei den Kompromissen um den 9./10.11. überdeckt. Auf der einen Seite standen sehr bald die um den Rat der Volksbeauftragten, also die Führung der SPD und Teilen der USPD, formierten Kräfte, der alte Staatsapparat, die OHL (Groener/Hindenburg) und der überwie- gende Teil des Militärs, Gewerkschaftsführer und Unternehmerverbände in Indu- strie und Landwirtschaft (Legien – Stinnes), die Kirchen, Schulen und Medien, die Justiz, Bürgerräte und die neu gebildeten bürgerlichen Parteien, verbunden und verbündet mit der Regierungsforderung nach dem allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrecht, auch für Frauen, und nach einer Nationalversammlung, die künftige Gestaltung des Reiches als bürgerlich-demokratische Republik zu be- stimmen hätte. Auf der anderen Seite waren es die auf eine Weiterführung der Re- volution bis zur Errichtung einer sozialistischen Republik, der Rätemacht, als „so- zialistische“ oder „proletarische“ Demokratie bezeichnet, teilweise als Synonym für „Diktatur des Proletariats“ verstanden, orientierenden Kräfte: die linke USPD, in Berlin also USPD-Funktionäre des Vollzugsrates, die Mehrheit der revolu- tionären Obleute und die Spartakusführer, die sich zwar am 11. November zum Bund, aber noch nicht zur selbständigen Partei zusammenfanden, und die, wie sich zeigte, in der Berliner Arbeiterschaft unterstützt wurden, jedoch nicht mehr- heitlich. Die Gegenrevolution konzentrierte sich von Anfang an auf Berlin, bereitete seine militärische Besetzung vor und organisierte die konterrevolutionäre Propa- ganda gegen die Räte bis hin zur Rufmordhetze gegen Karl Liebknecht bereits Ende November. In der Provinz machte die bürgerliche Presse zudem Stimmung gegen das „rote“ Berlin: „Berlin ist von allen guten Geistern verlassen... Liebknecht ist der Mann von morgen, wenn ihn nicht andere Mächte in Fesseln schlagen als das Kol- legium der sechs Männer... Berlin wird das ganze Deutschland in den Abgrund reißen, wenn das Reich in seinen Einzelstämmen nicht die Entschlußkraft findet, die einstige Reichshauptstadt abzuschütteln und sein Schicksal selbst zu bestim-

32 Siehe den Aufruf der Vollversammlung der Berliner Räte am 10.11.1918, in : Groß-Berliner A.- und S. -Räte, Bd. 1, S. 24f. Es wäre eine spezielle Untersuchung zu dieser Problematik angebracht.

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men. Dort locken die Sirenen des Bolschewismus... In einer solchen Stunde heißt es: Rette sich wer kann! Die Augen auf ... und los von Berlin.“33 Diese Losung kulmi- nierte in den Bestrebungen nach einer „Republik Groß-Thüringen“ nach dem Bei- spiel der Rheinisch-westfälischen Separatisten und ähnlicher Machenschaften in Bayern und Oberschlesien.34 Obgleich Ebert der Hessischen Regierung bereits am 21.11. auf ihre Befürchtungen über „die Entwicklung in Berlin“ geantwortet hatte, dass „nicht nach der Diktatur einer Stadt“ gestrebt werde35, und dies auf der Reichs- konferenz der Ministerpräsidenten der deutschen Staaten am 25. 11. in Berlin erneut unterstrichen hatte36, wurden weiter die Anti-Berlin-Losungen als Teil der konterre- volutionären Propaganda verbreitet. Die Konferenz der süddeutschen Staaten er- klärte am 28./29. November: „Die Verhältnisse in Berlin... bedrohen auch die Ein- heit des Deutschen Reiches.“37 Man kann den Hass der Konterrevolution gegen das „rote“ Berlin auch positiv wenden: Die Hauptstadt war das Zentrum der Revolution. Am gleichen Tag, als der zitierte Artikel in Erfurt erschienen war, am 6. De- zember, kam es in Berlin zum ersten blutigen Zusammenstoß zwischen den An- hängern der Revolution und den Militärs in der Chausseestraße. Es war noch nicht eine Regierungsaktion, sondern ein militärischer Gewaltakt, ein Vorbote. Am 10. Dezember begrüßten Ebert und der Magistrat am Brandenburger Tor die heim- kehrenden, „unbesiegten“ Truppen. Über die Pläne, die die OHL mit Zustimmung Eberts mit dem Militäreinmarsch der 10 Divisionen in Berlin nach diesem Tag verfolgte, hat sich General Groener später deutlich geäußert: „Das nächste Ziel“ war, „in Berlin die Gewalt den Arbeiter- und Soldatenräten zu entreißen“ und „eine feste Regierung in Berlin aufzustellen“.38 Bevor es aber zur Militäraktion, zum „Krieg gegen die Revolution“39, kam, fand im Preußischen Abgeordneten- haus der von allen Seiten mit Spannung erwartete 1. Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte vom 16.-20. Dezember statt – ein klares Zeichen für die Akzeptanz der Hauptstadt als Zentrum der Räte, die immer noch zehntausende Demonstranten mobilisieren konnten. Der Rätekongress öffnete jedoch mit sei- nem mehrheitlichen Beschluss über die Wahl der Nationalversammlung am 19. Januar 1919 den Weg nach Weimar. War der Rätekongress ein Beispiel für ein „so- zialistisches“ Parlament? Bekanntlich schloss sein Wahlreglement die Bürger von der Wahl aus, die Wahl sollte aus den „bestehenden A.- und S.-Räten“ erfolgen. So kamen selbst die Vorkämpfer für eine Rätemacht, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, nicht zu einem Mandat.

33 Erfurter Allgemeiner Anzeiger vom 6.12.1918, zit nach Gerhard Schulze: Die Novemberrevolution 1918 in Thüringen, Erfurt 1976, S,136. 34 Siehe die knappe Übersicht bei Gerhard A. Ritter/Susanne Miller: Die deutsche Revolution 1918/1919. Do- kumente, Frankfurt a. M. 1983, S. 416 ff. 35 Siehe ebenda, S. 399. 36 Siehe ebenda, S. 394ff., ausführlich in: Rat der Volksbeauftragten 1918/1919. Bearbeitet von Susanne Miller unter Mitwirkung von H. Potthoff. Eingeleitet von E. Matthias, Düsseldorf 1969, S. 149ff. 37 Ritter/Miller, S. 401. 38 Ebenda, S. 136, 137. 39 Die Rote Fahne, Berlin, 25.12.1918.

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Der offene Angriff auf das revolutionäre Berlin begann mit den sogenannten Weihnachtskämpfen, dem Bombardement der kaiserlichen Artillerie auf Schloss und Marstall, Symbole des Königs- und Kaiserreichs, die von der Volksmarinedi- vision allerdings ohne jeden Beschuss besetzt worden waren. Das Ergebnis war eher dürftig für die Angreifer, führte schließlich zum Austritt der rechten USPD- Vertreter aus der Regierung, die nun mit Noske, dem mit OHL und Freikorps zum brutalen Vorgehen entschlossenen „Bluthund“, eine „reine“ SPD-Zusammenset- zung erhielt und die alleinige Verantwortung für das weitere Geschehen über- nahm.40 Die Gründung der KPD am Jahresende 1918 im Preußischen Abgeordneten- haus unterstrich erneut die zentrale Rolle Berlins bei der Herausbildung und schließlichen Formierung einer alternativen Linkspartei. Sie war sicher ein wich- tiges Ergebnis der Revolution, jedoch nicht das wichtigste und historisch bedeut- samste, wie in DDR-Publikationen immer wieder zu lesen war.41 Bekanntlich gab es Widersprüche zwischen der Minderheit um Rosa Luxemburg, die am 23.12. in der „Roten Fahne“, nach dem Rätekongress, auf einen Kompromiss, nämlich die Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung und das gleichzeitige Fest- halten am Rätesystem orientierte, und der unrealistisch, z. T. anarchistisch votie- renden Mehrheit, die an der Illusion von der unmittelbaren Errichtung der Räte- macht, der Diktatur des Proletariats, festhielt. Es ist hier nicht der Platz, die theoretischen und parteipolitischen Diskrepanzen in der jungen Partei zu erörtern, auch nicht über die Feststellung in der „Chronik zur Geschichte der deutschen Ar- beiterbewegung“, die Kämpfe in der Revolution hätten bewiesen, dass es in Deutschland unmöglich war, „in einem Sprung zur Diktatur des Proletariats“ zu gelangen.42 Konnte das überhaupt das aktuelle Ziel sein? Eine Diskussion wäre nötig über „Rätemacht und Diktatur des Proletariats“, die noch 1974 im „Wörter- buch der Geschichte“ als „die bis dahin umfassendste Demokratie“ bezeichnet wurde.43 Wichtig in unserem Zusammenhang ist, dass es nicht gelang, mit dem fortgeschrittenen Teil der Berliner Arbeiterschaft, vertreten durch die Revolu- tionären Obleute, zu einem wie auch immer gearteten Zusammenschluss zu kom- men und damit größeren Einfluss in Richtung auf eine Rätedemokratie zu gewin- nen. Die umstrittene Erklärung des „Revolutions-Ausschusses“ vom 6. Januar 1919 über die Absetzung der Regierung Ebert war dafür ungeeignet. Andererseits hatten die nachfolgenden Kämpfe, fälschlich als Spartakusaufstand bezeichnet, die Massen der Berliner Arbeiter, ihre Obleute, den Berliner USPD-Vorstand und die KPD in der Abwehr des weißen Terrors, der in der Ermordung Rosa Luxem- burgs und Karl Liebnechts kulminierte, zusammengeführt.

40 Siehe Wolfram Wette: Gustav Noske. Eine politische Biographie, Düsseldorf 1987. 41 Siehe z.B. Lothar Berthold/Helmut Neef: Militarismus und Opportunismus gegen die Novemberrevolution, Berlin 1978, S. 109: Die Gründung der KPD „wurde zum wichtigsten Ereignis der Novemberrevolution“. 42 Chronik zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, T. II, Berlin 1966, S. 53. 43 Wörterbuch der Geschichte, Berlin 1974, S. 237, 238.

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Der erste offene brutale Schlag der Konterrevolution richtete sich also gegen das Berliner Proletariat, und wir haben versucht, an einigen Schnittpunkten zu zei- gen, warum das der Fall war. Es folgten bekanntlich sehr bald weitere Militärak- tionen gegen revolutionäre Zentren, Räterepubliken zumal, wie sie sich in Bremen (10.1.- 4.2.1919) und dann in München (13.4.-3.5.1919) konstituiert hatten, gegen die Arbeiter Mitteldeutschlands und im Ruhrgebiet. Waren dies Beispiele für eine „sozialistische Demokratie“? Auch in Berlin war man sich der Sache noch immer nicht sicher. Schon während des Rätekongresses, am 17. Dezember 1918, hatte der rechtssozialdemokratische „Vorwärts“ voraus- schauend geschrieben, dass man in einer Stadt wie Berlin, wo man vor Demon- strationen und Angriffen der Massen nicht sicher sei, das „höchste Symbol der De- mokratie“, die Nationalversammlung, nicht tagen lassen könne, man sollte in Kassel, Erfurt oder an einem anderen Ort zusammenkommen.44 Ende Dezember 1918 äußerte sich Ebert zu diesem Problem: „Die Sicherheit der Nationalver- sammlung“ in Berlin zu gewährleisten, sei einerseits „sehr schwierig, selbst wenn man nicht vor einer starken militärischen Sicherung zurückschrecken würde“, auch die wachsenden Anti-Berlin-Stimmungen und die Gefahr des Separatismus, die Beziehungen zu den Bundesstaaten legten den Gedanken nahe, die National- versammlung „näher nach dem Herzen Deutschlands“ zu verlegen. Am 14. Januar 1919 meinte er: „Man sollte den Erfolg gegenüber den Unabhängigen und Spar- takisten nicht überschätzen. Eine absolute Sicherheit läßt sich in einer solchen Riesenstadt wie Berlin nicht schaffen.“45 Scheidemann zog ebenfalls in Betracht, „daß man in Berlin jeden Tag Hunderttausende von Menschen auf die Beine brin- gen kann, die sich wie Mauern um die Gebäude legen. Dagegen schützen alle mi- litärischen Machtmittel gar nichts. Man kann auf diese Menschenmassen nicht einfach schießen.“46 (Das konnte man weiterhin, so auch in Berlin im März 1919). Weimar als die „Stadt Goethes“ sei „ein gutes Symbol für die junge deutsche Republik“47. Weimar sei auch aus Gründen des „Einheitsgedankens“ und der „Zu- sammengehörigkeit des Reiches“ auszuwählen; wenn man den „Geist von Wei- mar“ mit dem Aufbau eines „neuen Deutschen Reiches verbindet“, so würde das in der ganzen Welt „angenehm empfunden werden“, meinte Ebert.48 Es traten noch weitere Überlegungen hinzu: der USA-Präsident W. Wilson würde zustimmen, man könne einen „besseren Frieden“ erhalten49, und schließlich fasste die Regie- rung am Tag nach den Wahlen zur Nationalversammlung den Beschluss, Weimar als ihren Tagungsort zu bestimmen.50

44 Siehe Vorwärts, Berlin, 17.12.1918. 45 Die Regierung der Volksbeauftragten, T. 2, a.a.O., S. 225., auch S. 206 f. 46 Ebenda, S. 227. 47 Ebenda, S. 228 f. 48 Ebenda, S. 225. 49 So Staatssekretär Graf Rantzau, ebenda, S. 228. 50 Siehe ebenda, S. 283.

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„Die Konstituante soll die revolutionären Zustände beenden und dazu muß sie absolut sichergestellt sein“, hatte der Unterstaatssekretär und Chef der Reichs- kanzlei Curt Baake bereits am 14.1. gesagt: „In Berlin ist das aber nicht möglich... Hat die Konstituante erst einmal eine legale Gewalt geschaffen, so werden wir mit Berlin sehr viel eher fertig werden, denn diese legale Gewalt kann viel entschlos- sener, unbekümmerter und rücksichtsloser vorgehen als die gegenwärtige Regie- rung.“ Dann könne man auch bestimmen, „daß Berlin das Zentrum von Deutsch- land bleibt“.51 Berlin wurde also erst nach der Liquidation der Revolution wieder das Zen- trum. Es war eines der Zentren der deutschen Revolution, der Ursprung der Re- publik lag hier. Aber Berlin wurde nicht ihr Namensgeber. Der Tagungsort der Na- tionalversammlung, das bürgerliche Weimar, gab dem in der Revolution geborenen Staat für die nächsten 14 Jahre seinen Namen.

51 Ebenda, S .230f.

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LENNART LÜPKE, NADINE KRUPPA Von der politischen Revolution zur sozialen Protest- bewegung: Die Revolution im Ruhrgebiet 1918-1920

Dem Ruhrgebiet kommt eine Schlüsselrolle in der Geschichte der deutschen Re- volution zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik zu. Zwar haben die revo- lutionären Ereignisse keinesfalls hier ihren Ausgang genommen; auch wurden die wichtigen politischen Entscheidungen des Rates der Volksbeauftragten während der ersten Revolutionsphase zwischen November 1918 und Januar 1919, die den Weg zur republikanischen Staatsform anbahnten, in Berlin getroffen. Doch in der zweiten und dritten Phase der Revolution, zwischen Januar und April 1919 und im März/April 1920, geriet das Ruhrgebiet in den Fokus der öffentlichen Aufmerk- samkeit.1 Die Kämpfe um die Neuordnung der Wirtschafts- und Sozialordnung der Republik „wurden nicht zuletzt an Rhein und Ruhr entschieden“.2 Im rheinisch- westfälischen Industriegebiet stritt die Arbeiterbewegung mit Vehemenz um ihren institutionellen Ort im neuen Staat. Hier erreichte die gesellschaftliche Polarisie- rung während der Revolutionszeit ein regional einzigartiges Niveau. Der politische Umsturz vom November 1918 hatte im größten deutschen Indu- strierevier eine erhebliche revolutionäre Dynamik entfacht, die sich spätestens seit Beginn des Jahres 1919 in breiten sozialen Protestbewegungen Bahn brach und die noch junge Republik in ihren Grundfesten erschütterte. Die Generalstreiks vom Frühjahr 1919 und der Ruhrkampf im März/April 1920 markieren Höhe- punkte dieser Bewegungen. Träger des Protestes waren weite Teile der industriell geprägten Arbeiterschaft des Ruhrgebiets. Grob gerechnet gehörten drei Viertel der erwerbstätigen Ruhrgebietsbevölkerung zu dieser Zeit der Unterschicht an, die sich wiederum größtenteils aus der schwerindustriellen Arbeiterklasse zusam- mensetzte.3 Es war gerade die sozialstrukturelle Dominanz der Arbeiterklasse, die

1 Siehe zur Periodisierung der deutschen Revolution Wolfgang J. Mommsen: Die deutsche Revolution 1918- 1920. Politische Revolution und soziale Protestbewegung, in: ... Heft 4 (1978), S. 362-391. 2 Vorwort in: Werner Abelshauser/Ralf Himmelmann (Hrsg.): Revolution in Rheinland und Westfalen. Quellen zu Wirtschaft, Gesellschaft und Politik 1918 bis 1923, Essen 1988, S. IX. 3 Berechnungsgrundlage sind hier die Kernkreise des Ruhrgebiets (Bochum, Dortmund, Duisburg, Essen und Recklinghausen). Der städtische Agglomerationskomplex umfasste eine darüber hinaus gehende Anzahl an Groß- und Mittelstädten. 1925 betrug die Einwohnerzahl des gesamten Ruhrgebiets gut 3,5 Millionen. Siehe Klaus Tenfelde: Soziale Schichtung, Klassenbildung und Konfliktlagen im Ruhrgebiet, in: Wolfgang Köll- mann u.a. (Hrsg.): Das Ruhrgebiet im Industriezeitalter. Geschichte und Entwicklung, Bd. 2, Düsseldorf 1990, S. 145, 174. Seit der Entstehung der schwerindustriellen Ballungsregion an der Ruhr im 19. Jahrhundert wurde sie als „rheinisch-westfälisches Industriegebiet“ gefasst. Der Begriff Ruhrgebiet begann sich erst allmählich, verstärkt im 20. Jahrhundert, zu etablieren. Das Ruhrgebiet bildete zu keiner Zeit eine politische Verwal- tungseinheit. Stattdessen erstreckte und erstreckt es sich auf Teile der ehemals preußischen, nunmehr nord- rhein-westfälischen Regierungsbezirke Düsseldorf, Münster und Arnsberg. Zudem bildete es gleichsam eine „Klammer“ zwischen den preußischen Provinzen Rheinland und Westfalen. Der nach dem Ersten Weltkrieg gegründete „Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk“ verfügte im Grunde lediglich über planungsrechtliche Kompetenzen.

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das Ruhrgebiet zu einem potenziell fruchtbaren Nährboden für revolutionäre Be- wegungen machte.4 Im Folgenden sollen die revolutionären Ereignisse im Ruhrgebiet zwischen November 1918 und April 1920 analysiert werden. Gefragt wird dabei nach Ent- stehungsbedingungen, Zielen und Wirkungen der sozialen Protestbewegungen, die das politische Feld der Ballungsregion in der revolutionären Phase zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik prägten. Um Antworten auf diese Frage ge- ben zu können, bedienen sich die Autoren sowohl der Analyse als auch der Ereig- nisschilderung. Dabei werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der Ruhrgebietsentwicklung und dem Revolutionsverlauf auf Reichsebene bzw. in an- deren Regionen berücksichtigt.

Forschungsüberblick

Derzeit mangelt es noch an einer quellenfundierten Gesamtdarstellung der Rev- olution im Ruhrgebiet, die den Zeitraum zwischen November 1918 und April 1920 abdecken würde. Gleichwohl könnte sich eine solche Studie auf reichhaltige, aber bislang unverbundene empirische Forschungserträge stützen. Mit dem Auf- schwung der Revolutionsforschung in den 1960er und 70er Jahren richtete sich das Interesse der Historiker nicht zuletzt auch auf die politische Geschichte der revolutionären Nachkriegsphase im Ruhrgebiet. Den Auftakt der Forschungs- bemühungen markiert Peter von Oertzens Aufsatz über die Ruhrstreiks 1919 aus dem Jahr 1958.5 Im Zuge des nun folgenden Booms entstand eine Reihe an Lokal- und Regionalstudien, die eine dichte Rekonstruktion der revolutionären Ereignisse in der Region ermöglichen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die inter- essierten Leser noch auf z. T. tendenziöse Deutungsentwürfe aus der Zeit der Wei- marer Republik angewiesen.6 Unverzichtbar bis heute ist die Aufsatzsammlung von Reinhard Rürup, die einen lokal differenzierten Überblick über die revolu- tionäre Entwicklung der Jahre 1918/19 liefert.7 Der Band nimmt in Auseinander- setzung mit Forschungspositionen der 1950er Jahre die Debatte um die Rolle und den Stellenwert der Rätebewegung auf und kommt zu dem Ergebnis, dass die Ar- beiter- und Soldatenräte im Ruhrgebiet weniger „Repräsentanten des Bolschewis- mus“ gewesen seien. Vielmehr hätten sie ein demokratisches Potenzial mit breiter

4 Siehe Werner Abelshauser: Umsturz, Terror, Bürgerkrieg. Das rheinisch-westfälische Industriegebiet in der revolutionären Nachkriegsperiode, in: Abelshauser/Himmelmann, Revolution, S. XI. 5 Siehe Peter von Oertzen: Die großen Streiks der Ruhrbergarbeiterschaft im Frühjahr 1919. Ein Beitrag zur Diskussion über die revolutionäre Entstehungsphase der Weimarer Republik, in: Vierteljahreshefte für Zeit- geschichte (VfZ), H. 6 (1958), S. 231-262. 6 Siehe die vom Verein für bergbauliche Interessen in Auftrag gegebene Arbeite von Hans Spethmann: Zwölf Jahre Ruhrbergbau. Aus seiner Geschichte von Kriegsanfang bis zum Franzosenabmarsch 1914-1925, Bd. 1-3, Berlin 1928/29. 7 Siehe Reinhard Rürup: Arbeiter- und Soldatenräte im rheinisch-westfälischen Industriegebiet, Wuppertal 1975.

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Massenunterstützung gebildet, das in der revolutionären Übergangsphase von der Führung der Mehrheitssozialdemokratie nicht genutzt worden sei.8 Die mit den Protesten und Aufständen des Jahres 1919 vielfach umschlungene Debatte um die Sozialisierung des Kohlenbergbaus wird von Peter Wulf und Jürgen Tampke nach- gezeichnet.9 Letztgenannter fokussiert in seiner Dissertation in erster Linie die po- litischen Brüche in der Ruhrarbeiterschaft zwischen der sich radikalisierenden Massenbasis und den auf Mäßigung bedachten Führungen von SPD und Freien Gewerkschaften.10 Die Lokalstudie von Hermann Bogdal schildert quellennah die revolutionäre Entwicklung in Recklinghausen und bezieht dabei die wesentlichen regionalen Entwicklungen mit ein.11 Auch die Forschung der 1960er und 70er Jahre war nicht ganz unwesentlich von zeitbedingten politischen Debatten und Forschungskategorien bestimmt. Unter dem Eindruck vielfältiger politisch-kultu- reller und generationeller Aufbrüche übte die Beschäftigung mit der deutschen Revolution eine starke Anziehungskraft auf jüngere, „linksbewegte“ Historiker aus. Hierüber geben nicht zuletzt die Beiträge von Erhard Lucas Auskunft, der sich im besonderen Maße mit der von Hamborn ausgehenden Streikbewegung des Winters 1918/1912 und dem Ruhrkampf vom März/April 192013 beschäftigt hat, wobei gewisse Sympathien für linkssozialistische Strömungen zum Ausdruck kommen. Dagegen stehen die Untersuchungen von H. Walther/D. Engelmann ganz im Zeichen der Erkenntnisinteressen der staatssozialistisch geprägten DDR- Geschichtswissenschaft.14 Als Frucht der genannten Forschungsentwicklung ist 1988 die Skizze von Wer- ner Abelshauser zu den Voraussetzungen und zum Verlauf der Revolution im

8 Siehe insbesondere die Einleitung des Bandes ebenda, S. 7-38. Rürup bestätigt damit Befunde der zeitgenös- sischen Revolutionsforschung. Siehe nur Eberhard Kolb: Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918/19, Düsseldorf 1962. Zur Forschungsentwicklung Andreas Wirsching: Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft, München 2008, S. 51-54 und Eberhard Kolb: Die Weimarer Republik, München 2002, S. 166-178. 9 Siehe Peter Wulf: Die Auseinandersetzungen um die Sozialisierung der Kohle in Deutschland 1920/21, in: VfZ, H. 25 (1977), S. 46-98; Jürgen Tampke: Die Sozialisierungsbewegung im Steinkohlenbergbau an der Ruhr, in: Hans Mommsen/Ulrich Borsdorf (Hrsg.): Glück auf, Kameraden! Die Bergarbeiter und ihre Orga- nisationen in Deutschland, Köln 1979, S. 225-248. 10 Siehe Jürgen Tampke: The Ruhr and the Revolution. The Revolutionary Movement in the Rhenish-Westpha- lian Region 1912-1919, London 1987. 11 Siehe Hermann Bogdal: Rote Fahnen im Vest, Bd. 1: Novembertrage 1918 in Recklinghausen, Essen 1983. 12 Siehe Erhard Lucas: Ursachen und Verlauf der Bergarbeiterbewegung in Hamborn und im westlichen Ruhr- gebiet 1918/19. Zum Syndikalismus in der Novemberrevolution, in: Stadtarchiv Duisburg (Hrsg.): Duisbur- ger Forschungen. Schriftenreihe für Geschichte und Heimatkunde Duisburgs, Bd. 15 (1971), S. 1-119; Erhard Lucas/Claus Tedesco: Zur Bergarbeiterbewegung in Hamborn 1918/19, in: Duisburger Forschungen, Bd. 22 (1975), S. 141-169; Erhard Lucas: Der 9. November 1918 – Umschlagspunkt der Widerstandsbewegung in Duisburg, Hamborn und dem westlichen Ruhrgebiet, in: Duisburger Forschungen, Bd. 37 (1990), S. 163-178. 13 Siehe Erhard Lucas: Märzrevolution 1920, 3 Bde., Frankfurt a.M. 1974-1983. Hierzu auch: Johannes Gorlas/Detlev J.K. Peukert: Ruhrkampf, Essen 1987; Jürgen Lange: Die Schlacht bei Pelkum im März 1920. Legenden und Dokumente, Essen 1994. 14 Siehe Henri Walther/Dieter Engelmann: Zur Linksentwicklung der Arbeiterbewegung im Rhein-Ruhrgebiet unter besonderer Berücksichtigung der Herausbildung der USPD und der Entwicklung ihres linken Flügels vom Ausbruch des 1. Weltkrieges bis zum Heidelberger Parteitag der KPD und dem Leipziger Parteitag der USPD, 3 Bde., Diss. phil., Leipzig 1965.

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Ruhrgebiet entstanden, die der Quellensammlung „Revolution in Rheinland und Westfalen“ vorausgeschickt wird und besonders die sozialen und wirtschaftlichen Dimensionen der regionalen Revolutionsgeschichte berücksichtigt.15 Hilfreiche Hinweise zur Rolle der lokalen und regionalen Arbeiterorganisa- tionen in der Revolution enthalten die Studien zur politischen Geschichte der (Berg-)Arbeiterbewegung des Ruhrgebiets zwischen 1918 und 1933 von Martin Martiny und Hans Mommsen.16 Gerade die Sozialdemokratie und der sozialde- mokratisch geprägte Verband der Bergarbeiter Deutschlands, der so genannte Alte Verband, hatten 1919/20 erhebliche machtpolitische Raumverluste zu gewär- tigen. Die allgemeine Polarisierung trieb syndikalistischen Organisationen und Zusammenschlüssen eine erhebliche Zahl von (Berg-)Arbeitern zu, worüber die Forschungen von Jürgen Jenko und Karl-Friedrich Gesau Auskunft geben.17 Den sozialgeschichtlichen Zusammenhang, in dem die Radikalisierung weiter Teile der Ruhrarbeiterschaft in der revolutionären Nachkriegsperiode zu erfassen ist, er- läutern grundlegende Studien von Klaus Tenfelde über „soziale Schichtung, Klas- senbildung und Konfliktlagen im Ruhrgebiet“ und zur Arbeiterbewegung in der Region.18 In den regionalen Auseinandersetzungen und Arbeitskämpfen der Revo- lutionszeit offenbare sich, so Tenfelde, die Koinzidenz eines industriegesellschaft- lichen Verteilungskonflikts und eines politischen Herrschaftskonflikts. Die Schär- fe und Massenhaftigkeit dieser fundamentalen Konfliktlagen, die sich in einem von der industriellen Arbeiterklasse des Ruhrgebiets ausgeprägten „spontaneisti- schen Konfliktmodus“ abspielten, hätten die Region zu dem wohl wichtigsten Zentrum der revolutionären Massenbewegung gemacht.19 Abelshauser/Himmelmann und Tenfelde unterstreichen, dass eine umfassende Betrachtung der revolutionären Phase im Ruhrgebiet auch die in der Inflation und der Ruhrbesetzung angelegten sozialen und wirtschaftlichen Konstellationen und Konfliktlagen bis zur Stabilisierungskrise 1923/24 zu berücksichtigen hätte.20

15 Siehe Abelshauser, Umsturz. 16 Siehe Martin Martiny: Arbeiterbewegung an Rhein und Ruhr vom Scheitern der Räte- und Sozialisierungsbe- wegung bis zum Ende der letzten parlamentarischen Regierung der Weimarer Republik (1920-1930), in: Jür- gen Reulecke (Hrsg.): Arbeiterbewegung an Rhein und Ruhr. Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Rheinland-Westfalen, Wuppertal 1974, S. 205-273; Hans Mommsen: Die Bergarbeiterbewegung an der Ruhr 1918-1933, in: Reulecke, Arbeiterbewegung, S. 275-311. Siehe auch Stefan Goch: Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur im Ruhrgebiet. Eine Untersuchung am Beispiel Gelsenkirchen 1848- 1975, Düsseldorf 1990. Siehe daneben den ersten Teil der Geschichte der Arbeiterbewegung 1918-1933 von Heinrich August Winkler: Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Wei- marer Republik 1918 bis 1924, Berlin/Bonn 1984. 17 Siehe Jürgen Jenko: Die Bergarbeiterschaft und der Aufstieg des Anarcho-Syndikalismus im Ruhrgebiet bis 1919, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen (Bochum) 38/2008, S. 7-26; Karl-Friedrich Gesau: Syndikalismus in der Ruhrbergarbeiterschaft zu Beginn der Weimarer Republik 1918-1925, Münster 1985; Andreas Müller: Aufbruch in neue Zeiten. Anarchosyndikalisten und Nationalsozialisten in Mengede in der Frühphase der Weimarer Republik, in: Bochumer Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Ar- beit, Nr. 9, Bochum 1987, S. 121-154. 18 Siehe Tenfelde, Schichtung; Ders. : Zur Sozialgeschichte der Arbeiterbewegungen im Ruhrgebiet 1918 bis 1933, in: Kurt Düwell/Wolfgang Köllmann (Hrsg.): Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter, Bd. 2: Von der Reichsgründung bis zur Weimarer Republik, Wuppertal 1984, S. 333-348. 19 Siehe Tenfelde, Schichtung, S. 210. Siehe auch Ders., Arbeiterbewegung, S. 339.

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Wenn im Folgenden die Ruhrgebietsentwicklung ausschließlich während der un- mittelbaren Revolutionsphase zwischen November 1918 und April 1920 unter- sucht wird, ist damit zugleich gesagt, dass der Untersuchungsgegenstand nicht in seiner ganzen Tiefe durchleuchtet werden kann.

Radikalisierungsschübe in der Arbeiterschaft des Ruhrgebiets 1918-1920

Der Umsturz im Ruhrgebiet wurde wie im übrigen Deutschen Reich von Soldaten ausgelöst. Zwischen 7. und 9. November 1918 initiierten Kieler Marinesoldaten, die vom Militärstützpunkt Köln gekommen waren, die Bildung lokaler Arbeiter- und Soldatenräte in den Revierstädten. Obgleich die Räte im Ruhrgebiet mit klas- senkämpferischen Worten die vollständige Übernahme der politischen Gewalt be- anspruchten, verlief der Umsturz in den Städten relativ ruhig. Die Räte waren mehrheitlich von Sozialdemokraten besetzt, daher antibolschewistisch eingestellt und entwickelten nur in Maßen politische Initiativen. Stattdessen waren ihre Ak- tivitäten in erster Linie auf die Aufrechterhaltung der Ordnung und die Sicherung der Lebensmittelversorgung gerichtet. Dies geht aus den überlieferten Aufrufen verschiedener Arbeiter- und Soldatenräte des Ruhrgebiets hervor.21 An zweiter Stelle stand der Kampf gegen das Wiedererstarken monarchischer Kräfte in der Armee. Damit sollte die Übergangsherrschaft des Rates der Volksbeauftragten sta- bilisiert werden, der frühzeitig die Weichen für die parlamentarische Republik und die Überwindung der Revolution stellte. Im Zeichen eines reformistischen Kurses suchten die Räte die Kooperation mit den kaiserlichen Verwaltungsbeamten in den Stadtverwaltungen und Bezirksregierungen:22 Der Blick auf das Ruhrgebiet macht somit deutlich, dass das „demokratische Potenzial“ der Rätebewegung für einen wahrhaft politischen Neuanfang nicht überschätzt werden darf, wie in der For- schung der 1960er und 70er Jahre bisweilen geschehen.23 Die spontan gebildeten Räte waren zwar Träger des Umbruchs in der ersten Revolutionsphase und wirk- ten etwa durch die Niederwerfung linksextremer Gewalttaten auf die Durchset- zung demokratischer Verhältnisse hin, gleichwohl ist ihr Stellenwert für einen fun- damentalen Umbau der politischen Ordnung inklusive eines umfassenden Elitenwechsels zu relativieren.24 Auch schon während der ersten Revolutionsphase waren im Ruhrgebiet ver- einzelt Auseinandersetzungen aufgeflackert. Doch erst um den Jahreswechsel 1918/19 formierte sich eine – durch die politische Revolution vom November 1918 angestachelte – soziale Protestbewegung, die sich in massiven Ausschrei-

20 Siehe Abelshauser/Himmelmann, Revolution; Tenfelde, Arbeiterbewegung, S. 344. 21 Siehe Aufruf des Recklinghäuser Arbeiter- und Soldatenrats vom 9. November 1918 und Erklärung desselben vom gleichen Tag, in: Bogdal, Rote Fahnen, S. 13 u. 14. 22 Siehe Abelshauser, Umsturz, S. XIII-XXI. 23 Siehe Rürup, Einleitung; Oertzen, Ruhrbergarbeiterschaft. 24 Siehe Wirsching, Weimarer Republik, S. 53.

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tungen, Generalstreiks und bürgerkriegsähnlichen Kämpfen artikulierte. Einen frühen Kristallisationspunkt der Proteste bildeten Streikaktionen von Bergleuten in Duisburg-Hamborn vom Dezember 1918, die sich unter maßgeblichem Ein- fluss einzelner Vertreter der syndikalistischen „Freien Vereinigung deutscher Ge- werkschaften“ (FVdG) in kürzester Zeit auf das westliche Ruhrgebiet ausweite- ten.25 Der lokal und betrieblich akzentuierte Anarcho-Syndikalismus konnte im Ruhrgebiet an syndikalistische Traditionen aus der Vorkriegszeit anknüpfen und gerade in Regionen wie Hamborn, die eine zügig wachsende, junge und hoch mobile Arbeiterbevölkerung sowie ein geringes Maß an sozialer Integration auf- wiesen, reüssieren.26 Mit den Forderungen nach kürzeren Arbeitszeiten und höhe- ren Löhnen vermengte sich in Hamborn der Ruf nach Sozialisierung des Kohlen- bergbaus. Die Streikwelle erfasste am 17. Dezember über 28.000 Bergarbeiter und erlahmte erst Anfang Januar 1919.27 Vor dem Hintergrund der Hamborner Streikbewegung und der Verhärtung der Frontlinien zwischen Mehrheitssozialdemokraten und Unabhängigen Sozialisten auf Reichsebene infolge des Auszugs der USPD aus dem Rat der Volksbeauftrag- ten im Dezember 1918 und des Arbeiteraufstands in Berlin im Januar 1919 wei- tete sich die Proteststimmung im Ruhrgebiet aus und gipfelte im Februar in einer exzeptionellen Massenstreikbewegung. Die Bewegung, die massenhaft Zulauf erhielt und sich zunehmend radikali- sierte, riss sowohl die Arbeiter- und Soldatenräte als auch die sozialistischen Arbeiterparteien mit sich. Zwar waren die Bemühungen von KPD- und USPD- Vertretern sowie syndikalistischen Gruppen, Einfluss auf lokale und regionale Räteorganisationen zu gewinnen, vor dem Hintergrund einer allgemeinen „Links- schwenkung“ in der Arbeiterschaft in zunehmenden Maße von Erfolg gekrönt – drangen sie doch darauf, dem politischen Umsturz nunmehr die sozialisti- sche Revolution folgen zu lassen. Aber im Grunde wurde die „Flutwelle“ bürger- kriegsähnlicher Auseinandersetzungen und Massenstreiks in der zweiten Revolu- tionsphase weder von den Arbeiter- und Soldatenräten noch von den sozialisti- schen Parteien getragen. Vielmehr ging die „Initiative zur Zweiten Welle der Revolution (…) spontan von den Arbeitermassen selbst aus“.28 Die Rätebewegung sowie die erstarkenden linkssozialistischen und syndikali- stischen Strömungen erfuhren ihre regionalspezifische Dynamik zum einen da- durch, dass sie an sozialgeschichtlich bedeutsame Strukturen des Kohlenbergbaus und der schwerindustriellen Arbeiterklasse des Ruhrgebiets anknüpfen konnten. Insbesondere die „strukturelle Analogie“ der Räteidee zu den Traditionen der di- rektdemokratischen Belegschaftsartikulation und teilautonomen Arbeitsformen im Bergbau mobilisierte die dort tätigen Arbeiter. Von den Hamborner Protesten

25 Siehe Mommsen, Bergarbeiterbewegung, S. 289f.; Jenko, Anarcho-SyndikalismuS. 26 Siehe ebenda; Erhard, Ursachen;Lucas/Tedesco, Bergarbeiterbewegung. 27 Siehe Winkler, Revolution, S. 159-167; Lucas, 9. November; Lucas/Del Tedesco, Hamborn. 28 Mommsen, Revolution, S. 369f. (Zitat), 374f. In diesem Sinne auch Tenfelde, Schichtung, S. 10-213.

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strahlte der Gedanke der direkt-demokratischen Willensbildung insofern aus, als es im Frühjahr 1919 auf zahlreichen Zechen zur Etablierung einer von der Orts- kameradschaft über das Steigerrevier und den Zechenrat reichenden „Basisdemo- kratie“ kam, die vielfach die Keimformen für überregionale Räteorganisationen bildeten. Die Bergleute setzten in besonderem Maße auf Bewegung und spontane Aktion.29 Zum anderen konnte sich das revolutionäre Protestpotenzial aufgrund spezifischer demographischer Faktoren des Ruhrgebiets erfolgreich entfalten. Denn die im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung explosiv gewachsene Bevölkerung an der Ruhr zeichnete sich gegenüber dem übrigen Deutschen Reich bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein nicht nur durch eine starke Zuwanderung aus, sondern auch durch eine damit verbundene, weil importierte, höhere Geburtenrate und einen entsprechend hohen Anteil Jugendlicher und junger Erwachsener. Zu- wanderer und junge Arbeiter bildeten wirkungsmächtige Trägergruppen der Pro- teste zwischen 1918 und 1920: Beide waren nur in geringem Maße politisch so- zialisiert worden und suchten weniger den Anschluss an etablierte Politikformen und Verbändedemokratie, wie sie die etablierten Arbeiterorganisationen repräsen- tierten, sondern orientierten sich vielmehr an antibürokratischen und spontanen Aktionsformen.30 Die revolutionären Protestbewegungen fanden mithin in beson- deren regionalen, sozialgeschichtlichen Faktoren „Anknüpfungspunkte“. Diese allein erklären aber noch nicht hinreichend die Intensität der 1918/19 ausbrechen- den Radikalisierungsschübe, die des revolutionären Impulses bedurften. Dabei speiste sich der Protest aus einer vielschichtigen und diffusen Gemenge- lage politischer, wirtschaftlicher und sozialer Motive: Erstens aus der grassieren- den Enttäuschung über den bisherigen Verlauf der Revolution „in Berlin“, vor al- lem über die schwerwiegenden Kompromisse des Rates der Volksbeauftragten mit den traditionellen Gewalten in Bürokratie, Unternehmerschaft und Militär, die mit den im Krieg aufgebauten Erwartungshaltungen an einen politischen und sozialen Umbau der bestehenden Ordnung kollidierten.31 Die Mehrheitssozialdemokratie schien sich von grundlegenden programmatischen Zielsetzungen der Arbeiterbe- wegung zu entfernen. Die revolutionäre Wut und Verbitterung traf daher in erster Linie die etablierten Arbeiterorganisationen vor Ort und führte im sozialdemokra- tisch geprägten Alten Verband zu heftigen innerorganisatorischen Konflikten und massenhaften Austritten jüngerer Bergarbeiter.32 Eine zweite Triebfeder waren grundlegende materielle Problemlagen, die an die industrielle Lebens- und Existenzweise der großen Mehrheit der Ruhrgebietsbe- völkerung gekoppelt waren und von der kriegs- und nachkriegsbedingten Nah- rungsmittelknappheit wie auch der Inflation und der Demobilmachung noch ver-

29 Siehe Lucas, Ursachen; Tenfelde, Schichtung, S. 210-212; Tenfelde, Arbeiterbewegung, S. 338f. 30 Siehe Tenfelde, Arbeiterbewegung, S. 335-338. 31 Siehe Martiny, Arbeiterbewegung, S. 242f.; Tenfelde, Arbeiterbewegung, S. 338; Rürup, Einleitung, S. 9-11; Tampke, The Ruhr and Revolution; Wirsching, Revolution, S. 8. 32 Siehe Tenfelde, Schichtung, S. 211f.

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stärkt wurden. Bereits im so genannten Steckrübenwinter 1916/17 war es in Essen zu Hungerunruhen und Streiks gekommen, an denen gut 20.000 Bergleute teil- genommen hatten. Mit der Revolution schien die Zeit nunmehr reif für den Aus- gleich der im Krieg erbrachten Entbehrungen.33 Daher waren die revolutionären Postulate vielfach mit der Forderung nach verbesserten Lohn- und Existenzbedin- gungen verzahnt. Gerade im Schlagwort der Sozialisierung des Kohlenbergbaus verdichtete sich das Streben der Bergleute nach Überwindung sozialer Not und re- striktiver Arbeitsbedingungen aus der Zeit des Weltkriegs; es entsprang weniger dem theoretischen Entwurf eines gesamtgesellschaftlichen Umbaus, denn viel- mehr dem mental tief verankerten „Verlangen nach Humanisierung und Respek- tierung der bergmännischen Arbeit“.34 Sozialisierung, darauf hat die Forschung hingewiesen, wurde im Frühjahr 1919 vielfach zu einem Symbol für die ange- strebte Verbesserung der sozialen Lage und die Selbstbestimmung am Arbeits- platz.35 Schubkraft erhielt die Protestbewegung drittens durch die Kritik der Solda- tenräte an der Militärpolitik des Rates der Volksbeauftragten, die konterrevolu- tionären Kräften in der Armee uneingeschränkte Handlungsspielräume einzuräu- men schien.36 Und die blutigen Gewalttaten der Freikorps und Reichswehrtruppen gegen Sicherheitswehren dürften die Verbitterung vertieft haben. Zumal deutlich wurde, dass das Militär ungeachtet des politischen Umsturzes weiterhin einen gra- vierenden innenpolitischen Machtfaktor darstellte. Im Ganzen dürfte es in An- lehnung an Andreas Wirsching nicht ganz falsch sein anzunehmen, dass die er- fahrungsgeschichtlich greifbare „Diskrepanz zwischen Revolutionserwartung und Revolutionsabkehr“ ausschlaggebend für das hohe Ausmaß der politischen Pola- risierung war, die das Ruhrgebiet in den Jahren 1919 und 1920 prägen sollte.37 Die Proteste waren zugleich Ursache, Begleitfaktor und Ergebnis tief greifen- der Radikalisierungsschübe in der Arbeiterschaft des Ruhrgebiets, mit denen die sozialistischen Parteien weitgehend unvorbereitet konfrontiert waren. Die Gene- ralstreiks vom Frühjahr 1919, die Sozialisierungsdebatte, der Aufstieg des Anar- cho-Syndikalismus und der „Ruhrkampf“ vom März/April 1920 waren Kristalli- sationspunkte der Protestbewegungen, die es im Folgenden zu untersuchen gilt.

33 Siehe Wirsching, Weimarer Republik, S. 54. 34 Abelshauser, Umsturz, S. XXIII. 35 Siehe ebenda; Mommsen, Bergarbeiterbewegung, S. 290-295; Mommsen, Revolution, S. 375-383, 389f. 36 Siehe Mommsen, Revolution, S. 370. 37 Andreas Wirsching: Die paradoxe Revolution 1918/19, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 50-51/2008, S. 9f.

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Die Streikbewegung vom Frühjahr 1919

Parallel zu Streikbewegungen im sächsisch-thüringischen Industrierevier weite- te sich die Proteststimmung im Ruhrgebiet während des Februar 1919 aus und gipfelte in zwei Generalstreiks, die mit massivsten Ausschreitungen und bürger- kriegsähnlichen Kämpfen verbunden waren. Ein Großteil der Arbeiterschaft be- gehrte gegen die Machtverhältnisse auf, „deren Veränderung sie seit dem Revo- lutionsbeginn erhofft hatten“, so dass sich innerhalb kürzester Zeit eine politisch hochexplosive Stimmung in der Region breit machte.39 Örtliche Vertreter der FVdG und der um die Jahreswende 1918/19 gegründeten KPD erkannten in der zunehmenden Unruhe der Arbeiterschaft einen Hebel zur Aufwertung der eigenen Machtpositionen, so dass sie sich vielfach, gerade in den Hochburgen des östli- chen Ruhrgebiets, an die Spitze lokaler Arbeiter- und Soldatenräte stellten. Erst in diesem Zeitraum entfaltete die sozialistisch-utopistische Räteidee in der schwer- industriellen Ballungsregion an der Ruhr ihre gewaltige sozialpsychologische Anziehungskraft, die zum erstrebenswerten Gegenentwurf zu den scheinbar un- veränderten gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen avancierte. Schien sie doch dem unmittelbaren „Volkswillen“ der revoltierenden Massen Ausdruck zu verleihen.40 Auslöser des Generalstreiks war die Absetzung des Münsteraner Generalsolda- tenrates am 11. Februar 1919 durch Reichswehrgeneral Oskar von Watter. Der Soldatenrat, der die Kommandogewalt im Bereich des VII. Armeekorps – zu dem das Ruhrgebiet gehörte – beanspruchte, war der Obersten Heeresleitung ein Dorn im Auge gewesen. Die Arbeiter- und Soldatenräte des Ruhrgebiets betrachteten diesen Schritt als einen Angriff auf die eigene Position und reagierten mit der Androhung des Generalstreiks zum 18. Februar, worüber eine Revierkonferenz befinden sollte. In diesem Zeitfenster rissen nun Arbeiter- und Soldatenräte aus dem Mülheimer Raum, die von Syndikalisten und Kommunisten dominiert waren, das Heft des Handelns an sich, indem sie am 16. Februar – gegen den Widerstand von SPD-Vertretern und des Alten Verbandes – den Generalstreik ausriefen.41 Der Alte Verband rief in seinem Organ, der „Bergarbeiter-Zeitung“, zur Mäßigung auf. Er warnte, der von „unverantwortlichen spartakistischen Elementen“ initiierte Streik würde das wirtschaftliche Leben, „welches ohnehin vor dem Zusammen- bruch steht“, vollends zerstören, „unermäßliche Not, Hunger und Elend“ würden um sich greifen. Damit nicht genug, die Reichsregierung wurde sogar „im Auftrag des überwiegenden großen Teils der Belegschaften“ aufgefordert, „unverzüglich

38 Siehe Mommsen, Revolution, S. 375. 39 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 399. 40 Siehe Abelshauser, Umsturz, S. XX; Mommsen, Revolution, S. 370, 376f.; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 400. 41 Siehe den Artikel „Warum sind wir gegen den Generalstreik?“ des Sozialdemokraten und Mitglieds des Esse- ner Arbeiter- und Soldatenrats, Heinrich Limbertz, in der Essener Arbeiterzeitung vom 19.2.1919, in: Abels- hauser/Himmelmann, Revolution, S. 59-61.

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die geeigneten Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung“ zu er- greifen.42 Doch in den folgenden Tagen befanden sich über 180.000 Bergleute im Ausstand – allein die große Masse war Symptom für das hohe Ausmaß der Ent- fremdung zwischen Verbandsführung und der Mitgliedschaft zu diesem Zeit- punkt.43 Die nach dem Novemberumsturz in fast allen Städten des Ruhrgebiets gebilde- ten Arbeiter-Sicherheitswehren lieferten sich blutige Kämpfe mit dem Freikorps Lichtschlag, das am 14./15. Februar in Hervest-Dorsten einmarschiert war.44 Die militärischen Überreaktionen der Freikorps unter dem sozialdemokratischen Reichswehrminister Gustav Noske verursachten eine zunehmende Militanz und wechselseitigen Hass. Die Unruhen wurden schließlich mit brutaler Gewalt von Freikorps und regulären Truppen am 23./24. Februar niedergeschlagen.45 Aber schon kurze Zeit später, Ende März, löste das Aufeinandertreffen von Ar- beitern und Polizei am 24. und 25. März in Witten neue Proteste aus, die vor dem Hintergrund der Streikbewegungen in Berlin, Sachsen und Thüringen und der nur schleppend vorankommenden Sozialisierungsdebatte in einen zweiten Gene- ralstreik mündeten. Dieser wurde von einer von USPD und KPD dominierten Schachtdelegiertenkonferenz am 30. März ausgerufen. An die Streikerklärung knüpften die Delegierten die Forderung nach Einführung der Sechsstundenschicht und 25-prozentiger Lohnerhöhung, auch forderten sie den Austritt aus den Ge- werkschaften und die Gründung einer „Allgemeinen Bergarbeiterunion“, die der Räteidee verpflichtet sein sollte. Die Sechsstundenschicht war für die Bergleute insofern bedeutsam, als sie dadurch Benachteiligungen gegenüber anderen Bran- chen, etwa der Stahlindustrie, ausgleichen wollten. Hatten sie doch in ungleich geringerem Maße von dem Achtstundentag profitiert, der im Stinnes-Legien-Ab- kommen vom 15. November 1918 vereinbart wurde und ihnen nur eine Arbeits- zeitverkürzung von einer halben Stunde einbrachte.46 Trotz des von der Regierung verhängten Ausnahmezustands beteiligten sich seit dem 4. April 345.000, später über 400.000 Bergleute an dem Ausstand, der somit weit über die linksradikale Strömung in der Arbeiterschaft ausgriff und auch Anhänger der gemäßigten Arbeiterorganisationen erfasste.47 Die Streiks waren un- gleich heftiger als die vorangegangenen Protestaktionen und setzten die Reichsre- gierung unter Philipp Scheidemann (SPD) unter Handlungsdruck. Da aus ihrer Sicht die Industrieregion in Chaos und Gewalt unterzugehen und der Republik der wirtschaftliche Ruin drohte, griff die Regierung zu einem Bündel differenzierter

42 Bergarbeiter-Zeitung Nr. 9 vom 1.3.1919, S. 1. 43 Siehe Mommsen, Berarbeiterbewegung, S. 293. 44 Siehe Bogdal, Rote Fahnen, S. 62-93. 45 Siehe Abelshauser, Umsturz, S. XX; Rürup, Einleitung, S. 27f.; Bogdal, Rote Fahnen, S. 108-110; Winkler, Revolution, S. 169f. 46 Siehe Abelshauser, Umsturz, S. XXXV. 47 Die erste Angabe ist der Streikerklärung der Essener Neunerkommission vom 4.4.1919 entnommen, in: Bog- dal, Rote Fahnen, S. 99. Die zweite Angabe nach Mommsen, Bergarbeiterbewegung, S. 294.

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Maßnahmen und entsandte den ehemaligen Gewerkschaftsfunktionär und Reichs- tagsabgeordneten als Reichskommissar in das Ruhrgebiet. Mit ei- ner Mischung aus militärischer Härte sowie politischem Verhandlungsgeschick und der avisierten Verbesserung der Lebensmittelsituation konnte dieser schließ- lich bis zum 28. April auf ein Ende des Generalstreiks hinwirken.48 Durch die Ruhrstreiks vom Frühjahr 1919 wurden heftige Auseinandersetzun- gen, wie sie deutschlandweit geführt wurden, fortgesetzt, auch wenn das quanti- tative Ausmaß das der Streiks in Sachsen und Thüringen oder Berlin deutlich übertroffen hatte.49 Zur Niederschlagung der Streiks durch Freikorps und Reichs- wehrtruppen sah sich die Reichsregierung veranlasst, da ihrer Überzeugung nach die Revolution mit der Konstituierung der Nationalversammlung am 6. Februar zu ihrem Abschluss gekommen war. Der Regierung, aber auch der Führung des Al- ten Verbandes fehlte die grundlegende Einsicht in die Triebkräfte des Protestes; stattdessen wurde die Streikbewegung vielfach als „rebellische Aktionen von durch Spartakisten und sonstige radikale Elemente irregeführten Arbeitermassen“ wahrgenommen, die den „wahren Interessen“ der von der MSPD repräsentierten Arbeiterbewegung zuwiderlaufen würden.50

Die Sozialisierungsdebatte und die Arbeiterbewegung im Ruhrgebiet

Die Forderung nach Sozialisierung des Ruhrkohlenbergbaus bündelte und dyna- misierte die Protestbewegung vom Frühjahr 1919.51 Dass sich die hochfliegen- den und zugleich diffusen Erwartungen der Arbeiterschaft an einen gesellschaftli- chen Wandel und die Verbesserung der eigenen Lage gerade im Schlagwort der Sozialisierung symbolisch verdichteten, mag auch daran gelegen haben, dass die bekannte Programmatik der sozialistischen Arbeiterbewegung ein Ende der Ent- fremdung, die Selbstbestimmung und die materielle Besserstellung projizierte, wenn nur die Produktionsmittel in Gemeineigentum überführt seien.52 Bereits im November 1918 hatten Arbeiter- und Soldatenräte der Industrieregion formuliert: „Das Ziel der Revolution ist, die Sozialisierung der Gesellschaft, die Überführung der Produktionsmittel aus den Händen weniger in den Besitz der Gesamtheit (…). Hierauf hat die heutige Macht mit allen Mitteln hinzuarbeiten, umso mehr als das revolutionäre Proletariat, die Masse des Volkes, die Herbeiführung dieses Ziels er- wartet und stürmisch verlangt.“53 Aber die Hoffnungen auf einen gesellschaftli-

48 Siehe Abelshauser, Umsturz, S. XXf.; Rürup, Einleitung, S. 29; Bogdal, Rote Fahnen, S. 110-113; Winkler, Revolution, S. 173f. 49 Siehe Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 399. 50 Mommsen, Revolution, S. 386. 51 Siehe Mommsen, Bergarbeiterbewegung, S. 292. 52 Siehe Mommsen, Revolution, S. 375, 390. 53 Beschluss der Bezirkskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte Bezirk Niederrhein vom 20.11.1918, zit. nach Abelshauser, Umsturz, S. XXIII.

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chen Wandel widersprachen der Wirtschaftspolitik des Rates der Volksbeauftragten, der ganz im Zeichen seiner „Politik der Risikover- meidung“54 während der ersten Revolutionsphase vor massiven Eingriffen in das Wirtschaftsleben zurückgeschreckt war. Stattdessen wurde der raschen Wiederbe- lebung der deutschen Wirtschaft Priorität eingeräumt und die Entscheidung über die künftige Wirtschaftsordnung auf einen späteren Zeitpunkt verschoben.55 Die Übergangsregierung berief eine Sozialisierungskommission unter dem Vorsitz von Karl Kautsky ein, die mit Vertretern von MSPD und USPD und namhaften Wissenschaftlern besetzt wurde und erste Planungsschritte skizzieren sollte. Da- mit konnte gegenüber der eigenen Anhängerschaft der Anschein aufrecht erhalten werden, dass die Sozialisierung unmittelbar bevorstehe. Im Grunde war die Kom- mission jedoch nur ein Instrument, um die von der Mehrheitssozialdemokratie ab- gelehnte Sozialisierung auf die lange Bank zu schieben. Und als die Kommission schließlich im Februar mit Vorschlägen zur Sozialisierung des Kohlenbergbaus an die Öffentlichkeit trat, wurden diese von den sozialdemokratischen Regierungs- mitgliedern schlicht übergangen.56 In ihrer Haltung wusste sich die MSPD-Spitze im Einverständnis mit der Führung der Freien Gewerkschaften und im Besonderen mit der Führung des Al- ten Verbandes. Die Gewerkschaften hatten schon am 15. November 1918 mit dem „Stinnes-Legien-Abkommen“ mit den Unternehmern die Zentralarbeitsgemein- schaft begründet. Das schlug ein neues Kapitel in der Geschichte der Arbeitsbe- ziehungen auf. Während den Arbeitgebern an der Verhinderung möglicher Sozia- lisierungen gelegen war, zielten die Gewerkschaften nach jahrzehntelangen Kämpfen im Zeichen des Klassenkampfs besonders auf die Anerkennung als legi- time Vertretung der Arbeitnehmerschaft. Im Ergebnis einigte man sich auf den von der Arbeiterschaft seit langem geforderten Achtstundentag, Tarifverträge und die Einsetzung von Arbeiterausschüssen in Betrieben mit mehr als 50 Beschäftigten. Der gewerkschaftspolitische Erfolg bedeutete aber zugleich die Bestätigung der geltenden Eigentumsverhältnisse, so dass „künftig jeder weitere Vorstoß zu einer Sozialisierung auf den überwiegenden Widerstand der Gewerkschaftsführungen“ stieß.57 Die Sozialisierungsdebatte nahm im Januar 1919 an Fahrt zu. Der sozialdemo- kratische Wirtschaftsminister Rudolf Wissel plädierte für das in der Tradition des „Kriegssozialismus“ stehende Konzept der „Gemeinwirtschaft“ – ein „System von Wirtschaftsräumen (…), in denen Unternehmer und Gewerkschaften als Pro- duzenten zusammen mit dem Handel und den Verbrauchern unter der Moderation des Staates die Kontrolle über die Produktionsmittel ausüben sollten“.58 Damit

54 Rürup, Einleitung, S. 14. 55 Siehe Abelshauser, Umsturz, S. XXIII. 56 Siehe Winkler, Revolution, S. 191-193. 57 Wirsching, Weimarer Republik, S. 6f. 58 Abelshauser, Umsturz, S. XXIV.

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sollten die Großunternehmen in einen korporativen Rahmen eingefasst und zu- gleich staatlicher Kontrolle unterworfen werden. Eine Änderung der Eigentums- verhältnisse, wie sie die Programmatik der Arbeiterbewegung nahelegte, war mit dieser Idee der Gemeinwirtschaft nicht vorgesehen. Dies hinderte Wissel dennoch nicht daran, das Modell unter dem Label des Sozialismus zu postulieren, was ein Schlaglicht auf die revolutionäre Containment-Politik von SPD und Gewerk- schaften und die damit verbundene Umdeutung zentraler Begriffe aus der soziali- stischen Programmatik der Arbeiterbewegung wirft. Auch die sozialdemokratische Wirtschaftspolitik zielte weniger auf Revolution denn auf die evolutionäre Fortentwicklung des Bestehenden ab. Die Realisierung der sozialistischen Wirtschaftsordnung sollte nun nicht mehr auf dem Wege der Abschaffung der kapitalistischen Ordnung erreicht werden, sondern durch deren Demokratisierung. Damit korrespondierte die Transformation des marxistischen Vokabulars: „Sozialismus“ konnte in wirtschaftlicher Hinsicht nunmehr auch „Gemeinwirtschaft“ bedeuten.59 In der „Bergarbeiter-Zeitung“ hieß es etwa im Februar 1919: „Das Ziel der wirtschaftlichen Revolution ist der Sozialismus, d. h. an die Stelle der privatkapitalistischen Güterherstellung und Warenverteilung (soll) die gemeine Wirtschaft (gesetzt werden), in der nicht mehr um des Profites willen, sondern von der Gesellschaft der Bedarf der Gesellschaft produziert wird.“60Vor dem Hintergrund der großen ideengeschichtlichen Tradition des So- zialisierungsprojekts blieb dieses Konzept der Gemeinwirtschaft entsprechend weit hinter den Erwartungen zahlreicher Sozialdemokraten und Gewerkschafter sowohl im Reich als auch im Ruhrgebiet zurück. Eine Mehrheit in den Arbeiter- organisationen hielt daher an der „Vollsozialisierung“ fest, worunter „sie die Ent- eignung der Produktionsmittelbesitzer zugunsten des Staates oder der Gesell- schaft verstand“.61 Am wahrscheinlichsten war noch eine Einigung in der Frage der Sozialisierung des Kohlenbergbaus. Gerade die Ruhrzechen erschienen aufgrund der weitgehen- den Kartellierung im Kontext des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats (RWKS) und der starken Stellung des preußischen Staates als Eigentümer zahl- reicher Ruhrzechen für die Vergesellschaftung besonders geeignet.62 Nichtsde- stotrotz bildete das Ruhrgebiet die Kulisse für die Verschleppung und das letztli- che Scheitern eines grundlegenden Umbaus der Wirtschafts- und Sozialordnung während der Revolution. Am 13. Januar 1919 forderte die „Neunerkommission“, ein mit Vertretern aus SPD, USPD und KPD paritätisch besetzter Ausschuss des Essener Arbeiter- und Soldatenrates, unter dem Druck der Streikbewegung die Sozialisierung des Ruhr- kohlenbergbaus. Schon am 11. Januar waren die Verwaltungen des RWKS und des

59 Siehe Wirsching, Weimarer Republik, S. 5. 60 Bergarbeiter-Zeitung, Nr. 5 vom 1.2.11919, S. 1. 61 Abelshauser, Umsturz, S. XXIIIf. 62 „Sozialisierung des Bergbaus“, Bergarbeiter-Zeitung, Nr. 5 vom 1.2.1919, S. 1.

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Bergbaulichen Vereins besetzt und mit dem Landrichter Ruben (MSPD) ein „Volkskommissar für die Vorbereitung der Sozialisierung des Bergbaus im Rhei- nisch-westfälischen Industriebezirk“ ernannt worden.63 Diese „basissozialisti- sche“ Initiative der drei Arbeiterparteien stellt den Versuch dar, die spontanen Streiks zur Stabilisierung der Produktion einzuhegen und das revolutionäre Pro- testpotenzial auf das politische Ziel Sozialisierung hin zu kanalisieren. So wird in der Erklärung des Essener Arbeiter- und Soldatenrates vom Januar 1919 den Strei- kenden vorgeworfen, sie würden „das Erreichte“ zerstören, dem Kapitalismus in die Hände spielen und langfristig dem Sozialismus Schaden zufügen.64 Anderer- seits wollten die Parteien „nicht den Anschluß an eine offensichtlich mächtige Strömung in der Arbeiterschaft verlieren“.65 Die streikenden Arbeitermassen er- zwangen gewissermaßen die Einheit der drei Arbeiterparteien auf regionaler Ebene – trotz aller politisch-ideologischen Differenzen. Sie schien dem Soziali- sierungsprojekt zunächst eine erhebliche Stoßkraft zu verleihen. Das Essener Modell entsprach weniger einer Verstaatlichung als vielmehr der Konzeption einer umfassenden Betriebsautonomie mit syndikalistischem Ein- schlag, womit man sich dezidiert auf die basisdemokratischen Traditionsbestände und Organisationsformen im Bergbau bezog und sich damit im Einklang mit jahr- zehntelang erhobenen Forderungen der Bergarbeiterschaft zu befinden glaubte. Es sah ein hierarchisch abgestuftes Rätesystem für alle Zechen vor – vom Steigerre- vierrat bis hinauf zum Zentralzechenrat –, in dessen Rahmen die Arbeiter direkt die Produktion und den Absatz der Kohle kontrollieren sollten.66 Tatsächlich stellten sich die lokalen Gliederungen der Bergarbeitergewerk- schaften hinter die Neunerkommission.67 Doch gerade der Alte Verband fand in der politisch aufgeheizten Lage keine klare Positionierung in der Sozialisierungs- frage und scheiterte letztlich am „Widerspruch zwischen taktischem Eintreten für und entschiedener innerer Stellungnahme gegen die Sozialisierung“.68 Freilich war dieser Vorstoß auf die Sanktionierung durch den Rat der Volksbe- auftragten angewiesen. Doch dieser reagierte mit hinhaltendem Widerstand und zeigte in Verhandlungen am 17. Februar kaum Entgegenkommen. Stattdessen ver- lor sich die Reichsregierung in recht vagen Formulierungen, die auf erste Schritte zur Verankerung einer gemeinwirtschaftlichen Neuordnung hindeuteten. Des Wei- teren ernannte sie drei „Sozialisierungskommissare“ – für den Staat den Gehei- men Bergrat Arnold Rörig, für die Unternehmerseite den Generaldirektor der Deutsch-Luxemburgischen Bergwerks- und Hütten-AG Albert Vögler sowie den

63 Siehe Erklärung des Essener Arbeiter- und Soldatenrats zur Sozialisierung, in: Abelshauser/Himmelmann, Revolution, S. 146-149. Siehe hierzu auch Abelshauser, Umsturz, S. XXVf.; Winkler, Revolution, S. 160. 64 Siehe Erklärung des Essener Arbeiter- und Soldatenrats zur Sozialisierung, in: Abelshauser/Himmelmann, Revolution, S. 148. 65 Winkler, Revolution, S. 166. Siehe auch Rürup, Einleitung, S. 24; Mommsen, Bergarbeiterbewegung, S. 292. 66 Siehe Erklärung des Essener Arbeiter- und Soldatenrats zur Sozialisierung, in: Abelshauser/Himmelmann, Revolution, S. 147. 67 Siehe ebenda. 68 Abelshauser, Umsturz, S. XXXV.

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Führer des Alten Verbandes Otto Hue als Arbeitervertreter – und stellte die Im- plantierung von „Arbeiterausschüssen (Zechen- und Bergwerksräte)“ in Aussicht, deren Kompetenzen aber weit hinter dem Essener Rätemodell zurückbleiben soll- ten.69 Die Nominierung eines Unternehmervertreters zum Sozialisierungskommis- sar unterstreicht in aller Deutlichkeit, dass die Regierung kein Interesse an der So- zialisierung hatte. Der Vorschlag rief bei den Arbeiter- und Soldatenräten des Ruhrgebiets großen Unmut hervor, so dass eine Rätekonferenz am 6. Februar ultimativ an die Reichs- regierung appellierte, die Neunerkommission bis zum 15. Februar anzuerkennen und das Rätesystem zu legalisieren. Als sich dann die politische Lage im Ruhrge- biet infolge der Absetzung des Münsteraner Soldatenrates zuzuspitzen drohte, zeigte sich die Regierung in Maßen kompromissbereit, erkannte die Neunerkom- mission vorläufig an und erklärte sich bereit, die – freilich mit geringeren Rech- ten als von der Neunerkommission vorgesehenen – Betriebsräte zu sanktionieren. Doch noch bevor eine auf den 18. Februar datierte Rätekonferenz über die Ver- handlungen befinden konnte, erging am 16. Februar der Streikaufruf der kommu- nistischen und syndikalistischen Mülheimer Arbeiter. Damit brach der von den Arbeitermassen improvisierte Konsens zwischen den regionalen Gliederungen der Arbeiterparteien in der Sozialisierungsfrage auf.70 Auf der einen Seite traten die örtlichen MSPD-Vertreter nicht zuletzt aus Loyalität gegenüber der sozialdemo- kratischen Reichsregierung aus der Neunerkommission aus und sprachen sich ge- gen den Generalstreik aus. Auf der anderen Seite erhielten die radikalen Kräfte, Syndikalisten und Kommunisten, erheblichen Auftrieb. Vielfach wurde die Sozia- lisierungsparole hier, wie Abelshauser betont, ohnehin als Vehikel für den Kampf gegen die Republik und das Weitertreiben der Revolution genutzt.71 Doch die „Dy- namik der Sozialisierungsbewegung, die auf der Einheit von Rätebewegung und Arbeiterparteien beruht hatte, war gebrochen“.72 Im März 1919 zog die Reichsregierung dann einen vorläufigen Schlussstrich unter die Sozialisierungsdebatte: Mit einem Sozialisierungs- und einem Kohlen- wirtschaftsgesetz vom 13. und vom 23. März goss sie das Modell der Gemein- wirtschaft in Gesetzesform. Das Sozialisierungsgesetz räumte die Möglichkeit ein, Unternehmen, gerade „solche zur Gewinnung von Bodenschätzen und zur Ausnutzung von Naturkräften, in Gemeinwirtschaft zu überführen“. Das Kohlen- wirtschaftsgesetz sanktionierte die Zusammenführung der Syndikate des Kohlen- bergbaus und unterstellte das RWKS einem Reichskohlenrat, der sich aus Arbeit- nehmern, Unternehmern und Verbrauchern rekrutieren und wiederum dem Staat untergeordnet sein sollte. Damit blieben die Eigentumsverhältnisse im Ruhrkoh-

69 Siehe Abelshauser, Umsturz, S. XXV-XXVII; Rürup, Einleitung, S. 26f.; Winkler, Revolution, S. 160, 166- 168. 70 Siehe Abelshauser, Umsturz, S. XXVII; Winkler, Revolution, S. 169f. 71 Siehe Abelshauser, Umsturz, S. XXVI. 72 Rürup, Einleitung, S. 28f.

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lenbergbau und der politische Einfluss der Unternehmer im Grunde unberührt. Gegen den Widerstand letztgenannter konnte der Kohlenrat auch nicht die ihm zu- gestandene Kontrolle der Preispolitik ausfüllen.73 Welches waren nun die Gründe für das Scheitern der Sozialisierung des Ruhr- kohlenbergbaus im Frühjahr 1919? Erstens entzog die politische Polarisierung im Industrierevier dem basisdemokratischen Sozialisierungskonzept den Boden. Zweitens setzten nicht nur die mächtige Phalanx der Unternehmer des Ruhr- gebiets, sondern auch die Vorstände der Freien Gewerkschaften – inklusive der Führungsriege des Alten Verbandes – dem Projekt Widerstand entgegen. Sie ver- standen sich im Zeichen des Stinnes-Legien-Abkommens zuallererst als wirt- schaftliche Interessenvertretung der Arbeitnehmerschaft. Die Vergesellschaftung von Industriesektoren lag außerhalb ihres politischen Entscheidungs- und Hand- lungshorizonts. Zudem räumten sie der Sicherung der sozialpolitischen Errun- genschaften aus der ersten Revolutionsphase Priorität ein. Aus Sicht der Gewerk- schafter, der MSPD-Spitze und der Reichsregierung sprachen drittens volkswirt- schaftliche Gründe gegen die Sozialisierung des Ruhrkohlenbergbaus während des Übergangs von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft. Sie sahen durch das „So- zialisierungsexperiment“ das Ziel einer leistungsfähigen Ruhrkohlenwirtschaft in Gefahr, die als Schlüsselindustrie im ökonomischen Wiederaufbau betrachtet wurde. Neben die Furcht vor nicht zu überschauenden wirtschaftlichen und poli- tischen Risiken trat viertens die Ahnung, verstaatlichtes Eigentum sei schutzlos den Reparationsforderungen der Alliierten ausgesetzt.74

Der Aufschwung des Anarcho-Syndikalismus im Ruhrgebiet 1918 bis 1920

Zeitgleich mit den Protesten des Frühjahrs 1919 erfuhr der gewerkschaftlich ge- tragene Anarcho-Syndikalismus eine Hochkonjunktur, er war sowohl treibende Kraft als auch Profiteur der Radikalisierungsschübe im Ruhrgebiet zwischen 1918 und 1920. Ausgehend von den Hamborner Streikaktionen vom Dezember 1918 wuchs sich der Syndikalismus im Ruhrgebiet rasch zu einer Massenbewegung aus, die mit den Generalstreiks und dem Ruhrkampf phasenhaft verschobene Kul- minationspunkte erfuhr. Der auf politische Mäßigung und wirtschaftliche Konso- lidierung bedachte Kurs der Freien Gewerkschaften und des Alten Verbandes führte im Frühjahr 1919 zu erheblichen Mitgliederverlusten und hinterließ im po- litisch polarisierten Ruhrgebiet erheblichen Manövrierraum für eine radikale Ge- werkschaftsalternative, den die syndikalistische Bewegung unter dem Einfluss der Streiks, der Unruhen und Demonstrationen auszufüllen wusste. Dabei konnte sie an ältere syndikalistische Traditionen in der Gewerkschaftsbewegung und organi-

73 Siehe ebenda, S. XXVIIf; Winkler, Revolution, S. 144f. 74 Siehe Abelshauser, Umsturz, S. XXV, XXVIIIf.; Schönhoven, Gewerkschaften, S. 126-128; Winkler, Revo- lution, S. 196-198.

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satorische Strukturen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg anknüpfen. Dem „ko- metenhaften Aufstieg“ der Bewegung folgte aber eine ebenso rasche Phase der Zerrüttung und Aufsplitterung.75 Der revolutionäre Syndikalismus setzte auf direkte Aktion, stützte sich auf eine dezentrale Organisation in den Betrieben und postulierte mit sozialrevolutionärer Emphase den Umbau des Kapitalismus. Damit konnte er antibürokratische Im- pulse und die radikale Kritik am Verlauf der Revolution aus Teilen der Ruhrberg- arbeiterschaft aufnehmen, wodurch die Region bis 1920 zu einer Hochburg der Bewegung avancierte. Die o.g. spezifischen sozialgeschichtlichen Strukturen des Bergbaus mit seinen „versammlungsdemokratischen Traditionen und ständischen Berufsvereinigungen“ ließ die Bergarbeiterschaft zur hauptsächlichen Träger- gruppe des Anarcho-Syndikalismus werden.76 Weitere Trägergruppen des Syndi- kalismus waren zweitens vom sozialen Abstieg bedrohte Handwerker gewesen, drittens der „Hamborner Typus“ des mobilen Arbeiters und viertens Arbeiter, die durch den Weltkrieg radikalisiert worden waren. Nach dem Abflauen des zweiten Generalstreiks und der Zerschlagung der „All- gemeinen Bergarbeiter-Union“ gelang im September die Zusammenführung ver- schiedener syndikalistischer und linksextremer Strömungen in der „Freien Ar- beiter-Union/Syndikalisten“, die den organisatorischen Kern der „Freien Arbeiter- Union Deutschlands (Syndikalisten)“ (FAUD) mit ihren über 110.000 Mitgliedern (Dezember 1919) bildete. Auch wenn die Syndikalisten noch einmal eine einfluss- reiche Rolle im Ruhrkampf spielen sollten, so zerfiel die Bewegung doch ziem- lich rasch, nachdem die dritte Revolutionswelle im April 1920 ein Ende gefunden hatte und sich in den Folgejahren eine Periode relativer innenpolitischer Stabilität abzuzeichnen begann. Für den Niedergang des Syndikalismus und die Entradikalisierung der Ruhrar- beiterschaft kann ein ganzes Bündel an Ursachen identifiziert werden: Neben exo- genen Wirkungsfaktoren, wie der abnehmenden Kohäsionskraft proletarischer Milieuzusammenhänge in den 1920er Jahren, machten sich innerhalb der Bewe- gung Zerrüttungserscheinungen breit, die sich etwa in der Abspaltung parteikom- munistisch orientierter Kräfte äußerten. Zweitens war die kulturelle Bindekraft der Bewegung durchgehend schwach geblieben, denn, wie Jenko betont, „spielte die Rezeption syndikalistischer Theorien (…) an der Basis offensichtlich eine al- lenfalls sekundäre oder sogar überhaupt keine Rolle“.77 Drittens ging der fort- scheitende Vertrauensverslust der Arbeiterorganisationen, spätestens mit der Ab- kehr vom Achtstundentag 1923 eingeleitet, auch zu Lasten der FAUD.

75 Siehe Abelshauser, Umsturz, S. XXXI-XXXIV; Jenko, Anarcho-Syndikalismus; Gesau, Syndikalismus; Schönhoven, Gewerkschaften, S. 128. 76 Siehe Jenko, Anarcho-Syndikalismus, S. 21-23; Tenfelde, Schichtung, S. 210-212. 77 Jenko, Anarcho-Syndikalismus, S. 18-20.

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Der Ruhrkampf – März 1920

Nachdem die Proteste der Ruhrarbeiterschaft im April 1919 beendet worden wa- ren, folgte eine Phase der Entspannung. Doch ein knappes Jahr später, im März 1920, entfachte ein weiteres Ereignis die dritte und letzte Revolutionswelle. Als am Morgen des 13. März 1920 in Berlin die Regierung von den Militari- sten unter der Führung des Generals Walther Freiherr von Lüttwitz gestürzt und der ostpreußische Landschaftsdirektor zum neuen Reichskanzler ausgerufen wurde, formierte sich rasch in den verschiedensten Regionen Deutsch- lands der Widerstand gegen die neue Regierung. Vielerorts wurde der General- streik ausgerufen, und es kam zu Auseinandersetzungen zwischen den Arbeitern und dem auf der Seite der Putschisten stehenden Militär. Dabei gelang es den Ar- beitern in manchen Städten – wie zum Beispiel in Stettin – das Militär zu über- wältigen, zu entwaffnen und für unterschiedliche Zeit die umkämpfte Stadt oder Region zu kontrollieren. Heftige Kämpfe gab es im Industriegebiet um Halle, in der Mark Brandenburg, in Schlesien, in den Städten Frankfurt/Main, Kiel und Harburg.78 Allerdings endete diese Herrschaft der Arbeiter recht schnell, nachdem sie von den Reichswehrtruppen niedergeschlagen wurde. Zum Verhängnis wurde der spontan aufgekommenen Massenbewegung der Arbeiter die Unfähigkeit der drei Arbeiterparteien, sich für die weiteren Ziele auf einen Weg zu einigen. Hinzu kam die Unkenntnis der Akteure, wie mit der revolutionären Situation umzugehen war, die einigen bestenfalls aus der Theorie bekannt war. Auch an der Ruhr führte der so genannte Kapp-Lüttwitz-Putsch zu großer Auf- regung. Innerhalb eines Monats sollte im Ruhrgebiet die letzte große Massenbe- wegung entstehen, die mit ihrer „Wucht und Entschlossenheit“79 die Ereignisse zu Beginn der Revolution übertreffen sollte. Dabei spielte neben linken Strömungen, wie den Syndikalisten, vor allem die USPD eine aktive Rolle. Die KPD griff erst relativ spät ins Geschehen ein: Die Enttäuschung über das Verhalten und die Politik der SPD/USPD aus dem vergangenen Jahr hinderte sie zunächst an einer Zusammenarbeit. Dem aus den Freien Gewerkschaften im Juni/Juli 1919 hervor- gegangenen Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) und der SPD lag indes eher daran, den aufkeimenden Aufstand einzudämmen.80 Damit verfolg- ten die etablierten Arbeiterorganisationen die gleiche Politik wie im Jahr zuvor. Die Lage im Ruhrgebiet änderte sich täglich, ja fast stündlich (z. B. an der Front- linie), und auch die Ziele sowie die Partner der Verhandlungen wechselten häu- fig.81 Daher soll nun im Folgenden auf die Ereignisse eingegangen werden, die für die Beendigung des Konflikts – der in der Historiographie als Ruhrkampf oder Ruhraufstand bezeichnet wird – wesentlich waren. Zudem soll gezeigt werden, 78 Siehe Winkler, Revolution, S. 308. 79 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 403. 80 Siehe ebenda, S. 403. 81 Siehe Detlev J. K. Peukert, Ausblick, in: Johannes Gorlas/Detlev J. K. Peukert: Ruhrkampf 1920, Essen 1987, S. 109-113, hier 109.

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dass die Dynamik der Massenbewegung aus dem Inneren der Arbeiterschaft ent- standen war und nicht von den Parteien und Gewerkschaften vorgegeben wurde. Als man im Revier von den Geschehnissen in Berlin am 13. März erfahren hatte, begann hier wie im ganzen Land der Generalstreik. Da am frühen Morgen bereits die Telefonleitungen nach Berlin durch den Generalstreik unterbrochen waren, konnten sich die Partei- und Gewerkschaftsinstanzen im Ruhrgebiet nicht mehr mit den Zentralen in Berlin über das weitere Vorgehen abstimmen. Doch schnell wurden, wie in anderen Regionen Deutschlands auch, in den Städten des Reviers Aktionsausschüsse gebildet, in denen Vertreter der drei Arbeiterparteien zusammenkamen. Auch gab es Konstellationen mit der im November 1918 ge- gründeten liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) oder ohne die SPD. Erkennbar war im Ruhrgebiet ein Ost-West-Gefälle, wie es sich bereits 1918/19 abgezeichnet hatte: Der Westen war radikaler als der Osten. Mülheim war die Hochburg der Syndikalisten, in Essen gab es eine große Anzahl von Kommuni- sten, und in Hagen dominierte die USPD.83 Trotz ihrer unterschiedlichen politi- schen Positionen schafften sie es, diese für den Moment zu überwinden und sich solidarisch gegen den Militärputsch zu zeigen. In Gelsenkirchen organisierte die MSPD noch am Tag des Putsches eine Massendemonstration, an der Tausende von Arbeitern teilnahmen und auf deren Kundgebung Vertreter der drei Arbeiterpar- teien gemeinsam die Aktionen der Putschisten in Berlin verurteilten.84 Die Arbeiter an der Ruhr sahen unter der Herrschaft einer Militärdiktatur vor allem die sozialpolitischen Errungenschaften der Revolution von 1918 gefährdet. Um diese zu verteidigen, entwickelte sich eine Massenbewegung, die „zur größ- ten proletarischen Erhebung der deutschen Geschichte, ja zum größten Aufstand seit dem Bauernkrieg von 1525“85 werden sollte. Innerhalb der Arbeiterschaft 1 hatte sich seit den Ereignissen vor 1 /2 Jahren eine Aversion gegen Uniformträger entwickelt, die als Reaktionäre angesehen wurden.86 Im Raum Hagen war es be- reits im Januar 1919 zu Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und Militär ge- kommen.87 Im Raum Wetter-Herdecke-Hagen eskalierte die Situation am 15. März 1920, und es kam zu ersten Kämpfen zwischen Arbeitern und den erneut ins Ruhr- gebiet einrückenden Freikorps.88 In Wetter blieben „von der ganzen Kompanie [Hasenclever] nur 18 Gefangene übrig“,89 und der Sieg mobilisierte rund 1.500 weitere Arbeiter, die sich zunächst aus den Beständen der Werks- und Sicher- heitswehren bewaffnet hatten und nun ihre Waffenbestände durch die der ge-

82 Siehe Lucas, Märzrevolution 1920, Bd.1, S. 120. 83 Siehe Winkler, Revolution, S. 326. 84 Siehe Goch, Arbeiterbewegung, S. 245. 85 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 403. 86 Siehe Goch, Arbeiterbewegung, S. 247f. 87 Siehe Abelshauser, Umsturz, S. XXXVIII. 88 Siehe Goch, Arbeiterbewegung, S. 248. 89 Siehe Proklamation der Zentralstreikleitung von Rheinland-Westfalen zur Befreiung des Industriereviers durch die Rote Armee, in: Arbeitereinheit rettet die Republik. Dokumente und Materialien zur Niederschla- gung des Kapp-Putsches im März 1920, Frankfurt/M. 1970, S. 129.

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Quelle: Abelshauser, Umsturz, S. XL.

schlagenen Freikorps und der versteckten Restbestände vergangener Kämpfe aus dem Jahr 1919 aufstocken konnten.90 Zusätzliche Dynamik erhielt der Konflikt da- durch, dass mittlerweile rund 12 Millionen Arbeiter und Angestellte im ganzen Reich streikten. Einen Tag später schlugen die Arbeiter die Verstärkung der Batterie Hasencle- ver – das Freikorps Lichtschlag – bei Dortmund-Aplerbeck in die Flucht.91 Die Kämpfe breiteten sich rasch über das ganze Ruhrgebiet aus. Acht Hunderschaften staatlicher Sicherheitspolizei (Sipo) und die Einwohnerwehr konnten nicht ver- hindern, dass Essen bald von den Arbeitern besetzt wurde. Heftige Kämpfe gab es auch um Remscheid, dem Stützpunkt des Freikorps Lützow. Die Stadt konnte nach 18 Stunden Kampf von den Arbeitern eingenommen werden.92 Getötet wur- den bei diesem Kampf 21 Remscheider, unter denen sich auch fünf Unbeteiligte befanden, mindestens 16 Arbeiter und 58 Mann auf Seiten des Militärs.93

90 Siehe Abelshauser, Umsturz, S. XXXVIII. 91 Siehe ebenda, S. XXXVIII. 92 Siehe ebenda. 93 Siehe Lucas, Märzrevolution 1920, Bd.1, S. 120.

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Am 17. März floh Kapp mit seinen Männern aus Berlin. Nach vier Tagen war der Putsch beendet. Dies lag nicht zuletzt daran, dass die Arbeiterschaft den ge- samten Staats-, Wirtschafts- und Verkehrsapparat lahmgelegt hatte. Auch die Wei- gerung der Ministerialbeamten, die Befehle der neuen Machthaber auszuführen, führte zum Scheitern von Kapp und Lüttwitz.94 Doch das änderte nichts an der Tat- sache, dass die Verhältnisse, die einen solchen Putsch erst möglich gemacht hat- ten, weiter bestanden. Daraufhin einigten sich ADGB, die Arbeitsgemeinschaft freier Angestelltenverbände (AfA) und Deutscher Beamtenbund am 18. März auf eine Fortführung des Generalstreiks, bis die Regierung die von ihnen aufgestell- ten Forderungen erfüllte.95 Diese waren in einem Neun-Punkte-Plan zusammen- getragen und beinhalteten u. a. den Rücktritt von Gustav Noske und der preußi- schen Minister (DDP) und Wolfgang Heine (SPD) sowie die Mitarbeit der drei Verbände bei der Umgestaltung der Verhältnisse. Die Entwaff- nung und Bestrafung aller am Putsch Beteiligten und die Sozialisierung des Berg- baus gehörten ebenso zu den Forderungen. Nichtvertrauenswürdige Militärgrup- pen sollten entwaffnet und aufgelöst werden.96 Das Ende der Kapp-Lüttwitz-Regierung schürte nun die Angst vor der Bedro- hung von links und von rechts. Die Demokratie musste jetzt „um ihre Existenz nach zwei Fronten kämpfen“.97 Dortmund war mittlerweile in den Händen der be- waffneten Arbeiter. Aus den lokalen Arbeiterwehren bildete sich nach erfolgrei- chen Kämpfen gegen die Freikorps die sogenannte Rote Ruhr Armee.98 Dieser Zu- sammenschluss von Arbeitern ist zu diesem Zeitpunkt einzigartig. Trotz massiver Widerstände im ganzen Reich gegen die Kapp-Lüttwitz-Regierung gelang es le- diglich den Arbeitern im Ruhrgebiet, eine solche Armee aufzustellen. Die bewaff- neten Arbeiter ließen sich in zwei Gruppen unterscheiden. Zum einen gab es die Mitglieder der örtlichen Arbeiterwehren, die für Sicherheitsaufgaben zuständig waren. Die anderen wurden von den Zeitgenossen als „Rotgardisten“ bezeichnet und waren durch ein rotes Band oder Schleifchen erkennbar. Sie verfolgten das Militär und die Sipo von Ort zu Ort und forderten sie zum Kampf heraus.99 Am Abend des 19. März 1920 sah der Kommandierende General des VII. Ar- meekorps in Münster, General von Watter, die Aussichtslosigkeit der weiteren Kämpfe der Reichswehrtruppen gegen die Arbeiter ein und befahl den Rückzug nach Wesel. Daraufhin kam es am Niederrhein zu schweren Straßenkämpfen zwi- schen den durchziehenden Militärtruppen und den Arbeitern.

94 Siehe Winkler, Revolution, S. 308. 95 Siehe Aufruf des ADGB, der AfA und des Deutschen Beamtenbundes vom 18.3.1920 zur Fortsetzung des Ge- neralstreiks, in: Arbeitereinheit, S. 106. Siehe hierzu auch Winkler, Revolution, S. 309. 96 Siehe Neunpunkteprogramm des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, der Arbeitsgemeinschaft freier Angestelltenverbände und des Deutschen Beamtenbundes, in: Arbeitereinheit, S. 106. Siehe hierzu auch Winkler, Revolution, S. 310. 97 Bergarbeiter-Zeitung, Nr. 14 vom 3.4.1920, S. 1. 98 Die zeitgenössische Bezeichnung lautete „Rote Armee“. Jedoch soll hier die Bezeichnung „Rote Ruhr Armee“ gebraucht werden, um sie von der sowjetischen Roten Armee zu unterscheiden. 99 Siehe Lucas, Märzrevolution 1920, Bd. 2, S. 63.

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Einen Tag später, am 20. März – eine Woche nach dem Putsch in Berlin – be- herrschten die Arbeiter das ganze Ruhrgebiet. Diese Tatsache förderte jetzt die Annäherung zwischen der in Berlin regierenden SPD und dem gerade noch putschfreudigen Militär, da die inzwischen wieder eingesetzte Regierung diesen Umstand auf keinen Fall hinnehmen wollte. Die Herrschaft der Roten Ruhr Armee im Ruhrgebiet stellte – rein rechtlich gesehen – einen Aufstand gegen die legitime Staatsgewalt dar, die es zu beseitigen galt.100 Nach Verhandlungen am 19./20. März mit der Reichsregierung wurden die ge- werkschaftlichen Forderungen des Neun-Punkte-Plans angenommen, was einen Abbruch des Generalstreiks zur Folge gehabt hätte. Gegen einen Abbruch des Ge- neralstreiks war jedoch die in Berlin am Tag des Putsches gebildete Zentralstreik- leitung von Groß-Berlin (Zusammenschluss von USPD und KPD). Sie beschloss die Weiterführung des Generalstreiks und verkündete diese Entscheidung in 22 öf- fentlichen Versammlungen.101 Auf einer Versammlung in Hagen verhandelten 145 Delegierte über den Fortgang der Aktionen. Sie forderten ein Ende der Truppen- bewegung der Reichswehr, um die Arbeiter zu schützen. Währenddessen wurden in Marl bereits Verteidigungsstellungen gegen die Reichswehr angelegt. Am 22. März blieben die Arbeiter noch immer der Arbeit fern.102 Der ADGB, der AfA, die Berliner Gewerkschaftskommission, die SPD und die USPD bemüh- ten sich um die Beendigung des Generalstreiks am 23. März, falls die Regierung auf weitere Forderungen einginge. General von Watter forderte währenddessen weitere Truppen zur Verstärkung gegen die Rote Ruhr Armee an. In Bielefeld begannen am 23. März Verhandlungen zwischen Vertretern der Re- gierung, der SPD, USPD und KPD unter der Leitung des Reichskommissars Se- vering über das Abrüsten der Roten Ruhr Armee und die kontrollierte Waffenab- gabe. Daraus ging einen Tag später das „Bielefelder Abkommen“ hervor, das im Wesentlichen die Punkte wiederholte, worauf sich vor vier Tagen bereits die Ge- werkschaften und die Mehrheitssozialdemokraten geeinigt hatten.103 Beschlossen wurden darüber hinaus der Abbruch des Generalstreiks, die Waffenabgabe, die Bildung und Zusammensetzung von Ortswehren, die Aufhebung des Ausnahme- zustandes, das Verbot des Einrückens der Reichswehr ins Ruhrgebiet, die Freilas- sung der Gefangenen bis zum 27. März, die Regelungen zur Versorgung der Hin- terbliebenen und Verletzten sowie die Straffreiheit für die Kämpfer der Roten Ruhr Armee.104 Sollten diese Vereinbarungen eingehalten werden, würde die Reichswehr nicht ins rheinisch-westfälische Industriegebiet einrücken.105 Die USPD und die Hagener Zentrale standen hinter den Bielefelder Vereinbarungen,

100 Siehe Winkler, Revolution, S. 325. 101 Siehe Lucas, Märzrevolution 1920, Bd. 2, S. 124. 102 Siehe ebenda, S. 127. 103 Siehe Winkler, Revolution, S. 328. 104 Siehe Vereinbarungen über den Abbruch der Kämpfe im Ruhrgebiet, beschlossen am 24. März 1920 in Bielefeld (Bielefelder Abkommen), in: Arbeitereinheit, S. 131-134. 105 Siehe Winkler, Revolution, S. 328-330.

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während die KPD und der Essener Zentralrat neue Verhandlungen forderten. Die syndikalistischen Mülheimer und Hamborner lehnten die Konferenz wie die Kampfleitung der Roten Ruhr Armee ab, und letztere begann noch während der Verhandlungen mit einem Artillerieangriff auf Wesel. Die von der Regierung durch das „Bielefelder Abkommen“ erhoffte Spaltung der Arbeiterschaft trat ein.106 Am 25. März fand in Essen eine Konferenz der Vertreter der Vollzugsräte bzw. Aktionsausschüsse mit Vertretern aller Parteien statt, die sich für ein Ende der Kämpfe aussprachen. Doch nicht alle waren für einen Abbruch der Kämpfe. Die syndikalistischen Mülheimer z. B. sahen in dem „Bielefelder Abkommen“ die Revolution verraten und zogen sich von der Konferenz zurück.107 Die Kampfleiter an der Lippefront warnten vor den Rachegelüsten der Reichswehr. In einem Flug- blatt vom 26. März gab die Rote Ruhr Armee die Parole heraus: „Jetzt oder nie! [...] Vor dem Sieg gibt es keinen von der Futterkrippenpolitik diktierten Waffen- stillstand und Frieden.“108 Die Regierung sollte das „Bielefelder Abkommen“ zunächst garantieren, bevor die Kämpfe seitens der Arbeiter eingestellt würden. Hier traten die unterschiedlichen politischen Positionen der verschieden zusam- mengesetzten Aktionsausschüsse zu Tage, die im weiteren Verlauf des Ruhr- kampfes die einst spontan, über Parteigrenzen hinaus, zusammengesetzte Mas- senbewegung sprengen sollten.109 Der Zentralrat der Vollzugsräte forderte am 28. März neben einem erneuten Auf- ruf zum Generalstreik die Fortsetzung der Kämpfe bis zur Zusage der Reichsregie- rung für das Waffenstillstandsgebot des Bielefelder Abkommens. Aufgrund der Be- drohung durch einen erneuten Generalstreik sah sich die Regierung gezwungen zu handeln und stellte noch am gleichen Tag ein Ultimatum an die Arbeiterschaft im Ruhrgebiet. Sie sollte die verfassungsmäßige Staatsautorität uneingeschränkt aner- kennen, die staatlichen Verwaltungs- und Sicherheitsorgane wiedereinsetzen, die Rote Ruhr Armee auflösen und die Bevölkerung entwaffnen.110 Die im Zentralrat vertretenen Parteien verloren zunehmend ihren Einfluss in der Roten Ruhr Armee, nachdem erstgenannter das Ultimatum der Regierung an- genommen hatte. Doch noch einmal scheint eine umfassende Solidarität der Ar- beiter gegen die Reichswehr möglich gewesen, nämlich ab dem Zeitpunkt, als von Watter dem Ultimatum der Reichsregierung am 29. März Zusatzbedingungen über die Abgabe der Waffen und die Auflösung der Roten Ruhr Armee hinzufügte, die innerhalb eines Tages erfüllt werden sollten, ohne sie mit dem Reichskommissar Severing abzuklären. Diese Bedingungen konnten die Arbeiter unmöglich einhal- ten, und sie waren somit nicht zu erfüllen. Von Watter stand bereits in den Start- löchern und war bereit, gegen die Rote Ruhr Armee loszuschlagen. Daraufhin

106 Siehe ebenda, S. 330. 107 Siehe Abelshauser, Umsturz, S. XLI. 108 Hugo Delmes, Soldaten der Roten Armee (Flugblatt), in: Bergarbeiter-Zeitung, Nr. 14 vom 3.4.1920, S. 1. 109 Siehe Abelshauser, Umsturz, S. XLI. 110 Siehe Bergarbeiter-Zeitung, Nr. 15 vom 10.4.1920, S. 1.

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stellten nun der ADGB, der AfA und die sozialistischen Parteien der Regierung ein Ultimatum, in dem sie u. a das Bielefelder Abkommen garantieren sollte.111 Als Antwort auf das Verhalten von Watters brach noch am selben Tag eine zweite Streikwelle aus, und am 30. März – dem Tag, an dem das Ultimatum ab- lief – hatten bereits 330.000 Kumpel im Revier bzw. 77 Prozent der gesamten Be- legschaften die Arbeit niedergelegt.112 Von Watter setzte daraufhin seine Truppen in Bewegung – in der Regel Freikorps, die gerade noch das Vorgehen von Kapp und Lüttwitz unterstützt hatten –, nachdem er von der Berliner Regierung freie Hand im Vorgehen gegen die Aufständischen bekommen hatte.113 Diese Bedro- hung hatte eine weitere Radikalisierung der Arbeiter zur Folge,114 die jedoch nicht zur Vereinheitlichung ihrer Kämpfe führte. Stattdessen wurde die Spaltung inner- halb der verschiedenen Strömungen der Arbeiterschaft größer: Der vom Essener Zentralrat geführte Teil wollte die Ergebnisse des Bielefelder Abkommens durch weitere Verhandlungen nochmals verbessern, während die Vollzugsräte aus Mül- heim und Hamborn nicht bereit waren, ihr syndikalistisches Sofortprogramm auf- zugeben. In Duisburg herrschte linkskommunistischer Anarchismus, und die Kampfleiter der Roten Ruhr Armee ließen sich ebenfalls dem linkskommunisti- schen Spektrum zuordnen.115 Letztere begannen, sich Ende März immer weiter zu isolieren. Am 31. März wurde auf einer Konferenz in Münster die Frist des Ultimatums der Reichsregierung auf den 2. April verlängert, weitere Vereinbarungen auf der Grundlage der vorausgegangenen Verhandlungen wurden getroffen, und die Reichswehr sollte ihren Vormarsch am Abend des 31. März einstellen. Doch mitt- lerweile zerfiel die Rote Ruhr Armee. Die Kämpfer fühlten sich von ihren Hei- matstädten im Stich gelassen, waren von der Versorgung abgeschnitten und heg- ten großes Misstrauen gegen die Reichswehr und gegen ihre eigene Führung.116 Dadurch wurde es unmöglich, die Bedingungen des Waffenstillstands zu erfüllen, worauf die Reichswehrtruppen ins Ruhrgebiet einmarschierten. In Hamm wurden am 1. April – Gründonnerstag – von einem Freikorps 49 Arbeiter und in Pelkum 150 Personen erschossen.117 Nachdem absehbar war, dass kein neuer Generalstreik kommt, wurde in Essen der Abbruch der Kämpfe von Seiten der Arbeiter be- schlossen, und die Abkommen von Bielefeld und Münster wurden angenommen. Auch die Kampfleiter der Roten Ruhr Armee erklärten schließlich, „dass sie sich diesen Vereinbarungen unterwerfen und für die sofortige Durchführung sorgen werden“.118

111 Siehe ebenda. 112 Siehe Winkler, Revolution, S. 331. 113 Siehe Ultimatum der Reichsregierung an das Ruhrproletariat, in: Arbeitereinheit, S. 152. 114 Siehe ebenda, S. 332. 115 Siehe ebenda, S. 332f. 116 Siehe Abelshauser, Umsturz, S. XLI. 117 Zu der Situation in Pelkum siehe Jürgen Lange: Die Schlacht bei Pelkum im März 1920. Legenden und Dokumente, Essen 1994. 118 Bergarbeiter-Zeitung, Nr. 15 vom 10.4.1920, S. 1.

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Am 2. April betrat die Reichswehr die entmilitarisierte Zone des Rheinlands mit der Begründung, auf andere Weise die Ordnung im Industrierevier nicht wie- der herstellen zu können. Damit verstieß die Regierung gegen den Versailler Ver- trag und nahm die Konsequenzen der Franzosen in Kauf. Die Reichswehrtruppen waren entschlossen, Vergeltung gegen die Arbeiter zu üben, und somit begann im Ruhrgebiet der weiße Terror, der weit schlimmer war als der rote.119 Es wurden mehr Arbeiter nach ihrer Gefangennahme erschossen als im Kampf. Aufgrund der Aufhebung der Standgerichtsbarkeit am 3. April durch die Regierung konnte wei- teres Blutvergießen verhindert werden. Bis zum 6. April nahm die Reichswehr, nicht immer unblutig, die Städte Duisburg, Mülheim, Gelsenkirchen, Buer, Herne und Dortmund ein. Schließlich wurden am 7. April Essen und Bochum von der Reichswehr besetzt.120 Rotgardisten, die nicht rechtzeitig in britisch besetztes Ge- biet flüchten konnten und vom Militär aufgegriffen wurden, mussten mit drakoni- schen Strafen rechnen. Der Ruhrkampf war die „größte proletarische Massenaktion in Deutschland überhaupt“.121 Die Arbeiter wollten zum einen die sozialpolitischen Errungen- schaften der ersten Revolutionsphase verteidigen und zum anderen das nachholen, was ihrer Meinung nach im Winter 1918/19 versäumt worden war. Hierzu zählte, dass republikfeindliche Personen aus der Regierung entfernt und eine zuverlässige republikanische Armee aufgebaut würde.122 Doch diese Massenbewegung, die sich über die Parteigrenzen hinweg gebildet hatte, scheiterte letztlich aufgrund der un- terschiedlichen politischen Positionen ihrer Parteien, was in den Verhandlungen mit der Regierung immer stärker zum Ausdruck kam, als es um die Festigung ei- ner proletarischen Macht und somit um die Erfüllung der Forderungen der Revo- lution im Ruhrgebiet ging.

Resümee

Die in den Streiks und Auseinandersetzungen vom Frühjahr 1919 und den Kämp- fen vom März/April 1920 hervorgetretenen Radikalisierungsschübe in der Arbeiterschaft des Ruhrgebiets waren eine Folge der tief greifenden Unzufrieden- heit mit dem Verlauf der Revolution. Die Arbeiter- und Soldatenräte des Ruhrge- biets stützten zunächst den politischen Kurs des Rates des Volksbeauftragten. Im Verlauf der Proteste wurde der Einfluss verschiedener linker Strömungen größer. Syndikalisten, Kommunisten und Unabhängigen Sozialdemokraten gelang es vielfach, sich an die Spitze der Protestbewegungen zu stellen. Doch die Proteste selbst gingen weniger von den Parteien aus. Vielmehr schlossen sich die Arbeiter

119 Siehe Winkler, Revolution, S. 335. 120 Siehe Abelshauser, Umsturz, S. XLI. 121 Winkler, Revolution, S. 336. 122 Siehe Horst Ueberhorst: Wattenscheid: die Freiheit verloren?, Düsseldorf 1985, S. 92.

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aus eigenem Antrieb zu Massenbewegungen zusammen. Die Einheit der Arbeiter- bewegung vollzog sich auf Druck von „unten“. So kam es sowohl 1919 als auch 1920 im Ruhrgebiet zunächst zu einer wenn auch nur vordergründig stabilen Ein- heit zwischen den Arbeiter- und Soldatenräten, den drei Arbeiterparteien und dem ADGB bzw. seiner Vorgängerverbände (einschließlich des Alten Verbands): Sie versuchten, die Proteste und die Sozialisierungsdebatte des Frühjahrs 1919 zu mo- derieren, und verurteilten 1920 gemeinsam den Kapp-Putsch. Doch die Fronten zwischen den Arbeiterorganisationen verhärteten sich, sobald es galt, sich auf den weiteren Weg zu einigen. Große Teile der Ruhrarbeiterschaft wandten sich schon im Verlauf der zweiten Revolutionsphase von den sozialdemokratischen Organisationen ab, deren Führungen ihrer Ansicht nach die Ziele einer wahrhaftig sozialistischen Revolu- tion verraten hätten. Zwischen Februar und April 1919 traten die scharfen Ge- gensätze zwischen streikenden Arbeitern auf der einen sowie der SPD-Spitze und der Führung des Alten Verbandes auf der anderen Seite massiv hervor. In der So- zialisierungsdebatte wurden Bruchlinien in der Arbeiterbewegung durch den Kon- flikt zwischen den Anhängern des Essener Modells und den Akteuren der SPD und des Alten Verbandes konturiert. Erstgenannte beabsichtigten, die Sozialisie- rung des Kohlenbergbaus über eine direkt-demokratische Räteorganisation zu eta- blieren. Letztgenannte verschleppten zunächst tief greifende ordnungspolitische Entscheidungen und implantierten sodann Ansätze einer „gemeinwirtschaftli- chen“ Ordnung, die die herrschenden Eigentumsverhältnisse im Kohlenbergbau und darüber hinaus so gut wie gar nicht antastete. Stattdessen drangen Mehrheits- sozialdemokraten und Bergarbeitergewerkschaft auf die „soziale und wirtschaftli- che Demokratisierung des Kapitalismus“ im Zeichen der Sozialpartnerschaft, wie sie im Stinnes-Legien-Abkommen vom November 1918 angelegt war. Die Spal- tung innerhalb der Arbeiterbewegung, die im Ruhrgebiet durch den Konsens der Parteien 1919 und 1920 zunächst verhindert werden konnte, wurde seither zu ei- ner prägenden Erfahrung für die Ruhrarbeiterschaft. Die Versuche, sozialistische Konzeptionen in Staat und Gesellschaft zu verankern, scheiterten nicht zuletzt an den Differenzen in der Arbeiterbewegung. Die Wut und die Empörung der Arbei- ter über die „verratene Revolution“ entluden sich schließlich mit aller Macht im Ruhrkampf. Die Herausbildung der Roten Ruhr Armee aus dem Inneren der Ar- beiterschaft ist einzigartig. In ihr versammelten sich Menschen verschiedener Couleur, ohne Rücksicht auf die Parteizugehörigkeit. Den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen mit dem Militär waren viele zum Opfer gefallen: „Blut ist geflossen, viel Menschenblut!“123 Im Ruhrgebiet fand die gesamtdeutsche Polarisierung während der revolu- tionären Nachkriegsphase ihre regionalspezifische Ausprägung. In weiten Kreisen der Arbeiterschaft potenzierte sich – nicht nur im Ruhrgebiet – nach Beendigung

123 Bergarbeiter-Zeitung, Nr. 13 vom 27.3.1920, S. 1.

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des Ruhrkampfes die Enttäuschung über die MSPD-Führung, die mit republik- feindlichen Truppen paktiert hatte, um die Arbeitermassen im Revier nieder- zuschlagen. Dies zog eine lang anhaltende Radikalisierung von Teilen der Arbei- terschaft nach sich, die sich im Laufe der Weimarer Republik in den Auseinan- dersetzungen zwischen linken und rechtsgerichteten Teilen der Arbeiterschaft nie- derschlagen sollte.

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JUDITH PÁKH Die Revolution in Hessen – einige Grundzüge

Die Landschaft vor der Revolution

Die Welle der Revolution, die seit den ersten Novembertagen von den Kriegshä- fen Richtung Süden rollte, stieß auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Hes- sen auf die Territorien zweier Staatsgebilde: auf die preußische Provinz Hessen- Nassau mit den Regierungsbezirken Kassel und Wiesbaden (1919: 2.2 Millionen Einwohner) sowie auf das Großherzogtum Hessen mit den drei Provinzen Ober- hessen, Starkenburg und der linksrheinischen (heute zum Bundesland Rheinland- Pfalz gehörenden) Provinz Rheinhessen (1. Millionen Einwohner). Der industri- elle Schwerpunkt mit der größten Bevölkerungsdichte lag im Ballungsraum des Rhein-Main-Gebietes um die Großstadt Frankfurt am Main, die 1919 rd. 438.000 Einwohner zählte. Großstädte wie das preußische Wiesbaden und das hessische Mainz mit je knapp über 100.000 Einwohnern gehörten ebenso zu dieser wirt- schaftlichen Einheit wie die großhessischen Mittelstädte Darmstadt (82.000) und Offenbach (75.000) oder das preußische Hanau (39.000). Im nördlichen land- wirtschaftlich dominierten Regierungsbezirk der preußischen Provinz Hessen- Nassau war die Stadt Kassel mit 160.000 Einwohnern das bedeutendste Industrie- und Wirtschaftszentrum. Im Krieg wurde die metallverarbeitende Industrie, die an den verschiedenen Standorten als Maschinenbau, Elektrotechnik oder Fahrzeug- bau eine wichtige Rolle spielte, ebenso wie die chemische Produktion fast voll- ständig in den Dienst der Rüstungsproduktion gestellt. In Kassel wurde 1916 eine neue Munitionsfabrik, die bis zu 15.000 Arbeiter und Arbeiterinnen beschäftigte, aus dem Boden gestampft.1 Der politische Charakter der Regionen, der Boden, der den revolutionären Impuls aufnahm und weiterentwickelte, war unterschiedlich beschaffen. Im Groß- herzogtum Hessen waren die Rahmenbedingungen für die Organisation und die Tätigkeit der sozialistischen Arbeiterbewegung freizügiger gestaltet als in Preußen. Die Wahlbestimmungen zu den öffentlichen politischen Vertretungen (Kommunen, Landtag) waren weniger rigide als das preußische Dreiklassenwahl- recht. Weitere Lockerungen brachte das Reformgesetz von 1911. Es schaffte die indirekte Wahl und den Zensus ab, setzte das Wahlrecht für die Steuerzahler über

1 Die statistischen Angaben sind folgenden Publikationen entnommen: Statistisches Handbuch für den Volks- staat Hessen, 3. Ausgabe 1924, Darmstadt 1924, S. 7, 9; Franz Lerner: Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Nassauer Raumes 1816-1964, Wiesbaden 1965, S. 180, 226; Jürgen Höpken: Die Geschichte der Kasseler Ar- beiterbewegung 1914-1922, Darmstadt 1983, S. 12; Frankfurt am Main: Bevölkerung und Wirtschaft, Frank- furt am Main 1965, S. 9; Judit Pákh: Das rote Hanau. Arbeit und Kapital 1830-1949, Hanau 2007, S. 949.

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dem 25. Lebensjahr fest, begünstigte allerdings die Wähler über dem 50. Lebens- jahr mit einer zusätzlichen Stimme. Insgesamt waren aber kaum mehr als 20 Pro- zent der Bevölkerung wahlberechtigt.2 In der zweiten Kammer des Darmstädter Landtags saßen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Mandatsträger der Sozialde- mokratie (1911 acht Abgeordnete von 58), während in den preußischen Landtag erstmals 1908 Kandidaten der SPD Einzug hielten. 1913 gehörten der Offenba- cher Stadtverordnetenversammlung neben 10 Vertretern des Bürgertums 32 der SPD an. Im preußischen Kassel ging ihre Zahl nicht über drei.3 Unter dem Einfluss führender Revisionisten wie Carl Ulrich, Bernhard Ade- lung, wurde die parlamentarische Tätigkeit zum Nährboden für die Durchsetzung des Reformismus im Großherzogtum. Listenverbindungen mit den bürgerlichen Parteien bei den kommunalen und den Landtagswahlen waren an der Tagesordnung. Die Plaudereien auf „parlamentarischen Abenden“ mit dem kunst- sinnigen, konzilianten Großherzog Karl Ludwig gaben den Sozialdemokraten im Landtag ein Gefühl der Zugehörigkeit zur gehobenen Gesellschaft.4 Auch im preußischen Regierungsbezirk Kassel gehörten die tonangebenden Vertreter der SPD zur reformistischen Richtung und zu den Verfechtern der im Krieg eingeschlagenen . Es seien nur Philipp Scheidemann, zwischen 1905 und 1911 Redakteur beim „Kasseler Volksblatt“, und Albert Grze- sinski, Vorsitzender der Verwaltungsstelle Kassel des Deutschen Metallarbeiter- Verbandes (DMV) und ab 1913 des Gewerkschaftskartells, genannt. Einer der eif- rigsten Unterstützer der Kriegspolitik war Georg Thöne, der 1908 als erster Abgeordneter der SPD für Kassel in den Reichstag gewählt wurde. Die bürgerli- chen Fraktionen in der Stadtverordnetenversammlung gestanden im Februar 1916 der Kasseler SPD über ihre in der Wahl gewonnenen drei Mandate hinaus zwei weitere Mandate zu, als „Belohnung“ für ihren Einsatz im Dienste der Kriegsan- strengungen. Das konservative ländliche Umfeld vieler Arbeiter und die lassallea- nische Tradition mit ihrer ausgeprägten Staatsgläubigkeit boten der opportunisti- schen Politik in Kassel einen günstigen Nährboden.5 Zaghaft nur entwickelte sich unter solchen Umständen der Widerstand gegen den Krieg. Die erste Ortsgruppe der USPD im ganzen sozialdemokratischen Agitationsbezirk Kassel wurde im Mai 1917 in dem Kasseler Arbeitervorort Wolfsanger gegründet. Im Sommer des Jahres wurden auch im Kasseler DMV die Zeichen einer oppositionellen Strömung erkennbar.6 Vor diesem Hintergrund

2 Siehe Wolf-Heino Struck: Die Revolution von 1918/19 im Erleben des Rhein-Main-Gebietes, Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 19, 1969, S. 399; Tobias Haren: Der Volksstaat Hessen 1918/1919. Hessischer Weg zur Demokratie, Berlin 2003, S. 26. 3 Siehe Bernhard Adelung: Sein und Werden. Vom Buchdrucker in Bremen zum Staatspräsidenten in Hessen, Offenbach 1952, S. 96; Haren, Volksstaat Hessen, S. 27; Rudolf Günter Huber: Sozialer Wandel und politi- sche Konflikte in einer südhessischen Industriestadt. Kommunalpolitik der SPD in Offenbach 1898-1914, Darmstadt 1985, S. 261; Höpken, Kasseler Arbeiterbewegung, S. 306. 4 Siehe Adelung, Sein und Werden, S. 89, 118; Haren, Volksstaat Hessen, S. 25. 5 Siehe Höpken, Kasseler Arbeiterbewegung, S. 4, 69, 72, 75, 84. 6 Siehe ebenda, S. 79, 143ff.

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überraschte die Dynamik der Streikbewegung, die sich Ende Januar 1918 in den Kasseler Rüstungsbetrieben ausbreitete. Über 10.000 Arbeiter und Arbeiterinnen legten die Arbeit nieder und schlossen sich in einer Versammlung im Stadtpark den politischen und wirtschaftlichen Forderungen ihrer streikenden Berliner Kol- legen an. Die Kasseler Bewegung war die größte Aktion im Zusammenhang der Januarstreiks in dem ganzen hier behandelten Raum. Die Vertreter der MSPD, sonst Anhänger des burgfriedensbedingten Streikverbots, waren jetzt auch in Kas- sel sofort zur Stelle, um der USPD die Führung streitig zu machen. Der Kasseler Oberbürgermeister Erich Koch (Fortschrittspartei) fand in seinem Tagebuch zur Charakterisierung dieses Verhaltens die Worte: „Diese unglücklichen sozialdemo- kratischen Führer schwanken jetzt zwischen zwei Wünschen hin und her: einer- seits möchten sie die Massen ruhig halten, andererseits aber möchten sie ihnen zeigen, wie tapfer sie selber mit ihnen gehen.“7 Im Gegensatz zu Nord- und Südhessen setzte der Widerstand gegen den Krieg im südlichen Teil des Frankfurter Agitationsbezirkes der SPD, vor allem in Frank- furt und Hanau, nie vollständig aus.8 Er nährte sich nur vordergründig aus der Ernüchterung über das Kriegsgeschehen und den zweifelhaften Errungenschaften der Burgfriedenspolitik. Seine Grundlage bildete eine langjährige politische und gewerkschaftliche Erziehungsarbeit im Sinne des proletarischen Internationalis- mus, die über den Charakter der imperialistischen Kriege und einer sogenannten Sozialpartnerschaft keine Illusionen nährte. Leopold Emmel, Gustav Hoch, Robert Dißmann, Paul Levi, Tony Sender und Friedrich Schnellbacher waren in Frankfurt und in Hanau die führenden Vertreter dieser marxistischen Traditions- linie. Der Hanauer Kreiswahlverein der SPD forderte noch am 3. August 1914 die Reichstagsfraktion der Partei dazu auf, am 4. August gegen die Kriegskredite zu stimmen. Aus dem Gebiet des sozialdemokratischen Agitationsbezirks Frank- furt bekräftigten 51 Sozialdemokraten und Gewerkschafter im Juni 1915 mit ih- ren Unterschriften öffentlich die Forderung an den Parteivorstand und an die Reichstagsfraktion zur Beendigung der Burgfriedenspolitik: Sechs Unterschriften stammten aus Frankfurt, zwei aus Höchst, eine aus Wiesbaden und 35 aus dem Stadt- und Landkreis Hanau.9 Der Konstituierung der „Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft“ im März 1916 im Reichstag folgten entsprechende Vor- gänge in den Lokalorganisationen. Im Frühjahr 1917 ging die Mehrheit der Mit- glieder im SPD-Kreiswahlverein Hanau-Gelnhausen-Orb und im Kreiswahlverein Höchst-Homburg-Usingen zur Opposition über.10 An der Spitze der Opposition im DMV gegen die Burgfriedenspolitik der Gewerkschaftsführung stand Robert Diß- mann, der seit März 1917 auch als Bezirkssekretär der USPD in Südwestdeutsch-

7 Ebenda, S. 139ff. 8 Organisationstechnisch gehörte Hanau zum sozialdemokratischen Agitationsbezirk Frankfurt, verwaltungs- mäßig zum Regierungsbezirk Kassel. 9 Siehe Pákh, Hanau, S. 292, 300. 10 Siehe Judit Pákh: Frankfurter Arbeiterbewegung in Dokumenten 1832-1933, Bd. 2, Frankfurt am Main 1997, S. 695ff.; Pákh, Hanau, S. 300.

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land die parteipolitische Organisation vorantrieb. Unter seiner Führung gelang es der Frankfurter USPD, in den dortigen Metallbetrieben bis zum Herbst 1918 ein dichtes Netz von Vertrauensleuten aufzubauen.11 Der Weg der Hanauer Genossen in die USPD verlief im Verbund mit der Gruppe Internationale bzw. seit Anfang 1916 mit der Spartakusgruppe. Die Han- auer Sozialdemokraten standen schon vor dem Krieg zu den führenden Persön- lichkeiten des linken Parteiflügels in enger Verbindung. Rosa Luxemburg und Paul Levi waren in ihren Veranstaltungen gern gesehene Gäste. Auf dem Grün- dungsparteitag der USPD in Gotha im April 1917 wurde der Hanauer Delegierte Friedrich Schnellbacher als Vertreter des Spartakusbundes in den Parteibeirat ge- wählt. Die Hanauer Unabhängigen standen mit der Arbeiterschaft in engem Kon- takt. Am 29. Oktober 1918 demonstrierten mehrere Tausend Teilnehmer anlässlich der ersten öffentlich genehmigten Versammlung der Hanauer USPD begeistert für die sozialistische Republik, ebenso wie zwei Tage zuvor in Frankfurt die 6.000 Teilnehmer an einer Versammlung mit dem Vorsitzenden der USPD Hugo Haase.12

Die Revolution wird ausgebremst: Vom Großherzogtum zum „Volksstaat“

Heinrich Delp, Stadtverordneter in Darmstadt und Geschäftsführer der Bauge- werkschaft, erfuhr am 8. November 1918 in einer vertraulichen Besprechung mit dem Oberbürgermeister und dem Großherzog im Stadthaus zu Darmstadt, dass sich auf dem Truppenübungsplatz Griesheim Soldatenräte gegründet hatten. Auf einer nachfolgenden Konferenz der sozialdemokratischen Vertrauensleute im Ge- werkschaftshaus unterschlug er diese Nachricht.13 Noch in der Nacht wurden auch in den Darmstädter Kasernen Soldatenräte gewählt. Am 9. November um 2.00 Uhr früh belagerten etwa 7.000 Soldaten das Neue Palais, um dort einzudringen und den Großherzog gefangenzunehmen. Am Morgen planten sie, zu den Fabri- ken zu gehen und dort mit den Arbeitern Kontakt aufzunehmen. Jetzt war Hein- rich Delp zur Stelle. In Begleitung des Landtagsabgeordneten der SPD Heinrich Fulda vermochte er es, die Soldaten von ihrem Vorhaben abzubringen. Für den Vormittag des 9. November organisierte die MSPD-Führung eine Kundgebung der Arbeiterschaft, zu der sie durch ihre Emissäre zuvor die Genehmigung der Un- ternehmer eingeholt hatte.14 Ein Arbeiter- und Soldatenrat (AuSR) wurde gebildet, dem außer den Soldatendelegierten vier Vertreter der MSPD und ein Mitglied der

11 Siehe Pákh, Frankfurter Arbeiterbewegung, S. 693ff., 697, 699; Pákh, Hanau, S. 300; Zwischen Römer und Revolution. Hundert Jahre Sozialdemokratie in Frankfurt am Main, Frankfurt 1969, S. 67. 12 Siehe Pákh, Hanau, S. 299, 301, 303; Pákh, Frankfurter Arbeiterbewegung, S. 704. 13 Siehe L. Bergstässer (Hrsg.): Carl Ulrich. Erinnerungen des ersten hessischen Staatspräsidenten, Offenbach 1953, S. 104ff.. Delp gab sein Geheimnis erst in einer Sitzung des hessischen Landtags im Herbst 1928 preis als Beweis dafür, dass die SPD sich im November 1918 nicht nur aus selbstsüchtiger parteipolitischer Absicht an die Spitze der Bewegung gesetzt hatte. 14 Siehe Struck, Die Revolution von 1918/19, S. 401.

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Fortschrittspartei angehörten. Auf Anordnung des AuSR wurden alle öffentlichen Gebäude vom Militär besetzt und für den Tag das Erscheinen der bürgerlichen Zeitungen verboten. Am Nachmittag des 9. November mahnte der inzwischen in Darmstadt einge- troffene Reichstags- und Landtagsabgeordnete der MSPD Carl Ulrich auf einer Volksversammlung die Massen zur Ruhe und Ordnung und bekundete als Ziel der Umwälzung die Errichtung eines Volksstaates. Anschließend begab er sich ins Neue Palais, wo es ihm jedoch nicht gelang, den Großherzog zur Abdankung zu bewegen. In der nachfolgenden Sitzung des AuSR antwortete Ulrich auf die Frage, ob Ernst Ludwig abgedankt habe: „Ihr habt ihn ja in der vorigen Nacht ab- gesetzt. Dabei bleibt´s.“ Noch in dieser Sitzung beauftragte der Darmstädter AuSR die sozialdemokratische Landtagsfraktion mit der Bildung einer republika- nischen Regierung.15 Auf einem Extrablatt des Darmstädter MSPD-Organs „Hessischer Volks- freund“ prangte am Abend des 9. November die Schlagzeile: „Hessen Sozialisti- sche Republik“.16 Sie zielte auf die tiefe Sehnsucht breiter Volksschichten, die in der Tradition der Sozialdemokratie verankert waren und im Vertrauen auf diese Partei die Verwirklichung einer revolutionären Utopie erhofften. Schließlich galt noch immer das Erfurter Programm von 1891, das als Ziel der Partei die Errich- tung der sozialistischen Gesellschaft definierte. Die erfolgreiche Revolution in Russland, deren Beginn am 7. November 1917 ein Jahr zurücklag, gab solchen Hoffnungen Auftrieb. In Offenbach, im Industriezentrum der Provinz Starkenburg, leitete am Nach- mittag des 8. November 1919 eine große Demonstration aller Betriebe, von den sozialdemokratischen Vertrauensleuten organisiert, die Revolution ein. Ein Arbei- terrat („Arbeiter-Aktionsausschuss“) wurde am Abend in der Versammlung der Betriebsvertrauensleute gewählt mit dem SPD-Landtagsabgeordneten und Che- fredakteur des „Offenbacher Abendblattes“ Georg Kaul als Vorsitzenden. Die Gründung eines Soldatenrates in der Garnison folgte am nächsten Tag, und am Nachmittag des 9. November fand die formelle Konstituierung des AuSR statt, in den auch Delegierte der USPD und der Fortschrittspartei eintraten. Der Solda- tenrat besetzte alle staatlichen Behörden, die Stadtverwaltung aber blieb unter der Kontrolle der sozialdemokratischen Stadtverordnetenfraktion. Zur Sicherung der öffentlichen Ordnung wurde eine „Volkswehr“ aufgestellt.17 Im Unterschied zu Darmstadt und zu Offenbach waren in Mainz 50 Matrosen aus Frankfurt/Main die Sendboten der Revolution. Sie trafen dort am Abend des 8. November 1918 mit dem Zug ein, entwaffneten ohne Widerstand die Bahn- hofswache und die dort postierten Festungsgendarmen. Soldaten der Ersatztrup-

15 Siehe ebenda, S. 401f. 16 Abgebildet in Eckhart G. Franz, Die Chronik Hessens, Dortmund 1991, S. 328. 17 Siehe Struck, Die Revolution von 1918/19, S. 402; Heinrich Galm: Ich war halt immer ein Rebell, Offenbach 1980, S. 38.

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penteile der Mainzer Garnison schlossen sich ihnen an. Am Morgen des 9. No- vember folgte die Befreiung der Insassen aus dem Militär- und dem Landge- richtsgefängnis. Die Matrosen ahnten noch nicht, dass man sie im Laufe des Ta- ges verhaften und aus der Stadt schaffen würde. Noch bevor die Revolution in Berlin siegte, hatte sich in Mainz die Gegenrevolution organisiert. Die Abwehr des „Chaos“ wurde durch die örtlichen Vertreter der freien Gewerkschaften und der MSPD durchgeführt. Sie standen unter der Leitung des Landtagsabgeordneten und Redakteurs des „Mainzer Volksblattes“ Bernhard Adelung. Ihnen gelang es, einen Teil des anwesenden Militärs zu gewinnen, besonders Offiziere und Unter- offiziere des Mainzer Landsturmbataillons und der Festungsgendarmerie. In Win- deseile wurde eine Bürgerwehr aus den Anhängern aller Parteien aufgestellt. Am Nachmittag konstituierte sich aus den gewählten Soldatenräten und aus sozialde- mokratischen wie freigewerkschaftlichen Funktionären der Mainzer AuSR als Zentralrat, welcher die vollziehende Gewalt über die Stadt und über die Provinz Rheinhessen übernahm. Vorsitzender wurde Adelung. Zur Abwehr angeblich dro- hender Gefahren wie Mord, Raub, Plünderung wurden in Mainz wie auch in Darmstadt Standgerichte gebildet.18 Am 15. November wurde Adelung zur Beloh- nung von der Stadtverordnetenversammlung zum 3. Beigeordneten (Bürgermei- ster) der Stadt Mainz gewählt mit einem Jahresgehalt von 10.000 Mark. Eine großherzogliche Bestätigung der Bürgermeisterwahl, die vor 1914 Sozialdemo- kraten regelmäßig verwehrt wurde, hätte wohl nicht lange auf sich warten lassen. Adelung brauchte sie nun nicht mehr.19 Der 10. November war ein milder Herbstsonntag, an dem Zehntausende von Menschen aus dem Land in die Städte strömten, um den Sieg der Revolution, den Sturz der Hohenzollern-Monarchie gemeinsam zu feiern. Auch nach Darmstadt setzte die Völkerwanderung ein, wo die Landtagsfraktion der SPD gerade über die ihr vom AuSR übertragene Aufgabe der Regierungsbildung verhandelte. Carl Ul- rich sah in dem Massenaufgebot eine Gefahr für die „öffentliche Sicherheit“ auf- ziehen und war bereit zu handeln: „In dieser Situation trat ich an den Komman- deur der Soldaten heran und besprach mit ihm, was im Interesse der Volksmassen, die die Straßen belebten, getan werden könnte. Er wusste sofort Rat: ‚Wir werden Fliegeralarm schießen, das wird die Straßen schnell säubern’, meinte er. Ich stimmte dem Vorschlag zu, und bald donnerten und krachten die Kanonen, dass uns in der Fraktionssitzung in der Kanzlei der Kammer die Ohren dröhnten. Die Wirkung trat unerwartet schnell ein: In kaum mehr als eine Viertelstunde waren die Straßen fast leer, und die Gefahr für die Volksmassen war glücklich besei- tigt.“20 Anzumerken bleibt, dass sowohl Fliegeralarm wie auch Fliegerangriff zu den Kriegserlebnissen der Darmstädter Bevölkerung gehörten.

18 Siehe Adelung, Sein und Werden, S. 173ff., 177; Struck, Die Revolution von 1918/19, S. 403; Franz, Chro- nik, S. 328. 19 Siehe Adelung, Sein und Werden, S. 184. 20 Ulrich, Erinnerungen, S. 118f.

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So abweisend Ulrich den Volkmassen begegnete, so vertrauensvoll wandte er sich den Bürgerlichen zu. Nach der Proklamierung der hessischen Republik noch am Nachmittag des 10. November auf der Versammlung der inzwischen zum Hessischen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrat (ABuSR) aufgestiegenen Darm- städter AuSRäte wurde am 14. November die neue provisorische Regierung vor- gestellt. Ihr gehörten neben dem Ministerpräsidenten Ulrich zwei Vertreter der SPD und je ein Mitglied der Fortschrittspartei (bald „Deutsche Demokratische Partei“ genannt) und des Zentrums an. Ohne Not, sozusagen in vorauseilendem Legitimationsbedürfnis, holte Ulrich Vertreter des Bürgertums in die Regierung, denen an der Verwirklichung der revolutionären Ziele und der Sicherung der Räte genauso wenig lag wie ihm selber. Am gleichen Tag schloss die neue Regierung ein Übereinkommen mit den AuSRäten über die Kompetenzabgrenzung, das die Räte praktisch jeder Zuständigkeit beraubte. Für interne militärische Angelegen- heiten waren die Soldatenräte allein zuständig, alle Fragen des zivilen Lebens aber unterstanden der Regierung. Als Regierungsprogramm sollten die schwammigen Begriffe „Volkswohlfahrt und Demokratie“ genügen. Schon am 3. Dezember wurde die „Verordnung über die Wahlen zur verfassunggebenden Volkskammer der Republik Hessen“ verabschiedet.21 Die Möglichkeit einer sozialistischen Um- gestaltung der Gesellschaft wurde damit bewusst verbaut. Konnten die Delegier- ten des Reichsrätekongresses, der zwei Wochen später am 16. Dezember in Ber- lin begann, noch hoffen, die sozialistischen Parteien würden in den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 die absolute Mehrheit gewinnen, so waren für die hessische Republik von vornherein die Weichen in Richtung einer Koalition mit den Bürgerlichen gestellt. Sie schloss nicht nur sozialistische Ziele aus, sondern rückte auch eine wirkliche Demokratisierung der Gesellschaft in weite Ferne. Zwar schlossen sich am 19. November1918 die hessischen Arbeiter- und Sol- datenräte zu einem Landesverband zusammen, ihre Tage waren aber schon ge- zählt. Infolge der Waffenstillstandsvereinbarungen gehörte Rheinhessen zu fran- zösisch besetztem Gebiet, ebenso wie der Mainzer Brückenkopf, der auch Teile der Provinz Starkenburg einschloss. Nach dem Einrücken von französischen Truppen im Dezember 1918 wurden die AuSR in diesen Regionen bald aufgelöst. Darmstadt und Offenbach lagen in der entmilitarisierten Zone. Zumindest die Ar- beiterräte hätten dort weiter bestehen können, der hessische ABuSR löste sich aber am 10. Dezember ebenfalls auf. Es wurde ein „Volksrat für die Republik Hes- sen“ gebildet, der sich auf alle Bevölkerungsschichten stützen sollte. Eine ent- sprechende Änderung wurde auch auf örtlicher Ebene veranlasst. Die Wahlen zum verfassungsgebenden Landtag am 26. Januar 1919 brachten der MSPD von 70 Mandaten 31, der USPD nur eins. Am 11. Februar löste sich der „Landesvolksrat“ auf und übertrug die gesetzgebende Gewalt, die er praktisch nie ausgeübt hatte,

21 Siehe Struck, Die Revolution von 1918/19, S. 403f.

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auf den Landtag, der zwei Tage später zusammentrat. Am 20. Februar 1919 wurde das „Gesetz über die vorläufige Verfassung für den Freistaat (Republik) Hessen“ verabschiedet, schließlich am 12. Dezember 1919 mit der endgültigen Verfassung der „Volksstaat Hessen“ proklamiert.22 Vom „Geist des Sozialismus“ fand sich in ihr keine Spur.23 Nicht überall wurde diese Politik widerstandslos hingenommen. In Offenbach versuchten am 18. April 1919, dem Karfreitag, mehrere tausend Menschen unter Führung der KPD, teilweise bewaffnet, den allgemein verhassten „Volksrat“ ab- zusetzen. Die Volkswehr und das aus Darmstadt herbeigeholte Militär schossen in die Menge. 16 Tote und viele Verletzte blieben auf dem Pflaster. Der Belage- rungszustand wurde verhängt und die Führer der Aktion verhaftet.24 Der Vertrauensverlust der MSPD wurde das erste Mal bei den Reichstagswah- len im Juni 1920 deutlich. Im Wahlkreis Darmstadt verlor die MSPD im Verhält- nis zu den Wahlen zur Nationalversammlung über 10 Prozent der Stimmen, in Mainz über 14 Prozent und in Offenbach fast 20 Prozent. Die Verluste kamen in allen drei Fällen fast vollständig der USPD zugute.25

Ordnungsfaktor in Nordhessen: Der „Zentral-Arbeiter- und Soldatenrat“ in Kassel

Nachdem am Morgen des 9. November 1918 etwa 200 Matrosen aus Köln in Kassel die Revolution eingeleitet hatten, wurde noch am Nachmittag in einer Volksversammlung, an der die Beschäftigten sämtlicher Betriebe teilnahmen, ein provisorischer AuSR bestätigt. In der konstituierenden Versammlung am 12. No- vember bekam der AuSR seine endgültige Gestalt. Die Versammlung wurde aus 300 Soldatenvertretern und aus 300 Arbeiterdelegierten gebildet. Letztere wurden nicht in den Betrieben gewählt, sondern je zur Hälfte von den Gewerkschaftsvor- ständen und vom Vorstand des Gewerkschaftskartells nominiert. Die andere Hälfte wurde von den Vorständen der MSPD und der USPD entsandt. Die in die- ser Versammlung durch Zuruf gewählte Exekutive des Arbeiterrates wurde durch die Arbeiterparteien paritätisch besetzt. Infolge der gemäßigten Haltung der Kas-

22 Siehe ebenda, S. 405f.; Franz, Chronik Hessens, S. 330. 23 Der Landtagspräsident Adelung bat sein Publikum in seiner Eröffnungsrede am 13. Februar um Nachsicht für eventuelle unvermeidliche Veränderungen: „Vergessen wir ... nicht, dass die Masse des Volkes mehr als je durch Sozialismus der kapitalistischen Gewinnanhäufung entgegen zu wirken sucht.“ Adelung, Sein und Wer- den, S. 194. 24 Siehe Franz, Chronik Hessens, S. 334; Haren, Volkstaat Hessen, S. 164f.; Galm, Ich war halt ein Rebell, S. 37f. 25 Siehe Thomas Klein: Die Hessen als Reichstagswähler 1867-1933, Bd. 3, Marburg 1993. Die Verringerung in den einzelnen Städten in absoluten Zahlen: Darmstadt 1919: 16134, 1920: 12966; Mainz 1919: 27170, 1920: 16414; Offenbach 1919: 22544, 1920:13462. Im ganzen Volksstaat Hessen gaben im Januar 1919 289.211 Wähler der MSPD, 12.633 der USPD ihre Stimme. Im Juni 1920 entfielen auf die MSPD 179.800, auf die USPD 72.420 und auf die KPD 3.014 Stimmen. (Statistisches Handbuch für den Volksstaat Hessen 1924, S. 153).

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seler USPD waren von ihrer Seite gravierende Kontroversen nicht zu erwarten. Da in der Leitung des Soldatenrates Vertreter der MSPD überwogen, dominierten sie das Gremium.26 In der Exekutive des AuSR waren von der Seite der MSPD die leitenden Funk- tionäre der örtlichen Arbeiterbewegung zusammengefasst: der Vorsitzende und Leiter des Gewerkschaftskartells Albert Grzesinski, sein Stellvertreter und Vorsit- zender der Kasseler MSPD Richard Hauschildt, das Mitglied des Kasseler Partei- vorstandes Cornelius Gellert, der Reichstagsabgeordnete der Kasseler MSPD Ge- org Thöne. Sie alle genossen Rückhalt in den Führungsstäben der MSPD im Reich und in Preußen. Grzesinski und Thöne wurden in die höchste Vertretung der Räte, in den Zentralrat der Republik gewählt, Grzesinski bekam im Juni 1919 den Posten eines Staatssekretärs im preußischen Kriegsministerium. Noch in seinem provisorischen Stadium ernannte sich der Kasseler AuSR zum Zentral-Arbeiter- und Soldatenrat (ZAuSR) für den Bereich des 11. Armeekorps, das teilweise auch Gebiete des Großherzogtums Hessen sowie von Thüringen um- fasste. Dadurch erhob er sich zur Kontrollinstanz für das Stellvertretende Gene- ralkommando. Für den Regierungsbezirk übernahm er gleichzeitig die Rolle eines Bezirks-Arbeiter- und Soldatenrates (BAuSR). Von der Reichsregierung wurde diese übergeordnete Funktion des Rates am 18. November ausdrücklich bestätigt. Der Regierungspräsident erteilte noch am 11. November den Landräten die Wei- sung, fortan den Anordnungen der KreisAuSR und des BAuSR Folge zu leisten.27 Die zivilen wie die Militärbehörden kamen dem AuSR bereitwillig entgegen, da sie in diesem Gremium einen Garanten gegen eine tatsächliche Revolution er- blickten. Der Kasseler AuSR verstand sich als oberstes Kontroll- und Verwaltungsorgan seiner Zuständigkeitsbereiche, zunehmend auch als selbständige Behörde mit Weisungsbefugnis. Er entsandte jedoch im Unterschied zum AuSR in Frankfurt keine Vertrauenspersonen mit Kontrollbefugnis in kommunale und staatliche In- stanzen, außer zwei Vertretern in den Kasseler Magistrat, die von den Stadtver- ordneten als Stadträte bestätigt wurden. Es kam in der zivilen und militärischen Verwaltung zu keiner Amtsenthebung.28 Auf dem Gebiet des Regierungsbezirks war der Kasseler AuSR die höchste In- stanz der Räteorganisation mit politischer Entscheidungskompetenz, während den örtlichen Räten eine Kontrollaufgabe zukam. Sie hatten den BAuSR bei seiner Ar- beit zu unterstützen und die Durchführung seiner Maßnahmen sowie die örtlichen Behörden und die Landräte zu überwachen. Allerdings hatten die örtlichen Räte auf der gemäßigten Linie der Kasseler Vorgesetzten zu bleiben.

26 Siehe Höpken, Kasseler Arbeiterbewegung, S. 171ff., 178f., 184f., 188. Erst im Mai 1919 bekam in der Exe- kutive auch ein bürgerlicher Vertreter aus der DDP Platz. 27 Siehe ebenda, S. 176, 216, 218f. 28 Siehe ebenda, S. 175, 259.

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Bei der Auflösung des von Marinesoldaten gegründeten „wilden“ AuSR in Hofgeismar im November 1918 spielte der ZAuSR eine aktive Rolle. Der AuSR in Schlüchtern wurde wegen eigenmächtigen Vorgehens ermahnt: Demokratie hieße auch ein- und unterordnen.29 Die AuSR in Hanau und Gelnhausen im Süden des Regierungsbezirks, in denen die USPD dominierte, erkannten die führende Position des ZAuSR in Kassel nicht an.30 Sie sahen in diesem Gremium zu Recht ein Bollwerk der MSPD. Die militärpolitische Tätigkeit des ZAuSR war eindeu- tig auf die Begrenzung des Wirkungsfeldes der Soldatenräte ausgerichtet, nach der Devise der MSPD, dass diese nur ein bis zum Friedensschluss bestehendes Provi- sorium darstellten. Auf Anregung der thüringischen Garnisonen, die mehrheitlich zur USPD standen, wurde am 3. Dezember als Gegengewicht zum ZAuSR ein ge- sonderter Zentral-Soldatenrat (ZSR) gewählt, der sich aus Vertretern des 11. und des 15. Armeekorps zusammensetzte. Vertreter der thüringischen Garnisonen be- zeichneten die Kasseler Revolution als eine „künstliche“, da der ZAuSR das Ge- neralkommando nicht entschieden genug kontrolliere.31 Am 13. November 1918 ließ sich die Oberste Heeresleitung (OHL) unter der Leitung des Hindenburg und des Generalquartiermeisters Wilhelm Groener in Kassel-Wilhelmshöhe nieder. Der ursprüngliche Plan, sich in Bad Homburg einzurichten, scheiterte nur anscheinend an den „unverschämten Forderungen“ des Homburger AuSR. Ausschlaggebend für den Verzicht war die Nähe der Großstadt Frankfurt mit ihrer starken linken Arbeiterbewegung. Vom Kasseler ZAuSR erwartete Groener eine positivere Haltung, da es der Kasseler Oberbürgermeister (OB) Koch nach seiner Ansicht verstand, den dortigen AuSR in Schach zu halten.32 Die geheime Vereinbarung zwischen Ebert und Groener, die die Revolution von ihrer ersten Stunde an den militärischen Kräften der Gegenrevolution ausge- liefert hatte, bestärkte Hindenburg in seiner Grundhaltung, dem Soldatenrat der Obersten Heeresleitung, auch Soldatenrat (SR) des Feldheeres genannt, keine Ein- griffsmöglichkeit in die Militärpolitik der OHL zu geben. Der Beschwerde des Soldatenrates der OHL darüber Ende Dezember an Ebert und an den Kasseler ZAuSR stieß auf taube Ohren.33 Konkret ging es um die „Hamburger Punkte“, die am 18. Dezember vom Reichsrätekongress gegen den Willen der MSPD-Führung angenommen worden waren. Sie unterstrichen die ursprünglichen antimilitaristi- schen Forderungen der Soldatenräte. Die sieben „Hamburger Punkte“ stießen auf den erbitterten Widerstand der militärischen Führung. Der Weihnachtserlass Hin- denburgs, der sich gegen diese Forderungen richtete, war ohne Wissen des Solda-

29 Siehe ebenda, S. 216ff., 219; Struck, Die Revolution von 1918/19, S. 434. 30 Siehe Höpken, Kasseler Arbeiterbewegung, S. 218. 31 Siehe Gunther Mai: Der Marburger Arbeiter- und Soldatenrat 1918/1920, Hessisches Jahrbuch für Landesge- schichte 26, 1976, S. 186f. 32 Siehe Höpken, Kasseler Arbeiterbewegung, S. 365, Anm. 844. 33 Siehe ebenda, S. 246; Eberhard Kolb: Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918/19, Frankfurt am Main-Berlin-Wien 1978, S. 212.

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tenrates der OHL veröffentlicht worden. An der Chefbesprechung der OHL, die diesem Aufruf vorausgegangen war und bei der die Stellungnahme gegen die Rä- tebeschlüsse erfolgte, waren weder der Soldatenrat noch die Reichsregierung ver- treten.34 Am 30. Dezember fand im Kasseler Rathaus auf Veranlassung der OHL eine Besprechung mit dem Kasseler OB und mit dem ZAuSR statt. Ziel war es, die in Kassel aufgekommene Unruhe über das Verhalten der OHL zu besänftigen. Groe- ner versicherte den Anwesenden, dass die OHL keinerlei Ambitionen zu gegen- revolutionären Maßnahmen habe und voll hinter der Regierung stehe. Der ZAuSR vertraute auf dieses Versprechen, trotz der Kenntnis des Anschlags auf die Volks- marinedivision zu Weihnachten in Berlin und der Tatsache, dass der Ring der Frei- korps um Berlin unter der Regie der OHL und mit Billigung der Regierung Ebert immer enger gezogen wurde. In seinem Beschluss vom 7. Januar 1919 in dieser Angelegenheit bestätigte er das übergeordnete Kontrollrecht der Reichsregierung über die OHL und beschränkte das Kontrollrecht des Soldatenrates der OHL auf Ausnahmesituationen.35 Am 19. Januar 1919 erließ die Reichsregierung in Übereinstimmung mit der OHL Ausführungsbestimmungen zu den „Hamburger Punkten“, die einer Ent- machtung der Soldatenräte gleichkamen. Diese „Vorläufige Regelung der Kom- mandogewalt“ stieß bei allen Soldatenräten des 11. Armeekorps auf einhellige Ab- lehnung. Mit der Besetzung Weimars durch ein Freikorps unter dem Kommando des Generals Maercker und der nachfolgenden Absetzung einiger Soldatenräte in Thüringen setzte die Regierung jedoch immer neue Tatsachen.36 Ganz auf der Linie der MSPD verstand sich der Kasseler ZAuSR als Proviso- rium bis zur „Demokratisierung Deutschlands“, worunter die MSPD-Führung die Stabilisierung der bürgerlichen Gesellschaft im Rahmen des Parlamentarismus und die Abwehr aller sozialistischen Forderungen verstand. In diesem Sinne un- terstützte der Zentralrat die baldige Wahl der Nationalversammlung mit den Stim- men seiner vier Delegierten im Dezember auf dem Reichsrätekongress. Bald nach der Zusammenkunft der Nationalversammlung in Weimar, fern vom unruhigen Berlin, tauchten jedoch Zweifel an der bisherigen Politik auf. In der Be- zirksversammlung am 18. Februar trat der BAuSR vehement für die Stärkung der Räte als Kontrollorgane der Verwaltungen ein, und einige Tage später bekräftigte auch der ZAuSR diese Auffassung.37 In der Vollversammlung des ZAuSR am 6. März 1919 legte Hauschildt einen Forderungskatalog an die Reichsregierung und an die Nationalversammlung vor, der die Rückkehr zu den ersten Novembertagen anstrebte: Umbildung der Reichsregierung in eine rein sozialdemokratische, Er- richtung einer Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenkammer neben der National-

34 Siehe ebenda, 212f.; Höpken, Kasseler Arbeiterbewegung, S. 246f. 35 Siehe ebenda, S. 247ff. 36 Siehe Mai, Marburger Arbeiter- und Soldatenrat, S. 187f. 37 Siehe ebenda, S. 234ff.; Mai, Marburger Arbeiter- und Soldatenrat, S. 193.

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versammlung, Weiterbestehen der größeren Räte und der Rätevereinigungen, So- zialisierung der geeigneten Betriebe. Der Katalog wurde mit wenigen Gegenstim- men angenommen. Als Unterstützung der Belange der Soldatenräte wurde die Ab- schaffung der bestehenden „Militärgewalt“ bis zum 1. Oktober 1919 und die Entfernung aller Rangabzeichen bis zum 25. März in die Liste der Forderungen aufgenommen.38 Die reale Entwicklung war inzwischen jedoch über Forderungen und Zuge- ständnisse gleichermaßen hinweggegangen. Bei der Niederschlagung des gleich- zeitigen Generalstreiks in Berlin fanden schätzungsweise 1.200 Menschen den Tod.

Gegen den Strom: Der Frankfurter Arbeiter- uns Soldatenrat39

Als sich am Nachmittag des 9. November 1918 der Frankfurter Arbeiter- und Sol- datenrat konstituierte, hatte er schon verschiedene Etappen der Ausgestaltung hin- ter sich, vom Wettlauf der Arbeiterparteien um die Gunst der Soldaten bis zur Bil- dung eines Arbeiterrates mit USPD-Dominanz. Im Vollzugsausschuss saßen schließlich mehrheitlich der MSPD angehörende Soldatenräte und je sieben Ver- treter beider Arbeiterparteien. Der kommandierende General des 18. Armeekorps war aus der Stadt geflohen, der Polizeipräsident Rieß von Scheurnschloß verhaf- tet und der SPD-Stadtverordnete Hugo Sinzheimer vom Soldatenrat zum Polizei- präsidenten ernannt. Am Montag, dem 11. November, nahm das Plenum des Ar- beiterrates Gestalt an. Dessen Mitglieder, zuvor in den Betrieben gewählte Arbeiterräte, bestätigten den 14köpfigen Vollzugsausschuss als Exekutive. Nach- dem Magistrat und Stadtverordnetenversammlung den AuSR als die höchste Ver- tretung der Stadt anerkannt hatten, wurde am 13. November auf dem Römer, dem Frankfurter Rathaus, die rote Fahne gehisst. Vor dem Hauptbahnhof verkündete eine große Tafel den Ankommenden: „Die deutsche sozialistische Republik grüßt Euch! Die alten Gewalten sind durch die Revolution des schaffenden Volkes ge- stürzt. Künftig seid Ihr Herr Euerer Geschicke.“ Die Träger der Revolution in Frankfurt waren neben der USPD und ihrer An- hängerschaft der starke linke Flügel der MSPD und deren Vertreter im AuSR. Für Delegierte der Angestellten- und Beamtenverbände stand der Rat ebenso offen wie später für die Erwerbslosenkommission und die neu gegründete KPD. Der Kontrolle der Kommunalverwaltung diente die Entsendung von vier Vertretern des AuSR in den Magistrat (Eduard Gräf und Karl Möller für die SPD, Robert Dißmann und Toni Sender für die USPD), wie auch die Platzierung von Beauf- tragten des AuSR in den Ausschüssen der Stadtverordnetenversammlung. Am 19.

38 Siehe ebenda, S. 190; Höpken, Kasseler Arbeiterbewegung, S. 237f. 39 Siehe Judit Pákh (Bearb.): Frankfurter Arbeiterbewegung in Dokumenten 1832-1933, Bd. 2, Frankfurt am Main 1997, S. 775ff.

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November wurde der AuSR von der Vollversammlung der Soldatenräte des Kor- psbereichs des 18. Armeekorps (AK) als Zentralinstanz anerkannt. Allerdings hielt sich der Vertreter des Offenbacher AuSR Georg Kaul auf Distanz. (Offenbach lag im Korpsbereich des 18. AK) „Wir wollen die Revolution, aber nicht die Diktatur des Frankfurter Arbeiter- und Soldatenrats“, verkündete er in der Sitzung. In seiner Funktion als Zentralinstanz entsandte der Frankfurter AuSR auch in staatliche Dienststellen wie Eisenbahndirektion und Oberpostdirektion Vertre- ter, die sogenannten Kontrollausschüsse, die praktisch als Betriebsräte tätig werden sollten. Der Kontrollausschuss bei der Eisenbahndirektion Frankfurt der Preußisch-hessischen Eisenbahnen, der „Verkehrsausschuss“, erkämpfte in seiner Dienststelle weitgehende Mitbestimmungsrechte. Er setzte sich entschieden für den Ausbau des Rätesystems in der gesamten deutschen Eisenbahnverwaltung ein. Der Anregung des Verkehrsausschusses folgend, trat Anfang April 1919 in Frank- furt ein allgemeiner Kongress der Eisenbahnerräte zusammen, auf dem die Bil- dung einer zusammenhängenden Räteorganisation der Eisenbahner beschlossen wurde.40 Das Inkrafttreten des Waffenstillstands am 11. November 1918 bewirkte auch für Frankfurt und seine Umgebung einschneidende Veränderungen. Zwischen De- zember 1918 und April 1919 zogen in Höchst, Nied und Griesheim französische Truppen ein. Auch Wiesbaden, das Verwaltungszentrum des Regierungsbezirks, wurde besetzt. Die dort gegründeten AuSR wurden aufgelöst. Frankfurt und Hanau lagen in der neutralen Zone, die von sämtlichen militärischen Einrichtun- gen und den dort stationierten Soldaten geräumt werden musste. Am 10. Dezem- ber löste sich auch der Frankfurter Soldatenrat auf. Die vom AuSR geschaffenen eigenen Sicherheitsorgane gewannen jetzt größeres Gewicht. Ihren Kern bildete der 130 Mann starke Marinesicherungsdienst. Die Mitte November aufgestellte Arbeiterwehr fasste politisch und gewerkschaftlich organisierte Arbeiter zusam- men und erreichte im Januar 1919 eine Stärke von 1.400 Mann. In diesem Monat wurde sie als „Hilfspolizei“ mit der kommunalen Polizei vereinigt. Ihre Mitglie- der erhielten Beamtenstatus. Die OHL versuchte, die Räumung der neutralen Zone für einen Angriff auf die Revolution zu nutzen. In der Presse wurde am 9. Dezember die Falschmeldung verbreitet, dass die Entente auch in der neutralen Zone unverzüglich die Auflö- sung der AuSR wünscht. Der Frankfurter Arbeiterrat verwahrte sich bei der Reichsregierung wie auch beim Reichsrätekongress gegen diese Manipulation. In Wirklichkeit bot die Entmilitarisierung des Gebiets für die Räte vorerst einen ge- wissen Schutz, da deutsches Militär dieses Terrain nur mit Zustimmung der Be- satzungsmacht betreten durfte. Das Wüten der Regierungstruppen in Berlin, das auch den Hintergrund für die Morde an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht lieferte, rief die Fraktionen des

40 Siehe Peter von Oertzen: Betriebsräte in der Novemberrevolution, Berlin 1976, S. 177ff.

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Arbeiterrates gemeinsam auf den Plan. Die Exekutive stimmte einhellig einer Ent- schließung zu, die am 17. Januar 1919 als Telegramm an die Ebert-Regierung und an alle deutschen Arbeiterräte verschickt wurde. Sie forderte den Rücktritt der Reichsregierung. Die Regierung habe die notwendigen Demokratisierungsmaßnah- men vor der Einberufung der Nationalversammlung unterlassen und dadurch die blutigen Ereignisse in Berlin provoziert sowie das Schicksal der Revolution einer bürgerlichen Mehrheit der Nationalversammlung in die Hände gelegt. An ihre Stelle solle eine Regierung aus Vertretern aller sozialistischen Gruppen treten. – Der Vor- stand der Frankfurter MSPD distanzierte sich sofort von dieser Aktion und sprach ihren Vertretern in der Exekutive des Arbeiterrates das Recht ab, den Rücktritt der Regierung zu fordern. Die erhobenen Vorwürfe seien zudem „sachlich unrichtig“. Die Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 erbrachten in Frank- furt, im Gegensatz zum Reich, eine knappe Mehrheit der Arbeiterparteien, wobei die USPD im Vergleich zur MSPD etwa ein Zehntel der Stimmen bekam (MSPD: 112.012, USPD: 11.133). In der Stimmung der MSPD-Wählerschaft brachten die nächsten Wochen eine merkliche Veränderung. Bei der Neuwahl der Stadtverordne- tenversammlung am 2. März 1919 verlor die MSPD fast die Hälfte der am 19. Ja- nuar erhaltenen Stimmen. Der Verlust führte allerdings nur zu einer geringfügigen Erhöhung der Stimmenzahl für die USPD. Es liegt nahe, in diesem Wahlergebnis ei- nen Ausdruck der Resignation innerhalb der linken Anhängerschaft der MSPD zu sehen. Die Tätigkeit der Nationalversammlung in Weimar und die von Gustav No- ske im Auftrag der Regierung Ebert koordinierten Militäreinsätze gegen die Zentren der Revolution waren wenig dazu angetan, die Mitglieder und Wähler auf dem lin- ken Flügel der MSPD zu motivieren. Zum Zeitpunkt der Wahlen zur Stadtverord- netenversammlung herrschte im nahen Hanau der Belagerungszustand, verhängt von General Rumschöttel, Befehlshaber der Regierungstruppen, die am 22. Februar die Stadt besetzt hatten. Die Vollversammlung des Frankfurter Arbeiterrates prote- stierte am 25. Februar einstimmig gegen den Militäreinsatz.41 Nach dem erfolgreichen Angriff der Konterrevolution auf Hanau initiierten bürgerliche Kreise auch in Frankfurt eine breit angelegte Diffamierungskampagne gegen den Arbeiterrat, die vor allem die angeblich schlechte Sicherheitslage und den Zustand der Hilfspolizei zum Gegenstand hatte. Die Kritik richtete sich auch gegen Leopold Harris (MSPD), der Ende April 1919 Hugo Sinzheimer als Poli- zeipräsident abgelöst hatte. Durch eine Neuwahl sollten auch Vertreter des Bür- gertums in den Arbeiterrat Eingang finden. Die Arbeiterwehr (Hilfspolizei) sollte die Aufnahme bürgerlicher Kräfte zulassen. Dem Arbeiterrat gelang es, von der sozialdemokratischen Linken gestützt, diese Forderungen abzuwehren und die Aufstellung einer reaktionären „Einwohnerwehr“ zu verhindern. Der Frankfurter Arbeiterrat proklamierte für den 13. Juni, den Tag der Bei- setzung von Rosa Luxemburg, mit den Stimmen aller seiner Fraktionen einen Generalstreik. Die drei Arbeiterparteien, MSPD, USPD, KPD, hielten getrennte 41 Siehe Pákh, Das rote Hanau, S. 380ff.

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Kundgebungen ab. Diese Ereignisse lieferten neue Nahrung für die Attacken der Reaktion, ebenso wie Anfang Juli der Streik der Eisenbahner. Ende Juli stellte der Magistrat offiziell die Kontrollrechte des Arbeiterrates in Frage. Die Vorbereitungen zur Absetzung der revolutionären Vertretung der Frankfur- ter Arbeiterschaft traten mit Unterstützung der Reichsregierung in ihre letzte Phase. Am 9. August 1919 trafen sich außerhalb der neutralen Zone in Bad Nau- heim Vertreter des 18. Armeekorps, der Kasseler Oberpräsident sowie Beauftragte des Frankfurter Magistrats mit Carl Severing (MSPD), den die Reichsregierung zum Generalkommissar für den Korpsbereich ernannt hatte. Gegenstand der Be- sprechung bildeten die Maßnahmen, die zum Sturz des Frankfurter Arbeiterrates als notwendig erachtet wurden. Nachdem geklärt war, dass sich die französische Besatzungsbehörde einer Aktion gegen die revolutionären Organe in Frankfurt nicht widersetzen würde, konnten Ende September Noske-Truppen in Gestalt der „Garde-Landesschützenabteilung“ Frankfurt besetzen. Am Rathaus war zuvor die Rote Fahne eingeholt worden. In Kenntnis der neuen Lage gab nun auch die Frankfurter MSPD ihren Wider- stand gegen die Neuwahl des Arbeiterrates auf. Die MSPD-Delegierten im Arbei- terrat stellten dort am 1. Oktober 1919 einen entsprechenden Antrag, doch die Rats-Mehrheit verwarf eine Neuwahl unter dem Druck von außen. Anfang Oktober wurde zeitgleich den Räten bei der Oberpostdirektion und der Ei- senbahndirektion das Recht bestritten, weiterhin an den Entscheidungen dieser Behörden mitbestimmend teilzuhaben. Der „Verkehrsausschuss“ forderte am 9. Ok- tober ultimativ die Beachtung seiner durch die Revolution erworbenen Rechte. Am 13. Oktober begann zur Verteidigung der Position des „Verkehrsausschusses“ der zweite Eisenbahnerstreik. Leopold Harris war als Polizeipräsident auch diesmal, wie schon beim ersten Eisenbahnerstreik Anfang Juli, nicht gewillt, gegen die streiken- den Arbeiter einzuschreiten. Er verweigerte dem Einsatz der Gardeschützen seine Zu- stimmung. Der „Verkehrsausschuss“ wurde vorerst in seiner Funktion belassen. Am 11. November 1919 trat Harris auf Druck seiner Partei, der MSPD, von sei- nem Posten zurück. Zum neuen Polizeichef wurde der Leiter des Bezirks Frank- furt des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes Fritz Ehrler (MSPD) ernannt. Am 12. November verließen die MSPD-Delegierten den Arbeiterrat. Die Macht des Arbeiterrats wurde am Morgen des 22. November 1919 endgültig gebrochen, als die Noske-Truppen das Polizeipräsidium stürmten und die Bereitschaft der Hilfs- polizei und des Marinesicherungsdienstes entwaffneten.

Eine Insel: Der Arbeiter- und Soldatenrat in Hanau42

Der Hanauer AuSR wurde am 9. November 1919 überwiegend aus Mitgliedern der USPD gebildet. Im Arbeiterrat saßen 20 Unabhängige neben 5 Vertretern der 42 Siehe Pákh, Das rote Hanau, S. 380ff.

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MSPD. Vorsitzender wurde das USPD-Mitglied und Mitglied des Spartakusbun- des Friedrich Schnellbacher. Als Organ der Revolution verfolgte der AuSR von Anfang an das Ziel einer sozialistischen Umgestaltung. Dabei fand der Rat in der Hanauer Arbeiterschaft breite Unterstützung. Der AuSR griff mit mehreren Verordnungen in die Verfügungsgewalt der Un- ternehmer ein, so bei Entlassungen, bei der Wiedereinstellung von Kriegsteilneh- mern und selbst bei Entlohnungsfragen. Zur Absicherung seiner Tätigkeit im Stadt- und Landkreis bestellte der AuSR den Stadtverordneten der USPD Georg Wagner zum provisorischen Polizeidirektor und Landrat. Dem amtierenden Land- rat Carl Christian Schmid wurde Mitarbeit angeboten. Er war noch am 4. Novem- ber, d. h. vor der Revolution, von der preußischen Regierung in Kassel ernannt worden. Schmid, bis ins Mark konservativ und antisozialistisch eingestellt, gab sich zunächst kooperativ, betrieb jedoch hinter den Kulissen von Anfang an die Absetzung Wagners und die Beseitigung der Räte. Dabei kamen ihm seine Kon- takte zu führenden Vertretern der MSPD zugute. Er hatte sie während des Krieges als Regierungsrat im preußischen Innenministerium geknüpft. Unterstützung fand er auch im Kreisausschuss, einem noch nach dem reaktionären Dreiklassenwahl- recht gewählten Gremium. Unter dem Eindruck des Mordes an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht trat Georg Wagner am 16. Januar zurück. Dem Ultimatum des Generalkommandos des 18. Armeekorps folgend, schränkte der AuSR Ende Januar seine Funktion auf die Wahrnehmung von Arbeiterinteressen ein. Davon unbeeindruckt bemühte sich Schmid weiterhin im Zusammenwirken mit dem Regierungspräsidenten (MSPD) und dem preußischen Innenminister Ru- dolf Breitscheid (USPD) um militärische Unterstützung. Schmids offenkundiges Ziel war dabei die gewaltsame Zerschlagung der Linken in Hanau. Unruhen am 18. und 19. Februar, deren Ursachen nie ganz aufgeklärt wurden, dienten als Vor- wand zum Einmarsch der Regierungstruppen am 22. Februar1919. Die Führer des AuSR wurden verhaftet und das Gewerkschaftshaus durchsucht. Noch während des Belagerungszustandes fanden am 2. März 1919 in Hanau die Stadtverordne- tenwahlen nach dem neuen Wahlrecht statt. Die USPD, deren Listenführer Frie- drich Schnellbacher, Georg Wagner und Wilhelm Schwind im Gefängnis saßen, bekam die meisten Stimmen und gewann 12 von 42 Mandaten. Das Beispiel Hanau macht deutlich, wie viel Energie durch das Doppelspiel der Regierung Ebert und ihrer Stellvertreter vergeudet wurde, so dass der Kampf selbst dort verloren ging, wo alle Voraussetzungen des Sieges bestanden hatten. Clara Zetkin hat die Bedeutung dieses Beispiels gewürdigt. Sie nannte das revo- lutionäre Hanau eine Insel im Ozean: „Es war ein vorgeschobener Posten der pro- letarischen Revolution, der zurückgezogen werden musste, weil die breiten star- ken Heersäulen nicht folgten.43

43 Clara Zetkin: Vorwort zu Friedrich Schnellbacker: Hanau in der Revolution vom 7. November 1918 bis 7. No- vember 1919, Hanau 1920, S. 9.

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MARIO HESSELBARTH Zur Novemberrevolution 1918/1919 in Thüringen

Soll über die Novemberrevolution in Thüringen berichtet werden, so bedarf es zunächst des Hinweises auf die Tatsache, dass der heutige Freistaat zum Zeitpunkt der Revolution 1918 nicht existierte. Als politisch-administrative Einheit ist Thüringen ein konkretes und bis heute sichtbares Ergebnis der Novemberrevolu- tion, auch wenn hieran offiziell kaum erinnert wird.1 Die Initiative zur Überwin- dung der Kleinstaaterei ging von der Konferenz der Arbeiter- und Soldatenräte des 36. Reichstagswahlkreises vom 10. Dezember 1918 in Erfurt aus, die eine ein- heitliche Provinz Thüringen als Teil der angestrebten deutschen Einheitsrepublik forderte.2 Vor diesem Hintergrund richtet sich der Blick auf die Ereignisse während der Novemberrevolution in Thüringen zunächst auf 8 Fürstentümer, die in 16 größere und 60 kleinere Landesteile zerfielen. Daneben existierten auf dem Gebiet des heutigen Thüringen einige preußische Enklaven, unter ihnen die beiden Industrie- städte Erfurt und Suhl. Damit fehlte der Region ein mit Berlin oder München ver- gleichbares Zentrum, in dem sich für den Verlauf der Revolution entscheidende Vorgänge hätten abspielen können. Auch deshalb spielten die Ereignisse in Thüringen für den Gesamtverlauf der Novemberrevolution zunächst keine Rolle, weshalb sie in der späteren Revolutionsgeschichtsschreibung nur wenig Beach- tung fanden. Lediglich Weimar als Tagungsort der Nationalversammlung wurde erwähnt, nach den hiermit verbundenen Rückwirkungen auf die weitere Entwick- lung in Thüringen jedoch kaum gefragt. Die bisher vorliegenden regionalgeschichtlichen Darstellungen zur November- revolution in Thüringen vermitteln ein äußerst heterogenes Bild.3 In diesen Arbei- ten spiegeln sich die jeweils herrschende Lehre desjenigen Umfeldes wieder, in denen sie entstanden sind.4 Die westdeutsche Sicht vor 1989 wurde weitgehend von der Interpretation des DV-Politikers Georg Witzmann dominiert, der in seinen

1 Im Geleitwort zu einer Veröffentlichung über die 1919 gewählten Landtage in den Thüringer Freistaaten ver- mied es die damalige Landtagspräsidentin Christine Lieberknecht, die Novemberrevolution auch nur zu er- wähnen. Siehe Christine Lieberknecht, Geleitwort in: Die vergessenen Parlamente. Landtage und Gebietsver- tretungen in den Thüringer Staaten und Gebieten 1919-1923. Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen, Erfurt 2002, S. 9/10. 2 Siehe Bernhard Post/Volker Wahl (Hrsg.): Thüringen-Handbuch. Territorium, Verfassung, Regierung und Ver- waltung in Thüringen 1920 bis 1995. S. 81. (Dok. 10). 3 Siehe hierzu insgesamt: Jürgen John/Günther Mai: Thüringen 1918-1952. Ein Forschungsbericht in: Detlev Heiden/Gunther Mai (Hrsg.): Nationalsozialismus in Thüringen, Weimar/Köln/Wien 1995, S. 553-590. 4 Siehe hierzu Heinrich August Winkler: Ein umstrittener Wendepunkt: Die Revolution von 1918/19 im Urteil der westdeutschen Geschichtswissenschaft, und Jürgen John: Das Bild der Novemberrevolution 1918 in Geschichtspolitik und Geschichtswissenschaft der DDR., in: Heinrich August Winkler (Hrsg.): Weimar im Widerstreit. Deutungen der ersten deutschen Republik im geteilten Deutschland, München 2002, S. 33-42 und S. 43-84.

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Erinnerungen die antirepublikanische Politik großer Teile des thüringischen Bür- gertums mit dem Linksradikalismus insbesondere der Gothaer Arbeiterbewegung zu rechtfertigen versuchte.5 Diese Sichtweise findet sich auch in landes- und lo- kalgeschichtlichen Arbeiten wieder, die nach 1990 entstanden sind.6 Demgegenüber hat die DDR-Geschichtsschreibung nachzuweisen versucht, dass die in Gotha dominierenden linken Kräfte in der USPD erst im Verlauf der Revolution „zusehends Klarheit über den unüberbrückbaren Gegensatz zu den Zentristen und den anderen Opportunisten gewannen“.7 Dennoch hätten die revo- lutionären Kräfte des ganzen Gothaer Gebietes den eigentlich aus dieser Erkennt- nis logisch folgenden Schritt zur Gründung der KPD unterlassen, weil sie die Rolle der marxistisch-leninistischen Partei als Lehre der Oktoberrevolution nicht erkannten.8 Die Gründung der KPD galt auch in der lokalgeschichtlichen DDR- Geschichtsschreibung als das wichtigste Ereignis der Novemberrevolution9, wenngleich eine große Diskrepanz zwischen dem veröffentlichten Bild zu Rolle und Einfluss der jungen KPD 1919/20 in Thüringen10 und dem eigenen For- schungsergebnissen bestand.11 Vor diesem Hintergrund weist das Bild zur Novemberrevolution große Lücken auf, die erst noch gefüllt werden müssen. Deshalb soll hier in wenigen Umrissen eine Sicht vorgestellt werden, die in der Novemberrevolution einen Ausgangs- punkt für die 1921/22 betriebene linkssozialistisch-republikanische Reformpolitik erblickt.12 In der demokratischen Tradition der mitteldeutschen Region stehend13

5 Siehe Georg Witzmann: Thüringen von 1918-1933. Erinnerungen eines Politikers, Meisenheim am Glan 1958. Seine Sicht prägte die Darstellung in Friedrich Facius: Politische Geschichte Thüringens von 1828-1945, in: Hans Patze/Walter Schlesinger (Hrsg.): Geschichte Thüringens. Politische Geschichte in der Neuzeit. Bd. 2, Köln/Wien 1978, Lauf 2001. Kritisch hierzu: Lothar Ehrlich/Jürgen John: „Weimar 1930“. Politik und Kultur im Vorfeld der NS-Diktatur, in: Lothar Ehrlich/Jürgen John (Hrsg.): Weimar 1930. Politik und Kultur im Vor- feld der NS-Diktatur, Köln/Weimar/Wien 1998, S. VII-S. XXXVIII. 6 Siehe Joachim Bergmann: Die innenpolitische Entwicklung Thüringens in der Zeit von 1918 bis 1932, Lauf 2001; Helge Matthiesen: Bürgertum und Nationalsozialismus in Thüringen. Das bürgerliche Gotha von 1918 bis 1930, Jena 1994. 7 Gerhard Schulze: Die Novemberrevolution 1918 in Thüringen, Erfurt 1974, S. 97. 8 Siehe Ewald Buchsbaum: Die Linksentwicklung der Gothaer Arbeiterbewegung von 1914 bis 1920 unter be- sonderer Berücksichtigung von der Entstehung und Entwicklung des linken revolutionären Flügels der USPD bis zu dessen Vereinigung mit der Kommunistischen Partei Deutschlands im Dezember 1920. DisS. (unver- öffentlicht) Halle 1965, S. 126. 9 Siehe Schulze, Die Novemberrevolution 1918 in Thüringen, S. 176. 10 Horst Müller: Über die Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands und ihre Entwicklung zur revo- lutionären Massenpartei in Thüringen 1919/20, in: Beiträge zur Geschichte Thüringens, Erfurt 1968, S. 22-52. 11 Siehe Buchsbaum: Die Linksentwicklung der Gothaer Arbeiterbewegung, S. 198-217; Walter Pöhland: Die Entwicklung der Arbeiterbewegung in Ostthüringen 1914-1920 unter besonderer Berücksichtigung der Her- ausbildung des revolutionären linken Flügels der USPD bis zur Vereinigung mit der KPD. Diss. (unveröf- fentlicht) Halle 1965, S. 217-246. 12 Hierzu aus jeweils unterschiedlicher Sicht: Manfred Weißbecker (Hrsg.): Rot-Rote Gespenster in Thüringen. Demokratisch-sozialistische Reformpolitik einst und heute, Jena 2004; Josef Schwarz: Die linkssozialistische Regierung Frölich in Thüringen 1923, Hoffnung und Scheitern, Schkeuditz 2000; Beate Häupel: Die Grün- dung des Landes Thüringen. Staatsbildung und Reformpolitik 1918-1923, Weimar/Köln/Wien 1995; Erhard Wörfel: Die Arbeiterregierung in Thüringen im Jahre 1923, Erfurt 1974; Paul Mitzenheim: Die Greilsche Schulreform in Thüringen. Die Aktionseinheit der Arbeiterparteien im Kampf um eine demokratische Ein- heitsschule in den Jahren der revolutionären Nachkriegskrise, Jena 1965.

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und sich positiv auf die Novemberrevolution 1918 beziehend14 unternahmen die thüringischen Sozialisten den Versuch, die Grundlagen der parlamentarischen De- mokratie durch die Demokratisierung der Verwaltung zu stärken, eine konsequent soziale Politik im Interesse der arbeitenden Bevölkerung zu betreiben und die Trennung von Staat und Kirche herbeizuführen. Das sich im Aufbau befindliche Land Thüringen wurde so Anfang der 20er Jahre „zu einem regionalen Reform- zentrum der frühen Weimarer Republik – zu einem Hoffnungsträger der Reform- gruppen und zu einem Schreckgespenst ihrer Gegner.“15 Hier wurde kurzzeitig eine alternative Entwicklungsmöglichkeit in der Weimarer Republik sichtbar. Diese scheiterte 1923 zunächst mit dem Einmarsch der Reichswehr. Kurz darauf erfolgte ein grundlegender Kurswechsel in der Landespolitik, den die nun mit Un- terstützung der völkisch-nationalsozialistischen extremen Rechten regierenden bürgerlichen Parteien vornahmen.16 Im folgenden soll auf vier Aspekte der Revolution 1918/1919 in Thüringen ein- gegangen werden.

Erstens:

Die von Norddeutschland ausgehende Revolution traf in Thüringen am 8. und 9. November 1918 auf unterschiedliche sozial-ökonomische und politische Konstel- lationen, woraus sich ihre differenzierten Verläufe erklären. Neben Rheinland, Sachsen und Berlin hatte sich die thüringische Region vor der Jahrhundertwende zu einem vierten Ballungsgebiet des Kaiserreiches ent- wickelt17, das ohne Schwerindustrie vor allem in West- und Mittelthüringen dennoch strukturschwach geblieben war. Die den Thüringer Wald und das „wei- marische Manchester“18, die Strick- und Wirkwarenstadt Apolda, beherrschende Leichtindustrie bestand vorrangig aus Klein- und Mittelbetrieben und aus Haus- industrie.19 Hier dominierten dörfliche Strukturen. Die wenigen größeren Städte waren in Thüringens Kleinstaatenwelt hauptsächlich fürstliche Residenzen, die sich nicht zu Industriestädten entwickeln sollten.20

13 Diesen Aspekt hebt ausdrücklich Karsten Rudolph hervor: Untergang auf Raten. Die Auflösung und Zerstörung der demokratischen Kultur in Thüringen 1930 im regionalen Vergleich, in John Ehrlich (Hrsg.): Weimar 1930, S. 25. 14 Eine der ersten Maßnahmen der 1921 gewählten sozialistischen Regierung bestand in der Einführung des 9. November als gesetzlicher Feiertag. 15 Jürgen John (Hrsg.): Quellen zur Geschichte Thüringens 1918-1945, Erfurt 1996, S. 29. 16 Siehe ebenda, S. 17/18. 17 Siehe Ullrich Hess: Geschichte Thüringens 1866 bis 1914. Aus dem Nachlass herausgegeben von Volker Wahl, Weimar 1991, S. 95/96. 18 Siehe ebenda, S. 103. 19 Siehe ebenda, S. 299/300. 20 Siehe Andreas Wolfrun: Die Sozialdemokratie im Herzogtum Sachsen-Altenburg zwischen 1848 und 1920, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 34-36.

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Nach der Revolution von 1848/49 hatten die Thüringischen Kleinstaaten als ein „Hort der Freiheit“ gegolten. Der preußische Gesandte am Hof des Weimarer Her- zogs charakterisierte 1869 die Bevölkerung Thüringens als durchweg liberal, de- mokratisch und republikanisch.21 Kennzeichnend für diese liberale Atmosphäre war die Begrüßung August Bebels durch den Eisenacher Polizeiinspektor 1869 am Beginn des Gründungsparteitages der Sozialdemokratischen Partei: „Sie sind hier in einem freien Lande, Sie können hier sprechen und beschließen, was Sie wollen. – Wir werden nicht danach fragen.“22 Die soziale Situation der thüringischen Arbeiter war im Vergleich zu anderen Regionen des Kaiserreiches jedoch noch schlechter.23 Die Sozialdemokratie gewann in diesem von „Verbitterung und Ver- drossenheit“ bestimmten Umfeld mit ihren visionären Zielstellungen, die vielen Notleidenden wieder einen Lebenssinn gab, schnell an Einfluss.24 Bereits in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts zogen Sozialdemokraten in die kleinstaatlichen Landtage ein und begannen, eine stetig anwachsende parlamentari- sche Präsenz aufzubauen.25 In einigen Landtagen gelang es den Abgeordneten der SPD, durch Zusammenarbeit mit den Liberalen und den Regierungen bestimmte Forderungen im Interesse der arbeitenden Bevölkerung durchzusetzen. Damit zeigte die Sozialdemokratie, dass sie nicht nur die Erreichung ihres Endziels vorbereitete, sondern auch für die Gegenwartsinteressen der Arbeiter wirkte.26 Die Regierungs- koalitionen, die Sozialdemokraten beider Richtungen mit den bürgerlichen Demo- kraten in den Anfang 1919 neu gewählten Landtagen mit Ausnahme Sachsen-Go- thas eingingen27, lagen in der Kontinuität sozialdemokratischer parlamentarischer Tradition und liberaler bürgerlicher Demokratie in Thüringen. Im Zuge der Industrialisierung während des letzten Drittels des 19. Jh. bildeten sich in Thüringen zwei Industrielandschaften heraus. Während in den Dörfern und Landgemeinden des Thüringer Waldes weiterhin die aus der vorindustriellen Zeit stammenden Strukturen dominierten, veränderte sich die industrielle Basis in der ostthüringischen Region erheblich. Sowohl die Textilproduktion, als auch die Me- tallwarenherstellung und die Papier- und Lederproduktion wurden nun zuneh- mend fabrikmäßig betrieben. Zum größten Unternehmen in Thüringen wurde das Zeiss-Werk in Jena. Insbesondere in Ostthüringen entwickelte sich die Sozialde- mokratie zur Milieupartei eines schnell anwachsenden Industrieproletariats.28

21 Siehe Rudolph, Untergang auf Raten, Weimar 1930, S. 19. 22 Protokoll über die Verhandlungen des Allgemeinen Deutschen sozial-demokratischen Arbeiterkongresses zu Eisenach am 7., 8. und 9.8.1869, Leipzig 1869, S. 7. 23 Siehe Hess, Geschichte Thüringens, S. 141/142. 24 Siehe ebenda, S. 146. 25 Zur Entwicklung der SPD bis 1914 in Thüringen insgesamt siehe Hess, Geschichte Thüringens, S. 95/96. 26 Siehe Wilhelm Bock: Im Dienste der Freiheit. Freud und Leid aus sechs Jahrzehnten Kampf und Aufstieg, Berlin 1927, S. 58. 27 Siehe Häupel, Die Gründung des Landes Thüringen, S. 64-67. 28 Siehe hierzu insgesamt Franz Walter: Thüringen – Einst Hochburg der sozialdemokratischen Arbeiterbewe- gung? In: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 28. Jg. (1992), S. 21-39.

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Der Erste Weltkrieg bewirkte vor allem in der Residenzstadt Gotha gravierende strukturelle Veränderungen. Insgesamt wies das Herzogtum Sachsen-Gotha-Co- burg in den letzten beiden Kriegsjahren die höchste Produktion pro Kopf an Kriegsmaterial im gesamten Kaiserreich auf.29 Hatte in Gotha die Zahl der bür- gerlichen Erwerbstätigen bis 1914 zu- und die der Industriearbeiterschaft abge- nommen30, stieg letztere infolge des Ausbaus der Rüstungsindustrie stark an.31 Diese Arbeiterschaft bildete vor Ort die soziale Basis der Unabhängigen Sozial- demokratischen Partei Deutschlands (USPD), die 1917 in Gotha von den Gegnern der sozialdemokratischen Kriegspolitik gegründet worden war. Die politische Grundlage für die Linksentwicklung der Gothaer Arbeiterschaft war jedoch bereits 1910 mit der Einstellung Otto Geithners32 als Redakteur des „Volksblattes“ gelegt worden. Durch ihn verfügte die Parteilinke vor Ort über ei- nen entsprechenden Einfluss auf die lokale Parteizeitung. Seit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges war das „Gothaer Volksblatt“ bis zu seinem Verbot im März 1915 ein Sprachrohr der innerparteilichen Antikriegsopposition. Geithner nahm am 5. März 1915 an der Gründung der Gruppe Internationale in Berlin teil33, war aber aufgrund seiner Einberufung an weiterer aktiver Antikriegsarbeit stark ge- hindert. Nachhaltiger konnte der auf zentristischer Position stehende Gothaer SPD- Reichstagsabgeordnete Wilhelm Bock, der am 3. August 1914 intern gegen die Kriegskredite gestimmt hatte,34 für die innerparteiliche Opposition wirken. Der Parteiveteran Bock hatte 1869 zu den Mitbegründern der Eisenacher Partei gehört und war 1875 aktiv an deren Vereinigung mit dem Allgemeinen Deutschen Arbei- terverein beteiligt.35 Er übernahm im April 1917 nicht nur die organisatorischen Vorbereitungen zur Gründung der USPD in Gotha, sondern wirkte aktiv am Auf- bau der neuen Partei in Thüringen mit.36 Unter seiner Führung ging die Gothaer Sozialdemokratie nahezu geschlossen in die neue Partei. Sowohl am Aprilstreik 191737, als auch am Januarstreik 191838 war die Gothaer Arbeiterbewegung aktiv beteiligt. Bock war es auch, der am 9. November 1918 den Herzog von Sachsen-

29 Siehe Buchsbaum, Die Linksentwicklung, S. 91. 30 Siehe Matthiesen, Bürgertum und Nationalsozialismus, S. 26. 31 Siehe ebenda, S. 44/45. 32 Siehe Helga Raschke: „In contumiciam” aus der KPD geworfen. Ernst Geithner (1876-1948), in: Hessel- barth/Schulz/Weißbecker (Hrsg.): Gelebte Ideen, S. 177-183; Hermann Weber/Andreas Herbst: Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945, Berlin 2004, S. 239/240. 33 Siehe Schulze, Die Novemberrevolution 1918 in Thüringen, S. 24. 34 Siehe Eugen Prager, Geschichte der USPD, Berlin 1921, S. 26. 35 Siehe Mario Hesselbarth: Der Großvater des Sozialismus in Thüringen. Wilhelm Bock (1846-1931), in Hes- selbarth/Schulz/Weißbecker (Hrsg.): Gelebte Ideen, S. 53-62. In seinen Erinnerungen machte Bock keine An- gaben über seine Rolle während der Parteispaltung 1916/17; siehe Bock, Im Dienste der Freiheit. 36 Siehe hierzu insgesamt Mario Hesselbarth: Zur Spaltung der thüringischen Sozialdemokratie im Frühjahr 1917, in: JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, H. II/2008, S. 92-101. 37 Siehe Schulze, Die Novemberrevolution 1918 in Thüringen, S. 31. 38 Die Streikaktion im Januar 1918 wurde von einem Arbeiterrat geleitet, zu dem auch Bock gehörte. Siehe Buchsbaum, Die Linksentwicklung, S. 89-94.

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Coburg-Gotha für abgesetzt erklärte, dem damit als einzigem Thüringischen Für- sten dieses Schicksal wiederfuhr.39 Wie in Gotha waren die Sozialdemokraten in den beiden preußischen Klein- staaten nahezu geschlossen der USPD beigetreten, auch hier bildete die Indu- striearbeiterschaft die soziale Basis der neuen Partei. Demgegenüber blieben die Sozialdemokraten vor allem in den ländlichen Regionen und im Freistaat Sach- sen-Altenburg in der sozialdemokratischen Mehrheitspartei (MSPD). Damit ging die regionale Arbeiterbewegung bei unterschiedlicher Dominanz der jeweiligen Richtung nahezu geschlossen in die Revolution, was deren weitern Verlauf prägen sollte.

Zweitens:

Die Initiative zur Revolution ging in Thüringen zu großen Teilen von den Solda- ten aus. Neben dem Zusammenbruch der militärischen Disziplin beeinflusste vor allem der Informationsvorsprung über die Vorgänge in Norddeutschland, den sie gegenüber der organisierten Arbeiterbewegung aufgrund ihrer besseren Kommu- nikationsmöglichkeiten hatten, ihr Agieren.40 Einen wichtiger Faktor für die In- itiative der Soldaten der Weimarer Garnison bildete der Umstand, dass hier Jenaer Arbeiter, die aufgrund ihrer Teilnahme am Januarstreik 1918 eingezogen worden waren, die revolutionären Aktionen am 8. November 1918 auslösten.41 Bereits am Vormittag hatten zwei Soldaten der Weimarer Garnison Kontakt mit August Bau- dert42, Reichs- und Landtagsabgeordneter sowie Sekretär des Agitationsbezirkes Großthüringen der MSPD, aufgenommen.43 Mit dem Verweis auf die explosive Stimmung unter den Mannschaften forderten sie die Partei zum Handeln auf. Bau- dert schlug für den Abend eine Demonstration vor und formulierte gemeinsam mit den Soldaten deren Forderungen. Diese sollte er als deren Sprecher gegenüber dem Garnisonkommandeur vertreten. Bis zum Abend wurde das Vorhaben der Soldatendemonstration sowohl dem Garnisonskommandeur als auch der Polizei bekannt. Baudert gelang es hinter den Kulissen mit der Zusicherung, dass die De- monstration friedlich verlaufen würde, eine Gegenaktion der alten Ordnungs- macht zu verhindern. Zwischenzeitlich hatten die Soldaten einen Soldatenrat gewählt und ein Pro- gramm, das u. a. die Forderung nach Abdankung des Kaisers und der Fürsten be-

39 Siehe Häupel, Die Gründung, S. 46. 40 Siehe Günther Hautal: Aus der Geschichte des Herzogtums Sachsen-Altenburg. Von der Mitte des 19. Jahr- hunderts bis zur Entstehung des Freistaates Sachsen-Altenburg (1919), Bd. IV., Altenburg 2003, S. 71. 41 Siehe Schulze, Die Novemberrevolution 1918 in Thüringen, S. 69. 42 Siehe Peter Franz: Ein sozialdemokratischer Basisarbeiter. August Baudert. In: Hesselbarth/Schulz/Weiß- becker (Hrsg.): Gelebte Ideen, S. 30-38. 43 Zu den Ereignissen in Weimar u. a. August Baudert: Sachsen-Weimars Ende. Historische Tatsachen aus sturm- bewegter Zeit, Weimar 1923, S. 10-17.

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inhaltete, formuliert. Die politischen Forderungen sollten nach Auffassung der Soldaten von der lokalen Sozialdemokratie und der SPD-Landtagsfraktion ausge- arbeitet werden. Baudert führte die Soldaten wie abgesprochen am Abend fried- lich durch die Stadt zum Schlossplatz und hielt eine kurze Ansprache, in der er die demokratische Republik forderte. Nur mit Mühe gelang es ihm, ein sofortiges Losschlagen der Soldaten und damit den Sturm auf das Schloss zu verhindern. Der Garnisonskommandeur erklärte sich zur Annahme der Soldatenforderungen bereit und veranlasste die Freilassung der wegen Disziplinvergehen Inhaftierten. Aber damit gab sich der Soldatenrat schon nicht mehr zufrieden. Post, Bahnhof und Te- legrafenamt wurden besetzt, und die Soldaten übernahmen die politische und mi- litärische Macht in der Stadt. Einen Tag später bildeten die Partei- und Gewerk- schaftsleitung einen Arbeiterrat, zu dessen schnellster Konstituierung sie nach Bauderts eigener Darstellung „von den Allerradikalsten“ gedrängt werden mus- sten. Am gleichen Tag dankte der Großherzog nach einer Aufforderung durch den Arbeiter- und Soldatenrat ab, der sich selbst zunächst lediglich als Provisorium betrachtete. Er stellte die Wahl einer konstituierenden Versammlung für das Wei- marische Land aufgrund gleichen Wahlrechts zum schnellst möglichen Zeitpunkt in Aussicht. Diese sollte über die weitere politische Ausgestaltung des Landes be- schließen. In vielen thüringischen Städten verlief die Revolution nach einem ähnlichen Muster wie in Weimar.44 Die Soldaten verweigerten den Gehorsam, wählten Sol- datenräte und nahmen Kontakt zur lokalen sozialdemokratischen Parteileitung auf.45 Angestoßen von den Soldaten bildeten sich vielerorts Arbeiterräte, die sich dann mit den Soldatenräten zu gemeinsamen Organen vereinigten. Von deren Agieren hing dann der weitere Verlauf ab, wobei sich nach einem groben Raster zwei Entwicklungslinien unterscheiden lassen. Insbesondere dort, wo die Mehrheitssozialdemokraten dominierten, gestaltete sich die Revolution als politische Umwälzung, die schnell in die Herstellung bür- gerlich-parlamentarischer Verhältnisse mündete. Die Arbeiter- und Soldatenräte bekamen hier nur wenig oder wie in Sachsen-Meiningen gar keinen Einfluss. Die bestehenden Landtage leiteten mit entsprechenden Wahlrechts- und Verfassungs- änderungen die politischen Veränderungen selbst ein.

44 Siehe hierzu im einzelnen Häupel, Die Gründung des Landes Thüringen, S. 38-53; Schulze, Die November- revolution 1918 in Thüringen, S. 60-91. 45 „Ich befand mich zur Zeit der Novemberrevolution als Vizefeldwebel und Flugzeugführer bei der Fea 3 (Flie- ger-Ersatzabteilung 3) in Gotha. Am 8. November 1918 war vormittags ein allgemeiner Kleiderappell ange- setzt, der von einem alten Tattergreis von General, der eigens aus Erfurt kam, abgehalten wurde. Der Appell konnte nicht beendet werden, da aus den Reihen der Kameraden Rufe laut wurden wie: Alter Weihnachtsmann geh nach Hause, worauf sich die angetretene Menge spontan auflöste. Die diensthabenden Offiziere und ei- nige Unteroffiziere verdrückten sich lautlos. Dann wurde ein Soldatenrat gewählt.“ Augenzeugenbericht des Soldaten Willi Boll. In: Ewald Buchsbaum, Die Linksentwicklung, S. 102. Bereits Mitte Oktober 1918 hatten die Gothaer Behörden gemeldet, dass die sich in der Stadt befindlichen Truppen disziplinlos und nicht mehr gewillt seien, Soldaten im Sinne militärischer Überlieferung zu sein. Siehe ebenda, S. 100.

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Als revolutionärer Umsturz gestaltete sich die Revolution in denjenigen Indu- striezentren, wo die linksorientierte USPD dominierte bzw. großen Einfluss aus- übte. Bereits in den letzten Oktobertagen 1918 war in Jena und Gotha in öffentli- chen Volksversammlungen der USPD offen über einen revolutionären Ausweg aus dem Krieg und über den Sozialismus als Alternative zum Kapitalismus diskutiert worden. So rief der USPD-Reichstagsabgeordnete Herzfeld im Jenaer Volkshaus zur Revolution nach russischem Vorbild auf.46 Dennoch lösten auch in den beiden Industriezentren die Soldaten die revolutionären Aktionen aus. Die hier gebilde- ten Arbeiter- und Soldatenräte verstanden sich als revolutionäre Übergangsorgane, die bis zur Wahl der Nationalversammlung die alleinige Macht auszuüben ge- dachten. In diesem Sinne antwortete der aus beiden sozialistischen Parteien pa- ritätisch zusammengesetzte Jenaer Arbeiter- und Soldatenrat auf das Anliegen des liberalen Jenaer Bürgertums zur Beteiligung am Rat.47 In den beiden preußischen Fürstentümern machte die zentristisch orientierte USPD ihren Willen zur Umgestaltung der politischen und sozialen Verhältnisse mit entsprechenden Eingriffen in die politischen, ökonomischen und sozialen Ver- hältnisse sichtbar. Ihre Initiativen zielten letztlich auf eine Umsetzung der Über- legungen Kautskys zur Übergangswirtschaft ab. Auf kapitalistischer Grundlage sollte die zerrüttete Wirtschaft wieder in Gang gesetzt, zugleich aber deren nega- tive Auswirkungen auf die Arbeitenden durch konkrete Maßnahmen wie Acht- stundenarbeitstag, Arbeitslosenunterstützung und Arbeitsschutzgesetze einge- dämmt werden. Zu den ersten Maßnahmen gehörte deshalb die Verordnung über Mindestlöhne und Arbeitszeiten, die eine tatsächliche materielle Besserstellung der arbeitenden Bevölkerung bewirkten.48 Insgesamt herrschte im November/Dezember 1918 innerhalb der Thüringer Rätebewegung bis hin zu den auf dem linken Flügel der USPD stehenden lokalen Parteiorganisationen Konsens über die Notwendigkeit der Wahl einer National- versammlung. Die wenigen Stimmen, die für ein reines Rätesystem plädierten, blieben zu diesem Zeitpunkt in einer verschwindend geringen Minderheit. Sowohl die Landeskonferenz der Gothaer USPD am 24.11.191849 als auch die von den

46 Siehe Eberhart Schulz: Gegen Krieg, Monarchie und Militarismus. Der Weg in die Revolutionsstage 1918/19 in Jena, Jena 2008, S. 134. 47 „An die gesamte fortschrittliche Einwohnerschaft zu Händen Herrn Dr. Schomerus. Ihr Gesuch um Aufnahme in den Arbeiter- und Soldatenrat wird abgelehnt. Begründung: Nachdem die Revolution von der Arbeiterschaft in Verbindung mit den Soldaten aus eigener Kraft durchgeführt ist, ist es nicht angängig, dass die Kreise, die dieser gewaltigen geschichtlichen Tat gleichgültig, zum Teil sogar feindlich gegenüberstanden, mindestens zur Erringung des jetzigen Zustandes nichts beigetragen haben, nunmehr in die neugebildete Volksregierung ein- treten. Durch einen Erlaß der sozialdemokratischen Reichsregierung, nach der in absehbarer Zeit die Wahlen zur Nationalversammlung und anderen Vertretungskörperschaften stattfinden, wird es allen Schichten des Volkes möglich sein, sich eine Vertretung in derselben zu sichern. Bis zum jetzigen Zeitpunkt wird der Ar- beiter- und Soldatenrat der Stadt Jena als Provisorium in seiner jetzigen Zusammensetzung bestehen bleiben.“ Jenaer Volksblatt, 17.11.1918, zitiert nach Schulz: Der Weg in die Revolutionsstage, S. 149. 48 Siehe Schulze, Die Novemberrevolution 1918 in Thüringen, S. 107-109. 49 Zum ersten Teil des Referats der Parteileitung, in dem von der Wahl einer Nationalversammlung ausgegangen wurde, gab es keine Diskussion, da sich dem Bericht des „Gothaer Volksblattes“ zufolge „wohl alle Anwe- senden einig“ waren (Gothaer Volksblatt, 26.11.1918).

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Vertretern der USPD im Jenaer Arbeiter- und Soldatenrat eingebrachte Resolution vom 13. Dezember 1918 zeigen dies. Die Jenaer Resolution forderte die Konsti- tuierung der Republik durch eine Nationalversammlung50 und zugleich die Her- stellung einer geschlossenen proletarischen Front auf der Grundlage des Erfurter Programms.51 Bereits Ende November 1918 hatte Emil Vetterlein, ein führender USPD-Funk- tionär in Gera, in einem Aufruf das gemeinsame Antreten der beiden sozialdemo- kratischen Parteien bei den Wahlen zur Nationalversammlung gefordert.52 Sein Aufruf richtete sich ausdrücklich gegen die Positionen des Spartakusbundes, denn die Mehrheit des Proletariats wolle die Wahlen zur Nationalversammlung. Dieser Wille sei eine reale Macht, gegen die auch tiefere Einsichten, historische Erfah- rungen und wissenschaftliche Erkenntnisse nichts ausrichten könnten. Hieran kä- men deshalb auch die weiter links Stehenden nicht vorbei, denn sie könnten die Massen nicht von dem Weg abbringen, den diese selbst gewählt hätten. Erste konkrete Absprachen zur Verwirklichung eines gemeinsamen Wahlan- tritts trafen die thüringischen Delegierten zum Reichsrätekongress im Dezember 1918.53 Am 19. Dezember 1918 beschloss die Bezirkskonferenz der USPD unter den Bedingungen, dass besonders kompromittierte Mitglieder der MSPD nicht aufgestellt und die gemeinsame Liste paritätisch zusammengesetzt sein würde, in konkrete Verhandlungen mit der MSPD einzutreten.54 Der Außerordentliche Be- zirksparteitag der Thüringischen MSPD erklärte kurz darauf ebenfalls seine prin- zipielle Bereitschaft zu Verhandlungen über einen gemeinsamen Wahlantritt, wenngleich er die konkreten Vorschläge der USPD zurückwies und von seiner Seite das Zusammengehen an bestimmte Bedingungen knüpfte.55 Letztlich schei- terten die Bemühungen um einen gemeinsamen Antritt zur Wahl der Nationalver- sammlung.56 Bei den Landtagswahlen in Schwarzburg-Sondershausen und Reuß j.L. gab es jedoch gemeinsame Listen von SPD und USPD.57 Im Frühjahr 1919 be- gannen die Forderungen nach Herstellung der sozialistischen Einheit sich über die Köpfe der Führer hinweg gegen die Politik der MSPD-Führung zu richten, die jetzt als Hauptursache für den Vormarsch der Gegenrevolution gesehen wurde.

50 Siehe Weimarische Volkszeitung, 14.12.1918. Die Resolution ist teilweise enthalten in: Schulz, Der Weg in die Revolutionsstage, S. 156. 51 Siehe Weimarische Volkszeitung, 14.12.1918. 52 Siehe Weimarische Volkszeitung, 14.12.1918. 53 Siehe Pöhland, Die Entwicklung der Arbeiterbewegung, S. 258. 54 Siehe Gothaer Volksbatt, 23.12.1918. 55 Siehe Weimarische Volkszeitung, 28.12.1918. 56 Siehe ebenda, 03.01.1919. 57 Siehe Häupel, Die Gründung des Landes Thüringen, S. 65/66.

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Drittens:

Die lokalen Kräfte der Gegenrevolution erstarkten vor dem Hintergrund der Ge- samtentwicklung in Deutschland im Frühjahr 1919 und infolge des Einmarsches der Noske-Truppen Anfang Februar 1919 in Weimar. Unter dem Eindruck der Berliner Januarkämpfe und der Ermordung Rosa Lu- xemburgs und Karl Liebknechts wurde die Besetzung Weimars von großen Teilen der Thüringer Arbeiterschaft als reine Provokation aufgefasst.58 Hierauf verwies der Thüringer Bezirks-Arbeiter- und Soldatenrat in Erfurt ausdrücklich, als er den sofortigen Rückzug der Noske-Truppen forderte.59 Diese waren mit der Begrün- dung einer drohenden Putschgefahr von Links nach Weimar beordert worden, da 800 bewaffnete Arbeiter aus Gotha und Erfurt versucht hätten, die Nationalver- sammlung gewaltsam auseinander zu treiben.60 August Baudert kann in dieser Angelegenheit als unvoreingenommener Zeuge gelten. Er schrieb in seinen Erinnerungen, dass der Weimarer Soldatenrat den Schutz der Nationalversammlung selbst übernehmen wollte. Dies entsprach auch der Auffassung des Thüringer Bezirks-Arbeiter- und Soldatenrats, der darauf ver- wies, dass die lokalen Räte bisher trotz verschiedener Konflikte stets Ruhe und Ordnung sichergestellt hatten.61 Sehr schnell sahen der Weimarer und die anderen lokalen Räte jedoch, dass bewaffneter Widerstand gegen die Regierungstruppen sinnlos gewesen wäre. Ein kleinerer Trupp linksradikaler Arbeiter sei deshalb ent- waffnet worden. Gleichzeitig wurden die vom Weimarer Soldatenrat gerufenen Verstärkungen aus Gotha noch vor erreichen der Klassikerstadt zurückbeordert. Schon am 26. Januar hätte Baudert zwischen dem Weimarer Soldatenrat und Ge- neral Maercker erfolgreich vermitteln und eine gewisse Beruhigung der Lage er- reichen können.62 Das „Gothaer Volksblatt“ wies am 7. Februar 1919 bürgerliche Pressemeldun- gen über die Gefahr eines von Gotha ausgehenden Putsches gegen die National- versammlung als unsinnig zurück und äußerte die Vermutung, dass mit derartigen Lügen der Einmarsch von Regierungstruppen erreicht werden sollte.63 Dieser erfolgte dann am 17. Februar 1919 tatsächlich. Die Gothaer Arbeiterschaft beant- wortete den Truppeneinmarsch mit einem Generalstreik, den das Bürgertum unter dem Schutz der Noske-Truppen mit einem Bürgerstreik zu kontern versuchte. Es erreichte, dass ab 27. Februar alle lebenswichtigen Betriebe der Stadt die Arbeit

58 Gegen die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts gab es in Thüringen zahlreiche Massenkund- gebungen. Siehe Schulze, Die Novemberrevolution 1918 in Thüringen, S. 165-167. 59 Siehe Gothaer Volksblatt, 01.02.1919. 60 So das häufig unkritisch wiedergegebene Argument aus der zeitgenössischen bürgerlichen Presse u. a. in Mat- thiesen, Bürgertum und Nationalsozialismus, S. 83. 61 Siehe Gothaer Volksblatt, 01.02.1919. 62 Siehe Baudert, Sachsen-Weimars Ende, S. 45/46. 63 Siehe Gothaer Volksblatt, 07.02.1919.

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wieder aufnahmen. Zugleich wirkte sich der Bürgerstreik unmittelbar auf die Landtagswahl aus, bei der die DDP massive Stimmenrückgänge zu verzeichnen hatte, während die bürgerlichen Rechtsparteien DVP und DNVP massiv hinzu- gewannen. Langfristig stärkte der Bürgerstreik die Bereitschaft im Bürgertum, un- ter dem Schutz von Regierungstruppen mit Gewalt gegen die Arbeiter vorzuge- hen.64 Die hier zum Ausdruck kommende Radikalisierung des Bürgertums war je- doch keine kurzfristige Reaktion auf den Radikalismus der Arbeiterbewegung,65 vielmehr richtete sich der bürgerliche Radikalismus insgesamt gegen die Ergeb- nisse der Revolution, die bürgerlich-parlamentarische Demokratie und die junge Republik. Schon die Regierungskrisen in mehreren thüringischen Kleinstaaten in Reak- tion auf die Oktoberreformen 1918 hatten gezeigt, dass sich die monarchistischen, nationalistischen und völkischen Kreise aktiv gegen die von der neuen Reichsre- gierung ausgehenden Parlamentarisierungsbestrebungen zu wenden versuchten.66 Hier wurde eine zweite, oftmals übersehene oder bewusst verschwiegene Konti- nuitätslinie des thüringischen Bürgertums kenntlich, deren Anfänge in die Zeit der Reichsgründung von Oben (1866–1871) zurückreichten.67 Während dieser Zeit veränderte sich das politische Klima in der Region nachhaltig. Sichtbar wurde dies in der Spaltung der Nationalliberalen Partei. Während sich führende Vertre- ter des thüringischen Liberalismus um Eduard Lasker 1880 an der Bildung der Li- beralen Vereinigung maßgeblich beteiligten68, gehörte ein großer Teil seiner bür- gerlichen Basis zu den „Stützen der reaktionären Politik der letzten Kanzlerjahre Bismarcks“69. In der Losung „Das Nationale voran, das Liberale folgt dann“70 kam ein Nationalismus zum Ausdruck, der, als Ausgrenzungsideologie gegenüber in- neren und äußeren Feinden verstanden, zur verbindenden Gedankenwelt des Bürgertums wurde. Vor allem in den milieuübergreifenden bürgerlichen Massen- organisationen bildete er die Grundlage einer Politik, „die auf Parteien und parla- mentarische Mehrheiten nichts gab“71. Dieser im Deutschen Kaiserreich allge- meine Entliberalisierungsprozess wurde in Thüringen durch mehrere Aspekte nachhaltig beeinflusst und verstärkt.

64 Siehe hierzu insgesamt Matthiesen, Bürgertum und Nationalsozialismus, S. 72-80. 65 Dies ist die zentrale These von Matthiesen. 66 Siehe Schulze, Die Novemberrevolution 1918 in Thüringen, S. 44/45. „Die neueste innenpolitische Entwick- lung erfüllt alle monarchistischen Herzen mit ernster Sorge. Fest und sicher ruhte bisher das Deutsche Reich auf der Dreiteilung der Gewalten zwischen Kaiser, Bundesfürsten und Reichstag. Fällt durch die beabsichtigte Parlamentarisierung ein Großteil der Kaisermacht dem Reichstag zu, so muss dessen Übergewicht die Für- stengewalt zermalen. (...) Der auf fremden Boden erwachsene und für uns schädliche Parlamentarismus, dem der Fürst nicht wie uns der Vorderste des Volkes, sondern eine in Schach zu haltende Partei ist, würde über die reiche Entwicklung deutscher Geschichte zerstörend hinweg schreiten und müsste die Verkümmerung deut- scher Art zur Folge haben.“ Zitiert nach Baudert, Sachsen-Weimars Ende, S. 4. 67 Siehe Rudolph, Untergang auf Raten, S. 19. 68 Siehe Hess, Geschichte Thüringens, S. 159. 69 Ebenda, S. 161. 70 Ebenda, S. 166. 71 Matthiesen, Bürgertum und Nationalsozialismus, S. 32.

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Das thüringische Mittel- und Kleinbürgertum war aufgrund der spezifischen In- dustriestruktur zahlenmäßig sehr stark, wegen seiner Exportabhängigkeit von Weltmarktkrisen oft sehr hart betroffen und durch die geringe Urbanisierung von einem starken ländlichen konservativen Milieu umgeben. Zudem war es politisch nicht repräsentiert. Die republikanisch gesinnte kleinbürgerliche Volkspartei war zum Teil in der Sozialdemokratie aufgegangen. Deshalb gab es hier, anders als in den süddeutschen Staaten, „keine demokratisch-republikanische Partei des Klein- bürgertums und der Kleinbauern mehr zwischen liberalem Bürgertum und Arbei- terpartei“.72 Aus diesen Gründen konnte der Bund der Landwirte (BdL), eine straff organi- sierte, aggressiv gegen Sozialdemokratie und Liberalismus ausgerichtete agrari- sche Kampforganisation73, bis in das städtische Klein- und Mittelbürgertum74 vor- dringen. Der BdL hatte der „politischen Reaktion und geistigen Rückständigkeit im thüringischen Dorf seit dem Ende des 19. Jh.“75 eine breite Massenbasis ver- schafft und die Grundlage für die starke Verankerung des Antisemitismus in der ländlichen Bevölkerung gelegt. Die Übergänge zwischen agrarischem Konserva- tismus und völkischem Radikalismus waren dabei fließend, und die tatsächliche Bedeutung des Begriffes „völkisch“ in der bäuerlichen Vorstellungswelt ist nur schwer verifizierbar.76 Nach der Jahrhundertwende bauten antisemitische und völkische Gruppie- rungen ihren Einfluss in Thüringen vor allem auf Kosten der Liberalen aus.77 Bei der Reichstagswahl 1907 eroberte die antisemitische Deutsch-soziale Partei78, in Thüringen hauptsächlich eine Hilfstruppe des BdL79, drei Wahlkreise. Sie gehörte dabei zu der in Reaktion auf den großen Reichstagswahlerfolg der SPD von 1903 formierten antisozialistischen Gegenfront, die gerade wegen des großen Erfolges der SPD bei der darauf folgenden Wahl 191280 den Gedanken an die Wiederauf- lage der antisozialistischen Bewegung des Bürgerblocks gegen die „rote Gefahr“ wach hielt81. Vor diesem Hintergrund wirkte die Novemberrevolution nur kurzzeitig paraly- sierend auf große Teile des thüringischen Bürgertums. Sichtbar wird dies an einer Bemerkung der bürgerlichen Jenaischen Zeitung vom 12.11.1918, in der sie an-

72 Hess, Geschichte Thüringens,S. 147. 73 Siehe Dieter Fricke/Edgar Hartwig: Bund der Landwirte (BdL) 1893-1920, in: Dieter Fricke (Hrsg.): Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789- 1945), Bd. 1, Leipzig 1984, S. 241-270. 74 Siehe Hess, Geschichte Thüringens, S. 380. 75 Ebenda, S. 129/130. 76 Siehe Guido Dressel: Der Thüringer Landbund, Erfurt 1998, S. 41. 77 Siehe Hess, Geschichte Thüringens, S. 384/385. 78 Siehe Dieter Fricke: Deutsch-Soziale Partei (DSP) 1900-1914, Bd. 2, Leipzig 1984, in: Fricke (Hrsg.): Lexikon zur Parteiengeschichte. Bd. 2, S. 534-537. 79 Siehe Hess, Geschichte Thüringens, S. 384. 80 Sie errang 10 Mandate und erreichte knapp 50% der Stimmen. Siehe Hess, Geschichte Thüringens, S. 406/407. 81 Siehe Rudolph, Untergang auf Raten, S. 21.

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gesichts der sich aus ihrer Sicht überstürzenden Ereignisse diese lediglich zusam- menfassen könnte, sich aber jeden Kommentars enthalten wollte. Doch schon we- nige Tage später begann das Blatt mit massiver Kritik an den Entscheidungen der Räte. Aus dieser zweiten Kontinuitätslinie erklärt sich die Abwendung großer Teile des thüringischen Bürgertums von der DDP im Verlauf des Jahres 1919. Trotz friedlichen Verlaufs der Revolution und trotz der insbesondere vom Bürgertum geforderten Wahlen zu einer Nationalversammlung sowie den einzelstaatlichen Landtagen traten dessen antiparlamentarische Tendenzen sehr schnell wieder her- vor. In Sachsen-Meinigen, wo die Revolution sofort in bürgerlich-parlamentari- schen Bahnen verlief, waren die Abgeordneten der monarchistisch ausgerichteten Bauern- und Bürgervereinigung nicht bereit, die Regeln des Parlamentarismus zu akzeptieren. Sie beharrten auf einer Beteiligung an der Regierung, was die Mehr- heit aus SPD, USPD und DDP ablehnte, worauf sich die Rechtspolitiker „in eine Art Fundamentalopposition“82 flüchteten und sich an der parlamentarischen Arbeit faktisch nicht mehr beteiligten.

Viertens:

Als Reaktion auf die innenpolitische Gesamtentwicklung im Frühjahr 1919, vor allem aber infolge der Unmittelbaren militärischen Angriffe der Gegenrevolution radikalisierten sich Teile der thüringischen Arbeiterbewegung. Radikalisierung meint in diesem Zusammenhang keine Hinwendung zum reinen Rätesystem, zum „Bolschewismus“ bzw. zur KPD. Vielmehr gewann bei vielen Arbeitern im Angesicht der Regierungstruppen zunehmend die Einsicht Raum, dass sich die Gegenrevolution auf dem Vormarsch befand. Hieraus wurde geschlussfolgert, dass dieser Entwicklung mit Aktionen über die Parteigrenzen hinweg entschlos- sen entgegengetreten werden müsse. Dabei entwickelten die Arbeiter einen kom- promisslosen Antimilitarismus, der u. a. in den von einigen sozialdemokratischen Landesregierungen ausgesprochenen Werbeverboten für die Freikorps83 zum Aus- druck kam. Erfolgreich war dieser Radikalismus in den konkreten Abwehraktionen des Frühjahrs 1919, in denen sowohl die Gothaer84 als auch die Jenaer Arbeiterschaft jeweils den Abzug der Noske-Truppen erzwang bzw. die Belegung von Städten mit Regierungstruppen verhinderte.

82 Norbert Moczarski: Der letzte Landtag von Sachsen-Meinigen und die ihm nachfolgende Gebietsvertretung in den Jahren 1919-1923, in: Die vergessenen Parlamente, S. 102. 83 So zum Beispiel in Sachsen-Weimar. Siehe hierzu Schulze, Die Novemberrevolution 1918 in Thüringen, S. 165. 84 „Der Arbeiterrat [in Gotha] konnte trotz Maerkers Aktion seine Macht behaupten - darin unterschied sich die- ser Fall von allen anderen Besetzungen radikaler Städte.“ (Eberhard Kolb: Arbeiterräte in der Novemberre- volution, S. 291.)

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Am 25. April 1919 beantwortete die Jenaer Arbeiterschaft den Einmarsch von Regierungstruppen mit einem Generalstreik. SPD, USPD und KPD bildeten einen paritätisch zusammengesetzten Aktionsausschuss und einigten sich auf ein Ak- tionsprogramm, in dem die Diktatur des Proletariats und die Entfernung der ge- genwärtigen Regierung gefordert wurden.85 Die Bezirkskonferenz der Arbeiterräte Thüringens schloss sich dem Jenaer Aktionsprogramm vorbehaltlos an.86 Für des- sen Forderungen traten am 1. Mai 1919 sowohl in Jena als auch in Gera tausende Arbeiterinnen und Arbeiter auf den bis dahin größten Maikundgebungen ein. An- fang Juni 1919 beschlossen die Arbeiterräte in Thüringen aus Protest gegen die Ermordung des Führers der Münchener Räterepublik Eugen Levine einen eintägi- gen politischen Generalstreik. An diesem beteiligten sich in vielen thüringischen Städten tausende Arbeiterinnen und Arbeiter. Im Zusammenhang mit dieser Ak- tion wurde auch hier die Bildung einer neuen sozialistischen Regierung gefordert, aus der alle Personen ausgeschlossen bleiben sollten, die durch ihre Handlungen den Boden der Revolution verlassen hatten.87 Wie wenig die Radikalisierung von Teilen der thüringischen Arbeiterbewegung mit einer Hinwendung zum reinen Rätesystem gleichzusetzen ist, zeigt die Ent- scheidung der Landeskonferenz der USPD in Gotha Ende April 1919, bei den Be- ratungen über die Landesverfassung auf die Einführung eines reinen Rätesystems zu verzichten.88 Obwohl die Gothaer USPD bereits Ende Januar 1919 ihre Dele- gierten zum bevorstehenden Parteitag beauftragt hatte, sich für ein solches Räte- system auszusprechen und obwohl sie bei der Landtagswahl vom 23. Februar 1919 eine absolute Mehrheit errungen hatte, lehnte die Landeskonferenz einen diesbezüglichen Antrag ab. Diese Ablehnung war wesentlich von der Einsicht mo- tiviert, dass sich die staatsrechtlichen Verhältnisse im Land Gotha nicht unabhän- gig vom Charakter der Weimarer Verfassung entwickeln könnten.89 In dieser Rich- tung hatte auch die vom Arbeiterrat eingesetzte Verfassungskommission argumentiert, die einerseits die Entgegensetzung von Demokratie und Rätesystem ablehnte, da aus ihrer Sicht mit dem reinen Rätesystem das demokratische Mehr- heitsprinzip zum Ausdruck kam. Andererseits hielt sie die Verwirklichung des Rä- tesystems als neue Staatsform nur international für möglich und realistisch.90 Der von ihr vorgelegte Verfassungsentwurf stellte den Versuch dar, parlamentarische und rätedemokratische Elemente miteinander zu verbinden.

85 Der Wortlaut des Aktionsprogramms und der Ereignishergang in: Schulz, Gegen Krieg, S. 176-180, sowie In- stitut für Marxismus-Leninismus (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbei- terbewegung, Reihe II, Bd. 3, Berlin 1958, S. 411. 86 „Die am 8. Mai in Erfurt tagende Konferenz der Arbeiterräte Thüringens schließt sich der von Jena und Gera ausgehenden Protest- und Generalstreiksbewegung gegen die Belegung thüringischer Städte mit Reichswehr- truppen irgendwelcher Formation an. Die Belegung thüringischer Städte mit diesen Truppen ist geeignet, die ruhige Weiterentwicklung der Revolution zu gefährden, der immer mehr um sich greifenden Gegenrevolution Vorschub zu leisten und somit die Gefahr eines Bürgerkrieges heraufzubeschwören.“ Resolution der Bezirks- konferenz der Arbeiterräte Thüringens vom 8.5.1919, zitiert nach Pöhland, Die Entwicklung der Arbeiterbe- wegung, S. 278. 87 Siehe ebenda, S. 281/282.

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Als höchste Gewalt sollte der Landesarbeiter- und Bauernrat mit einem drei- köpfigen Rat der Volksbeauftragten als Landesregierung fungieren. Der Rat der Volksbeauftragten sollte durch die Landesversammlung bestätigt werden. Konn- ten sich Landesversammlung und Arbeiter- und Bauernrat nicht einigen, sollte die Landesversammlung neu gewählt werden. Wahlberechtigt für den Arbeiter- und Bauernrat sollten alle Personen sein, die gesellschaftlich notwendige Arbeit lei- steten, deren Einkommen max. 8.000 Mark im Jahr betrug und die nicht aus- schließlich oder überwiegend von Kapitalerträgen lebten. Weiterhin durften sie dauerhaft nicht mehr als einen nicht zur Familie gehörenden Lohnarbeiter be- schäftigten. Die Landesversammlung sollte aus allgemeinen, unmittelbaren, glei- chen und geheimen Wahlen hervorgehen. Gesetze sollten die Landesregierung, der Landesarbeiter- und Bauernrat und Wahlberechtigte ab 5.000 Unterschriften initiieren dürfen. Die Gesetzgebung selbst war der Landesversammlung vorbehal- ten, wobei die von ihr verabschiedeten Gesetze der Zustimmung durch den Ar- beiter- und Bauernrat bedurft hätten. Versagte der Rat die Zustimmung, war auto- matisch ein Volksreferendum vorgesehen.91 Über die Landesverfassung brachen die seit langem schwelenden Konflikte in- nerhalb der Gothaer USPD vollständig auf. Vor die Entscheidung gestellt, den mit der Weimarer Verfassung nicht zu vereinbarenden Verfassungsentwurf zu ver- abschieden und damit einen gewaltsamen Konflikt mit der Reichsregierung zu riskieren oder aber die Gegebenheiten zu akzeptieren, wurde Ende 1919 ein von Hermann Brill erarbeitetes Gesetz über die vorläufige Regierungsgewalt ange- nommen.92 Obwohl er wesentlichen Anteil daran hatte, dass die USPD-Landtags- fraktion letztlich einem Gesetzentwurf zustimmte, in dem die Räte als Institution nicht mehr vorkamen, beschäftige Brill der Rätegedanke weiterhin. Nach seiner Befreiung/Selbstbefreiung aus dem Konzentrationslager Buchenwald im April 1945 knüpfte er an ihn wieder an, als er in dem von ihm initiierten Manifest de- mokratischer Sozialisten des Konzentrationslagers Buchenwald die Bildung von Antifaschistischen Volkssausschüssen forderte. Sie sollten die Grundlage eines neuen Typs der Demokratie bilden, der sich nicht im leeren und formelhaften Par- lamentarismus erschöpft, sondern den breiten Massen eine effektive Betätigung in Politik und Verwaltung ermöglichen würde.93 Die sozialen Forderungen des Ma- nifests finden sich zum Teil heute noch in der hessischen Landesverfassung wie-

88 Siehe Buchsbaum, Die Linksentwicklung, S. 182. 89 Siehe ebenda, S. 183. 90 Siehe Gothaer Volksblatt, 24.04.1919. 91 Siehe Häupel, Die Gründung des Landes Thüringen, S. 77/78. (Der Text des Verfassungsentwurfes war abge- druckt im Gothaer Volksblatt vom 24.4.1919.) 92 Siehe ebenda, S. 78. 93 Brill hatte im Januar 1919 einen Antrag an die Landeskonferenz der Gothaer USPD formuliert, der die Partei auf das reine Rätesystem festlegte. Seine Initiative erklärt sich aus der Enttäuschung über den Ausgang der Wahl zur Nationalversammlung: Diese repräsentiere in ihrer Zusammensetzung nicht wirklich die Gesell- schaft. Deshalb müsse die Regierung aus den Arbeiterräten hervorgehen, die ihrerseits aus den Arbeiteraus- schüssen gebildet werden sollten. Siehe Gothaer Volksblatt, 28.1.1919.

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der, an der Brill nach 1945 als Leiter der hessischen Staatskanzlei ebenso mit- wirkte wie am Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.94 Brill steht stellvertretend für eine ganze Generation sozialdemokratischer Poli- tikerinnen und Politiker in Thüringen, die ihre Ideen von einer demokratischen und sozial gerechten Gesellschaft mit einem sozialistischen Gestaltungsanspruch verbanden. Zwar ließ die lange parlamentarische Tradition der regionalen Sozial- demokratie keinen Raum für ein reines Rätesystems, doch zugleich entwickelte hier die sozialistische Arbeiterbewegung Ansätze zu einem linksrepublikanischen Reformprojekt auf Grundlage der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie, das von Beginn an auf den Widerstand eines nationalistischen und antirepublikani- schen Bürgertums traf.

94 Für diesen Hinweis und zum Gesamtkomplex des Gothaer Verfassungsentwurfes danke ich Michael Kellner, der mir freundlicher Weise sein Manuskript für eine Tagung der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen e.V. vom April 2007 aus Anlass des 90. Jahrestages der Gründung der USPD überlassen hat. Siehe hierzu auch Ma- rio Hesselbarth: „Von einer Parteidisziplin in die nächste?“ Tagung in Gotha anlässlich der Gründung der USPD in: JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, H. III/2007, S. 139-142.

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SILVIO REISINGER Die Revolution 1918/19 in Leipzig

1. November- und Dezembertage 1918 – ein ereignisgeschichtlicher Abriss1

Im Alltag Leipzigs deutete in den ersten Novembertagen zunächst wenig auf eine bevorstehende Revolution hin. Selbst viele Mitglieder der „radikalen“ USPD2 ver- harrten noch im Oktober beinahe regungslos in einer Abwartehaltung. Dies wi- dersprach in merkwürdiger Weise den Befürchtungen amtlicher Stellen. Zu einer Zeit – am 30. Oktober –, als der Leipziger Kreishauptmann für die nächsten Tage vor Aufständen warnte und für die Amtshauptmannschaften Schutz durch „zuver- lässige Militärpersonen“ anforderte3 und in der „Leipziger Volkszeitung“, dem Or- gan der USPD, darüber berichtet wurde, dass das XIX. Armeekorps für den Fall innerer Unruhen Schusswaffeneinsatz angeordnet hatte, fiel es den führenden Funktionären der Leipziger Partei außerordentlich schwer, auch nur etwas ähnli- ches wie Begreifen der – ihrer Ansicht nach – „vorrevolutionären Lage“ bei ihren Anhängern zu befördern. „Es war eine merkwürdige Lage. Es war ganz offen- sichtlich eine vorrevolutionäre Situation – aber die Leute, die sie zu einer revolu- tionären verwandeln sollten, mussten mühevoll zum Verständnis der Situation ge- bracht werden, während die Staatsgewalt selbst es begriffen hatte und deutlich zu resignieren begann.“4 Jedenfalls geht aus den Quellen hervor, dass von einer Be- wegung „breiter Volksmassen“5 in Leipzig bis zur Auslösung der Revolution durch revoltierende Soldaten kaum die Rede sein konnte. Immerhin sollen bereits

1 Auf eine Darstellung der Vorgeschichte der Revolution in Leipzig muss hier verzichtet werden. Verwiesen sei nur auf einige prägende neuere Forschungsarbeiten. Grundlegend für die Sozialdemokratie in Sachsen – Karsten Rudolph: Die sächsische Sozialdemokratie vom Kaiserreich zur Republik (1871-1923), Weimar/ Köln/Wien 1995. Eher sozialgeschichtlich und speziell auf die Leipziger Entwicklung ausgerichtet - Michael Rudloff/Thomas Adam: Leipzig. Wiege der deutschen Sozialdemokratie, Berlin 1996. Jüngst erschien die aus- gezeichnete Dissertation von Jesko Vogel: Der sozialdemokratische Parteibezirk Leipzig in der Weimarer Re- publik. Sachsens demokratische Tradition, Hamburg 2006. 2 Die Leipziger Sozialdemokratie galt schon seit den Wahlrechtskämpfen der neunziger Jahre des 19. Jahrhun- derts als radikaler im Vergleich zur sächsischen Partei im allgemeinen. Damals hatte sie wegen Benachteili- gungen im neuen Landeswahlgesetz die Beteiligung an Wahlen grundsätzlich abgelehnt und damit einen lang anhaltenden Streit gegen den eigenen Parteivorstand heraufbeschworen, der erst auf einem Reichsparteitag der SPD gegen die Leipziger Richtung entschieden wurde. 3 Sächsisches Staatsarchiv Leipzig (SStAL), Amtshauptmannschaft Leipzig, Nr. 45, Bl.1. 4 Curt Geyer: Die revolutionäre Illusion. Zur Geschichte des linken Flügels der USPD. Erinnerungen, Stuttgart 1976, S. 68. Curt Geyer, Mitglied der SPD seit 1911, 1917 wegen Ablehnung des Burgfriedens Übertritt zur USPD, seitdem auch Redakteur der „Leipziger Volkszeitung“ (LVZ). In der Revolution Mitglied und ab Fe- bruar 1919 Vorsitzender des Leipziger Arbeiter- und Soldatenrates. 5 So etwa Gerhard Puchta: Der Arbeiter- und Soldatenrat in Leipzig vom November bis vor dem 2. Rätekon- greß Anfang April 1919, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Leipzig (WZUL)VII, 1957/58, S. 363-384, hier: S. 363.

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im September 1918 in einigen Betrieben Vorläufer von Arbeiterräten, sogenannte Arbeiterausschüsse, gebildet worden sein. Dennoch bedurfte es eines auslösenden Anlasses von außen, und diesen Anlass stellte der Kieler Matrosenaufstand dar. Am 4. November bildete die Erhebung der Matrosen den Auftakt zur Revolution. Die LVZ versuchte am 6. November mit der Überschrift „Die Revolution mar- schiert!“ den revolutionären Geist zu erwecken. Offenbar war in USPD-Führungs- kreisen auch der Plan eines Aufstandes erörtert worden, der allem Anschein nach jedoch verworfen wurde. Danach sollte „Richard Lipinski6 ... Garnisonstruppen, die in Leipzig-Connewitz in einem Versammlungslokal untergebracht waren, auf- fordern, sich hinter uns zu stellen. Die Mehrheit dieser Truppen bestand aus unse- ren Parteimitgliedern. Mein Vater [Friedrich Geyer7] sollte den Oberbürgermeister und die Stadtverwaltung unter Kontrolle stellen. Hermann Liebmann mit 25 Mann, bewaffnet mit Pistolen, das Generalkommando überfallen und absetzen, und ich [Curt Geyer] sollte mit ebenfalls 25 Mann und gleicher Bewaffnung das Hauptpostgebäude, Telegraph und Telefon besetzen, alle Verbindungen sperren und nur kontrollierte Mitteilungen durchlassen...“.8 Die Revolution hatte Sachsen bereits am 6. November erreicht. Während im Landtag noch über die Gehälter von Volksschullehrern debattiert wurde, hatte sich in einer Großenhainer Kaserne der erste Soldatenrat auf sächsischem Boden ge- bildet, welcher die Offiziere verhaftete und einen Tag darauf die Übernahme der Macht bekannt gab.9 Die Leipziger Region wurde von den revolutionären Ge- schehnissen einen Tag später mit der Bildung eines Arbeiter- und Soldatenrates in Wurzen erfasst, welcher sofort die Stadtverordnetenversammlung auflöste. Am 6. November befürchtete die Amtshauptmannschaft Leipzig Unruhen und forderte vom XIX. Armeekorps militärischen Schutz für besonders wichtige Einrichtun- gen, so das Landkraftwerk Kulkwitz, das Elektrizitätswerk Oetzsch und verschie- dene Großmühlen sowie Rathäuser und Sprengstofflager. Für Kulkwitz wurde das Anlegen elektrischer Drahtsperren und das Entsenden von 30-50 zuverlässigen Soldaten erwogen.10 Bezeichnend war die Reaktion der angeblich Schutzbedürfti- gen: Als man in Kulkwitz von den ins Auge gefassten Maßnahmen erfuhr, bat man die Amtshauptmannschaft dringend, „... von der Absicht, ein Wachtkommando nach Kulkwitz zu verlegen, Abstand zu nehmen“, da man dadurch eine unnötige Provokation der eigenen Belegschaft befürchtete.11 Die LVZ berichtete am 7. No- vember über die Sicherung des Leipziger Rathauses durch schwere Maschinenge- wehre, auch in der Beethovenstraße errichtete man Sperren und Feuernester.

6 , der mit kurzer Unterbrechung seit 1908 das Amt des Bezirksvorsitzenden 25 Jahre hin- tereinander innehatte, war der unumstrittene Führer der Leipziger USPD, eine markante Erscheinung, begab- ter Redner und glänzender Organisator zugleich. 7 Friedrich Geyer, Mitglied der Sozialdemokratie seit 1871, 1890-1918 MdR für die SPD, 1917 Übertritt zur USPD. 8 Curt Geyer, Die revolutionäre Illusion, S. 72. 9 Siehe Rudolph/Adam, Die sächsische Sozialdemokratie, S. 169. 10 Siehe SStAL, Amtshauptmannschaft Leipzig, Nr. 45, Bl.3f. 11 Ebenda, Bl.16.

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Schließlich erreichte die Revolution am 8. November Leipzig. Gegen Mittag kamen am Hauptbahnhof mehr als hundert Soldaten, vor allem Fronturlauber, zusammen und beschlossen, nicht mehr zu ihren Einheiten zurückzukehren. Es formierte sich ein Zug von zunächst etwa 200 demonstrierenden Soldaten, die im- mer mehr Zulauf erhielten, zum Volkshaus. Von dem Geschehen überrascht – die USPD hatte erst für den 10. November zu großen Kundgebungen aufgerufen –, hielt Richard Lipinski eine Ansprache an die Soldaten, die daraufhin zur Wahl ei- nes Soldatenrates übergingen.12 Die Ereignisse sprachen sich schnell herum, denn fast zeitgleich kam es in mehreren Kasernen Leipzigs zu spontanen Erhebungen, in deren Verlauf die Offiziere entwaffnet und ihrer Kommandogewalt enthoben wurden. Widerstand wurde kaum geleistet, das Generalkommando des XIX. Ar- meekorps übergab ohne Verzögerung die Kommandantur und alle wichtigen mi- litärischen Einrichtungen an den Soldatenrat. Nur einige wenige Militärs wurden wegen Widersetzlichkeiten vorübergehend in Haft genommen. Aus allen Teilen der Stadt zogen daraufhin revolutionäre Soldaten in Richtung Innenstadt. Der Gendarmerie-Inspektor von Connewitz meldete an seine Direk- tion in Dresden: „Am 8. November gegen 2 Uhr bewegte sich ein Zug Soldaten (400-500 Mann), mit einer roten Fahne an der Spitze, durch die Südstraße nach Connewitz. Eine Stunde später marschierte der inzwischen durch die Connewitzer Massenquartiere auf etwa 800 Mann verstärkte Trupp mit Gewehren zurück ins Innere der Stadt. Außerdem waren 9 Straßenbahnwagen mit revolutionierenden (sic!) Soldaten gefüllt, die ebenfalls nach dem Stadtinneren fuhren. ... Im Volks- haus hat sich ein Soldatenrat gebildet, der unter Leitung der unabhängigen Sozi- aldemokraten Geyer und Lepinsky (sic!) arbeitet.“13 Am Abend des 8. November hielten die Soldaten im Hauptbahnhof eine große Versammlung ab. Die USPD Leipzigs fand nach der ersten Überraschung rasch zu sich. Noch am 8. November wurde aus Funktionären der Partei ein provisorischer Arbeiterrat ge- bildet, an dessen Spitze Lipinski und Friedrich Geyer traten. Curt Geyer erinner- te sich: „Die Funktionärsversammlung unserer Partei trat in einem der kleinen, schlecht beleuchteten Versammlungsräume des Volkshauses zusammen. ... Die Versammlung erklärte sich durch einstimmige Abstimmung zum provisorischen Leipziger Arbeiterrat ... Dann wurden nach den Vorschlägen der Parteileitung, die sich rasch unter sich verständigte, die Kommissare für die Überwachung und Kontrolle aller städtischen und aller Landesbehörden in Leipzig ... gewählt.“14 Am Abend vereinigte sich der Arbeiter- mit dem Soldatenrat zum provisorischen Ar- beiter- und Soldatenrat mit Lipinski sowie – von Soldatenseite – dem etwa dreißi- gjährigen Erich Geschwandtner, einer nach verschiedenen Berichten schillernden Persönlichkeit, an der Spitze.15

12 Siehe Horst Beutel: Die Novemberrevolution in Leipzig und die Politik der Leipziger USPD-Führung bis zum 12.5.1919, in: WZUL VII, 1957/58, S. 385-411. 13 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (SHStAD), Akten des Ministeriums des Inneren, Nr. 11090, Bl.10. 14 Curt Geyer, Die revolutionäre Illusion, S. 74.

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Die Bilanz des ersten Tages der Revolution in Leipzig war: Die militärischen Behörden kapitulierten so schnell und widerstandslos, dass man für Leipzig von einer „geräuschlosen“ Revolution gesprochen hat.16 Die LVZ stellte zu diesem Sachverhalt am 9. November fest: „Schneller als sich die Gewalthaber von gestern dachten, ist der große Zusammenbruch ihrer Herrlichkeit gekommen. ... Das war ein schnelles Volksgericht. Tausende hurtiger Soldaten griffen entschlossen zu, und unter ihren Händen zerbrach die ganze Herrlichkeit des Militarismus wie morscher Zunder.“ Anders dagegen die Sicht des liberalen „Leipziger Tageblatts“. Dieses schrieb am gleichen Tag: „Im Publikum war man im allgemeinen über die Vorgänge überrascht und vermochte sie schwer zu begreifen. Von allen Seiten hörte man die Worte: ‚Wozu das jetzt, wo der Frieden unmittelbar vor der Tür steht?’“ Die ersten Maßnahmen des Arbeiter- und Soldatenrates waren die Auflösung der politischen Polizei und die Einsetzung des USPD-Stadtverordneten Johann Scheib als neuen Polizeidirektor. Die Polizei wurde vorläufig entwaffnet und eine eigene Sicherheitswehr gebildet, das Generalkommando der Befehlsgewalt des Soldatenrates unterstellt. Bemerkenswert war die Zusicherung der Pressefreiheit. Als am selben Abend Soldaten vorübergehend den Verlag der „Leipziger Neue- sten Nachrichten“ (LNN) besetzt hatten, wurde dies vom Rat ausdrücklich nicht gebilligt, und schon am nächsten Tag konnte die Zeitung wieder erscheinen. Für den 9. bis 11. November wurde der Generalstreik proklamiert.17 Am 10. November wurden die 33 Mitglieder eines „Engeren Ausschusses“ gewählt, dar- unter ausnahmslos die USPD-Funktionäre Friedrich Geyer, Curt Geyer, Karl Rys- sel18 und Hermann Liebmann19. Eine Beteiligung der MSPD und der Mitglieder des Gewerkschaftskartells hatte man abgelehnt. Der Aufruf zum Generalstreik wurde am 9. November vor allem in den Groß- betrieben geschlossen befolgt. In den überall stattfindenden Betriebsversammlun- gen wurden Arbeiterräte gebildet, welche als Vertretung der Arbeiterinteressen ge- genüber den Unternehmern und zugleich als Kontrollinstanz für die Durchführung zentraler Anweisungen gedacht waren. Für den 10. November hatte die USPD, wie bereits erwähnt, schon vor Ausbruch der Revolution zu Massenkundgebungen aufgerufen. In zwölf Veranstaltungssälen der Stadt fanden an diesem Tag über- füllte Versammlungen statt, die den Charakter von Siegesfeiern annahmen. Nach deren Abschluss strömten die Teilnehmer in langen Zügen ins Stadtinnere, wo auf dem Augustusplatz eine große Kundgebung stattfand, der eine schwer zu schät-

15 Geschwandtner wurde am 21. November in einer etwas undurchsichtigen Angelegenheit wegen angeblichen „Geheimnisverrats“ vorläufig verhaftet und seines Postens enthoben. Sein Nachfolger wurde mit Schöning ein Vertrauensmann der USPD. Siehe Stadtarchiv Leipzig (StadtAL), Kapitelakten 1, Nr. 90, Bl.19. 16 So eine Kapitelüberschrift bei Rudloff/Adam, Wiege der deutschen Sozialdemokratie. 17 Siehe Puchta, Der Arbeiter- und Soldatenrat, S. 364. 18 Karl Ryssel, seit 1914 MdR, war bereits vor dem Krieg Parteisekretär der SPD in Leipzig gewesen. 1917 trat er der USPD bei. 19 Hermann Liebmann, SPD-Mitglied seit 1905, war seit 1913 Redakteur der Leipziger Volkszeitung. 1917 Bei- tritt zur USPD.

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zende Zahl von Teilnehmern beiwohnte; die Angaben in den Leipziger Tageszei- tungen bewegten sich zwischen 40.000 und 100.000. Die USPD-Führer Ryssel, Lipinski, Friedrich Geyer und Seger20 wandten sich mit Ansprachen an die Menge. Seger rief zur Aufrechterhaltung der Disziplin auf, führte Beweise für die deutsche Kriegsschuld an und gab der illusorischen Überzeugung Ausdruck, dass auch in England und Frankreich Matrosenaufstände stattfänden und damit die Weltrevo- lution im Gange sei.21 Nach übereinstimmenden Meldungen herrschte auf der Kundgebung eine friedliche Atmosphäre, Ausschreitungen wurden nicht gemel- det. Am 9. November war Friedrich Seger zum provisorischen Volkskommissar der Stadt Leipzig ernannt worden. In einem Aufruf, welcher an diesem Tag in allen Leipziger Zeitungen abgedruckt werden musste und Passagen der Rede Lipinskis vom Vortag wiedergab, hieß es: „Die Ereignisse haben sich überstürzt. ... Die nächste Aufgabe des Arbeiter- und Soldatenrates wird sein, die Ordnung und Ruhe in der Stadt und der Umgebung und die Ernährung für die Bevölkerung mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten. ... Das Ziel der Bewegung ist die sozialistische Repu- blik.“ Die kommunalen und Regierungsbehörden wurden angewiesen, dass, vorbe- haltlich einer Neuregelung, alle Beamten zunächst weiterarbeiten sollten und le- diglich durch Abgesandte des Rates überwacht wurden. In einer Anweisung des noch amtierenden letzten königlichen Innenministers Koch vom 11. November an alle Dienststellen hieß es: „Im Einverständnis mit dem Gesamtministerium richte ich an alle Beamten und Angestellten im Bereich des Ministeriums des Inneren die dringende Aufforderung, auf ihren Posten auszuharren und ihre Pflicht wie bisher zu erfüllen. ... Mehr als je muss in diesen schweren Tagen das Wort gelten: Über alles das Vaterland!“22 Sowohl die Kreishauptmannschaft Leipzig als auch der Amtshauptmann von Finck führten daraufhin die Geschäfte weiter. Am 15. November wurde allerdings im Mitteilungsblatt des Arbeiter- und Soldatenrates verkündet: „Der engere Aus- schuss des Arbeiter- und Soldatenrates Leipzig beschließt: Das bisherige Drei- klassen-Stadtverordnetenkollegium nicht mehr als bestehend zu betrachten und den Rat der Stadt Leipzig solange die Geschäfte weiterführen zu lassen, bis der Arbeiter- und Soldatenrat zu Leipzig und die sächsische Regierung in verfas- sungsrechtlicher Hinsicht andere Beschlüsse gefasst haben.“23 Der Oberbürgermeister Dr. Rothe stellte dem Arbeiter- und Soldatenrat vorläu- fig eine Tagungsmöglichkeit im Rathaus zur Verfügung. Im Dezember bezog der Rat dann sein neues Domizil in der Harkortstraße. Auch finanziell kam Dr. Rothe

20 Friedrich Seger, seit 1883 in der SPD, war seit 1901 Redakteur der LVZ. 1917 Übertritt zur USPD. 21 Siehe StadtAL, Kapitelakten 1, Nr. 90, Bl.8f. 22 SStAL, Amtshauptmannschaft Leipzig, Nr. 45, Bl.45. 23 StadtAL, Kapitelakten 70, Nr. 165, Beiheft 2, Blatt 10 (= Mitteilungsblatt des Arbeiter- und Soldatenrates Leipzig, Teil A (Stadt Leipzig), Nr. 1).

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zumindest bis Februar 1919 den Forderungen des Rates willig nach. Bis dahin wurden insgesamt 140.000 Mark an städtischen Geldern für dessen Aufwendun- gen bewilligt.24 Ansonsten blieb Rothe in seiner Arbeit zwar ziemlich unbehindert, hatte aber mit der Polizeigewalt doch das alles entscheidende Machtmittel abgeben müssen. Im Laufe der darauffolgenden Wochen witterte der ausgewiesene Fachmann al- lerdings wieder Morgenluft und versuchte, seinen Spielraum auszuweiten, da ihm nicht verborgen bleiben konnte, dass die Mitglieder des Arbeiter- und Soldatenra- tes in verwaltungstechnischen Fragen mangelnde Kenntnisse hatten. Am 31. De- zember beschloss der Arbeiter- und Soldatenrat, seine Mitglieder Alfred Dietze und Johann Kolb zur Kontrolle der Tätigkeit des OB zu entsenden. Sie sollten an allen Tagungen teilnehmen und sämtliche ausgehenden Verfügungen einsehen. Nach geharnischten Protesten Rothes einigte man sich schließlich auf einen Ver- zicht der Kontrolle gegen Zusicherung regelmäßiger Informationen seitens des OB über alle Ratsbelange. In der Rückschau ist die Weiterführung der Ratsgeschäfte unter Ausschaltung der Stadtverordneten verschiedentlich bedauert worden, da dadurch die Position des „reaktionären“ Rats eher gestärkt worden sei. Hermann Liebmann führte in seinen Erinnerungen dazu aus: „Es war eine schwere Unterlassungssünde der Re- volution, dass nicht sofort gründlich mit den gesetzlichen Bestimmungen aufge- räumt wurde, die dem Ratskollegium eine bevorrechtete Stellung gegenüber den Stadtverordneten sichern, so dass heute noch die Stadtverordneten unter der Kon- trolle des reaktionären Ratskollegiums stehen.“25 Am 11. November reisten Richard Lipinski, Friedrich Geyer und Friedrich Se- ger als Beauftragte des Leipziger Arbeiter- und Soldatenrates nach Dresden, um sich an den notwendigen Gesprächen über die Bildung einer neuen sächsischen Landesregierung zu beteiligen. Erste Kontaktaufnahmen mit den Dresdner Vertre- tern, welche hauptsächlich MSPD-Mitglieder waren, konnten Meinungsverschie- denheiten nicht beseitigen, so dass die alte Regierung Heinze noch bis zum 13. November amtierte. An eben diesem Tag trafen sich vier Dresdener und drei Chemnitzer Vertreter mit den Leipziger Abgesandten und konstituierten sich zum Zentralen Arbeiter- und Soldatenrat für Sachsen. Da von den 10 Mitgliedern nur drei der MSPD angehörten (die beiden Dresdener Neuring und Schwarz sowie der Chemnitzer Fellisch), dagegen sieben den Unabhängigen (außer den drei Leipzi- gern auch Rühle und Fleißner aus Dresden sowie Heckert und Melzer für Chem- nitz), gab es ein deutliches linkes Übergewicht, welches sich auch in dem Aufruf „An das sächsische Volk!“ niederschlug. In diesem hieß es u. a.: „Das revolu- tionäre Proletariat hat die öffentliche Gewalt übernommen. Sein Ziel ist die so- 24 Siehe Sebastian Thiem: Der Oberbürgermeister blieb aber weiter auf seinem Posten. Das Leipziger Oberbür- germeisteramt vom Vorabend des Ersten Weltkriegs bis zum Ende der zwanziger Jahre, in: Werner Bramke/Ulrich Heß: Wirtschaft und Gesellschaft in Sachsen im 20. Jahrhundert, Leipzig 1998, S. 293-327, hier: S. 309. 25 Hermann Liebmann: Zweieinhalb Jahre Stadtverordnetentätigkeit der USP in Leipzig, Leipzig 1921, S. 2.

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zialistische Republik. Verwirklichung des Sozialismus heißt: Verwandlung der ka- pitalistischen Produktion in gesellschaftliche, Enteignung des Privateigentums an Grund und Boden, Berg- und Hüttenwerken, Rohstoffen, Banken, Maschinen, Verkehrsmitteln usw., Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische, Über- nahme der Produktion durch das Proletariat. [...] Die republikanische Regierung Sachsens hat die besondere Aufgabe, die Liquidierung des sächsischen Staates herbeizuführen und die einheitliche sozialistische deutsche Republik zur Tatsache zu machen.“26 Dieser Aufruf ging den rechtssozialdemokratischen Kräften, die in Chemnitz und Dresden über eine Mehrheit verfügten und sich im Zentralrat nicht genügend repräsentiert sahen, entschieden zu weit, und es kam zu ersten schweren Ausein- andersetzungen unter den verschiedenen Parteien der Revolution in Sachsen. Vor allem die weit rechts stehende „Chemnitzer Volksstimme“ charakterisierte den Aufruf am 16.November als „deutschen Bolschewismus“. Die Dresdener MSPD- Funktionäre Neuring und Schwarz zogen kurze Zeit später – offenbar nach Ein- spruch seitens ihrer Partei – ihre Unterschriften zurück. Da aber der Spartakusan- hänger Otto Rühle kurz darauf eine Gruppe „Internationale Kommunisten Deutschlands“ gründete und seine Beteiligung an einer Koalitionsregierung mit Verweis auf die gegenrevolutionären Aktivitäten der Mehrheitssozialdemokraten absagte und sich obendrein auch noch Fritz Heckert zurückzog, war der Weg zu einer gemäßigten unabhängig-mehrheitssozialdemokratischen Regierung frei. Am 15. November wurde ein paritätisch besetztes Gesamtministerium gebildet, in dem die wichtigsten Ressorts an die Unabhängigen gingen. Richard Lipinski über- nahm das Innen- und Außenministerium, Friedrich Geyer wurde Finanz- und Her- mann Fleißner Kriegsminister. Die Mehrheitssozialdemokraten erhielten das Ar- beitsministerium (Albert Schwarz) sowie das Justiz- (Otto Uhlig, kurz darauf ) und das Kultusministerium (). In allen sächsischen Tageszeitungen erschien am 18. November der Aufruf „An das sächsische Volk!“, der zwar genauso hieß wie der vorhergehende des Zentral- rates, aber bedeutend milder und vorsichtiger ausgefallen war. Als Ziel wurde „die Einordnung Sachsens in eine einheitliche Großdeutsche Volksrepublik“ bezeich- net. Unmittelbare Aufgabe sei, „das Land über die großen Schwierigkeiten der ge- genwärtigen Lage hinwegzuführen, die demokratischen Errungenschaften sicher- zustellen und wirtschaftliche Umgestaltungen nach sozialistischen Grundsätzen zu verwirklichen.“ Den Arbeiter- und Soldatenräten wurde etwas verschwommen die Aufgabe zugewiesen, „die sozialistische Volksregierung zu schützen und zu kontrollieren“. Die Linke hatte nur den Erfolg verbuchen können, dass Wahlen für eine sächsische Nationalversammlung nicht terminiert worden waren. Womöglich noch wichtiger für den weiteren Ablauf der Ereignisse als der oben erwähnte Aufruf vom 18. November war eine Bekanntmachung der neuen Regie-

26 Zit.nach Walter Fabian: Klassenkampf in Sachsen, Löbau 1930, S. 30.

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rung vom 16. November gewesen, wonach „örtliche Arbeiterräte keine Befugnis [haben], den Behörden Befehle zu erteilen, die mit den Verordnungen der vorge- setzten Dienstbehörden in Widerspruch stehen“.27 Eigenmächtige Entlassungen von Richtern, Lehrern und anderen Beamten wurden den Räten verboten. Diese Verfügungen kamen bereits einer teilweisen Entmachtung der örtlichen Räte nahe, welche im unmittelbaren Gefolge der Revolution in vielen Städten die eigentliche vollziehende Gewalt ausgeübt hatten und nun im wesentlichen auf Kontrollrechte beschränkt wurden. In Leipzig löste diese Verfügung Ärger und Widerstand aus. Friedrich Seger erklärte am 6. Dezember in seiner Eigenschaft als Volkskommis- sar der Kreishauptmannschaft Leipzig, sämtliche Befugnisse der Gemeinderäte seien durch die Revolution auf die Räte übergegangen, und wies die kommunalen Behörden der Amtshauptmannschaft an, sich daran zu halten. Es deutete sich an, dass die Vertreter der USPD in der sächsischen Regierung schnell in Widerspruch zur eigenen Basis zu geraten drohten. Das Bürgertum atmete auf und forderte nunmehr Beteiligung am Neuaufbau. Das liberale „Leipziger Tageblatt“, realistischer in der Beurteilung des Revoluti- onsverlaufes als andere bürgerliche Blätter, hatte schon am 18. November kon- statiert: „Der erste junge Freiheitsrausch ist zerstoben, man hat erkannt, dass un- ser heutiges Staats- und Wirtschaftsleben zu kompliziert ist, um das Alte einfach beiseite zu schieben.“ Das „Tageblatt“, das schon im Krieg Kritikern der imperia- listischen Politik Stimme verliehen hatte, versuchte nun, Anstöße zum Mitwirken des Bürgertums beim Aufbau neuer Machtstrukturen auf demokratischer Grund- lage zu geben. Denn wie in den meisten deutschen Ländern hatten bis zu diesem Zeitpunkt nicht nur die Träger der politischen und militärischen Macht schwäch- lich (wenn überhaupt) Widerstand geleistet. Auch die bürgerlichen Eliten zeigten kaum Bereitschaft, die Monarchie zu verteidigen, und verhielten sich in ihrer Mehrheit passiv oder agierten wenig effektiv. Am 18. November gründete sich ein Leipziger Bürgerausschuss – an seiner Spitze stand der Professor und Historiker an der hiesigen Universität Walter Goetz – und vereinigte zunächst etwa 100 bürgerliche Verbände. Neben Goetz wirkten maßgeblich mehrere Angehörige des Verbandes der Metallindustriellen in dem neuen Ausschuss mit. Für die verschiedentlich vertretene Auffassung, Goetz sei nur eine Marionette der im Hintergrund die Fäden ziehenden Industriellen gewe- sen, gibt es keine Beweise. Die Gründer des Bürgerausschusses kamen ganz über- wiegend aus dem liberalen, zum Teil linksliberalen Spektrum. Die früheren An- hänger der Vaterlandspartei, die sich inzwischen im „Nationalliberalen Verein“ um den Historiker Erich Brandenburg zusammengeschlossen hatten und ihr Ziel in der Abwehr des Bolschewismus sahen, spielten zumindest in der hier behan- delten Phase in der Politik des Bürgerausschusses keine Rolle28. Das Ersuchen des

27 SStAL, Amtshauptmannschaft Leipzig, Nr. 46, Bl.4. 28 Zum Bürgerausschuss bisher am gründlichsten Siegfried Hoyer: Der Leipziger Bürgerausschuss. Messestäd- tisches Bürgertum und revolutionäre Krise 1918/19, in: Leipziger Kalender 1999, S. 235-255. Siehe ferner

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Ausschusses, Vertreter in den Leipziger Arbeiter- und Soldatenrat entsenden zu können, wurde von diesem am 25. November abgelehnt.29 Sicherlich fürchtete der Arbeiter- und Soldatenrat zu Recht eine weitere Aushöhlung und Unterwanderung dieses Stützpfeilers der noch jungen Ordnung, der den Trägern der Revolution vorbehalten bleiben sollte. Auch war den USPD-Mitgliedern die politische Kon- frontation der Vorkriegszeit und das Verhalten des Leipziger Bürgertums in der Wahlrechtsfrage noch in allzu frischer Erinnerung. Es gehört zu den Besonderheiten Leipzigs, dass die sich neu formierenden bür- gerlichen Kräfte besonders starke Positionen an der Universität hatten. Es ist be- reits auf die Professoren Goetz und Brandenburg verwiesen worden, die sich in der Revolutionszeit allerdings weniger um die Vorgänge an der Alma mater küm- merten als vielmehr parteipolitisch für die Stadt und den Freistaat Sachsen wirk- ten, wobei Ernst Brandenburgs Parteinahme für die DDP etwas überraschte, war er doch zuvor Mitglied der Vaterlandspartei gewesen. Beide haben augenschein- lich der Universitätsleitung ein eher flexibles Verhalten gegenüber dem ungelieb- ten Arbeiter- und Soldatenrat angeraten, was der Universität jedoch nicht immer gelang und von vielen Hochschulangehörigen, besonders von Studierenden, die Soldaten bzw. auch Offiziere gewesen waren, abgelehnt wurde. Hinzu kam eine etwas überforderte und widersprüchlich agierende Universitätsleitung, die im Pro- rektor Professor Kittel ihren eigentlich führenden Kopf hatte. Kittel hatte am 18. November in seinen Aufzeichnungen notiert: „Ich kann mir denken, dass eines Ta- ges Ebert einem General Befehl geben könnte, mit 100.000 Mann nach Sachsen zu marschieren und Ordnung zu schaffen.“30 In Sachsen verstärkten sich schnell die Differenzen im Lager der beiden Re- gierungsparteien. Die „Freie Presse“, Zeitung der in Leipzig marginalen MSPD, startete am 3. Dezember 1918 eine Kampagne, die sich entschieden gegen den Fortbestand der Arbeiter- und Soldatenräte richtete. Diese wurden als Hemmnis für die neue Regierung und Hindernis für die gewünschte Parlamentarisierung des Reiches bezeichnet. Dem Blatt der MSPD assistierten die bürgerlichen Zeitungen, die immer öfter darauf hinwiesen, dass die Alliierten die Arbeiter- und Soldaten- räte nicht anerkannten und ein Fortbestehen dieser Organe die Normalisierung der Beziehungen zum Ausland erschweren würde. All dies war wohl als Reaktion auf eine scharfe Erklärung des Leipziger Arbeiter- und Soldatenrats zu werten, der sich vehement gegen die „Parlamentsspielerei“ im Dresdner zentralen Landesrat gewandt hatte und offenbar immer weiter nach links driftete. Das zeigte sich bei-

auch Michael Schäfer: Bürgertum in der Krise, Göttingen 2003, S. 225-237. Zu den Bürgerräten im Reich ge- nerell Hans-Joachim Bieber: Bürgertum in der Revolution. Bürgerräte und Bürgerstreiks in Deutschland, Hamburg 1992. 29 Siehe Puchta, Der Arbeiter- und Soldatenrat, S. 368. 30 Rudolf Kittel: Die Universität Leipzig im Jahr der Revolution. Rektoratserinnerungen, Leipzig/Stuttgart 1930, S. 12. Zur Universität in der Revolutionszeit siehe Udo Baumann: Zur politischen Geschichte der Universität Leipzig während der Novemberrevolution 1918, in: WZUL VII (1957/58), Heft 5, S. 519-537. Die Darstel- lung ist zwar streng parteilich gehalten, aber quellennah und zuverlässig.

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spielhaft in dem Agieren Curt Geyers, der am 10. Dezember an der Spitze de- monstrierender Soldaten und Matrosen eine Versammlung der Demokraten ge- sprengt hatte, worauf es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen mit den Anwe- senden gekommen war. In derselben Nacht war das Verlagsgebäude der „Neuesten Nachrichten“ demoliert worden.31 Am 8. Dezember hatte der Leipziger Arbeiter- und Soldatenrat in einer Erklärung verlangt, erst nach der „wirtschaftlichen Gleichstellung der Volksgenossen“ könnten Wahlen zur Nationalversammlung erfolgen, was nichts anderes bedeutete, als dass die Sozialisierung Vorrang haben sollte. Eine Konferenz von Räten der Kreishaupt- mannschaft Leipzig sanktionierte diese Erklärung mit überwältigender Mehrheit von 83 gegen 3 Stimmen.32 Dagegen wandten sich sowohl die sächsischen MSPD- Volksbeauftragten als auch die von der Mehrheitspartei dominierten Räte in Dres- den und Chemnitz ganz entschieden. In Erklärungen verlangten letztere am 10. und 15. Dezember die schnellstmögliche Wahl einer Nationalversammlung. Der Chem- nitzer Rat forderte vom sächsischen Landesrat am 15. Dezember schnellstmögliche Wahlen zu einer „Nationalversammlung der Republik Sachsen“ und den Rücktritt der jetzigen Regierung, da sie „in ihr Amt nicht durch eine Vertrauenserklärung des sächsischen Proletariats ... gelangte.“33 Über die Auseinandersetzungen im Dresde- ner Rat bezüglich des Antrages auf baldige Wahlen wurde vom „Leipziger Tage- blatt“ berichtet: „Da die Unabhängigen dem Antrag widerstrebten und ihr Redner Schultze den Antrag als Bankrott der Revolution bezeichnete, kam es zu sehr leb- haften Auseinandersetzungen. Unter den Gründen für den Antrag wurde unter an- derem von Minister Dr. Gradnauer scharf hervorgehoben, dass eine Nationalver- sammlung für Sachsen besonders deswegen notwendig sei, weil [...] insbesondere der Arbeiter- und Soldatenrat für Leipzig eine geradezu lebensgefährliche Sonder- politik treibe. Im übrigen wurde erklärt, dass dem Bürgertum die Mitarbeit an dem Wiederaufbau nicht vorenthalten werden könne und dass auch in dem Gesamtmini- sterium ... Platz für das Bürgertum sein müsse.“34 Die Terminierung der Wahlen zur Nationalversammlung stellte einen Scheide- punkt im weiteren Geschehen dar. Die Stellung der Leipziger USPD wurde noch mehr geschwächt durch den Beschluss der Generalversammlung der Partei am 15. Dezember in Berlin, welche sich eine Resolution Hilferdings zu eigen machte, die für die Wahlen zur Nationalversammlung und für den Verbleib im Rat der Volksbeauftragten votierte. Schon zehn Tage zuvor hatte der führende Theoreti- ker des gemäßigten Parteiflügels Karl Kautsky in der Berliner „Freiheit“ ge- schrieben, dass nicht Nationalversammlung oder Räte die Losung sein müsse, sondern Nationalversammlung und Räte. Dies entsprach sichtlich nicht der radi-

31 Siehe StadtAL, Kapitelakten 72, Nr. 75, Bd. 1, Bl. 2. 32 Siehe Leipzig in den Tagen der Novemberrevolution. Eine Chronik, hrsg. von einem Kollektiv unter Leitung von Bernd Rüdiger, in: Jahrbuch der Geschichte der Stadt Leipzig, 1978, S. 79-121, hier: S. 96. 33 HStAD, Akten der Staatskanzlei, Nr. 141, Bl.7f. 34 Leipziger Tageblatt, 11.12.1918.

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kaleren Auffassung der Leipziger. Die auf Kompromissbasis paritätisch aufge- baute sächsische Regierung verlor – angesichts der überaus schwachen Position der Unabhängigen außerhalb des Leipziger Bezirks – in den Augen der MSPD- Mitglieder immer mehr ihre Legitimation. Entscheidende Bedeutung für den weiteren Verlauf der Revolution kam dem Ersten Reichsrätekongress vom 16.-21. Dezember in Berlin zu. Dessen Zusam- mensetzung ließ freilich von vornherein für die USPD wenig Gutes erwarten. Unter den 489 Delegierten befanden sich neben 292, welcher der MSPD und di- versen Splitterfraktionen zugerechnet wurden, ganze 94 Unabhängige. So war es nicht verwunderlich, dass die Linken auf dem Kongress mit nahezu allen wesent- lichen Anträgen scheiterten. So wurde der Antrag der Berliner revolutionären Obleute, das Rätesystem zur Verfassungsgrundlage zu machen, abgelehnt; ange- nommen wurde dagegen der Antrag des MSPD-Vertreters Cohen-Reuß, am 19. Ja- nuar Wahlen zur Nationalversammlung durchzuführen und bis dahin die „gesetz- gebende und vollziehende Gewalt“ dem Rat der Volksbeauftragten zu übergeben, der von einem auf dem Kongress zu wählenden Zentralrat „überwacht“ werden sollte. Da diesem Zentralrat keinerlei echte Befugnisse übertragen werden sollten, boykottierten die Unabhängigen auf Initiative von Curt Geyer und anderen dessen Wahl, so dass dieser zu einem reinen MSPD-Organ wurde. Der Bruch zwischen den sozialdemokratischen Parteien auf dem Kongress war da, in der Regierung war er nur noch eine Frage von Tagen. Er erfolgte schließlich am 29. Dezember als Konsequenz aus den bewaffneten Auseinandersetzungen um die Volksmarine- division während der Weihnachtstage. Die sächsische Regierung hatte am 25. Dezember mit den Stimmen ihrer unabhängigen Mitglieder, die offensichtlich resignierten, nur einen Tag später Wahlen zur sächsischen Volkskammer für den 2. Februar 1919 festgelegt. Damit waren auch in Sachsen die Würfel für eine Parlamentarisierung gefallen. Am 27. Dezember erfolgte ein weiterer Schritt zur Entmachtung der USPD: Der zentrale Landesrat der Arbeiter- und Soldatenräte – bei seiner Neukonstituierung am 3. Dezember entsprechend der Stärkeverhältnisse in den drei sächsischen Metropo- len gebildet – beschloss gegen die Stimmen der Unabhängigen die Etablierung eines nach Berliner Muster gestalteten Zentralrats, der die bisherige paritätische Geschäftsführung im Landesrat obsolet machte. Er bestand – entsprechend den Verhältnissen im Landesrat – aus 7 MSPD- und nur 2 USPD-Vertretern und wurde deswegen von der USPD nicht anerkannt. Curt Geyer verkündete in sei- ner Rede die Leipziger Position zum Zentralrat und zur weiteren Taktik der USPD: „Wir fordern die Vertreter der Unabhängigen Sozialdemokratie auf, ihr Mandat weiter auszuüben und sich den rechtsungültigen Beschlüssen des Lan- desrats nicht zu unterwerfen. Das gilt namentlich für die Beschlüsse über den so- genannten Zentralrat und über die Früh(v)erlegung des Termins zur sächsischen Nationalversammlung.35 Daraus folgt, dass wir uns an den Wahlen zu dem soge- 35 Der Landesrat hatte von der sächsischen Regierung verlangt, die Wahlen auf den 19. Januar vorzuziehen.

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nannten Zentralrat nicht beteiligen. Wir erkennen diesen Zentralrat nicht an.“ So war es in der LVZ am 28. Dezember zu lesen. Der endgültige Bruch der Revolutionsregierung auch in Sachsen konnte nun- mehr nur noch eine Frage der Zeit sein. Den äußeren Anlass dazu bildeten die blu- tigen Januarkämpfe in Berlin, die auch auf Sachsen übergriffen und in Leipzig und Dresden zu Auseinandersetzungen mit mehreren Toten führten. Da sich der Leip- ziger Arbeiter- und Soldatenrat eindeutig auf Seiten der Aufständischen in Berlin positionierte, wurde die Stellung der drei unabhängigen Minister unhaltbar. Unter immer stärkeren Druck des linken Leipziger Parteiflügels geratend, der manche Parteifunktionäre eine neuerliche Spaltung der Partei befürchten ließ, traten sie am 16. Januar 1919 von ihren Ämtern zurück. Die sächsische Revolutionsregierung war, gemessen an ihren Zielen bei Beginn ihres Amtierens, gescheitert. Richard Lipinski hat in seinen Erinnerungen die Ver- säumnisse benannt, die aus seiner Sicht zum Bruch der Regierungen sowohl auf Reichs- als auch auf Landesebene geführt hatten: Der Schritt zur „sozialen Repu- blik“ wurde nicht gegangen, man verharrte im Stadium der bürgerlichen Demo- kratie. Die Arbeiter- und Soldatenräte blieben ohne wirkliche Macht, eine Sozia- lisierung der Produktion kam nicht in Gang, schließlich unterblieb auch die Schaffung eines wirklichen Volksheeres.36

2. Das Jahr 1919: Der Abschwung

Drei Wahlakte prägten die ersten Wochen des Jahres nach dem Ende der Revolu- tionsregierung. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar erhielten die beiden sozialdemokratischen Parteien innerhalb Sachsens eine klare Mehrheit – aller- dings mit extrem verschobenen Prozentzahlen. Während in ganz Sachsen die USPD nur auf 13,9 Prozent kam, erhielt sie in Leipzig 38,2 Prozent. Umgekehrt die MSPD, die in Sachsen mit 46,0 Prozent haushoher Sieger war, in Leipzig dagegen bei – immerhin – 20,7 Prozent blieb. Obwohl die USPD ihr Leipziger Er- gebnis als Erfolg verbuchte, blieb sie weit von der insgeheim erhofften absoluten Mehrheit entfernt. Nicht anders eine Woche darauf bei der Wahl zur neuen Stadtverordnetenver- sammlung, bei der 33 der 72 Sitze auf die USPD entfielen. Zusammen mit den sechs gewählten MSPD-Stadtverordneten wäre zwar eine sozialdemokratische Mehrheit denkbar gewesen, zu tief waren aber die Gräben. So konnten denn die rechtsbürgerlichen „Leipziger Neuesten Nachrichten“ zufrieden schreiben: „Je- denfalls verfügt der radikale Flügel der Sozialdemokratie nicht, wie er gehofft hatte, über die absolute Mehrheit, und da die Bürgerlichen mit der alten Sozialde-

36 Siehe Richard Lipinski: Der Kampf um die politische Macht in Sachsen, Leipzig 1926, S. 15.

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mokratie ein gut Stück Weges werden zurücklegen können und müssen, wird die Unabhängige Sozialdemokratie im Stadtverordnetensaale kaum zur alleinigen re- gierungsfähigen Partei aufrücken können, zumal da die alte Sozialdemokratie die aktive Teilnahme an gewissen lebensgefährlichen sozialistischen Experimenten ablehnt. Es ist also immerhin zu erwarten, dass die Unabhängigen sich in lebens- wichtigen Fragen einem geschlossenen Block gegenübersehen werden.“37 Und so kam es dann auch. Nur unwesentliche Abweichungen ergaben die Wahlen zur sächsischen Volks- kammer am 2. Februar. In Dresden kam es daraufhin zur Bildung eines rein mehr- heitssozialdemokratischen Kabinetts, welches auf Tolerierungen, von welcher Seite auch immer, angewiesen war. In Leipzig waren die Vorgänge um die Regie- rungsbildung in Sachsen auf wenig Gegenliebe gestoßen. Curt Geyer hatte am 21. Februar Friedrich Seger als Vorsitzenden des Engeren Ausschusses des Arbei- ter- und Soldatenrats abgelöst, was bei der Persönlichkeit des neuen Vorsitzenden zwangsläufig zu einer radikaleren Politik führen musste. Überdies sorgten schon die angespannten Lebensverhältnisse in Leipzig für eine bedrohliche Situation. Wie das gesamte Reichsgebiet38 war auch Sachsen, dessen Industrie überdies stark vom weitgehend zusammengebrochenen Export abhängig war, während der unmittelbaren Nachkriegszeit von einer Wirtschafts- krise schwersten Ausmaßes betroffen.39 Am 5. Februar versuchten Arbeitslose, deren Zahl mittlerweile in Leipzig auf über 40.000 angewachsen war, das Rathaus zu stürmen, und konnten nur durch das Eingreifen von Liebmann und Seger davon abgehalten werden.40 Am 20. Februar wurde in der LVZ bekannt gegeben, dass ab der folgenden Kalenderwoche nur noch 2 Pfund Kartoffeln pro Person ausgegeben werden könnten. Angesichts dieser Lage und unter dem Eindruck der blutigen Januarereignisse in Berlin, bei denen Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg den vom MSPD-Poli- tiker Gustav Noske befehligten Freikorps zum Opfer gefallen waren, brach in Mit- teldeutschland am 24. Februar ein Generalstreik aus, der in Leipzig eskalierte. Die Forderungen der Streikleitung waren hier die Einführung der Betriebskontrolle durch die Arbeiterräte als Vorstufe der Sozialisierung, die gesetzliche Verankerung der Arbeiterräte, die Freilassung der politischen Gefangenen sowie der Rücktritt der „bürgerlich-rechtssozialistischen Regierung“.41 Als Reaktion auf den Ein- marsch der Reichswehrtruppen in Halle am 1. März ordnete der Engere Ausschuss des Arbeiter- und Soldatenrates darüber hinaus die Bewaffnung der Arbeiter und

37 Leipziger Neueste Nachrichten, 27.1.1919. 38 Auf Reichsebene fiel die Industrieproduktion (1913=100) 1919 auf einen Index von 38 ab. Siehe Jürgen Kuczynski: Geschichte des Alltags des deutschen Volkes, Bd. 5, Köln 1993, S. 26. 39 Zu den besonders schwierigen Startbedingungen der sächsischen Nachkriegsindustrie siehe Werner Bramke: Sachsens Industrie(gesellschaft) vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende der Weimarer Republik, in: Werner Bramke/Ulrich Heß: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 27-53. 40 Siehe StadtAL, Kap.72, Nr. 75, Bd. 1, Bl.13 41 Siehe LVZ, 28.2.1919.

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die Bildung einer „Volkswehr“ aus Mitgliedern der USPD an, eine Maßnahme, die später der sächsischen Regierung den Vorwand zur Besetzung Leipzigs lieferte. Ab dem 27. Februar fuhren Straßen- und Eisenbahnen nicht, Gas- und Elektrizi- tätswerke wurden abgeschaltet, der Telefon- und Telegraphenverkehr mit der Außenwelt unterbrochen. Abordnungen der Streikleitung nahmen Durchsuchun- gen von Wohnungen und Geschäften nach „Hamsterlagern“ vor und besetzten sämtliche Bankengebäude. Von den Tageszeitungen erschien allein die LVZ täg- lich und fungierte als unermüdliches Propagandaorgan der Streikleitung. Erst am 11. März konnten die übrigen Zeitungen wieder erscheinen. Als ungewöhnliche Reaktion auf den Generalstreik beschloss der Leipziger Bürgerausschuss den Gegenstreik des Bürgertums. Dieser war nicht schlecht vor- bereitet. „Um die Beamten zum Streik zu veranlassen, wurde die Gehaltszahlung für die Beamten einige Tage vor dem Fälligkeitstermin vorgenommen. Während man den Arbeitern noch am 1. März den fälligen Lohn mit der Begründung vor- enthielt, der Schlüssel zum Kassenschrank sei nicht zu finden.“42 Neben den Be- amten der Stadtverwaltung beteiligten sich Handwerker, Apotheker, Ärzte und viele sonstige Berufsgruppen an dem Gegenstreik. Die Amtshauptmannschaft ver- weigerte die Öffnung des Lebensmittelamtes, woraufhin der Amtshauptmann von Finck von Beauftragten des Arbeiter- und Soldatenrates kurzerhand verhaftet wurde.43 Vor allem der Leipziger Kreishauptmann von Burgsdorff heizte mit unverant- wortlichen Telegrammen an den sächsischen Gesandten bei der Weimarer Natio- nalversammlung die Situation bis zum Unerträglichen an. So telegraphierte er am 3. März: „Für morgen, da Fortdauer des allgemeinen Streiks nicht abwendbar, all- gemeiner Aufruhr mit Gewaltmaßnahmen, als Plünderungen, Sprengung der öf- fentlichen Gebäude, der Banken, Entnahmen von Geiseln usw. bestimmt beab- sichtigt. Herrschaft völlig bei Spartakisten. Vernichtung der Stadt, Mord und Totschlag unvermeidlich, wenn nicht militärische Hilfe sofort zur Stelle. Erbitte solche im Einverständnis mit allen Behörden. Ohne sofortige militärische Hilfe al- les verloren.“44 Die offensichtliche Patt-Situation in Leipzig führte im Arbeiter- und Soldaten- rat zu Differenzen über Sinn oder Unsinn der Fortsetzung des Streiks. Vor allem Friedrich Seger riet zum Abbruch, da die hochgesteckten Ziele zumindest im Au- genblick nicht zu erreichen seien. Scharf gegen einen Abbruch argumentierten da- gegen Hermann Liebmann und Arthur Lieberasch, welche für kompromissloses Weiterkämpfen „bis zur sozialistischen Republik“ eintraten.45 Um die Lage zu ent- schärfen, entsandte die Landesregierung am 7. März den Arbeitsminister Schwarz nach Leipzig, der zunächst mit seinem Auftreten den Bürgerausschuss brüskierte,

42 Zit. nach Liebmann, Zweieinhalb Jahre, S. 61. 43 Siehe SStAL, AH Leipzig, Nr. 1708, Bl.25. 44 HStAD, Akten der Sächsischen Gesandtschaft, Nr. 375, Bl.102. 45 Siehe LVZ, 7.3.1919.

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indem er den streikenden Beamten unter Androhung staatlicher Sanktionen die Beendigung des Gegenstreiks zur Pflicht machte.46 Damit sicherte sich Schwarz für geraume Zeit die erbitterte Feindschaft aller bürgerlicher Parteien, was bis zu scharfen Polemiken und verletzenden persönlichen Angriffen in parlamentari- schen Sitzungen führte. Schwarz gelang es schließlich, unter Zusage der verfas- sungsrechtlichen Anerkennung der Betriebsräte, die Streikleitung zu einem Ab- bruch des Generalstreiks zu bewegen. Im Grunde genommen war der Streik eine Niederlage für die USPD und den Arbeiter- und Soldatenrat, denn von den ursprünglichen Forderungen war so gut wie keine erfüllt worden, gleichzeitig hatte das Bürgertum an Selbstvertrauen ge- wonnen. Eine weitere Zuspitzung der Situation schien nicht ausgeschlossen, da die Unzufriedenheit der radikalen Arbeiter mit dem Erreichten groß war, was auf den Streikversammlungen vom 8. März deutlich zum Ausdruck kam.47 Die Frage, ob die USPD ihre Anhänger zügeln konnte, musste offener denn je erscheinen, zu- mal in der Partei selbst der Kampf zwischen dem vorsichtigeren Seger und den Anhängern Curt Geyers heftiger wurde. Seit Ende März lieferte der sächsische Militärbevollmächtigte bei der Weima- rer Nationalversammlung Oberst Schulz regelmäßig neue bei ihm eingegangene Warnungen und Horrormeldungen konservativer Leipziger Abgeordneter an die sächsische Regierung über angeblich geplante Geiselnahmen durch den Arbeiter- rat, Störungen während der bevorstehenden Messe, die sinkende Kreditwürdigkeit der Stadt im Ausland bei Weiterbestehen des gegenwärtigen „Terrors der Geyer- Leute“ sowie ständig neue Forderungen nach Entsendung „zuverlässiger“ Trup- pen, die „Ruhe und Ordnung“ wiederherstellen sollten.48 In den Augen führender Militärs war ein bewaffneter Schlag ohnehin längst überfällig: „Es wurde Zeit, dass gegen die Auflehnungen und Übergriffe des Arbeiter- und Soldatenrates und gegen die Hetzer der Volkszeitung, die den Kampf gegen die Regierung nur noch im Lästertone führte und z. B. den mehrheitssozialdemokratischen Kriegsminister einen ‚größenwahnsinnigen Schneider’ nannte, endlich wirksam eingeschritten wurde.“49 All dies blieb bei der USPD nicht unbemerkt und führte schon bald zu Warnungen vor einem möglichen Truppeneinmarsch.50 Im sächsischen Landtag entlud sich die gespannte Atmosphäre in radikalen Re- den von beiden Seiten des Hauses in den letzten Sitzungen vor den Parlamentsfe- rien. Hermann Liebmann hatte am 8. April die wiederholten Angriffe der rechten Seite des Parlaments gegen die angeblichen „spartakistischen Umtriebe“ der Ar- beiter- und Soldatenräte mit ungewöhnlicher Schärfe zurückgewiesen und in hit-

46 Siehe SStAL, AH Leipzig, Nr. 1708, Bl.25b. 47 Siehe Rudolph, Die sächsische Sozialdemokratie, S. 218. Immer öfter wurden Stimmen laut, die eine Neu- wahl des Rates verlangten, was zu diesem Zeitpunkt eine weitere Radikalisierung wahrscheinlich gemacht hätte. 48 Siehe HStAD, Sächsische Gesandtschaft, Nr. 375, Bl.144f. 49 Zit. nach Georg Maercker, Vom Kaiserheer zur Reichswehr, Leipzig 1921, S. 239. 50 So etwa in der LVZ vom 26.März 1919 („Eine Weiße Garde für Leipzig“).

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ziger Art und Weise der Regierung die Anerkennung abgesprochen: „Der Arbei- ter- und Soldatenrat erkennt überhaupt keine andere Instanz an als die Revolution, deren Werkzeug und Produkt er ist [Hört, hört – rechts]. Seine Aufgaben, seine Gesetze, seine Rechte und Pflichten ruhen nur auf der Revolution. [...] Die ober- ste Instanz des Arbeiter- und Soldatenrates ist niemand anderes als die Revolution selbst.“51 In seinen mehrfach von Tumult und Zwischenrufen unterbrochenen Aus- führungen drohte er den bürgerlichen Abgeordneten an, sie würden „nicht mehr lange in diesem Hause sitzen“. Der Präsident der Volkskammer Fräßdorf (MSPD) erklärte, er habe die parlamentarisch unzulässigen Ausführungen Liebmanns nicht unterbrochen, damit sich jeder ein Bild von der Gesinnung der Unabhängigen ma- chen könne. Nur zwei Tage später sorgte er freilich selbst für einen Eklat, als er im selben Hause für den Fall neuer Streiks mit dem Einsatz militärischer Gewalt und dem Erlass von Ausnahmegesetzen drohte und nach stürmischen Protesten der USPD-Fraktion wutentbrannt die Sitzung verließ. Später wurde deutlich, dass das Kabinett schon an diesem Tage die Verhängung des Belagerungszustandes ge- plant hatte. Der entsprechende Anlass wurde bald gefunden: Der Mord an dem sächsischen Kriegsminister Neuring am 12. April in Dresden. Sofort nach Bekanntwerden des Mordes rief die Regierung den Belagerungszustand zunächst für Dresden, ab dem nächsten Tag für das ganze Land aus. Das Standrecht wurde verhängt, die Presse- und Versammlungsfreiheit ausgesetzt und die Unverletzlichkeit der Wohnung sus- pendiert. Der neue Kriegsminister Kirchhoff ernannte Generalmajor Löffler zum Beauftragten für die Durchführung des Belagerungszustandes in Leipzig. Das Innenministerium ordnete an, dass „die Polizeibehörden während der Dauer des Belagerungszustandes der Abhaltung aller öffentlichen Versammlungen, deren Zweck auf den Sturz der gegenwärtigen Regierung, die Aufhebung des Belage- rungszustandes und die Einführung der Räterepublik gerichtet ist, ihre Genehmi- gung zu versagen [haben]. Die Erfahrung der letzten Zeit hat gelehrt, daß derar- tige Bestrebungen hauptsächlich von den unabhängigen Sozialdemokraten, den Kommunisten und Spartakisten ausgehen.“52 In Leipzig ging das Leben in der Stadt zunächst seinen gewohnten Gang, auch wenn die Universität seit dem 12. April ihre Pforten geschlossen hatte.53 Die Leipziger Messe fand ohne irgendwelche Störungen statt. Der Feiertag des 1. Mai wurde – je nach Befindlichkeit – ohne Zwischenfälle begangen, obwohl aufgrund des Belagerungszustandes alle öffentlichen Veranstaltungen verboten waren. Am 7. Mai nahm die Stadtverordnetenversammlung aufgrund der entspannten Situa- tion einstimmig einen – freilich um eine radikalere Passage gekürzten – Antrag

51 HStAD, Akten des Ministeriums des Inneren,Nr. 11075, Bl.23f. 52 SStAL, Akten der Amtshauptmannschaft Leipzig, Nr. 1709, Bl.3. 53 Mit Zustimmung des Rektors Professor Kittel hatte der Studentenausschuss alle Studenten zur Meldung für den „Grenzschutz“ im deutsch-polnischen Grenzgebiet aufgerufen, woraufhin die Eröffnung des neuen Se- mesters verlegt worden war.

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Hermann Liebmanns an, den Rat der Stadt zu ersuchen, „die notwendigen Schritte für die Aufhebung des Belagerungszustandes bei der Regierung zu unterneh- men“.54 Am selben Tag, als die Stadtverordnetenversammlung die Aufhebung des Be- lagerungszustandes forderte, erhielt General Maercker, Kommandeur des Landes- jägerkorps, welches zuvor unter anderem auch in Halle eingesetzt worden war, von Reichswehrminister Noske den Befehl zur militärischen Besetzung Leipzigs. Wie bei Noske üblich, war der Befehl in nicht gerade zimperlichen Worten abge- fasst: „[...] 2. a) Die volle Regierungsgewalt der sächsischen Regierung ist wie- derherzustellen und auf die Dauer zu sichern. b) Die Sicherheitstruppen, welche sich auf unabhängig-spartakistische Seite und regierungsfeindlich gestellt haben, sind zu entwaffnen und aufzulösen. [...] 4b) Sollte in Leipzig bewaffneter Wider- stand geleistet werden, so ist er rücksichtslos zu brechen. [...] 4d) Die Leipziger Volkszeitung ist bis auf weiteres zu verbieten....“55 Neben der LVZ waren die kom- munistischen Blätter zu verbieten, sogenannte Rädelsführer – ein weit auslegba- rer Begriff – waren zu verhaften. Wie sich später herausstellen sollte, war zumin- dest der Oberbürgermeister Dr. Rothe über die Pläne der militärischen Besetzung der Stadt informiert.56 Als Verbindungsmann der Regierung wurde zu Maercker der Leipziger MSPD-Funktionär Otto Mylau entsandt, der sich als Scharfmacher betätigte und einen ausgesprochen schlechten Ruf bei der Leipziger Arbeiterschaft erwarb. Er verließ später die Stadt, nachdem er aus der örtlichen Gewerkschaft ausgeschlossen worden war.57 Am 11. Mai 1919 war es dann soweit. Für den Leipziger Arbeiterrat, die USPD- Parteileitung und die Mehrzahl der Stadtverordneten völlig überraschend, rückten Maerckers zwei Divisionen in Leipzig ein. Vereinzelte Warnungen in den Tagen zuvor waren nicht ernst genommen worden.58 Der Einmarsch vollzog sich ohne militärische Zusammenstöße, die Sicherheitswehr des Arbeiterrates ließ sich zu- meist ohne Widerstand entwaffnen. Es war überaus deutlich, dass Widerstand ge- gen eine derartige Übermacht nur zu sinnlosem Blutvergießen führen konnte, und es muss als klares Verdienst des Arbeiterrates gewertet werden, dass er nicht zu derlei Aktionen unüberlegt aufrief. Maercker löste mit Hinweis auf dessen „unde- mokratische Zusammensetzung“ den Arbeiterrat auf, in den Folgetagen setzte eine Verhaftungswelle gegen dessen Angehörige ein. Unter anderem wurden die führenden Funktionäre Dietze, Schöning und Schroers festgenommen, man brach in die Wohnung Hermann Liebmanns ein und holte ihn zum Verhör und suchte

54 StadtAL, Kapitelakten 72, Nr. 74, Bl.10. 55 Zit. nach Maercker, Vom Kaiserheer, S. 243f. 56 Siehe Thiem, Der Oberbürgermeister, S. 313. 57 „Damit [mit der Räumung der Stadt Ende Juli] war die Aktion beendet, in der die Rechtssozialisten mit ihrem Regierungsbeauftragten Mylau eine so außerordentlich schimpfliche Rolle spielten. Mylau, der ehemalige Arbeitersekretär, konnte sich vor der Leipziger Arbeiterschaft nicht sehen lassen, er floh in eine kleine säch- sische Stadt als Stadtrat.“ Zit. nach Liebmann, Zweieinhalb Jahre, S. 66. 58 Siehe etwa entsprechende Hinweise in der LVZ vom 8. und 9. Mai 1919.

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nach Curt Geyer, der die Stadt jedoch Richtung Berlin verlassen hatte. Gemäß den Richtlinien Noskes wurde neben allen kommunistischen Blättern auch die LVZ verboten. Der Truppeneinmarsch wurde erwartungsgemäß von den rechtsbürgerlichen „Neuesten Nachrichten“ begrüßt: „... dürfen wir wohl [...] unserer Freude Aus- druck geben, wieder einmal Soldaten gesehen zu haben; wirkliche Soldaten, de- nen man den redlichen Willen zur Ordnung zutraut und die man deshalb für beru- fen hält, Träger dessen zu sein, was von deutscher Reichsgewalt noch übrig ist.“59 Die vereinzelten Streikaufrufe, die in den Tagen nach dem Einmarsch ohne Billi- gung der USPD erschienen, wurden von der Arbeiterschaft sehr mäßig befolgt. Isolierte Proteststreiks gab es unter anderem in Leutzsch, Böhlitz-Ehrenberg, Mölkau und Wahren; nach Meldung eines Gendarmerie-Inspektors vom 12. Mai wurden an diesem Tage 22 Betriebe bestreikt.60 Das Militär ging mit Gewalt ge- gen Streikende vor und verhaftete bis zum 14. Mai 43 „Rädelsführer“.61 Ab 14. Mai flauten die Streiks bereits merklich ab, die zunächst befürchtete Ausweitung zu einem Generalstreik fand nicht statt. Die USPD- Führung hatte auch nicht zu einem solchen aufgerufen. Vermieden wurde damit eine – in der gegebenen Si- tuation – aussichtslose Konfrontation mit der Macht, die nur zu noch schärferen Repressionen seitens des Militärs führen konnte. Einer der eigentlichen Anlässe des Truppeneinmarsches, die „Machtanmaßung des undemokratischen Leipziger Arbeiterrates“, war mit dessen Auflösung erle- digt. Der später, nach dem Abzug der Truppen, Ende Juni neu gewählte Arbeiter- rat, dem nun auch Handwerker und Angestellte angehörten, besaß keinerlei kom- munalpolitische Macht mehr. Der linke Leipziger „Sonderweg“ war endgültig zu Ende. „Mit der militäri- schen Besetzung Leipzigs verlor die radikale Linke ihre letzte Bastion in Deutsch- land. Die Macht der Räte war in Sachsen endgültig gebrochen. Bis ins Jahr 1920 bestanden sie zwar vielerorts noch fort, waren nun aber politisch ohne jeden Ein- fluss.“62

59 LNN, 12. Mai 1919. 60 Siehe SStAL, Akten der Amtshauptmannschaft Leipzig, Nr. 1707, Bl.6. 61 Siehe ebenda, Bl.19. 62 Frank Heidenreich: Arbeiterkulturbewegung und Sozialdemokratie in Sachsen vor 1933, Weimar/Köln/Wien 1995, S. 149.

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HELMUT SCHWARZBACH Die revolutionären Kämpfe in Zittau 1918-1920

In den Jahren vor dem ersten Weltkrieg gab es in Zittau die Königs-Ludwig- Kaserne. Die heute verfallene Mandaukaserne war damals schon nicht mehr stän- dig von Soldaten belegt. Aber in Königs-Ludwig-Kaserne lag ein Bataillon des Infanterieregiments 102, und diese „Einhundertzweier“ waren völlig integriert in die Stadt Zittau, aus ihr nicht mehr wegdenkbar. Es gab sogar ein Lied über die 102er, das zu Beginn des ersten Weltkriegs oft gesungen wurde. Es begann so: „In einem kleinen Städtchen Sachsens, einer wunderschönen Stadt ... In diesem klei- nen Städtchen lag eine Garnison von lauter 102er Schützen, ein ganzes Bataillon ...“ Und die nächste Strophe begann: „Im Jahre 1914, da war die Freude groß ...“ Allerdings kam dann zum Kriegsende noch eine Strophe hinzu, die so begann: „Im Jahre 1918, da war der Jammer groß ...“, da war nichts mehr von den natio- nalistischen Sprüchen übrig geblieben, die am Beginn des Ersten Weltkriegs im- mer wieder zitiert wurden, nämlich: „Jeder Schuss ein Russ, Jeder Stoß ein Fran- zos, Jeder Tritt ein Britt“ – und das war natürlich auch in der Oberlausitz so. Das gesamte politische Geschehen, der im Laufe der Kriegsjahre immer här- ter werdende Klassenkampf, der immer mehr wachsende Wille der Menschen, Schluss mit dem verheerenden Krieg zu machen, bestimmte das öffentliche Le- ben. Das kam am sichtbarsten in den Industriebetrieben zum Ausdruck. Die Amts- hauptmannschaft Zittau gehörte ja zu den am dichtesten besiedelten Gebieten Sachsens, wie überhaupt das Königreich Sachsen zu den drei großen Industriege- bieten neben Berlin und dem Ruhrgebiet gehörte. Besondere Bedeutung für die Wirtschaft der Oberlausitz, also weit über die Kreisgrenzen hinaus, hatte das 1917 durch den sächsischen Staat erworbene Braunkohlen- und Kraftwerk Hirschfelde, das 1918/19 etwa 1.200 Arbeiter beschäftigte und bei Ausbruch der Novemberre- volution ein Zentrum des revolutionären Kampfes in der Amtshauptmannschaft Zittau und in der gesamten Oberlausitz war. Damals hatte Zittau nach dem Ein- wohnerbuch der Stadt und des Amtsgerichtsbezirks Zittau 34.246 Einwohner. Hier soll nicht auf die Gründung und Entwicklung der sozialdemokratischen Partei eingegangen werden. In der Zeit unmittelbar vor dem und während des Ersten Weltkriegs war sie zu einem bedeutsamen Machtfaktor geworden. Und je länger der Krieg dauerte, je härter er die Menschen traf, um so mehr wuchs ihr politischer und gesellschaftlicher Einfluss. Unter dem Druck der sozialdemokrati- schen Parteimitglieder hatte sich der Vorstand der sozialdemokratischen Kreis- organisation Zittau entschließen müssen, bereits im März 1916 eine Unterschrif- tensammlung für eine „Friedenspetition“ an den Reichstag zu organisieren. Auch die rechtsgerichteten sozialdemokratischen Funktionäre der Amtshauptmann- schaft Zittau mussten eingestehen, dass „der Wille zum Frieden ... am stärksten in

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der Arbeiterschaft“ zum Ausdruck kam. Als sich schon nach kurzer Zeit zeigte, dass die vor allem für die Waffenproduktion arbeitenden Frauen und Männer in der Unterschriftenaktion eine Möglichkeit sahen, ihren Friedenswillen zu bekun- den, wurde selbst diese mehr zur Besänftigung der Massen gedachte Initiative von den staatlichen Behörden verboten. In der sozialdemokratischen Kreisorganisa- tion kam es zu immer mehr und stürmischer werdenden Protesten gegen den Pro- kriegskurs der Parteiführung, was schließlich im Frühjahr 1918 zur Abspaltung der USPD-Ortsgruppe führte. Führende Funktionäre waren dabei Emil Rauch, Redakteur der „Volkszei- tung für die Oberlausitz“, und die Arbeiter Oskar Stürmer, Wilhelm Treibig, Karl Lange und Willibald Pech. Ihr Einfluss auf die Arbeiterschaft blieb jedoch gering, und die politisch-ideologischen Unstimmigkeiten unter ihnen erleichterten es den führenden Funktionären – so Edmund Fischer als Reichstagsabgeordneter, Hein- rich Schnettler als Kreisvorsitzender, Otto Burckholt als Vorsitzender der Allge- meinen Ortskrankenkasse sowie Otto Schembor als Geschäftsführer der Konsum- genossenschaften der Amtshauptmannschaft Zittau – die opportunistische Linie des Parteivorstandes der SPD auch vor und während der Novemberrevolution zu vertreten. Die revolutionäre Woge hatte auch das Zittauer Gebiet erfasst. Alle Versuche der oben genannten sozialdemokratischen Funktionäre, sie aufzuhalten und in leicht plätschernde Wellen opportunistischer Reformen zu verwandeln, blieben nahezu erfolglos. Als die Nachricht von den revolutionären Kämpfen und vor al- lem vom Sturz des Kaisers in Berlin und des sächsischen Königs in Dresden („Macht euern Dreck alleene“) Zittau erreicht hatte, versammelten sich am 9. No- vember 1918 spontan Tausende zum Ringen für eine demokratische Republik be- reite Menschen auf dem Markt und danach auf dem Bahnhof, weil dort eine De- legation des Dresdner Revolutionären Arbeiter- und Soldatenrats mit Otto Rühle1 eintreffen sollte. Auch in Zittau hatte der Rätegedanke unter dem Einfluss der Revolution in Russland einen großen Teil der werktätigen Massen ergriffen. Am 9. November wurde von den Vertrauensleuten der größten Zittauer Betriebe ein provisorischer Arbeiterrat gewählt, dessen Vorstand Otto Schembor als Vertreter der SPD, August Jochmann als Gewerkschaftsfunktionär und Oskar Stürmer von der USPD bildeten. Am gleichen Tag wählten die Soldaten der Zittauer Garnison – also die 102er – einen Soldatenrat mit dem Gefreiten Strobach an der Spitze. An der von beiden Räten gemeinsam am 10. November im „Hotel zur Sonne“ ein- berufenen Versammlung nahmen etwa 200 Menschen teil, darunter Oberbürger- meister Dr. Wilhelm Külz.2

1 Otto Rühle, seit 1896 Mitglied der SPD, 1912-1918 MdR, stimmte 1915/16 mit Karl Liebknecht gegen die Kriegskredite, war 1918 Führer der Dresdener Linksradikalen, Vorsitzender des Arbeiter- und Soldaten-Rates von Groß-Dresden, 1919 KPD, 1920 wegen linkssektiererischer Positionen ausgeschlossen. 2 Wilhelm Külz hatte damals noch nicht jene politischen Einsichten, die es ihm nach 1945 ermöglichten, sich an der Spitze der Liberaldemokratischen Partei Deutschlands in der DDR für eine demokratische Entwicklung einzusetzen. In Würdigung seines Wirkens ist am Zittauer Rathaus eine Gedenktafel angebracht.

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Bei der Versammlung im „Hotel zur Sonne“ kam es jedoch wegen der Hinhal- tepolitik der sozialdemokratischen Funktionäre nur zu endlosen Diskussionen. Beschlüsse zur Durchsetzung revolutionärer Ziele wurden nicht gefasst, vielmehr riefen die sozialdemokratischen Funktionäre ähnlich wie der Oberbürgermeister zu „Ruhe und Ordnung“ auf. Am 15. November fand im „Hotel zur Sonne“ die endgültige Konstituierung des Arbeiter- und Soldatenrates statt. Maßgebender Geschäftsführer wurde Otto Schembor (SPD), Vorsitzender des Soldatenrates der Gefreite Hängekorb. Die Leitungsmitglieder des Arbeiterrates waren aber gezwungen, der revolu- tionären Stimmung bei den Massen in gewissem Maße Rechnung zu tragen, was in manchen Fällen zu Differenzen mit der konservativen Stadt- und Kreisver- waltung führte. Ein Beispiel dafür war das am 15. November gegen den reak- tionären Beamtenapparat erzwungene Hissen der roten Fahne auf dem Zittauer Rathaus. Dieses Zeichen für die Revolution traf bei der Mehrheit der Zittauer Einwohner auf stürmische Zustimmung. In einer vom Kreisvorstand der SPD 1924 herausgegebenen Broschüre hieß es dazu: „Am nächsten Tage (dem 16.11.) holte sich dann eine Deputation des Arbeiter- und Soldatenrates bei den städti- schen Behörden die schriftliche Zustimmung ..., dass von dieser Seite kein Ent- gegenwirken gegen die revolutionären Bestrebungen stattfinde, sondern dass man diese anerkenne.“ Diese kaum revolutionär zu nennende Haltung versetzte den Oberbürgermeister in die Lage, sich vor der nur aus Vertretern des Bürger- tums bestehenden Stadtverordnetenversammlung damit zu rechtfertigen, dass er das Hissen der roten Fahne nicht mit Polizeigewalt verhindert habe, um Blutver- gießen zu vermeiden. Doch ganz so reibungslos, wie vom Oberbürgermeister und den Stadträten so- wie den führenden Funktionären des Arbeiter- und Soldatenrates gewünscht, ge- staltete sich noch längere Zeit nach den Novembertagen die Zusammenarbeit zwi- schen den alten Behörden und dem Arbeiter- und Soldatenrat nicht. Immer wieder kam es zu Kundgebungen und Demonstrationen, zu revolutionären Aktionen der Werktätigen. Das Streben nach sozialistischer Umgestaltung der Wirtschaft und Gesellschaft brachten besonders die Arbeiter der Großbetriebe – des Braunkoh- len- und des Kraftwerkes Hirschfelde, der Phänomen-Werke Zittau, der Mechani- schen Weberei Zittau – zum Ausdruck. Wie anderswo auch fehlte es hier an einer zielklaren Führung. Der Arbeiter- und Soldatenrat stellte nicht die Frage nach Übergabe der örtlichen Staatsmacht an die berufenen Vertreter der Arbeiter und anderer Werktätigen. Schembor, Fischer und andere sozialdemokratische Funk- tionäre riefen in Versammlungen und Presseerklärungen immer wieder dazu auf, für „Ruhe und Ordnung“ zu sorgen. Die Wahlen zur Sächsischen Volkskammer am 2. Februar 1919 brachten in der Amtshauptmannschaft Zittau der SPD und der USPD zusammen rund 30.000 Stimmen, die bürgerlichen Parteien kamen auf knapp 28.000. Das war ein ähnli- ches Ergebnis wie bei den Wahlen zur Nationalversammlung zwei Wochen zuvor.

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Als Vertreter der Zittauer Sozialdemokraten zog Otto Schembor in die Sächsische Volkskammer ein.3 Im Zusammenhang mit der Novemberrevolution steht in der Oberlausitz der so genannte Zittauer Putsch im Juli/August 1920. Wenige Wochen vor den Reichtagswahlen von 1920 kam es in Zittau zu einer bis dahin nicht gekannten Zuspitzung des Klassenkampfes. Die eigentliche Ursa- che für die im Juli beginnenden Aktionen waren die Hungerdemonstrationen im August 1919, die zu keiner Verbesserung der Lage der Menschen geführt hatten, die zunehmende Erwerbslosigkeit und die sich verschärfende Inflation, die die all- gemeine Not vergrößerten und die mangelhafte Lebensmittelversorgung ver- schlechterten. Als bekannt wurde, dass ein Lebensmittelhändler gesagt hatte, die Arbeiter sollten doch Sägespäne fressen, wenn sie kein Geld für Lebensmittel hät- ten, brach der Sturm los. Empörte Demonstranten zogen spontan zu diesem Ge- schäft in der Reichenberger Straße und verprügelten den Inhaber; die im Geschäft vorhandenen Lebensmittel wurden zu herabgesetzten Preisen verkauft. Ein her- beigerufener Trupp der Schutzpolizei griff zunächst nicht ein und zog sich wieder zurück. Die Empörung der Massen erreichte ihren Siedepunkt, als kurze Zeit darauf, vom Oberbürgermeister alarmiert, bewaffnete Hundertschaften der Landespolizei anrückten. Diese waren seit längerer Zeit wegen der immer wieder aufflammen- den revolutionären Stimmung der Zittauer Arbeiter von der Stadtverwaltung an- gefordert und in der Kaserne stationiert worden. Trotz Waffengebrauchs und ver- einzelter Schüsse gelang es der Sicherheitspolizei nicht, die Demonstranten zurückzudrängen. Am Abend sperrte die Polizei die Reichenberger Straße und den Rathausplatz mit Maschinengewehren und Drahtverhau ab. Dabei flammten im- mer wieder Schießereien auf, und es gab bei den Demonstranten die ersten Ver- letzten. Am nächsten Tag trat die Zittauer Arbeiterschaft aus Protest gegen die Willkür der Polizei in den Streik. Aus Solidarität legten neben den Belegschaften anderer Betriebe die Arbeiter des Großkraftwerkes Hirschfelde die Arbeit nieder und be- teiligten sich mit an der Großkundgebung auf der Schießwiese (heute Neubauge- biet Zittau-Ost). Zu den hier gestellten Forderungen an den Staatsapparat sprach auch der aus Berlin herbeigeeilte ehemalige Redakteur der „Volkszeitung“ Emil Rauch, der jetzt Mitglied des Parteivorstands der USPD war. Nach ergebnislosen Verhandlungen mit der Stadtverwaltung griff die sächsische Landesregierung mit einer so genannten Zivilkommission ein und ließ am 2. und 3. August per Flug- zeug über Zittau Flugblätter abwerfen, in denen die bedingungslose Einstellung des Generalstreiks gefordert wurde. Gleichzeitig wurde bekannt, dass General Müller, der reaktionäre Reichswehrgeneral (der später, im Herbst 1923, mit bruta- ler Waffengewalt über ganz Sachsen die Macht ausübte und viele Arbeiter nieder- 3 Nach 1933 folterten ihn die Nazis in Konzentrationslagern, er starb nach seiner Entlassung 1937. Sein Grab auf dem Krematoriumsgelände in Zittau ist vor Jahrzehnten eingeebnet worden.

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schießen ließ), in Absprache mit Innenminister Kühn von der SPD den Belage- rungszustand verhängte. Am 3. August wurden die ersten Reichswehrtruppen nach Zittau in Marsch ge- setzt. In dieser äußerst zugespitzten Situation wurden die örtlichen SPD-, USPD- und Gewerkschaftsfunktionäre wankelmütig und konnten aufgrund ihres bisheri- gen Einflusses erreichen, dass sich bei der von den Gewerkschaften durchgeführ- ten Urabstimmung 9.641 Arbeiter für die Beendigung des Generalstreiks ausspra- chen. Die junge KPD-Ortsgruppe konnte dies nicht verhindern. Aber immerhin waren noch 6.313 Arbeiter bereit, den Kampf fortzusetzen. Es steht außer Frage, dass die überwiegende Mehrheit der Streikenden nicht aufgegeben hätte, wenn die sozialdemokratischen und die Gewerkschaftsfunktionäre die proletarische Ein- heitsfront weitergeführt hätten. So rückten am 4. August 1920 zum zweiten Mal die Reichswehrverbände in Zittau ein, und am 5. August erzwangen sie die Wiederaufnahme der Arbeit, ob- wohl – wie die örtliche Führung der SPD eingestehen musste – die Arbeiter in Zit- tau in ihrer Mehrheit für die Fortsetzung des Streiks waren. Die meisten Mitglie- der des Fünfzehner-Ausschusses und andere klassenbewusste Arbeiter wurden verhaftet und abgeurteilt. Die Ereignisse erregten großes Aufsehen. Die Stadtverwaltung, die Amts- hauptmannschaft, die Kreishauptmannschaft Bautzen, die sächsische Landesre- gierung und der sächsische Landtag beschäftigten sich damit mehrfach. Am 4. August kamen die „Zittauer Vorgänge“ auch im Reichstag zur Sprache. Reichsinnenminister Koch erklärte dort, dass die „Zittauer Unruhen“ ein weiterer Beweis für die Notwendigkeit des so genannten Entwaffnungsgesetzes seien, wel- ches am 1. Oktober 1920 in Kraft treten sollte. Zugleich forderte er ein schärferes Vorgehen gegen die – wie er sie nannte – „Unruhestifter“.4 Anders berichtete über die Vorgänge in Zittau die „Rote Fahne“ der KPD. In ihrer Ausgabe vom 3. August 1920 hieß es: „Wir wissen nicht, was in Zittau in Wahrheit vorgefallen ist, wohl aber wissen wir, dass die deutsche Arbeiterschaft 1 in 1 /2 Jahren Revolutionserfahrung es gelernt hat, dass man nicht an einem iso- lierten Ort durch einen Handstreich die Räte-Diktatur errichten kann.“ Damit machte das KPD-Organ deutlich, dass nur bei Vorhandensein einer wirklich revo- lutionären Situation, und das nicht in einem kleinen abgekapselten Gebiet, die Macht der Bourgeoisie gestürzt werden kann. In diesem Sinne wirkte Rudolf Ren- ner, Sekretär der Bezirksleitung Ostsachsen der KPD, als er in seiner Rede am 4. August in Seifhennersdorf die Demonstranten zur Ruhe ermahnte und sich deut- lich gegen alle linkssektiererischen Kräfte wandte, die durch ihre unüberlegten Aktionen dem Geschehen nur schaden mussten. Die Ereignisse vom Juli und August 1920 erregten Aufsehen, sie ängstigten die örtliche Bourgeoisie, doch sie wurden nicht zu einer wirklich ernsthaften Gefahr

4 Siehe „Zittauer Morgen-Zeitung“ und „Zittauer Nachrichten und Anzeiger“, 5.8.1920.

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für die bürgerliche Klassengesellschaft; sie ließen sich eher von den herrschenden Kreisen zur Begründung undemokratischer Maßnahmen ausnutzen. Zugleich sind die Kampftage ein anschauliches Beispiel dafür, dass viele Arbeiter in Zittau, wie auch anderswo in Deutschland, durchaus zum Kampf um die Verwirklichung ih- rer Klasseninteressen bereit waren, dass ihre revolutionäre Stimmung von 1918 noch nicht abgeklungen war. Das sollte sich in den folgenden Kämpfen, besonders im Herbst 1923, zeigen...

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GÜNTER WEHNER Die Stahlwerker von Hennigsdorf bei Berlin in der Novemberrevolution

Bereits am Munitionsarbeiterstreik im Januar/Februar 1918 beteiligten sich 5.000 Arbeiter und Angestellte der Hennigsdorfer AEG-Betriebe und des Stahl- und Walz- werkes im Ort. Sie legten bis zum 5. Februar 1918 die Arbeit nieder. Die gesamte Produktion in den Großbetrieben brach zusammen. Organisiert wurde diese Streik- aktion durch eine rührige Spartakusgruppe in den AEG-Betrieben unter Leitung von Jakob Weber. Bedeutsam für die Arbeiterschaft dieser Betriebe in Hennigsdorf war der Entschluss, im Rahmen der Organisation der revolutionären Obleute eine be- waffnete Gruppe der Arbeiterschaft, die sogenannten „Schwarzen Katzen“, zu bil- den. So entstand in den AEG-Betrieben des Ortes eine bewaffnete Gruppe. Sie ver- teilte sich auf fast alle Bereiche der Werke: den Flugzeugbau, die Isolatorenwerke, die Lokomotivfabrik, den Scheinwerferbau und das Stahlwerk, das zu diesem Zeit- punkt noch zur AEG gehörte. Leiter war ein in Hennigsdorf illegal lebender Spar- takusgenosse. So gelang es noch vor dem Ausbruch der Novemberrevolution, einen revolutionären Kern in den Werken zu schaffen. Dazu gehörten die AEG-Arbeiter Oskar Dutschke, Wilhelm Heller, H. Kern, Karl Dunker, Hilde Steinbring, Karl Un- ger, Jakob Weber und ein Matrose, der ebenfalls illegal in Hennigsdorf lebte.1 Wesentlich komplizierter und langwieriger verliefen die Bemühungen, den Einfluss der reformistischen SPD-Führer auf die große Masse der Werktätigen zurückzudrän- gen. Sie verfügten über fast alle wichtigen Publikationsorgane der Partei. In den dort er- scheinenden Beiträgen zur politischen und militärischen Lage Deutschlands suggerierte die SPD-Spitze, dass sie nach dem Januarstreik 1918 eine umfassende Initiative für den Frieden und eine demokratische Umgestaltung des Landes in Gang gesetzt habe. Der Spartakusgruppe in Hennigsdorf gelang es trotzdem, die Werktätigen in den AEG-Fabriken des Ortes am 6. November 1918 für die sofortige Beendigung des Krieges zu mobilisieren. Der Landrat von Nauen benachrichtigte den Regierungs- präsidenten in , dass in den Hennigsdorfer AEG-Werken mit Flugblättern und mündlicher Agitation zum Streik aufgefordert wurde. Geschlossen legten am 9. November 1918 die ca. 10.000 Arbeiterinnen, Arbeiter, Angestellten die Arbeit nie- der. Siebzig Prozent der Belegschaft marschierten zunächst nach Schulzendorf und von dort zur Berliner Innenstadt weiter. In Berlin-Mitte erhielten die Hennigsdorfer Demonstranten Waffen und nahmen an der Massenkundgebung im Berliner Lust- garten teil, auf der Karl Liebknecht die sozialistische Republik ausrief. In einem Staatstelegramm berichtete an diesem Tag der Regierungspräsident von Potsdam an die „Meldestelle Innenreich“ Berlin, dass die Hennigsdorfer Fa-

1 Siehe Jakob Weber: Trotz Alledem! Berlin 1960, S. 122ff.

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briken von den Arbeitern übernommen worden seien. An der Spitze des Arbeiterrats, der ebenfalls am 9. November 1918 gebildet wurde, stand als Obmann des Betriebes Heinrich Weber. Die überwiegende Mehrheit der Mitglieder des zentralen Arbeiterra- tes, der sich aus Vertretern aller Fabriken des Ortes zusammensetzte, gehörte der USPD an.2 Ähnlich wie bei der Firma Schwartzkopf und in einigen anderen Berliner Großbetrieben erkämpften sich die Hennigsdorfer Werktätigen in den AEG-Betrieben weitgehende Kontrollrechte. Zu diesen Rechten gehörte, dass der Betriebsrat bei sei- ner Tätigkeit im Betrieb nicht behindert werden durfte, dass der engere Betriebsrat (er umfasste ein Drittel des Gesamtbetriebsrates) von der Betriebsarbeit befreit war und berechtigt war, in sämtlichen Hennigsdorfer AEG-Fabriken zu wirken. Einstellungen und Entlassungen durften nur mit Zustimmung des Betriebsrates vorgenommen wer- den. Im Nachbarort Velten wurde auf einer Versammlung, die von ca. 1.000 Einwoh- nern besucht war, ein provisorischer Arbeiter- und Soldatenrat gebildet.3 Am 13. November 1918 wurden in einer großen Versammlung im Speisesaal der AEG die Hennigsdorfer Arbeiterräte bestätigt. Gleichzeitig begann aber, wenn auch zunächst vorsichtig, von Berlin aus der Abbau der Räte. In den ersten Ver- lautbarungen sowohl des Rates der Volksbeauftragten wie der Preußischen Regie- rung wurde auf die konstituierende Versammlung bzw. die verfassunggebende Versammlung orientiert. Die Arbeiter- und Soldatenräte wurden bewusst ignoriert. Im Dezember 1918 beteiligten sich Arbeiter und Angestellte am Proteststreik gegen den Mord an 14 Demonstranten in der Berliner Chausseestraße. Im Ringen gegen die konterrevolutionäre Gefahr entschlossen sich revolu- tionäre Hennigsdorfer Arbeiter, in der AEG eine Ortsgruppe der KPD im Ort zu gründen. Etwa 35 Mitglieder der USPD und des Spartakusbundes bildeten die kommunistische Ortsgruppe. Die Hennigsdorfer Kommunisten mussten sich be- reits in den Berliner Januarkämpfen bewähren. Hilde Steinbring, Fritz Bojun, Oskar Dutschke, Wilhelm Heller, Kurt Unger und Jakob Weber gehörten zu den Verteidigern des „Vorwärts“-Gebäudes in Berlin. In Hennigsdorf zeigte sich am Beispiel der Arbeiterräte, dass das Zentrum re- volutionärer Tätigkeit zunächst nicht der Ort, sondern der Betrieb war. Das wi- derspiegelte die Protestresolution des Hennigsdorfer Arbeiterrates vom 18. Fe- bruar 1919, in der die schnelle Untersuchung des Mordes an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gefordert wurde. Sie wurde in der „Roten Fahne“ vom 28. Fe- bruar 1919 veröffentlicht. Die Arbeiterschaft des gesamten AEG-Konzerns – ca. 60.000 Arbeiter und Angestellte – schloss sich der Hennigsdorfer Resolution an. Ein bleibendes Ergebnis der Novemberrevolution für Hennigsdorf war, dass sich der Industrieort in den folgenden Jahren zu einem Zentrum der Arbeiterbewegung im Land Brandenburg entwickelte.

2 Siehe Claus Glöckner: Zur Geschichte der Arbeiterbewegung Hennigsdorfs (1917 bis 1933) unter besonderer Berücksichtigung des Kampfes der KPD um die Erweiterung ihres Masseneinflusses im Ort und dessen Be- trieben. Inaugural-Dissertation, vorgelegt an der Pädagogischen Hochschule Potsdam, April 1969, S. 160ff. 3 Siehe ebenda, S. 162 f.

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RALF HOFFROGGE Räteaktivisten in der USPD: Richard Müller und die Revolutionären Obleute in Berliner Betrieben1

Nach Beginn des ersten Weltkrieges bildete sich nicht nur innerhalb der sozialde- mokratischen Partei und ihrer Reichstagsfraktion Widerstand gegen den Krieg und die Politik des „Burgfriedens“. Auch in der Gewerkschaftsbewegung formierte sich eine schlagkräftige Opposition. Ausgehend von Berlin entstand mit dem Netzwerk der „Revolutionären Obleute“ eine einflussreiche Untergrundorganisa- tion, die letztendlich den Sturz der Monarchie entscheidend mit vorantrieb. Zu- sammen mit der Spartakusgruppe bildeten die Obleute seit 1917 den linken Flü- gel der USPD. Im Gegensatz zu den Anhängern Liebknechts und Luxemburgs sind jedoch ihre Aktivitäten im Geschichtsbewusstsein der Öffentlichkeit nicht präsent, und auch von Historikern und Historikerinnen wurden die Obleute bisher kaum in ihrer Bedeutung gewürdigt.2 Die Revolutionären Obleute entstanden aus der Berliner Branchengruppe der Dreher innerhalb des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes (DMV). Branchenleiter dieser Berufsgruppe war seit 1914 der Metallarbeiter Richard Müller, unter des- sen Leitung sich die Berliner Dreher seit Beginn des Krieges der Burgfriedenspo- litik der Gewerkschaften widersetzten und wilde Streiks und Lohnbewegungen durchführten. Ihre Stellung als qualifizierte Facharbeiter verlieh den Drehern eine starke Verhandlungsposition; daher konnten sie nicht nur eigene Forderungen durchsetzen, sondern auch für organisatorisch schwächere Arbeitergruppen und vor allem die Arbeiterinnen Zugeständnisse erreichen.3

1 Dieser Beitrag ist die überarbeitete Version eines gleichnamigen Aufsatzes, der im Heft I/2008 des JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung erschien - insbesondere am Schluss sind aufgrund neuer Quellenfunde weitere Informationen hinzugekommen. Beide Versionen basieren auf meinen Forschun- gen zur Biographie Richard Müllers, die mittlerweile als Monographie vorliegt: Ralf Hoffrogge: Richard Mül- ler - Der Mann hinter der Novemberrevolution, Berlin 2008. 2 Ausnahmen sind u. a. die längere Untersuchung von Erwin Winkler: Die Bewegung der revolutionären Ob- leute im ersten Weltkrieg. Entstehung und Entwicklung bis 1917, Dissertation, Humboldt Universität zu Ber- lin 1964; Ders. : Die Berliner Obleutebewegung im Jahre 1916, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Berlin, 16 (1968), S. 1422-1435; ein Unterkapitel bei Peter von Oertzen: Betriebsräte in der Novemberrevo- lution, Bonn-Bad Godesberg 1976, S. 71ff; sowie der Kurzüberblick von Bodo Hildebrand: Die Revolu- tionären Obleute – Keimzelle des Rätesystems im ersten Weltkrieg, in Jörn Garber/Hanno Schmitt: Die Bür- gerliche Gesellschaft zwischen Demokratie und Diktatur, Marburg 1985, S. 134-145. Zur Rätetheorie der Obleute siehe auch Guenter Hottmann: Die Rätekonzeptionen der revolutionären Obleute und der Links- (bzw. Räte-) Kommunisten in der Novemberrevolution. Ein Vergleich (unter Einschluss der Genese der Räte- konzeptionen), Examensarbeit, Göttingen 1980. 3 Siehe Richard Müller: Vom Kaiserreich zur Republik, Wien 1924, S. 94. Die organisatorisch schwächere Po- sition von Frauen war jedoch nicht naturgegeben, sondern beruhte darauf, dass die Gewerkschaften struktu- rell am Modell des männlichen Ernährers ausgerichtet waren, Frauenarbeit wurde oft nur als „Zuverdienst“ oder Ausnahmeerscheinung gesehen.

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Richard Müller, geboren 1880 im Dörfchen Weira im heutigen Thüringen, hatte sich noch 1913 in einer Veröffentlichung als eher typischer Gewerkschaftsvertre- ter seiner Zeit präsentiert. Im Vorwort einer Broschüre erklärte er es zum Ziel der Agitationsarbeit des DMV, „auch den letzten unserer Kollegen zum Kämpfer zu machen”, die Umsetzung dieses Ziels sah er allerdings am besten gewährleistet durch ein selbst entworfenes Kontrollsystem mit sechs verschiedenen, ausgeklü- gelt aufeinander abgestimmten Formblättern, welche die kontinuierliche Mitarbeit der Gewerkschaftsbasis sichern sollten. Einen Widerspruch zwischen Bürokratis- mus und Sozialismus sah Müller hier noch nicht.4 Wie bei vielen Funktionären und Mitgliedern in SPD und freien Gewerkschaf- ten bewirkte jedoch der Schock des Krieges und das Versagen der europäischen Sozialdemokratie in dieser Krise auch bei Richard Müller das Überdenken einge- fahrener Praktiken und einen erneuten Politisierungsschub. So entstanden schließ- lich unter seiner Führung die „Revolutionären Obleute“. Diesen Namen erhielt die Gruppe jedoch erst im November 1918, vorher agierte sie geheim und ohne ge- nauere Selbstbezeichnung. Die Obleute wirkten als Parallelstruktur innerhalb der Gliederungen des Berli- ner DMV, dessen offizielle Leitungsorgane den Krieg befürworteten. Zu Anfang wurden daher auf eigens organisierten „Dreherfesten“ oder im Anschluss an offi- zielle Gewerkschaftssitzungen informelle Kontakte geknüpft. Paul Blumenthal, seinerzeit Branchenleiter der Schweißer im DMV, berichtete in seinen Erinnerun- gen: „Auf den Konferenzen wurden gewerkschaftliche Fragen behandelt. Aber bald hatten sich die oppositionellen Genossen erkannt, und wir kamen dann anschließend noch beim Glase Bier zusammen. Wir bereicherten uns gegenseitig mit den gesammelten Erfahrungen, und das war gewissermaßen der Uranfang der Revolutionären Obleute in Groß-Berlin!”5 Die Bierrunden wurden schnell durch geheime Treffen ersetzt, das Netzwerk festigte sich, und man schritt zum syste- matischen Aufbau einer Widerstandsorganisation.6 Die Obleute knüpften teilweise an bestehende Vertrauensmänner-Systeme in den Berliner Großbetrieben an. Bereits vor dem Krieg gab es gewerkschaftliche Betriebsobmänner und Werkstattsvertrauensleute, die als Ansprechpartner für die Unternehmer dienten. Offizielle Betriebsräte waren diese Obleute jedoch nicht, sie hatten informellen Status, und ihre Anerkennung durch die Unternehmer war stets prekär. Müller und seine Genossen fassten nun die oppositionell gesinnten Obmänner zusammen. Dadurch, daß ein Obmann7 einen ganzen Betrieb oder ein ganzes

4 Siehe Richard Müller: Die Agitation in der Dreherbranche, Berlin 1913. 5 Erinnerungsmappe Paul Blumenthal, in BArch, SG Y 30/0079, S. 10. 6 Zur Entstehung der Obleute siehe auch Erinnerungsmappe Paul Eckert, in Barch, SG Y 30/0180, S. 5. 7 Es ist nur von der Position des „Obmannes“ die Rede, denn Obfrauen gab es in der Praxis nicht. Auch die Re- volutionären Obleute waren, wie sämtliche Organisationen der Arbeiterbewegung, ein Männerclub - obwohl sie gerade in Streiks auch viele Arbeiterinnen vertraten, denn die Frauenarbeit hatte im Zuge des Krieges enorm zugenommen. Allerdings wurde im Januar 1918 mit Cläre Casper auch eine Arbeiterin in die Berliner

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Werk vertrat, in dessen Abteilungen und Werkstätten er wiederum eigene Vertrau- ensleute hatte, konnten die Obleute trotz ihrer relativ geringen Zahl von etwa 50-80 Mitgliedern Tausende von Metallarbeitern und Arbeiterinnen erreichen. Die Obleute waren durch diese Struktur im Gegensatz zu USPD und Spartakusgruppe „keine Massenorganisation, zu der jeder Zutritt hatte, sondern ein ausgewählter Kreis von Personen, die eine gewisse Schulung und Erfahrung im politischen und gewerkschaftlichen Tageskampf genossen hatten und im Betrieb unter den Ar- beitern einen Einfluss haben mussten. Es war im wahren Sinne des Wortes ein `Vortrupp des Proletariats´.“8 Diese Formulierung Richard Müllers darf nicht im Sinne eines autoritären Avantgarde-Konzepts missverstanden werden: Trotz ihrer Mitgliedsbeschränkungen repräsentierten die Obleute durch ihre organische Verankerung in den Betrieben sehr authentisch die politische Stimmung innerhalb der Arbeiterklasse. Sie weigerten sich stets, politische Aktionen gegen den Mehr- heitswillen der Arbeiter und Arbeiterinnen zu erzwingen. Im Streikfall kam es oft auch zu Solidarisierungen und Sympathiestreiks in vom Netzwerk der Obleute nicht erfassten Betrieben, so dass die Gruppe bis zum Jahr 1918 in der Lage war, die gesamte Berliner Rüstungsindustrie lahmzulegen.9 Die Organisation war auf diese Weise nicht nur sehr effizient, sondern aufgrund der geringen Mitgliederzahl und des informell-geheimen Charakters sehr schwer von Polizei und Militärbehörden angreifbar. Zwar wurden nach den politischen Massenstreiks immer wieder Mitglieder und Anführer der Gruppe zum Kriegs- dienst verpflichtet. Im Unterschied zur Spartakusgruppe gelang es jedoch den Mi- litärbehörden niemals, das Netzwerk der Obleute aktionsunfähig zu machen oder einen Spitzel einzuschleusen. Nach Gründung der USPD im April 1917 schlossen sich die Obleute der neuen Partei an, agierten aber völlig unabhängig vom Parteivorstand und behielten ihr Organisationsprinzip bei. Man benutzte die USPD ähnlich wie die Gewerkschaf- ten als „organisatorische Plattform“, ohne sich in eigene Aktionsformen groß rein- reden zu lassen.10 In Streikfragen war die Hierarchie vollkommen auf den Kopf gestellt. Die Re- volutionären Obleute entschieden von sich aus, wann die Zeit reif war für größe- re Streikaktionen. Danach zogen sie den Parteivorstand hinzu, dieser konnte dann zustimmen oder es sein lassen. Vor dem Januarstreik 1918 etwa luden die Obleute Landtags- und Reichstagsfraktion der USPD zu einer Besprechung ein und ver- langten von diesen die Unterstützung eines Aufrufs zum revolutionären Streik.

Streikleitung gewählt und hinterher gleichberechtigt in den Kreis der Obleute aufgenommen. Siehe Erinne- rungsmappe Cläre Casper, in BArch SG Y 30/0148, S. 4, S. 15. 8 Müller, Vom Kaiserreich, S. 161f. 9 Gegen Ende des Krieges weiteten die Obleute ihre Verbindungen auch in andere Industriegebiete aus, beson- ders in Düsseldorf und bestanden starke Gruppierungen von Revolutionären Obleuten inner- halb des DMV. Siehe David W. Morgan: The Socialist Left and the German Revolution – A History of the German Independent Social Democratic Party, 1917-1922, Ithaca-London 1975, S. 211. Richard Müller selbst berichtet von einer reichsweiten Ausdehnung der Obleute (Müller, Vom Kaiserreich S. 161). 10 Siehe Müller, Vom Kaiserreich S. 161f.

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Die Parteivertreter zögerten zunächst, befürchteten Verhaftung oder gar ein Par- teiverbot, stimmten schließlich jedoch einem allgemein gehaltenen Aufruf zu, der sofortige „kräftige Willensbekundungen der werktätigen Bevölkerung“ forderte, aber nicht direkt zu Streik oder Umsturz aufrief.11 Letztendlich blieben die Obleute eine reine Arbeiterorganisation, der „Vortrupp des Proletariats“ agierte unabhängig von den Parteiintellektuellen in Reichstags- fraktion und USPD-Vorstand. Der einzige Intellektuelle, den die Obleute als einen der Ihren akzeptierten, war Ernst Däumig, ehemaliger Redakteur des SPD-Zen- tralorgans „Vorwärts“. Däumig war wegen seiner kriegskritischen Berichte zu- sammen mit weiteren Mitgliedern aus der Redaktion entfernt worden.12 Im Som- mer 1918 stieß er zu den Obleuten. Zu dieser Zeit war Richard Müller zeitweise zum Militär eingezogen worden. Gemeinsam mit dem späteren Volksbeauftragten Emil Barth übernahm Däumig bis zu Müllers Rückkehr im September 1918 die Führung der Obleute.13 Der Kurs der Obleute während des Krieges lässt sich am besten als pragma- tisch-radikal beschreiben. Sie standen durchaus links von der USPD-Führung, die vor außerparlamentarischen Aktionen zurückschreckte, lehnten aber die aktioni- stische Demonstrationstaktik der Spartakusgruppe ebenfalls ab. Liebknecht und die Spartakusgruppe forderten ständige Aktionen, Demonstrationen und Streiks. Polizeiaktionen und Zusammenstöße sollten die Situation eskalieren und letztlich zur Revolution führen. Die Revolutionären Obleute verspotteten diese Taktik als „revolutionäre Gymnastik“, Richard Müller selbst verurteilte sie als idealistischen Voluntarismus, dem die Arbeiter als Masse nicht folgen würden.14 Daher ließen die Obleute keine Spartakusvertreter in ihren regelmäßigen Sitzungen zu und stritten sich auf gesonderten Treffen mit Liebknecht und seinen Anhängern über die zu wählende Taktik. Trotz der Differenzen arbeiteten beide Gruppen bei entschei- denden Aktionen zusammen. Die politische Waffe und eigentliche Existenzbe- rechtigung der Revolutionären Obleute war der politische Massenstreik. Dieses Kampfmittel, über das Partei und Gewerkschaften Anfang des Jahrhunderts heftig gestritten hatten und das der Kölner Gewerkschaftskongress im Jahr 1905 für „indiskutabel“ erklärt hatte, wurde nun erstmals 1916 unter Leitung der Obleute von der Arbeiterklasse selbst verwirklicht.15

11 Siehe ebenda, S. 139. Erste Sondierungsgespräche für einen erneuten Massenstreik führte Paul Blumenthal bereits im Oktober 1917 mit den USPD-Politikern Georg Ledebour und Leo Jogiches (siehe Erinnerungs- mappe Paul Blumenthal, S. 13). Zum Januarstreik insgesamt siehe den Aufsatzband „Streiken gegen den Krieg“, herausgegeben von Lothar Wentzel und Chaja Boebel, Hamburg 2008. 12 Zur Biographie Däumigs siehe David. W. Morgan: Ernst Däumig and the German Revolution of 1918, in: Central European History, 1983 Vol XV, No. 4, S. 303-331, sowie Horst Naumann: Ein treuer Vorkämpfer des Proletariats. Ernst Däumig, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung (BzG) Berlin H. 6/1986, S. 801-813. 13 Siehe Müller, Vom Kaiserreich, S. 163. 14 Siehe Müller, Vom Kaiserreich, S. 165ff. 15 Zur Massenstreikdebatte siehe u. a. Hans Limmer: Die deutsche Gewerkschaftsbewegung, München 1986, S. 34f.

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Insgesamt drei große Massenstreiks organisierten die Revolutionären Obleute: Den Solidaritätsstreik für Liebknecht im Juni 1916, den „Brotstreik“ im April 1917 und den Januarstreik 1918. An diesem letzten Massenstreik nahmen in Ber- lin eine halbe Million Arbeiter und Arbeiterinnen teil, die Streikleitung nannte sich hier bereits „Arbeiterrat“ und war Vorbild für viele der einige Monate später in der Novemberrevolution spontan überall entstehenden Räte.16 Die Streikleitungen wurden überwiegend aus den Reihen der Obleute gewählt, beim Januarstreik zog man allerdings auch Vertreter von USPD und sogar SPD hinzu, um die Basis der Aktionen zu verbreitern. Die wilden Massenstreiks, ins- besondere in der Rüstungsindustrie, waren in den Augen von Militärbehörden und Regierung die wohl beängstigendsten Manifestationen des Widerstandes. Weder das Bündnis zwischen Staat, Militär und Gewerkschaftsspitzen noch Massen- verhaftungen und Einziehungen zum Militär nach jedem Streik konnten den Aus- bruch neuer Massenstreiks verhindern. Die Initiative zu diesen Aktionen ging stets vom Kreis der Obleute aus, die USPD-Führung scheute sich aus Angst vor staat- lichen Repressalien vor Streikaufrufen, die Spartakusgruppe hingegen hatte nicht annähernd den Rückhalt in den Betrieben, den die Revolutionären Obleute aufweisen konnten, und konnte nur lokale Streiks organisieren. Das Netzwerk der Revolutionären Obleute war also, insbesondere nach der 1917 erfolgten Auswei- tung über den Großraum Berlin hinaus, die entscheidende Oppositionskraft während des Weltkrieges. Die Funktion der Aufklärung und kritischen Meinungsbildung innerhalb der Arbeiterklasse wurde allerdings vollständig von USPD und Spartakusgruppe übernommen. Sie prägten mit ihren Zeitungen und Flugblättern die Diskussion, agitierten gegen Krieg, Burgfrieden und Belagerungszustand und entlarvten die Regierungspropaganda. Auch für die Radikalisierung der Obleute selbst war diese Agitation entscheidend, auch sie wurden erst im Verlauf des Krieges zu Revolu- tionären.17 Die Obleute selbst schrieben keine Flugblätter, sie agierten nur heim- lich und gaben erst Wochen nach der Revolution erstmals eine Presseerklärung unter ihrem Gruppennamen heraus.18 Stattdessen beschränkten sie sich zwischen den Streiks auf die Ausweitung ihres Netzwerkes und das Gewinnen neuer Ver- trauensmänner. Nur wenn sie die Stimmung innerhalb der Arbeiterklasse für reif erachteten, riefen sie einen Streik aus. Ihr Ziel war, durch wuchtige Überra- schungsschläge die Militärdiktatur von Ludendorff und Hindenburg in die Knie zu zwingen.

16 Siehe Dieter Schneider/Rudolf Kuda: Arbeiterräte in der Novemberrevolution, Frankfurt am Main 1968, S. 21. 17 Fritz Opel bemerkt zu Recht, dass die Obleute zunächst kein eigenes politisches Konzept hatten und trotz Au- tonomie in der Aktion ideologische Anlehnung an Spartakus und USPD benötigten. Siehe Fritz Opel: Der deutsche Metallarbeiter-Verband während des ersten Weltkrieges und der Revolution, Hannover-Frankfurt a. M. 1957, S. 55. Zur Radikalisierung der Obleute von Lohnstreiks über radikalen Pazifismus hin zu einer ak- tiv revolutionären Haltung siehe Hoffrogge, Der Mann hinter der Novemberrevolution, S. 25-63. 18 Siehe Morgan, The socialist Left, S. 209.

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Die eigentliche Revolution ging jedoch nicht von Berlin aus. Die Kieler Ma- trosen kamen den Obleuten zuvor, obwohl diese im Laufe des Jahres 1918 Waf- fen gesammelt und detaillierte Aufstandspläne vorbereitet hatten. In einer Geheimsitzung am 2. November mit den Revolutionären Obleuten, Vertretern der Spartakusgruppe und der USPD war entschieden worden, nicht am 4., sondern erst am 11. November loszuschlagen. Grund für die Verzögerung war, dass man sich weder über die Stimmung in der Provinz noch über die Zuverläs- sigkeit der Berliner Truppen völlig sicher war. Und ein verfrühtes Losschlagen sollte auf jeden Fall vermieden werden.19 Als nun die Revolte der Flotte die Revolution in Gang setzte, mussten die Pläne eilig geändert werden, kurzfristig wurde am 8. November für den nächsten Tag das Losschlagen beschlossen, und am 9. November stürzte dann die Herrschaft der Hohenzollern in Berlin zusammen. Die Obleute versammelten sich im Reichs- tag, wo gerade eine eher zufällig zusammengesetzte Versammlung von Soldaten- räten tagte. Hastig wurden für den nächsten Tag die Wahl von Arbeiter- und Sol- datenräten in ganz Berlin und eine Zusammenkunft derselben im „Zirkus Busch“ verkündet, auf der eine Revolutionsregierung gewählt werden sollte. Dies geschah dann auch. Statt jedoch den Revolutionsausschuss in Berlin zu dominieren und somit faktisch die Regierung zu stellen, mussten sich die Obleute aufgrund des chaotischen Verlaufs der Aktionen und der schnellen Reaktion der SPD mit der Parität USPD-SPD in den entscheidenden Gremien abfinden. Bei den USPD-Mandaten stellen sie eine Person im „Rat der Volksbeauftragten“ und alle USPD-Mandate im „Berliner Vollzugsrat der Arbeiter und Soldatenräte“20. Rich- ard Müller wurde Vorsitzender des Vollzugsrates, der Obmann Emil Barth wurde Volksbeauftragter in der neuen Regierung Ebert-Haase. Die Obleute im Vollzugsrat lagen nun in stetigem Kampf mit den Soldatenver- tretern und der SPD-Fraktion sowie mit dem Rat der Volksbeauftragen als Ganzes. Die zunächst von Müller und Däumig propagierte Aufstellung einer revolu- tionären Roten Garde scheiterte. Der Vollzugsrat hatte somit keine eigene Macht- basis, und die Initiative lag allein beim Rat der Volksbeauftragen, in dem die SPD- Vertreter sich gegenüber den Unabhängigen in allen entscheidenden Fragen durchsetzten. Statt einer revolutionären Räterepublik, wie sie die Obleute im Blick hatten, trieben die Dinge nun immer mehr auf eine bürgerlich-parlamentarische Republik hin. Sogar der erste Reichsrätekongress am 16. Dezember entschied sich gegen die Festschreibung des Rätesystems und für die Wahl zu einer Nationalver- sammlung. Richard Müller, der den Kongress eröffnet hatte, schimpfte ihn des- halb wenige Tage später einen „Selbstmörderklub“.21

19 Siehe Müller, Vom Kaiserreich, S. 173. 20 Zu den Revolutionsorganen siehe Ingo Materna: Der Vollzugsrat der Berliner Arbeiter und Soldatenräte 1918/19, Berlin 1978, sowie Susanne Miller: Die Regierung der Volksbeauftragen 1918/1919, Düsseldorf 1969. 21 Siehe Rede Richard Müllers, Archiv der Sozialen Demokratie, Nachlass Paul Levi, 1/PLAA000060. Höchst-

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Die Krise der Revolution führte im Dezember 1918 zur Krise zwischen Obleu- ten und USPD-Vorstand. Eine Presseerklärung der Obleute verlangte den soforti- gen Rücktritt der USPD-Volksbeauftragten, eine Distanzierung der Partei von der SPD und die Führung des Wahlkampfes zur Nationalversammlung klar gegen die Mehrheitssozialisten. Müller und Däumig weigerten sich zudem, mit dem USPD- Vorsitzenden Hugo Haase auf eine Kandidatenliste für die Wahl gesetzt zu wer- den. Sie stellten eine eigene linke Liste unter Beteiligung Karl Liebknechts auf, was jedoch von der überrumpelten Parteibasis abgelehnt wurde. Die Obleute wa- ren nun innerhalb der USPD isoliert.22 Dennoch schlossen sie sich zunächst nicht der vom Spartakusbund am 1.1.1919 neu gegründeten KPD an. Wegen ihres An- tiparlamentarismus und des Vorherrschens der Syndikalisten und Ultralinken war die junge Partei den Obleuten suspekt.23 Die Obleute blieben in der USPD, führten ihre Politik allerdings weiterhin un- abhängig vom Parteivorstand fort. Ihr Aktionsfeld war die Arbeiterrätebewegung, die sich seit Anfang 1919 aus den zunächst sehr heterogenen und ohne Programm agierenden Rätestrukturen entwickelte. Denn obwohl das Organisationsprinzip der Obleute, die Matrosenräte und die Berliner Streikleitung von 1918 schon rä- teförmig waren, gab es bisher keinerlei Theorie oder Konzept für ein Rätesystem innerhalb der sozialistischen Arbeiterschaft. Wie in Russland entstanden die Räte auch in Deutschland spontan aus der Praxis des politischen Kampfes heraus.24 Richard Müller und Ernst Däumig gründeten nun die Zeitschrift „Der Arbeiter- Rat“, entwarfen quasi nachträglich eine eigene Rätetheorie, das sogenannte „reine Rätesystem“. Hier wurde erstmals der Entwurf einer kompletten Rätedemokratie vom einzelnen Betriebsrat über Industriegruppen- , Bezirks- und Branchenräte bis hin zu einem Reichswirtschaftsrat vorgelegt.25 Anfang 1919 wurden die Forderungen nach Sozialisierung und Arbeiterkon- trolle, die vom Rat der Volksbeauftragten bisher verschleppt worden waren, be- ständig lauter. In den Fabriken und Bergwerken sah man die Revolution noch nicht als abgeschlossen an, die Enttäuschung über die hinhaltende, in den Januar- kämpfen 1919 blutig repressive Politik der SPD wuchs innerhalb der gesamten

wahrscheinlich handelt es sich bei dem undatierten Dokument um eine Rede vor der Berliner Vollversamm- lung der Arbeiter- und Soldatenräte am 23.12.1918. 22 David Morgan schätzt das Gewicht der Obleute in der Partei sehr hoch ein und macht unter anderem ihre par- teipolitische Unerfahrenheit für die Erfolglosigkeit der Intervention verantwortlich: „With a credible program and shrewd political leadership, they could have mounted a formidable threat to the established direction, or even the existence, of the USPD. Their lack of these assets, than and later, was important for the history of the party.” (The Socialist Left, S. 211.) 23 Siehe Hoffrogge, Der Mann hinter der Novemberrevolution, S. 96 ff. 24 Als Vorläufer ist allerdings die versammlungsdemokratische Praxis der Gewerkschaftsbasis anzusehen. Siehe dazu Dirk. H. Müller: Gewerkschaftliche Versammlungsdemokratie und Arbeiterdelegierte vor 1918, Berlin 1985. 25 Müllers und Däumigs Schriften zum reinen Rätesystem sind in Auszügen nachzulesen bei Schneider/Kuda, eine ausführliche Analyse des reinen Rätesystems und ein Vergleich mit anarchosyndikalistischen Vorstellun- gen findet sich bei Guenter Hottmann: Die Rätekonzeptionen (Anm. 2); zur Rätetheorie siehe auch Hoffrogge, Der Mann hinter der Novemberrevolution, S. 108-116.

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Arbeiterschaft. Aus dieser Stimmung heraus entwickelte sich im Frühjahr 1919 eine Streikwelle im ganzen Reichsgebiet mit Zentren in Berlin, Mitteldeutschland und im Ruhrgebiet. Diese Streikwelle war die stärkste Machtdemonstration der Anhänger des Rätesystems, einer Bewegung, die nun weit über den Kreis der Obleute hinausging und die Mehrheit der Arbeiterklasse erfasste. Insbesondere durch die mitteldeutschen Streiks, welche die Nationalversammlung in Weimar praktisch umzingelten, war die Frage „Parlamentarische Republik oder Rätesy- stem?“ wieder offen. Doch die Streiks erlitten dasselbe Schicksal wie alle weiteren Versuche, die Re- volution von links voranzutreiben. Sie waren lokal und ungleichmäßig verteilt, zeitlich nicht aufeinander abgestimmt und konnten somit durch die Regierung, in der nunmehr die SPD alleine vertreten war, einzeln niedergeschlagen werden.26 Richard Müller und Wilhelm Koenen erkannten diese Problematik, ihr Versuch ei- ner gesamtdeutschen Koordination der Streiks schlug jedoch fehl. Die finale Nie- derlage der Streikwelle markierten die blutigen Märzkämpfe in Berlin, in denen die Bezirke Lichtenberg und Friedrichshain nur unter Einsatz von schwerer Artil- lerie und mit hohem Blutzoll den aufständischen Arbeitern abgekämpft werden konnten. Regierung und rechte Freikorps hatten bewusst die militärische Kon- frontation gesucht, um den Widerstand der Arbeiter zu brechen.27 Die gewaltsame Niederschlagung des Januaraufstandes in Berlin und der Streikwelle im Frühjahr hatte alle Hoffnungen auf ein bewaffnetes Weitertreiben der Revolution zunichte gemacht. Die Nationalversammlung und somit die parla- mentarische Natur der neuen Staatsverfassung waren nun Fakten, die auch die Verfechter des Rätesystems nicht mehr ignorieren konnten. In dieser Situation kam es zu einer Kursänderung. Der neue Kompromisskurs von Richard Müller und Ernst Däumig lautete: Integration des Rätesystems in die Verfassung.28 Vor- angetrieben wurde dieser Kurs nun vor allem von den USPD-Arbeiterräten, in de- nen die Gruppe der Obleute mehr oder weniger aufgegangen war, nachdem sie im Januaraufstand 1919 eine heftige Niederlage erlitten hatte. Denn obwohl Müller und Däumig diesen Aufstand von Anfang an als verfrüht abgelehnt hatten, hatte sich eine Mehrheit der Obleute am Aufstand beteiligt. Die Niederlage schwächte den Zusammenhalt der Obleute, aber ihre wesentlichen Akteure blieben im Rah- men des Vollzugsrates und der Arbeiterräte weiterhin gemeinsam aktiv. Nach diesen Niederlagen wurde die Rätebewegung zu einer Betriebsrätebewe- gung, ihre Anhänger wollten den neuen Arbeitervertretungen soviel Macht als

26 Richard Müller machte später die Demoralisierung nach dem verfrühten Berliner „Januarputsch“ dafür ver- antwortlich, dass die Streiks in Berlin erst losgingen, als sie in anderen Gebieten schon auseinanderfielen, und dass somit keine einheitliche gesamtdeutsche Streikfront entstehen konnte. Siehe Richard Müller: Der Bür- gerkrieg in Deutschland, Berlin 1925, S. 154. 27 Zum Verlauf der Streikwelle siehe Müller, Bürgerkrieg, S. 124-163, sowie Morgan, The Socialist Left, S. 230ff. Über die Märzkämpfe in Berlin siehe auch den Zeitzeugenbericht von Franz Beiersdorf, BArch SAPMO, DY 30 IV 2/2.01. 28 Siehe Morgan, The Socialist Left, S. 252.

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möglich sichern, um sie als Ausgangspunkt für weitere politische Kämpfe in Rich- tung Sozialisierung und Arbeiterkontrolle auszubauen. Ließ der Artikel 165 der Weimarer Verfassung noch Raum für weitergehende Kontrollrechte der Arbeiter, so bedeutete das neue Betriebsrätegesetz im Jahre 1920 eine entscheidende Nie- derlage der Rätebewegung. Die Betriebsräte wurden zu reinen Arbeiterausschüs- sen degradiert, eine Kontrolle der Unternehmensleitung oder Mitspracherechte in der Produktion hatten sie nicht. Die Betriebsräte wurden zu dem, was sie auch heute noch sind: Interessenvertretungen der Arbeitenden gegenüber dem Unter- nehmer, der allerdings grundsätzlich Herr im Hause ist und sowohl über Produk- tionsmittel als auch über Unternehmensgewinne frei verfügen kann. Der letzte Akt der Rätebewegung war der Kampf mit den Gewerkschaften um die Betriebsrätezentrale. Die Frage lautete: Organisation der Betriebsräte inner- halb der Gewerkschaften oder selbständige Dachorganisation aller Betriebsräte als revolutionäres Kampforgan? In Berlin hatte sich Richard Müller nach Auflösung des Vollzugsrates im August 1919 letzterem Zweck gewidmet. Als Nachfolger des aufgelösten Vollzugsrates wurde von ihm und anderen aus dem Kreis der Obleute eine selbständige Betriebsrätezentrale aufgebaut, die auch von den örtlichen Ge- werkschaftsorganen mitgetragen wurde. Gemeinsam mit dem Kommunisten Heinrich Brandler verteidige Richard Müller dieses Modell der selbständig-revo- lutionären Betriebsrätebewegung auf dem 1. Betriebsrätekongress vom 5.-7. Ok- tober 1920 in Berlin.29 Der Übergang Müllers und einer Mehrheit der Obleute zur KPD bahnte sich hier schon an. Bei der Spaltung der USPD auf dem Parteitag in Halle wenige Tage später waren Müller und seine Genossen Verfechter des Anschlusses an die Kom- munistische Internationale und der damit verbundenen „21 Bedingungen“. An die- ser Frage zerbrach die USPD. Müller wurde 1920 einige Monate Mitglied im Zen- tralkomitee der USPD-Linken, nach dem Anschluss deren linken Flügels an die KPD im Dezember 1920 wurde er Vorsitzender der Reichsgewerkschaftszentrale der KPD. Mit dem Gewinn dieses linken USPD-Flügels einschließlich eines we- sentlichen Teils der Betriebsrätebewegung war die KPD nun schlagartig zur Mas- senpartei geworden.30 In der Auseinandersetzung um die Betriebsräte trugen allerdings die Gewerk- schaften den Sieg davon. Trotz eines antikapitalistischen Konsenses und feuriger Reden von Gastrednern aus Sowjetrussland konnten sich Müller und Brandler auf dem Betriebsrätekongress nicht durchsetzen. Stattdessen wurde ein Antrag Robert Dißmanns angenommen, der zwar auch die Betriebsräte als revolutionäres Kampforgan beschwor, ihre Zusammenfassung aber unter dem Dach der bisher konservativ agierenden Gewerkschaftsführungen vorsah. Obwohl der Beschluss

29 Siehe Protokoll der Verhandlungen des ersten Reichskongresses der Betriebsräte Deutschlands - Abgehalten vom 5.-7.10.1920 zu Berlin, Berlin 1920. 30 Zur USPD Spaltung siehe u. a. Hartfrid Krause: USPD – Zur Geschichte der Unabhängigen Sozialdemokra- tischen Partei Deutschlands, Frankfurt am Main 1975, S. 132-216.

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sich explizit und kämpferisch für den Sturz des Kapitalismus einsetzte, bedeutete er doch faktisch die Niederlage für die revolutionäre Rätebewegung. Die Be- triebsräte wurden Organe der Gewerkschaften, die selbständige politische Räte- bewegung in Deutschland war damit beendet. Müller, Däumig und viele weitere Obleute wirken nun in der KPD weiter, und zwar in hohen Positionen: Däumig als Parteivorsitzender, Müller als Leiter einer neu geschaffenen Reichsgewerkschaftszentrale, die aus der Betriebsrätezentrale heraus gegründet wurde. Däumig musste jedoch bereits kurz nach Antritt seinen Posten räumen, und nach den Märzkämpfen 1921 in Mitteldeutschland verlor auch Richard Müller seine Position. Wie schon im Januar 1919 hielt Müller den Aufstandsversuch für einen taktischen Fehler und behielt auch diesmal recht. Die Partei war jedoch nicht bereit, diese Kritik zu akzeptieren, und drängte Müller in die Opposition. Nachdem schlichtende Eingriffe Lenins die Partei kurz stabilisiert hatten, setzte sich jedoch gegen Ende des Jahres die Linie des Vorstands wieder durch, und Müller wurde im Januar 1922 gemeinsam mit anderen Oppositionellen aus der KPD ausgeschlossen.31 Nachdem die Anti-Kriegsopposition gegenstandslos geworden und die selb- ständige Rätebewegung eingegangen war, waren die Politikformen von Müller, Däumig und dem Kreis der Obleute an ihr Ende angelangt. Träger der politischen Kämpfe waren nun alleine die Parteien, für die ökonomischen Kämpfe waren die Gewerkschaften zuständig – eine Arbeitsteilung, die wesentlich zum Versagen der Arbeiterbewegung im Jahre 1914 beigetragen hatte, war damit wiederhergestellt. Auch die in der deutschen Arbeiterbewegung einmalige Eigenaktivität der Basis und ihr Gewinn an Handlungsmacht gegenüber den hauptamtlichen Apparaten war mit dem Ende der Räte im wesentlichen beendet. Den verbliebenen Obleuten fehlte nun die politische Heimat. Innerhalb der KPD waren sie seit der Absetzung Müllers und der Disziplinierung der Reichsge- werkschaftszentrale isoliert, von der SPD wollten sie nichts wissen, eine USPD als starke Mittelkraft existierte nicht mehr. Das Zusammenspiel von radikaler Ba- sisbewegung und Parlamentsopposition einer Partei, das von Obleuten und USPD während des Krieges und auch danach teilweise sehr erfolgreich praktiziert wurde, konnte durch die sich abzeichnende Bolschewisierung der KPD nicht er- halten werden. Auch Versuche, die Obleutebewegung als parteiunabhängige Struktur zu reaktivieren, scheiterten.32 Einzelne Obleute blieben in der KPD aktiv, andere wandten sich der Kommunistischen Arbeitsgemeinschaft (KAG) zu oder verließen die Politik ganz. Der Zusammenhang als solcher, schon im Januar 1919 brüchig geworden, verliert sich hier endgültig. Ebenso wenig wie es ein Grün- dungsdokument gab, gibt es keine offizielle Auflösungserklärung der Revolu- tionären Obleute.

31 Siehe Reiner Tosstorff: Profintern - Die Rote Gewerkschaftsinternationale 1921-1937, S. 392-395. 32 Siehe Sigrid Koch-Baumgarten: Aufstand der Avantgarde, Frankfurt-New York 1986, S. 418ff.

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Richard Müller blieb nach 1922 parteilos und begann eine kurze Karrie- re als Historiker. Bis 1925 war er als Autor sehr produktiv und verfasste mit den Titeln „Vom Kaiserreich zur Republik“, „Die Novemberrevolution“ und „Der Bürgerkrieg in Deutschland“ drei einflussreiche Werke zur Revolutionsge- schichte.33 Nach einem kurzen Intermezzo bei der Linksgewerkschaft „Deutscher Industrieverband“ um 1929 zog sich Richard Müller endgültig aus der Politik zurück. Er erwarb um 1930 ein Vermögen als Bauunternehmer, war jedoch wohl nur wenige Jahre in dieser Branche tätig. Informationen darüber sind uns lediglich durch Presseberichte über heftige Mietrechtsstreitigkeiten überliefert. Wider- standshandlungen gegen den Faschismus sind von Richard Müller nicht bekannt, wahrscheinlich ist, dass er sich seit Anfang der 30er Jahre völlig ins Privatleben zurückzog. Richard Müller starb am 11. Mai 1943 in Berlin, Todesursache und Grabstätte sind bis heute unbekannt.34

33 Zur Rezeptionsgeschichte der Müllerschen Werke siehe Hoffrogge, Der Mann hinter der Novemberrevolution, S. 171-183. 34 Zu Müllers letzten Lebensabschnitten siehe ebenda, S. 198ff.

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GERHARD ENGEL Draufgängertum zwischen Diktatur und Demokratie: Johann Knief in der revolutionären Hochburg Bremen

Einer der interessantesten Akteure der deutschen Revolution 1918/19 war ohne Frage Johann Heinrich Knief1, geboren 1880 in der aufblühenden Industrie- und vor allem Werftenstadt Bremen, in der sich in rasantem Tempo ein industrielles Proletariat zusammenballte, dessen soziale Emanzipationskämpfe bereits im er- sten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts den Nährboden für eine mehrheitlich links ori- entierte Sozialdemokratie bildeten.2 Johann Knief, fleißiger Schüler aus einer kleinbürgerlichen Familie, strebsamer Zögling des Bremer Lehrerseminars, war 1901 in den bremischen Volksschul- dienst eingetreten. Frühzeitig in Opposition zum verkrusteten Schulsystem, wurde er einer der Aktivisten der linksliberalen Schulreformbewegung um Fritz Gans- berg und Wilhelm Scharrelmann, damals die am weitesten links operierenden Schulreformer, deren Forderungen nach Trennung von Schule und Kirche, nach Einheits- und Arbeitsschule und nach einer durchgreifenden Demokratisierung des Schulwesens vom Sozialdemokratischen Verein Bremen, an dessen Spitze Wilhelm Pieck stand, und von der „Bremer Bürger-Zeitung“ mit ihrem Chefre- dakteur nachdrücklich unterstützt wurden.3 Knief, von früh auf bil- dungsbeflissen und dem Lebensprinzip ergeben, jede Halbheit abzulehnen und je- den Konflikt bis zur äußersten Konsequenz auszutragen, als Lehrer mit dem sozialen Milieu und den Kämpfen der Bremer Arbeiter bestens vertraut, befand sich bald auf dem linken Flügel der Schulreformer. Über die dort aktiven sozial- demokratischen Lehrer Wilhelm Holzmeier, Emil Sonnemann und Heinrich Eil- dermann kam er rasch in Kontakt zur Sozialdemokratie und wurde 1905 Mitglied der SPD. Aus diesem Jahr stammt ein Foto, das Knief bereits im Gruppenbild mit den Zentralgestalten der Bremer Parteiorganisation zeigt: Pieck, Henke, Heinrich Schulz u. a.4 Nach Piecks Weggang aus Bremen 1910, in jenem Jahr, in dem die sozialdemokratischen Lehrer des Stadtstaates mit ihrer demonstrativen Gratula-

1 Zur Biographie Kniefs siehe die Skizzen von Herbert Schwarzwälder: Johann Knief (1880-1919). Vom Volks- schullehrer zum kommunistischen Revolutionär, in DerS. : Berühmte Bremer, München 1972, S. 152-202; und Gerhard Engel: Johann Knief – Biographisches zu seinem Platz in der Geschichte der deutschen Linken, in JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, H. III/2005, S. 112-133. 2 Zur Geschichte der Bremer Sozialdemokratie in der Vorkriegszeit siehe Karl Ernst Moring: Die Sozialdemo- kratische Partei in Bremen 1890-1914, Hannover 1968, S. 69-205; Hansgeorg Conert: Reformismus und Ra- dikalismus in der bremischen Sozialdemokratie vor 1914. Die Herausbildung der „Bremer Linken“ zwischen 1904 und 1914, Bremen 1985. 3 Zur Schulreformbewegung in Bremen siehe Dirk Hagener: Radikale Schulreform zwischen Programmatik und Realität. Die schulpolitischen Kämpfe in Bremen vor dem Ersten Weltkrieg und in der Entstehungsphase der Weimarer Republik, Bremen 1973, bes. S. 79-101. 4 Siehe Christian Paulmann: Die Sozialdemokratie in Bremen 1864-1964, Bremen 1964, neben S. 121.

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tion zu August Bebels 70. Geburtstag deutschlandweites Aufsehen erregt hatten, war Knief de facto das Haupt der Bremer Linken oder Linksradikalen, wie sie sich zur Abgrenzung von jenen Radikalen nannten, die in einigen Fragen zu Kompro- missen mit der nach rechts driftenden Parteiführung und Reichstagsfraktion bereit waren. Der Verfolgungsjagd der Behörden auf die sozialdemokratischen Lehrer entzog sich Knief 1911 durch seinen Abschied aus dem ihm verhassten, erstarrten und auch im liberalen Bremen verpreußten Schuldienst. Eine erfolgreiche Schulre- formbewegung schien ihm ohnehin nur noch möglich, wenn die Sozialdemokra- tie eine sozialistische Gesellschaftsumwälzung erkämpfen würde. Knief zog es daher in die hauptberufliche Parteiarbeit für die Sozialdemokratie. Er wurde zwei- ter politischer Redakteur der „Bremer Bürger-Zeitung“. Seit 1912, als Henke in den Reichstag gewählt wurde, war er faktisch ihr politischer Kopf. Ihre Spalten standen den namhaftesten deutschen Linken zur Verfügung. Sie war das wichtig- ste Sprachrohr der damals in Bremen wirkenden Revolutionäre Anton Pannekoek und , in denen Knief seine Lehrer sah. Am Beginn des Krieges nahm die Zeitung eine eindeutig gegen die sogenannte Vaterlandsverteidigung und den „Burgfrieden“ gerichtete Haltung ein. Dies gilt mit Abstrichen noch bis in das Jahr 1916, als die Rechtssozialisten, obwohl in Bremen die „Minderheitssozialdemo- kraten“, das Parteiblatt usurpierten. Der von den Linken dominierte Sozialdemo- kratische Verein Bremen wurde bereits 1916 aus der SPD ausgeschlossen.5 Johann Knief, genesen von einem Nervenzusammenbruch, den er als Soldat an der West- front erlitten hatte, und Paul Frölich gaben ab Juni 1916 die „Arbeiterpolitik. Wo- chenschrift für wissenschaftlichen Sozialismus“ heraus, das einzige legal erschei- nende Organ der deutschen Linken während der zweiten Kriegshälfte. Es stand in schärfster Frontstellung gegen die Burgfriedenspolitik und ihre sozialdemokrati- schen und gewerkschaftlichen Befürworter, kritisierte mit gleicher Heftigkeit auch die verspätete Kreditablehnung durch das sogenannte Parteizentrum und dessen Wankelmütigkeit gegenüber Parteivorstand und Fraktion. In den Antikriegsaktio- nen völlig eins mit der Spartakusgruppe und anderen linken Gruppierungen in Deutschland, forderten Knief und seine Anhänger von der Spartakusgruppe die Bildung einer eigenständigen konsequent linken Partei, blieben der USPD fern und missbilligten den Anschluss an sie der Spartakusgruppe.6 Johann Knief musste im April 1917 in die Illegalität gehen, wurde Ende Januar 1918 in München verhaftet und als sogenannter Schutzhäftling in die Berliner

5 Die Geschichte der bremischen Sozialdemokratie und ihrer Spaltung während des ersten Weltkrieges behan- delt Erhard Lucas: Die Sozialdemokratie in Bremen während des ersten Weltkrieges, Bremen 1969; siehe auch Wilhelm Eildermann: Jugend im ersten Weltkrieg. Tagebücher, Briefe, Erinnerungen, Berlin 1972, sowie Ger- hard Engel: Rote in Feldgrau. Kriegs- und Feldpostbriefe junger linkssozialdemokratischer Soldaten des Er- sten Weltkrieges, Berlin 2008, S. 30-36. 6 Siehe die zahlreichen einschlägigen Artikel in der „Arbeiterpolitik. Wochenschrift für wissenschaftlichen Sozialismus“. Unveränderter Neudruck mit einer Einleitung von Gerhard Engel, Bd. I, 1. Jg., 24. Juni-30. De- zember 1916, 2. Jg., 6. Januar-29. Dezember 1917, Leipzig 1975.

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Stadtvogtei bzw. in die Nervenklinik Dr. Weiler in Charlottenburg weggeschlos- sen.7 Seine Möglichkeiten, die Entwicklung der Arbeiterbewegung bis zum No- vember 1918 zu verfolgen, waren bis zu seiner Befreiung durch die Revolution am 9. November höchst begrenzt. Der Heimweg nach Bremen führte Knief zunächst nach Dresden, wo er mit den Anhängern Otto Rühles über die Möglichkeit einer eigenständigen kommunisti- schen Parteigründung beriet, und dann nach Cuxhaven, wo er gemeinsam mit dem Matrosenführer Eugen Lieby eine bewaffnete Matrosenabteilung für den Schutz der Revolution in Bremen in Marsch setzte.8 In Bremen traf Knief am 18. November 1918 auf eine fortgeschrittene revolu- tionäre Lage, die im Unterschied zu vielen anderen deutschen Großstädten von ei- nem deutlichen Übergewicht der USPD-Linken und der Linksradikalen geprägt war.9 Sie gaben den Ton im Arbeiter- und Soldatenrat an, der sich am 6. Novem- ber unter Vorsitz von Alfred Henke (USPD) konstituiert hatte. Die linke Majorität war auch nicht in Frage gestellt, als nach deren Versicherung, sie würden „sich ganz in den Dienst der revolutionären Bewegung stellen“, einige Tage später sechs Gewerkschaftsfunktionäre in den Aktionsausschuss aufgenommen wurden. Dessen programmatische Erklärung vom 9. November hatte den Räten die Auf- gabe zugewiesen, die Revolution auszubauen, zu sichern und zu vertiefen. Zu- sammenfassend hieß es: „Die ganze Macht in die Hände der Arbeiter- und Solda- tenräte, Sturz der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und damit Aufhebung jeder Art von Ausbeutung und Unterdrückung..., Aufrichtung der sozialistischen Gesellschaft.“10 Der politisch und sozial weitreichende Revolutionsaufruf enthielt freilich keine konkreten Tagesforderungen, die zur Massenmobilisierung geeignet gewesen wären. Solche standen aber am gleichen Tag in der linksradikalen „Arbeiterpoli- tik“.11 Sie griff weitgehend jene aus dem gemeinsamen Aufruf der Spartakus- gruppe und der Linksradikalen vom Oktober 191812 auf, ergänzte und präzisierte sie und erweiterte sie um das Verlangen nach Bildung roter Garden. Die Bildung einer roten Garde war bezeichnenderweise das Spitzenpostulat. Gefordert war weiter die Freilassung aller politischen Gefangenen, die Ersetzung der bürgerli-

7 Siehe die entsprechenden Akten im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, Abt. I, Ministerium des Innern, Nr. 66283, im Staatsarchiv München, Polizeidirektion, Nr. 10087, sowie die Akten des Oberreichsanwalts im Bundesar- chiv Berlin (BArch), R 3003, J 205/18. 8 Siehe Karin Kuckuk: Im Schatten der Revolution. Lotte Kornfeld – Biografie einer Vergessenen (1896-1974), Bremen 2009, S. 58f. 9 Die Angaben zum Verlauf der Revolution in Bremen stützen sich vor allem auf die umfassende Darstellung und gründliche Analyse von Peter Kuckuk: Bremen in der Deutschen Revolution 1918-1919. Revolution – Räterepublik – Restauration, Bremen 1986. 10 Zit. nach Peter Kuckuk, Bremen, S. 57. 11 Siehe „Arbeiterpolitik“ 3 (1918), Nr. 45, S. 267f. 12 Siehe Lothar Berthold/Ernst Diehl: Revolutionäre deutsche Parteiprogramme, Berlin 1967, S. 102-106; siehe auch Walter Bartel: Die Linken in der deutschen Sozialdemokratie im Kampf gegen Militarismus und Krieg, Berlin 1958, S. 574-576.

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chen Gerichte durch Revolutionstribunale, die Abschaffung der Todes- und Zucht- hausstrafe für politische und militärische Vergehen, die Aufhebung des Hilfs- dienstgesetzes und des Belagerungszustandes, Arbeiterkontrolle über die Lebens- mittelverteilung, Nationalisierung des Groß- und Mittelgrundbesitzes, des Bankkapitals, der Bergwerke, der Hütten und jeglicher anderer Großbetriebe so- wie die Annullierung der Kriegsanleihen von 1.000 Mark aufwärts. Charakteri- stisch war der Schluss des Aufrufs, der als Ziel die „kommunistische Republik“ anvisierte, eine Forderung, die es im Aufruf des Aktionsausschusses unter Henkes Führung nicht gab. Von Anfang an bestand bei den Linksradikalen Skepsis ge- genüber der revolutionären Entschiedenheit der Unabhängigen. Sie kannten zwar nicht den Bericht des preußischen Generalkonsulats an Ebert, aber sie waren si- cher der gleichen Meinung wie die Diplomaten, die aus Bremen nach Berlin schrieben: „Henkes Forderungen schwanken je nach der Entwicklung... Je nach der Stimmung der Versammlungsmehrheit pflegt Henke seine Forderungen zu modifizieren.“13 Johann Knief trat in der Bremer Revolution am 18. November erstmalig selbst in Aktion. Überraschend erschien er in einer vom Arbeiter- und Soldatenrat ein- berufenen öffentlichen Versammlung, auf der Henke referierte. Sofort erwies er sich als „ebenbürtiger Gegenspieler auf der Linken“14. In der Diskussion billigte er zwar Henkes Ausführungen, ging aber zugleich über sie hinaus, indem er an- gesichts der von den Räten trotz formeller Absetzung des Senats und der Bürger- schaft am 14. November weiter geduldeten alten Staatsorgane die Eroberung der Staatsmacht als wichtigste Aufgabe der Revolution kennzeichnete. Er brachte drei Anträge ein. Die Versammlung beschloss die von ihm vorgetragene Sympathieer- klärung für die Bolschewiki, mit der die sofortige Rückkehr der russischen Bot- schaft nach Deutschland gefordert wurde. Gleichfalls angenommen wurde Kniefs Resolution zur Rückgabe der „Bremer Bürger-Zeitung“, über welche die Rechts- sozialisten geboten. Seinen dritten Antrag für die „völlige Entwaffnung des Bür- gertums“ und „die Bildung bewaffneter kommunistischer Garden aus den Reihen der klassenbewusstesten Schichten des Industrieproletariats“ überwies die Ver- sammlung dem Soldatenrat, der freilich bis dahin weit weniger revolutionär auf- getreten war als der Arbeiterrat. Ähnliche Forderungen wie am 18. November erhob Knief in einer weiteren Volksversammlung am 22. November. Hinzu trat erstmalig das Verlangen nach „Entfernung aller nicht rein proletarischen Elemente“ aus den Revolutionsorga- nen, das sich vor allem gegen die rechtssozialdemokratischen Vertreter im Akti- onsausschuss richtete. Seine Forderung auf Rückgabe der „Bremer Bürger-Zei- tung“ an die Organisation der Linksradikalen (das war bekanntlich der aus der SPD ausgeschlossene Sozialdemokratische Verein Bremen) begründete Knief da- mit, dass nur die linksradikale Organisation „allein die Klasseninteressen des re-

13 BArch, R 1501, Nr. 1711, Bl. 261f. 14 Peter Kuckuk, Bremen, S. 94.

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volutionären bremischen Proletariats vertritt“, ein deutlicher Seitenhieb gegen die hinsichtlich ihrer Konsequenz weiterhin beargwöhnten unabhängigen Sozialde- mokraten. Und schließlich verlangte Knief, die Forderung nach Eroberung der Staatsmacht konkretisierend, die restlose Beseitigung von Senat und Bürgerschaft und die völlige Erneuerung der Staatsverwaltung. Alle diese Programmpunkte bestimmten seit Kniefs direktem Einwirken auf den revolutionären Prozess in Bremen seine Aktionen wie auch das agitatorische Wirken der Linksradikalen oder zeitlich genauer: der „Internationalen Kommuni- sten Deutschlands, Ortgruppe Bremen“. Diese hatte sich am 23. November 1918 konstituiert und gab seit dem 27. November eine eigene Tageszeitung „Der Kom- munist“ in der Redaktion von Johann Knief, Charlotte Kornfeld und Wilhelm Eil- dermann heraus. Die Bremer IKD-Gruppe und ihre Zeitung hatten auch entschei- denden Anteil daran, dass sich ihre Parteigänger im Dezember 1918 auf einer Reichskonferenz in Berlin als Partei „Internationale Kommunisten Deutschlands“ (IKD) organisierten und ein wesentlich von Knief beeinflusstes Programm annah- men. Der Kurs dieser Partei, das gesamte Auftreten Kniefs und der Duktus seiner Ta- geszeitung sind zwischen Ende November und Ende Dezember 1918 in hohem Maße, wenn auch nicht ausschließlich, von den Einschätzungen, Schlussfolgerun- gen und Forderungen bestimmt, die Knief alias Peter Unruh in einer analytischen und programmatischen Revolutionsbroschüre zusammenfasste.15 Sie entstand of- fenbar im Dezember 1918, konnte jedoch erst im Januar 1919 erscheinen und in 100.000 Exemplaren verbreitet werden. Es ist hier nicht möglich, Kniefs Auftritte und Aktionen zwischen dem 23. No- vember und dem Jahresende, an dem er schwer erkrankte, weiter von Station zu Station zu verfolgen und zu würdigen, so etwa die denkwürdige Ansprache auf dem sogenannten Canossa-Schuppen der Bremer Weserwerft-AG am 28. oder den Demonstrationsstreik der von Knief persönlich angeführten Arbeiter Bremens vor dem Arbeiter- und Soldatenrat am 29. November mit seinen gravierenden Wir- kungen auf die Radikalisierung des Revolutionsprozesses in Bremen.16 Es können nur einige Positionen verdeutlicht werden, die Kniefs Argumentation für einen so- fortigen Übergang zur proletarischen Revolution bestimmten. Knief hatte von vornherein und ausschließlich auf eine sozialistische Revolu- tion gesetzt. Anfang November war er voller Hoffnung gewesen, dass sich eine solche Bewegung Bahn brechen würde. Doch schon in den ersten Tagen zeigte er sich enttäuscht, dass „nur“ bürgerlich-demokratische Ziele erreicht worden wa- ren.17 Er erklärte die erste Phase der Revolution zu einer bloßen „Militärrevolte“

15 Peter Unruh [d. i. Johann Knief]: Vom Zusammenbruch des deutschen Imperialismus bis zum Beginn der pro- letarischen Revolution, Berlin 1919. 16 Siehe hierzu Peter Kuckuk, Bremen, S. 86-88, 97-99. 17 Siehe hierzu seinen Brief an Charlotte Kornfeld vom 8.11.1918, in: Johann Knief, Briefe aus dem Gefängnis, Berlin 1920, S. 93-96.

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und später zu einer „allgemeinen Volksbewegung“ für den Frieden und die Repu- blik, an der die proletarische Bewegung zwar teilgenommen, die aber deren For- derungen nicht erfüllt hatte: den Sturz der kapitalistischen Ordnung, ihres Staats- apparates, die Bewaffnung des Proletariats und den Übergang zur Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft. Die allgemeine Volksbewegung habe ihre Ziele und auch ihr Ende erreicht. Die proletarische Klassenbewegung löse sich nun aus der allgemeinen Volksbewegung und wende sich mit selbständigen Aktionen ihrer ei- gentlichen Aufgabe, der proletarischen Revolution, zu. Geführt werde sie durch die Kommunisten und Spartakusbündler. Der Beginn der proletarischen Revolu- tion ziele auf den Endkampf zwischen Kapital und Arbeit, der nun unmittelbar be- vorstehe. Zu dieser Sicht der Dinge hatte offenbar Kniefs lange Isolierung von den vor- revolutionären Kämpfen, auch vom Zustandekommen des gemeinsamen Aufrufs der Spartakusgruppe und der Linksradikalen vom Oktober 1918, der zahlreiche demokratische Forderungen enthielt, nicht unwesentlich beigetragen. Kniefs re- volutionäre Ungeduld verführte ihn immer wieder zur Geringschätzung der Re- volutionsergebnisse unmittelbar nach dem 9. November. Er maß alles mit der Elle einer proletarischen, sozialistischen Revolution. Andererseits sah er durchaus, dass die Revolution ein „Ereignis von höchster historischer und politischer Be- deutung“18 war. Denn, so stellte er fest, die Bourgeoisie hätte für kurze Zeit ihr ent- scheidendes politisches Machtmittel verloren – die Kontrolle über die bewaffne- ten Kräfte. Das hielt Knief für den entscheidenden Moment in der Anfangsphase des Umsturzes, dessen Chance aber durch den sozialdemokratischen Rat der Volksbeauftragten verspielt worden sei. Das jedoch hielt er für folgerichtig. Er be- gründete seine Auffassung, wonach die offizielle Sozialdemokratie schon lange vor dem Krieg ihren Charakter als Umsturzpartei verloren hatte. Das sukzessive Abstreifen des revolutionären Charakters der Maifeier, das Ausbleiben eines wirk- lichen Bruchs der Radikalen mit den Revisionisten, die Ablehnung des politischen Massenstreiks, das Abwürgen des preußischen Wahlrechtskampfes, die prolibe- rale Dämpfungstaktik bei den Reichstagswahlen 1912, die Begünstigung der Mi- litärvorlage 1913 durch die Bewilligung der Deckungsvorlage und das Erdrosseln des großen Werftarbeiterstreiks 1913 (das Schlüsselerlebnis der Bremer Arbeiter vor dem Krieg!) wertete Knief als Belege dafür, dass die Sozialdemokratie bei Kriegsbeginn bereits auf Gedeih und Verderb mit der bürgerlichen Gesellschaft verflochten war und ihren revolutionären Charakter längst eingebüßt hatte. Knief sah die Politik des 4. August als die konsequente Fortsetzung der bisherigen Par- tei- und Gewerkschaftspolitik. Im Verhalten der MSPD-Führung in der Revolu- tion vermochte er folgerichtig nur einen weiteren Schritt dieser Parteientwicklung zu sehen. Wörtlich: „Nicht ein Verrat der Führer liegt hier vor, sondern eine ganz konsequente Entwicklung... der Sozialdemokratie... Sie ist ihrem Wesen nach eine 18 Peter Unruh, Vom Zusammenbruch, S. 14. 19 Ebenda, S. 10.

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bürgerliche Partei geworden mit einem für bürgerliche Begriffe immerhin ausge- dehnten sozialen Reformprogramm. Aber die Partei des Umsturzes ist sie gewe- sen...“19 Schärfste Kritik übte Knief auch an der USPD. Die einzige oppositionelle Gruppe im Reichstag habe sich erst von den Mehrheitssozialisten zwingen lassen, viel zu spät eine eigene Partei zu bilden, die aber nie ihr Ja zur Vaterlandsvertei- digung im imperialistischen Krieg aufgegeben und parlamentarische, legale Kampfmittel stets höher geschätzt habe als außerparlamentarische Massenaktio- nen. Wörtlich: „Haben die Sozialdemokraten die Kriegspolitik grundsätzlich mit- gemacht, so haben die Unabhängigen diese Kriegspolitik nicht grundsätzlich bekämpft.“20 In der Revolution sei sie nun gar ein Bündnis mit der MSPD einge- gangen und diese wiederum mit den alten Gewalten: „Die neue Republik reichte von Solf und Scheüch über Ebert und David bis zu Haase und Ledebour.“21 So konnten die alten Mächte rasch erkennen, dass längst „nicht alle Säulen ih- rer Herrschaft zerborsten“ waren, und stellten sich, vom Saulus zum Paulus ge- wandelt, der angeblich sozialistischen Regierung zur Verfügung. Knief rechnete vor, dass viele Forderungen des Erfurter Programms von der Volksbewaffnung über die Trennung von Staat und Kirche, die Brechung des Bildungsprivilegs bis zum Achtstundenarbeitstag nicht oder verzerrt verwirklicht würden bzw. nicht dauerhaft gesichert seien. Er folgerte: „Der Reformteil des Erfurter Programms lässt sich in seinen wesentlichsten Bestandteilen auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft nicht verwirklichen.“22 Freilich, eine der Forderungen des Erfurter Programms wolle die MSPD ge- meinsam mit den bürgerlichen Parteien und der Generalität sofort erfüllen, aber zugleich gegen die Revolution kehren: die Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts. Auf seiner Grundlage werde bei Fortbestand der alten Machtverhältnisse eine Nationalversammlung entstehen, die nur eine bürgerlich-sozialdemokratische Mehrheit haben könne, also lediglich Interessen an der Beendigung revolutionärer Veränderungen vertreten werde. Das eigentliche Novum der Revolution, die Räte als proletarische Machtorgane, würden negiert und bekämpft. Deshalb hielt es Knief für nötig, den Gedanken der Nationalversammlung zu bekämpfen und eine Rätemacht zu schaffen, die dem Ziel der proletarischen, so- zialistischen Revolution verpflichtet blieb. Aber die bestehenden Räte, ursprüng- lich als Klassenorgane des Proletariats gedacht, entsprächen in ihrer Zusammen- setzung aus Sozialdemokraten, Unabhängigen und Kommunisten nicht dieser Aufgabe. Aus vielen Räten seien „Organe der Bourgeoisherrschaft“ geworden. Dies gelte zwar am meisten für die Soldatenräte, aber ähnlich stehe es auch um die Arbeiterräte. Knief führte die Inhomogenität der Räte und damit ihre weitge-

20 Ebenda, S. 12. 21 Ebenda, S. 16. 22 Ebenda, S. 21.

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hende Untauglichkeit für die Führung in einer sozialistische Revolution auf das be- reits im Kriege sichtbare Phänomen zurück, dass die Arbeiterklasse keine homo- gene Masse mit völlig einheitlichen Interessen sei. Gerade dafür sei die Spaltung der Arbeiterbewegung der Beweis gewesen. Kniefs Schlussfolgerung: „Die Arbei- terklasse... ist als Ganzes nicht aktionsfähig.... Aber auch ein Arbeiterrat, der aus dieser bunten Gefolgschaft hervorgegangen ist, ist nicht aktionsfähig.“23 Der Reichsrätekongress in Berlin habe dies ebenso bewiesen wie der Alttag der örtli- chen Räte. Folglich müssten aus den Räten alle nicht für die sozialistische Revolu- tion einstehenden Mitglieder entfernt werden, nur die klassenbewusstesten Teile der Arbeiterschaft seien zu bewaffnen, damit der politisch fortgeschrittenste Teil der Klasse in sich steigernden Massenaktionen die auf der Tagesordnung stehende, aber bisher ausgebliebene sozialistische Revolution in Angriff nehmen könne. Diese Position bedeutete letztlich die Einengung der Massenbasis der revolu- tionären Arbeiterbewegung, den Verzicht auf die Gewinnung jener Mehrheit, die – wenn auch zunehmend kritisch – nach wie vor den alten sozialdemokratischen Führern Gehör schenkte. Der freilich nicht mit den Maßstäben des bürgerlichen Parlamentarismus zu messende, aber dem Begriff Diktatur des Proletariats inne- wohnende Demokratiebegriff (Herrschaft der bisher unterdrückten Volksmehrheit über die unterdrückende Minderheit) wurde auf diese Weise negiert. Knief hielt infolge der Differenzierung der Arbeiterklasse und ihrer parteipoli- tischen Spaltung die Machteroberung und Machtausübung durch eine Minderheit der Klasse für möglich, ja erforderlich. Hierin zeigt sich am deutlichsten die Schwierigkeit des äußersten linken Flügels der Revolution, das Verhältnis von De- mokratie und Sozialismus zu definieren, Demokratie nicht nur unter dem empiri- schen Gesichtswinkel negativer Erfahrungen der deutschen Arbeiterbewegung mit dem Parlamentarismus zu erörtern und Vorstellungen von sozialistischer Demo- kratie nicht nur in einer ausschließlichen Diskontinuität zur geschichtlichen Ent- wicklung menschlicher Rechte und Freiheiten zu begründen. Dennoch möchte ich im Anschluss an Manfred Weißbecker betonen, dass die Ablehnung eines sich demokratisch gerierenden Parlamentarismus, der die Linke ja ausdrücklich bekämpfte und ausgrenzte, nicht pauschal mit Antidemokratismus oder Antiparlamentarismus gleichgesetzt werden darf. Die revolutionäre Arbeiter- bewegung hatte auch in der deutschen Revolution einen demokratischen Charak- ter. Maßstab dafür ist nicht, wie oft oder abstrakt das Wort Demokratie gebraucht wurde. In der Revolution waren alle Aktionen gegen den Krieg und die Monar- chie, für soziale und politische Rechte des arbeitenden Volkes an sich demokra- tisch. „Maßstäbe dafür“, schrieb Weißbecker, „boten dafür die Interessen der Ar- beiterklasse und der Volksmassen, deren Vertretung und Realisierung unter den damaligen Bedingungen einer Interessenvertretung ihrer Gegner diametral entge- genstand.“24

23 Ebenda, S. 25.

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Um Johann Knief gerecht zu werden, muss gesagt werden, dass er – stets ein nachdenklicher und grübelnder Mensch – in der Revolution politische Erfahrun- gen sammelte und zu Schlussfolgerungen kam, die andere Mitstreiter der IKD nicht gezogen hatten und mit denen er sich unter ihnen in der Minderheit befand. Sein ungestümes Drängen auf eine sozialistische Revolution, sein „Tunnelblick“ auf Perspektiven, Möglichkeiten und Garantien ließen durchaus Sensibilität ge- genüber neuen Erfahrungen zu. So erklärt sich sein Eintreten für die Beteiligung der Kommunisten an den Wahlen zur Nationalversammlung. Knief sah in der Ein- berufung der Nationalversammlung den Beweis für die Stärke der Konterrevolu- tion und für das Fehlen momentaner Garantien für den Erfolg einer weiterführen- den Revolution. Also, so folgerte er, müsse man die Wahlen nutzen, um die Ziele der Kommunisten zu propagieren. In seiner Zeitung schrieb er zur Begründung seines Minderheitenvotums für die Wahlbeteiligung: „Je gründlicher die Arbeiter- schaft für den großen schweren Kampf vorbereitet ist, und zwar materiell, intel- lektuell, organisatorisch und moralisch, desto günstiger sind ihre Aussichten auf den Sieg. Je überhasteter sie sich jedoch in Kämpfe verwickelt, desto günstiger sind die Aussichten für die Reaktion, Verwirrung in die Reihen der Arbeiter zu tra- gen, und ihre Schwäche auszunutzen...“ Boykott der Wahlen und Ersticken der Ar- gumente der Gegner im Tumult lehnte er ab, sie müssten widerlegt werden. Das gelte auch für die Arbeiterratswahlen, wenn es darum gehe, Rechtsopportunisten aus den Räten zu verdrängen. Kommunistische Agitation müsse auch auf das „fla- che Land“ ausgedehnt werden. Und schließlich hätten Kommunisten dafür zu sor- gen, dass bei Kundgebungen und Demonstrationen nur für erreichbare Ziele de- monstriert werde. Jede „Demonstration in die blaue Luft hinein“ müsse verhindert werden.25 Knief konnte seine Positionen auf dem Gründungsparteitag der KPD nicht zur Geltung bringen. Sein an den Wahlboykottbeschluss der Bremer IKD ge- bundenes Mandat wies er zurück. Seine schwere Krankheit hätte ihm ohnehin die Fahrt nach Berlin unmöglich gemacht. Vom Krankenbett aus riet er im Januar 1919 seinen Genossen, den Berliner Aufständischen nicht durch eine isolierte Machtübernahme durch das Proletariat in Bremen helfen zu wollen.26 Als dies am 10. Januar dennoch geschah, wählte man den Kranken, auf seine Genesung hof- fend, in den Rat der Volkskommissare der Bremer Räterepublik. Doch Kniefs Zustand verschlechterte sich weiter. Er starb am 6. April 1919 kurz vor Vollen- dung seines 39. Lebensjahrs. Reine Spekulation wäre es natürlich, darüber zu sprechen, was aus Knief in der deutschen Arbeiterbewegung geworden wäre. Als sicher kann gelten, dass die

24 Manfred Weißbecker: Parlamentarismus und Demokratie im Verständnis proletarischer Massen in Deutsch- land 1918/19, in: Perspektive und Aktion. Erfahrungen deutscher Arbeiterbewegung, Jena 1989, S. 67-74, hier. S. 73. 25 Johann Knief: Die Konsequenzen, in: „Der Kommunist“ (Bremen), Nr. 24, 24. Dezember 1918. 26 Siehe Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution, Berlin 1929, S. 339.

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deutsche Arbeiterbewegung frühzeitig einen hochgebildeten, vielseitigen, auch musisch aktiven Journalisten und Publizisten und einen rhetorisch begabten Agi- tator für ihre Interessen verlor. Als relativ sicher ist nur das zu benennen, was er nicht geworden wäre. Er bekleidete nie eine Funktion in einer Parteiorganisation, seine Beliebtheit und Autorität vor allem unter den Bremer Werftarbeitern beruhte auf der Volkstribunen eigenen vollständigen Hingabe für die Interessen der Aus- gebeuteten und Benachteiligten. Er war als organisierender Funktionär ungeeig- net. Als Vertreter eines föderalistischen Parteiaufbaus, in dem basisdemokratische Elemente, ein Willensbildungsprozess von unten nach oben – und nicht umge- kehrt – einen hohen Stellenwert haben sollten, hätte er Spitzenpositionen im deut- schen Parteikommunismus nicht einnehmen können. Aber Johann Kniefs Auffas- sungen von Partei, Parteidemokratie und Organisationsaufbau sind ein neues Thema.

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FLORIAN WILDE Ernst Meyer vor und während der Novemberrevolution im Jahre 1918

Ernst Meyer – vergessene Führungsfigur der deutschen Arbeiterbewegung

Ernst Meyer (1887-1930) ist heute weitgehend vergessen. Dabei war er „einer der bemerkenswertesten Führer des deutschen Kommunismus“, so Hermann Weber.1 Außer einigen Kurzbiographien2, der – allerdings sehr ergiebigen – politischen Autobiographie seiner Frau, einem Aufsatz von Hermann Weber aus dem Jahre 1968 und einem Aufsatz von Florian Wilde gibt es keine Arbeiten, die sich inten- siver mit ihm beschäftigen.3 Auf dem Gründungsparteitag der KPD wurde Meyer in die Zentrale der Partei gewählt, der er in den folgenden Jahren fast ununterbrochen angehörte und in der er verschiedene leitende Funktionen übernahm. Am II. und IV. Weltkongress der Komintern (1920 und 1922) nahm Meyer als Delegierter der KPD teil. In Folge der Verhaftung des KPD-Vorsitzenden Heinrich Brandler im April 1921 übernahm Meyer kommissarisch die Leitung der Partei. Nach dem Jenaer Parteitag im Au- gust 1921 zum Leiter des Polbüros gewählt, wurde er zum faktischen Vorsitzen- den der KPD.4 Unter seiner Führung gelang – vor allem wegen der wesentlich von

1 Hermann Weber: Zu den Beziehungen zwischen der KPD und der Kommunistischen Internationale, in: Vier- teljahreshefte für Zeitgeschichte (VfZ), H. 2/April 1968, S. 177-208, hier S. 180. In der Einleitung zu Rosa Meyer-Leviné: Im inneren Kreis. Erinnerungen einer Kommunistin in Deutschland 1920-1933, mit einer Ein- leitung von Hermann Weber, Köln 1982, S. 8, bezeichnet Weber Meyer als „einen der bedeutendsten KPD- Führer“. Auch im biographischen Handbuch deutscher Kommunisten wird Meyers „überragende Rolle in der KPD“ gewürdigt, in: Hermann Weber/Andreas Herbst: Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945, Berlin 2004, S. 503. 2 Auswahl der Kurzbiographien: Weber/Herbst: Kommunisten, S. 501-503; Hermann Weber: Die Wandlung des deutschen KommunismuS. Die Stalinisierung der KPD in der Weimarer Republik, 2 Bde., Frankfurt/M. 1969, Bd. 2, S. 220-222; Ders. (Hrsg.): Der Gründungsparteitag der KPD. Protokoll und Materialien, mit einer Ein- leitung von Hermann Weber, Frankfurt/M. 1969, S. 325f; Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Bio- graphisches Lexikon, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin (Ost) 1970 [künftig zit. als IML: Lexikon], S. 328f. 3 Rosa Meyer-Leviné, Erinnerungen; Weber, Beziehungen. Florian Wilde: „Diskussionsfreiheit ist innerhalb un- serer Partei absolut notwendig“. Zum Verhältnis des KPD-Vorsitzenden Ernst Meyer zur innerparteilichen De- mokratie 1921/22, in: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 2006, S. 168-184. Außerdem liegt meine Magisterarbeit vor: Ernst Meyer als Vorsitzender der KPD 1921/22, Hamburg 2003 (unveröffentl.). Ich arbeite z. Zt. an einer Dissertation über „Ernst Meyer (1887-1930) – vergessene Führungsfigur des deutschen Kommunismus. Eine politische Biographie.“ 4 Formal bestand die KPD-Zentrale seit dem Jenaer Parteitag aus gleichberechtigten Mitgliedern. Meyer, auf den auf dem Jenaer Parteitag (gemeinsam mit Wilhelm Pieck) die meisten Stimmen entfallen waren (siehe Die Rote Fahne, 27.8.21), wurde auf der ersten Sitzung der neugewählten Zentrale zum Vorsitzenden des Pol(iti- schen)büros gewählt (siehe Protokoll der Sitzung der Zentrale vom 31.8.21, in: SAPMO-BArch, RY 1/I 2/2/13, Bl. 304) und übte in der folgenden Zeit entscheidenden Einfluss auf die Politik der KPD aus. Meyers formale Funktion als Vorsitzender des Polbüros, dem „Spitzengremium der Partei“ (Weber/Herbst: Kommu-

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ihm vorangetriebenen Einheitsfrontpolitik gegenüber SPD und Gewerkschaften – eine Konsolidierung der KPD als Massenpartei. Nach der Rückkehr Brandlers im August 1922 mit Unterstützung des Komintern-Apparates allmählich entmachtet, wurde Meyer auf dem Leipziger Parteitag der KPD (Januar 1923) nicht wieder in die Zentrale gewählt. Als der linke Flügel um Ruth Fischer Anfang 1924 die Führung der Partei übernahm, wurde er zur führenden Figur der oppositionellen Kreise, der sogenannten Mittelgruppe, von ihren Gegnern später als „Versöhnler“ geschmäht. 1926 kehrte Meyer als Führer der Mittelgruppe in die zentralen Gre- mien der Partei zurück, war vorübergehend neben Thälmann der „eigentliche Parteiführer“ und bestimmte erneut „maßgebend die Geschicke der KPD“.5 Er kämpfte für die Aufrechterhaltung innerparteilicher Demokratie in den Zeiten des aufkommenden Stalinismus, für eine Autonomie der KPD gegenüber der Komin- tern und für eine Einheitsfrontpolitik gegenüber der SPD. Nach der erneuten ul- tralinken Wende der KPD 1929 wurde der schwer Erkrankte aus der Führung ent- fernt und in der Partei an den Rand gedrängt. Am 2. Februar 1930 starb Ernst Meyer und wurde auf dem Sozialisten-Friedhof in Berlin-Friedrichsfelde bestat- tet. So unbekannt, wie Meyers Rolle als führender KPD-Politiker heute ist, so ver- gessen ist auch seine wichtige Rolle in der Gruppe Internationale und dem Spar- takusbund während des Krieges und in der Novemberrevolution. Diese soll im folgenden dargestellt werden.

Auf dem linken Flügel der Vorkriegs-SPD

1908 trat der damals 21-jährige Student Meyer in Königsberg der SPD bei.6 1910 siedelte Meyer nach seiner Promotion zum Dr. phil. nach Berlin über.7 In Berlin ließ Meyer sich in Steglitz nieder – und wohnte in nächster Nähe zu denen, die in den folgenden Jahren zu seinen engsten politischen Weggefährten werden sollten. Denn Steglitz und Umgebung waren in den Jahren vor dem Krieg eine Art geographischer Schwerpunkt der radikalen Linken in der Groß-Berliner SPD. Hier wohnten die Familie Pieck und Rosa Luxemburg. Gleich um die Ecke

nisten, S. 43), seine real führende Rolle in der Partei und seine in der Literatur sehr weit verbreitete Titulie- rung als Parteivorsitzender lassen es daher als gerechtfertigt erscheinen, ihn als Vorsitzenden der KPD zu be- zeichnen. 5 Weber/Herbst, Kommunisten, S. 503. 6 Siehe ebenda, S. 502 7 In verschiedenen Kurzbiographien und in Nachrufen auf Ernst Meyer wird 1912 als Jahr seines Umzuges nach Berlin angegeben, Siehe Weber/Herbst S. 502; IML, Lexikon, S. 328; Die Rote Fahne, 4.2.1930. Wann genau Meyer nach Berlin zog, ließ sich nicht ermitteln. Da sein erster Sohn Heinz am 2.7.1911 in Berlin-Steglitz ge- boren wurde (Siehe Landesarchiv Berlin [in Folgenden als LAB] A Pr.Br.Rep. 030 Nr. 15872, Bl.233), liegt ein Umzug nach Berlin bereits vor 1912 nahe. 1912 fand Meyer eine Anstellung beim Kaiserlichen statisti- schen Amt in Charlottenburg als Mitarbeiter von Prof. Wagemann, (siehe Weber/Herbst, S. 502; IML, Lexi- kon, S. 328; Die Rote Fahne, 4.2.1930).

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von Ernst Meyer wohnte Franz Mehring in der Albrechtstraße. 1912 zogen Käte und Hermann Duncker nach Steglitz, und auch der aus Polen emigrierte Julian Marchlewski (Karski) ließ sich hier nieder.8 Ob Meyers Kontakte zu dem Kreis um Luxemburg und Mehring schon 1912 so eng waren, dass er gezielt in ihre Nähe zog, oder ob dies eher zufällig geschah, wissen wir nicht. Für die illegale Tätigkeit während des Krieges erwies sich der Umstand, dass die meisten führen- den Köpfe der späteren Spartakusgruppe so nahe beieinander wohnten, als über- aus vorteilhaft. Eine wichtige Rolle bei der Verständigung und Herausbildung einer radikalen linken Strömung in der SPD, aus der später der Spartakusbund hervorging, spiel- ten gesellige Zusammenkünfte halb privaten, halb politischen Charakters. Einem solchem Zirkel um Franz Mehring – der nach dem bei diesen Zusammenkünften im Winter bevorzugten scharfen Grog „Eisbrecher-Runde“ genannt wurde – gehörte auch Ernst Meyer an. „In der Tat entwickelte sich hier [gemeint: Eisbre- cherrunde] auch jener Nachrichtendienst, der vor allem wohl von Ernst Meyer ge- speist wurde und in der Form der Spartakusbriefe internationalen Ruf erhalten hat.“9 1912 oder Anfang 1913 wechselte Meyer von dem statistischen Amt Berlin- Charlottenburg in die Tätigkeit eines Journalisten und Redakteurs, die er sein ganzes weiteres Leben ausüben sollte: Meyer begann, beim „Vorwärts“ in Berlin als Redakteur zu arbeiten.10 Mehrfach musste er sich wegen „Majestätsbeleidi- gung“ und ähnlicher Vergehen vor Gericht verantworten. Nur der Ausbruch des Krieges bewahrte ihn vor dem Vollzug bereits gefällter Urteile: Sie wurden im Zuge einer kaiserlichen Amnestie erlassen.11

Entstehung einer linksradikalen Antikriegsopposition

Mit der Zustimmung der Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten trug sich am 4. August 1914 die alte, in harter Opposition zu Staat und bürgerlicher Gesell-

8 Siehe Annemarie Lange: Das Wilhelminische Berlin. Zwischen Jahrhundertwende und Novemberrevolution, Berlin (Ost) 1988., S. 439. Siehe auch SAPMO SgY30/0168 (Hermann Duncker), Bl.99. 9 SAPMO-BArch, NY 4020/4 (Rudolf Franz), Bl. 8. Siehe zur Eisbrecherrunde auch Brief von W. Pieck an „Lieber Genosse Franz“, 26.2.1915, in: Wilhelm Pieck: Gesammelte Reden und Schriften. Bd.1: August 1904 bis Januar 1919, Berlin (Ost), S. 325. 10 Der genaue Beginn von Meyers Tätigkeit ließ sich nicht ermitteln. Meist wird in der Literatur der Beginn sei- ner Tätigkeit auf Anfang 1913 datiert, (siehe Weber/Herbst, S. 502; Biographisches Lexikon zur deutschen Geschichte, S. 469. siehe auch Die Rote Fahne, 4.2.1930). Andere Quellen nennen das Jahr 1912 (siehe Karl Schulz: Ernst Meyer gestorben, in: Die Welt am Abend, 3.2.1930) oder bereits 1911 als Beginn seiner Tätig- keit (siehe Ernst Meyer [Nachruf], in: Gegen den Strom. Organ der KPD (Opposition), 8.2.30, S. 84f, künftig zit. als GdS). 11 Siehe SAPMO-BArch, RY 20/II 145/38, Bl.13f. Siehe auch LAB A Pr. Br. Rep. 358-01 2037, Bl.7f: Doku- ment über die Einstellung in Folge des Gnadenerlasses vom 4.8.14: „Haft und Kosten werden erlassen“. Auf- grund des Krieges wurden auch zwei laufende presserechtliche Verfahren gegen Meyer eingestellt, (siehe „Die Preßkommission“, März 1916, in: SAPMO-BArch, RY 20/II 145/38, Bl.13f.)

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schaft stehende Sozialdemokratie zu Grabe. Dieser Tag war aber zugleich, wie Meyer später wiederholt betonte, die eigentliche Geburtsstunde des Spartakus- bundes und der KPD.12 Noch am Abend des 4. August trafen sich in der Wohnung Rosa Luxemburgs ihre engsten Freunde und Mitstreiter, unter ihnen Ernst Meyer, zu einer ersten Beratung.13 Der damals 27-jährige Meyer war der mit Abstand jüngste in der Runde – der nächst Ältere, Wilhelm Pick, war 38, die anderen alle über 40 Jahre alt, Franz Mehring ging bereits auf die 70 zu. Kaum einer der führenden Linksradikalen hatte mit so einem Ausgang der Ab- stimmung im Reistag gerechnet, zumindest eine Enthaltung der Fraktion war er- wartet worden.14 Meyer schrieb später, der 4. August war „selbst für den gegenü- ber der offiziellen Politik der SPD kritisch eingestellten linken Flügel eine furchtbare Enttäuschung.“15 Und an anderer Stelle: „Für den radikalen, linken Flü- gel in der SPD [kam] der ungeheure Verrat der Kreditbewilligung am 4. August 1914 ebenso unerwartet wie für die übrigen, auf dem linken Flügel kämpfenden Mitglieder der 2. Internationale […].“16 Das Treffen bei Rosa Luxemburg offenbarte zunächst einmal mit aller Deut- lichkeit die Schwächen der Linksradikalen: Weder waren sie auf die – von ihnen von Anfang an als „Verrat“ empfundene – Zustimmung zu den Kriegskrediten vorbereitet, noch besaßen sie auch nur in Ansätzen eine organisatorische Struktur, um sofort darauf reagieren zu können. Diese aufzubauen war die zentrale Heraus- forderung, vor der sie in den nächsten Jahren standen. Und dennoch war das Tref- fen dieses „ganz kleine[n] Häuflein[s] von aufrechten Genossen“17 (Meyer) von historischer Bedeutung. Hier formierte sich unter der Wucht der Ereignisse der Kern, der in den nächsten Jahren den Spartakusbund und die KPD führen und ent- scheidend prägen sollte. Wenn die radikale Linke in der SPD zu Kriegsbeginn derart schlecht aufgestellt war, so lag das auch daran, dass ihre wichtigsten Repräsentanten in den vergan-

12 Siehe Bericht über den Gründungsparteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund) vom 30. Dezember 1918 bis 1. Januar 1919, Frankfurt/M 1978, S. 1; Ernst Meyer: Zur Vorgeschichte der KPD, in: Die Internationale, 1927, H. 4, S. 102-107. 13 Höchstwahrscheinlich von Hugo Eberlein verfasster Bericht in: Die Revolution, Nr.2, Berlin, August 1924 (Gedächtnisnr. Zum 10. Jahrestag der Gründung des Spartakusbundes); Clara Zetkin: Einleitung zum Neu- druck von Rosa Luxemburg: Die Krise der Sozialdemokratie, Berlin 1919; Hugo Eberlein: Erinnerungen, in: Karl und Rosa. Erinnerungen. Hrsg. vom IML, Berlin 1978. Dazu siehe Ulla Plener: Hugo Eberleins Erinne- rungen an Rosa Luxemburg bei Kriegsausbruch 1914, Original und Fälschung, in: Utopie kreativ, H. 174, April 2005, S. 355-362. 14 Noch am Abend vor der Abstimmung hatte Rosa Luxemburg gesagt: „Ich fürchte, die Reichstagsfraktion wird uns morgen verraten. Sie wird sich nur der Stimme enthalten,“ in: (Hugo Eberlein): Die ersten Schritte, in: Die Revolution. Gedächtnisnummer zum 10. Jahrestag der Gründung des Spartakusbundes, (August 1924), S. 2–3, hier S. 2. 15 Ernst Meyer: Kommunismus, in: Volk und Reich der Deutschen. Vorlesungen... herausgegeben von Bernhard Harms, 2. Bd., S. 142-188, Berlin 1929, hier S. 143. 16 Ernst Meyer (Hrsg.): Spartakus im Kriege. Die illegalen Flugblätter des Spartakusbundes im Kriege. Gesam- melt und eingeleitet von Ernst Meyer, Berlin 1927, Einleitung, S. 5. Künftig zitiert als Meyer: Spartakus, Ein- leitung bzw. den Dokumentationsteil betreffend als Meyer: Spartakus. 17 Meyer: Spartakus, Einleitung, S. 5

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genen Jahren aus den relevanten Stellen der Partei hinausgedrängt worden waren. Neben dem Reichstagsabgeordneten Karl Liebknecht war Ernst Meyer einer der wenigen aus der Kerngruppe des künftigen Spartakusbundes, der sich als „Vor- wärts“-Redakteur noch in einer zentralen Position der Partei befand. Diese Tatsa- che und der Umstand, dass Meyer aufgrund seiner Tuberkulose-Erkrankung an- ders als viele seiner engsten Genossen vor einer Einziehung zum Kriegsdienst sicher war, trugen zu seiner trotz der jungen Jahre bald führenden Stellung unter den deutschen Linksradikalen bei.18 Erst allmählich entwickelte sich aus dem Kreis um Rosa Luxemburg eine ei- genständig auftretende Gruppe. Sie stellte sich von Anfang an zwei Aufgaben: Auf die innerparteiliche Diskussion einzuwirken und eine selbstständige Agitation un- ter den Massen zu betreiben.19 Seit 1915 nannte sich die Gruppe nach ihrer (zensurbedingt nur einmal erschie- nenen) Zeitschrift „Gruppe Internationale“.20 In der Anfangszeit des Krieges waren die Grenzen zur größten Oppositionsströmung, dem linken Parteizentrum um Hugo Haase, Karl Kautsky und Georg Ledebour, noch fließend. Es gab eine ganze Reihe gemeinsamer Treffen beider Strömungen, an denen Meyer beteiligt war.21 Er gehörte zu den Autoren eines als „Protestschreiben vom 9. Juni“ bekannt geworde- nen, strömungsübergreifenden Unterschriftenflugblattes, „die erste Aktion der Op- position, in der sie den Versuch machte, ihre Anhänger im ganzen Reichsgebiet zu mobilisieren“.22 729 Unterschriften kamen für diesen an den Parteivorstand der SPD und den Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion gerichteten Aufruf zusammen.23 Eine zentrale Rolle bei der Herausbildung einer internationalen sozia- listischen Anti-Kriegsopposition spielten die Konferenzen von Zimmerwald (5.-8. September 1915) und Kienthal (24.-30.April 1916)24, die zugleich einen wichtigen

18 Meyer war als dienstuntauglich ausgemustert worden (siehe BArch-SAPMO, NY 4131/12, Bl.195). Siehe auch Weber/Herbst, S. 502 und Interview [Hermann Weber] mit Rosa Meyer-Leviné, in: BArch Koblenz, N 1246/34, Bl. 41. 19 Siehe Meyer: Spartakus, Einleitung, S. 7. 20 Siehe Ernst Meyer: Vorwort zum ersten Band der Spartakusbriefe, in: Spartakusbriefe, Berlin (Ost) 1958, S. XXXIV-XLIII (künftig zit. als Meyer: Vorwort Spartakusbriefe), hier S. XXXIX. 21 Siehe Ernst Meyer: Zur Geschichte der KPD, in: Die Internationale 1926, H. 15, S. 674-680, hier S. 676. Ähn- lich in: Ernst Meyer: Rosa Luxemburg: Entweder – oder, mit einer Einleitung von Ernst Meyer, in: Kommu- nistische Internationale, Jg.6 (1925), H 9, S. 944-958, hier S. 945. 22 Susanne Miller: Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg, Bonn 1974, S. 107f. 23 Aufruf und Unterschriften in: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Reihe II, Bd.1 (Juli 1914-Oktober 1917), Berlin (Ost) 1958 (künftig zit. als DuM II/1), S. 173-185. Meyer un- terschrieb ihn mit „Ernst Meyer (Berlin), Redaktion Vorwärts“. Meyer und Liebknecht schrieben später, es seien sogar ca. 1.000 Unterschriften zusammengekommen, siehe Ernst Meyer: Zur Geschichte der KPD, in: Die Internationale 1926, H 15, S. 674-680, hier S. 675; Karl Liebknecht: Klassenkampf gegen den Krieg. An- hang 1: Betrachtungen und Erinnerungen aus „großer Zeit“, geschrieben von Karl Liebknecht im Untersu- chungsgefängnis Moabit 1916; Anhang 2: Karl Radek: Karl Liebknecht zum Gedächtnis, Berlin 1919, S. 94f. 24 Zu den Konferenzen siehe Horst Lademacher (Hrsg.): Die Zimmerwalder Bewegung. Protokolle und Korre- spondenz, Bd.1: Protokolle, Bd. 2: Korrespondenz, The Hague und Paris, 1967; Jules Humbert-Droz: Der Krieg und die Internationale. Die Konferenzen von Zimmerwald und Kienthal, Wien 1964; Angelica Balaba- noff: Die Zimmerwalder Bewegung 1914-1919, Leipzig 1928.

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Einfluss auf die Ausdifferenzierung der deutschen Opposition hatten. An beiden Konferenzen nahm Meyer zusammen mit Berta Thalheimer als Delegierter der Gruppe Internationale bzw. der Spartakusgruppe teil. Am 14. September 1915 – also kurz nach seiner Rückkehr aus Zimmerwald – wurde Ernst Meyer verhaftet und bis zum 5. Oktober 1915 in Untersuchungshaft gehalten.25 Grund der Verhaf- tung war seine Beteiligung an der Verbreitung einer Reihe von Flugblättern. Ver- haftung und Anklage belegen die wichtige Rolle, die Meyer mittlerweile im ille- galen Apparat der Gruppe Internationale spielte und für die er die Verbreitung von Flugschriften wesentlich organisierte.

Gründung der Spartakusgruppe und Entlassung vom „Vorwärts“

Gegen Ende des Jahres 1915 wuchsen die Differenzen zwischen radikalen und gemäßigten Linken in der SPD. Dies geht u. a. aus dem Briefwechsel von Käte und Hermann Duncker hervor, der Meyers wichtige Rolle bei der Zusammenar- beit der beiden Flügel unterstreicht. Am 5.12.1915 schrieb Käte Duncker an ihren Mann: „Eben war E[rnst] M[eyer] bei mir und klagte mir wieder die Misere von Georg [Ledebour] und Joseph [Herzfeld]. Ich fürchte doch, dass wir mit ihnen bre- chen müssen. Sie sind die Hemmschuhe für jede, aber auch jede Tätigkeit […]“26 Und in einem weiteren Brief vom 8. und 9.12. heißt es: „Was Meyer mir mitteilte, ist nicht besonders erfreulich. Es wird schließlich darauf hinauskommen, dass wir ohne die Gruppe Georg [Ledebour] und Joseph [Herzfeld] und so weiter weiter- arbeiten müssen, wollen wir nicht zur Ohnmacht verdammt werden.“27 Der Kreis um Rosa Luxemburg lud daher zu einer ersten Reichskonferenz ein, die am 1. Januar 1916 zusammentrat.28 An ihr nahmen Vertreter der Gruppe Inter- nationale aus zahlreichen deutschen Städten sowie Abgesandte der Bremer und Hamburger Linksradikalen teil. Die gemäßigte Opposition wurde nicht eingela- den. Unter anderem wurde die Herausgabe eines eigenen Mitteilungsblattes be- schlossen. Unterzeichnet mit „Spartacus“, wurde es als „Spartakusbriefe“ be- kannt. „Spartakus“ wurde auch bald zum gängigen Namen der Gruppe. Der Name geht auf einen Vorschlag Meyers zurück und wurde auf einer Sitzung der Spar- takusgruppe Mitte Januar 1916 festgelegt. Meyer erinnerte sich: „Diese Sitzung

25 Abschrift der auf den 6. November 1916 datierten Anklageschrift gegen Ernst Meyer in: SAPMO-BArch, NY 4131/12, Bl.195-201. Siehe auch Autorenkollektiv unter Leitung von Wilibald Gutsche: Deutschland im Ersten Weltkrieg, Januar 1915 bis Oktober 1917. 3 Bände, Berlin (Ost) 1968, Bd. 2, S. 307. 26 Zit. nach Heinz Deutschland (Hrsg.): „Ich kann nicht durch Morden mein Leben erhalten“. Briefwechsel zwi- schen Käte und Hermann Duncker 1915-17, Bonn 2005, S. 37. 27 Zit. nach ebenda, S. 38. Käte Duncker berichtet zu dieser Zeit immer wieder von Besuchen Meyers bei ihr, siehe ebenda, S. 37 und 42. 28 Zur Reichskonferenz siehe den Bericht des Teilnehmers Rudolf Lindau, in: DuM II 1, S. 283f. Siehe auch Heinz Wohlgemuth: Die Entstehung der Kommunistischen Partei Deutschlands, Frankfurt(M) 1978, S. 122- 131; Dieter Fricke: Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1869 bis 1917, 2 Bde., Berlin (Ost) 1987, S. 385-389.

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beschäftigte sich mit der Festlegung der politischen Richtlinien für unsere Arbeit und mit der Herausgabe eines neuen Informations-Materials. Dabei wurde auch die Frage nach einem Kriegsnamen zur Unterscheidung unserer Publikationen von denen der Ledebour-Gruppe aufgeworfen. Da ich mit der Zusammenstellung und technischen Verbreitung unseres Informationsmaterials beauftragt wurde, überließ man mir auch die Wahl des Kriegsnamens. Mit fiel der Name Spartakus ein, der Name des römischen Sklavenbefreiers. Nach kurzer Rücksprache mit Karl Lieb- knecht nannte ich unsere Korrespondenz >Spartakus<. Bei der nächsten Zusam- menkunft der >Zentrale< gab es einiges Hallo: niemand war mit dem Namen zu- frieden. Aber vergeblich bemühten wir uns dann, an der Stelle dieses Namens, der mit erstaunlicher Schnelligkeit populär wurde, die Bezeichnung >Gruppe Interna- tionale< […] einzuführen. Spartakus war sofort zum Symbol der revolutionären Elemente Deutschlands geworden, und das Wort >Spartakist< galt von nun an als Schreckenstitel für jeden Bourgeois und Sozialdemokraten und als Ehrenname für jeden Revolutionär.“29 Meyer gehörte auch zur Redaktionsgruppe, die die „Leitsätze“ der Gruppe aus- arbeitete.30 Die „Leitsätze“ trugen wesentlich zur Klärung der Fronten innerhalb der Gesamtopposition in der SPD bei. Für die Strömung um Kautsky waren sie mit ihrer antiimperialistischen Ausrichtung von vornherein unannehmbar, aber auch die weiter links stehenden Anhänger Ledebours stießen sich an ihrer stren- gen Verpflichtung auf die internationale Disziplin.31 „Die Fragen des Zentralis- mus, die bei der Erörterung der 21 Bedingungen der Kommunistischen Interna- tionale später so eine große Rolle spielten, wurden schon im Februar 1916 zum Schnittpunkt einer wirklich revolutionären und einer kleinbürgerlich-pazifisti- schen Opposition“ (Meyer).32 Unter dem Druck der Spartakusgruppe verweigerten 18 sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete am 24. März 1916 die Zustimmung zu den Kriegskredi- ten. Sie wurden daraufhin aus der Fraktion ausgeschlossen und gründeten die „So- zialdemokratische Arbeitsgemeinschaft“ (SAG).33 Am 31. März brachte der „Vor- wärts“ das Gründungsmanifest der SAG auf seiner Titelseite, während die Erklärung der Fraktionsmehrheit erst im hinteren Teil der Zeitung erschien.34 Es war eine eindeutige Parteinahme der Redaktion und ein klarer Affront gegenüber

29 Ernst Meyer: Spartakus, in: Die Revolution, Nr.2, Berlin, August 1924. Dort wird als Datum der Zentrale- Sitzung Februar 1916 angegeben. Meyer nannte das später einen Irrtum, tatsächlich sei das Treffen Mitte Ja- nuar gewesen, siehe Ernst Meyer: Die Entstehungsgeschichte der Junius-Thesen, in: Unter dem Banner des Marxismus, 1925, H. 2, S. 416-425, hier 425. Siehe zur Namensgabe auch Karl Retzlaw: Spartacus Aufstieg und Niedergang. Erinnerungen eines Parteiarbeiters, Frankfurt/M 1976, S. 39. 30 Siehe Meyer, Die Entstehungsgeschichte, S. 425; Meyer: Vorwort Spartakusbriefe, S. XXXIX. Zu den „Leitsätzen“ und der Debatte um sie siehe Annelies Laschitza/Günter Radczun: Rosa Luxemburg. Ihr Wirken in der deutschen Arbeiterbewegung, Frankfurt/M 1971, S. 366-379. 31 Siehe Frölich, Luxemburg, S. 284. 32 Meyer,Vorwort Spartakusbriefe, S. XL. 33 Siehe Wohlgemuth, KPD, S. 145. Zur Gründung der SAG siehe auch Miller, Burgfrieden, S. 125-133. 34 Siehe Miller, Burgfrieden, S. 143.

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dem Parteivorstand, der daraufhin seine Anstrengungen intensivierte, das Zentral- organ wieder unter seine Kontrolle zu bekommen. Sein erster Schlag traf den ra- dikalsten der „Vorwärts“-Redakteure, Ernst Meyer, dem am 15. April gekündigt wurde. Anlass für die Kündigung war seine Mitarbeit an dem von Rosa Luxem- burg verfass-ten Flugblatt „Die Lehren des 24. März.“35 Die Presskommission der SPD stellte sich aber hinter Meyer, und die Abstimmung über den Fall in der Kon- trollkommission der SPD ergab ein Patt.36 Der Geschäftsführer des „Vorwärts“ weigerte sich, Meyer den Lohn auszuzahlen, und forderte die Redaktion auf, keine Beiträge von ihm mehr anzunehmen, was die Redaktion entschieden ablehnte.37 An die weitere Eskalation des Konfliktes erinnert sich Friedel Gräf, damalige Ste- notypistin beim „Vorwärts“: „So sollte auch unser Genosse Dr. Ernst Meyer, ein enger Mitarbeiter von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, aus der Redaktion des >Vorwärts< verdrängt werden. Ernst Meyer ließ sich aber nicht einschüchtern und ging nach wie vor in sein Redaktionszimmer. Er sagte, der Parteivorstand habe kein Recht, ihn abzuberufen, da er von der Pressekommission eingesetzt worden sei, und nur diese habe ein Recht, ihn von seinem Posten zu entfernen. Daraufhin ließ der Parteivorstand das Arbeitszimmer von Ernst Meyer ver- schließen, aber Ernst Meyer holte einen Schlosser und ließ die Tür öffnen. Am nächsten Tag aber hatte der Parteivorstand dafür gesorgt, dass Ernst Meyer nicht mehr in sein Büro konnte. Ein Polizist stand davor.“38 Meyers Gehalt wurde bis auf weiteres von der Berliner SPD, die die Entlassung ablehnte, ausgezahlt. Der Fall wurde bis in bürgerliche Medien hinein breit diskutiert und machte Meyer zu einer reichsweit bekannten Persönlichkeit der radikalen Linken. Die Verhaftung von Liebknecht und anderen im Frühsommer 1916 machte den Aufbau einer neuen Führung der Spartakusgruppe notwendig, in der Meyer eine immer wichtigere Rolle spielte. Rosa Luxemburgs Sekretärin Mathilde Jacob erinnerte sich: „Nach der Verhaftung Karl Liebknechts am 1. Mai 1916 hatte der von ihm zur illegalen Arbeit herangezogene Vorwärtsredakteur Dr. Ernst Meyer die Leitung des Spartakusbundes übernommen.“39 Auf einem Treffen linksradika- ler Gruppen am 4. Juni 1916 in Berlin wurde Meyer zusammen mit Mehring, Käte Duncker und anderen in einen fünfköpfigen Aktionsausschuss der Spartakus- gruppe gewählt. Wohlgemuth schreibt darüber, es müsse im Sommer 1916 „eine straffe konspirative Leitung“ der Gruppe gegeben haben. „Sie hat wahrscheinlich

35 Siehe Spartakusbrief vom 22.4.16, in Meyer: Spartakusbriefe, S. 154. 36 Siehe Herm[ann] Müller an die Presskommission des „Vorwärts“, Berlin, 19.4.16, in: BArch-SAPMO, NY 4131/17, Bl.43. Zur Kontrollkommission siehe Erklärung des Vorsitzenden der Kontrollkommission, Bock, in: SAPMO-BArch, RY 20/II 145/38, Bl.40. Siehe auch die Erklärung Rosa Luxemburgs als Beauftragte der Berliner Presskommission, in: Ebenda, Bl.39. 37 Siehe Brief Fischer an die Redaktion des Vorwärts, Berlin, o.D., und die Antwort der Redaktion vom 12.05.16, in: SAPMO-BArch, RY 20/II 145/38, Bl.44. Siehe auch Vossische Zeitung, Nr.245, 18.05.16. Dort werden Auszüge des Briefwechsels dokumentiert. 38 SAPMO-BArch, SgY30/0297 (Friedel Gräf), Bl.34. 39 Mathilde Jacob: Von Rosa Luxemburg und ihren Freunden in Krieg und Revolution 1914-1919. Hrsg. und ein- geleitet von Sibylle Quack und Rüdiger Zimmermann, in: IWK, Jg. 24 (1988), H. 4, S. 435–515, hier S. 447.

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bei Ernst Meyer und nach dessen Verhaftung bei Käte Duncker gelegen.“ 40 Die neue Führung wurde rasch zerschlagen: Am 3. August wurde Ernst Meyer und kurz darauf Franz Mehring verhaftet, Käte Duncker erhielt ein Redeverbot.

Erneuter Gefängnisaufenthalt, USPD-Gründung und politische Enttäuschung

Nach seiner Verhaftung am 3. August 1916 musste Meyer diesmal fünf Monate, bis zum 30. Dezember, in Schutzhaft verbringen, erst in der Stadtvogtei am Ber- liner Alexanderplatz, dann ab dem 13. September in der Krankenstation des Un- tersuchungsgefängnisses Alt-Moabit. Meyers Verhaftung war Teil einer Verhaf- tungswelle, die die Führung der Spartakusgruppe und betriebliche Aktivisten traf. Der August-Brief 1916 der Gruppe Spartakus bemerkte dazu sarkastisch: „Auch in Deutschland kommen wir allmählich in Zeiten, wo der geziemendste Ort für an- ständige Leute hinter Gefängnisgittern ist.“41 Sofort nach seiner Haftentlassung stürzte sich Meyer erneut in die illegale Ar- beit der Spartakusgruppe. Dabei arbeitete er eng mit Leo Jogiches zusammen, der nach Meyers Verhaftung die Leitung des illegalen Apparates der Gruppe über- nommen hatte.42 Bereits wenige Tage nach seiner Entlassung nahm Meyer an einer vom Vor- stand der SAG einberufenen gemeinsamen Konferenz von SAG und Spartakus- gruppe am 7. Januar 1917 im Reichstagsgebäude in Berlin teil.43 Er trat hier als Wortführer der Spartakusgruppe auf. Mit ihrer Beteiligung verfolgte die Gruppe das Ziel, die der SAG folgenden Arbeiter aufzuklären und politisch zu gewinnen sowie die Fronten innerhalb der Opposition weiter zu klären.44 Als es zur Abstim- mung kam, entfielen auf die von Lipinski (SAG) vorgelegte Resolution 111 Stim- men, auf die von Meyer vorgelegte 34 Stimmen.45 In seinem Schlusswort sagte Meyer: „Ich bin der Überzeugung, dass, ganz gleich, was Sie heute beschließen, Sie in einigen Monaten alle dem zustimmen werden, was wir heute vorgeschlagen haben.“46 Meyer sollte recht behalten: Wie von ihm vorausgesagt, brauchte der Parteivorstand keinen Beschluss der Oppositionellen über eine Beitragssperre

40 Wohlgemuth: KPD, S. 159. 41 Politische Briefe Nr.22, 12.08.16, in: Meyer: Spartakusbriefe, S. 192-205, Zitat S. 194. 42 Siehe Käte Duncker an Hermann Duncker, 11.2.17, in: Deutschland, „Ich kann nicht ...“, S. 112. 43 Zu dieser Konferenz siehe Miller, Burgfrieden, S. 149-152; Wohlgemuth, KPD, S. 166-168; Bericht über die Konferenz in: Protokoll über die Verhandlungen des Gründungsparteitages der USPD vom 6. bis 8. April 1917 in Gotha. Mit Anhang: Bericht über die gemeinsame Konferenz der Arbeitsgemeinschaft und der Spartakus- gruppe vom 7.1.1917 in Berlin, Berlin 1921, S. 84-121 (Der Bericht künftig zitiert als Protokoll Gründungs- parteitag USPD, Anhang). Siehe auch Ernst Meyer: Zur Geschichte der KPD, in: Die Kommunistische Inter- nationale, Jg. 7, H. 15(24), 28.12.1926, S. 674-680, beS. S. 678. 44 Siehe Wohlgemuth, KPD, S. 167. 45 Protokoll Gründungsparteitag USPD, Anhang, S. 118. Eine weitere von Borchardt eingebrachte Resolution er- hielt 7 Stimmen. 46 Protokoll Gründungsparteitag USPD, Anhang, S. 114.

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oder den Aufbau eigener Strukturen (wie es Meyer gefordert hatte), um diese aus der Partei zu drängen. Die angeblich nur taktische Zurückhaltung der SAG war umsonst gewesen. Das Abhalten der Konferenz selber genügte dem Parteiaus- schuss der SPD, um am 18.01.1917 den Ausschluss der Opposition aus der Partei zu beschließen. Susanne Miller schreibt, den Einladern der Konferenz sei die Ge- fahr einer solchen Konsequenz klar gewesen; unter dem von der Spartakusgruppe ausgehenden massiven Druck von links meinte man aber, nicht anders handeln zu können.47 Von den Ereignissen getrieben, musste der SAG auch die Gründung ei- ner eigenen Partei durch den Parteivorstand erst aufgezwungen werden. Diese wurde auf einem Parteitag vom 6.-8. April 1917 in Gotha unter dem Namen „Un- abhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ (USPD) gegründet, und die Spartakusgruppe schloss sich ihr – wenn auch unter Vorbehalten – an.48 Bei den Wahlen zum Zentralkomitee erlitt die Spartakusgruppe allerdings eine Niederlage: Ihr Kandidat Ernst Meyer fiel mit 60 Stimmen durch.49 Meyer scheint sich dann 1917 – bedingt durch Arbeitssuche und kurzzeitiger Anstellung in Nürnberg, verstärktes Auftreten seiner Lugentuberkulose, vor allem aber in Folge tiefer politischer Enttäuschung – für mehrere Monate aus der Spar- takusführung zurückgezogen zu haben. Mathilde Jacob erinnerte sich: „Meyer war lungenleidend, seine körperlichen Kräfte waren den Strapazen des illegalen Arbeitens auf die Dauer nicht gewachsen, und, verzweifelt über die Haltung des deutschen Proletariats, hatte er sich von der illegalen Arbeit zurückgezogen. Nach Leo Jogiches’ Verhaftung stellte er sich zur Verfügung und übernahm wieder die Herausgabe der >Spartakus-Briefe<.“50 Die von Mathilde Jacob erwähnte Verzweifelung Meyers über die Haltung des deutschen Proletariats und seine politische Enttäuschung gehen aus einem Brief an seinen Freund Rudolf Franz vom 23. Juni 1917 deutlich hervor: „Politisch ist alles tot. Die USP ist nichts als Neuauflage der alten Partei und die Gruppe >Int[ernationale]< zu ohnmächtiger Opposition verurteilt. Auch als selbstständige Partei, wie die Bremer sie wollen, wäre die >Int[ernationale]< genauso hoff- nungslos isoliert und winzig wie die Bremer Gruppe. Die Verblödung der Arbei- terklasse ist viel, viel schlimmer als wir je gedacht. […] Honolulu? Ich wäre da-

47 Siehe Miller, Burgfrieden, S. 152. 48 Zum Gründungsparteitag der USPD siehe Miller, Burgfrieden, S. 158-166; Wohlgemuth, KPD, S. 175-177; Protokoll über die Verhandlungen des Gründungsparteitages der USPD vom 6. bis 8. April 1917 in Gotha. Mit Anhang: Bericht über die gemeinsame Konferenz der Arbeitsgemeinschaft und der Spartakusgruppe vom 7.1.1917 in Berlin, Berlin 1921. Künftig zit. als Protokoll Gründungsparteitag USPD. 49 Siehe Protokoll Gründungsparteitag USPD, S. 71. Ob Meyer selbst in Gotha war, ist unklar. Das Protokoll ent- hält keine namentliche Anwesenheitsliste und verzeichnet keinen Redebeitrag von ihm. 50 Jacob, Luxemburg, S. 486. Diesen Angaben folgend schreibt Ottokar Luban, dass sich Meyer nach seiner Haftentlassung nur wenige Monate an der politischen Arbeit beteiligte, sich dann aus beruflichen und ge- sundheitlichen Gründen, aber auch aufgrund politischer Enttäuschung zurückzog und sich erst nach Jogiches’ Verhaftung in stärkerem Umfang – als Leiter der Spartakusaktivitäten – wieder beteiligte, siehe Ottokar Lu- ban: Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden gegen Mathilde Jacob und Leo Jogiches (1915-1918), in: IWK 1995, H. 3, S. 307-333, hier S. 321.

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bei, aber können Sie garantieren, dass ich dort keine Mehrheit und Minderheit treffe?“51 Offensichtlich war Meyer der politischen Arbeit und wohl auch seiner Genossen (der „Minderheit“) überdrüssig. Der Führungskreis der Spartakus- gruppe war von Anfang an immer auch ein politisch-sozialer Freundeskreis. Poli- tische und persönliche Entfremdung waren daher eng miteinander verbunden und gingen ineinander über. Aus der Zeit der politischen Enttäuschung Meyers finden sich weitere Dokumente, die seine zeitweise persönliche Entfremdung von politi- schen Freunden belegen. Sein ebenfalls aus Königsberg stammender Freund Fritz Ausländer schrieb ihm: „Du hast ganz recht, wenn du bemerkst, dass man mit dem Berliner Kreis [Spartakusführung] doch fast nur äußerliches gemeinsam hatte. (Von Mehring hielt und halte ich allerdings sehr viel, der ist Fundament, trotz al- ledem).“52 In einem Brief vom 19. Juli schrieb Meyer, an Rudolf Franz: „Wie viel Illusionen über die gegenwärtige Leistung der Arbeiterschaft stecken noch darin. Ich bin völlig resigniert und zweifle, dass überhaupt noch etwas aus diesem ver- lotterten Geschlechte wird.“53 Neben Meyer scheint auch Leo Jogiches im Som- mer 1917 vorübergehend in eine tiefe Resignation verfallen zu sein.54

Leiter der Spartakusgruppe 1918

Die von der Oktoberrevolution in Russland 1917 ausgehenden Wellen der Hoff- nung erreichten auch Meyer und veranlassten ihn, wieder politisch aktiv zu wer- den. Im Frühjahr 1918 wurde die Spartakusgruppe erneut hart von der polizeili- chen Repression getroffen. In ihrem Zuge wurde am 24. März Leo Jogiches verhaftet. In der Folge lag die Leitung der Spartakusgruppe und die Herausgabe ihrer illegalen Materialien bis zur Haftentlassung von Liebknecht und anderen kurz vor Ausbruch des Novemberrevolution wieder in den Händen Meyers.55 Wilhelm Pieck, mit dem Meyer damals eng zusammenarbeitete, erinnerte sich an diese Zeit: „Da fast alle führenden Genossen der Spartakusbewegung in den Kerkern saßen, […] oblag dem Genossen Ernst Meyer die Führung der gesamten Spartakuspropaganda, die im letzten Kriegsjahre in stärkster Weise auf die Orga- nisierung revolutionärer Kämpfe und der Beendigung des Krieges durch den Bür- gerkrieg eingestellt war.“56 Meyer selbst schrieb später: „Die Herausgeber arbeite- ten vollständig illegal, wurden Stunde für Stunde bespitzelt und mussten sich jede

51 Ernst Meyer an [Rudolf] Franz, Berlin-Steglitz, 23.6.17, in SAPMO-BArch, NY 4020/15, Bl.10. 52 Fritz Ausländer an Ernst Meyer, Königsberg, 1.6.17, in SAPMO-BArch, NY 4131/17. 53 Brief Ernst Meyer an [Rudolf Franz], Berlin-Steglitz, 19.07.17, in SAPMO-BArch, NY 4020/15, Bl.12. 54 Siehe Ottokar Luban: Die „innere Notwendigkeit, mithelfen zu dürfen“. Zur Rolle Mathilde Jacobs als Assi- stentin der Spartakusführung bzw. der KPD-Zentrale, in: IWK, 1993, H. 4, S. 421-470, hier S. 437. 55 Siehe Weber/Herbst, S. 502; IML, Lexikon, S. 328. Luban: Notwendigkeit, S. 436, schränkt hingegen ein: „Meyer, der ab April 1918 in der Spartakusgruppe die Leitungsaufgaben – zumindest zum Teil – übernommen hatte […]“, um aber an anderer Stelle im selben Text über Meyer zu schreiben: „[…] in den letzten Kriegs- monaten, als er die Spartakusgruppe leitete…“ (ebenda S. 459). 56 Wilhelm Pieck:: Ernst Meyer, in: Inprekorr Nr.13, März 1930, S. 323.

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Minute auf eine Verhaftung gefasst machen. […] Zuweilen war Leo Jogiches Ver- fasser, Herausgeber und Bote in einer Person. Nach seiner Verhaftung im Frühjahr 1918 übernahm wiederum ich die Zusammenstellung, Herausgabe und Verbrei- tung […]. Die Verbreitung geschah durch Hunderte von Freiwilligen, die mit bei- spiellosem Opfermut und freudiger Hingabe die Briefe in Tausenden von Exem- plaren in die Betriebe, in die Arbeiterorganisationen und sogar in die Schützengräben brachten. Besonders viel leisteten dabei die Jugendlichen und die Frauen. Es wurde so kräftig zugepackt, dass die von uns vorgesehenen Auflagen häufig nicht ausreichten […]. Auf Herstellung und Verbreitung standen hohe Stra- fen. Zuletzt verhängten die Gerichte Zuchthausstrafen.“57 Bis es Meyer gelang, eine neue illegale Struktur zu schaffen, konnten eine Zeit lang kaum Flugblätter und Zeitungen herausgebracht werden, was die illegale Ar- beit schwer hemmte.58 So konnte Meyer erst im Juni 1918 nach viermonatiger Un- terbrechung wieder einen Spartakusbrief in einer Auflage von ca. 6.000 Exempla- ren herausbringen,59 und erst ab Juli 1918 verbreitete die Gruppe wieder regelmäßig Flugblätter.60 Trotz aller Rückschläge und der Illegalität war die Flug- blattagitation der Spartakusgruppe „die bei weitem umfangreichste der Linken“.61 Die Aushebung einer Berliner Spartakus-Druckerei im Juni 1918, die Zerschla- gung der Struktur für den Spartakusflugschriftenversand am 15. August 1918 und eine damit einhergehende weitere Verhaftungswelle trafen die Gruppe erneut hart.62 Zudem sah sie sich auch innerhalb der radikalen Linken zunehmend iso- liert: Die Revolutionären Obleute, die wichtigste radikale Struktur in der Berliner Industriearbeiterschaft, brachen im Sommer 1918 alle Kontakte zur Gruppe ab, da sie aufgrund der permanenten polizeilichen Überwachung ihrer Aktivisten und des Einsatzes von Spitzeln in der Spartakusgruppe eine Gefahr für ihre Organisation witterten.63 Auch auf diese Art führte die polizeiliche Repression zu einer massi- ven Einschränkung der politischen Handlungsmöglichkeiten der Spartakisten. Am 5. September 1918 schickte Meyer einen Brief an Lenin, um ihm nach dem Attentat (am 30.8.1918) baldige Genesung zu wünschen. Aus diesem Brief geht ein weiteres Mal die schwierige Situation der Gruppe im Sommer 1918 hervor,

57 Ernst Meyer: Spartakus, in: Die Revolution, Nr.2, August 1924. Siehe auch Ernst Meyer: Rosa Luxemburg und die Bolschewiki, in: Die Rote Fahne, 15.1.22, Beilage: „Genossin Luxemburg sandte aus ihrer Schutzhaft regelmäßig Beiträge für die Zeitschrift „Spartakus“, deren Inhalt anfänglich von mir, seit meiner Verhaftung vom Genossen Leo Jogiches und nach seiner Verhaftung im Frühjahr 1918 wiederum von mir zusammen- gestellt wurde.“ 58 Siehe Wohlgemuth: KPD, S. 204 und 207. 59 Ab August erschienen die Spartakusbriefe bis zum Ausbruch der Novemberrevolution wieder monatlich, siehe Meyer: Spartakusbriefe. Zur Auflage siehe Luban, Luxemburg, S. 19. 60 Siehe Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, hrsg. vom IML, Reihe II, Bd. 2 (November 1917-Dezember 1918), Berlin (Ost) 1957 [künftig zit. als DuM II/2], Dok. 66, 67, 68, 72, 74, 79. 61 Ottokar Luban: Rosa Luxemburg, Spartakus und die Massen. Vier Beispiele zur Taktik der Spartakusgruppe bzw. des Spartakusbundes, in: Supplement der Zeitschrift Sozialismus 1997, H. 5, S. 11–27, hier S. 17. 62 Siehe Luban, Ermittlungen, S. 328. 63 Siehe Hoffrogge, Müller, S. 56; sowie dessen Beitrag im vorliegenden Band; Luban, Massenstreiks, S. 24.

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aber auch ein allmählich wieder zunehmender Optimismus: „Sie werden ebenso un- geduldig wie wir selbst auf die Zeichen revolutionärer Bewegungen in Deutschland gewartet haben und noch warten. Erfreulicherweise sind alle meine Freunde we- sentlich optimistischer geworden. Leider können wir von größeren Aktionen in der Gegenwart und in der nächsten Zeit nicht berichten. Aber noch für den Winter ist mehr geplant, und die gesamten Verhältnisse in Deutschland stützen unsere Arbeit. […] Die Vorgänge in Russland haben ein lehrreiches, für niemanden übersehbares Beispiel aufgerichtet. Da die Mehrzahl meiner Freunde noch immer im Zuchthaus oder in Schutzhaft sitzt und Genosse Mehring zur Erholung im Harz weilt, unter- zeichne ich diesen Brief allein mit nochmaligen herzlichen Wünschen für ihre bal- dige Wiederherstellung.“64 Dem Schreiben Meyers ist nicht zu entnehmen, dass er damit rechnete, in Deutschland könne binnen zwei Monaten die Revolution ausbre- chen. In der Spartakusführung stand Meyer mit seiner Skepsis gegenüber den Aus- sichten auf eine baldige Revolution keineswegs alleine: Leo Jogiches und Clara Zet- kin waren ebenso skeptisch, und Hermann Duncker rechnete im Sommer 1918 mit dem Ausbruch einer Revolution in Deutschland in ca. 2 Jahren.65

Meyer in der Novemberrevolution

Mit der Haftentlassung Liebknechts, der Rückkehr Piecks im Oktober 1918 und der Entlassung Rosa Luxemburgs aus dem Gefängnis rückte Meyer – der zuvor monatelang die zentrale Persönlichkeit im illegalen Apparat der Spartakusgruppe gewesen war – wieder stärker in den Hintergrund, übernahm aber sowohl in der Zeit unmittelbar vor Ausbruch der Revolution als auch während und nach der Re- volution weiterhin wichtige Leitungsaufgaben. In die unmittelbare Vorbereitung der Revolution war Meyer intensiv involviert. Bereits am 26. Oktober 1918 war er – zusammen mit Liebknecht und Pieck – in den Vollzugsausschuss der Berliner Revolutionären Obleute eingetreten.66 In diesem kamen Vertreter der Spartakusgruppe und der USPD mit den Führern der Revolutionären Obleute zusammen.67 In den Wochen vor dem 9. November war der Vollzugsausschuss das zentrale Gremium zur Vorbereitung der Revolution.

64 Meyer an Lenin, 4.9.18, in: DuM II/2, S. 195. 65 Siehe Ottokar Luban/Felix Tych: Die Spartakusführung zur Politik der Bolschewiki. Ein Kassiber Leo Jogi- ches´ aus dem Gefängnis an Sophie Liebknecht vom 7. September 1918, in: IWK, Jg. 33 (1997), H. 1, S. 92- 102, S. 97. Zu Zetkin siehe Luban, Notwendigkeit, S. 442. 66 Siehe Wilhelm Pieck: Erinnerungen an die Novemberrevolution in Berlin. Nach Tagebuchaufzeichnungen 1920, in: Ders. : Gesammelte Reden und Schriften, Bd.1: August 1904 bis Januar 1919, Berlin (Ost) 1959, S. 412-482., S. 414. Der Spartakist Otto Franke war bereits zuvor Mitglied in diesem Gremium gewesen. Un- mittelbar vor dem 9.11.18 wurden außerdem Jacob Walcher, Paul Lange und evtl. noch weitere Spartakus- mitglieder hinzugezogen, siehe Ottokar Luban: Zwei Schreiben der Spartakuszentrale an Rosa Luxemburg. (Juni 1917; 5.11.1918), in: Archiv für Sozialgeschichte, Jg. IX (1971), S. 225-240, hier S. 239, Anm.65. 67 Die Obleute hatten aus Vertretern der Betriebe außerdem einen „Arbeiterrat“ gebildet, der wiederum mit dem Vollzugsausschuss eine Vollversammlung beider Gremien bildete. Siehe Luban, Schreiben, S. 239, Anm. 66, sowie Hoffrogge, Müller, und im vorliegenden Band.

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Die Zusammenarbeit mit den Obleuten war für die Spartakusgruppe von höch- ster Priorität, gerade auch in Anbetracht ihrer eigenen Schwäche. Noch am 5. No- vember schrieb Paul Levi an Rosa Luxemburg, dass „uns ja augenblicklich jeder Mechanismus fehlt, der selbstständig Massen in Bewegung setzen könnte“.68 Eben einen solchen Mechanismus boten die in den Betrieben stark verankerten Obleute, die während des Krieges zwei Massenstreiks in Berlin durchgeführt hatten. Sie waren für die Spartakisten der notwendige Hebel, um eine revolutionäre Ent- wicklung in der Hauptstadt in Gang setzen zu können. Außerdem lag der Eintritt der Spartakisten in dieses Gremium auf der Linie ihres auf der Oktoberkonferenz der Gruppe gefällten Beschlusses, „die Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten sofort in allen Orten in Angriff zu nehmen, soweit solche Räte bisher nicht in Funktion getreten sind“.69 Die in Berlin einem Arbeiterrat am nächsten kommende Struktur bildeten die Revolutionären Obleute. Die bereits in der Vergangenheit konfliktträchtige Beziehung zwischen Sparta- kisten und Obleuten blieb allerdings gespannt. Richard Müller, einer ihrer Führer, erinnerte sich: „Nach der Meinung Liebknechts und der anderen Spartakusleute mußte die Arbeiterschaft ständig in Aktionen, ständig in Kampfhandlungen ge- halten werden. Demonstrationen, Streiks, Zusammenstöße mit der Polizei, sollten den revolutionären Elan der Masse anfachen und bis zur Revolution steigern. [...] Die Erfahrungen der russischen Revolution wurden zur Begründung herangezo- gen.“70 Den Obleuten erschien diese Taktik gefährlich und voluntaristisch. Sie wollten den richtigen Augenblick abwarten und keinesfalls zu früh losschlagen. Außerdem hielten sie die bisherige Bewaffnung der Arbeiter für unzureichend.71 Am Vormittag des 2. November legten Obleute und Spartakisten in einer Neuköll- ner Wirtschaft schließlich den Aufstandsplan für Berlin fest: Von den Großbetrie- ben am Stadtrand aus sollten bewaffnete Demonstrationszüge zu den Kasernen ziehen und von dort aus – gemeinsam mit überlaufenden Soldaten und mit weite- ren Waffen ausgestattet – die Machtzentren in der Innenstadt besetzen. Als Datum des Aufstandes wurde der 4. November festgelegt.72 Bei einer Aussprache, die Liebknecht, Pieck und Meyer mit anderen Genossen anschließend hatten, wurde der Plan, mit einem Aufstand zu beginnen, kritisiert. Stattdessen sollte am Anfang ein Generalstreik stehen, der dann bis zum Aufstand gesteigert werden sollte.73 Noch am Abend des 2. November kam der Vollzugsausschuss zu einem weite- ren Treffen zusammen. Liebknecht, Meyer und Pieck kämpften für ein Festhalten an dem vormittags gefällten Beschluss, den Beginn der Aktionen auf den 4. No-

68 Zit. nach Ottokar Luban: Siehe im vorliegenden Band. 69 Meyer, Spartakusbriefe, S. 470. 70 Zit. nach Hoffrogge, siehe im vorliegenden Band. 71 Siehe Pieck, Erinnerungen, S. 414f; siehe auch Hoffrogge. 72 Siehe ebenda. 73 Siehe Pieck, Erinnerungen, S. 417. Laut Heinz Voßke/Gerhard Nitzsche: Wilhelm Pieck. Biographischer Ab- riss, Frankfurt/M 1975, S. 84, fand diese Aussprache mit „russischen Genossen“ statt.

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vember zu legen. Einigen der Obleute aus den kleineren Betrieben (sie vertraten 48.000 Kollegen) waren aber Bedenken über die tatsächliche Revolutionsbereit- schaft der Massen gekommen. Nach endlosen Debatten wurde morgens um 3 Uhr mit knapper Mehrheit (22:19) der geplante Aufstandstermin auf den 11. Novem- ber verschoben und ein von Ledebour verfasster Revolutionsaufruf verworfen.74 Während in Berlin die beiden wichtigsten Formationen der revolutionären Lin- ken – Spartakusgruppe und Revolutionäre Obleute – noch um den Revolutions- termin rangen, brach unabhängig von ihnen die Revolution in anderen Teilen des Reiches aus. Nur in Berlin blieb es zunächst merkwürdig ruhig, die alten Auto- ritäten fühlten sich sogar stark genug, noch am 7. November eine Versammlung zur Feier des Jahrestages Revolution in Russland zu sprengen. Starke Militärprä- senz prägte das Berliner Straßenbild am folgenden Tag.75 Hinter den Kulissen drängten die Spartakus-Vertreter in den jetzt fast täglich stattfindenden Geheimsitzungen mit den Revolutionären Obleuten diese verzwei- felt, den Aufstandstermin vorzuverlegen. Liebknecht notierte: „Allen Forderun- gen auf Beschleunigung der Aktion wird seit dem 3. November von Däumig, Barth, Müller usw. stereotyp entgegnet: Jetzt sei alles auf den 11. November vor- bereitet, es sei technisch unmöglich, die Revolution früher zu machen! Alle Pro- teste L.[iebknecht]s gegen diese grob-mechanische Auffassung prallten ab, bis die objektiven Verhältnisse die superklugen Revolutionsfabrikanten überrannten.“76 Erst als sich die Revolution bereits im ganzen Reich ausgebreitet hatte, gaben die Obleute dem Drängen der Spartakisten nach. In eine gemeinsame Sitzung des Vollzugsausschusses der Obleute mit dem USPD-Vorstand im Fraktionszimmer der USPD im Reichstag, an der Meyer, nicht aber Liebknecht teilnahm, platzte am 8. November die Nachricht, Däumig, einer der Führer der Obleute, der die Auf- standspläne bei sich trug, sei verhaftet worden. Mit einer umfassenden Verhaf- tungswelle war zu rechnen. Nun musste augenblicklich gehandelt werden. Ein- stimmig wurde beschlossen, die Berliner Arbeiterschaft für den Morgen des 9. November zum Losschlagen aufzufordern.77 Vom Vollzugsrat erschien ein kurzer Aufruf, der „die sozialistische Republik mit allen ihren Konsequenzen“ forderte, ohne allerdings die nächsten Schritte auf dem Weg dorthin oder die Ausgestaltung dieser Republik näher zu benennen.78 Noch am gleichen Tag erschien ein von Liebknecht und Meyer unterzeichneter Aufruf: „Arbeiter und Soldaten! Nun ist eure Stunde gekommen. Nun seid ihr

74 Siehe Pieck, Erinnerungen, S. 417-419; Der Ledebour-Prozes. Gesamtdarstellung des Prozesses gegen Lede- bour wegen Aufruhr etc. vor dem Geschworenengericht Berlin-Mitte vom 19. Mai bis 23. Juni 1919, aufgrund des amtlichen Stenogramms bearbeitet und mit einem Vorwort versehen von Georg Ledebour, Berlin 1919, S. 28-30 (künftig zitiert als: Der Ledebour-Prozess). 75 Siehe Chris Harman: Die verlorene Revolution. Deutschland 1918-1923, Frankfurt(M) 1998, S. 55. 76 Zit. nach Hoffrogge, Müller. 77 Siehe Der Ledebour-Prozess, S. 30. Dort wird auch die Teilnahme Meyers an dem Treffen erwähnt. 78 Siehe Gerhard Engel/Bärbel Holtz/Ingo Materna: Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenräte in der Revolution 1918/19. Dokumente der Vollversammlungen und des Vollzugsrates. Vom Ausbruch der Revolution bis zum 1. Reichsrätekongress, Berlin 1993, Dok. 3, S. 5f.

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nach langem Dulden und stillen Tagen zur Tat geschritten. Es ist nicht zuviel ge- sagt: In diesen Stunden blickt die Welt auf euch und haltet ihr das Schicksal der Welt in euren Händen. […] Jetzt, da die Stunde des Handelns gekommen ist, darf es kein Zurück mehr geben. Die gleichen >Sozialisten<, die vier Jahre lang der Regierung Zuhälterdienste geleistet haben […], setzen jetzt alles daran, um euren Kampf zu schwächen, um die Bewegung abzuwiegeln. […] Von der Zähigkeit und dem Erfolg eures Kampfes […] hängt der Erfolg des Proletariats der ganzen Welt ab. Soldaten! Handelt wie eure Kameraden von der Flotte, vereinigt euch mit eu- ren Brüdern im Arbeitskittel. Lasst euch nicht gegen eure Brüder gebrauchen, folgt nicht den Befehlen der Offiziere, schießt nicht auf die Freiheitskämpfer.“ Der Aufruf stellte 6 Forderungen auf: „1. Befreiung aller zivilen und militärischen Gefangenen. 2. Aufhebung aller Einzelstaaten und Beseitigung aller Dynastien. 3. Wahl von Arbeiter- und Solda- tenräten […]. 4. Sofortige Aufnahme der Beziehungen zu den übrigen deutschen Arbeiter- und Soldatenräten. 5. Übernahme der Regierung durch die Beauftragten der Arbeiter- und Soldatenräte. 6. Sofortige Verbindung mit dem internationalen Proletariat, insbesondere mit der russischen Arbeiterrepublik.“ Er schloss mit den Worten: „Hoch die sozialistische Republik! Es lebe die Internationale!“79 Anders als im Aufruf des Vollzugsrates werden hier konkrete Forderungen genannt. Be- sonders wichtig waren dabei die, die eine auf Arbeiter- und Soldatenräte gestützte Regierung forderten. Zugleich warnte der Aufruf eindeutig vor den Bestrebungen der SPD. Der Aufruf trug nur zwei Unterschriften: die Liebknechts und die Mey- ers. Dies unterstreicht, wie bekannt der ehemalige Vorwärts-Redakteur Meyer zu- mindest in der Berliner Arbeiterschaft mittlerweile war. Wahrscheinlich ist der Aufruf nur von Meyer verfasst und von ihm in seinem und Liebknechts Namen unterschrieben worden, was Liebknecht nachträglich billigte.80 Am 9. November war Ernst Meyer unermüdlich im Einsatz und an den ver- schiedensten Schauplätzen der Revolution in Berlin präsent. Bereits am frühen Morgen des 9. November nahm er in der Mühlenstraße in Schöneberg an einer Be- sprechung des Vollzugsausschusses teil. Von dort aus eilten Liebknecht, Meyer und Hermann Duncker in die Innenstadt und sprachen von Autodächern aus zu den Massen.81 Gemeinsam mit Paul Levi und Käte Duncker beteiligte sich Meyer gegen 13 Uhr an der Befreiung von inhaftierten politischen Gefangenen, unter ihnen Leo Jogiches, aus dem Gefängnis Berlin-Moabit durch bewaffnete Arbeiter und Sol- daten.82 Anschließend eröffnete er die nach der Ausweisung des russischen Bot-

79 DuM II/2, S. 324f. In der Dokumentation „Spartakus im Kriege“ wird das Flugblatt bereits auf den 7. No- vember datiert, (siehe Meyer, Spartakus, Dok. 57). 80 Siehe KPD (Hrsg.): Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution, Berlin 1929 (Reprint Frankfurt/M 1971), S. 204. 81 Siehe Annemarie Lange: Das Wilhelminische Berlin, S. 798. 82 Siehe SAPMO-BArch, SgY30/0169 (Käte Duncker), Bl.31; siehe auch IML (Hrsg.): Illustrierte Geschichte der deutschen Novemberrevolution 1918/19, Berlin 1978, S. 143.

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schafters am 5. November geschlossene sowjetische Telegrafenagentur ROSTA neu. Über diesen Vorgang schrieb er später: „Am 9. November ging ich nachmit- tags, ehe ich die Redaktion der >Roten Fahne< […] übernahm, in das Polizeibüro in der Wilhelmstrasse, wo die Schlüssel zur Rosta aufbewahrt wurden. Ich ent- fernte die noch vorhandenen Polizeisiegel an den Türen der Rosta und begann so- fort wieder die Übermittlung von Nachrichten an die Presse. Eines der ersten Do- kumente war der deutsch-japanische Geheimvertrag, den mir Joffe am Tage vor seiner Ausweisung zwecks Publikation übergeben hatte.“83 Währenddessen wurde unter der Leitung Hermann Dunckers der „Berliner Lokal-Anzeiger“, ein zum Hu- genberg-Konzern gehörendes, politisch weit rechts stehendes Blatt, von einem Trupp revolutionärer Arbeiter und Soldaten besetzt. Duncker erinnerte sich: „Ich hatte von der Druckerei aus sofort mir telefonisch erreichbare Freunde aus der Spartakusleitung herbeigerufen. Dr. Ernst Meyer kam als erster und übernahm die Redaktion.“84 Erstmals seit seiner Entlassung aus der Vorwärts-Redaktion konnte Meyer nun wieder legal in seinem Beruf als Redakteur arbeiten. Die neue Zeitung erschien am Sonntag, dem 10. November, in einer Auflage von 15.000 Stück und wurde an alle Abonnenten des „Lokalanzeigers“, darunter verschiedene Frontgarnisonen, verschickt.85 Sie machte auf mit einem Aufruf des Vollzugsrates zur Wahl von Ar- beiter- und Soldatenräten, die sich am kommenden Tag im Zirkus Busch zur Wahl einer provisorischen Regierung versammeln sollten. Weiterhin brachte die Zei- tung auf der Titelseite die Notiz, das der bisherige Lokal-Anzeiger „von uns erst in später Abendstunde übernommen wurde“ und daher die Zeitung eine Reihe be- reits gesetzter Artikel enthalte, die nicht die Meinung der neuen Redaktion wie- dergeben. Neben verschiedenen Meldungen findet sich auch ein redaktioneller Beitrag auf der Titelseite, der die Ausrichtung der Spartakusgruppe unterstrich: „Diese Revolution muss nicht nur hinwegschwemmen alle Reste und Ruinen des Feudalismus, sie muss nicht nur brechen alle Zwingburgen des Junkertums, […] ihre Losung heißt nicht nur Republik, sondern sozialistische Republik! […] Aus den Trümmern und dem Schutt des Weltkrieges muss das revolutionäre, siegrei- che Proletariat die neue Wirtschaft errichten. Dazu bedarf es der politischen Macht und der wirtschaftlichen Kräfte. […] Arbeiter und Soldaten! Organisiert euch, be- festigt eure Macht! Behaltet eure Waffen!“ Immer wieder warnte die Zeitung ihre Leser, sich nicht vorschnell des Sieges zu freuen, und rief sie auf, wachsam und misstrauisch zu sein: „Arbeiter, Soldaten, bleibt auf der Hut!“86 Weitere Artikel zählten die nächsten notwendigen Schritte zur Befestigung der Rätemacht auf und griffen die SPD scharf an: „Vier lange Jahre lang haben die Scheidemänner, die

83 Ernst Meyer an die Zentrale der KPD, 1.8.25, in: SAPMO-BArch, RY 1/I 2/3/75, Bl.334f, hier Bl.335. Meyer behielt die Leitung der ROSTA bis zu ihrer endgültigen Schließung während des Januar-Aufstandes 1919. Adolf Joffe war der Botschafter Sowjetrusslands in Berlin. 84 SAPMO-BArch, NY 4445/30, Bl.16. 85 Siehe Annemarie Lange: Berlin in der Weimarer Republik, Berlin 1987, S. 18. 86 Rote Fahne, Nr. 2, 10.11.18, S. 1.

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Regierungssozialisten euch durch die Schrecken eines Krieges gejagt, haben euch gesagt, man müsse >das Vaterland< verteidigen, wo es sich nur um die nackten Raubinteressen des Imperialismus handelte. Jetzt, wo der deutsche Imperialismus zusammengebrochen ist, suchen sie für die Bourgeoisie zu retten, was noch zu ret- ten ist, und suchen, die revolutionären Energien der Massen zu ersticken.“87 Welchen Weg Deutschland künftig gehen würde, war in den Wochen nach dem 9. November offen. Ob sich eine bürgerliche „Republik Deutschland“ oder die „freie sozialistische Republik“ durchsetzen würde, war noch nicht eindeutig ab- sehbar. Bereits am 10. November, einem Sonntag, versammelten sich ab 17.00 die in den Morgenstunden desselben Tages in den Betrieben und Kasernen gewählten Delegierten zu einer Vollversammlung der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte im Zirkus Busch. Pathetisch titelte der „Vorwärts“ an diesem Tag: „Kein Bruder- kampf!“. Mit dieser die Stimmung der Massen treffenden Parole sollte jede Kritik an der Politik der SPD in den vergangenen vier Jahren abgewehrt und somit radi- kaler Agitation im Namen der „Einheit“ entgegengewirkt werden. Spartakus stellte nur wenige der ca. 3.000 Delegierten, weder Rosa Luxemburg noch Karl Liebknecht hatten ein Mandat erhalten. Ernst Meyer nahm an der Versammlung teil, wahrscheinlich aber auch nur als Beobachter. Die Vollversammlung be- schloss, die Regierungsgewalt einem „Rat der Volksbeauftragten“ zu übertragen, der aus drei SPD- und drei USPD-Mitgliedern bestand. Weiterhin erklärte die Vollversammlung Deutschland zur sozialistischen Republik, in der die Arbeiter- und Soldatenräte die Träger der politischen Macht seien.88 Noch am Abend des- selben Tages kam die Spartakusführung (einschließlich der aus dem Gefängnis entlassenen Rosa Luxemburg, die gegen 22 Uhr Berlin erreichte) in den Räumen des besetzten „Berliner Lokal-Anzeigers“ zusammen. Trotz der Freude, dass sie nun endlich wieder alle beisammen waren, herrschte eine sehr nachdenkliche Stimmung. Auch wenn die Revolution vorerst erfolgreich gewesen war: Die Ver- sammelten fürchteten, dass die Konterrevolution keineswegs besiegt war, und ih- nen war bewusst, dass der Spartakusgruppe „die Massenorganisation, mit der sie nicht nur in Berlin, sondern im ganzen Reich ihre Aufgabe hätte erfüllen können“, fehlte.89 Am 11. November kamen Vertreter der Spartakusgruppe zur ersten legalen Konferenz ihrer Geschichte im Hotel Excelsior am Anhalter Bahnhof zusammen. Luxemburg, Liebknecht, Levi und Meyer hatten hier vorübergehend Quartier ge- nommen.90 Die Konferenz beschloss, die Spartakusanhänger fester zusammenzu-

87 Ebenda, S. 3. 88 Zur Vollversammlung der Berliner A.- und S. -Räte siehe IML: Novemberrevolution, S. 149-153, Zitat S. 152. Zur Teilnahme Meyers siehe Lange, Berlin (1987), S. 39. Siehe auch Pieck, Erinnerungen, S. 433f. Womög- lich nahm Meyer als Pressevertreter teil. Er musste sich am 10.11. sowohl um die Redaktion der „Roten Fahne“, als auch um die Anwerbung neuer Mitarbeiter der ROSTA kümmern. Dazu siehe SAPMO-BArch, SgY30/0297 (Friedel Gräf), Bl.44. 89 Pieck, Erinnerungen, S. 455.

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fassen und die Gruppe in „Spartakusbund“ umzubenennen. Eine Mehrheit der An- wesenden sprach sich dafür aus, vorerst weiter in den Reihen der USPD zu wir- ken, um die sich an ihr orientierenden Arbeitermassen besser erreichen zu können. Der Spartakusbund solle aber in der USPD als geschlossene Propagandavereini- gung auftreten und eigene Mitgliedskarten ausgeben. Als nächste Aufgaben wur- den die Herausgabe einer Tageszeitung, einer wissenschaftlichen Wochenzeitung, einer Jugendzeitung, einer Frauenzeitung und eines Blattes für Soldaten festge- legt. Der Spartakusbund wählte sich eine dreizehnköpfige Zentrale, der Willi Bu- dich, Hermann und Käte Duncker, Hugo Eberlein, Leo Jogiches, Paul Lange, Paul Levi, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Ernst Meyer, Wilhelm Pieck und angehörten. Luxemburg und Liebknecht sollten künftig die Redaktion der „Roten Fahne“ leiten, Meyer als ihr Vertreter in der Redaktion arbeiten. Allerdings kam dem Spartakusbund am Tage seiner Gründung sein Zentralorgan vorerst abhanden. Daran erinnerte sich die Spartakus-Anhängerin Lotte Pulewka: „An diesem Tag bemerkte ich, dass das Gebäude des Lokal-Anzeigers nicht wie sonst von Solda- ten des Arbeiter- und Soldatenrates bewacht war. Ich ging eine alte Wendeltreppe hinauf über einen Korridor, machte vorsichtig die Tür zum Konferenzsaal auf, und schon hatte mich jemand von innen bei der Hand gepackt und in den Saal gezerrt. Dieser Konferenzsaal war fast völlig von einem großen ovalen Tisch und den da- zugehörigen Stühlen ausgefüllt. […] Im Saal war ein furchtbarer Lärm, alle An- wesenden schrien durcheinander. Ich sah auch unsere Genossen bei einander ste- hen: Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht (er war blaß, hager, übermüdet), Käte und Hermann Duncker, Dr. Ernst Meyer, Lotte Haenschel und andere. Außer ihnen waren im Saal einige vornehm gekleidete, gut genährte Herren und unsere Wache, die völlig betrunken war. Mit Hilfe von Ernst Meyer stieg eine kleine, zarte Frau auf den Tisch, sie hatte ein liebes, kluges Gesicht. Ich war erschüttert: Zum ersten Mal sah ich Rosa Luxemburg. […] Sie sagte: >[…] Ich empfehle, dass wir eine Kommission bilden, der ein Mitglied der alten Redaktion, eins der neuen und ein Mann von der Wache angehören. Sie sollen zum Reichstag gehen, dort Klarheit schaffen und dann Bericht erstatten.< Einer der Soldaten ergriff die Initiative, stimmte Rosa Luxemburg zu und sagte zu Ernst Meyer: >Du fährst mit und die anderen Genossen von der >Roten Fahne< werden so lange eingesperrt und be- wacht.“91 Diese Episode wirft ein bezeichnendes Bild auf die deutsche Revolution und auf die Schwäche des Spartakusbundes: Am Tag drei der Revolution kann ein po- litisch rechtsstehender Verleger mit Hilfe eigentlich „revolutionärer“ Soldaten die

90 Zur Konferenz siehe Pieck, Erinnerungen, S. 437-439; siehe auch IML: Novemberrevolution, S. 173f. Zu Meyer im Excelsior siehe das Schreiben Mathilde Jacobs vom 12.11.18: „Sie [Rosa Luxemburg] arbeitet Tag und Nacht. Vorläufig wohnt sie im Hotel, und Karl [Liebknecht], Paul [Levi], Ernst [Meyer] auch.“ Nach Lu- ban, Notwendigkeit, S. 450. 91 SAPMO-BArch, SgY30/0738 (Lotte Pulewka), Bl.7f.

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bekanntesten radikalen Revolutionäre kurzerhand festsetzen und ihnen das requi- rierte Haus des Scherl-Verlages abnehmen. Der Vollzugsrat der Berliner A.- und S.-Räte stellte sich zwar auf die Seite der Spartakisten und beschloss am 12. No- vember: „Dem Scherl-Verlag wird vom Vollzugsrat des A.-u. S.-Rates die Ver- pflichtung auferlegt, die täglich erscheinende Zeitung >Die Rote Fahne< unter der Redaktion von Frau R. Luxemburg (Vertreter [Ernst] Meyer) zu drucken und die für die Herstellung und Verbreitung erforderlichen Einrichtungen zur Verfügung zu stellen.“92 Der Verlag weigerte sich aber, der Anordnung folge zu leisten, und organisierte sich die Unterstützung der Regierung Ebert. Die „Vereinigung Groß- städtischer Zeitungsverleger“, der der Scherl-Verlag angehörte, wandte sich pro- testierend an den Reichskanzler Ebert und drohte, die Verlage würden ihr Ver- trauen in die Regierung verlieren, wenn diese nicht sofort in ihrem Interesse handele. Darauf wurde der Befehl zurückgezogen.93 Es sollte eine Woche verge- hen, bis der Spartakusbund endlich eine regelmäßige Tageszeitung herausbringen konnte. Vor welchen Schwierigkeiten die Redaktion stand, illustriert ein Schrei- ben Rosa Luxemburgs an Wolfgang Fernbach, in dem sie auf sein Angebot zur Mitarbeit an der Zeitung eingeht: „Was aber sehr nötig und nützlich, sind Notizen, kurze Entrefilets aktueller Natur. Darüber müsste man sich von Fall zu Fall ver- ständigen. Aus allen diesen Gründen wäre es nötig, dass Sie nächstens mal auf die Redaktion kommen und mit uns, namentlich mit Genossen Meyer, der Sekretär der Redaktion ist, sprechen oder mit Genossen Levi, der dieses Ressort meist selbst bearbeitet, Rücksprache nehmen. Freilich haben wir vorläufig nicht einmal Redaktionsräume, das soll alles noch beschafft und geordnet werden. Doch ich hoffe, bald wird alles klappen.“94 Die Redaktion fand schließlich Unterschlupf in den Räumen des Zentralbüros des Spartakusbundes, einer siebenräumigen Etage in der Wilhelmstr. 114. Diese erwies sich jedoch bald als zu klein, weswegen das Zentralbüro in die Friedrichstr. 217 – den von Meyer angemieteten früheren Sitz der ROSTA – verlegt wurde. Die Redaktion blieb in der Wilhelmstr. Außerdem wurden für sie zusätzlich Räume im Hotel „Askanischer Hof“ in der Anhalter Straße gemietet.95 Die Aufgaben des Spartakusbundes in den Wochen nach der Novemberrevo- lution beschrieb Meyer später folgendermaßen: „Der Sturz der Monarchie in Deutschland gab dem Spartakusbund die breitesten Entfaltungsmöglichkeiten. Er setzte der bereits am 9. November von Ebert ausgegebenen Aufforderung der Ab- lieferung der Waffen die Parole der Bewaffnung des Proletariats und der Entwaff- nung der Bourgeoisie entgegen. Er kritisierte auf Schritt und Tritt die Unzuläng-

92 Engel/Holtz/Materna, Arbeiter- und Soldatenräte, S. 40. 93 Das Protestschreiben der Zeitungsverleger in: DuM Bd. II/2, S. 389-392, zum Zurückziehen des Befehls des Vollzugsrates siehe ebenda, S. 392, Anm.1. 94 Rosa Luxemburg an Wolfgang Fernbach, [Berlin], 18.11.18, in: Rosa Luxemburg: Gesammelte Briefe, Bd. 5, Berlin 1987, S. 416. 95 Siehe Pieck, Erinnerungen, S. 438f.

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lichkeiten der deutschen Revolution, die Schwankungen der Unabhängigen und das immer deutlicher werdende Bündnis zwischen der SPD und der bewaffneten Gegenrevolution. Er begann gleichzeitig, einen eigenen legalen Parteiapparat auf- zubauen, und arbeitete unermüdlich an der ideologischen Aufklärung der Arbeiter, besonders durch die anfangs im von revolutionären Arbeitern besetzten Berliner >Lokalanzeiger< herausgegebene >Rote Fahne<. Gleichzeitig entstanden in der Provinz eine Reihe von kommunistischen Tageszeitungen, ebenfalls meist in ge- waltsam besetzten bürgerlichen Druckereien. Aber dem starken Einfluss des Spar- takusbundes in den Kämpfen des Wintern 1918/19 entsprach nicht sein schwacher organisatorischer Apparat.“96 Und an anderer Stelle: „Der Spartakusbund stellte sich zur Aufgabe, die in den Novembertagen spontan entstandenen Arbeiter- und Soldatenräte zu festigen und sie zu leitenden Organen des Staatsapparates zu ge- stalten, das Proletariat zu bewaffnen, die Bourgeoisie zu entwaffnen und die pro- letarische Revolution durch die Diktatur des Proletariats zu vollenden.“97 Bereits im Dezember kam es zu massiven Spannungen zwischen den Spar- takus-Anhängern, die unter der Parole „Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenrä- ten“ auf eine Fortführung der Revolution drängten, und der sich immer enger mit dem alten Militär verbündenden SPD-Führung, die eben dies verhindern wollte. Wiederholt schlug dieser Konflikt in große Demonstrationen und gewalttätige Zu- sammenstöße um. Ernst Meyer dürfte an den meisten der Demonstrationen im De- zember 1918 teilgenommen, auf einigen gesprochen und viele von ihnen in der Spartakuszentrale mit geplant haben. Eine genaue Rekonstruktion seines Anteils daran lassen fehlende Quellen allerdings nicht zu. Auf den zahlreichen öffentli- chen Diskussionsveranstaltungen des Spartakusbundes in Berlin im November und Dezember 1918 trat Meyer nicht als Referent in Erscheinung.98 In den Wochen nach der Novemberrevolution hatte Ernst Meyer die Heraus- gabe von Lenins Standartwerk „Staat und Revolution“ redigiert. Er war außerdem als Verantwortlicher der Zentrale für den Pressedienst an den Versuchen beteiligt, kommunistische Zeitungen in der Provinz aufzubauen.99 Im Dezember besuchte er Spartakus-Gruppen außerhalb Berlins, referierte in Danzig und agitierte vermut- lich auch in Ostpreußen.100 Am 24. Dezember beschlossen die sich jetzt Internationale Kommunisten Deutschlands (IKD) nennenden Linksradikalen aus Bremen, Hamburg und ande- ren Städten ihren Anschluss an den Spartakusbund.101 Dessen Reichskonferenz,

96 Ernst Meyer: Zur Geschichte der KPD. Zum Jahrestag der Gründung der KPD am 30. Dezember 1918, in: Die Internationale, Jg. 7 1926, H. 15 (24), S. 674-680, hier S. 679. 97 Meyer, Kommunismus, S. 145. 98 Siehe Die Rote Fahne, November und Dezember 1918. Bei den zahlreichen hier angekündigten Veranstaltun- gen des Spartakusbundes wird Meyers Name nicht genannt. 99 Siehe Der Ledebour-Prozess, S. 515f. 100 Zu Meyers Referat in Danzig siehe IML, Novemberrevolution, S. 244. 101 Siehe Marie-Luise Goldbach: Karl Radek und die deutsch-sowjetischen Beziehungen. Ein Beitrag zum Ver- hältnis von KPD und Komintern und zur Geschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen zwischen 1918 und 1923, Hannover 1973, S. 24-28. Siehe auch den Beitrag von Gerhard Engel im vorliegenden Band.

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auf der die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) gegründet wurde, brachte eine vierjährige Entwicklung zum Abschluss, an deren Anfang eine Besprechung in Luxemburgs Wohnung am 4. August 1914 stand. Aus den Linksradikalen der Vorkriegs-SPD bildete sich eine eigenständige kommunistische Strömung heraus, eine Entwicklung, an der Ernst Meyer einen wichtigen Anteil hatte.

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ECKHARD MÜLLER Der streitbare Freireligiöse Adolph Hoffmann: politisches Wirken vor und während der Novemberrevolution 1918/19191

Viele Männer und Frauen aus der Frühzeit der Arbeiterbewegung sind heute fast vergessen. Zu ihnen gehört der Freireligiöse, sozialistische Verleger und Politiker Adolph Hoffmann. Er wurde 1858 in Berlin in einer katholischen Fischerfamilie geboren. In der Sozialdemokratie entwickelte sich Hoffmann zu einem Volkstri- bun, und er war einer der Akteure der Novemberrevolution 1918/19 in seiner Hei- matstadt. Mit dem Kieler Matrosenaufstand am 3. November 1918 begann in Deutsch- land die Novemberrevolution. In Berlin brodelte es. Am Abend des 7. November fanden sich Tausende Berliner Arbeiter trotz Versammlungsverbots zur Jahresfei- er der Oktoberrevolution in Russland zusammen. Im Wedding sprach Adolph Hoffmann, wobei er knapp einer Verhaftung entging. Am 9. November wurde un- ter seiner Leitung das Berliner Rathaus und einen Tag später das preußische Ab- geordnetenhaus besetzt. Der Groß-Berliner Vollzugsrat der Arbeiter- und Solda- tenräte bestätigte am 10. November 1918 die Berufung von Adolph Hoffmann für die USPD als Mitglied des politischen Kabinetts und gleichberechtigter Minister neben dem von der SPD gestellten Konrad Haenisch an die Spitze des preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung.2 Er wurde für die Res- sorts Volksschulwesen, Kirchenfragen und Theaterangelegenheiten zuständig. Entsprechend seinem Verständnis hatte er den festen Willen, seinen Ministerbe- reich nicht nur zu reformieren, sondern grundlegend umzugestalten. Adolph Hoff- mann bedeutete einem vor ihm dienernden Geheimrat: „Merken Sie sich eins: ‘Ich will hier weniger Minister als Ausmister sein! ‘“3 Seit über 40 Jahren war Adolph Hoffmann bereits in der sozialistischen Arbei- terbewegung organisiert. 1873 hatte er bei Vorträgen in der Freireligiösen Ge-

1 Die Langfassung des Beitrages „Adolph Hoffmann und die deutsche Sozialdemokratie“ siehe in einer Publi- kation „Los von der Kirche!“ der Humanistischen Akademie Berlin, alibri Verlag 2009. Zur Biographie Adolph Hoffmanns siehe Gernot Bandur: Adolph Hoffmann. Leben und Werk. Freireligiöser, sozialistischer Verleger und Politiker, ebenda, und Ders.: Adolph Hoffmann – Feuriger proletarischer Vulkan, Selbstverlag, Berlin 2000. 2 Siehe Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenräte in der Revolution 1918/19. Dokumente der Vollversammlun- gen und des Vollzugsrates. Vom Ausbruch der Revolution bis zum 1. Reichsrätekongress. Hrsg. von Gerhard Engel, Bärbel Holtz und Ingo Materna, Berlin 1993, S. 38/39, und Reinhold Zilch: Bürokratie in der Revolu- tion. Aus der Geschichte des preußischen Kultusministeriums 1918/19, in: Revolution und Reform in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Erster Halbband: Ereignisse und Prozesse. Zum 75. Geburtstag von Walter Schmidt, hrsg. von Helmut Bleiber und Wolfgang Küttler, Berlin 2005, S. 193-209. 3 Adolph Hoffmann: Episoden und Zwischenrufe aus der Parlaments- und Ministerzeit, Berlin 1924, S. 78. Siehe auch Horst Groschopp: Dissidenten. Freidenkerei und Kultur in Deutschland, Berlin 1997, S. 398-406.

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meinde Berlin die Bekanntschaft mit Sozialdemokraten wie Friedrich Wilhelm Fritzsche, Wilhelm Hasenclever und Theodor Metzner gemacht. Im Jahre 1876, Adolph Hoffmann war gerade 18 Jahre alt geworden, schloss er sich der Soziali- stischen Arbeiterpartei Deutschlands, der späteren Sozialdemokratischen Partei an. In dem vom Gothaer Einigungskongress 1875 beschlossenen Parteiprogramm hieß eine Forderung, die von Wilhelm Liebknecht initiiert worden war: „Er- klärung der Religion zur Privatsache.“4 In den Anfangsjahren des Sozialistengesetzes war Adolph Hoffmann zu einem Vertrauensmann der Sozialdemokratie im Berliner Osten gewählt worden. Nach einer fingierten Anklage wegen „Hochverrats“ und zeitweiliger Inhaftierung ver- ließ er seine Heimatstadt Berlin und siedelte nach Halle über, wo sich seit 1882 der Gerber mit der Feder Wilhelm Hasenclever5, ein politischer Freund und Men- tor Adolph Hoffmanns, niedergelassen hatte. Später zog Adolph Hoffmann nach Zeitz, wo er 1887 im Wahlkreis Merseburg-Querfurt, 1890 und 1893 als Sozial- demokrat im Wahlkreis Naumburg-Weißenfels-Zeitz für den Reichstag kandi- dierte und 1890 Redakteur und Herausgeber des neu gegründeten Zeitzer „Volks- boten“ wurde. Im Wahlkreis bewies er besonders in der Landagitation seine Fähigkeit, einfache, ungebildete Menschen mit den Zielen der Sozialdemokratie vertraut zu machen. Schlagfertiger Mutterwitz, verständliche Sprache und pfiffige Argumentationen machten ihn zu einem idealen sozialdemokratischen Agitator. Davon zeugt auch seine 1892 veröffentlichte Flugschrift „Vorsicht! Hütet Euch! Die Sozialdemokraten kommen!“, von der innerhalb eines Jahres 100.000 Exem- plare erschienen.6 Von 1890 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 nahm Adolph Hoff- mann an fast allen Parteitagen der deutschen Sozialdemokratie aktiv teil. Seine Themen waren dabei u. a. das Verhältnis der Sozialdemokratie zu Religionsfragen und zur Kirche, Presse- und Agitationsfragen, die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen und Probleme der Anwendung des politischen Massenstreiks. Adolph Hoffmann ließ sich in seiner gesamten politischen Tätigkeit von den In- halten des auf dem Parteitag in Erfurt 1891 beschlossenen Programms leiten, in denen die „Erklärung der Religion zur Privatsache“ und die „Weltlichkeit der Schule“ verlangt wurden.7 Auf dem Berliner Parteitag 1892 begründete Adolph Hoffmann folgenden Antrag der Sozialdemokraten des Wahlkreises Naumburg- Weißenfels-Zeitz: „Im Programm Teil VI, Ziffer 6 ist der Punkt ´Religion ist Pri-

4 Protokoll des Vereinigungs-Congresses der Sozialdemokraten Deutschlands abgehalten zu Gotha, vom 22. bis 27. Mai 1875, Leipzig 1875, S. 55. 5 Siehe Wilhelm Hasenclever: Reden und Schriften. Hrsg. und eingeleitet von Ludger Heid, Klaus-Dieter Vin- schen und Elisabeth Heid, Bonn 1989, S. 139-310. 6 Siehe Adolph Hoffmann: Die Sozialdemokraten kommen. Vorsicht! Hütet Euch! Eine wahre Dorfgeschichte, Zeitz 1892; Ders.: Ein Warnungsruf! An die Frauen und Mädchen aller Stände, Pankow-Berlin 1893; Ders: Frieden auf Erden? Ein Weihnachtstraum für Erwachsene von Adolph Hoffmann. Ein neues Jahr – ein schlim- meres Jahr! Eine Mahnung in elfter Stunde von Adolph Hoffmann, Pankow-Berlin 1894. 7 Siehe Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Ab- gehalten zu Erfurt vom 14. bis 20. Oktober 1891, Berlin 1891, S. 5.

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vatsache´ zu streichen und dafür zu setzen: Die Religionen und deren Lehrer sind überall dort zu bekämpfen, wo dieselben dem Fortschritt der Wissenschaft entge- gentreten oder die nach Erlösung aus wirtschaftlicher und politischer Knecht- schaft ringende Menschheit an der Erreichung dieses Zieles zu hindern suchen.“8 Er argumentierte vor allem mit seinen Erfahrungen aus der Landagitation, bei der es gerade dort, „wo das strenge Dogma noch vorhanden ist, unmöglich, ja un- denkbar ist, mit unseren Ideen durchzudringen. Solange man glaubt, dass ohne Gottes Wille kein Spatz vom Dache fällt, hat man nicht Ursache, an der wirt- schaftlichen Verbesserung seiner Lage mitzuarbeiten. Wenn man sagt, dass Reli- gion Herzensangelegenheit ist, so kann uns das recht sein, so lange es eben Her- zensangelegenheit bleibt. Sobald aber die Lehrer und Vertreter der Religion diese dazu benutzen, um die Leute in Bedrückung und Abhängigkeit zu erhalten, den Fortschritt zu verhindern und der wirtschaftlichen Aufklärung entgegenzutreten, haben wir die strenge Pflicht, dagegen Protest zu erheben. Das muss ganz klar und deutlich in unserem Programm ausgedrückt werden …. Ich habe wohl gesehen, dass man gegen die Religion ankämpfen kann, wenn man es nicht mit bloßen Re- densarten und Schimpfereien tut, sondern mit Gründen. Gerade dieser Punkt un- seres Programms wird von unseren Gegnern dazu benutzt, um uns überall anzu- feinden, weil wir unsere Ansichten nicht offen hervorzutreten wagten.“9 Aus dieser Zeit stammt eine Broschüre Adolph Hoffmanns, herausgegeben im Selbstverlag, die 1891 bis 1904 neun Auflagen mit insgesamt 90.000 Exemplaren erreichte und zu einer der erfolgreichsten Massenschriften der deutschen Sozial- demokratie wurde. Sie ging aus einem Vortrag hervor, den ihr Verfasser mehrere hunderte Male über das Thema „Die zehn Gebote und die besitzende Klasse“ ge- halten hatte.10 Aus dem bürgerlichen Lager wurde Adolph Hoffmann Gottesläste- rei vorgeworfen. Er hielt den Besitzenden und Herrschenden den Spiegel der zehn Gebote vor, prangerte ihre frömmelnde Verlogenheit an und enthüllte in einem noch heute aufschlussreichen Sittengemälde der damaligen Zeit das Pharisäertum derjenigen, die Wein tranken und dem Volk Wasser predigten. Der Adolph Hoff- mann von gegnerischer Seite zugedachte Spitzname „Der Zehn-Gebote-Hoff- mann“ wurde bald zu seinem Ehrennamen und machte ihn bei Freund und Feind populär. Die Zehn Gebote oder Gebete und kirchliche Lieder, die zu den Glaubens- und Denkvorstellungen des Volkes gehörten, methodisch für die Agitation zu nutzen und an sie anzuknüpfen, war charakteristisch für die Arbeiterbewegung bei ihrer Suche nach neuen antikirchlichen Glaubensinhalten und weltanschaulichen Wert- vorstellungen.

8 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Berlin vom 14. bis 21. November 1892, Berlin 1892, S. 249. 9 Ebenda, S. 249/250. 10 Siehe A[dolph]Hoffmann: Die Zehn Gebote und die besitzende Klasse, Zeitz 1891. Ab der neunten Auflage 1904 erschien die Broschüre mit einem Geleitbrief von Clara Zetkin.

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1893 kehrte Adolph Hoffmann in seine Heimatstadt Berlin zurück, um als Buchhändler und Verleger von freigeistigen Publikationen, sozialdemokratischen Agitationsbroschüren, Bilderbüchern, Theaterstücken für Laiengruppen, Witzen, Parodien, Musikalien und Gedichten tätig zu sein. Adolph Hoffmann wurde schon in den neunziger Jahren einer der führenden Berliner Sozialdemokraten. Er war Mitglied der Pressekommission des „Vor- wärts“, wurde 1900 in die Berliner Stadtverordnetenversammlung gewählt und ar- beitete in den Deputationen (Kommissionen) für Steuer-, Buch-, Schreib- und Drucksachen, für Grundstücks- und Siedlungs- sowie Wohnungswesen, Verkehrs- betriebe, Schulen und Ernährungswirtschaft mit. Aus dieser Zeit datiert seine Zu- sammenarbeit und persönliche Freundschaft mit Karl Liebknecht. Am 16. Juni 1908 wurde Adolph Hoffmann gemeinsam mit sechs weiteren So- zialdemokraten, darunter Karl Liebknecht, erstmals in den preußischen Landtag gewählt. In seiner ersten Rede nahm er dort für die Sozialdemokratie zum Gesetz über die Besoldung der Pfarrer Stellung. Die ablehnende Haltung seiner Partei ge- genüber Staatsaufwendungen für die Besoldung der Geistlichen begründete er mit der sozialdemokratischen Forderung nach der Trennung von Staat und Kirche. Den programmatischen Grundsatz der Sozialdemokratie: „Erklärung der Religion zur Privatsache“, interpretierte Adolph Hoffmann wie August Bebel: Die kirchli- chen und religiösen Gemeinschaften seien als „private Vereinigungen“ zu be- trachten, die „ihre Angelegenheiten selbstständig ordnen“ müssten.11 Die Pfarrer- besoldung sah Adolph Hoffmann als „Belohnung für die Besorgung der Geschäfte der besitzenden und herrschenden Klassen“12. Nach heftigen Tumulten wurde ihm daraufhin vom Präsidenten des Abgeordnetenhauses das Wort entzogen. Gerade dieser Akt verlieh der Landtagsrede Adolph Hoffmanns, die er in einer Volksver- sammlung im Berliner Feenpalast fortsetzte, ungewöhnliche Publizität. Er ver- breitete die Rede in einer Broschüre seines Verlages. Der Titel war bereits Pro- gramm: „Los von der Kirche!“ Er rief in ähnlicher Diktion wie 1878 Johann Most dazu auf: „Meldet die große Masse des arbeitenden und werktätigen Volkes sich aus der Staats-, der Landeskirche ab, dann verlieren die Regierungen, die Agrarier und Kapitalisten, jedes Interesse an der Kirche, die keinen Einfluss mehr auf die Massen hat; und Staat, Junker und Geldsack werden nicht einen Pfennig mehr be- willigen für eine Kirche, die ihren Interessen nicht mehr dienen kann. Die unge- heuren Summen, die zu immer neuen Kirchenbauten aus den Gemeindesäckeln bewilligt werden müssen, wo das Geld für Schulen, Krankenhäuser, Siechenan- stalten, Findelhäuser, ja zur Speisung hungernder Schulkinder fehlt, die stetig an- wachsende Kirchensteuer … diese werden uns ein neues ungeheures Agitations- material bieten, mittels welchem wir unzählige noch Schlummernde aus der Umarmung der Kirche befreien und zu neuen Kämpfern heranziehen, die nicht ru-

11 Siehe Adolph Hoffmann: Los von der Kirche! Meine erste Anti-Kirchenrede im Preußenparlament, Berlin 1921, S. 7. 12 Ebenda, S. 12.

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hen und rasten werden, nicht nur bis Staat und Schule von dem Alp der Kirche be- freit, sondern bis das preußisch-deutsche Volk erlöst ist von dem Modergeruch der Reaktion.“13 In der Übersicht der Berliner Politischen Polizei zur allgemeinen Lage der sozialdemokratischen und anarchistischen Bewegung von 1908 wurde Hoffmann daraufhin „als der grimmigste und lärmendste Feind der Kirche“14 be- zeichnet. 1913 erfolgte die Wahl Adolph Hoffmanns zum Vorsitzenden der Freireligiösen Gemeinde Berlin. Im gleichen Jahr bildete die Gemeinde gemeinsam mit dem „Komitee Konfessionslos“ die Vereinigten Komitees für Kirchenaustritt – sie rie- fen zum Massenaustritt aus der Staatskirche auf. Karl Liebknecht entwickelte am 28. Oktober 1913 auf einer Volksversammlung in der Neuköllner „Neuen Welt“ den Gedanken einer Übertragung der politischen Massenstreikidee auf die Kir- chenaustrittsbewegung.15 Auf Antrag des Kölner Sozialdemokraten Johannes Meerfeld befasste sich am 20. Dezember 1913 der Parteiausschuss der SPD mit der Agitation für den Austritt aus der Landeskirche und beschloss einstimmig, sich von dieser Bewegung zu distanzieren: „Parteivorstand und Parteiausschuss stellen ausdrücklich fest, dass die Agitation zum Austritt aus der Landeskirche eine pri- vate Veranstaltung des „Komitees Konfessionslos“ und der Freidenkervereine ist, denen die sozialdemokratische Partei völlig fernsteht. Sie lehnt es entschieden ab, die Parteiorganisationen in den Dienst dieser Bewegung zu setzen.“16 Im preußischen Abgeordnetenhaus unterstützte Adolph Hoffmann die Positio- nen Karl Liebknecht zur Abschaffung des Dreiklassenwahlrechtes und zur Reform des preußischen Verwaltungswesens. Er gehörte als Vertreter seiner Fraktion der Unterrichtskommission an. Stets betonte er die Notwendigkeit der Weltlichkeit und der Unentgeltlichkeit eines einheitlichen Schulwesens. In den Debatten zum Kulturetat war er einer der Redner der sozialdemokratischen Fraktion. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges kämpfte er gemeinsam mit anderen Sozi- aldemokraten gegen die tiefe Krise an, die seine Partei erfasste. Mit ihnen trat er für eine grundlegende Erneuerung der erstarrten Parteispitze und für außerparla- mentarische Massenaktionen ein. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 war über die meisten Korps- bezirke der verschärfte Belagerungszustand verhängt worden, der den Militärbe-

13 Ebenda, S. 45. 14 Dokumente aus geheimen Archiven. Bd. 3, Übersichten der Berliner politischen Polizei, Teil III: 1906-1913, Berlin 2004, S. 114. 15 Siehe Karl Liebknecht: Heraus aus der preußischen Staatskirche! In Ders.: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. VI, Berlin 1965, S. 397; Horst Groschopp: Dissidenten. Freidenkerei und Kultur in Deutschland, Berlin 1997, S. 187-192; Jochen-Christoph Kaiser: Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik. Proletarische Freidenkerverbände in Kaiserreich und Weimarer Republik, Stuttgart 1981, S. 30-37; Ders.: Sozialdemokra- tie und ‚praktische‘ Religionskritik. Das Beispiel der Kirchenaustrittsbewegung 1878-1914, in: Archiv für So- zialgeschichte. XXII. Band, Bonn 1982, S. 277-298. 16 Protokolle der Sitzungen des Parteiausschusses der SPD 1912 bis 1921. Inkl. Protokoll der Parteikonferenz in Weimar am 22. und 23. März 1919. Protokoll über die Verhandlungen der Reichskonferenz der Sozialdemo- kratischen Partei Deutschlands Abgehalten in Berlin am 5. und 6. Mai 1920, Bd. I , Berlin/Bonn 1980, S. [64].

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fehlshabern diktatorische Gewalt einräumte. Dazu gehörten die Presse- und Ver- sammlungszensur, Briefzensur, Eingriffe in den Handel, insbesondere in die Le- bensmittelverteilung, sowie das Einsetzen von Stand- und Kriegsgerichten. Die Führer der deutschen Sozialdemokratie untersagten im Interesse des Burgfriedens jegliche Massenaktionen für den Frieden. Zugleich stimmten sie mit in die Lüge vom Verteidigungskrieg gegen das zaristische Russland ein. Der entschiedene Kampf gegen den imperialistischen Krieg wurde infolgedessen außerordentlich erschwert.17 Während der ersten Kriegstagung des preußischen Abgeordnetenhauses am 22. Oktober 1914 bekundete Adolph Hoffmann seine oppositionelle Haltung zum Krieg und zur Burgfriedenspolitik der Führer der SPD und der Gewerkschaften, indem er gemeinsam mit Karl Liebknecht und drei anderen sozialdemokratischen Abgeordneten aus Protest den Saal verlies.18 Er bestritt 1915 auf der Zimmer- walder Konferenz, die Sozialdemokratie sei von der Zustimmung ihrer Reichs- tagsfraktion zu den Kriegskrediten völlig überrascht worden: „Aber die Massen sind auf den Kopf geschlagen worden durch die Abstimmung der Fraktion. Es war im Volke die Furcht geweckt worden vor der Invasion der russischen Barbaren. Gewiss wäre es nicht leichter gewesen, der allgemeinen Aufregung gegenüber die Kriegskredite zu verweigern. Man fürchtete sich vor der Wut der Bevölkerung, man sagte, diese würde die Volkshäuser demolieren usw. Ich sage: besser die Volkshäuser demoliert als die Prinzipien. (Zustimmung). Der größte Teil der Op- position ist mit Liebknecht vollkommen einig, nur hätte er sich mit ihr verständi- gen sollen.“19 Gleich anderen oppositionellen Sozialdemokraten setzte Adolph Hoffmann allein auf die Reaktivierung der Partei von unten und nicht auf einen Neubeginn, wie es ab 1915 die Gruppe „Internationale“ getan hatte, wobei sich beide Entwicklungsprozesse längere Zeit überlagerten und durchkreuzten. Dies führte zu heftigen Kontroversen und Konflikten mit den Linken um Karl Lieb- knecht und Rosa Luxemburg.20 Adolph Hoffmann näherte sich Auffassungen von Georg Ledebour an.21 Auf der Zimmerwalder Konferenz 1915 initiierte er eine Er- klärung mit, die zur Verständigung der deutschen und französischen Arbeiter auf- rief. Am 16. März 1916 solidarisierte er sich öffentlich als einziger Abgeordneter des preußischen Abgeordnetenhauses mit Karl Liebknecht, der in seiner Parla- mentsrede zum Kulturetat die preußische Schule als „ein besonderes Mittel zur Erziehung für den Krieg“22 charakterisiert hatte. Diese Erziehung stehe einer hu-

17 Siehe Deutschland im Ersten Weltkrieg, Bd. 1. Vorbereitung, Entfesselung und Verlauf des Krieges bis Ende 1914. Von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Fritz Klein, Berlin 1968, S. 412-503. 18 Siehe Karl Liebknecht: Über die Kriegssitzung des preußischen Landtages, in Ders.: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. VIII, Berlin 1972, S. 159. 19 Die Zimmerwalder Bewegung. Protokolle und Korrespondenz, Mouton/The Hague/Paris 1967, S. 82. 20 Siehe Annelies Laschitza: Die LiebknechtS. Karl und Sophie – Politik und Familie, Berlin 2007, S. 288-323; DieS. : Im Lebensrausch, trotz alledem. Rosa Luxemburg. Eine Biographie, Berlin 1996, S. 508-527. 21 Siehe Elke Keller: Georg Ledebour. Ein alter sozialistischer Haudegen. (Entwurf für ein Taschenbuch). Diss. A, Berlin 1987, S. 78-89; Ursula Ratz: Georg Ledebour 1850-1947. Weg und Wirken eines sozialistischen Po- litikers, Berlin 1969, S. 151-178.

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manistischen Bildung, die universal und natürlich sei, Freiheit der Kritik und Pro- test gegen alle knechtischen Vorurteile beinhalte, entgegen. Für die Arbeiterklasse aller Länder gelte es, „die Waffen [zu] senken und sich gegen den gemeinsamen Feind [zu] kehren, der ihnen Licht und Luft nimmt“.23 Im Juni 1916 wurde Adolph Hoffmann zum Vorsitzenden des Verbandes der Sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgegend gewählt. Im Stim- mungsbericht der Berliner Politischen Polizei vom 5. August 1916 wurde konsta- tiert: „Die radikalen Teile der Sozialdemokratie sind natürlich weiter rege an der Arbeit, die Teuerungsverhältnisse zur Hetze gegen die Regierung und den Krieg auszunutzen, besonders nachdem der alte gemäßigte Zentralvorstand der Berliner sozialdemokratischen Wahlvereine durch einen radikalen unter Führung Adolph Hoffmanns ersetzt worden ist.“24 Im Januar 1917 erfolgte der Ausschluss Adolph Hoffmanns aus der Landtagsfraktion der SPD. Mit anderen Mitgliedern der Frei- religiösen Gemeinde Berlin – Ernst Däumig und Ewald Vogtherr – gehörte er im April 1917 zu den Mitbegründern der USPD.25 Eine leitende Rolle spielte er bei den Streiks der Berliner Rüstungsarbeiter im April 1917 und Januar 1918. So heißt es in einem Agentenbericht über Arbeiter- versammlungen in Berlin im April 1917, Adolph Hoffmann habe mit Bezug auf die Februarrevolution in Russland gefordert, den Krieg gegen Russland sofort ein- zustellen. Er bestärkte die Streikenden in ihren ökonomischen und politischen Forderungen und marschierte an der Spitze von Antikriegs- und Hungerdemon- strationen.26 Am 24. Januar 1918 erklärte er im preußischen Abgeordnetenhaus: „Sie tanzen auf einem Vulkan. … Wir stehen wie in Österreich 10 Minuten vor Ausbruch der Katastrophe. Das Volk hat es satt, weiter in den Krieg gehetzt zu werden.“27 In ei- nem von Adolph Hoffmann unterzeichneten Flugblatt der USPD zu Beginn des deutschlandweiten Munitionsarbeiterstreiks mit einer Million Teilnehmer Ende Januar 191828 mit dem Titel „Nicht abseits stehen“ wurde zur Werbung neuer Mit- glieder aufgerufen und eingeschätzt: „Der Weltkrieg zwingt die Arbeiterklasse in allen politischen und wirtschaftlichen Fragen. Die Lebenslage eines jeden Arbei- ters, einer jeden Arbeiterin, ihre politische Freiheit und ihr wirtschaftliches Wohl-

22 Karl Liebknecht: Krieg und Schule, in Ders.: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. VIII, Berlin 1972, S. 555. 23 Ebenda, S. 544. 24 Dokumente aus geheimen Archiven, Band 4. 1914-1918. Berichte des Berliner Polizeipräsidenten zur Stim- mung und Lage der Bevölkerung in Berlin 1914-1918, Weimar 1987, S. 155. 25 Siehe Dieter Engelmann/Horst Naumann: Zwischen Spaltung und Vereinigung. Die Unabhängige Sozialde- mokratische Partei Deutschlands in den Jahren 1917-1922. Berlin 1993, S. 7-42. 26 Siehe Geschichte der revolutionären Berliner Arbeiterbewegung, Band 1: Von den Anfängen bis 1917, Berlin 1987, S. 618-633. 27 Schulthess´ Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge, Vierunddreißigster Jahrgang 1918, Erster Teil, München 1922, S. 48. 28 Siehe Ottokar Luban: Spartakusgruppe, revolutionäre Obleute und politische Massenstreiks während des Er- sten Weltkrieges, in: Ders.: Rosa Luxemburgs Demokratiekonzept. Ihre Kritik an Lenin und ihr politisches Wirken 1913-1919, Schkeuditz 2008, S. 127-171.

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ergehen wird davon abhängen, ob sie selbst an der Gestaltung ihrer Geschicke teil- nehmen und ihre Interessen in den politischen Kämpfen der Zukunft in die Waag- schale werfen wollen. Gleichgültigkeit und Stumpfheit werden sich an der Arbei- terschaft unter den Nachwirkungen des Krieges schwer rächen. Auf jeden einzelnen Arbeiter, jede einzelne Arbeiterin kommt es an, sollen die Mächte des Großkapitals nicht als Triumphatoren aus dem Völkerringen hervorgehen und die Arbeiterklasse unter ihre Botmäßigkeit zwingen. Politisch betätigen kann sich je- der Arbeiter aber nur in einer Partei, die die rückhaltlose Vertretung der Arbeiter- massen nach den Grundsätzen des Sozialismus und der Demokratie auf ihre Fahne geschrieben hat. Das ist die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutsch- lands. Auf ihrem Würzburger Parteitag [Oktober 1917] hat die sogenannte sozial- demokratische Partei kundgetan, dass sie keine reine Kampfpartei der Arbeiter- klasse mehr sein will, dass sie der Regierung Gefolgschaft leisten und im Arm mit den bürgerlichen kapitalistischen Parteien marschieren will. Sie will und kann den Arbeitern nur noch Brosamen bieten, die von der Kapitalisten Tische fallen. Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands dagegen will ihren Kampf für das Wohl der Arbeiterklasse führen, unabhängig von der Regierung des Ob- rigkeitsstaates, unabhängig von parlamentarischen Schachergeschäften, die den Arbeitern Scheinerfolge vortäuschen. Rücksichtslos will sie eintreten für das wirt- schaftliche Wohlergehen und die politische Freiheit der Arbeiterklasse.“29 Am 24. August 1918 teilte der Polizeipräsident von Berlin dem Regierungs- präsidenten in Düsseldorf mit: „Dass es bei der Fortdauer der gegenwärtigen po- litischen, wirtschaftlichen und militärischen Lage zu Ende d.J. zu Unruhen und Arbeitseinstellungen größeren Umfangs kommen wird. Ich habe bereits mehrmals darauf hingewiesen. Die USPD rechnet damit und ist eifrig tätig, die erforderli- chen Vorbereitungen zu einer umfassenden Ausstandsbewegung zu treffen. Dass dabei ihre Abgeordneten und unter diesen auch Ledebour und Hoffmann lebhaft mitwirken, ist selbstverständlich. Sie sind vor allem bemüht, die süddeutschen Or- ganisationen der Partei mit der Berliner Leitung in enge Verbindung zu bringen. Die USPD liegt dieser vorbereitenden Arbeit um so williger ob, als sie allem An- schein nach an der hiesigen Botschaft der sozialistischen russischen Republik ei- nen Rückhalt hat und es der Sowjetregierung sehr darauf ankommt, auch in Deutschland den radikalen Sozialismus ans Ruder zu bringen, da sie wohl der Meinung ist, sich nur dann in Russland noch längere Zeit behaupten zu können.“30 Mit der Ernennung des Prinzen Max von Baden am 3. Oktober 1918 zum Reichskanzler, der Aufnahme von Mehrheitssozialdemokraten in die Regierung und dem Übergang zu einer parlamentarischen Monarchie wurde versucht, den Ausbruch der Revolution zu verhindern. Auch die Amnestierung Karl Liebknechts am 23. Oktober aus dem Zuchthaus Luckau sollte in diese Richtung wirken.

29 Archivalische Forschungen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Band 4/III. Die Auswirkungen der großen sozialistischen Oktoberrevolution auf Deutschland, Berlin 1959, S. 972. 30 Ebenda, S. 1507.

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Adolph Hoffmann hieß Karl Liebknecht in den Sophiensälen im alten Handwer- kervereinshaus offiziell willkommen und solidarisierte sich politisch mit ihm. Die politischen Auffassungen und Aktivitäten prädestinierten Hoffmann in den ab 3. November 1918 beginnenden und den sich wellenartig ausweitenden Unruhen bis hin zum Sturz der Monarchie am 9. November 1918 eine führende Rolle in der Revolution zu übernehmen. Auf Drängen des Vollzugsrates des Berliner Arbeiter- und Soldatenrates er- klärte sich Adolph Hoffmann am 10. November 1918 zum Eintritt in die neue, pa- ritätisch aus Vertretern von SPD und USPD zusammengesetzte preußische Regie- rung bereit. Am 13. November 1918 kündigte die preußische Regierung in ihrem Aufruf die Trennung von Staat und Kirche, die Aufhebung der Konfessionsschulen und die Beseitigung des kirchlichen Einflusses in der Schule an. Damit wurde dem Pro- zess der Säkularisierung der Gesellschaft ein Schub gegeben, wobei Adolph Hoff- mann mit Rückhalt des Berliner Arbeiter- und Soldatenrates Breschen in die Pha- lanx Kirche-Staat schlug. Bei einer Konferenz der Geistlichen Abteilung des am 14. November neu benannten „Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volks- bildung“ bekräftigte er am 16. November 1918 das Programm der preußischen Regierung. Die Richtlinien Hoffmanns für die Arbeit des Ministeriums begannen mit der Trennungsformel, obwohl Konrad Haenisch (SPD) dagegen seine Be- denken vorgetragen hatte.31 Im November und Anfang Dezember 1918 war die Kirchenpolitik der preußischen Regierung entsprechend der Intentionen Adolph Hoffmanns von der Loslösung der Kirche vom Staat und der Beseitigung aller bis- herigen kirchlichen Privilegien bestimmt. In seinem programmatischen Presseartikel „Neue Bahnen im preußischen Mi- nisterium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung“ nach der Amtsübernahme als Minister erklärte Adolph Hoffmann: „Ein Sturmwind ist über die Erde dahin gebraust! Eine Umwälzung von kaum zu ermessender Bedeutsamkeit hat sich vollzogen. Ein neues Leben hebt an in deutschen Landen, auch innerhalb der schwarz-weißen Pfähle, wo man bisher am hartnäckigsten an den alten Überliefe- rungen festgehalten hatte. Die alten Burgen der Gewalt sind gefallen. Nun gilt es, Platz zu schaffen für ein neues Gebäude, ein Haus, in dem das ganze Volk sich wohl fühlt. Fort zunächst mit all den hindernden Schranken und Hemmungen, die die jahrhundertelange Reaktion noch in unseren öffentlichen Einrichtungen zurückgelassen, fort mit den Resten überlebter Vorstellungen und Gedanken, die der Geist der Enge und Finsternis, die Anbetung der brutalen Macht, die Verherr- lichung des Militarismus und der Bürokratie noch so vielfach in den Köpfen hat wuchern lassen! Neue Gedanken und Ideale verlangen gebieterisch ihre Verwirk- lichung! Neue Bahnen frei zu machen, das ist die Aufgabe des neuen Ministeri-

31 Ernst Rudolf Huber/Wolfgang Huber: Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Ge- schichte des deutschen Staatskirchenrechts, Band IV: Staat und Kirche in der Zeit der Weimarer Republik, Berlin 1988, S. 14/15.

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ums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung. In ihm sollen alle Bestrebungen, die sich zu diesen Zielen bekennen, ihren Mittelpunkt finden. Die Bürgschaft für die Erhaltung und Festigung des durch die Revolution geschaffenen neuen Staa- tes ist die Jugend. Darum werden die Reformen mit der Schule beginnen. Die Schule, die das künftige Geschlecht heranbilden soll, muss auf dem Prinzip der Einheitsschule aufgebaut werden. Allen Staatsbürgern werden gleiche Bildungs- möglichkeiten eröffnet. Unentgeltlichkeit des Unterrichts und der Lehrmittel wer- den durchgeführt werden. Frei von jeder Bevormundung, frei von traditioneller Geschichtsverfälschung und frei von konfessioneller Beeinflussung wird der Un- terricht sein. Vollkommene Trennung von Schule und Kirche wird gewährleistet. … Die Fähigkeiten jedes Einzelnen sollen zur höchsten Entfaltung kommen. … Freiheit des religiösen Bekenntnisses wird gewährleistet. Religion ist persönliche Angelegenheit und Sache der religiösen Gemeinschaft. Darum wird vollständige Trennung von Staat und Kirche oberster Grundsatz sein. Die Kirche soll ihr eige- nes freies Leben führen, aber auch selbst die Lasten aufbringen, die zur Bestrei- tung ihrer Lebensbedürfnisse erforderlich sind.“32 Die gesamte Beamtenschaft des Ministeriums verpflichtete Adolph Hoffmann auf die neugebildete preußische Regierung. Die folgende von ihm und Konrad Haenisch gezeichnete Verfügung vom 27. November 1918 wurde vervielfältigt und unter den Beamten verteilt: „Es scheint geboten, über den gegenwärtigen Auf- bau des Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung grundsätzliche Feststellungen zu machen. Das Ministerium ist gegenwärtig ein Organ der durch die Revolution ans Ruder gekommenen Volksgewalt. Die Minister sind dafür ver- antwortlich, dass in ihm eine der Tendenz der Revolution entsprechende Politik gemacht wird. Der Beamtenkörper des Ministeriums besteht vorläufig durchweg aus Männern einer anderen politischen Richtung, er muss infolgedessen auf eine Mitbestimmung der politischen Richtlinien der Verwaltung und auf eine Beteili- gung an den grundsätzlichen Entscheidungen verzichten. Dass er sich trotzdem aus Liebe zu unserem Volk und Vaterland und aus staatsbürgerlichem Willen zur Ordnung und zur Erledigung der Geschäfte zur Verfügung gestellt hat, dafür wissen wir aufrichtig Dank. Wir geben uns der Hoffnung hin, dass die Herren die Folge- richtigkeit dieser unserer Auffassung willig anerkennen werden, sind aber anderer- seits gern bereit, in allen Fällen, wo ihre Erfahrung der Sache von Nutzen sein kann, ihren Rat zuzuziehen. Wir müssen uns jedoch besonders in diesen Zuständen der Übergangszeit auch vorbehalten, in gewissen grundsätzlichen Fragen und Neuord- nungen ohne weiteres unsere politische Ansicht durch Beschlüsse zur Durchführung zu bringen. Das bedeutet kein Übergehen, noch irgend eine Missachtung, sondern ist lediglich ein Ausdruck der gegenwärtigen politischen Situation.“33

32 Deutsche Lehrer-Zeitung. Organ des Verbandes deutscher evangelischer Schul-, Lehrer- und Lehrerinnen-Ver- eine e.V., Rheydt, Nr. 48 vom 30.11.1918, S. 545/546. 33 Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Staatsbibliothek zu Berlin, Handschriftenabteilung, Sammlung Darmstaed- ter, Adolf Hoffmann, 2 L 1914 19.

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Unbeschwert von Tradition und unbesorgt von Nachwehen untersagte der neue Minister durch Erlass vom 15. November jede Form von Volksverhetzung, ten- denziöse und falsche Belehrungen über den Weltkrieg und dessen Ursachen sowie das Schüren von gegenrevolutionärer Propaganda in der Schule. Wörtlich lautete der Erlass: „I. Wo bisher der Geschichtsunterricht mit anderen Lehrfächern dazu missbraucht wurde, Volksverhetzung zu betreiben, hat solches in Zukunft zu un- terbleiben, vielmehr einer sachgemäßen kulturhistorischen Belehrung Platz zu machen. Alle tendenziösen und falschen Belehrungen über den Weltkrieg und des- sen Ursachen sind zu vermeiden. II. Aus den Schulbibliotheken sind alle Bücher zu entfernen, welche Krieg an sich verherrlichen. III. In keinem Unterrichtsfache sind seitens der Lehrkräfte abfällige oder entstellende Bemerkungen über die Ur- sachen und Folgen der Revolution sowie der gegenwärtigen Regierung zu äußern, welche geeignet sind, bei der Schuljugend das Ansehen und die Errungenschaften dieser Volksbefreiung herabzuwürdigen. IV. Es hat seitens der Schulleiter und Lehrer im Verkehr mit der Jugend alles zu unterbleiben, was geeignet ist, die Stim- mung zu einer Gegenrevolution (besonders auf dem flachen Lande) zu schüren, da solches Vorgehen im jetzigen Augenblick die größte Gefahr eines Bürgerkrieges für unser Volk in sich birgt. V. Bis zum Erlass über Trennung der Schule und Kir- che sind Kinder von Dissidenten und solchen Andersgläubigen, für die ein Reli- gionsunterricht im jetzigen Schulplan nicht vorgesehen ist, auf Antrag der Erzie- hungsberechtigten ohne jeden weiteren Nachweis vom Religionsunterricht zu befreien.“34 Mit der Verordnung vom 29. November „über die Stellung der Reli- gion in der Schule“ wurden die geistliche Ortsschulaufsicht und das obligatori- sche Schulgebet abgeschafft, Befreiung vom Religionsunterricht erlaubt und Re- ligion als Prüfungsfach abgesetzt. Im Erlass hieß es: „1. Das Schulgebet vor und nach dem Unterricht wird, wo es bisher noch üblich war, aufgehoben. 2. Eine Verpflichtung der Schüler seitens der Schule zum Besuch von Gottesdiensten oder anderen religiösen Veranstaltungen ist unzulässig. Auch hat die Schule keine ge- meinsamen religiösen Feiern (z. B. Abendsmahlbesuche) zu veranstalten. Schul- feiern dürfen keinen religiösen Charakter tragen. 3. Religionslehre ist kein Prü- fungsfach. 4. Kein Lehrer ist zur Erteilung von Religionsunterricht oder zu irgend welchen kirchlichen Verrichtungen verpflichtet, auch nicht zur Beaufsichtigung der Kinder beim Gottesdienst. 5. Kein Schüler ist zum Besuch des Religionsun- terrichts gezwungen. Für Schüler unter 14 Jahren entscheiden die Erziehungsbe- rechtigten, ob sie einen Religionsunterricht besuchen sollen, für Schüler über 14 Jahren gelten die allgemeinen Bestimmungen über Religionsmündigkeit. 6. Es ist unzulässig, im Religionsunterricht der Schule häusliche Schularbeiten, insonder- heit das Auswendiglernen von Katechismusstücken, Bibelsprüchen, Geschichten und Kirchenlieder aufzugeben.“35

34 Geheimes Staatsarchiv Berlin-Dahlem, I. HA, Rep. 76 VI, Sekt. 1 Gen. Nr. 265, Maßnahmen der Revoluti- onsregierung auf dem Gebiete des Schulwesens 1918-1933, Bl. 4. 35 Ebenda, Bl. 40-46.

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Das katholische Episkopat, die evangelische Kirche, der Philologenverband, Lehrerverbände und die katholische Zentrum-Partei reagierten mit wütendem Pro- test und organisierten Widerstand. Schon am 19. November hatte sich der Vorsit- zende der Fuldaer Bischofskonferenz, der Kölner Erzbischof Kardinal Hartmann, mit einem Protestschreiben an die preußische Regierung gewandt. Namens der preußischen Bischöfe bezeichnete er die geplante Trennung von Staat und Kirche als einen „flagranten Rechtsbruch“. „Denn 1. ist die gegenwärtige Regierung nur eine vorläufige, die höchstens befugt ist, im Interesse der öffentlichen Ruhe und Ordnung die erforderlichen Anordnungen zu treffen – nicht aber kann sie als be- rechtigt angesehen werden, bestehende Gesetze aufzuheben. 2. Durch die geplante Trennung wird nicht nur eine ganze Reihe geltender Gesetze, sondern auch die Verfassungsurkunde verletzt.“36 In Hirtenschreiben der bayrischen und preußi- schen Erzbischöfe und Bischöfe vom 17. bzw. 20. Dezember 1918, die Ende des Monats von allen Kanzeln verlesen wurden, wurde der Religionserlass als gefähr- lich für die Sittlichkeit und die öffentliche Ordnung gebrandmarkt. Diese Hirten- briefe dienten der Mobilisierung der katholischen Bevölkerung gegen die an- gekündigten Trennungsmaßnahmen. „Und merkt wohl auf,“ hieß es im Hirtenbrief der preußischen Erzbischöfe und Bischöfe, „geliebte Diözesanen, das Allerschlimmste ist dieses: aus den Schulen schwindet jegliche Religion. Lehrer und Lehrerinnen werden für ihr hohes Amt vorbereitet ohne Religion und Glau- bensbekenntnis. Für das wichtigste Erziehungs- und Unterrichtsfach gibt es im Schulplan keinen, gar keinen Platz.“37 Im Rheinland und Schlesien erhoben sich separatistische Forderungen nach Abtrennung vom Reich.38 Adolph Hoffmann wurde einer gottentfremdeten Kulturpolitik bezichtigt, wo- mit eine Kulturkampfstimmung angeheizt wurde. Otto Dibelius, damals evangeli- scher Pfarrer in Schöneberg, hetzte in einem Artikel: „Eine Regierung aber, die das Recht unseres Glaubens auf unserer Kinder Leben antastet, darf sich nicht wundern, wenn wir die kirchlich Gesinnten zum Kampf aufrufen – solange der Religionserlass nicht zurückgezogen wird. Einst hat Rudolf Virchow das Wort vom ´Kulturkampf ´geprägt … Wir nehmen das Wort auf im neuen Sinne. Was man jetzt entfesselt hat, ist ein Kampf gegen die Grundlagen der christlich-deut- schen Kultur. Wir treten ein in diesem Kampf als Kämpfer für dieses von den Vä- tern ererbte Gut. Wir erheben den alten Kreuzfahrerruf: ´Gott will es! Gott will es!´“39 Obwohl die Verordnung auch von Konrad Haenisch mit gebilligt und gezeich- net worden war, hob dieser den Religionserlass Ende Dezember 1918 mit dem Argument eines drohenden Kulturkampfes und der Gefahr separatistischer Ten-

36 Huber/Huber, Staat und Kirche, S. 18. 37 Ebenda, S. 28. 38 Siehe Die Regierung der Volksbeauftragten 1918/19, Düsseldorf 1969, Erster Teil, S. 132, Zweiter Teil, S. 58- 65. 39 Zitiert nach Ludwig Richter: Kirche und Schule in den Beratungen der Weimarer Nationalversammlung, Düs- seldorf 1996, S. 16.

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denzen wieder auf. Adolph Hoffmann war am 10. Dezember der schweren spani- schen Grippewelle erlegen, die in Berlin Tausende und weltweit Millionen Todes- opfer gefordert hatte, und bis Ende Dezember dienstunfähig. Er war mit der Rück- nahme des Religionserlasses nicht einverstanden.40 In einem persönlichen Brief an Adolph Hoffmann erklärte Haenisch am 31. Dezember 1918: „Ich mache gar kein Hehl daraus, dass ich mit voller Absicht die ganze Zeit darauf hingearbeitet habe, die Wirkung unserer Tätigkeit aus den ersten Ministerwochen nach Möglichkeit abzuschwächen. Du wirst Dich erinnern, dass ich von Anfang an voraussagte, diese ganze überstürzte Schul- und Kirchenpolitik werde die schwerstwiegenden politischen Konsequenzen haben, und dass ich sie schließlich nur mitgemacht habe, nachdem Du immer von neuem mit dem Appell an den Arbeiter- und Sol- datenrat gedroht hattest. Die Folgen dieser Politik sind nun in einem Grade ein- getreten, wie ich selbst es kaum für möglich gehalten hätte. Meine allerschwersten Befürchtungen sind weit übertroffen worden. Die ganze Separatistenbewegung im Rheinlande wie in Posen und Oberschlesien wird fast ausschließlich mit unserer Schul- und Kirchenpolitik geschürt. Massenhaft waren in diesen letzten Wochen Parteigenossen aus diesen Gebieten bei mir, um mich händeringend zu be- schwören, noch schleunigst gut zu machen, was noch irgend zu machen sei. Die Telegramme, die vor bevorstehenden Aufständen warnten, häuften sich. Es ergab sich, dass die Durchführung dieser Politik zur Zeit absolut unmöglich ist. Übe- reinstimmend wird weiter aus allen katholischen Bezirken berichtet, dass das Zen- trum seine Wahlgeschäfte ausschließlich mit dem ‘neuen Kulturkampf’ macht und dass auch die Arbeiter, die ihm schon abtrünnig geworden waren, ihm in hellen Scharen wieder zuströmen. Jeder weitere Tag der Aufrechterhaltung insbesondere des Religionserlasses hätte unseren beiden Parteien hunderttausende von Stimmen gekostet. Unter diesen Umständen war es nicht nur höchste politische Pflicht, son- dern auch Pflicht dem Sozialismus gegenüber, einzulenken. Ich habe die Verant- wortung für die Maßnahmen durchaus auf meine eigenen Schultern genommen und bin gern bereit, sie vor jeder Instanz zu tragen.“41 Am 3. Januar 1919 schied Adolph Hoffmann wie alle Minister der USPD aus der preußischen Regierung aus. In seinen Erinnerungen „Unter den Linden 4“ schilderte er 1920 den Widerstand, den die im Geiste der Reaktion erzogenen höheren Staatsbeamten jeder noch so bescheidenen Reform entgegensetzten: „Die Reaktion der Kirche war durch ein uraltes ‚Rätesystem‘ in allen maßgebenden und führenden Stellen fest verankert. Als die Novemberstürme heranbrausten, saß das lichtscheue schwarze Raubvogelgezücht in allen Löchern, Ritzen und Verstecken, im Gemäuer des alten, in seinen Festen erzitternden Turms der Reaktion und

40 Siehe Geheimes Staatsarchiv Berlin-Dahlem, I. HA, Rep. 76 VI, Sekt. 1 Gen. Nr. 265, Maßnahmen der Re- volutionsregierung auf dem Gebiete des Schulwesens 1918-1933, Bl. 91. 41 Quellen zur Geschichte der Rätebewegung in Deutschland 1918/19. Hrsg. Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis Amsterdam und Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien Bonn: I. Der Zentralrat der Deutschen Sozialistischen Republik. 19.12.1918-8.4.1919. Vom Ersten zum Zwei- ten Rätekongress, Leiden 1968, S. 139/140.

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harrte schlau und geduldig auf – besseres Wetter. Den festesten Halt und die größte Sicherheit bot den schwarzen Galgenvögeln der älteste und mit tausendfäl- tigen Schlupfwinkeln versehene Hort der kirchlichen Reaktion in Berlin, Unter den Linden 4, ‚Kultus‘-Ministerium genannt. Hier hatten sich die Totengräber deutscher Denkfähigkeit so fest eingenistet, dass mehr denn eine Herkulesarbeit dazu gehörte, Wandel zu schaffen, oder, richtiger gesagt, Auskehr zu halten... Nun könnte man mit Recht sagen: ‚Die sozialdemokratischen Minister hätten doch das Großreinemachen besorgen müssen!‘ Gewiss, das war auch meine Meinung und Absicht! Aber wer Konrad Haenisch und seine Entwicklung vom radikal sich überschlagenden Flugblattschreiber – innerhalb einiger Tage – zum Deutschland, Deutschland über alles brüllenden Überalldeutschen kennt, der wird die Unmög- lichkeit, von ihm überhaupt nur etwas wie Grundsätze zu verlangen oder umfas- sende Änderungen durchzuführen, einsehen. Und dieser Mann war mir gleichbe- rechtigt zur Seite gegeben als Folge eines Beschlusses jener denkwürdigen Zirkusversammlung am 10. November der Arbeiter- und Soldatenräte. bei der die irregeführten Massen nur auf die Phrasen ‚Einigkeit‘ und ‚Parität‘ dressiert wa- ren.... Der Fehler bei unserem Eintritt ins Ministerium, dem größten Teil der Ge- heimen Räte, vor allem dem Mephisto derselben, Herrn Hintze, nicht unverzüg- lich Luftveränderung verordnet zu haben, musste sich bald an uns selbst und an der Entwicklung revolutionärer Ideen in unserem Machtbereich empfindlich be- merkbar machen. Die Herren übten in und bei allem passiven Widerstand, indem sie die Durchführung von Anordnungen und Verfügungen verhinderten oder doch ins Unendliche verschleppten.“42 Im Januar 1919 wurde Adolph Hoffmann für die USPD in die Verfassungge- bende preußische Landesversammlung gewählt. Im Parlament geißelte er mehr- mals die Morde an Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Leo Jogiches, verur- teilte er den Belagerungszustand und die Ausrufung des Standrechts während der Berliner Märzkämpfe. Er appellierte: „Kehren Sie zur Menschlichkeit zurück! Sorgen Sie dafür, dass wir das Deutsche Reich errichten als einen freien Men- schenstaat, der in der Kultur vorangeht, aber nicht immer tiefer sinkt durch solche Rohheiten und Brutalitäten unter der Regierung sogenannter sozialistischer Mini- ster!“43 Die Weimarer Verfassung von 1919 brachte Fortschritte in der Trennung von Kirche und Staat. Der Artikel 137 lautete: „Es besteht keine Staatskirche“.44 Die Auseinandersetzungen um das Verhältnis Kirche und Schule mündeten im Som- mer 1919, als die Unterzeichnung des Versailler Vertrages anstand, im „Weimarer Schulkompromiß“. Die Reichsverfassung von 1919 sah als zukünftige Regel-

42 Adolph Hoffmann: Unter den Linden 4, in: Die Revolution. Unabhängiges sozialdemokratisches Jahrbuch für Politik und proletarische Kultur, Berlin 1920, S. 176-184. 43 Drei Reden nach dem amtlichen stenographischen Protokoll der Preußischen Landesversammlung aus den Debatten über Belagerungszustand und Standrecht von Adolph Hoffmann und Obuch, Mitglieder der Verfas- sunggebenden preußischen Landesversammlung, Berlin 1919, S. 75.

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schule die konfessionsübergreifende Gemeinschaftsschule vor. Artikel 146 er- öffnete die Möglichkeit, auf Antrag der Erziehungsberechtigten Volksschulen ih- res Bekenntnisses oder ihrer Weltanschauung – und damit auch weltliche Schulen – einzurichten.45 Doch blieb die praktische Umsetzung dieser Verfassungsziele ausdrücklich einem noch zu verabschiedenden „Reichsschulgesetz“ vorbehalten, wozu es nicht kam. Konrad Haenisch hatte in seiner Funktion als preußischer Kul- tusminister am 11. Juli 1919 den Vorstand der sozialdemokratischen Fraktion in der Verfassunggebenden preußischen Landesversammlung über die Kompromiss- bedingungen zur Annahme der Weimarer Verfassung informiert: „Es scheint in diesem Augenblick unmöglich, in der Schul- und Kirchenfrage vom Zentrum wei- tere Zugeständnisse zu erlangen ... Die Reichsregierung hält es jetzt aus sehr schwerwiegenden allgemeinpolitischen Gründen, deren Bedeutung ich vollauf würdige, für unmöglich, es jetzt zu einem Bruch mit dem Zentrum kommen zu lassen. Es wird also nichts anderes übrig bleiben, als uns, wenn auch zähneknir- schend, dessen Bedingungen zu fügen. Diese Bedingungen sind im Wesentlichen: 1. Befreiung der Kirche von jeder irgend gearteten staatlichen Aufsicht, während der Staat der Kirche nach wie vor alle Rechte einer öffentlich-rechtlichen Körper- schaft, ferner das Steuerrecht auf Grund der staatlichen Steuerlisten und außeror- dentlich weitgehende Rechte auf dem Gebiete der Schule einräumt. Mit einem Wort: Die freie Kirche im gefesselten Staat. 2. Eine außerordentlich weitgehende Freiheit des Privatschulwesens. 3. Festlegung der Konfessionsschule bis zum Er- lass eines vielleicht erst nach einem halben Dutzend Jahren zu erwartenden Reichsschulgesetzes. Bis dahin völlige Unterbindung der Landesgesetzgebung auf diesem Gebiet.“46 Vertraulich teilte er weiter mit, falls diese Bedingungen zum Tragen kämen, wolle er sein Amt zur Verfügung stellen. Als die SPD bei den preußischen Landtagswahlen im Februar 1921 eine schwere Niederlage erlitt, schieden alle sozialdemokratischen Minister, so auch Haenisch, aus der Regierung aus.47 Zur 6. Auflage seiner Schrift „Los von der Kirche!“ schrieb Adolph Hoffmann im Mai 1921 in einer neuen Vorrede mit der Überschrift: „Mein Abschied vom Preußischen Landtag“: „Die 45 Jahre, die ich jetzt im öffentlichen Leben stehe, haben meine Überzeugung nicht wankend gemacht, sondern immer mehr bestärkt:

44 Die Verfassung des Deutschen Reichs (Weimarer Verfassung) vom 11. August 1919, in: Deutsche Verfassun- gen, München 1981, S. 122. 45 Siehe Michael Schmidt: Ein langer steiniger Weg – wie Lebenskunde an die Berliner Schule kam, in: Horst Groschopp/Michael Schmidt: Lebenskunde – die vernachlässigte Alternative. Zwei Beiträge zur Geschichte eines Schulfaches, Berlin 1995, S. 23-36. 46 Zitiert nach Dirk H. Gentsch.: Zur Geschichte der sozialdemokratischen Schulpolitik in der Zeit der Weima- rer Republik. Eine historisch-pädagogische Analyse zur Schulpolitik der SPD in Deutschland in den Jahren von 1919 bis 1933. Eine Studie, Frankfurt/Main u. a., 1994, S. 159/160; Siehe Peter Braune: Die gescheiterte Einheitsschule. Heinrich Schulz – Parteisoldat zwischen Rosa Luxemburg und Friedrich Ebert, Berlin 2004, S. 161-205. 47 Siehe Matthias John: Konrad Haenisch (1876-1925). Laufbursche bei der „Leipziger Volkszeitung“ – Redak- teur in Dormund – preußischer Kultusminister, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Berlin, Nr. 1/2001, S. 55-69.

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Das Proletariat kann alle Rechte und Freiheiten, die es unter unsäglichen Opfern, zu denen das Leben als höchstes gehört, erkämpft hat, nur dann für die Zukunft und seine Kinder behalten, wenn es erstens die Gewalt der Kirche bricht, d.h. ihren Missbrauch der Religion als Dienerin des Kapitalismus und der Reaktion be- seitigt, zweitens die Schule von dem unheilvollen Einfluss der Kirche reinigt, da- mit ein neues freies Geschlecht herangezogen werden kann, das jedem Rückfall in geistige und physische Knechtschaft dauernd einen unüberwindlichen Damm ent- gegensetzt… Die heutigen Inhaber der Gewalt denken gar nicht daran, die Auf- wendungen für die Kirche abzubauen und den notleidenden Schulen zuzuführen. Sie denken gar nicht daran, die Schulen so zu gestalten, dass wirklich freie Men- schen herangezogen werden… Das ist natürlich nur möglich, wenn die Masse des Volkes die Entwicklung vorwärts treibt und durch Massenaustritt aus der Kirche selbst die wirkliche Trennung von Staat und Kirche einerseits und damit zugleich die Trennung von Schule und Kirche andererseits durchführt… Dieser Kampf ist mir Lebensbedürfnis geworden… es [ist] meine felsenfeste Überzeugung…, dass nur durch die Befreiung der Menschheit vom religiösen Aberglauben und von der Pfaffenherrschaft, durch eine auf wissenschaftlicher Grundlage wirkende freie weltliche Einheitsschule die mit schweren Opfern zu erringende Freiheit uns und unseren Kindern erhalten werden kann. Wo darum gekämpft wird, wird man mich bis zum letzten Atemzuge finden.“48 Diesem Credo ist Adolph Hoffmann treu ge- blieben. 1920 führte Adolph Hoffmanns politischer Weg mit dem linken Flügel der USPD zur VKPD, von dieser 1921 erneut zur USPD, die sich 1922 mit der SPD wiedervereinigte. Als Reichstags- und Landtagsabgeordneter (1920-1924, 1928- 1930) und als Berliner Stadtverordneter (1925-1930) vertrat er bei der Sicherung der Weimarer Republik und der Abwehr von Nationalismus, Chauvinismus und Antisemitismus linke Positionen. Mit der Schulhumoreske „Knorke“ wollte er um 1924 wirksame Propaganda für die weltliche Schulbewegung betreiben. Nach ei- ner Rezension im „Vorwärts“ schien ihm das gut gelungen zu sein: „Den echt ber- linischen, stets schlagfertigen Humor des Redners Hoffmann kennen unsere Le- ser, und sie wissen, dass er nie Selbstzweck ist, sondern immer im Dienst einer höheren Wahrheit steht, die er zu erläutern, zu bekräftigen, zu propagieren sucht. Der Humor des Schriftstellers Hoffmann trägt denselben Charakter. Die Hu- moreske ‚Knorke‘ will nicht nur unterhalten und erheitern, sondern sie ist zu- gleich eine Tendenzschrift, die der Schulreform dienen und das Verständnis für die modernste Form des Unterrichts, die Lebensgemeinschaftsschule, fördern soll.“49 Mit der Veröffentlichung von Memoiren, Anekdoten und Begegnungen aus der Zeit des Sozialistengesetzes, von Episoden und Zwischenrufen aus seiner Tätig-

48 Adolph Hoffmann: Los von der Kirche! Meine erste Anti-Kirchenrede im Preußenparlament, Berlin 1921, S. 2-5. 49 Zitiert nach Adolph „Hoffmann’s Erzählungen“. Gesammelte und heitere Erinnerungen aus sozialistengesetz- licher Zeit, Berlin o.J. [1928], Anhang [S. 199].

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keit als Parlamentarier wollte Adolph Hoffmann Fälschungen und Entstellungen seiner politischen Arbeit widerlegen, Erfahrungen und Lehren dem Vergessen ent- reißen, denn wie er am 28. Februar 1929, fast zwei Jahre vor seinem Tod am 1. Dezember 1930, in einer handschriftlichen Buchwidmung schrieb: „Erinnerung hält immer jung“.50 Sein größter Wunsch war es, dass „die Jugend der Völker nie wieder mit Kriegsfanatismus“ vergiftet wird.51 In Erinnerung blieben bei Zeitgenossen Adolph Hoffmanns parlamentarische Zwischenrufe. Er entwickelte eine wahre Meisterschaft in kurzen, drastischen Zwischenrufen, die von seiner gespannten Aufmerksamkeit, von seinem kernigen Berliner Mutterwitz Zeugnis ablegten und fast immer den Nagel auf den Kopf tra- fen. Karl Liebknecht charakterisierte ihn als den geborenen Regisseur für parla- mentarische Zwischenrufe, die eine Waffe unterdrückter parlamentarischer Min- derheiten seien.52 Ludwig Kantorowicz schrieb 1928 in der Wochenschrift „Der Drache“: „In einer Philosophie der Zwischenrufe wird einst der Name Adolph Hoffmann einen breiten Raum einnehmen. Als klassischer Zwischenrufer im Streit ist er populär geworden, denn auch seine so berühmten ‚Zehn Gebote‘ sind nichts anderes als Zwischenrufe zum biblischen Dialog. … In Hoffmanns Zwi- schenrufen steckt mehr als Witz. Da ist tiefere Bedeutung. Es sind einzeilige Epi- gramme, die besten Reden, die je in einem deutschen Parlament gehalten wurden. In einigen Sekunden sagt er, was andere in einigen Stunden nicht sagen. Er nimmt den Dingen die hohle Pathetik, ihre falsche Feierlichkeit.... Hoffmanns Zwi- schenrufe verletzen nicht, sie töten. Das sind geschliffene Dolche. Er zückt sie, und ein parlamentarischer Kretin deckt die Rednertribüne. Das Parlament wird zur lachenden Trauergemeinde. ‚Große Heiterkeit‘ zur Todesanzeige. So hat sein Witz die Kröcher, die Stoecker und Pappenheims zur Strecke gebracht.“53

50 Zitiert nach ebenda, in: SAPMO-BArch, Bibliothek, Signatur 51/2064. 51 Ebenda, S. 196. 52 Siehe Karl Liebknecht an Sophie Liebknecht vom 6. Juli 1918, in: Ders.: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. IX, Berlin 1971, S.549; Ders.: Politischer Brief der Spartakusgruppe, 22.4.1916, in: Ebenda, Bd. VIII, Berlin 1972, S. 607. 53 Zitiert nach Adolph „Hoffmann’s Erzählungen“, Anhang [S. 197].

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MIRJAM SACHSE Marie Juchacz: Reflexionen der Novemberrevolution 1918/1919 in der „Gleichheit“

Der Erste Weltkrieg hatte verheerende Folgen für die Arbeiterbewegung – so auch für die proletarische Frauenbewegung. Von einschneidender Bedeutung für die deutsche und die internationale proletarische Frauenbewegung war der Mai 1917: Am 16. Mai 1917 teilte der Parteivorstand der SPD der langjährigen Redakteurin der Frauenzeitschrift „Die Gleichheit“ und Sekretärin der soziali- stischen Fraueninternationale Clara Zetkin (1857-1933)mit, sie sei entlassen. Aus Sicht des Parteivorstands unter dem Vorsitz Friedrich Eberts (1871-1925) wurde Zetkin aufgrund ihrer kritischen Haltung zu Krieg und Burgfrieden un- tragbar: Zu vehement hatte die konsequente Antimilitaristin den Parteivorstand für sein „Umlernen“ kritisiert, zu deutlich nahm sie einen radikalisierenden Ein- fluss auf die Frauenorganisationen. Die unleugbar sinkenden Abonnementzah- len der Zeitschrift1 waren willkommener Anlass für Parteivorstand und Partei- ausschuss, Zetkin ihre wichtigste öffentliche Plattform aus der Hand zu nehmen. Die Entlassung Zetkins und „der Gleichheitsmord“2 kamen keineswegs über- raschend. Eine richtungweisende Personalentscheidung an der Spitze der prole- tarischen Frauenbewegung war bereits vorausgegangen. Luise Zietz (1865- 1922), erstes und einziges weibliches Mitglied im Parteivorstand der SPD, hatte ihre anfangs befürwortende und später abwartende Haltung zum Krieg aufgege- ben und sich auf die Seite der radikalen Kriegsgegner gestellt. Ebert hätte sie des- halb gerne bereits 1916 durch eine wesentlich weniger streitbare Person ersetzt, doch die Genossin, die er für diesen Posten vorgesehen hatte, zögerte.3 Erst nach- dem Luise Zietz offen die neue oppositionelle Gruppierung unterstützte, war die Auserkorene – das war Marie Juchacz – bereit, die unbequem gewordene Frau- ensekretärin im Parteivorstand zu beerben. Luise Zietz erhielt ihre Kündigung im Februar 1917, Zetkin die ihre drei Monate später. Beide Positionen, die höchsten in der Frauenbewegung der SPD, wurden nun von Marie Juchacz übernommen. In der Redaktion der „Gleichheit“ stellte man ihr den Parteifunktionär und Pädagogen Heinrich Schulz zur Seite.4 „Die Gleichheit“ und die proletarische

1 Die enormen Verluste der „Gleichheit“ ergaben sich vornehmlich aus gezielten Abonnementkündigungen der Gewerkschaften und aus der allgemein miserablen Lebenssituation während des Krieges. Für die Entlassung Zetkins waren sie nur vorgeschoben. Siehe Mirjam Sachse: „Ich erkläre mich schuldig.“ – Clara Zetkins Ent- lassung aus der Redaktion der „Gleichheit“ 1917, in: Ulla Plener (Hrsg.): Clara Zetkin in ihrer Zeit. Neue Fak- ten, Erkenntnisse, Wertungen. Material des Kolloquiums anlässlich ihres 150. Geburtstages am 6. Juli 2007 in Berlin. Berlin 2008, S. 72-78. 2 Käte Duncker in einem Brief an Hermann Duncker, 23./24.05.1917, SAPMO-BArch, NY 4445/138. 3 Siehe Susanne Miller: Marie Juchacz als Frauensekretärin der SPD, in: Marie Juchacz. Leben und Werk. Hrsg. vom Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt, Bonn 1979, S.106-122, S. 112. 4 Das Verhältnis der beiden neuen „Gleichheit“-Redakteure scheint nicht unproblematisch gewesen zu sein.

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Frauenbewegung sollten wieder im Sinne des Parteivorstands geführt werden. Wer war Marie Juchacz und welchen Wandel erfuhr „Die Gleichheit“ unter ih- rer Redaktion? Juchacz wurde 1879 in Landsberg an der Warthe – dem 80 km nor- döstlich von Frankfurt/Oder gelegenen heutigen Gorzów Wielkopolski – geboren. 22 Jahre jünger als die Pionierinnen der Frauenbewegung Clara Zetkin und Emma Ihrer (1857-1911) gehörte sie bereits der nächsten Generation von Streiterinnen für die Frauenbewegung an. In ihrer autobiographischen Skizze „Kindheit, Jugend und erste politische Tätigkeit“5 beschrieb sie sehr detailliert die Umstände, die dazu führten, dass sie als die älteste Tochter des Zimmerermeisters Friedrich Theodor Gohlke und seiner Frau Henriette zunächst als Dienstmädchen, Fabrik- arbeiterin und Krankenpflegerin arbeiten musste. Ihr familiäres Umfeld zeichnete sie als ein sehr harmonisches und liebevolles: Der Vater ermöglichte ihr den Zu- gang zu allgemeinbildenden Büchern; die Mutter zog später zu ihren Töchtern nach Berlin und unterstützte sie bei der Bewältigung des Alltags. Es war die sozi- aldemokratische Gesinnung des sieben Jahre älteren Bruders Otto, die sowohl das politische Bewusstsein der Marie Juchacz wie auch das ihrer neun Jahre jüngeren Schwester Elisabeth geprägt hatte.6 Die zutiefst politische Überzeugung war es, die die beiden Schwestern neben einer herzlichen Geschwisterliebe und Kame- radschaft auf das Engste verband, eine Überzeugung, der stets die Bereitschaft innewohnte, in leitender Position Verantwortung zu übernehmen. Nachdem es Marie Juchacz schließlich doch möglich geworden war, die ersehnte Ausbildung als Schneiderin abzuschließen, zogen sie und ihre Schwester 1906 nach Berlin, wo sie gemeinsam die ersten Schritte auf dem beschwerlichen Weg in die große Poli- tik gingen. Neben der familiären Herkunft und dem besonderen Verhältnis zur Schwester beschreibt Juchacz in der autobiographischen Skizze ihren politischen Werde- gang. Im Ton der Bescheidenheit weist sie den Verdacht zurück, sie habe nach per-

Schulz, der noch 1906 gemeinsam mit Zetkin ein Grundlagenreferat für die sozialdemokratische Bildungspo- litik ausgearbeitet hatte, soll Juchacz nachgesagt haben, dass sie „weder Erfahrung noch Begabung für eine Redakteurstätigkeit“ habe (Hedwig Wachenheim: Vom Großbürgertum zur Sozialdemokratie. Memoiren einer Reformistin, Berlin 1973, S. 84). Sie habe „Die Gleichheit“ lediglich „nominell“ geleitet, er dagegen die ei- gentliche Arbeit geleistet. Zumindest das Hauptblatt vermittelt jedoch den gegenteiligen Eindruck. Beide soll- ten 1919 als Abgeordnete in den Reichstag berufen werden und deshalb die Redaktion der „Gleichheit“ wie- der abgeben. 5 Marie Juchacz: Kindheit, Jugend und erste politische Tätigkeit, in: Marie Juchacz, (Anm. 3), S. 7-78. Diese autobiographische Skizze umfasst nur die Zeit und Erlebnisse bis 1917. 6 Elisabeth Gohlke, geschiedene Röhl, verheiratete Kirschmann-Röhl lebte vor ihrer Heirat mit dem Bauarbei- ter Röhl und nach Auflösung dieser Ehe, aus der ein Sohn hervorging, in einer Wohngemeinschaft mit ihrer älteren Schwester. 1921 heiratete sie den sozialdemokratischen Redakteur, Ministerialrat und Reichstagsab- geordneten Emil Kirschmann (1888-1948), arbeitete als Autorin und Herausgeberin und vor allem für „Die Gleichheit“-Beilage „Die Frau und ihr Haus“. Sie wirkte in kommunalen SPD-Organisationen, war 1919 bis zu ihrem Tod 1930 Mitglied des Hauptausschusses der AWO, Leiterin der AWO-Anstaltskommission und kurzzeitig Reichstagsabgeordnete. Die beiden Schwestern wurden in Charakter und Kompetenz durchaus di- rekt verglichen. So urteilte z. B. Hedwig Wachenheim, dass Röhl „eine viel freundlichere Natur“ gehabt habe, „viel wortgewandter als ihre Schwester“ und „allgemein sehr beliebt“ gewesen sei. (Siehe Wachenheim, Vom Großbürgertum, S. 130.)

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sönlichem Erfolg gestrebt – es seien Zufälle gewesen, die sie an die Spitze eines Vereins, eines Regionalverbandes und schließlich in den Parteivorstand der SPD gebracht hätten. „Stets wurden mir diese Ämter angetragen.“7 In Berlin suchten die beiden „Provinzküken“ die „bewußte und intensive Mit- arbeit in der sozialdemokratischen Frauenbewegung“. Juchacz, die bis dahin prin- zipiell die Notwendigkeit einer eigenständigen proletarischen Frauenbewegung bestritten hatte, entschied sich für den „Umweg über die sozialdemokratische Frauenbewegung“8, weil sie Trägerin und nicht nur Mitläuferin der Arbeiterbewe- gung sein wollte. So war sie 1907 nicht abgeneigt, den ihr durch eine Frauende- putation angetragenen Vorsitz des “Frauen- und Mädchenbildungsvereins” zu (Berlin)Schöneberg anzunehmen. Beide Frauen traten 1908 konsequenterweise der SPD bei und etablierten sich in der proletarischen Frauenbewegung. Die Frau- ensekretärin Luise Zietz betraute sie mit Agitationstouren, die sie wahrnehmen konnten, weil Mutter Henriette Haushalt und Kinderbetreuung erledigte und sie als Näherinnen für Konfektionshäuser flexible Arbeitszeiten hatten. Eine dieser Agitationsreisen führte Marie Juchacz nach Köln, wo sie schließlich einen besol- deten Posten als Parteisekretärin annahm und wohin 1913 die gesamte Familie zog. Als hauptamtliche Parteisekretärin arbeitete Juchacz bis 1917. Bereits damals entwickelte sie die Idee einer eigenen sozialdemokratischen Wohlfahrtsorganisa- tion – 1919 entstand die „Arbeiterwohlfahrt“ (AWO). Während des Ersten Weltkriegs war Marie Juchacz in der „Nationalen Frauen- gemeinschaft“, in verschiedenen kölnischen Körperschaften und privaten Wohl- fahrtsorganisationen aktiv und wirkte im Ernährungsausschuss. In den autobio- graphischen Aufzeichnungen reflektiert sie diese Tätigkeiten keineswegs als kriegsunterstützende Maßnahmen. Noch im Nachhinein beurteilte sie die Lösung der kriegsbedingten Lebenshaltungsprobleme als eine „Mission“ und den Ersten Weltkrieg als eine „große Zeit“9. Ihrer Meinung nach hatten die deutschen Frauen den Durchhalteparolen der SPD-Führung zu folgen, denn sie war der Überzeu- gung, dass „[d]ie große Prüfung des Ersten Weltkriegs […] für die Frauen der An- fang für neue Verantwortung“ wurde.10 Ganz in diesem Sinne gestaltete Marie Juchacz „Die Gleichheit“, deren redak- tionelle Leitung sie seit Mai 1917 innehatte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie als Hilfssekretärin gearbeitet und verfasste einige wenige Artikel für die Zeitschrift.11 7 Juchacz, Kindheit, S. 7. 8 Ebenda, S. 42. 9 Juchacz, Kindheit, S. 77. 10 Juchacz wurde 1918 in die Nationalversammlung und 1919 in den Reichstag gewählt. Sie emigrierte 1933 ins Elsass und floh schließlich in die USA. Dort wurde sie u.a. Mitglied im Exekutivkomitee „German-American Council for the Liberation of Germany from ” und kehrte 1949 wieder nach Deutschland zurück. 11 Der früheste Artikel, der Juchacz zugeordnet werden kann, erschien 1911 und war ein Bericht über die sozi- aldemokratische Frauenorganisation in Berlin-Rixdorf (siehe „Die Gleichheit“ vom 5.6.1911, S. 280-281). Diesem Artikel folgten noch einige weitere Beiträge über regionale Organisationen: M.[arie] Juchacz: Im sieb- ten sächsischen Reichstagswahlkreis ... , in: „Die Gleichheit“ vom 26.6.1912, S. 312; Marie Juchacz: Jahres- bericht der Genossinnen des Wahlkreises Teltow-Beeskow-Storkow-Charlottenburg, in: „Die Gleichheit“ vom 16.10.1912, S. 26.

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Nach Übernahme der Redaktion begann Juchacz den bis dahin unabhängigen Charakter der „Gleichheit“ aufzugeben und den Wünschen des Parteivorstandes anzupassen. Dazu gehörte die Kritik an den Positionen von Luise Zietz und Clara Zetkin. So war der Frieden zwischen der Parteispitze und „ihren“ Frauen einge- kehrt. Die radikale Konkurrenz in Gestalt der „Leipziger Volkszeitung“ erachtete es als vorzügliche Aufgabe der Marie Juchacz, „Die Gleichheit“ und deren Leserin- nen „zu kritiklosen Mitläuferinnen der nationalsozialen Mehrheitspolitik“12 zu machen. Parteipolitische und tagesaktuelle Themen spielten in der „Gleichheit“ nunmehr nur noch eine untergeordnete Rolle und wurden ganz im Sinne der Par- teispitze und mit Seitenhieben gegen die USPD-Konkurrenz dargestellt.13 Der ge- wählte Tonfall war durchaus aggressiv. Juchacz war davon überzeugt, dass der von der gegnerischen Seite geschürte Parteizwiespalt den Friedensprozess unnötig verlangsame.14 Doch war es gerade die Friedensfrage, in der sich die ganze Zerrissenheit innerhalb der proletarischen Frauenbewegung zeigte – dort manifestierte sie sich stärker als in der übrigen Arbeiterbewegung. Der Frieden war das erklärte und ersehnte Ziel. Zugleich, so meinte Marie Juchacz, bot er die einmalige Chance für die Frauen, mit Enga- gement und „Durchhalten“ ein Zeugnis für ihre staatsbürgerlichen Qualitäten ab- zulegen und so der berechtigten Forderung nach dem Frauenwahlrecht Nachdruck zu verleihen. In ihren Leitartikeln schürte sie zugleich die Hoffnung und die Be- fürchtung, das Ende des Krieges könnte ähnlich plötzlich und mehr oder weniger gewaltsam kommen wie sein Anfang15, und sie meinte, dass die proletarischen Frauen auf diesen Fall vorbereitet sein müssten, denn „ein starkes und freies Deutschland […][sei] die erste Vorbedingung für eine starke und freie deutsche Arbeiterbewegung sowie für die Fortentwicklung der deutschen Kultur, dieses wertvollen und wichtigen Stückes der allgemeinen Kultur“.16 Der Krieg wurde da- mit von der „Gleichheit“ nunmehr ganz im Sinne der Parteiführung als eine für die Arbeiterbewegung insgesamt förderliche Notwendigkeit verteidigt. Und so wurde kein sofortiges und vor allem kein bedingungsloses Ende des Krieges, sondern ein letztes Aufgebot aller Kräfte gefordert. Die „Gleichheit“-Redaktion kritisierte zwar die Durchhalteparolen der Militärs, da diese schon lange kein Trost mehr seien, aber sie hoffte zugleich, „daß die deutschen Heere die schützende Mauer im Westen halten werden!“17. Juchaczs „Gleichheit“ warb bei ihren Leserinnen um Verständnis für die Haltung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, denn

12 Die Maßregelung der Redaktion der „Gleichheit“, in: Frauen-Beilage der „Leipziger Volkszeitung“ vom 29.6.1917, S. 3. 13 Susanne Miller meinte, Juchacz wäre vielleicht keine geradlinige MSPD-Politikerin geworden, wenn ihr Wir- kungskreis nicht der oberrheinische Parteibezirk und dort die meisten der Mitglieder und Funktionäre nicht Mehrheitssozialdemokraten gewesen wären. (Siehe Miller, Marie Juchacz, S. 109.) 14 Siehe In eigener Sache, in: „Die Gleichheit“ vom 8.6.1917, S. 118-119, S. 118. 15 Siehe Ein Ende und ein Anfang, in: „Die Gleichheit“ vom 25.12.1918, S. 9. 16 In eigener Sache, in: „Die Gleichheit“ vom 8.6.1917, S. 117-118. 17 Kritische Tage, in: „Die Gleichheit“ vom 11.10.1918, S. 1-2, S. 1.

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„jede andere Haltung [würde] die ungeheuerliche Gefahr einer deutschen Nieder- lage, zunächst des Eindringens feindlicher Heere in deutsches Gebiet, später der Unterbindung und Lähmung des deutschen Wirtschaftslebens herbeiführen“.18 So war es ganz im Sinne der Redaktion der „Gleichheit“, dass die SPD im Ok- tober 1918 in die Regierung eintrat. Die Redaktion sah darin die Voraussetzung dafür gegeben, „in unserem Innern für Ordnung zu sorgen und unser Deutsches Reich verfassungsrechtlich und innenpolitisch so einzurichten, daß es als ein ebenbürtiger Teilnehmer in einem großen demokratischen Völkerbund der Zu- kunft gelten kann“.19 Der Frieden wurde ersehnt, aber nicht jeder Frieden, sondern zumindest ein Verständigungsfrieden. Nur so könne man beruhigt in die Zukunft schauen. Im Zusammenhang mit der angestrebten Aufnahme in den Völkerbund er- innerte sich „Die Gleichheit“ wieder der Prinzipien internationaler Solidarität und sogar des internationalen Klassenkampfes. Die Voraussetzungen für die Teil- nahme Deutschlands am internationalen Demokratiesierungsprozess wurde tatsächlich in der „Niederringung der junkerlich-militärischen Herrschaft in Deutschland und in der Errichtung einer demokratischen Regierung“20 gesehen, eine Sichtweise, die beim bejubelten Kriegseintritt 1914 nur in der von Zetkin ge- führten „Gleichheit“ nicht in den Hintergrund gerückt worden war. Nunmehr erin- nerte man sich in der „Gleichheit“ der Juchacz auch wieder der „sozialistischen Brüder […] in den feindlichen Ländern“ und hoffte, dass sie „ihre siegestrunkenen Regierungen zur Menschlichkeit und zur Ordnung zurück[…]rufen“21 würden. In der Beurteilung des Krieges, in Argumentation und Inhalten blieb „Die Gleichheit“ aber hin- und hergerissen. Es gab lichte Momente wie z. B. die Stel- lungnahme der Redaktionsmitarbeiterin Klara Bohm-Schuch (1879-1936), „daß der Militarismus keine herrschende Gewalt für sich ist, sondern nur das Macht- mittel der international herrschenden Gewalt, des Kapitalismus, darstellt“, zu des- sen „Bekämpfung […] die Arbeitermassen der ganzen Welt zusammenstehen“22 sollten. Und es gab zugleich die angesichts der „Sinnlosigkeit und Ruchlosigkeit dieses Mordens“23 seltsam anmutende Hoffnung, „[e]ine spätere Zeit [werde] auch trotz dieses trüben Ausgangs der kriegerischen Ereignisse für Deutschland die un- geheure Leistung des deutschen Volkes in diesem Kriege gerecht würdigen“24. Es fiel der Redaktion sichtbar schwer einzugestehen, dass jeder Krieg in erster Linie eine Katastrophe und keine Bewährungsprobe für ein Volk ist. Die sozialistischen Gruppierungen, die im eigenen Land gegen den Krieg kämpften, betrachtete die „Gleichheit“ nicht als Verbündete, sondern als „Stören-

18 In eigener Sache, in: „Die Gleichheit“ vom 8.6.1917, S. 118. 19 Kritische Tage, in: „Die Gleichheit“ vom 11.10.1918, S. 2. 20 Ebenda. 21 Weihnachten im „Frieden“ , in: „Die Gleichheit“ vom 20.12.1918, S. 41. 22 Klara Bohm-Schuch, in: „Die Gleichheit“ vom 22.11.1918, S. 29. 23 Ebenda. 24 Ein Ende und ein Anfang, in: „Die Gleichheit“ vom 25.10.1918, S. 9.

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friede“.25 Juchacz kritisierte, dass sich die USPD-Frauen nicht einer öffentlichen Aufforderung an den Reichskanzler nach Anhörung einer Delegation von Frauen aus den verschiedenen Vereinen und Verbänden angeschlossen hatten, als es um die Forderung des Frauenwahlrechts ging. In ihrer schriftlichen Begründung, in der „Gleichheit“ abgedruckt, betonte Luise Zietz, dass sie trotz Beteiligung der SPD keinerlei parlamentarisch-demokratische Umbildung der Regierung erken- nen könne, sondern die USPD stärker unterdrückt werde als zuvor. Sie sah die Durchsetzung aller demokratischen Forderungen allein durch den Kampf der pro- letarischen Massen gewährleistet.26 Marie Juchacz erachtete diese Einstellung ge- genüber den verhalten demokratischen Entwicklungen als bedauerliche Ig- noranz.27 An anderer Stelle fragte sie, ob Luise Zietz wirklich glaube, „dadurch das Proletariat zu erlösen, daß sie es antreibt, sich zu zerfleischen?“28 Dreh- und Angelpunkt der „Gleichheit“-Berichterstattung im Rahmen der lau- fenden Friedensverhandlungen war die Frage des Frauenwahlrechts. US-Präsident Woodrow Wilson, an den sich die neue SPD-gestützte Regierung um die Einlei- tung von Friedensverhandlungen wandte29 und der sich im eigenen Land für das Frauenwahlrecht stark machte30, wurde den deutschen Frauen als doppelter Hoff- nungsträger vorgestellt. In dem Leitartikel „Die Frauen und der kommende Frie- den“31 forderte die „Gleichheit“-Redaktion alle Frauen auf zu verlangen, dass das Frauenwahlrecht als eine „unerläßliche Friedensbedingung für alle beteiligten Völker anerkannt“ werde. Den langersehnten Frieden schon greifbar nahe, sollte mehreren Gefahren vorgebeugt werden. Es müsse „ein zukünftiger wilder Kampf der Frauenwelt gegen die Männerwelt“ und zugleich ein erneuter „bedauerliche[r] Gegensatz zu den anderen Völkern“ verhindert werden 32 Für beide Gefahren galt der „Gleichheit“-Redaktion das Frauenwahlrecht als Lösung. Selbst mit dieser ge- schlechtsspezifischen Forderung schaffte es die Redaktion der „Gleichheit“, ein gewisses nationales Geltungsbewusstsein auszudrücken. Ohne das Frauenwahl- recht riskiere man nämlich, dass Deutschland „auch in der zu erhoffenden demo- kratischen Zukunft der Welt […] wiederum am hintersten Ende marschiert“33.

25 Die Frauen im neuen Deutschland, in: „Die Gleichheit“ vom 8.11.1918, S. 17-18. 26 Siehe „Nicht das geringste gespürt“, in: „Die Gleichheit“ vom 8.11.1918, S. 18. 27 „Die Gleichheit“ erklärte später, dass die Amnestie für verhaftete USPD-Politiker wie Karl Liebknecht vor al- lem den Bemühungen Philipp Scheidemanns zuzuschreiben sei (siehe „Die Gleichheit“ vom 8.11.1918, S. 20). Dagegen war die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts der „Gleichheit“-Redaktion im Januar 1919 keine einzige Zeile wert (zumindest nicht in dem von mir untersuchten Hauptblatt der „Gleichheit“). 28 Unter dem Titel „Störenfriede!“ („Die Gleichheit“ vom 22.11.1918, S. 31-32) veröffentlichte Juchacz einen Bericht über eine Versammlung, die die Hamburger Mehrheitssozialdemokratinnen gemeinsam mit dem ört- lichen bürgerlichen Frauenstimmrechtsverband veranstaltet hatten. Diese von 5.000 Personen besuchte Ver- anstaltung sei von Mitgliedern der USPD unter Führung von Luise Zietz in ungehörigem Maße gestört wor- den. Wegen des Radaus habe die Rednerin des Frauenstimmrechtsverbandes nur kurz und Marie Juchacz gar nicht mehr sprechen können. Die Versammlung musste schließlich aufgelöst werden. Sozialdemokratinnen müssten sich angesichts eines solchen Verhaltens von Zietz „angewidert“ (ebenda, S. 32) abwenden. 29 Siehe Ein Ende und ein Anfang, in: „Die Gleichheit“ vom 25.10.1918, S. 9. 30 Siehe Das Frauenwahlrecht in den Vereinigten Staaten, in: „Die Gleichheit“ vom 8.11.1918, S. 24. 31 Siehe „Die Gleichheit“ vom 22.11.1918, S. 25-26. 32 Ebenda, S. 25.

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Und nun die Novemberrevolution 1918. An keinem Ereignis zeigt sich das Manko der „Gleichheit“, parteipolitische und tagesaktuelle Themen nur marginal und durch ihr vierzehntägiges Erscheinen zudem zeitlich verzögert zu berücksichtigen, so deutlich wie an der Behandlung der Revolution. Erst die mit 6. Dezember 1918 datierte Ausgabe der „Gleichheit“ nahm auf dieses umwälzende Ereignis Bezug. Die Redaktion schrieb dazu: „Da die Redaktion unserer Zeitschrift der Fertigstellung und Beförderung wegen un- gefähr zwei Wochen vor dem Erscheinungstermin jeder einzelnen Nummer ab- schließen muß, so konnte in der vorigen Nummer die große revolutionäre Um- wälzung leider kaum eine Erwähnung finden, obwohl die Nummer das Datum des 22. November trägt. Wir bitten wegen dieser Schwierigkeiten, die besonders jetzt infolge der mangelhaften Beförderungsverhältnisse unvermeidlich sind, um Ent- schuldigung.“34 Die Berichterstattung war im November 1918 nicht am Puls der Zeit , sie war außerdem sehr oberflächlich, wenn auch euphorisch. Im Vordergrund stand auch hier die Frage, welche Bedeutung der Revolution für das Frauenwahlrecht zukommt: „Die Revolution hat ganze Arbeit gemacht. In wenigen Tagen haben Soldaten, Arbeiter und Arbeiterinnen durch ihr einiges, ge- schlossenes Vorgehen alles Unrecht einer alten Zeit hinweggefegt. Niemals hat sich Größeres in der Weltgeschichte abgespielt. An der Spitze der jungen soziali- stischen Republik stehen Männer, die ihr Leben lang nach bestem Wissen und auf- richtiger Überzeugung für das Recht und gegen das Unrecht gestritten haben. Es ist selbstverständlich, daß in der jungen, von Sozialdemokraten geführten Repu- blik für die Entrechtung der Frauen kein Platz mehr ist.“35 Euphorisch begrüßte „Die Gleichheit“ den Sturz der Monarchie und das Frau- enwahlrecht: „Gestern noch sperrten die Gewalthaber einer vergangenen Zeit dem Werdenden einer neuen Zeit einsichtslos und herausfordernd den Weg. Heute lie- gen sie überwunden, entwurzelt, gebrochen, ohnmächtig irgendwo abseits vom Wege und warten des Straßenfegers, der sie auf den Kehrichthaufen der Ge- schichte wirft. Gestern noch waren die deutschen Frauen unfrei, ein unterdrücktes Geschlecht, das auch der erwachenden Demokratie nur mühsam kleine Zuge- ständnisse abringen konnte. Heute sind die deutschen Frauen die freiesten der Welt. Sie haben die volle und unbedingte Gleichberechtigung mit dem Manne, sie können zu allen Körperschaften wählen und gewählt werden.“36 Jedoch mussten die sozialdemokratisch engagierten Frauen bald erkennen, dass es immer noch nicht selbstverständlich war, an den zukunftsweisenden Entscheidungen teilzu- haben. „Frauen in die Arbeiter- und Soldatenräte“37 – so lautete die berechtigte Forderung der Juchacz, die gemeinsam mit sechs anderen MSPD-Frauen am

33 Ebenda. 34 „Die Gleichheit“ vom 6.12.1918, S. 40. 35 Marie Juchacz: An die Arbeit!, in: „Die Gleichheit“ vom 6.12.1918, S. 34. Hervorhebungen von mir. 36 Ebenda. 37 Marie Juchacz: Frauen in die Arbeiter- und Soldatenräte, in: „Die Gleichheit“ vom 6.12.1918, S. 40.

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14. November 1918 einen Frauenbeirat gründete, der „zur Mitberatung und Durchführung aller die arbeitenden Frauen betreffenden Fragen“38 befugt sein sollte. Darüber hinaus forderte sie Sitz und Stimme für eine Frau im Vollzugsrat des Arbeiter- und Soldatenrats Berlin.39 Als Träger der Revolution galten der „Gleichheit“ nicht nur die Arbeiter und Soldaten, sondern auch als „die Dritten im Bunde: die Frauen!“40. Das Ende des Krieges und das Ende der Monarchie, die Grundlegung einer de- mokratischen Republik, das Frauenwahlrecht, die aus dieser Revolution hervor- gingen, seien aktiv von den Frauen herbeigeführt worden – auch wenn sie quasi über Nacht gekommen seien. Die genauen Umstände, die zur Revolution geführt hatten – die Befehlsverweigerung der Matrosen und Soldaten, die Hungerrevolten der Frauen, das „Nicht-mehr-durchhalten-wollen“ dessen, was nicht mehr durch- zuhalten und von Beginn an falsch war –, wurden nicht reflektiert. Das Erreichte gab allgemein Anlass für Jubel und Spott gegenüber dem ge- schlagenen System. Aber es häuften sich auch zahlreiche ungelöste Probleme. Man sah zwar „die große Mehrheit des deutschen Volkes geschlossen hinter der siegreichen Novemberrevolution“ stehen und konnte den Umstand, dass „es bei dieser gewaltigen Bewegung fast ohne Menschenopfer abgegangen“ sei, kaum glauben, doch fehle noch „der Friede im Innern“.41 Die Revolution hatte jeden und alles erfasst, war überraschend unblutig verlaufen, musste aber nun kanalisiert werden, denn „die Leidenschaften im Volke [waren] aufgewühlt wie nie zuvor“, und die Qualität der Revolution war eine totale: „Nicht mehr spielen sich die Kämpfe im Innern zwischen einzelnen Schichten ab wie bei früheren revolu- tionären Bewegungen, von denen die große Masse des eigentlichen Volkes mehr oder weniger unberührt blieb, sondern das ganze Volk nimmt bis auf den schlich- testen Arbeiter, vom zitternden Greise bis zu den unmündigen Kindern, teil an der gewaltigen Bewegung und Erschütterung.“42 Besonders die Frauen, so die Be- fürchtung der Redaktion, seien aufgrund ihrer bisherigen politischen Unfreiheit nun leider der „Beeinflussung im Guten wie im Bösen zugänglich“.43 Dies beunruhigte Marie Juchacz sehr. Deshalb ließ sie dem euphorischen Jubel um Revolution und Frauenwahlrecht einen Artikel folgen, in welchem sie nochmals die vielen an die Frauen gestellten Erwartungen formulierte: „Wo Rechte gegeben werden, werden auch Pflichten verlangt. Die Wahlen zur gesetz- gebenden Nationalversammlung stehen bevor. Bei diesen Wahlen wird das Ver-

38 Ebenda. 39 Juchacz forderte die USPD-Frauen auf, ebenfalls sieben Frauen in den Frauenbeirat zu entsenden und einen Sitz im Vollzugsrat zu erstreben. Auf dieses Ersuchen an den Vollzugsrat hatte es auch zwei Wochen später noch keinerlei Antwort gegeben. Die USPD-Leitung hatte sich an einer weiblichen Vertretung im Vollzugsrat vollkommen desinteressiert gezeigt. Dies laut „Gleichheit“ mit der Begründung, „daß unter dem gegenwärti- gen Zustand die Interessen der Frauen vollauf gewahrt würden“ („Die Gleichheit“ vom 20.12.1918, S. 48). 40 „Die Gleichheit“ vom 6.12.1918, S. 33. 41 Weihnachten im „Frieden“, in: „Die Gleichheit“ vom 20.12.1918, S. 41. 42 Ebenda. 43 Ebenda, S. 42.

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halten der Frauen von ausschlaggebender Bedeutung für das zukünftige Geschick der jungen deutschen Republik sein.“44 Es waren nun die geschulten sozialdemo- kratischen Genossinnen, die gefordert waren. Sie sollten gezielt auf das Wahlver- halten der Frauen einwirken, es zugunsten der SPD beeinflussen. Im Rahmen die- ser „Erziehung zur Demokratie“ war es taktisch erforderlich, gerade Frauen auf allgemeinen Versammlungen sprechen zu lassen und außerdem wieder besondere Frauenversammlungen und die nach 1908 aufgelösten Frauenabende wiederein- zurichten – nun hatte man ja die Frauen wieder so im Griff, dass spalterische Ten- denzen nicht zu befürchten waren. Eine massive Agitation unter den Frauen mus- ste wieder aufgebaut und koordiniert werden. Die aufklärende Agitation unter allen Frauen sei „jetzt die dringendste Aufgabe“, hinter der „alles andere zurück- stehen“ müsse, denn diese würde darüber entscheiden, ob man die gebotene Chance richtig nutze; die Sozialdemokratinnen sollten sich „nicht sagen lassen, daß die Republik in ihrer Weiterentwicklung zum Sozialismus durch die politische Rückständigkeit der Frauen gehemmt worden“45 sei. Marie Juchacz machte es den Frauen leicht zu erkennen, wem ihre Wahlstimme gehören müsse, denn die Sozialdemokratie habe in allen politischen, sozialpoliti- schen und kulturellen Fragen die Interessen der Frauen am besten gewahrt. Sie könne „den Frauen mit gutem Gewissen sagen: Die Vergangenheit der Partei ist in jeder Beziehung makellos“, sie habe „von der ersten Kriegsstunde an ihren Ein- fluß zur Erreichung eines baldigen gerechten Friedens eingesetzt“ und „[i]n den vier Wochen, in denen Sozialdemokraten der damals noch bürgerlichen Regierung angehörten, [sei] alles geschehen, was möglich war, um der politischen Freiheit auch ohne Revolution zum Siege zu helfen“.46 Die Beteiligung am Kriegseintritt und am Fortwähren des Kriegs wurde übergangen. Die Beurteilung der Revolution durch „Die Gleichheit“ war sehr zwiespältig. Die Partei hatte auf Reformen gesetzt, auf eine Revolution hatten die Parteiführer verzichten wollen. „Jedoch“, so die bittere Erkenntnis der Mehrheitssozialdemo- kratin, „kamen alle Reformen zu spät; das Volk hatte die Geduld und den Glauben verloren, die Zeit zur gewaltsamen politischen Umwälzung war reif. Der Gedanke der Revolution fand begeisterte Köpfe und Herzen. Die Enttäuschungen über die schlechte politische Führung der Regierung und der herrschenden Klassen, die uns in den Krieg geführt hatten, sowie über die Niederlage, die Wut über die of- fensichtliche Täuschung des gesamten Volkes, die Leiden der vier Kriegsjahre hatten die gesamte Bevölkerung mit revolutionärem Empfinden angefüllt.“47 Dass die Enttäuschung auch die Burgfriedenpolitik der SPD betraf, erwähnte sie nicht, dafür aber die Verdienste der SPD-Regierungsvertreter, die täglich gegen eine Menge von Vorurteilen, politische Dummheit und bösen Willen gekämpft und in

44 Marie Juchacz: An die Arbeit!, in: „Die Gleichheit“ vom 6.12.1918, S. 34. 45 Ebenda. 46 Marie Juchacz: Die Sozialdemokratie und die Frauen, in: „Die Gleichheit“ vom 3.1.1919, S. 51. 47 Ebenda.

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den vier Oktoberwochen den Waffenstillstand durchgesetzt hätten. Dieser – nicht etwa die Entschlossenheit der Berliner Arbeiter und Arbeiterinnen am 9. Novem- ber – sei die Grundlage dafür gewesen, dass der Kaiser kampflos abgedankt habe und das Militär und andere reaktionäre Kräfte den Aufstand nicht gewaltsam un- terdrückt hätten.48 Juchacz ließ als Frauensekretärin der SPD keinen Zweifel daran, wem ihre Loyalität galt. Die Revolution – und damit erübrigte sich eine rückblickende Ana- lyse – würde nur dann „dem Sozialismus die Tore öffnen“, wenn die Frauen ihren Teil dafür leisten würden, indem sie die SPD unterstützten.49 Auch das Frauen- wahlrecht würden sie nur dann dauerhaft in der Verfassung verankert sehen, wenn die Nationalversammlung entsprechend zusammengesetzt sei. Hinsichtlich dieser Zielsetzungen sei es vollkommen fruchtlos, sich in einer „Allgemeinen Frauen- partei“ zu engagieren. Diese sei ein Unsinn, ihre Aufgaben und Ziele undefiniert und die bisherigen politischen Organisationen für das Engagement von Frauen vollkommen ausreichend.50 In den folgenden Monaten widmete Marie Juchacz ihre Artikel besonders der staatsbürgerlichen Schulung der Frauen. Sie machte sie u. a. mit der Verfassung der neuen Republik vertraut.51 Die Proletarierinnen mussten zu Republikanerinnen erzogen werden, die loyal zur deutschen Republik stehen und sich ihrer erkämpf- ten Rechte bewusst sind. Die bürgerliche Frauenrechtlerin Agnes Zahn-Harnack (1884-1950) formulierte diesbezüglich sehr treffend: „Aufgabe der folgenden Ge- neration wird es nun sein zu erwerben, was sie besitzen.“ Der Erwerb und die ver- innerlichte Aneignung zuerkannter Rechte sollten das neue Aufgabengebiet der Frauenbewegung werden. Bemerkenswert selbstbewusst stellte Marie Juchacz daher in ihrer ersten Rede als Reichstagsabgeordnete, die zugleich die erste Rede einer Frau in einem deutschen Reichsparlament war, fest, „daß wir deutschen Frauen dieser Regierung nicht etwa in dem althergebrachten Sinne Dank schuldig sind. Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit; sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist.53 Bedingt durch die Erscheinungsweise der „Gleichheit“ war eine detaillierte Re- flexion der revolutionären Ereignisse erst zum ersten Jahrestag der Novemberre- volution erfolgt. Mehrere Artikel verschiedener Autorinnen beschrieben anlässlich des 9. November 1919 die gespannte Situation, wie sie sich kurz vor dem mi-

48 Siehe ebenda. 49 Marie Juchacz: Genossinnen! Arbeiterinnen!, in: „Die Gleichheit“ vom 20.12.1918, S. 46. 50 Vorsicht vor unnützen Parteigründungen!, in: „Die Gleichheit“ vom 20.12.1918, S. 48. 51 Siehe Marie Juchacz: Die Verfassung des Deutschen Reiches, in: „Die Gleichheit“ vom 9.8.1919, S. 194-195; 26.7.1919, S. 180-182; 23.8.1919, S. 213-214; 6.9.1919, S. 227-229; 20.9.1919, S. 243-244; 27.9.1919, S. 253; 4.10.1919, S. 258-259. 52 Zit. nach Rosemarie Nave-Herz: Die Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland. Hrsg. von der Landes- zentrale für politische Bildung, 4. völlig überarb. u. erw. Aufl., Hannover 1993, S. 46. 53 Die erste Parlamentsrede einer Frau in Deutschland, in: „Die Gleichheit“ vom 14.3.1919, S. 89-93, 89. Diese Rede ist auch im Internet veröffentlicht: http://www.awo-le.de/awo/geschichte/marie_juchacz_rede.htm (letz- ter Seitenbesuch: 15.10.2008).

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litärischen Zusammenbruch in Altona, Hamburg, Breslau, München, Köln, Berlin und Stuttgart dargestellt hatte.55 Sie beschrieben, wie der in Kiel entzündete revo- lutionäre Funke den Weg in die Städte fand, die Massen mobilisierte und in einer nahezu unblutigen Revolution gipfelte. Die bewusst als Augenzeugenberichte ab- gefassten Artikel betonten die Entschlossenheit der Massen, die zu diesem Zeit- punkt zu allen Opfern bereit waren, und die in ihrer „Sorge um Hab und Gut“ ge- fangenen reaktionären Kräfte, die dem nichts mehr entgegenzusetzen hatten.53 Juchacz’ Schwester Elisabeth beleuchtete in ihrem Artikel vor allem das Verdienst der rheinischen Sozialdemokratie bei der Koordinierung des Truppenrückzugs. In Ermangelung jeglicher Unterstützung des Roten Kreuzes oder des Vaterländi- schen Frauenvereins seien es die sozialdemokratischen Frauen und die Mitglieder des Kölner Arbeiter- und Soldatenrates gewesen, die in unverzüglichem und un- ermüdlichem Einsatz einen weiteren „Menschen- und Materialverlust“ verhindert hätten. Sie resümierte in einer die bisherige sozialdemokratische Politik rechtfer- tigenden Weise: „Wir Sozialdemokraten aber wissen, was die Hauptsache war, und wir wissen immer, was in den Zeiten der Not des Vaterlandes unsere Pflicht war. Die taten wir am 4. August 1914. Aber am 9. November 1918 taten wir noch mehr als nur unsere Pflicht.“56 Vor der Novemberrevolution hatte die Berichterstattung der „Gleichheit“ vor- nehmlich Durchhalteparolen und Forderungen nach einem gerechten Frieden zum Inhalt, wobei die Furcht vor den Folgen einer Invasion eine große Rolle spielte.57 Ein zentrales innenpolitisches Thema war der Kampf gegen einen bevölkerungs- politischen Gesetzentwurf, der Verhütungsmittel und Schwangerschaftsabbruch kriminalisieren und das Selbstbestimmungsrecht der Frau über ihren Körper ein- schränken sollte.58 Marie Juchacz sprach sich für eine legale Empfängnisverhü- tung, aber auch für eine „gesunde Volksvermehrung“ aus.59 Außerdem forderte sie die Aufhebung des Zwangszölibats für Beamtinnen. Den Leserinnen wurden die USA und Präsident Woodrow Wilson als besondere Vorbilder für die Einführung des Frauenwahlrechts vorgestellt. Als Geburtsstunde der Demokratie galt der Re- daktion vor allem der Eintritt der SPD in die Regierung im Oktober 1918. Nach der Novemberrevolution wurde der Anteil der Frauen an der revolu- tionären Bewegung hervorgehoben und ihre Beteiligung in den Arbeiter- und Sol- datenräten gefordert. Die Marschroute war klar: Die Demokratie sollte zum So-

54 Siehe Wie sich die Revolution vollzog I-III, in: „Die Gleichheit“ vom 8.11.1919, S. 298-300; 15.11.1919, S. 307-309 und 22.11.1919, S. 314-316. 55 Siehe Sophie Schöfer: Wie sich die Revolution vollzog II, in: „Die Gleichheit“ vom 15.11.1919, S. 307. 56 Elisabeth Röhl: Wie sich die Revolution vollzog II, in: „Die Gleichheit“ vom 15.11.1919, S. 307. 57 Neun Monate nach Kriegsende veröffentlichte „Die Gleichheit“ kommentarlos, dass „[in] Köln a. Rh. […] in einem Monat 600 uneheliche Kinder geboren worden [seien], die Ausländer (englische Besatzung) zu Vätern haben“ („Die Gleichheit“ vom 15.9.1919, S. 310). 58 Gegen die bevölkerungspolitischen Pläne, in: „Die Gleichheit“ vom 13.9.1918, S. 193. Es wurde von der Re- daktion sogar eine eigene Rubrik „Bevölkerungspolitik“ eingerichtet. 59 Marie Juchacz: Gegen die bevölkerungspolitischen Gesetzentwürfe, in: „Die Gleichheit“ vom 11.10.1918, S. 2.

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zialismus führen. Im Zuge der politischen Erfolge wurde auch wieder verstärkt Kritik am Kapitalismus geäußert. Enteignungen galten als adäquates Mittel, den realen Problemen Armut und Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken.60 Für die politi- sche Erziehung der Frauen wurden anfangs bevorzugt das Erfurter Programm und das Kommunistische Manifest empfohlen, schließlich aber vor allem der Text der Weimarer Verfassung. Marie Juchacz steht für eine Generation von Sozialdemokratinnen, die die Zeit des Sozialistengesetzes, das gemeinsame Ringen von weiblichen und männlichen Sozialdemokraten um Parteitheorie und politische Beteiligung nicht als politisch Aktive miterlebt hatten. Sie hatten die SPD nicht mehr als eine während des So- zialistengesetzes illegal wirkende revolutionäre Organisation kennengelernt, son- dern als eine Repräsentantin demokratischer und sozialer Ideen in einem bürger- lichen Parteiensystem.61 Eine solche SPD brauchte keine Klassenkämpferinnen, sondern kalkulierbare Wählerinnen. Es war vor allem die Aufrechterhaltung der Kriegswirtschaft, die Marie Juchacz als ausschlaggebenden Beweis für die staats- bürgerliche Eignung der deutschen Frauen erachtete – die Hungerdemonstrationen oder Antikriegsbewegung blieben von ihr unberücksichtigt. Hingegen stehen diese Bewegungen für den Anteil der Frauen an der Novemberrevolution – und dies besonders deshalb, weil sie sich damit als unkalkulierbarer politischer Faktor erwiesen. Marie Juchacz kämpfte für die Arbeiterbewegung und für die Frauen des Pro- letariats. Sie tat dies jedoch – gemäß des Auftrags an sie seitens des SPD-Partei- vorstands – in kalkulierbaren Bahnen. Ihr Kampf richtete sich gegen die Sym- ptome der kapitalistischen Klassengesellschaft, nicht konsequent gegen deren Grundlagen. Am 19. Februar 1919 kam ihr als erster Frau, als erster weiblichen Reichstagsabgeordneten der SPD, die besondere Ehre zuteil, das Wort an das erst- mals in allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen gewählte Parlament der er- sten deutschen Demokratie zu richten. Es war ein wohlinszeniertes Ereignis, ein Amt und eine Geschichte, die ohne die Novemberrevolution undenkbar, unmög- lich gewesen wären.

Am 6. November 1920 erschien in der „Gleichheit“ ein Gedicht von Klara Bohm-Schuch zum 9. November 1918:

60 Siehe Klara Bohm-Schuch: Am Tor der neuen Zeit, in: „Die Gleichheit“ vom 6.12.1920, S. 34-35. 61 Für eine eingehendere Betrachtung der neuen SPD-Frauengeneration siehe Christl Wickert: Unsere Erwähl- ten. Sozialdemokratische Frauen im Deutschen Reichstag und im Preußischen Landtag 1919 bis 1933. 2 Bde., Göttingen 1986, Bd. 1. Wickert analysierte vor allem den politischen Werdegang derjenigen Frauen, die in der Weimarer Republik als Abgeordnete des Reichstages wirkten. Die Arbeit enthält wertvolle biographische Informationen.

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Am Tor zur neuen Zeit Blutumrauschet und tränenschwer Zogen die Jahre, Hart und leer War unser Leben, Todumdroht Gingen wir hin Durch all die Not. Männer starben, Kinder verdarben, Wir schafften ums Brot. Bis unser Tag kam! November war es voll Frühlingsluft, Voll Lerchenschlag und Veilchenduft, November, wie kaum ihn Menschen gesehn Voll Drängen und Werden und Auferstehn. Aus all den Strömen von jungem Blut Wuchs eines Volkes Verzweiflungsmut. Es rüttelt hart an der Zwingburg Tor, Und siehe, Menschen strömten hervor, Zur Freiheit, zur Sonne, zum Menschensein! Klirrend zersprangen Ketten und Schein. Opfer fielen mit jauchzendem Schrei Auf sterbenden Lippen: Unser Volk ist frei! Frei wurden auch wir, wir geknechteten Frau’n! Wir dürfen froh auf zur Sonne schau’n. Dürfen lieben das heilige Leben. Rein ist die Seele, Flammendurchloht. Irrtum und Fehle, Schmerz und Not Läßt der Liebe heiligen Schein Heller nur leuchten, welthinein! Tag der Erlösung aus schmachvoller Qual, Wir grüßen dich heut zum zweiten Mal. Du bist der Wahrstein der wollenden Kraft, Die in den Tiefen des Volkes schafft. – Das Land voll Freiheit und Erdenglück – Du zeigest es dem umflorten Blick. Wegleuchte der Zukunft auf dunkelem Pfad – Du Tag des Wollens, du Tag der Tat!

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WOLFGANG BEUTIN Intellektuelle in der Revolution

Intellektuelle und Revolutionen

In der Haft beobachtete Ernst Toller 1920 in Niederschönenfeld: „Der Haß gegen den Intellektuellen ist nicht mehr ‚Überlegungshaß’, ist reiner Triebhaß gewor- den.“ Doch liege die Schuld nicht auf einer Seite allein, denn in der Geschichte machten sich die Intellektuellen „der immer gleichen Verwechslungen zwischen den Nöten der Massen“ und ihren eigenen schuldig.1 Erich Mühsam, am selben Ort zur selben Zeit in Haft, schrieb 1921 einen Essay „Die Intellektuellen“. Darin definierte er diese als „Personen“, die, literarischen oder akademischen „Bezir- ken“ entstammend, „in die Reihen der kämpfenden Arbeiter verschlagen wurden“, wo sie gern „ein besonders hohes Maß von Ansehen für sich in Anspruch neh- men“.2 Das Merkmal „akademisch“ führt allerdings ins Enge. Das Gegenbeispiel sind Intellektuelle, die dies ohne Universitätsausbildung wurden, autodidaktisch. Hochintellektuellen Nichtakademikern stehen nicht selten akademische „Fachidi- oten“ gegenüber, wie 1968 die Studentenbewegung höhnte. Unter den Frauen, die sich in der Novemberrevolution herausragend betätigten, war die Sozialistin Toni (eigentlich: Sidonie) Sender (1888-1964). Eine Intellek- tuelle? Sie war Angestellte, später Büroleiterin. Als junge Frau trat sie 1906 der Sozialdemokratie bei, opponierte im Weltkrieg gegen das Menschenschlachthaus Krieg und nahm 1917 am Gründungskongress der USPD teil. Sie betätigte sich führend in der Revolution in Frankfurt am Main, wurde 1919 dort Stadtverord- nete, übernahm 1920 die Redaktionsleitung der „Betriebsräte-Zeitung“ der Me- tallarbeitergewerkschaft und war vom selben Jahr an Reichstagsabgeordnete der USPD, seit 1922 der SPD (bis 1933). Auf der Leipziger Frauenkonferenz am 29. November 1919 hielt sie ihre bis heute anregende Rede „Die Frauen und das Rätesystem“. Ihre Autobiographie, zuerst 1939 erschienen3, gehört zu den bestge- schriebenen anschaulichen Zeugnissen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als knapp Vierzigjährige (1927) nahm sie ein Hochschulstudium auf; sollte sie erst von da an eine Intellektuelle gewesen sein – vorher aber nicht?

1 Ernst Toller: Briefe aus dem Gefängnis, in Ders.: Prosa – Briefe – Dramen – Gedichte, Reinbek 1961, S. 185- 234; hier: S.201 u. 216. 2 Erich Mühsam: Publizistik/Unpolitische Erinnerungen, in Ders. : Ausgewählte Werke, Bd. 2, Berlin 1978, S. 336-342; hier: S. 336. 3 Toni Sender: The Autobiography of a German Rebel, New York 1939; abermals London 1945; deutsch Autobiographie einer deutschen Rebellin, hrsg. von Gisela Brinker-Gabler, Frankfurt/M. 1981 (Die Frau in der Gesellschaft/Lebensgeschichten).

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Mühsam lobt, es sei „ein Zeichen wachsender revolutionärer Einsicht im Pro- letariat“, dass es nicht frage, ob „der einzelne Mitstreiter mit akademischer Aus- rüstung antritt oder von seinem ursprünglichen Klassengefühl zum Widerstand ge- gen die bürgerliche Gesellschaft gedrängt“ werde. Die „Voreingenommenheit für oder gegen die ‚Intellektuellen’ bei der Arbeiterschaft“ sei revidiert, was sich „aus den unterschiedlichen Erfahrungen“ erkläre, „die sie sowohl mit den Flüchtlingen aus der Bourgeoisie als auch mit den ‚Führern’ aus dem Proletariat selbst gemacht hat. Es kann schlechterdings keinem Proletarier einfallen, die ‚Literaten und Akademiker’ Lenin, Trotzki, Lunatscharski, Bucharin, Sinowjew, Liebknecht, Lu- xemburg, Mehring, Landauer und so weiter als nicht zugehörig zu betrachten“. Wohl gibt es andere Intellektuelle, die nicht auf die proletarische Seite traten, doch darüber hinaus Proletarier, für welche gelte: „diese ‚gehobenen’ Vertreter des Arbeiterstandes, denen die Assimilierung an die Bourgeoisie genausogut gelungen ist wie den studierten Führern des revolutionären Kommunismus ihr Aufgehen im Proletariat“.4 In ihrer grundlegenden Rede: „Die Intellektuellenfrage“ (1924) leitete Clara Zetkin das Problem historisch her, beschrieb sie die unterschiedlichen Schichten in der Intelligenz und vermerkte wie Erich Mühsam die zwiespältige Einstellung des Proletariats zu den Intellektuellen. Hier vielleicht Bewunderung wegen des Wissens des Intellektuellen, seiner Geistigkeit, seiner Manieren. Dort Hass, weil der Proletarier in ihm den „Kommandierenden, Antreiber und Aufpasser“ er- blicke, sogar den „Gendarmen, Schergen und Richter“, und zum Hass noch über- dies Verachtung, weil der geistige Arbeiter der Mann sei, „der dank seinem Wis- sen und Können den Kapitalisten erfolgreich bekämpfen könnte“, es aber aus Feigheit und Dünkel unterlasse.5 Gerade gegenwärtig wird die Intellektuellenfrage wieder diskutiert. Das Heft 70 (Juni 2007) der Zeitschrift „Z“ („Marxistische Erneuerung“) brachte eine Aus- wahl von Beiträgen dazu in zeitgemäßer Aktualisierung: „Intellektuelle im Neoli- beralismus“. David Salomon erinnert in seiner Untersuchung „Der Intellektuelle der sozialen Frage“ daran, der Begriff des Intellektuellen sei keine 120 Jahre alt. Er entstand in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts im Kontext der Dreyfus- Affäre in Frankreich (der Verfasser stützt sich u. a. auf Ausführungen von Gramcsi und Sartre). Sieht man von dem Begriff ab, ist das bezeichnete Phänomen jedoch um ein Jahrhundert älter: Zur Zeit der Französischen Revolution bezichtigten kon- terrevolutionäre Wortführer die Intellektuellen, damals unter dem Namen „Philo- sophen“, den Umsturz herbeigeführt oder wenigstens vorbereitet zu haben. Napo- leon beklagte sich über oppositionelle Kräfte, die er als „Ideologen“ verdächtigte. Richtig leitet Salomon die Erscheinung des Intellektuellen vom 18. Jahrhundert her: „Der moderne Intellektuelle ist ein genuines Produkt des Bürgertums und sei-

4 Mühsam, Publizistik, S. 336f. 5 Clara Zetkin: Zur Theorie und Taktik der kommunistischen Bewegung, hrsg. von Katja Haferkorn und Heinz Karl, Leipzig 1974, S. 382f.

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nes Aufstiegs.“ Die „geistige Haltung“, die dem Intellektuellen zugeschrieben werde, habe Kant in die Formel gepreßt: „sapere aude“, zu deutsch: habe den Mut, dich deines Verstandes „ohne Leitung eines anderen zu bedienen“. In der weiteren Entwicklung der Geschichte zeige sich dann „als erste konsequente Erschei- nungsform eines Intellektuellen der sozialen Frage“ der „Intellektuelle der Arbei- terklasse“, „der das Kantsche sapere aude aus seiner bürgerlichen Beschränktheit gelöst“ habe.6 In der politischen und in der wissenschaftlichen Diskussion ist der Intellektu- elle ein häufiges Thema. „Intellektuellentheorien“ wurden entwickelt. Einen zunächst davon getrennten Gegenstand, einen in der Öffentlichkeit, Publizistik, Historiographie und Politologie viel erörterten, bildet „die Revolution“, sowohl ihre historische Erscheinung an sich als auch die Fülle ihrer einzelnen ge- schichtlichen Formen; dazu der Revolutionen ‚des Geistes’ („revolutions de l’e- sprit“ wie Renaissance, Reformation, Aufklärung …). Es sind die Perioden großer Umwälzungen, worin beide Phänomene einander kreuzen, einander auffällig be- gegnend, die Revolution und die Intelligenz, in der Weise, dass Intellektuelle sich gefordert fühlen, mit der Revolution zu gehen, oder, in anderen Fällen, die Kon- terrevolution aufzurüsten. Solch Kreuzungspunkt war die Novemberrevolution in Deutschland 1918. In ihr teilen sich die Intellektuellen wiederum in die Mitwirkenden und diejeni- gen, die sich mit der Konterrevolution verbünden. Ein anderer Teil bleibt abseits oder beschränkt sich aufs Beobachten. Mit Hilfe welcher Kategorien gelingt es, die be- teiligten zeitgenössischen Intellektuellen und ihre damaligen Positionen zu beschrei- ben? Mit der einfachen Gegenüberstellung des bürgerlichen Intellektuellen und des Intellektuellen der Arbeiterklasse kann es kaum getan sein, zumal fraglich ist, wo denn die Arbeiterklasse in der Novemberrevolution zu finden gewesen sei, in wel- chen der drei deutschen Arbeiterparteien, in den Gewerkschaften, auf der Straße? Aber was, wenn man die Verwendung von Kategorien verschmäht? Dann bleibt übrig die biographische Erforschung der Einstellung einzelner Intellektueller zu dem Ereignis, etwa nach dem Muster: Heinrich Mann in der Novemberrevolu- tion (und vielleicht kontrastierend dazu: Thomas Mann …). Was ergibt sich? „Während Heinrich Mann zu Ehren des ermordeten sozialistischen Ministerpräsi- denten des Freistaats Bayern Kurt Eisner sprach, begrüßte Thomas Mann das Mi- litärregime der Reichstruppen in München, die sich zumeist aus Freikorpsverbän- den rekrutierten (Stabchef der Münchner Kommandantur war der Hauptmann Ernst Röhm) und die das Aufleben eines alldeutsch-völkischen Nationalismus be- schirmten und begünstigten.“7 Ein mögliches Ordnungsprinzip wäre die Topo-

6 Den Intellektuellen der Arbeiterklasse komme eine doppelte Aufgabe zu: „Er hat zum einen (normativ) den Anspruch der Befreiung in der Klasse zu verbreiten, zu unterstützen und ihm zu politischer Artikulation zu verhelfen. Dafür aber ist notwendige Bedingung zum andern (deskriptiv), die reale Klassenlage zu untersu- chen und aus ihr heraus Strategien und Taktiken zu entwickeln, die freilich ihre Legitimität stets daraus schöp- fen müssen, Bedingungen für universale Autonomie zu schaffen.“ – David Salomon: Der Intellektuelle der so- zialen Frage, in „Z“, H. 70/Juni 2007, S. 7-21, hier S. 12f, 16f.

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graphie: Wo, an welchem Ort, in welcher Region treten welche Intellektuellen her- vor? Also etwa: Berlin, München … Oder die Chronologie, die Auflistung revo- lutionärer Aktivitäten in zeitlicher Reihenfolge mit Berücksichtigung der Beteili- gung Intellektueller. Aber die Topographie der Revolution und ihre Chronologie ersetzen nicht die systematisierende Analyse. Wer diese anstrebt, setzt sich ander- seits dem Vorwurf aus, pedantisch zu sortieren: „Schubladendenken“! Ein Autor z. B. wie Kurt Hiller: bürgerlicher Herkunft, kritisch den Arbeiterparteien ge- genüber, wird in der Revolution in Berlin der Vorsitzende des Politischen Rates geistiger Arbeiter, etabliert sich als Pazifist, nennt sich selber Sozialist. Ein mar- xistischer Gegner qualifizierte ihn einstmals als „revolutionären Querkopf“. War er es? Falls es zutrifft, dann lag er, der in jede Schublade gepasst hätte, in einer für sich. Die Schwierigkeit, die entsteht, ist ohnehin die der möglichen Mehrfach- zuweisungen. Zweites Beispiel Ernst Toller: bürgerlicher Herkunft, als Sozialist Mitglied der USPD, führend in der Münchner Räterepublik, als Pazifist zum „Heerführer“ der Räte-Armee geworden, später in der „Gruppe Revolutionärer Pazifisten“ (GRP) aktiv, die Kurt Hiller führte. Persönlichkeiten gleich diesen scheinen sich gegen jede Einordnung zu sperren. Hinzukommt: In veränderter Situation können einstmals gültige Zuweisungen hinfällig werden, während neue größte Wichtigkeit beanspruchen. War z. B. Tho- mas Manns Haltung 1918 die eines konservativ-nationalistischen Gegners des Umsturzes, wuchs er in der Weimarzeit in eine demokratische Position hinein, von da aus nach 1933 in eine antifaschistische. Jetzt galt überall die Frage, der sich kein europäischer Intellektueller entziehen konnte: Faschist oder Antifaschist? Am weitesten scheint der Vorsatz zu führen, die zeitgenössischen Intellektuel- len einer Revolutionsära in Gruppen zusammenzudenken – nicht um sie in Schub- laden abzulegen, sondern um über sie zu sprechen mit Verwendung einer prin- zipiell flexiblen Begrifflichkeit, einer dialektisierenden, d. h. mit ständiger Bereit- schaft des Forschers, Widersprüche, Übergänge, Seitenwechsel, Abdikationen und Metamorphosen der einzelnen Intellektuellen stets einzukalkulieren, das Proviso- rische der hierbei angewandten Kriterien nie aus den Augen zu verlieren, sondern seiner beharrlich eingedenk zu sein. Dann stellt sich als erstes die Aufgabe der Ermittlung der politischen Haltung (welche eingenommen? konstant? veränderlich?), des Motivs (Ursprung der Be- reitschaft zum Eingreifen), der Mitgliedschaft in einer Partei (ob überhaupt; bei- behalten, aufgegeben?). Ferner: konkrete Beteiligung des einzelnen, Erlebnisse (wie von ihm bewertet?), ob Bericht darüber (Niederschrift verfasst oder keine?). Seine Beurteilung rezenter historischer Ereignisse: Weltkrieg, Raubfriede von Brest-Litowsk, Oktober- und Novemberrevolution. Einstellung zu Kampfmitteln (bewaffneter Kampf bejaht oder nicht?), zur Zukunftsperspektive der Revolution, der Bevölkerung, des Reichs.

7 Klaus Schröter: Thomas Mann in Selbstzeugnissen und Dokumenten, Reinbek 1964, S. 90.

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Im folgenden versuche ich, die Intellektuellen in der Novemberrevolution ex- perimentell in Gruppen zusammenzudenken – die nur ausnahmsweise mit ge- schichtlich nachweislichen identisch sein werden. Soweit sich mehrere der Intel- lektuellen in der Tat den in der Realität existierenden Gruppen, Bünden, Vereinigungen oder Parteien usw. anschlossen, soll doch diese Zugehörigkeit nicht allein in Betracht kommen, also die Zugehörigkeit etwa zu einer Partei, zur kommunistischen, zu den Unabhängigen Sozialdemokraten, zur MSPD, zu den Liberalen usw., nie das einzige Kriterium bilden. In der Regel kommen mehrere Aspekte vereinigt zur Anwendung: soziale Herkunft, politisch-philosophische Lehre im Kern, Zuordnung zu einer Partei, zum Rätesystem oder zu beidem, vor- nehmliche Betätigung in der Revolution (ob als Mitwirkender, Beobachter, Geg- ner?).

Autoren aus dem Bürgertum

Die Einstellungen bürgerlicher Autoren zur Revolution waren nicht einheitlich, sondern sind auf einer Skala angeordnet zu denken: von rigoroser Feindschaft, über Schwanken zwischen dieser und Sympathie – bis hin zu einer Haltung, die aus Kritik an der Revolution und Bereitschaft zur Mitarbeit in ihr zusammenge- setzt ist. Feindschaft gegen jegliche Revolution und Demokratie in jeder Form äußerte in seinem Werk kontinuierlich Ernst Jünger. So gesehen ist es kein Zufall, dass er eine der großen Revolutionen der Neuzeit, die von 1789, herabsetzte und den Er- sten „Weltkrieg zu einer historischen Erscheinung“ überhöhte, „die an Bedeutung der Französischen Revolution weitaus überlegen“8 gewesen sei. Daraus lässt sich ableiten, wie er die Novemberrevolution bewertete. Er trat ihr mit seinem Konzept der „totalen Mobilmachung“ entgegen. In demselben Buch, dem ein „Epigram- matischer Anhang“ beigegeben ist – der jedoch kein einziges Epigramm enthält, vielmehr eine Reihe unzusammenhängender Notizen –, steht auch zu lesen: „Die Zahl der Leidenden ist bedeutungslos.“ (S. 220) Sachlich, wie der Satz klingt, schließt er doch das Ja zu allen großen Verbrechen der Geschichte ein, zu sämt- lichen Massakern, zum Genozid und zum Scheiterhaufen. Weil die Zahl der Lei- denden eben niemals bedeutungslos war und ist, gab es und gibt es Revolutionen. Ein bayerischer Beobachter der Vorgänge war ein Konservativer: Josef Hof- miller. In seinem „Revolutionstagebuch“ 1918/19 notierte er über die letzte, nicht mehr gehaltene Rede des von einem nationalistischen Attentäter ermordeten bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner (USPD): „Sie wäre genau so ver- logen und unverschämt gewesen wie seine früheren.“ Den Zwischenruf: „Han- nibal“, der einmal in München im Zentralrat ertönte, kommentierte er spie-

8 Blätter und Steine, Leipzig 1943, S. 129.

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ßergemäß: „Beweis, wie literatenhaft die ganze Bagage ist. Schwabing!“ Am 7. April: „Seit heute früh haben wir die Räterepublik nach russischem und unga- rischem Muster“, und so geht es weiter: die Münchner Garnison ist ihm eine An- sammlung „dieser kostümierten Strolche“, er vermutet in der Räterepublik die „Bewaffnung sämtlicher Zuhälter“, behauptet, dass „die Nichtdeutschen“ unter den Revolutionären, „Russen und Juden, meistens beides, die Massen aufpeit- schen“ usw.9 Als Beobachterin in München empfand die damals bereits sehr renommierte Dichterin Ricarda Huch die Revolution, wie es nicht anders von einer konservati- ven Liberalen zu erwarten war, als unbehaglich: Die „russischen Zustände“ sind auf dem Wege, man begegnet auf den Straßen „einem kleinen Demonstrationszug …, wie man solche seit der Revolution häufig zu sehen bekommt“; darunter „böse, unmenschliche, gefahrdrohende“ Gesichter. Sie fragt entsetzt: „Kamen sie früher aus ihren Höhlen nicht in die eleganten Viertel?“ Sie missversteht unbe- greiflich naiv den sozialistisch-kommunistischen Eigentumsbegriff – die Forde- rung wäre: „allgemeine Besitzlosigkeit“. Sie versteift sich in ihrem Trotz gegen das, was sie von der Revolution befürchtet, betritt einen Laden und kauft – eine goldene Uhrkette.10 Mit alledem scheinbar das perfekte Bild einer gegenrevo- lutionär gestimmten Bürgerin. Aber so stimmt es nicht ganz, denn gegenläufige Bemerkungen der Verfasserin zur selben Zeit stören es. Als die Revolution in Bay- ern herankam, schrieb sie am 4. November 1918: „Alles, was jetzt untergeht, mußte zweifelsohne untergehen, und es ist gut, daß etwas Neues kommt; das hin- dert aber nicht, daß dies alles furchtbar schmerzlich ist.“11 Noch überraschender vielleicht ihre folgende Notiz: „In Deutschland haben nur mehr, wie es scheint, die Bolschewisten Kraft, Energie, Unternehmungsgeist, und wenn das so ist, gehört ihnen die Zukunft mit Recht.“ (Ebenda, S.245) 1921 legt sie ihre positive Sicht der Räte dar, deren Entstehung eines der Charakteristika der Novemberrevolution war. Sie rezensiert das Buch von Siegmund Rubinstein „Romantischer Sozialis- mus“.12 Sie, die Historikerin der deutschen Romantik, erwählt ein neues Ideal, den „romantischen Sozialismus“, der sich in den Räten verkörpere, worin Spuren der mittelalterlichen Zünfte erhalten geblieben seien. Sie empfiehlt Rubinsteins grau- enhaften Mischmasch aus Romantik, Sozialismus, Mittelalter, Zünften und Räten, ohne zu begreifen, welche Ideologie – im negativen Sinne – sie da anpreist. Alles in allem zeichnete sie kein widerspruchsfreies Bild der Vorgänge, weil sie sich ab- wechselnd von Furcht und Vorliebe leiten ließ. Aus Heinrich Manns Stellungnahme spricht, folgt man Klaus Schröter, eben- falls eine gewisse Zwiespältigkeit. Er habe „sich der neuen Regierung unter dem

9 Zit. nach Klaus Behr (Hrsg.): Weimarer Republik. Literarische Texte zur politischen und sozialen Realität, Frankfurt/M. 1987, S. 18-21. 10 Siehe Ricarda Huch: Gesammelte Schriften. Essays, Reden, autobiographische Aufzeichnungen, Freiburg/Br. 1964, S. 131-137. 11 Zit. nach Marie Baum: Leuchtende Spur. Das Leben Ricarda Huchs, Tübingen 1950, S. 237. 12 Siehe ebenda, S. 250-256.

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Ministerpräsidenten Eisner sogleich zur Verfügung“ gestellt und bereits im De- zember vor dem Politischen Rat geistiger Arbeiter über Sinn und Idee der Revo- lution gesprochen. Nach Eisners Ermordung hielt er ihm am 16. März die Geden- krede. Doch gebe es in seinem Aufsatz „Kaiserreich und Republik“ Zweifel.13 Peter Stein hält fest, dass Heinrich Mann am 13. November in München den Vor- sitz des Politischen Rates geistiger Arbeiter übernahm und dass er seine Zustim- mung zum Ereignis der Revolution in die Formel kleidete: „Wir sind deutsch, de- mokratisch und europäisch.“14 Alle erwähnten Reden und Schriftstücke sind erhalten und liegen im Druck vor, so dass Heinrichs Manns Einstellung zur No- vemberrevolution gut erkennbar ist.15 Im Gegensatz zu vielen bürgerlichen Schriftstellerkollegen verfügte Heinrich Mann über eine komplexe Theorie des Zeitalters. Zwar essayistisch entworfen, aber in ihren Grundzügen konsistent, gestattete sie ihm, die Vorgänge gedanklich einzuordnen. Die Vorkriegszeit in Deutschland sei – trotz siegreicher Überwin- dung des Sozialistengesetzes durch die Sozialdemokratie – nicht deren Epoche ge- wesen, sondern „unterstand dem junkerlichen Bürger. Seine übermächtige Gei- stesart prägte auch den sozialistischen Nachwuchs“. Die Klassenkämpfe hätten das Reich nur „an der Oberfläche“ berührt, darunter war Einigkeit (hier vernach- lässigt er den Widerstand entschlossener Sozialdemokraten, vor allem der linken). Als „höchste Aufgabe und Pflicht“ erschien allen Deutschen: „reicher werden, härter werden, Weltmacht sein“. Im „wirtschaftlichen Militarismus“ sah er „die Seele der Epoche“. „Gewaltanbetung … Was die Welt erblickte, war ein Herren- volk aus Untertanen.“ „Sie kommen auf einmal aus allen Verlegenheiten und kür- zen durch einen Krieg, selbst wenn er verlustreich wäre, immer noch um ein Men- schenalter den Weg ab, der sie zur vollendeten Weltherrschaft führt.“ Es war ein deutscher Angriffskrieg: „Der Glaube an den schnellen Sieg, der nur ein deutscher Glaube war, setzt eine Vorbereitung nicht auf den Krieg nur, auch auf den Angriff voraus.“ Einstmals werde kein Zweifel mehr sein, „die Rede so selbstverständlich von dem Welteroberungskrieg Deutschlands gehen …, wie von dem des ersten Napoleon“.16 In der Ansprache vom Dezember 1919 wendet sich Heinrich Mann gegen eine sozialistische Diktatur: „Diktatur selbst der am weitesten Vorgeschrittenen bleibt Diktatur und endet in Katastrophen.“ „Vergesellschaftung noch der letzten 13 Siehe Heinrich Mann in Selbstzeugnissen und Dokumenten, Reinbek 1967, S. 99f. 14 Peter Stein: Heinrich Mann, Stuttgart etc. 2002, S. 89. 15 Heinrich Mann: Sinn und Idee der Revolution. Ansprache im Politischen Rat geistiger Arbeiter, München, De- zember 1918, in: Heinrich Mann: Essays, 2. Bd., Berlin 1956, S. 22-25; Kurt Eisner. Gedenkrede, gehalten am 16. März 1919, ebenda., S. 26-30; Ders. : Kaiserreich und Republik. Mai 1919, die Veröffentlichung wurde bis nach dem Friedensschluss hinausgeschoben, ebenda, S. 31-68. An längerfristiger Effizienz übertraf diese Schrift gewiss desselben Autors satirisches Erzählwerk „Der Untertan“ (abgeschlossen 1914; erschienen nach Kriegsende). Manfred Hahn gab an, es seien „der Roman und sein Erfolg offenkundig eine wirksame Waffe der Revolution“ gewesen. Siehe von ihm den Aufsatz: Ein Roman in der Revolution, in: Helmut Bock u. a. (Hrsg.): Gewalten und Gestalten. Miniaturen und Porträts zur deutschen Novemberrevolution, Leipzig etc. 1978, S. 319-330; hier: S. 322. – Für den Hinweis darauf danke ich Ulla Plener. 16 H. Mann, Kaiserreich, S. 36, 39, 41, 51f., 59 (in der Reihenfolge der Zitate).

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menschlichen Tätigkeit“ sei keineswegs „das Radikalste“, da ein „Radikalismus“ existiere, „der alle wirtschaftlichen Umwälzungen hinter sich läßt“: „der Radika- lismus des Geistes“. Alles solle mitwirken, „daß die sittlichen Gesetze der befrei- ten Welt in die deutsche Politik eingeführt werden und sie bestimmen“. Dem er- mordeten Eisner rühmte er nach, er habe die Einsicht besessen, „wie furchtbar gerade dieses Volk von seinen alten Machthabern überanstrengt worden war im Blutdienst eines Staats- und Machtwahnes, dem Menschen nichts galten. Fortan sollte Schonung walten, Versöhnung, Brüderlichkeit.“ Und daher: „… kein Krieg nach dem Kriege, kein Bürgerkrieg!“ Er ist sich gewiss, eine „wahre und reine De- mokratie wird heranwachsen“, registriert aber auch, dass die „Lügen des Kaiser- reichs … übernommen“ werden; „die regierenden Sozialdemokraten schon wie- der Gefangene des Militärs sind“, „Revolutionäre unter Qualen getötet werden …, indessen den schlimmsten Kriegsfurien niemand ein Haar krümmt.“ Was sei aber Demokratie? – „… der Wille der Mehrheit, der Völkerfriede, Freiheit im Innern, Ausgleich des Besitzes – und ist es in dieser Folge. Ihr könnt den Ausgleich des Besitzes nicht schaffen, bevor ihr die Geister gerecht gestimmt habt.“17 Konnte man vordem geneigt sein, Heinrich Manns Sicht als überspannt „idealistisch“ ab- zutun, wird man nach dem Ende des ersten Sozialismus-Versuchs in Europa ge- neigter sein, ihn von Grund auf zu verstehen und seine Überlegungen in aktuelle Überlegungen einfließen zu lassen. Geistige, vor allem psychologische Vorberei- tung ist die unerlässliche Vorbedingung für das Gelingen, wenn eine andere Welt Wirklichkeit werden soll, die – so die neue Parole – möglich wäre. Das Klassensystem, sieht Heinrich Mann voraus, werde bald „unbrauchbar“, der „Arbeiterbürger das Zeitgemäße“. Übrig bleibe ein „weites Kleinbürgertum, aus Kopf- und Handarbeitern; – und die werden nicht in alle Ewigkeit um ihre Gewinne streiten. Ihre Vertretungen werden weder beschränkt sein noch ausschweifen …“ Die Vorzüge des Rätesystems leuchten ihm ein, und er möchte es übrigens auch als Instrument der Kommunismusabwehr verstehen: „…. ja, gerade ein Rätesystem, so- fern es alle irgend Arbeitenden umschlösse, würde, indem es sie von Grund auf po- litisierte, jedem vernunftwidrigen Äußersten, ob Imperialismus oder Kommunis- mus, den Zugang sperren.“ Konnte er sich mit dem Rätesystem arrangieren, so betrachtete er doch die Räterepubliken als Fehlschlag: „Nun ereigneten sich in der Folge der Revolution die nur lokalen, übrigens unglücklichen Versuche einer prole- tarischen Klassenherrschaft, die weit übertrieben Bolschewismus hießen.“18

Aktivismus, Pazifismus und der Politische Rat geistiger Arbeiter

Mitten im Weltkrieg und in der Novemberrevolution entstanden neben den be- kannten neuen Parteien auch neue politische Bewegungen. Eine kleinere darunter

17 H. Mann, Essays, 2. Bd., S. 23f., 29, 52, 55, 62. 18 Ebenda, S. 62f., 76.

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war der Aktivismus. Gleichzeitig erlebte die bereits vor der Jahrhundertwende durch Bertha von Suttner gegründete Friedensbewegung ihren glänzenden Auf- stieg. In ihr betätigten sich u. a. mehrere herausragende Persönlichkeiten der Frau- enbewegung, unter ihnen Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann19, dazu Helene Stöcker20, die Kulturpolitikerin, die zum Kreis um Hillers „Ziel“-Jahr- bücher gehörte. Durch die Novemberrevolution war den Frauen die politische Gleichberechtigung zuteil geworden. Im Pazifismus eröffnete sich ihnen ein gern gewähltes Arbeitsfeld. Kurt Hiller führte 1966 die Entstehung des Aktivismus, der sich vom Expres- sionismus ableitete, auf vier Initiatoren zurück: neben Alfred Kerr, Gustav Lan- dauer und Ludwig Rubiner auch Heinrich Mann.21 Im Sommer 1918 hatte Hiller mit einigen Freunden den „Bund zum Ziel“ gegründet. Für den 7./8. Novem- ber 1918 lud er die „verfügbaren“ Beiträger seiner Jahrbücher (deren Titel war: „Das Ziel“) „nebst einer Anzahl Sympathisierender“ zu einer Konferenz, wo die Gründung in „Aktivistenbund“ umgetauft wurde.22 Am Folgetage, dem 9. No- vember, suchte namens des neu gegründeten Bundes dessen Mitglied Leo Mat- thias den Vorsitzenden des Berliner Zentralrats der Soldatenräte Hauptmann Hans-Georg von Beerfelde auf. Dieser versprach, „uns neben seinem Soldatenrat und dem Arbeiterrat als dritte Macht in die Exekutive und die für später in Aus- sicht genommene Legislative der Revolution, mit Kulturpolitik als Spezialauf- gabe, einzubauen …“ Zur Bedingung machte er nur, die Bezeichnung „Rat geisti- ger Arbeiter“ zu wählen; später: Politischer Rat geistiger Arbeiter (weshalb die Namenserweiterung?23) Auch in anderen Städten des Reichs entstanden Pendants, so in München, außerdem in Wien, wo Robert Müller den Vorsitz inne hatte.24 In seiner Rede am 2. Dezember 1918 verwies Hiller darauf, worin der Rat das Schwergewicht seiner Tätigkeit erblicke – die Ähnlichkeit mit Heinrich Manns Sicht der Revolution sticht hervor: „Wir sahen die politische Revolution; das Pro- letariat, dessen Eigeninteresse sich deckt mit dem Gebot der Gerechtigkeit, wird dafür sorgen, daß der politischen die soziale Revolution folge; aber wahre Revo- lution ist erst dort, wo die kulturelle Revolution gelang.“25 Bereits im Programm

19 Lida Gustava Heymann/Anita Augspurg: Erlebtes – Erschautes. Deutsche Frauen kämpften für Freiheit, Recht und Frieden 1850-1950, hrsg. von Margit Twellmann: Meisenheim/Glan 1972. 20 Siehe Rolf von Bockel: Philosophin einer „neuen Ethik“: Helene Stöcker (1869-1943), Hamburg 1991. 21 Siehe Kurt Hiller: Ratioaktiv. Reden 1914-1964. Ein Buch der Rechenschaft, Wiesbaden 1966, S. 12. – Den Anfangspunkt setzte – gleich unüberbietbar brillant – Heinrich Manns Aufruf „Geist und Tat“ (1910). 22 Siehe Leben gegen die Zeit (Logos), Reinbek 1969, S. 120; auf S. 120f. verweist er ausdrücklich darauf, das Ereignis der Revolution „würde ohne geistige Vorbereitung, ohne Parteien, Bünde, Köpfe, Presse, Literatur, ohne Aktivität der Aktivisten unmöglich geblieben sein“. 23 Ebenda, S. 128. Auf diesen Rat und seine Tätigkeit gehe ich im folgenden nicht genauer ein. Über ihn refe- rierte mein Freund Harald Lützenkirchen auf der Konferenz „Kunst und Publizistik in der Novemberrevolu- tion“, die von der „Hellen Panke“ e. V. (Berlin) veranstaltet wurde. In deren Reihe „Pankower Vorträge“ er- scheint das Referat. Siehe die „Leitsätze“ des „Bunds zum Ziel“, in Leben gegen die Zeit, S. 121f.; das Programm des Rats, ebenda, S. 122-125, sowie Hillers „Präsidialrede“ vom 2.12.1918, in: Wer sind wir? Was wollen wir?, in: Hiller, Ratioaktiv, S. 19-24. 24 Zu Robert Müller siehe Leben gegen die Zeit, S. 137. 25 Leben gegen die Zeit, S. 122.

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des Politischen Rats geistiger Arbeiter sieht man den Ansatz, der kurze Zeit spä- ter vom Aktivismus zum Pazifismus hinüberleitete: „Leitstern aller künftigen Po- litik muß die Unantastbarkeit des Lebens sein.“ Als Doppelaufgabe des Rates er- scheint: Der Kampf „vor allem gegen die Knechtung der Gesamtheit des Volkes durch den Kriegsdienst und gegen die Unterdrückung der Arbeiter durch das ka- pitalistische System.“26 Dass der Pazifismus, in den Hiller seine Energien seit 1920 immer stärker investierte, den Klassenkampf nicht ausschloss, sondern aus- drücklich legitimieren sollte, erweist seine Rede „Linkspazifismus“ (1920). Die- ser sei eine „kämpferische Bewegung für eine Idee. … Nicht für die Idee, daß auf Erden zwischen Menschen und Menschengruppen Kämpfe aufhören, sondern für die Idee, daß auf Erden Kriege aufhören.“27 Den Begriff „Linkspazifismus“ wird sein Schöpfer präzisierend dereinst durch „Revolutionärer Pazifismus“ ersetzen.28 Von Ludwig Rubiner klingt wie eine ferne Fanfare über ein knappes Jahrhun- dert hinweg eine Parole in das unsrige, die er einem seiner Essays zur Überschrift gab: „Der Dichter greift in die Politik“29. Sein Essay von 1912 gehört unverkenn- bar in die Reihe der Bemühungen fortschrittlicher Literaten um die Politisierung der Literatur. Diese bahnte sich am Beginn des zweiten Jahrzehnts des 20. Jahr- hunderts an, steigerte sich während des 1. Weltkriegs rasant und wurde in der Wei- marzeit z. B. im proletarischen Realismus fortgeführt. Gleich anderen bürgerli- chen Intellektuellen ging Rubiner vom „Primat des Ideellen“ aus. Deshalb lehnte er ab: Materie, Materialismus, Marxismus, den Entwicklungsbegriff und einiges andere, was aus dem ideologischen Fundament der Arbeiterbewegung nicht weg- gedacht werden kann. Eine Folge der Absolutsetzung des Ideellen oder des Gei- stes in den früheren Phasen der Gedankenentwicklung Rubiners ist, dass er die zwei Komponenten des vollständigen Revolutionsbegriffs unausgewogen akzen- tuiert, die materielle Revolution – welche undenkbar ist ohne die Aktivität der Massen – anfänglich geringer gewichtend als die Revolution des Geistes (die ideelle). Dann ein Umsturz in seiner Gedankenwelt als Folge der Oktoberrevolu-

26 Hiller, Ratioaktiv, S. 19. 27 Hiller, Ratioaktiv, S. 27. 28 Auch Hiller entwarf seine individuelle Lehre, zu deren Kern gehört, was im 19. Jahrhundert als „Aristokratie des Geistes“ diskutiert wurde; bei Hiller steht dafür der Terminus „Logokratie“. Dies Gedankenelement wurde allerdings von Autoren unter seinen Zeitgenossen heftig oder mit Ironie angefochten; selbst von seinen eng- sten Kampfgefährten (z. B. Toller, wie Anm. 1, S. 231). Polemik gegen den Politischen Rat geistiger Arbei- ter: Erich Mühsam (wie Anm. 2, S. 340); eher gelind-ironische Kritik kam von Siegfried Jacobsohn, siehe Ruth Greuner: Siegfried Jacobsohn. Rebellion und Resignation linksbürgerlicher „Kopfarbeiter“, in: Helmut Bock u. a., wie Anm. 14, S. 309-318; hier besonders S. 312-315. Auch für den Hinweis auf diesen Text danke ich Ulla Plener. – Außerdem Gustav Landauer, Der werdende Mensch. Aufsätze über Leben und Schrifttum, Potsdam 1921, S. 358 (Hillers „Herrenhaus“, falls etabliert, werde sich rasch als „Tollhaus“ erweisen!). Zur Kritik von Karl Kraus an Hillers „Herrenhaus“-Vorstellungen siehe Wolfgang Beutin: „Ich aber werde die Kraft haben, Sie nie mehr zu hassen …“. Phasen einer schwierigen Beziehung – Kurt Hiller und Karl Kraus, in: Schriften der Kurt Hiller Gesellschaft, Bd. 2/2005, S. 43-82. 29 Mit dieser Überschrift ließ Rubiner den Text, der ursprünglich etwas anders betitelt war, in Sammlungen wie- der abdrucken. Siehe z. B. Der Mensch in der Mitte (Essays, zuerst 1917), Potsdam 1920, hier: S. 17-30. – Auch auf Rubiner und die Novemberrevolution gehe ich nur stichwortartig ein, weil Heidi Beutin kürzlich über dies Thema referierte; siehe entsprechend das in Anm. 20 Gesagte.

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tion. Er begrüßt sie enthusiastisch. In Rubiners Texten aus der Zeit seit dem Oktober 1917 drängen sich nun die Ausdrücke, die seiner vorherigen Kritik un- terlagen oder gefehlt hatten: Klassenkampf, „Massenaktionen“, Proletariat. Er schreibt: „Ein Augenblick kommt, da bist du nicht mehr Klasse: nicht mehr Bür- ger. Wer führt die Massenaktionen aus? Die Arbeitenden. Das Proletariat. Sie han- deln, die andern schauen zu.“ Die Antithese heißt nicht: die Geistigen / die Zu- schauer, sondern: Proletariat / Zuschauer. „Es gibt aber keine Zuschauer mehr. Du sympathisierst mit den Handelnden, den Arbeitern, dem Proletariat? Man braucht keine bloßen Sympathiekundgeber mehr. Du hast heute zu handeln. Mein Freund, dein Weg geht zum Proletariat. Proletariat! darum kommt kein Gehirn von mor- gen mehr herum.“30 Vorstellbar war, dass ein Pazifist in der Novemberrevolution unversehens in eine ausweglose Situation geriet. War er noch nicht zum Revolutionären Pazifis- mus vorgedrungen – der erst noch aus den Erfahrungen der Ära entwickelt wer- den wollte –, so hieß Pazifismus ihm einfach: bedingungsloser Verzicht auf Ge- waltanwendung. Plötzlich konnte er als Revolutionär sich jedoch in die Pflicht genommen fühlen, Gewalt anzuwenden und die Anwendung von Gewalt zu be- fehlen. So Ernst Toller, der in Bayern „Heerführer“ wurde (im Weltkrieg Artil- lerieunteroffizier). Wie anderen schwebte auch ihm die Verwirklichung einer ra- dikalen Demokratie vor, eines Rechtsstaats, der auf den Friedensgedanken einge- schworen war. Dem aber verweigerten sich die politischen, militärischen und öko- nomischen Eliten. Ihren Widerstand zu brechen, bedurfte es starker Machtmittel, es ging nicht ohne Gewalt. Also doch: Gewaltanwendung? Bürgerkrieg? Eine neue Schwierigkeit: Für den war die breite Majorität im Lande kaum zu haben, die der Soldaten auch nicht, und selbst, wie das Beispiel Heinrich Manns zeigt, der mit der Revolution sympathisierende Intellektuelle nicht immer. In der Weimarer Republik fand Ernst Toller dann zum Revolutionären Pazifismus. In den USA 1936/37 auf Vortragsreise, hielt er seine Rede: „Das Versagen des Pazifismus in Deutschland“. Hierin durchdachte er unterschiedliche Definitionen. Er schrieb: „Pazifismus kann sein: eine revolutionäre Forderung. Es genügt nicht, sagt der re- volutionäre Pazifist, den Frieden zu wollen, man muß wissen, auf welchem Wege und mit welchen Mitteln er erreichbar ist.“31 Toller gestand, er sei als „Bourgeoissohn“ geboren. Aber: „Da ich erkannte, daß wir eine Gesellschaftsordnung haben, die auf sozialer Ungerechtigkeit aufgebaut ist, schlug ich mich auf die Seite der Arbeiterschaft.“32 Offensichtlich gewann er

30 Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Ausgewählte Werke 1908-1919, hrsg. von Klaus Schuh- mann, Frankfurt/M. 1976, S. 316f. 31 Zit. nach John M. Spalek/Wolfgang Frühwald: Ernst Tollers amerikanische Vortragsreise 1936/37. Mit bisher unveröffentlichten Texten und einem Anhang, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N. F. 6/1965, S. 267- 311; hier: S. 306. – In dieselbe ausweglose Situation geriet u. a. auch Max Hoelz. Er bekannte, er habe er- kannt, „daß man für die soziale Revolution auch mit all den Mitteln kämpfen muß, die ich im Krieg verach- ten gelernt hatte. Ich war aus dem Krieg als Pazifist heimgekehrt.“ (Max Hoelz: Vom ‚Weißen Kreuz’zur roten Fahne. Jugend-, Kampf- und Zuchthauserlebnisse, Frankfurt/M. 1984, S. 183.) 32 Toller, Prosa (Anm. 1), S. 222.

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im München der Revolution bei den Arbeitern viele Sympathien. Er war der junge Mann Kurt Eisners (beide USPD). In München vom Zentralrat der bayerischen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte zum zweiten Vorsitzenden ernannt, später zum ersten, war er an allen Vorgängen der Novemberrevolution in Bayern und an der Räterepublik beteiligt. Die Räterepublik vom 7. April 1919 hielt er für einen politischen Fehler; ihre Ersetzung durch die zweite am 14. April geschah in seiner Abwesenheit.33 In seinen Erinnerungen, einem der wichtigsten Zeugnisse aus der Revolutionszeit, rekapituliert er diese mit klarem Blick, mit scharfer Kritik der Er- eignisse, der handelnden Personen und seiner selbst. „Der Sieg der bürgerlichen Demokratie“ im November war in Tollers Sicht nicht mehr als die Begleiterscheinung des Friedensangebots, das die Reichsleitung auf Anforderung der Obersten Heeresleitung Anfang Oktober an Wilson absandte. Diese Demokratie „weckt keinen Widerhall, weder der Reichstag erkämpfte sie noch das Volk, sie wurde diktiert …“ (wie einstmals, ein knappes Halbjahrhundert zuvor, durch Bismarck bereits die Reichseinheit). Hier deckt sich Tollers Beurtei- lung vollkommen mit derjenigen des Historikers Fritz Fischer: „Als bolschewisti- sche Revolution wird oft noch verstanden, was in der ersten Phase lediglich Re- volution ‚von oben’, in Wirklichkeit also überhaupt keine Revolution gewesen war …“34 Wie gestaltete sich die neue Demokratie? – „… die Generale herrschen wie früher, die Minister entstammen der alten Machtkaste, die Rechtssozialisten … Staatssekretäre, Exzellenzen … Nur an den Frieden denkt das Volk, es hat allzu lange an den Krieg gedacht …“ Das Volk, wiederholt Toller: „Wollte es denn eine Revolution? … Es wollte Frieden.“ Wohl habe es nach dem Sozialismus gerufen, doch ohne „klare Vorstellungen“. Das Ende aller solcher Bestrebungen, am Ende schon das Ende der Republik, sieht Toller mit dem Reichsrätekongress vom 16.- 21. Dezember in Berlin gekommen: Er „verzichtet freiwillig auf die Macht, das unverhoffte Geschenk der Revolution, die Räte danken ab, sie überlassen das Schicksal der Republik dem Zufallsergebnis fragwürdiger Wahlen des unaufge- klärten Volks. … Die Republik hat sich selbst das Todesurteil gesprochen.“35 In München erlebt Toller zwei Ansätze der Räterepublik, dann die definitive militärische Niederlage. Er räumt ein: „Wir sind gescheitert, alle. Alle begingen Fehler, alle trifft Schuld, alle waren unzulänglich. Die Kommunisten ebenso wie die Unabhängigen. Unser Einsatz war vergebens, die Opfer nutzlos, die Arbeiter vertrauten uns, wie können wir uns jetzt vor ihnen verantworten?“ Im Rückblick versucht er zu analysieren. Ihm stellt sich eine historische Parallele vor Augen: die Taboriten (der linke Flügel der Hussitenbewegung im 15. Jahrhundert). Er macht die Anwendung auf alle Revolutionen: „Immer wurde der aktive Flügel isoliert

33 Nach dem Zeugnis von Stefan Großmann in seinem Dossier mit dem sarkastischen Titel: Der Hochverräter Ernst Toller. Die Geschichte eines Prozesses, als „Marginalie“ abgedruckt im Anhang zu Toller, Prosa, S. 473- 489, hier: S. 480. 34 Fritz Fischer: Einleitung zu Wolfgang Malanowski: November-Revolution 1918. Die Rolle der SPD, Frank- furt/M. etc. 1919, S. 9-12; hier S. 10. 35 Toller, Prosa (Anm. 1), S. 97, 98, 99, 101.

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und niedergeworfen von jenen, die ihre revolutionären Talente am Sonntag in Festartikeln manifestieren, die sich aber am Alltag verbünden mit der Klasse, die sie zu bekämpfen vorgeben.“36 In der Haft hat er unfreiwillige Muße für seine Dichtungen, auch zum Nach- sinnen über die Kunst, über proletarische Kunst. Er schreibt: „In den Werken der Revolutionäre wird der Kampf besungen und der kämpfende Mensch. Lieben wir den Kampf um des Kampfes willen? Nein. Der Kampf ist ein Mittel, wie die Po- litik ein Mittel ist. Ohne Kampf, ohne Politik sind wir das Eisen, auf das der Ham- mer schlägt. Wir aber müssen der Hammer werden, der das Eisen formt.“37 Die Zentralfigur seines Schauspiels „Die Wandlung“ (entstanden noch vor der Revo- lution, 1917/18) heißt Friedrich. Friedrich hält am Schluss eine Ansprache mit Aufruf zur Aktion: „Nun geht hin zu den Machthabern und kündet ihnen mit brau- senden Orgelstimmen, daß ihre Macht ein Truggebilde sei. Geht hin zu den Sol- daten, sie sollen ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden. Geht hin zu den Rei- chen und zeigt ihnen ihr Herz, das ein Schutthaufen ward. Doch seid gütig zu ihnen, denn auch sie sind Arme, Verirrte. Aber zertrümmert die Burgen, zertrüm- mert lachend die falschen Burgen, gebaut aus Schlacke …“38 Das biblische „Schwerter zu Pflugscharen“ verweist auf den Pazifismus, à la Tolstoi klingt die Ermahnung, selbst mit den Reichen in Güte zu verhandeln. Kein Reicher der Ära indessen hätte die Zertrümmerung seiner Burg (Fabrik) als Beweis der Güte auf- gefasst, diese daher auch mit Anforderung von Militär beantwortet. Ebenso das letzte Wort des Stücks: „Revolution!“ Auch sie hätte die ultima ratio herausge- fordert. Schließlich wusste man in Preußen nicht erst seit 1918, dass gegen De- mokraten nur halfen – Soldaten. Durch das dramatische Schaffen des Dichters Toller zieht sich diese Aporie: Frieden soll sein, Gerechtigkeit werden – auf einem neu zu legenden Fundament. Wie aber kann der Revolutionär, der Friedenskämpfer dazu gelangen, gewaltlos ein neues Fundament zu legen, solange die alten Kräfte weiterwirken, solange alte Mächte das Land beherrschen? In seinem Revolutionsdrama „Masse-Mensch“ (geschrieben im Oktober 1919) ist die Zentralfigur „Die Frau“, in der Uraufführung unter dem Namen: „Sonja Irene L.“ (gespielt von – Mary Dietrich). Auch sie wendet sich mit einer Rede an die Arbeiter. Darin heißt es: „Einhaltet Kampfverstörte! / Ich fall euch in den Arm. / Masse soll Volk in Liebe sein. / Masse soll Gemeinschaft sein. / Gemeinschaft ist nicht Rache. / Gemeinschaft zerstört das Fundament des Unrechts. / Gemein- schaft pflanzt die Wälder der Gerechtigkeit. … Ich rufe: / Zerbrecht das Sy- stem!“39 Wie jedoch könnte die Masse es zerbrechen ohne Gewaltanwendung? Und wiederum: Der Gewalt würden die Verteidiger des Systems ihre Gewalt ent-

36 Ebenda, S. 130, 230. 37 Ebenda, S. 223. 38 Ebenda, S. 285. 39 Ebenda, S. 317f.

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gegensetzen, und fraglich wäre, wessen siegreich aus dem Kampf hervorginge, die der Verteidiger oder die der Angreifer.

Linksradikale, Spartakusgruppe, KPD

Zur zahlenmäßig nicht eben bedeutenden Opposition während des Weltkriegs zählten neben einigen bürgerlichen Autoren und Autorinnen Gruppen und Einzel- personen vom linken Flügel der SPD. Es waren die Linksradikalen um Johann Knief, die sich in der Revolution umbenannten in „Internationale Kommunisten Deutschlands“ (IKD); vor allem die Gruppe „Internationale“, später Spartakus- bund (mit Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Franz Mehring, Karl Liebknecht, Leo Jogiches, den Dunckers u. a.), der sich am 31. Dezember 1918 mit den IKD zur Kommunistischen Partei zusammenschloss. Die „Bremer Bürgerzeitung“ vertrat, solange Johann Knief in ihr maßgebenden Einfluss ausübte, „mit aller Konsequenz die Beschlüsse, welche die Kongresse der II. Internationale gegen den Krieg und für den Fall eines Krieges gefasst hatten. … Das Blatt demaskierte von vornherein die Losung vom antizaristischen Vertei- digungskrieg und ließ keinen Zweifel an dem imperialistischen Charakter des her- aufziehenden Krieges.“40 In Berlin beantragte Karl Liebknecht Ende 1914, die so- zialdemokratische Fraktion möge am 2. Dezember eine „Erklärung“ abgeben. Der Text ist eines der besten Dokumente gegen den Krieg. Er zerstreut allen Nebel, der von der Regierungspropaganda um Ursprung und Ziele des Kriegs gewoben wor- den war: „Es handelt sich um einen imperialistischen Krieg, und zwar besonders auch auf deutscher Seite mit dem Ziel von Eroberungen großen Stils.“ Den posi- tiven Bestimmungen, was er sei, folgt eine Liste von negativen, was er nicht sei: kein Krieg „für die Wohlfahrt des deutschen Volkes“, „kein deutscher Verteidi- gungskrieg und kein deutscher Freiheitskrieg“, „kein Krieg für eine höhere ‚Kul- tur’“.41 Die „Junius-Broschüre“ (eigentlicher Titel: „Die Krise der Sozialdemo- kratie“, 1916) erweist, dass auch deren Verfasserin Rosa Luxemburg das Wesen des Weltkriegs nicht weniger klar durchschaute als ihr Kampfgefährte. Ungleich schwerer fiel es den Linksradikalen wie den Spartakisten, sich über das Wesen der Novemberrevolution zu verständigen. Um die Jahreswende 1918/19 schrieb Rosa Luxemburg: „Die jetzt begonnene Revolution des Proleta- riats kann kein anderes Ziel und kein anderes Ergebnis haben als die Verwirkli- chung des Sozialismus.“42 Zur selben Zeit, in ihrer Rede während des KPD-Grün- dungsparteitags, stellte sie die Dinge realistischer dar: Das Geschehene – eine

40 Gerhard Engel: Johann Knief – Biographisches zu seinem Platz in der Geschichte der deutschen Linken, in: JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung H. 2005/III, S. 112-133; hier: S. 118. Siehe auch den Beitrag von Engel im vorliegenden Band. 41 Karl Liebknecht: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. 8, Berlin 1974, S. 57-61. 42 Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin 1979, S. 431 (fortan: GW).

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Revolution des Proletariats? Nein, oder höchstens partiell: „… was wir am 9. No- vember erlebt haben, war zu drei Vierteln mehr Zusammenbruch des bestehenden Imperialismus als Sieg eines neuen Prinzips.“ (Das Protokoll verbucht hier: Zu- stimmung; ebenda, S.495) Johann Knief kam zu der „Fehleinschätzung“, was vor- gefallen sei, wäre ein „Militärputsch“, und in der ersten Ausgabe der von ihm ge- gründeten Tageszeitung der IK: „Der Kommunist“ stand noch stärker übertrieben zu lesen, er sei „konterrevolutionär“. Weshalb? Die Bewegung sei eine für den Frieden und die Demokratie, aber sie hätte die Diktatur des Proletariats anstreben müssen, die „unmittelbare Herbeiführung des Kommunismus“43. Den Führenden in der Spartakusgruppe und ebenso dem Bremer Knief öffneten erst die Vorgänge auf dem Reichsrätekongress vom 16.-21. Dezember in Berlin die Augen, als die- ser der Wahl der Nationalversammlung (am 19. Januar des Folgejahres) zu- stimmte. Aber als Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Paul Levi u. a. sich auf dem Gründungsparteitag der KPD für die Beteiligung an den Wahlen aussprachen, blieben sie in der Minderheit. Im politischen Leben Kniefs wird um die Jahreswende 1918/19 eine doppelte Tragik sichtbar: Bei der Gründung der KPD fehlte er, obwohl er – soweit festge- stellt werden kann – als erster eine selbständige Partei der deutschen Linken ge- fordert hatte und damit als einer ihrer Initiatoren gelten muss. Seine Bremer Linksradikalen lehnten die Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung ab. Knief, der diese zuvor ebenfalls bekämpft hatte, empfahl die Beteiligung in richtiger Einschätzung der Realitäten. Da aber seine Gruppe auf das „gebundene“ Mandat eingeschworen war, übte er beim Gründungsparteitag keines aus und musste ihm fernbleiben. Und zweitens: Anfang 1919 erkrankte er schwer, so dass er sich am 9. Januar in die Klinik begeben musste. (Er verstarb am 6. April d. J.). Noch vom Krankenbett aus riet er seinen Genossen „angesichts der Berliner Ja- nuarkämpfe, nicht zu versuchen, in Bremen eine isolierte Machtübernahme durch das Proletariat herbeizuführen“44. Doch sie setzten sich über seinen Rat hinweg. Ihr Vorstoß endete mit einer Niederlage, so wie ein Vierteljahr später der ver- gleichbare der Bayerischen Räterepublik. Franz Mehring sah sich bereits vor der Revolution genötigt, den aufflammen- den Enthusiasmus für die Diktatur des Proletariats in der Linken zu dämpfen, in- dem er auf die Intention von Marx verwies.45 Er verdeutlichte, „daß es sich dabei nicht um ewige Prinzipien, sondern um einen vorübergehenden Zustand handelt, nämlich um das Übergangsstadium der kapitalistischen in die sozialistische Ge- sellschaft, wo das Proletariat bereits die politische Macht erobert hat, aber zunächst die Trümmer der alten Gesellschaft beseitigen muß, um Bahn für die neue Gesellschaft zu schaffen.“46 Die Begrifflichkeit missverstand, wer die Paro-

43 Engel, Johann Knief, S. 130. 44 Ebenda, S. 131f. 45 Siehe Karl Marx, in MEW, Bd. 19, S. 28. 46 Franz Mehring, Gesammelte Werke, Berlin 1966, Bd. 15, S. 780.

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len „Frieden“ und „Demokratie“ als einen – metaphysischen – Gegensatz zur Dik- tatur des Proletariats, gar als „konterrevolutionär“ interpretierte. Seine Artikelse- rie „Die Bolschewiki und wir“ (Mai/Juni 1918) schloss Mehring mit einem Satz, der im 21. Jahrhundert, nach dem ersten sozialistischen Großversuch in Europa, besonders nachdenklich stimmen kann: „Halten sich die Bolschewiki in Rußland, so ist trotz alledem ein Erfolg errungen, der über alle Enttäuschungen der letzten Jahre hinwegzuhelfen vermag; unterliegen sie, so mag es an der Zeit sein, daß die Toten ihre Toten begraben und ein oder ein paar Menschenalter hindurch nur noch mit einem Achselzucken von dem internationalen Sozialismus gesprochen werden kann.“47 Im Januaraufstand in Berlin 1919 kam bereits nach einer Woche ihres Beste- hens die erste Bewährungsprobe für die neue Kommunistische Partei in Berlin. Untersucht man ihre Beteiligung an den Vorgängen48, ohne sich von den darum ge- strickten Legenden von rechts (antikommunistische) und von links (kommunisti- sche) beeindrucken zu lassen, erkennt man die große Unsicherheit, sowohl bei der Führung wie bei den Mitgliedern, Schwanken zwischen Beteiligung am Aufstand und dessen Verwerfung, Hektik und Vorpreschen der einen (vor allem Liebknechts und Piecks), Ratlosigkeit bei den anderen, z. B. bei Rosa Luxemburg, die zuerst die Massenaktionen für wenig aussichtsreich hielt, anschließend mehrere Tage lang den Regierungssturz in Reichweite sah und endlich die Aussichtslosigkeit des Aufstands erkannte, mit der Behauptung, daß er von Anfang an ohne Erfolgs- chance gewesen sei. Überhaupt nahm die KPD insgesamt einen bloß verhältnis- mäßig geringen Einfluss auf die Ereignisse, die im wesentlichen von Berliner Ar- beitermassen, von den Revolutionären Obleuten (den Vertrauensleuten der Betriebe) und von Teilen der USPD und ihrer Führung (besonders Georg Lede- bour) getragen wurden. Was die KPD dazu beisteuern konnte, war ihre Pressear- beit („Rote Fahne“), die Verbreitung ihrer Flugblätter und die Beteiligung einzel- ner Mitglieder ihrer Zentrale in der Aufstandsleitung. Insgesamt war der Januaraufstand also das gerade nicht, was die antikommunistische Legende be- sagen will: ein „Spartakusaufstand“. Der Vertreter der Bolschewiki in Berlin Karl Radek beobachtete die Vorgänge in Berlin und schrieb darüber einen kritischen Bericht, der geeignet ist, jegliche Legendenbildung zu zerstören. Darin heißt es: „Leider befindet sich weder die Or- ganisation noch die politische Führung der Kommunistischen Partei auf entspre- chender Höhe ihrer Aufgabe. Weil sie sich gerade erst von den Unabhängigen ge- trennt hat, weist sie keine stabile Mitgliedschaft auf … Die oppositionelle Stimmung der Arbeitermassen äußert sich nirgends in einer durch die Partei orga- nisierten Form. Deshalb können schnell vergängliche Ersatzlösungen wie die re- volutionären Obleute entstehen, ein Mischmasch von Ledebour- und Sparta-

47 Ebenda, S. 772. 48 In diesem Absatz meines Referats ziehe ich grundlegend die Analyse von Ottokar Luban heran. Ottokar Lu- ban: Rosa Luxemburgs Demokratiekonzept, Schkeuditz 2008, Darin S. 67-117.

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kusanhängern, die ohne klare politische Linie an ein und demselben Tag versu- chen, einen Kompromiß mit den Sozialpatrioten zu schließen und gleichzeitig die politische Macht durch einen Putsch an sich zu reißen. Das Fehlen einer eigenen Massenorganisation führte auch dazu, daß die Kommunisten, anstatt sich auf die Eroberung der Arbeiterräte zu konzentrieren, ohne jeden Plan nach jeder Mög- lichkeit griffen, um die erregte Stimmung der Massen für Aktionen zu nutzen. Die Aktionen verliefen ohne klares politisches Ziel, ohne Verständnis dafür, daß es un- möglich ist, die politische Macht zu erobern, ohne die Mehrheit der Arbeiter hin- ter sich zu haben und ohne in Gestalt der Arbeiterräte Organe des Kampfes und der Macht zu haben. In der Theorie verstehen die Führer es, sie äußern diese An- sicht in der Broschüre ‚Was will der Spartakusbund?’49 Aber in der Praxis war das nicht der leitende Gedanke ihrer Taktik. Das ist im nachhinein die Grundtendenz der Berliner Ereignisse. Sie begannen mit großen Demonstrationen hunderttau- sender Arbeiter, in denen sich die ganze Enttäuschung der Arbeitermassen entlud. Aber nach drei Tagen wußten die Massen nicht, was sie auf der Straße eigentlich sollten. Ich war selbst Zeuge, wie in der Redaktion der ‚Roten Fahne’ alte Genossen händeringend fragten, was sie [die Spartakusführer] denn wollen. Sie wurden mit leeren Phrasen abgespeist, weil man dort selbst auch nicht wußte, was man wollte. Sie [die Spartakusführer] hörten einfach auf, zu den Demonstranten auf die Siege- sallee hinauszugehen, und die Masse irrte ziellos umher, bis sie sich verlief.“50 Ihr immer noch nicht erloschenes Wunschdenken bezeugte Rosa Luxemburg selbst nach der Niederlage des Aufstands noch, als sie schrieb, die Revolution siege trotz alledem. In ihrem letzten Artikel vor ihrer Ermordung, geschrieben am 13., erschienen am 14. Januar, sprach sie vom „Endsieg“ und davon, dass er „nur durch eine Reihe von ‚Niederlagen’ vorbereitet werden kann!“51 Wohl blieb die Novemberrevolution tatsächlich hinter den Erwartungen vieler zurück, anders als es (um Schillers Distichon „Der Zeitpunkt“ zu zitieren) „der große Moment“ ge- stattet hätte und wie es historisch erforderlich gewesen wäre. In ihrer Rede vom März 1923 „Der Kampf gegen den Faschismus“ legte Clara Zetkin die Ursprünge und Wesenszüge des damaligen Faschismus dar, der in Italien bereits ein Jahr an der Macht war. Ihr erschien als eine „Wurzel“ des Faschismus „das Stocken, der schlep- pende Gang der Weltrevolution infolge des Verrates der reformistischen Führer der Arbeiterbewegung“. „Historisch, objektiv betrachtet, kommt der Faschismus viel- mehr als Strafe, weil das Proletariat nicht die Revolution, die in Rußland eingeleitet worden, weitergeführt und weitergetrieben hat.“52 Die Geschichte gab ihr Recht: Ohne das Steckenbleiben der Novemberrevolution in Deutschland hätte der Fa- schismus sich nicht aufschwingen können bis ins Zentrum der Macht.53

49 Von Rosa Luxemburg entworfen, auf dem Gründungsparteitag der KPD als Grundsatzprogramm angenom- men. 50 Zit. nach Ottokar Luban: Karl Radek im Januaraufstand 1919 in Berlin. Drei Dokumente (Manuskript), S. 3. 51 Rosa Luxemburg, GW, Bd. 4, S. 534. 52 Clara Zetkin: Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 2, Berlin 1960, S. 297, 293.

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Was mindestens hergestellt werden musste, war die Demokratie in einer Form, die jeglichem Versuch gegenüber, sie wieder auszulöschen, resistent gewesen wäre, im Junktim mit einer verlässlichen deutschen Friedenspolitik, die künftig vor einem zweiten deutschen „Griff zur Weltmacht“ als unüberwindbares Hinder- nis gewesen wäre.

Räterepubliken, Räte, Betriebsräte

Als am weitesten vorangetriebene Schritte in Richtung Sozialismus, wenn nicht sogar mit dem Ziel der Diktatur des Proletariats, erwiesen sich während der No- vemberrevolution die Räterepubliken. Sie entstanden an mehreren Stellen im Reich, so in verschiedenen Hafenstädten an der Wasserkante, darunter in Bremen (10.1.-4.2.1919) und einigen kleineren Orten, sowie – am berühmtesten geworden – in Bayern. Hier bildeten die Novemberevolution und die Bayerische Räterepu- blik – diese in zweierlei Abschattungen seit dem 7. April 1919 – auch insofern für die Beobachter etwas Besonderes, als die Beteiligung von Intellektuellen und Künstlern sehr hoch war. Für die Bremer Räterepublik gilt das nicht. Der Führer der Bremer Linksradi- kalen Johann Knief (Lehrer, dann Journalist) konnte seit dem 9. Januar an der po- litischen Bewegung nicht mehr aktiv teilnehmen – er konnte es nur noch verbal, doch ohne dass sein Rat fruchtete. Dass der Versuch keinen Erfolg haben konnte, mussten auch die Anhänger der Räterepublik sich bald eingestehen. Im dokumen- tarischen Material gibt es Wendungen, deren Schlichtheit (die mit Wahrheit in eins fällt) bis heute anrührt, z. B. die Erkenntnis von Hagedorn (USPD) in der Sitzung des Arbeiter- und Soldatenrats am 20. Januar 1919: „Wir stehen in Bremen allein …“54 Und die Ergänzung durch Dannat (KPD) am 21. Januar: „Was die Konstituante für Bremen betrifft, so haben wir erkannt, daß wir eine Position ge- nommen haben, zu der es noch zu früh war. Eine Position haben wir genommen, zu der es nicht zu früh gewesen wäre, wenn in Berlin und im Reiche die Dinge günstiger gekommen wären.“55 Ähnlich in München einer der Hauptbeteiligten: Erich Mühsam. Er hielt die Räterepublik, deren Proklamation er selber betrieben hatte, später für ein „Unglück“, nachdem ihn der Beauftragte der russischen So- wjetregierung Axelrod unterrichtet hatte: Sie sei ein Fehler gewesen, „weil sie ohne die genügende unterirdische Vorbereitung im Lande ins Werk gesetzt wurde. Alle Persönlichkeiten hätten überall in Bereitschaft stehen, alle Proklamationen und Maßnahmen im Augenblick der Aktion fix und fertig sein, vor allem der mi- litärische Schutz wirksam organisiert sein müssen.“56

53 Siehe auch den Beitrag von Peter Scherer im vorliegenden Band. 54 Zit. nach Peter Kuckuk: Revolution und Räterepublik in Bremen, Frankfurt/M. 1969, S. 116. 55 Ebenda, S. 120. 56 Nach Mühsam, Publizistik (Anm. 2): Von Eisner bis Leviné, S. 239-325; hier S. 267 u. 312 f.

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Die Räterepublik Bayern war eine mittelbare Folge der Ermordung des Mini- sterpräsidenten Eisner (USPD). Dieser, Schriftsteller von Beruf, hatte wie andere zeitgenössische Kollegen eine neue Version des Sozialismus zu popularisieren versucht, den er ethisch begründen wollte. Er hasste die Gewaltanwendung und rief bei der Proklamation der Bayerischen Republik (in der Nacht vom 7. zum 8.11.1918) zur Beendigung des Blutvergießens auf: „In dieser Zeit des sinnlos wilden Mordens verabscheuen wir alles Blutvergießen. Jedes Menschenleben soll heilig sein!“57 Gustav Landauer, ebenfalls Schriftsteller, beteiligte sich eine kurze Zeitlang an der Bayerischen Räterepublik. Nach deren Ende nahmen ihn die konterrevolu- tionären Truppen gefangen. Im Gefängnis wurde er grausam erschlagen. In seinen Untersuchungen und Essays vor dem Weltkrieg und während dessen hatte er die Sozialdemokratie scharf kritisiert: „… Stockung und Starrheit, … die Gelenkig- keit eingerostet …, Ungeist, Unrecht und Schlendrian … Philister und stroh- trockene Systematiker träumen den unsäglich öden Traum von der Einführung des Patentsozialismus …“58 Die „Geschichte des Sozialismus“ brachte er auf die For- mel: „die Geschichte einer mit lebhaften Fiebergesichtern verbundenen Gelähmt- heit“.59 In der Novemberrevolution und der Räterepublik hoffte er, dass sich nun Hände in Bewegung setzen würden, um den Sozialismus aus seiner Erstarrung zu erlösen. Aber auch das blieb wieder nur ein Traum, kein öder, sondern ein facet- tenreich-bunter, doch bezahlte er ihn mit seinem Leben. Einen anderen Intellektuellen, der in München an der Räterepublik beteiligt war, umgab schon zu jener Zeit ein Geheimnis, und das Geheimnis sollte sich erst postum lüften: Ret Marut, der nach seiner Flucht aus Bayern im mexikanischen Exil als Epiker zu großem Ruhm kam – nicht unter diesem Namen, sondern unter dem Decknamen B. Traven.60 In seiner Zeitschrift „Der Ziegelbrenner“ kommen- tierte er Vorgänge des Weltkriegs, die Novemberrevolution, die Räterepublik und deren Niederschlagung. An der Räterepublik beteiligte er sich u. a. als Vorsitzen- der einer Kommission, die ein Revolutionstribunal vorbereiten sollte. Auch er blieb seinen Illusionen verhaftet, stellte z. B. im Heft 15 seiner Zeitschrift unter dem Datum des 30. Januar 1919 fest, die „Welt-Revolution beginnt“, und die Diktatur des Proletariats sei bereits Realität: „Noch nie in meinem ganzen Leben habe ich mich so unendlich frei und glücklich gefühlt, wie unter der Diktatur des Proletariats, einer Diktatur, die nicht die Diktatur einer Minderheit ist …, sondern die die Diktatur der Mehrheit des deutschen Volkes ist …“ Ausdrücklich gegen die marxistische Auffassung polemisierend, die Abschaffung des Eigentums an den

57 Zit. nach Gerhard A. Ritter/Susanne Miller: Die deutsche Revolution 1918-1919 – Dokumente, Frankfurt/M. etc. 1968, S. 58. 58 Gustav Landauer: Der werdende Mensch (Anm. 27), S. 363. 59 Ebenda, S. 120. 60 Siehe Rolf Recknagel: B. Traven. Beiträge zur Biographie, Leipzig 1971. – Der Nachdruck von Maruts Zeit- schrift „Der Ziegelbrenner“ (1917-1921, 5 Jahrgänge mit insgesamt 40 Heften), Leipzig 1967, enthält ein in- struktives Nachwort, ebenfalls von Rolf Recknagel, S. I-XXIV.

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Produktionsmitteln sei notwendig, propagierte er im Heft 35/40 seiner Zeitschrift in höhnischem Ton die Abschaffung jeglichen Privateigentums. Damit hätte er Be- fürchtungen des Bürgertums, wie sie zur selben Zeit etwa Ricarda Huch hegte, nur bestärken können. Er empfahl die Iren und Inder die in ihrem Kampf gegen die Kolonialherrschaft der Engländer als Vorbild, verpflichtete zu passivem Wider- stand und Waffenlosigkeit; verfocht also einen Pazifismus, der gewiss ungeeignet gewesen wäre, einer Diktatur des Proletariats, hätte sie denn wirklich existiert, zur Dauer zu verhelfen. Toni Sender warf den Delegierten des 1. Nachkriegsparteitags der USPD (März 1919) vor, die Unabhängigen im Rat der Volksbeauftragten hätten niemals ihre Zustimmung zur Einberufung der Nationalversammlung geben dürfen, fehlte doch „eine solide Grundlage für die junge Republik“, da die ökonomisch stärksten Kräfte der Vergangenheit nach wie vor die politische Macht besaßen. Nur wo die „kreative, fundamentale Umwälzung des ökonomischen und politischen Systems“ gelinge, hätte man das Recht, „von einer echten Revolution zu sprechen“. Als Ver- fechterin des Rätegedankens bestand sie besonders hartnäckig darauf, in der Wirt- schaft die Institution der Betriebsräte als Parallele der politischen Räte zu schaf- fen. Darüber sprach sie auf der Leipziger Frauenkonferenz am 29. November 1919 in ihrer Rede „Die Frauen und das Rätesystem“. Diese Rede ist ein damals zeitgemäßes, heute, fast ein Jahrhundert später, noch sehr anregendes Lehrstück. Sie bildet den Verlauf der Novemberrevolution mit ihren Defiziten, Fehlern und Leistungen vorzüglich ab, ebenso die anschließenden Entwicklungen. Rück- blickend überschätzte Toni Sender allerdings die Bedeutung der ein Jahr davor entstandenen Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte maßlos, wenn sie in ihnen be- reits die temporäre Verwirklichung der Diktatur des Proletariats in der Praxis er- blickte. Inzwischen, Ende 1919, wesentlich ernüchtert, räumte sie ein, die zweite Hälfte der Umwälzung sei erst noch zu vollbringen: „Die Verleihung politischer Rechte kann aber für die Arbeiterklasse erst dann vollen Wert erlangen, wenn auch die wirtschaftliche Knechtschaft und Unfreiheit aufgehoben ist.“. Daher müsse aus der Revolution folgen: die „Niederhaltung des ausbeutenden Bürgertums und Aufbau resp. Organisation der sozialistischen Gesellschaftsordnung“. Hier lag für sie die Funktion der Betriebsräte. Schlüssig sei, dass „das wirtschaftliche Rätesy- stem die Ausschaltung des Einflusses der Gegner des Sozialismus in der Wirt- schaft zum Ziele“ habe, während gleichzeitig das politische Rätesystem „deren Einfluß auf Gesetzgebung und Verwaltung so lange ausscheiden“ solle, „bis durch die Enteignung der Besitzer der Produktionsmittel die Klassenscheidung über- haupt aufgehoben ist“. Aus diesem Vorschlag zur Rolle der politischen Räte und des wirtschaftlichen Rätesystems resultiert auch, dass Toni Sender auf die Be- triebsräte einen besonders starken Akzent setzte. Sie argumentierte: „In richtiger Erkenntnis der wahren Wurzel jeglicher Kraft des Proletariats im kapitalistischen Wirtschaftskörper hat sich gegenwärtig das Interesse zur Verwirklichung des Rä- tegedankens am stärksten konzentriert im Kampf um die Betriebsräte. Der Kapi-

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talist herrscht, weil er die Produktionsmittel in Händen hat. Von unten auf muß versucht werden, aufzubauen und sich durchzusetzen. Darum bildet die Grundlage des wirtschaftlichen Rätesystems die kleinste wirtschaftliche Einheit, der Betrieb. Alle darin beschäftigten Hand- und Kopfarbeiter wählen gemeinsam den Be- triebsrat, wobei beide Gruppen entsprechend zu berücksichtigen sind.“ Im selben Zusammenhang dachte sie an die Rechte der Frauen, als deren Sprecherin sie fun- gierte: „Die Räte können aber nur dann Ausdruck des Massenwillens werden, was sie ja sein sollen, wenn das Recht der Mitwirkung und Mitbestimmung nicht für eine ganze Hälfte des Proletariats toter Buchstabe bleibt.“ „Ist eine größere An- zahl von Frauen im Betrieb beschäftigt, so muß auch diesen eine Vertretung im Betriebsrat eingeräumt werden.“61 Die Institution der Betriebsräte, bis heute erhalten, obwohl – nein: deshalb – in Deutschland von den Kapitaleignern seit eh und je beargwöhnt, ist eine bedeut- same historische Folge der Novemberrevolution. Sie könnte ein Funke sein, der unter der Asche weiterglüht. Dieser könnte vielleicht eines Tages zur Flamme werden, indem die Mehrheit der „Hand- und Kopfarbeiter“ sich besinnt auf die ur- sprünglich den Betriebsräten zugedachte Zielstellung: die durchdringende Demo- kratisierung der Wirtschaft als Weg zur vollendeten Demokratie.

61 Toni Sender, Autobiographie (Anm. 3), (in der Reihenfolge der Zitate) S. 142, 116, 289, 291, 305, 300, 308, 300.

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HARTMUT HENICKE Zu den Weltkriegsrevolutionen 1918/1919 und ihrem Platz in der Geschichte

Imperialismus, Krieg und Revolution – Triade des Sozialismus?

Auf Marx und Engels geht die Erkenntnis zurück, dass Revolutionen das ideolo- gische, politische, juristische und kulturelle Korrektiv zur Lösung des Konflikts zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen zugunsten einer höheren Produktionsweise sind. In der bisherigen Menschheitsgeschichte geschah das an zwei historischen Schnittpunkten: beim Übergang von der Jäger- zur Agrargesell- schaft und beim Übergang der Agrargesellschaft in die verschiedenen Entwick- lungsstadien des Kapitalismus. Das erste Mal vollzog sich diese Revolution in ei- ner sehr großen Raum-Zeitdimension, die ihr eher den Anschein eines Evolutionsprozesses verlieh. Aber auch der Übergang der verschiedenen Formen von Agrargesellschaften zum Kapitalismus in Europa vollzog sich im Rahmen je- nes neuzeitlichen Revolutionszyklus, der von der Reformation im 16. bis weit ins 19. Jahrhundert reicht. Auf diese Weise durchlief die transatlantische Welt jenen klassischen neuzeitlichen Revolutionszyklus, der mit der Säkularisierung Anfang des 16. Jahrhunderts begann und seit der englischen Revolution die Vertiefung der Demokratisierung und eine zunehmende soziale Ausprägung der Ökonomie zum Inhalt hatte. Die Anpassung der verschiedenen vorkapitalistischen Gesellschaften außerhalb Europas an den Industriekapitalismus erfolgte, wenn nicht durch Krieg von außen, revolutionär von innen oder auf dem Weg der Reform von oben. Aber schon am Ende des 19. Jahrhunderts kam die Vermutung auf, dass nicht die allge- meine Kapitalverwertungskrise als vielmehr der große Krieg bereits zur Götter- dämmerung des Kapitalismus werden könnte. Vier Jahre nach Marx’ Tod meinte Friedrich Engels, dass die durch einen sich abzeichnenden Weltkrieg bedingte Krise zur Voraussetzung für „die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Siegs der Arbeiterklasse“1 werden könnte. Im Proletariat der westeuropäischen In- dustriegesellschaft glaubten Marx und Engels jene endgültig die Arbeit befreiende Klasse entdeckt zu haben, die durch die Wiederherstellung des Gemeineigentums an den Produktionsmitteln nach 5.000 Jahren Klassengesellschaft die eigentliche Menschheitsgeschichte begründen würde. Doch die geistigen Erben dieser massenwirksamsten Ideologie des endenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts divergierten im Gefolge des weiteren Wan- dels des Kapitalismus in eine reform- und eine linkssozialistische Richtung, pola-

1 MEW, Bd. 21, S. 351

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risierten sich und vollzogen mit der gegensätzlichen Stellung zum ersten Welt- krieg das große Schisma innerhalb der Arbeiterbewegung. In Deutschland, der modernsten aufstrebenden Nation neben den USA während der zweiten Industria- lisierungswelle, war dieses Schisma besonders folgenschwer. Denn damit ging je- nes reale Veränderungspotenzial verloren, wodurch die historische Chance einer Umgestaltung des Kapitalismus am Ende der durch den ersten Weltkrieg ausge- lösten Krise vertan wurde. In Deutschland gab es die zahlenmäßig größte, best- organisierte und einflussreichste sozialdemokratische und gewerkschaftliche Bewegung. Während sich die Reformsozialisten bei Kriegsausbruch entgegen den Proklamationen der II. Internationale (1889-1914) auf einen nationalen Stand- punkt stellten und im Krieg die Notwendigkeit der Kooperation mit Regierung und Unternehmern sahen, verstanden die Linkssozialisten den Krieg als Ausdruck der Internationalisierung der Produktivkräfte, der zufolge das seinem Wesen nach internationalistische Proletariat berufen sei, eine neue Wirtschaftsordnung zu ge- stalten. Der Gegensatz zwischen Reform- und Linssozialisten hatte seine Wurzeln in der zentralen Streitfrage nach der Entwicklungsperspektive des Kapitalismus. Wurde diese Frage während der Revisionismusdebatte Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts zunächst philosophisch am Verhältnis von Reform und Revolu- tion exemplifiziert und seit der ersten russischen Revolution von 1905/07 zum Streit um die politische Taktik (Primat des parlamentarischen oder außerparla- mentarischen Kampfes), erhielt sie spätestens 1914 mit der Einschätzung des Cha- rakters des Krieges und der Haltung zu den Kriegskrediten und zum „Burgfrie- den“ unmittelbar politische Bedeutung. Für die sozialistische Linke erfolgte die diesbezüglich entscheidende Weichenstellung bereits 1907 auf dem Stuttgarter In- ternationalen Sozialistenkongress. Auf diesem Kongress anerkannten alle Partei- richtungen, wenn auch mit unterschiedlichem theoretischem Verständnis der poli- tischen Konsequenz, die Triade von expansiver Weltpolitik, Krieg und Revolution. Und dennoch: Mit der Absichtserklärung, die absehbare, durch einen kommenden Krieg ausgelöste systemische Krise zwecks Überwindung des Kapi- talismus auszunutzen, legte sich die internationale Sozialdemokratie in einer Art und Weise fest, die ihr in der konkreten politischen Situation im Sommer 1914 große Entscheidungsschwierigkeiten bereitete. Denn auch wenn die deutsche Kriegsregie den österreichisch-serbischen Konflikt geschickt ausnutzte, um ihrer offensiven Kriegsabsicht einen defensiven Anschein zu geben, waren nicht allen beteiligten Regierungen tatsächliche Kriegsabsichten zu unterstellen. Das aber machte es den europäischen Sozialisten schwer, sich pauschal auf den Boden der Stuttgarter Friedensresolution von 1907, die 1910 in Kopenhagen und 1912 in Ba- sel auf den internationalen Sozialisten-Kongressen bekräftigt wurde, zu stellen und statt der nationalen Verteidigung die Revolution im Blick zu haben. Zum ei- nen waren sie durch die konkrete politische Situation selbst viel zu verunsichert, um in der Stuttgarter Resolution ein wirksames Handlungsinstrument zu sehen.

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Zum anderen hätten sie einen erheblichen Autoritätsverlust bei den vorwiegend national und patriotisch gesinnten Massen hinnehmen müssen. Der vielschichtige und komplizierte Zusammenhang von großindustrieller Entwicklung mit Freihandel und wechselseitiger globaler ökonomischer Verflechtung einerseits und imperialer Weltpolitik, Wettrüsten, Bündnissystemen und neuartigem Kriegscharakter anderer- seits stellte bisherige Erfahrungen mit den auf die Schaffung moderner bürgerlicher Nationalstaaten gerichteten Revolutionen in Frage und den Sozialismus der Arbei- terbewegung mit seinen Perspektivvorstellungen vor völlig neue Herausforderun- gen. Für den reformsozialistischen Flügel war es demzufolge anders als für den linkssozialistischen nicht nachvollziehbar, dass die Revolution in Russland 1917 die Initialzündung der europäischen Revolution sei, deren Schicksal in den entwickel- ten kapitalistischen Staaten entschieden werden würde. Derartige Konsequenzen waren auch durch die Stuttgarter Antikriegsresolution von 1907 nicht gedeckt. Die Ungleichzeitigkeit des Revolutionsbeginns (Russland 1917, Mittelmächte 1918, in den Entente-Ländern ausbleibend) und der konkrete Kriegsverlauf zwangen die Bolschewiki in Russland zur Akzeptanz des Brester Separatfriedens im März 1918 und – unter Bedingungen des Bürgerkrieges und der ausländischen Intervention – zum Terror gegen ihre Opponenten im eigenen revolutionären Lager. Das aber dis- kreditierte die Bolschewiki und ihre Befürworter im übrigen Europa, so dass sie nicht zuletzt deshalb eine politisch verschwindende Minderheit blieben. Dennoch war das Beispiel der von den Bolschewiki geführten Revolution in Russland und de- ren Einfluss auf die europäische Linke derart wirkungsvoll, dass sich vor allem in Deutschland die Gegenrevolution mit dem reformsozialistischen Flügel verband, um ein übergreifen der Revolution auf Deutschland zu verhindern.

Der Erste Weltkrieg und das Problem seiner revolutionären Beendigung

Eric S. Hobsbawm zufolge begann das kurze 20. Jahrhundert mit dem Großereig- nis Weltkrieg/Revolution, das zweifellos als Schnittstelle zweier Epochen zu be- greifen ist. Tatsächlich begann bereits in den 1890er Jahren jener bis dahin nicht gekannte Modernisierungsschub, den Christopher A. Bayly als die „große Be- schleunigung“2 charakterisierte, die der sozialistischen Linken den Glauben an die historische Chance der Überwindung des Kapitalismus und den Reformsozialisten die Überzeugung von einer höheren Entwicklungsepoche des Kapitalismus ver- mittelte. Mit Deutschland, den USA und Japan gelangten weltpolitisch spät ge- kommene Nationen zu Beginn der zweiten Industrialisierungswelle an die wirt- schaftliche und technologische Weltspitze, deren Ökonomien der nationale Rahmen zu eng wurde und die auf die internationalen Märkte und den Zugriff auf planetare Ressourcen drängten. Dabei gab es zwei epochal neue Optionen, deren

2 Siehe Christopher A. Bayly: Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780-1914, Frankfurt, New York, 2006, S. 564-609.

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Tendenzen bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts sichtbar wurden: imperiale Ex- pansion auf Grundlage der großindustriellen Ökonomie einerseits und internatio- nale wirtschaftliche Verflechtung andererseits. So stand schon der Kapitalismus des beginnenden 20. Jahrhunderts vor der Alternative: Ausbau der internationalen Kooperation oder national-imperiale Herrschaft durch Krieg.3 Der Schlüssel zum Verständnis für das Auseinanderbrechen der II. Internatio- nale liegt im Verhalten der französischen und deutschen Sozialisten 1914. Das be- weist die Geschichte der Internationale von der Brüsseler Friedenskundgebung am 29. Juli 1914, auf der Jaurès sich klar zur Entente bekannte, über die Vorkonfe- renzen von Zimmerwald 1915 bis zu den Konferenzen von Kienthal 1916 und Stockholm 1917. Denn diese beiden nationalen sozialistischen Parteien verkör- perten den Gegensatz zwischen den beiden Militärbündnissen, in dem auch die sehr unterschiedlichen Kriegsmotivationen eingefroren waren. Es besteht kein Zweifel, dass die Mehrheit der deutschen sozialdemokratischen Fraktion die Hauptverantwortung für den Zusammenbruch der II. Internationale trägt, da sie am 4. August 1914 entgegen der Versicherung Hermann Müllers ge- genüber den französischen Sozialisten am 30. Juli, sich der Stimme zu enthalten bzw. die Kriegskredite abzulehnen, diesen zustimmte. Die verabredete Stimment- haltung wäre den französischen Sozialisten möglich gewesen. Aber anders als den serbischen und russischen Genossen war ihnen eine Ablehnung der Kriegskredite in Anbetracht der Zustimmung der deutschen Sozialdemokraten schon aus Über- zeugung nicht möglich. Es ist bezeichnend für die Kompliziertheit der Gesamtsi- tuation und nicht nur der Julikrise 1914, dass der über jeden karrieristischen, re- visionistischen und Eitelkeitsverdacht erhabene Jean Jaurès am 29. Juli auf der denkwürdigen Massenversammlung in Brüssel erklärte: „Ich, der ich nie gezögert habe, wegen meines hartnäckigen und nie schwankenden Willens zur französisch- deutschen Annäherung den Hass unserer Chauvinisten auf mein Haupt zu ziehen, ich habe das Recht zu sagen, dass in der jetzigen Stunde die französische Regie- rung den Frieden will und an der Aufrechterhaltung des Friedens arbeitet. – Die französische Regierung ist der beste Friedensverbündete der bewundernswerten englischen Regierung, die die Initiative zu einer Vermittlung ergriffen hat.“4 Ganz in diesem Sinne bat der belgische Sozialist Emile Vandervelde die russischen So- zialisten zu Beginn des Krieges, gegen Deutschland zu kämpfen.5 Denn es wäre unmöglich gewesen, den Ententevölkern den von deutschen Sozialdemokraten unterstützten Krieg gegen Deutschland als imperialistischen Krieg zu vermitteln.

3 Zu den imperialistischen Widersprüchen und Verflechtungen vor und während des Ersten Weltkrieges siehe Fritz Klein: Deutschland von 1897/98 bis 1917, 4. bearb. Aufl., Berlin 1977. Siehe auch Hartmut Henicke: Der historische Platz der Weltkriegsrevolutionen, in: Manfred Weißbecker (Hrsg.): November 1918. Gesell- schaftliche Veränderungen und Zukunftsentscheidungen, Jena 2009, S. 20ff. 4 Zit. nach Jules Umbert-Droz: Der Krieg und die Internationale. Die Konferenzen von Zimmerwald und Kien- thal, Wien u. a. 1964, S. 39. 5 Siehe ebenda, S. 49.

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Sogar Karl Liebknecht, der am 2. Dezember 1914 als einziger seiner Fraktion ge- gen die Kriegskredite stimmte, kam nicht umhin, neben der allgemein wirkenden Tendenz des Imperialismus die Hauptkriegsursache „im Dunkel des Halbabsolu- tisms und der Geheimdiplomatie hervorgerufenen Präventivkrieg“6 zu sehen und damit rein logisch die Ententemächte zu entlasten. Die vordergründige deutsche Kriegsverantwortung und der Verrat der sozialde- mokratischen Reichstagsfraktion bewirkte den harten Verteidigungsstandpunkt und die unversöhnliche Haltung der französischen Sozialisten gegenüber Deutschlands Regierenden und Burgfriedenspolitikern. Und diese Position vertrat der große Jaurès! Die Sozialistische Partei Frankreichs erklärte noch in Reaktion auf die Zimmerwalder Konferenz 1915, „dass ein dauernder Friede nur durch den Sieg der Alliierten und den Ruin des deutschen militärischen Imperialismus er- langt werden kann und dass jeder andere Friede nur ein Trugbild oder eine Kapi- tulation wäre.“7 Das sich daraus ergebende Dilemma der Internationale brachte die auf der Zimmerwalder Konferenz berufene Internationale Sozialistische Kommis- sion (ISK) in einer Erklärung zum Ausdruck, als sie eine Differenzierung der Po- sitionen der Sozialisten in den einzelnen Ländern aufgrund der Besonderheiten der militärischen Lage ablehnte. „Die Internationale müsste in diesem Falle über- haupt so lange untätig bleiben, bis sich die militärische Lage geändert hat, oder sie müsste, je nach der militärischen Lage oder nach der Frage nach der äußeren Schuld am Kriegsausbruch, die Kriegspolitik der Arbeiterklasse gegen die Arbei- terklasse des andern Landes unterstützen. Das stände aber im Widerspruch mit den Stuttgarter, Kopenhagener und Baseler Beschlüssen...“8 Diese Feststellung ver- deutlicht, dass die Linken die sehr konkreten, aber nicht weniger zu berücksichti- genden nichtimperialistischen Aspekte des Krieges vollständig ausklammerten, allein die sich aus der Interpretation der weltpolitischen Gesamtsituation erge- bende Logik wie auch die Chancen einer revolutionären Ausnutzung der Welt- kriegskrise in den Mittelpunkt ihrer Politik rückten und damit hinter den tatsäch- lichen Erfahrungen der Völker zu Kriegsbeginn zurückblieben. Als die Februarrevolution 1917 in Russland den Separatfrieden mit den Mittel- mächten wahrscheinlich werden ließ und sich das Internationale Sozialistische Büro endlich aktivierte und die Stockholmer Friedenskonferenz 1917 einberief, geschah dies nicht aus verräterischen proimperialistischen Motivationen, sondern aus berechtigter Sorge vor einem deutschen Sieg. Und diese Sorge war ebenso be- gründet wie die Parteinahme der Ententesozialisten für ihre Regierungen und der sozialistischen Pazifisten für den nichtrevolutionären Friedensschluss. Denn wie für die Ententesozialisten Deutschlands Hauptschuld am Krieg und die Verant- wortung der deutschen Sozialdemokratie für die Unterstützung der Reichsleitung

6 Zu Liebknechts Sonderabstimmung, in: Karl Liebknecht. Gesammelte Reden und Schriften, Band VIII, Berlin 1982, S. 63. 7 Umbert-Droz, Der Krieg, S. 165. 8 Ebenda, S. 167.

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feststand, stand für die Pazifisten in und außerhalb der Sozialdemokratie das un- mittelbar Machbare im Mittelpunkt des Interesses und nicht die Revolution. Einzig Rosa Luxemburg und W. I. Lenin als die herausragenden Köpfe der so- zialistischen Linken stimmten trotz unterschiedlicher Akzentuierungen in ihren Imperialismustheorien grundsätzlich in der politischen Schlussfolgerung überein. Beide wollten nicht abwarten, bis sich das Kapital über Kataklysmen zum über- mächtigen globalisierten Ultraimperialismus entwickeln würde. Sie wollten die erwartete Kriegskrise revolutionär ausnutzen, um das seinem Wesen nach interna- tionalistische Proletariat zum Gestalter des Produktionsprozesses zu machen. Es war die historische Chance, die die europäische Linke verlockte, nach den Sternen zu greifen. Allein aus diesem Grunde verwandte Lenin während des 1. Weltkrie- ges alle Energie darauf, der Öffentlichkeit den Epochencharakter des Krieges be- greiflich zu machen und sie vom Einfluss des pazifistischen Reformismus zu lö- sen.9 Die Friedenskonferenzen während des Krieges bewiesen den wachsenden Einfluss der Linken. Sie machten aber einmal mehr deutlich, dass die sozialisti- sche Linke die Sozialismusalternative ausschließlich aus dem abstrakten Zusam- menhang Imperialismus = Krieg, Sozialismus = Frieden ableitete. Dennoch wurde die Polarisierung zwischen den reformsozialistischen Burgfriedenspolitikern und der Zimmerwalder Linken nicht nur durch den starken pazifistischen Flügel in- nerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung erschwert, sondern auch durch jene Linke, die sich zugunsten ideologischer Prinzipientreue nicht von diesem isolie- ren wollte.10 Das Zaudern des pazifistischen Flügels, uneingeschränkt für revolu- tionäre Aktionen zum Sturz der kapitalistischen Wirtschaftsordnung einzutreten, war nicht seiner Inkonsequenz geschuldet, wie ihm seit dem Krieg und danach jahrzehntelang die kommunistische Geschichtsschreibung vorwarf, sondern den berechtigten Zweifeln, diese historische Möglichkeit realisieren zu können. Die Beendigung des Krieges im Gefolge der durch den Krieg ausgelösten Krise sollte gemäß der Stuttgarter Friedensresolution von 1907 auf eine proletarische Revolution in England, Frankreich und Deutschland hinauslaufen. Denn hier wa- ren die annähernden objektiven Voraussetzungen für eine solche Revolution ge- geben. Der Resolutionsentwurf der Zimmerwalder Linken benannte die antiimpe- rialistische Alternative: „Die Überwindung des Kapitalismus ist nur durch die Auflösung der Gegensätze möglich, die ihn erzeugt haben, das heißt durch die so- zialistische Organisation des kapitalistischen Kulturkreises, wozu die objektiven Verhältnisse schon reif sind.“11 Und im Hinblick auf eine dauerhafte allgemeine Friedensperspektive ergänzte die Resolution: „Gegenüber allen Illusionen , dass

9 Siehe z. B. W. I. Lenin: Unter fremder Flagge, in W. I. Lenin, Werke (LW) Bd. 21, S. 123-146; Der Zusam- menbruch der II. Internationale, S. 197-256; Sozialismus und Krieg, S. 295-341; Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale, S. 446-460. 10 Siehe hierzu Eckhardt Müller: Clara Zetkin und die Internationale Frauenkonferenz im März 1915 in Bern, in: Ulla Plener (Hrsg.): Clara Zetkin in ihrer Zeit. Neue Fakten, Erkenntnisse, Wertungen. Material des Kollo- quiums anlässlich ihres 150. Geburtstages am 6. Juli 2007 in Berlin, Berlin 2008, S. 69. 11 Humbert-Droz, Der Krieg, S. 153.

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es möglich wäre, durch irgendwelche Beschlüsse der Diplomatie und der Regie- rungen die Grundlagen eines dauernden Friedens, den Beginn der Abrüstung her- beizuführen, haben die revolutionären Sozialdemokraten den Volksmassen immer wieder zu sagen, dass nur die soziale Revolution den dauernden Frieden wie die Befreiung der Menschheit verwirklichen kann.“12 Der Frieden von Brest-Litowsk war, auch wenn dieser von den Mittelmächten diktiert wurde, der logische Höhepunkt der linkssozialistischen Friedensstrategie. Die von Trotzki provozierten langwierigen Verhandlungen, die der deutschen Seite letztendlich die Geduld raubten und sie zum erneuten Vormarsch nach Osten veranlassten, wurzelten in letzter Konsequenz im gegensätzlichen Verständnis beider Seiten vom Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Während die deutsch- österreichischen Verhandlungsführer sich diesbezüglich auf den Willen elitärer Repräsentativkörperschaften beriefen, meinten die Bolschewiki damit den basis- demokratischen Mehrheitswillen auf Grundlage des verkürzten linkssozialisti- schen Friedens- und Revolutionsverständnisses. Wenn am Ende die Sowjet-Repu- blik dennoch auf das deutsche Friedensdiktat einging, lag das an der widernatürlichen Gemeinsamkeit beider Seiten, deren Wurzel das Friedensbe- dürfnis bei gleichzeitig entgegengesetzter Motivation war: Deutschland brauchte den Frieden für die Beendigung des Zweifrontenkrieges; die Bolschewiki brauch- ten ihn, um die Macht zu erhalten, die sie bis zum Ausbruch der deutschen Revo- lution mit allen Mitteln bereit waren zu sichern. Mit der Revolution in Österreich- Ungarn und Deutschland im unmittelbaren Gefolge der militärischen Niederlage im Herbst 1918 wurde nunmehr auch Mittel- und Südosteuropa von jener Krise erfasst, die die Stuttgarter Friedensresolution vorausgesagt hatte und die die Re- volution in Russland 1917 vorweggenommen hatte.

Zur Gestaltung der Nachkriegsgesellschaft aus dem Blickwinkel der gegensätzli- chen Richtungen der Arbeiterbewegung

Mit den Weltkriegsrevolutionen stellte sich für die Linke die Frage nach der kon- kreten gesellschaftspolitischen Alternative. Es mutet merkwürdig an, dass die so- zialistische Linke während des Krieges alles tat, um den Massen den imperialisti- schen Charakter des Krieges klar zu machen, sie von ihrer pazifistischen Friedenssehnsucht abzubringen und zum revolutionären Friedensschluss zu be- wegen, aber auf die Erläuterung einer konkreten sozialistischen Alternative ver- zichtete. In der Frage des Zusammenhangs von ökonomischer Struktur und politischer Macht gingen die Ansichten der Linken und Reformisten weit auseinander. Die- ses Problem wurde bereits vor der Oktoberrevolution 1917 in Russland augen-

12 Ebenda, S. 154.

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scheinlich, als sich die deutsche Mehrheitssozialdemokratie auf ihrem Parteitag in Würzburg (Oktober 1917) mit der Gestaltung der Nachkriegswirtschaft be- schäftigte. Die Notwendigkeit der konfliktlosen Umstellung der Kriegs- auf die Friedenswirtschaft unter Berücksichtigung der technologischen Innovation, der Kapitalkonzentration und der internationalen Konkurrenz veranlasste die Mehr- heitssozialdemokratie zur Auseinandersetzung mit dem künftigen Gesellschafts- modell. Während das Kapital naturgemäß auf Wirtschaftsliberalismus und freie Konkurrenz setzte, sah die Sozialdemokratie die Notwendigkeit einer sozialver- träglichen staatlichen Regulierung und plädierte für die Beteiligung der Arbeiter- schaft an einer „Übergangswirtschaft“. Heinrich Cunow leitete aus diesen Notwendigkeiten das Konzept des „Staats- sozialismus“ ab, der je nach Zweckmäßigkeit in Form staatlicher Kontrolle oder der „Verstaatlichung“ als Alternative zum „Privatmonopol“ realisiert werden sollte.13 Rathenaus staatlich reglementiertes Kriegswirtschaftssystem charakteri- sierte er als „Kriegssozialismus“ bzw. als „besondere Art des Staatssozialismus“ im Gegensatz zum „proletarischen Sozialismus“, wie er von der Sozialdemokra- tie vertreten wurde.14 Ungeachtet der Begriffsverwirrung, die auch Cunow nicht auflösen konnte, wurde dennoch klar, was er meinte. Ausdrücklich grenzte sich Cunow von der „expropriativen Übernahme der kapitalistischen Produktionsmit- tel durch das zur Staatsdiktatur gelangte Proletariat“ ab. Der Kapitalismus stehe nicht vor einem chaotischen Zusammenbruch, sondern vor einer „neuen, tech- nisch und organisatorisch höher stehenden kapitalistischen Entwicklungsphase…, mit der jedoch eine zunehmende Demokratisierung und Sozialisierung des Staa- tes einhergehen müsse, und zwar letztere vornehmlich durch Überführung immer weiterer Zweige der Privatwirtschaft in den Staatsbetrieb.“15 Es steht somit außer Frage, dass das von Heinrich Cunow als „Staatssozialis- mus“ oder „ proletarischer Sozialismus“ bezeichnete Konzept seinem sozialökono- mischen Wesen nach reiner Staatskapitalismus war, weil es zwar proletarische Mit- bestimmung, nicht aber proletarische Staatsmacht verlangte. Doch stand dieses Konzept dem marxistischen Sozialismusmodell ebenso unversöhnlich gegenüber wie dem liberalen Privatkapitalismus. Dies ist der Grund, weshalb die bürgerlichen Parteien in dieser Frage zwischen Reformsozialisten und Linken keinen Unterschied machten, beide Parteiflügel jedoch das Konzept des anderen ablehnten. Und dennoch ging das reformistische Konzept durchaus weit. Ein Viertel Jahr nach dem Parteitag gelangte Karl Kautsky sogar zu dem Schluss, dass die Über- gangswirtschaft „die Zeit des Übergangs nicht nur vom Kriegszustand in den Frie- denszustand, sondern auch des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus be- deuten“16 kann. Dies sei jedoch von der Reife und Fähigkeit des Proletariats 13 Siehe Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Ab- gehalten in Würzburg vom 14. bis 20. Oktober 1917, Berlin 1917, S. 159. 14 Siehe ebenda, S. 145. 15 Ebenda, S. 160. 16 Karl Kautsky: Sozialdemokratische Bemerkungen zur Übergangswirtschaft, Leipzig 1918, S. IV.

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abhängig, die kapitalistische Produktionsweise durch eine eigene Organisation der Produktion zu ersetzen. Dennoch wäre, so Kautsky, ein solcher Sieg des Proleta- riats unter den Bedingungen der Übergangswirtschaft wegen der schwierigen Nachkriegsbedingungen nicht wünschenswert. Das Spartakusprogramm entsprach dem Leninschen Sozialismus-Projekt: Rä- temacht und Enteignung des Großgrundbesitzes, der Großbanken und Großindu- strie bei Fortexistenz eines privatkapitalistischen Sektors.17 Die Dekretierung der Sozialisierung der Gesamtwirtschaft lehnte Rosa Luxemburg allerdings ab.18 Das wollte sie der konkreten Auseinandersetzung der Belegschaften mit den Unter- nehmern in den Betrieben und Kommunen überlassen. Für die der Revolution folgenden Auseinandersetzungen um den Inhalt der So- zialisierung spielte es keine Rolle, dass die verschiedenen Denkrichtungen unter Sozialisierung Besteuerungsvarianten, bürokratisch reglementierte Zwangswirt- schaft, Arbeiterkontrolle, Mitbestimmung oder syndikalistisch geführte Kom- mune-Betriebe verstanden. Auch die von den beiden Gewerkschaftern Richard Müller19 und Emil Barth20 entwickelten Organisationsprinzipien einer sozialisier- ten, von Räten kontrollierten Wirtschaft und entsprechende Entschädigungsmoda- litäten für die Unternehmer sind hier von untergeordneter Bedeutung. Die in der Folgezeit entstandene Sozialisierungsliteratur entwickelte wichtige Gedanken zum Thema. In diesem Zusammenhang wurde insbesondere zwischen kurzfristiger Demokratisierung der Produktion und langfristiger Hebung der so- zialen Lage der Arbeiterschaft unterschieden.21 Die Diskussionen in ihrer Gesamt- heit beweisen nur, dass eine kurzfristige Bewältigung des Themas nicht möglich war. Wesentlich ist deshalb allein die Thematisierung des Problems. Entscheidend ist, dass der großindustrielle Kapitalismus selbst mit dem Staatsmonopol und dem Kriegssozialismus tatsächlich neue Wirtschaftsstrukturen hervorgebracht hatte, die ihre Lebensfähigkeit in der Praxis des Krieges bereits bewiesen hatten. Wenn auf dieser Grundlage das „Archiv für die Sozialisierung…“ am 15.1.1919 meinte, Kriegswirtschaft sei kein Sozialismus, „das ist der private Kapitalismus in der Zwangsjacke des Staats. Die soziale Wirtschaft erstrebt keine Verewigung der Kriegszwangswirtschaft; sie erstrebt aber noch weniger die Wiederherstellung des freien Spiels der Kräfte“22, so war damit eine Idee in die Welt gesetzt, die auf die politische Beherrschung der Ökonomie abzielte, um den inneren und äußeren Krieg von Gesellschaften für immer zu beenden. Wenn somit am Ende des Krie- ges einerseits der sozialdemokratische Reformflügel und die Linke in Österreich

17 Siehe Rosa Luxemburg: Was will der Spartakusbund?, in: Dies., Gesammelte Werke (GW), Bd. 4, S. 447f. 18 Siehe ebenda, S. 444. 19 Siehe Ralf Hoffrogge: Richard Müller. Der Mann hinter der Novemberrevolution, Berlin 2008, S. 108-116. 20 Siehe Emil Barth: Sozialisierung. Ihre Notwendigkeit, ihre Möglichkeit, Neukölln 1920. 21 Siehe Alfred Amonn: Die Hauptprobleme der Sozialisierung, Leipzig 1920; Franz Eulenberg: Arten und Stufen der Sozialisierung, München und Leipzig, 1920. 22 Soziale Wirtschaft. Archiv für die Sozialisierung des gesamten Wirtschaftslebens, Hrsg: Dr. H.F. Geiler, Zehlendorf, 1.Jg., Nr. 1, 15.1.1919, S. 2.

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in Anlehnung daran eine stärkere Partizipation an der Demokratie und betrieb- liche Mitbestimmung sowie andererseits Spartakus in Deutschland, die Bolsche- wiki in Russland und die vereinigte Linke in Ungarn die Staatsdiktatur des Prole- tariats und Gemeineigentum forderten, dann dachten die einen die vom Kapitalis- mus hervorgebrachte Realität nur konsequent weiter und die anderen zu Ende. Weder den Reformsozialdemokraten noch den sozialistischen Linken war vorzu- werfen, dass sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht hatten. Das sozialpolitische Programm der Revolution und die Idee der Sozialisierung knüpften nicht nur an die bereits durch die Kriegswirtschaft geschaffenen Vor- aussetzungen an, sondern ergaben sich auch aus den Sachzwängen der Kriegs- folgen.23 Die physische Erschöpfung des Proletariats infolge Arbeitszwang und Unterernährung, die Wiedereingliederung der Heimkehrer und Kriegsindustriear- beiter in eine neu zu strukturierende Friedenswirtschaft, die Notwendigkeit der Lohnanpassung infolge der Geldentwertung und die teilweise Kapitalabwande- rung verlangten Reformen, die über staatliche Reglementierungen hinausgingen und Mitbestimmung bzw. Kooperation zwischen Arbeiterschaft und Unternehmen erforderten. Ohne dies waren lebenswichtige Maßnahmen wie der Achtstundenar- beitstag, Jahresurlaub, Arbeitsschutz, Verbot von Kinder-, Nacht- und Heimarbeit zur Aufrechterhaltung des Reproduktionsprozess nicht möglich. Auch wenn sich derartige Maßnahmen nur gegen eine extensive kapitalistische Ausbeutung, nicht aber fundamental gegen die kapitalistische Produktionsweise richteten, enthielten sie eine antikapitalistische Tendenz. Denn sie beschränkten eindeutig das vom Pri- vatkapitalismus favorisierte freie Spiel des Marktes. Noch interessanter als die betriebliche Mitbestimmung waren die realen Sozia- lisierungsinitiativen. Die Kriegswirtschaft hatte den Republiken, die in der ersten Revolutionsphase entstanden, Betriebe aus militärischem Eigentum hinterlassen. Die leitende Betriebsbürokratie überantwortete einen Teil des Betriebskapitals dem Schwarzmarkt. In dieser Situation ergriffen die Räte die Initiative und si- cherten Rohstoffe und Anlagen vor Plünderungen. In Österreich kam es zur Bil- dung von gemeinwirtschaftlich arbeitenden Firmen, die Betriebs- Personal- und Konsumentenräte, auch landwirtschaftliche Genossenschaften vereinigten und die Einkauf, Produktion und Absatz organisierten. Das Problem dieser gemeinwirt- schaftlichen Firmen war allerdings der Kapitalmangel, der unter den Bedingungen der Geldentwertung auch nicht durch staatliche Zuschüsse ausgeglichen werden konnte. Und zu Eingriffen in das Privatkapital und die Banken konnte sich in Österreich niemand entschließen. In Ungarn schwächte die Vollsozialisierung der Industrie und Landwirtschaft nach Errichtung der Räterepublik das Bündnis mit den Bauern und stärkte die Gegenrevolution.24 In Deutschland wurde nach Revo-

23 Siehe Otto Bauer: Die österreichische Revolution, in: HYPERLINK file://C\\Aktuelle Projekte\\Historische Arbeiterbewegung\\Transport ... (Hier auch das Folgende) 24 Siehe Karl-Heinz Gräfe: Von der Asternrevolution zur Räterepublik. Ungarn 1918/19, in: UTOPIE kreativ, H. 168 (Oktober 2004), S. 885ff.

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lutionsbeginn eine Sozialisierungskommission unter Karl Kautsky einberufen. Das Abkommen zwischen Unternehmerverbänden und Gewerkschaften vom 15. November 1918 enthielt wesentliche politische und soziale Zugeständnisse an die Gewerkschaften.25 In Deutschland hatten Mitbestimmung und Kooperation zwischen Arbeiter- und Unternehmerschaft keimhafte Vorläufer in den während des Krieges gebil- deten Arbeiter- und Angestelltenausschüssen. In Österreich und Deutschland wurde mit der Betriebrätegesetzgebung ein Schritt zur Ersetzung der autokrati- schen durch eine demokratische Arbeitsdisziplin getan. Während in Österreich das Betriebsrätegesetz auf dem Höhepunkt der mitteleuropäischen Revolution zur Zeit der Münchener und Budapester Räterepubliken 1919 erlassen wurde und den Betriebsräten keinerlei Beschränkungen bei der Wahrnehmung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Interessen der Arbeiterschaft auferlegte, griff das Be- triebsrätegesetz in Deutschland von 1920 trotz verfassungsrechtlicher Absichtser- klärungen nicht mehr so weit. Und auch in Russland wich die anfängliche demo- kratische Betriebsverfassung schließlich dem bürokratischen Staatsmonopo- lismus. Ein demokratisch kontrollierter Staatskapitalismus wäre in der Anfangs- phase der Revolution gewiss das konsensfähigere Konzept gewesen. Karl Kautsky formulierte ein solches Konzept, das sich auf den Würzburger Parteitag der deut- schen Sozialdemokratie stützte. Demgegenüber lässt sich Lenins Sozialismuskon- zept als das konsequentere Modell nicht ohne weiteres verwerfen, weil es bisher noch gar nicht widerlegt ist. Denn die Parteidiktatur der Bolschewiki war nicht identisch mit proletarischer Staatsmacht. Deshalb ist Otto Bauer, dem Leiter der österreichischen Sozialisierungskommission, zuzustimmen, der den Betriebsräten in seinem Land eine größere Bedeutung, nämlich Vorstufe einer sozialistischen Produktionsweise zu sein, beigemessen hat, als der gewaltsamen Ersetzung des Unternehmers durch eine kommunistische Bürokratie. Es muss jedoch auch berücksichtigt werden, dass es nicht Lenin war, der die Oktoberrevolution in Russland zum Leitmodell aller sozialistischen Revolutionen erhoben hat. Und es war auch nicht Lenin, der den roten Terror zur Doktrin der Sowjet-Republik gemacht hat. Dass die Bolschewiki 1918 durch die Umstände gezwungen waren, die Alleinherrschaft auszuüben, kann ihnen unter dem Ge- sichtspunkt der Bedeutung des Brester Friedens nicht zum Vorwurf gemacht wer- den. Zeitweilige Diktatur und Terror waren im gesamten bürgerlichen Revoluti- onszyklus legitime Machtmittel, der Revolution zum Durchbruch zu verhelfen. Die Tatsache, dass auch die Revolution in Russland dieser Methode bedurfte, spricht, Rosa Luxemburg zufolge, eher für den bürgerlichen Charakter dieser Re- volution.26 Doch die Negativfolge dieser Alleinherrschaft und des Terrors war die Ablehnung nicht nur durch die Reformer der Sozialdemokratie. Auch Rosa Lu-

25 Heinrich August Winkler: Vom Kaiserreich zur Republik. Der historische Ort der Revolution von 1918/19, in: Streitfragen der deutschen Geschichte, München 1997, S. 65f.. 26 Siehe Rosa Luxemburg: Ein gewagtes Spiel, in: GW, Bd. 4, S. 412.

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xemburg verstand die tatsächlichen Zusammenhänge nicht, als sie die Annahme des Brester Friedens und den Terror der Bolschewiki im Gefolge des Mirbach-At- tentates kritisierte.27

Die historische Einordnung der Weltkriegsrevolutionen

Die Weltkriegsrevolutionen in Russland, Deutschland und Österreich-Ungarn re- präsentierten in ihrer Gesamtheit und in ihrem europäischen Zusammenhang vier soziale Kriege, die je nach Entwicklungsgrad der Regionen, in denen sie stattfan- den, dominierten: die nationale Unabhängigkeitsrevolution, die Antikriegsrevolu- tion, die Bauernrevolution und die Arbeiterrevolution. Von diesen vier sozialen Kriegen gehörten die ersten drei dem bürgerlichen Revolutionstyp an. Aus diesem Grund kritisierte Rosa Luxemburg das von den Bolschewiki realisierte Selbstbe- stimmungsrecht der Nationen und die Aufteilung des Großgrundbesitzes zugun- sten kapitalistisch wirtschaftender Farmerwirtschaften. Aber auch die Kriegs- verweigerung der kämpfenden Truppe war bürgerlichen – immerhin antiimperia- listischen Inhalts –, weil diese Truppe über das Proletariat hinaus alle sozialen Klassen und Schichten der bürgerlichen Gesellschaft integrierte. Dies prägte die soziale und politische Heterogenität der Soldatenräte, die ihre Ergänzung in „rei- nen“ Bauern- und Bürgerräten fand. Das bestimmte den bürgerlich-demokrati- schen Charakter dieser Bewegung. Aber auch den Arbeiterräten kann nicht a pri- ori ein sozialistischer Charakter zugesprochen werden, da sich diese außerhalb der Industriezentren ausschließlich als Hilfsorgane, bestenfalls als Kontrollorgane der bürgerlichen Staatsverwaltung verstanden. Allein in den industriellen Ballungsge- bieten, wo zudem die sozialistische Linke größeren Einfluss besaß, konkurrierten die Räte um die exekutive und legislative Macht. Auch mit ihrer auf die Sozialisierung abzielenden wirtschaftspolitischen Ziel- stellung begründeten die Aktiven der Arbeiterrevolution in den Industriezentren einen proletarischen Revolutionstyp. Der Machtanspruch der Räte und die Sozia- lisierungsabsicht prägten erheblich den Charakter der Revolution. Die Revolu- tionen 1917/1918 hoben sich gerade dadurch von allen früheren Revolutionen ab, dass Teile des Proletariats, erstmals durch die Umstände begünstigt, die politische Macht der alten Eliten ausschalteten, die legislative und exekutive Gewalt bean- spruchten und zeitweilig übernahmen, die Produktion teilweise kontrollierten, ins kapitalistische Eigentum eingriffen und damit eine reale sozialistische Alternative in der Praxis versuchten. Letzteres war in Sowjet-Russland, in Ungarn und parti- ell in Deutsch-Österreich der Fall. Da jedoch außerhalb Russlands die Revolutionen in den bürgerlichen Parla- mentarismus mündeten und auch die Ansätze eines demokratisch kontrollierten

27 Siehe Rosa Luxemburg: Zur russischen Revolution, in: GW, Bd. 4, S. 352.

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Staatskapitalismus aufgehoben wurden, hatte die Oktoberrevolution in Russland keine Chance einer sozialistischen Entfaltung. Die sozialistischen Elemente ende- ten schließlich, so geformt seit Ende der 20er Jahre unter Stalin, in einem ideolo- gisch kommunistisch verbrämten, bürokratisch organisierten Staatsmonopolis- mus. Die kommunistische Intelligenzija an der Spitze der Revolution übernahm praktisch die Rolle des radikalsten revolutionären Flügels einer Modernisierungs- revolution in einer vorwiegend agrarischen Gesellschaft. Unter den Bedingungen des Kapitalmangels und der Notwendigkeit einer beschleunigten Industrialisie- rung wurde die notwendige Kapitalakkumulation mit der diktatorisch durch die Partei- und Staatsbürokratie erzwungenen Unterkonsumtion der eigenen Gesell- schaft realisiert, wodurch sozialistische Tendenzen behindert wurden. Unter Berücksichtigung dessen, dass in der kapitalistischen Produktionsweise erst an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert Voraussetzungen ihrer globalen Regulierung entstanden sind, müssen sozialistische Revolutionsversuche im Vor- feld dieses Prozesses entsprechend relativiert, aber auch nichts desto weniger ge- würdigt werden. Die Produktivkraftentwicklung unter Bedingungen der Globali- sierung und die ihr durch privatkapitalistische Verteilung des gesellschaftlich produzierten Reichtums angelegten Fesseln lassen heute die strukturelle Grenze des Kapitalismus sichtbar werden. Welche Perspektive hat in diesem Zusammen- hang der alte Traum der Arbeiterbewegung von der Sozialisierung – der finalen sozialen Revolution? Die Antwort kann nicht zuletzt in den Konzepten gesucht werden, die von den beiden Richtungen der Sozialdemokratie während der Welt- kriegskrise 1914-1918 entworfen worden waren und in denen ganz praktisch die Frage nach einem ausgewogenen Verhältnis von Politik und Ökonomie aufgewor- fen wurde.

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PETER SCHERER Die Bedeutung der Novemberrevolution 1918 für die deutsche und europäische Geschichte

Der 9. November 2008 war ein doppelter Jahrestag, ein Tag des Sieges und ein Tag der Schande: Sieg, weil der 9. November 1918 für die größte und erfolg- reichste Massenbewegung in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung steht; Schande, weil am 9. November 1938 die Mordbanden der Nazis einen Pogrom veranstaltet haben, der den Auftakt zu einem der größten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit bildete. Die Revolution lag an diesem Tag 2008 90 Jahre zurück, der Pogrom 70 Jahre. Beide Ereignisse stehen in einem unauflösba- ren Zusammenhang, und doch haben wir es erlebt, dass das offizielle Berlin wie die Medien der Bundesrepublik sich auf den Pogrom konzentrierten. Von der Re- volution war allenfalls beiläufig die Rede, mitleidig bis abfällig, spöttisch bis her- ablassend. Eine deutsche Revolution, also keine, sagten die einen, eine schändlich verratene Revolution, sagten die anderen. Und die gar nichts sagten, dachten an einen verlorenen Krieg, an „Nachkriegswirren“, an ein mit Mühe verhindertes Chaos. Den einen ist es zu wenig, was 1918 geschah, den anderen ist es eine Tragödie, und noch immer sehen die Reaktionäre aller Schattierungen im No- vember 1918 nichts anderes als einen Akt des Hochverrats, noch immer ist er für sie der „Dolchstoß in den Rücken des deutschen Heeres“.

Einen Weltkrieg beendet

Viele von denen, die jedes Jahr am 9. November der ermordeten und gedemütig- ten Juden gedenken, wissen nur wenig von der Revolution, deren Jahreszahl doch in jeder Kirche, auf jedem Gefallenendenkmal steht, zusammen mit jener anderen Jahreszahl 1945, die ebenfalls das Ende eines Weltkrieges bezeichnet. Aber dieser zweite Krieg ist bis zum Weißbluten geführt worden, bis zur Verwüstung des ganzen Landes, weil keine Kraft des Widerstandes stark genug war, dem Wahn- sinn Einhalt zu gebieten. Das ist die wichtigste Tatsache und der größte unter den Erfolgen der Revolu- tion des 9. November 1918: Sie hat einen Weltkrieg beendet. Nach dem Sieg der Revolution in Berlin dauerte es bis zum 11. November noch ganze zwei Tage, und der Waffenstillstand trat in Kraft. Am 9. November 1918 siegte in erster Linie eine Revolution gegen Militarismus und Krieg, gegen das Morden draußen an den Fronten und gegen den Terror der Militärjustiz in der Heimat. Vielleicht ist auch das einer der Gründe, weshalb man diesem Tag die Feier und selbst ein Geden- ken verweigert. Wer sich brüstet, deutsche Soldaten nach Jahrzehnten wieder in

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Kampfeinsätze geschickt zu haben, wer das „Normalisierung der Außenpolitik“ nennt und den Einsatz der Armee im Innern vorbereitet, der kann mit den Matro- sen und Soldaten des Jahres 1918 freilich nichts anfangen. Am 11. November 2008 traf sich am Fort Douaumont vor Verdun der französi- sche Präsident mit Prinz Charles samt Gattin zur Feier des Waffenstillstandes von 1918. Der deutsche Bundesratspräsident durfte auch dabeistehen und sich das mi- litärische Zeremoniell ansehen. Auf Schillig-Reede vor Wilhelmshaven blieb es still, genauso in Kiel. Kein Trompetensignal, keine Schiffssirenen waren zu hören, und doch hatte hier der Friede begonnen, als die Heizer das Feuer unter den Kes- seln herausrissen, als die Matrosen die Schiffe verließen. Ohne den beharrlichen Widerstand, ohne den Mut der Revolutionäre hätte die- ser Krieg noch Jahre fortgedauert, und die Opfer der letzten Jahre hätten alles überstiegen, was die Völker bis dahin schon hatten erdulden müssen. Um einen Begriff davon zu bekommen, mag man sich vorstellen, der Zweite Weltkrieg hätte wie der erste im Herbst des fünften Kriegsjahres, d. h. 1943 geendet, und das Elend der Jahre 1944 und 1945 wäre uns und der Welt erspart geblieben. Hätte die Revolution des 9. November 1918 nichts anderes gebracht als den Frieden, sie hätte es verdient, als ein Sieg der Menschlichkeit über die militaristische Barbarei Jahr um Jahr gefeiert zu werden.

Errungenschaften

Aber dabei blieb es nicht. Die Revolution ist die Geburtsstunde der deutschen Re- publik. Sie stürzte den Kaiser, diesen Götzen eines ganzen politischen Systems, und mit ihm jene Fürstenkaste, die das deutsche Volk jahrhundertelang durch Not und Krieg geschleift hatte. Die Männer und Frauen des November 1918 zerbra- chen das preußische Dreiklassenwahlrecht, dieses Privileg der Reichen, dieses Vorrecht, die politische Macht nicht erst kaufen zu müssen, sondern kraft Eigen- tums ausüben zu können. Sie gaben den Frauen das Stimmrecht. Sie befreiten die Dienstboten und Landarbeiter von der Tyrannei der Gesindeordnungen und Aus- nahmegesetze. Und sie legten das Fundament der Tarifpolitik, wie wir sie kennen. In Tagen er- reichten sie mehr als alle Kampagnen und Manifestationen in den Jahrzehnten da- vor. Die Tarifvertrags-Verordnung, die den Vorrang des Tarifvertrages vor dem Einzelarbeitsvertrag festlegte, trägt das Datum des 23. Dezember 1918. Seit 1890 hatte man Jahr für Jahr am 1. Mai für den Achtstundentag demonstriert. Es brauchte die Revolution des 9. November, um den einfachen Satz in die Maschine zu diktieren: „Die regelmäßige tägliche Arbeitszeit ausschließlich der Pausen darf die Dauer von acht Stunden nicht überschreiten.“ So noch immer zu lesen im Reichsgesetzblatt vom 26. November 1918, und so noch immer und wieder von höchster Aktualität.

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Die Gewerkschaften wurden im Feuer der Revolution geradezu neu geboren. Die Mitgliedschaft der sozialistisch orientierten Freien Gewerkschaften verviel- fachte sich von einer Million auf fast acht Millionen. Und diese Millionen neuer Mitglieder blieben trotz aller politischen Enttäuschungen bis in die Inflationsmo- nate 1923 hinein ihren Verbänden treu. Die fünf Jahre nach der Revolution waren Jahre einer nie da gewesenen Machtfülle der Gewerkschaften. Nie zuvor und nie mehr danach hatte das Wort der Arbeitnehmer im Betrieb solches Gewicht. Im Oktober 1919 rechnete die Generalversammlung des Deutschen Metallarbeiter- Verbandes (DMV), der größten Einzelgewerkschaft, mit der anpasserischen Poli- tik des Vorstandes während des Krieges ab und wählte eine neue Führung. Auch das war ein Zeichen von Stärke. Am 4. Februar 1920 verabschiedete der Reichs- tag das Betriebsrätegesetz, das trotz seiner Schwächen den Räten Rechte zuge- stand, von denen die einstigen „Arbeiterausschüsse“ nur träumen konnten. Wenn heute Mitglieder der Betriebsräte auch in den Aufsichtsräten Arbeiternehmerin- teressen vertreten, dann ist das ein Erfolg des Jahres 1920 – im Gefolge der Re- volution.

Generalstreik

Man muss sich dieses andere Kräfteverhältnis in den Betrieben vor Augen führen, wenn man verstehen will, wie es den Gewerkschaften im März 1920 gelingen konnte, den Putsch der Militaristen um Kapp und Lüttwitz durch Generalstreik in- nerhalb weniger Tage zum Scheitern zu bringen. Dieses Kräfteverhältnis war nicht allein innerhalb der deutschen Grenzen neu bestimmt worden. Seit dem Oktober 1917 ging eine revolutionäre Welle durch Europa, wie man sie seit 1848 nicht mehr gesehen hatte.1 Die Arbeiter in Russland machten den Anfang. Fast auf den Tag genau zum ersten Jahrestag der russischen Revolution folgte 1918 die deut- sche. Am 12. November erklärte sich Deutschösterreich unter sozialistischer Führung zu einem Teil der Deutschen Republik. 1919 wurde die ungarische Räte- republik errichtet. Die Kämpfe in Italien und Spanien nahmen an Schärfe zu. Vor diesem Hintergrund schlug am 13. März 1920 die Sternstunde der deutschen Ge- werkschaften. Ohne langes Federlesen ging ihr Aufruf hinaus: „Die Reaktionäre [...] schicken sich an, auch die Errungenschaften der Revolution vom November 1918 zu beseitigen [...] Wir fordern daher alle Arbeiter, Angestellten und Beamten ... auf, überall sofort in den Generalstreik einzutreten.“2 Die Gewerkschaften waren nicht nur an Mitgliederzahlen gewachsen, sie hat- ten auch aus der Geschichte gelernt. Noch 1906 waren ihre Vertreter auf dem Mannheimer Parteitag der SPD als entschiedene Gegner des politischen Mas-

1 Siehe den Beitrag von M. Bois/R. Tosstorff in diesem Band. 2 Korrespondenzblatt, Berlin, 27.3.1920, S. 150 f.

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senstreiks aufgetreten. Auch 1914 hatten sie ihren Teil dazu beigetragen, die Poli- tik der SPD-Führung durchzusetzen, die von einem Generalstreik gegen den Krieg nichts wissen wollte, sondern die Politik der Hindenburg und Ludendorff vom er- sten bis zum letzten Tag mitmachte. Jetzt, im März 1920, noch getrieben von der Dynamik der Revolution, trafen die Gewerkschafter die richtige Entscheidung, ohne lange auf die Regierung zu warten, die sich auf der Flucht befand.

Konterrevolution

Ein weiteres Moment trat hinzu. In diesen Tagen bekamen die deutschen Ge- werkschafter einen ersten Begriff davon, was ihnen drohte. Wie ein Schatten war mit der Revolution die Konterrevolution in die Geschichte eingetreten. Die Er- mordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht mochte man in den Vorstän- den der Gewerkschaften noch mit halbem Bedauern zur Kenntnis genommen ha- ben. Die Niederschlagung der lokalen Räterepubliken durch Freikorpssöldner unter sozialdemokratischem Oberbefehl war schon peinlicher, zumal die Offiziere und Soldaten mit dem Totenkopf am Stahlhelm nicht den geringsten Hehl daraus machten, wo sie politisch standen. Als aber am 1. März 1920 in Ungarn das erste faschistische Regime errichtet wurde, hatte das eine neue Qualität. Am 5. März er- ließ der Internationale Gewerkschaftsbund einen Boykottaufruf, den er wie folgt einleitete: Man habe von den „entsetzlichen, unbeschreiblichen Verfolgungen Kenntnis genommen, denen die Arbeiter Ungarns jetzt unter der Gewaltherrschaft des weißen Terrors ausgesetzt sind. Tausende Männer und Frauen, deren einzige Missetat darin besteht, dass sie in den dem Internationalen Gewerkschaftsbund angeschlossenen Fachverbänden organisiert sind, schmachten in Gefängnissen und Konzentrationslagern.“3 Da scheint es auf, dieses Wort, das alle Schrecken in sich vereinigt. Man hat, bewehrt mit ganzen Bibliotheken, um die Frage gestritten, was denn Faschismus eigentlich sei. Im März 1920 bedurfte es keiner weitschweifigen Theorie, das herauszufinden. Faschismus, das war der weiße Terror gegen die „Roten“, gegen alles, was der Arbeiterbewegung angehörte, ihr nahestand oder ihr zugerechnet wurde, ob zu Recht oder zu Unrecht. Faschismus war das politische System der Konterrevolution. Die deutschen Gewerkschafter wussten also recht gut, wofür und gegen wen sie nur acht Tage später zum Generalstreik aufriefen. Man hatte auch Fantasie genug, sich vorzustellen, was es bedeuten würde, wenn die Räterepublik in Russland ihren Feinden unterliegen würde. So kam es am 7. August 1920 zu dem gemein- samen Aufruf von ADGB, SPD, USPD und KPD zur Verhinderung von Militär- transporten durch deutsches Gebiet gegen Sowjetrussland. Was war der Hinter-

3 Metallarbeiter-Zeitung, Stuttgart, 3.4.1920.

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grund? Die reaktionäre polnische Regierung hatte im April 1920 das vom Bürger- krieg geschwächte Russland angegriffen, und ihre Truppen waren tief nach Weißrussland und in die vorgedrungen. Frankreich und Großbritannien versorgten die polnische Armee mit Nachschub. Nicht zuletzt die Solidarität der deutschen Arbeiter ließ den polnischen Vormarsch stocken. Konnte man die konterrevolutionären Regime in Ungarn und Polen noch der osteuropäischen Peripherie zuordnen und ihren angeblich „besonderen Verhältnis- sen“, so war das im Fall Italiens nicht mehr möglich. Als 1922 Mussolini sein Re- gime errichtete, tat er es in einem Kernland Europas, am Ursprung des Meisten, worauf sich Europa etwas einbildete. Das italienische Beispiel lehrte: Keine Ge- sellschaft, in der Großkapital und Großgrundbesitz die Herrschaft ausüben, ist im- mun gegen den Faschismus. Er ist die letzte Zuflucht großbürgerlicher Politik, er ist die Antwort auf den Versuch, eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Krieg aufzurichten. Rosa Luxemburg war es, die an der Jahreswende 1918/19 den prophetischen Satz in das Programm der KPD geschrieben hatte: „Sie [die imperialistische Ka- pitalistenkaste] wird ihr Allerheiligstes, ihren Profit und ihr Vorrecht der Ausbeu- tung mit Zähnen und mit Nägeln, mit jenen Methoden der kalten Bosheit vertei- digen, die sie in der ganzen Geschichte der Kolonialpolitik und in dem Weltkriege an den Tag gelegt hat.“4 Sie schrieb das, kurz bevor sie selbst am 15. Januar 1919 Opfer des weißen Terrors wurde.

Judenhass und Konterrevolution

Zweimal hat die deutsche Konterrevolution versucht, ihre Herrschaft aufzurich- ten: das erste Mal am 13. März 1920, das zweite Mal am 9. November 1923. Beim dritten Mal, am 30. Januar 1933, hat man den Putschisten von 1923 die Macht auf dem Silbertablett überreicht. Das ist der Kern der Sache. Die Revolution von 1918 war der zentrale Punkt. Ihre Ergebnisse sollten ausgelöscht werden, ihre Vor- kämpfer ermordet, ihre Idee diffamiert und dem Vergessen anheimgegeben wer- den. Deshalb hatten die Nazis ein so inniges Verhältnis zum Datum der Revolu- tion, zum 9. November, dass sie ihren Putsch 1923 auf den fünften Jahrestag ansetzten, dass sie sich seither jedes Jahr an diesem Tag im Kreis der „alten Kämp- fer“ trafen, dass sie an diesem Tag 1925 der SS ihren Namen gegeben haben und dass sie 1938 kein besseres Datum wussten, es „den Juden zu zeigen“, als den 9. November. Im Mai 1919, als die Träger der Revolution und ihre Feinde sich noch leibhaf- tig vor Augen standen, war es relativ leicht, den Zusammenhang von Judenhass und Konterrevolution zu durchschauen. Ein führendes sozialdemokratisches Blatt,

4 Rosa Luxemburg: Was will der Spartakusbund? In: Dies.: Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin 1974, S. 446.

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die in Nürnberg erscheinende „Fränkische Tagespost“, schrieb damals: „Es geht eine Welle von Judenfeindschaft durch das ganze Land. In Plakaten, Aufrufen, Handzetteln, in allen Formen [...] wird gegen die Juden geschürt und gehetzt.“ Man versuche, eine Meinung im Volk besonders auf dem flachen Land zu bilden, „die das Judentum und die Revolution in einen Topf wirft. Sie schlagen die Juden und meinen die Revolution. Das ist das ganze Geheimnis der antisemitischen Hetze, die sich immer drohender auswächst.“5 Ältere Sozialdemokraten werden sich beim Lesen dieses Artikels daran erinnert haben, wie nach dem Ende der Ver- folgung unter den Sozialistengesetzen bürgerliche und kirchliche Kreise ab 1890 eine Welle antisozialistischer und eben auch antisemitischer „Aufklärung“ in Gang brachten, um mit ihrer Propaganda fortzusetzen, was dem Polizeisäbel einst- weilen verwehrt war.

Alternativen

Nach den Alternativen der historischen Entwicklung zu fragen, ist nicht üblich. „Was wäre gewesen, wenn... ?“ Wer diese Frage stellt, begibt sich schnell aller „Wissenschaftlichkeit“. Die Historiker sind im Allgemeinen froh, wenn sie plau- sibel machen können, „wie es wirklich war“. Schon darüber nehmen die Kontro- versen kein Ende. Nicht auszudenken, wenn darüber hinaus weitere Möglichkei- ten der Entwicklung diskutiert werden sollten. Und doch muss jeder, der aus der Geschichte lernen will, die Frage nach den Alternativen, nach den anderen, nicht verwirklichten Möglichkeiten stellen. An keinem Tag aber sind die Fragen nach Zwangsläufigkeit und Vermeidbarkeit, nach Chance und Scheitern so schmerzhaft wie am 9. November. Ich will hier zwei Texte nebeneinander stellen, die im historischen Konjunktiv abgefasst sind, und erst später sagen, wer sie gesprochen hat, wo sie gesprochen wurden und wann. Der erste Text: „Wenn es gelungen wäre, den geschichtlichen Prozess durch ein- heitliches, revolutionäres Handeln dahin zu bringen, dass sich das deutsche Proleta- riat dem russischen und ungarischen an die Seite gestellt hätte, dann wären wir ei- nen weiten Schritt vorwärts gekommen. Wir hätten den Inseln und Oasen des sozialistischen Regiments einen ganz anderen moralischen und materiellen Rück- halt gegeben, und wir hätten dann das Triebrad der Weltgeschichte ganz anders in Bewegung setzen können. Dann wäre das Proletariat der westeuropäischen Länder nicht durch das Versagen von uns und der anderen Länder zurückgedrängt worden.“ Der zweite Text: „Wären die deutschen Arbeiter im November 1918 Karl Lieb- knecht und seiner Idee gefolgt, hätte dieser zweite Weltkrieg nie stattgefunden.

5 Fränkische Tagespost, Nürnberg, 23.5.1919. Zit: nach Judit Pákh: Revolution und Konterrevolution: Doku- mente zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Nürnberg 1918-1933 (Das rote Nürnberg Bd. 4), Kösching 1985, S. 69 f.

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Ein Meer von Blut und Tränen wäre dem deutschen Volk und der Menschheit er- spart geblieben. Es hätte keinen gegeben, keine Konzentrationslager, keine Judenvernichtung. Europa wäre nicht zum Trümmerfeld geworden.“ Den ersten Text hat ein Metaller gesprochen, nämlich Robert Dißmann als Sprecher der linken Opposition auf der 14. ordentlichen Generalversammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes in Stuttgart am 16. Oktober 1919. Dißmann erhob eine bittere Anklage, aber war auch überzeugt davon, dass es noch nicht zu spät ist, das Steuer herumzureißen, die Fehler zu korrigieren. Den Anfang mach- ten die Metaller noch in Stuttgart, indem sie sich einen neuen Vorsitzenden wähl- ten, keinen anderen als Robert Dißmann selbst, Mitglied der USPD, die kurz zu- vor, im April 1917, aus Protest gegen die Kriegspolitik des SPD-Parteivorstandes gegründet worden war. Der zweite Text stammt aus der Rede, die der Kommunist Fritz Martin, Mitglied des Betriebsrates bei Heraeus, anlässlich der Maifeier 1946 in Hanau gehalten hat, vor der Fassade eines Schlosses, das der Zufall übrig ge- lassen hatte, im Rücken der Zuhörer aber die Trümmerfläche der niedergebrann- ten Stadt.6 Wir wissen nicht, was aus einer siegreichen „Deutschen Föderativen Soziali- stischen Republik“ des Jahres 1919 an der Seite von Räteungarn und Sowjet- russland im Laufe der Jahrzehnte geworden wäre. Vielleicht hätte auch sie inzwi- schen ein unrühmliches Ende gefunden. Wir können aber mit einiger Gewissheit dem Hanauer Kollegen zustimmen, wenn er aufzählte, was nicht geschehen wäre...

Die Konturen des europäischen Bürgerkrieges haben sich seit 1989-1991 ver- wischt. Niemand kann mehr sagen: Geh doch nach drüben! Die Sowjetunion hat sich selbst aufgelöst. Pankow ist ein beliebtes Wohnviertel in Berlin, weiter nichts. Touristen, die aus Israel kommen, meinen, die Berliner Mauer sei ja geradezu niedlich gewesen im Vergleich zu der Mauer, die sie in Israel gesehen hatten. In Brandenburg, in der Lausitz (und nicht nur dort) sind die Neonazis Teil der „dör- flichen Jugendkultur“. Und wer einmal richtig linke Sprüche hören will, der lädt sich Norbert Blüm oder Heiner Geisler ein. Das ist die (nicht mehr ganz so) neue Unübersichtlichkeit, in der nur eines unstrittig ist: Das gesamte politische Spek- trum verschiebt sich nach rechts, und das Kräfteverhältnis verändert sich zu Un- gunsten der Arbeitnehmer. Ottmar Schreiner spricht von einer „Entsozialdemo- kratisierung“ seiner Partei, der SPD, in der Ära Schröder. Es ist in der Tat schwer, sich auch nur in den Sommer 1998 zurückzuversetzen, als die Metalljugend bei ihrem Aktionsfestival in Frankfurt eine Puppe mit den Zügen von Helmut Kohl unter Jubel im Main versenkte. Sie wusste ja nicht, was folgen würde!

6 Die Texte finden sich in: Peter Scherer/Peter Schaaf: Dokumente zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Württemberg und Baden 1848-1949, Stuttgart 1984, S.291, sowie Judit Pákh: Das rote Hanau. Arbeit und Ka- pital 1830-1949, Hanau 2007, S. 932.

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Nicht wenige Gewerkschafter haben sich engagiert, das Vakuum am linken Ende des politischen Spektrums zu besetzen. Mehr als eine weit gestreute „Beset- zung“ ist das bisher tatsächlich nicht, und wie bei den Sozialdemokraten sich die Mandatsträger Sorgen machen, was aus ihren Mandaten wird, wenn die Verluste so weitergehen, so hat die Linke Mühe, bei wachsendem Zuspruch ihre Listen mit geeigneten Kandidaten zu besetzen. Auch in diesen Prozessen der Selbstkritik und Selbstfindung ist es hilfreich, den schwierigen Weg der Linken durch die Ge- schichte zu kennen, die Vielfalt der Ursprünge, die Vereinigungen und Spaltun- gen, die Zeiten des Aufschwungs und die Zeiten der Verfolgung, die Phasen der Klärung und die langen, verheerenden Irrwege, die zur Entfremdung so vieler von der politischen Arbeiterbewegung geführt haben. Es ist sicher notwendig, immer neu, Jahr um Jahr, daran zu erinnern, wozu die Faschisten im Allgemeinen und die deutschen Nazis im Besonderen fähig waren und sind. Und es ist genauso wichtig, daran zu erinnern, welche starke Kraft die Arbeiterbewegung vor den Katastrophen des 20. Jahrhunderts war – und wieder sein kann, wenn sie nur will. Das eine steht nicht gegen das andere. Wir brauchen beides. Wir müssen die Straße gegen die Neonazis verteidigen, und wir müssen uns gleichzeitig dessen bewusst bleiben: Der Hauptgegner ist ein System, das sich aller Fesseln und Beschränkungen entledigt hat und nun seit bald schon zwei Jahr- zehnten eine nahezu absolute Herrschaft über die Welt ausübt. Das ist neu, und doch hat die historische Epoche, die 1991 begonnen hat, manche Ähnlichkeit mit der Welt vor 1917/1918, mit jener Welt, die auch in bürgerlichen Lehrbüchern un- ter der Überschrift „Das Zeitalter des Imperialismus“ beschrieben wird. Imperia- lismus – dieser Begriff ist unserer politischen Sprache verlorengegangen, aber „Globalisierung“ bedeutet im Grunde nichts anderes. Manche verzweifeln an die- ser geisterhaften Wiederkehr des Vergangenen, des Hungers und der Kolonial- kriege, der Armut und der Verschwendung. Sie sollen wissen: Im November 1918 haben es Arbeiterinnen und Arbeiter, Matrosen und Solda- ten es geschafft, die Maschinerie des ersten imperialistischen Weltkrieges zum Stehen zu bringen. Von ihnen können und müssen wir lernen.

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WERNER BRAMKE Zwei Revolutionen im November

Wenige Tage vor dem 9. November 2008 deutet in den Medien nichts auf eine besondere Würdigung jener Revolution hin, die vor 90 Jahren den Weg in eine demokratische Republik eröffnete. Um so mehr erfahren wir seit Monaten, wie der „friedlichen Revolution“ von 1989 gedacht werden soll. Warum stellen nicht wenigstens die Historiker öffentliche Überlegungen über mögliche Zusammen- hänge zwischen beiden Revolutionen an? Wahrscheinlich werden schon hier Leser die Gegenfrage stellen, ob der Umbruch von 1989/1990 überhaupt als revolutionär zu bezeichnen, also ein Vergleich mit der Novemberrevolution 1918 legitim sei? Immerhin stehen die bisherigen Charakteri- stiken als „nachholende Revolution“ (Habermas), „protestantische Revolution“ (Pollack) oder gar „sächsische Revolution“ (Blaschke) auf wackligen Füßen. Auch Erhart Neuberts jüngste Deutung als „unsere“, gewissermaßen deutsche Revolution („Deutschland hat sich einer demokratischen Revolution zu verdanken“) wirkt ge- wunden. Er gesteht zu: „Die Integration der Revolution in die politische Kultur... ist noch im Gang.“ Vergessen wir aber nicht: Ähnliche Vorbehalte hatte es von promi- nenter Seite auch gegenüber der Revolution von 1918/1919 gegeben. Kurt Tucholsky prägte das ironisch-bittere Wort von der Revolution, die „im Saale statt- gefunden“ habe. Rosa Luxemburg sah in der Novemberrevolution „zu drei Vierteln mehr Zusammenbruch des bestehenden Imperialismus als Sieg eines neuen Prin- zips“. Was sie aber nicht verleitete, den revolutionären Charakter des November- Umsturzes von 1918 anzuzweifeln. Auch für 1989 gilt: Erst die spontanen Mas- senaktionen brachten ein marodes Herrschaftssystem zum Einsturz. Die Enthaltsamkeit der professionellen Historiker hinsichtlich der November- revolution 1918/19 und das damit zusammenhängende öffentliche Schweigen sind hauptsächlich auf politische Ursachen zurückzuführen. Was damit zusammen- hängt, dass in beiden deutschen Staaten die intensive Beschäftigung mit der Re- volution von 1918/1919 wesentlich der Legitimation des jeweiligen politischen Systems diente, auch in der BRD, obwohl dort der einzelne Wissenschaftler nicht staatlicher Verordnung unterworfen war. Diese wurde in der DDR in den achtzi- ger Jahren immer zurückhaltender, was viel über die Entwicklung dieses deut- schen Staates aussagt. Doch mit der Vereinigung von 1990 schien den westdeut- schen Historikern, die sich auf der Seite der Sieger wähnten und die nun die gesamtdeutsche Geschichtswissenschaft beherrschten, die Revolution von 1918/1919 keiner besonderen Beachtung mehr wert zu sein. Die parlamentarische Demokratie, nach vorherrschender Meinung in der BRD-Historiographie das ein- zig realistische Ziel für die Revolution damals, hatte sich in ganz Deutschland durchgesetzt. Es gab also keinen Anlass mehr zu essentiellem Streit.

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Andere Gründe für die Abstinenz blieben im Hintergrund, wirkten aber um so nachhaltiger. Die Novemberrevolution 1918 war von den Mehrheits-Sozialdemo- kraten auf den Weg der repräsentativen Demokratie gebracht worden, doch dies mit Hilfe der alten Militärs, die sich als die Totengräber der Weimarer Demokra- tie erweisen sollten. Der Vorwurf, dass eine solche Zusammenarbeit nicht nötig, ja vorhersehbar tödlich gewesen sei, ist nie mit überzeugenden Argumenten aus- geräumt worden. Im neuen Deutschland brauchte man mit solchen Vorwürfen kaum noch zu rechnen. Warum also daran rühren? Außerdem war für die Mehr- zahl der Historiker eine Revolution in einer modernen Industrie-Gesellschaft ein Anachronismus, ein gefährlicher Störfaktor für eine hoch differenzierte Gesell- schaft. Vielleicht hat sich deshalb bisher keiner der Wissenschaftler, der sich um die Erforschung der Revolution von 1918/1919 verdient gemacht hat, gründlicher mit der „friedlichen Revolution“ 1989/90 beschäftigt. Immerhin war die DDR, mochte man sie auch gründlich verabscheut haben, ein entwickelter Industriestaat gewesen, in dem es eine Revolution hätte gar nicht geben sollen. Sie stellen den Terminus „friedliche Revolution“ aber zumeist nicht in Frage, wobei Opportu- nitäts-Erwägungen mitspielen dürften. Dem verbreiteten Jubel über den Kollaps des „realen Sozialismus“ und die deutsche Einheit folgte bald Ernüchterung. Soziale und politische Spannungen verschärften sich, die Lösung internationaler Konflikte erwies sich als schwieriger als in den drei Jahrzehnten davor. Es wäre an der Zeit gewesen, erneut die No- vemberrevolution 1918/19 auf den Prüfstand zu stellen und zu analysieren, was an dieser erfolgreich und was Erfolg versprechend gewesen war, aber zu wenig aus- gebaut wurde. Dabei hätte sich eigentlich aufdrängen müssen, den Verlauf der „friedlichen Revolution“ von 1989/90 mit dem der Novemberrevolution von 1918/19 zu vergleichen und – spätestens nach dem Erkennen gravierender Fehl- entwicklungen nach 1989/1990 – danach zu fragen, wo es auch in dieser Revolu- tion falsche Weichenstellungen gegeben habe. Solche Überlegungen wurden vereinzelt angestellt. Reinhard Rürup, der sich verdient um die Erforschung der deutschen Revolution von 1918/1919 gemacht hatte, mahnte in einem Vortrag im Rahmen der Friedrich-Ebert-Stiftung im No- vember 1993 einen solchen Vergleich an.1 Ein halbes Jahr vorher hatte ich auf ei- nem internationalen Kolloquium an der Universität Leipzig vergleichende Be- trachtungen über das Verhältnis von Revolution und Konterrevolution in den Umbrüchen von 1918/1919 und 1989/1990 vorgetragen.2 Der Vergleich drängt sich auch deshalb auf, weil 1918/1919 Weichen gestellt werden sollten für einen demokratischen Sozialismus und 1989 der Weg in die

1 Siehe Reinhard Rürup: Die Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichte. Vortrag vor dem Ge- sprächskreis der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn am 4. November 1993, Bonn-Bad Godesberg 1993, S.18- 20. 2 Siehe Werner Bramke: Ungleiches im Vergleich. Revolution und Gegenrevolution in den deutschen Revolu- tionen von 1918/19 und 1989, in: Mattias Middel in Zusammenarbeit mit Roger Depuy und Thomas Höpel (Hrsg.): Widerstände gegen Revolutionen 1789-1919, Leipzig 1994, S.263-279.

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Sackgasse des sowjetischen Sozialismus-Modells beendet und damit dem demo- kratischen Sozialismus oder der sozialen Demokratie eine neue Chance gegeben wurde.3 Und Letzteres nicht nur für Ostdeutschland. Die Resultate der „friedlichen Revolution“ mussten im Falle der Vereinigung die Ausgestaltung der Demokratie im neuen Deutschland wesentlich beeinflussen oder gar grundsätzlich verändern. Bei dem abschließend unternommenen Vergleich werden die ersten drei Mo- nate beider Erhebungen ins Visier genommen. 1918 und 1989 erlagen beide politischen Systeme den Angriffen der ersten Wochen, obwohl sie von außen betrachtet als stabil galten. Und Monarchie wie DDR-Regime waren zur Abwehr unfähig, obwohl ihre Apparate seit Monaten ver- breitete Unzufriedenheit, ja System-Verdrossenheit in bisher nicht gekanntem Ausmaß signalisierten. Die stellvertretenden Generalkommandos meldeten im Sommer 1918 eine fast allgemeine Verbitterung selbst bei der Mehrheit der bis dahin treuen Anhänger der Monarchie. Über die Unzufriedenheit in der DDR braucht hier nichts vermerkt zu werden. Die Unfähigkeit, trotz erkanntem Ernst der Situation der Lage Herr zu werden, hatte vor allem zwei Ursachen: Beide Herrschaftssysteme hatten sich in den Jah- ren davor gründlich verändert, die Monarchie beschleunigt in den Jahren des Weltkrieges, die SED-Herrschaft in einem längeren, schleichenden Prozess. Die Lasten des Krieges bedingten im Kaiserreich eine Verarmung der Mehr- heit. Die faktische Verwandlung der Monarchie in eine Militärdiktatur schränkte bürgerliche Freiheiten weiter ein. In der Gewissheit der Niederlage schienen die Opfer als sinnlos. Das Vertrauen der Mehrheit der Bevölkerung zur Monarchie war zerstört – und auch das Vertrauen zum Kapitalismus. In dieser Situation ver- sagten die Machtmittel des alten Systems völlig. In der DDR hat wohl zu keinem Zeitpunkt die Mehrheit Vertrauen zur politischen Führung gehabt. Man wusste so- ziale, kulturelle und bildungspolitische Leistungen zu schätzen. Gravierend wur- den aber die Defizite an individueller Freiheit, politischer Partizipation und mate- rielle Mängel empfunden. Eine gewisse Liberalisierung ab Mitte der siebziger Jahre beförderte zunehmend Proteste gegen eine Führung, der man nicht vertraute oder nichts zutraute. Der Vergleich ergibt ein Paradoxon: in der Monarchie führte der Kurs in Rich- tung Diktatur zur Krise, in der DDR ermöglichte die Entwicklung der Diktatur zu einem autoritären Regime den nötigen Spielraum, um sich einer nicht vertrauens- würdigen Herrschaft zu entledigen. In beiden Fällen spielte die außenpolitische Isolierung eine mit bestimmende Rolle. Das andere, nicht weniger wichtige Faktum für den vorerst schnellen Erfolg der Volkserhebungen war die nicht erwartete, spontane Massenbeteiligung. Diese ließ eine Unterdrückung mit Waffengewalt aussichtslos erscheinen, als man einsehen

3 Siehe Jörg Roesler: Die kurze Zeit der Wirtschaftsdemokratie. Zur „Revolution von unten“ in Kombinaten und Betrieben der DDR während des 1. Halbjahres 1990, Hefte zur DDR-Geschichte, hrsg. von Helle Panke e. V., Berlin 2005.

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musste, dass die Streitkräfte beim Einsatz nach innen kaum noch den Offizieren folgen würden. In der DDR musste die Führung damit rechnen, keine sowjetische Unterstützung zu erhalten. Für beide spontanen Massenerhebungen war die zunächst geringe Bindung an Parteien und dafür das Suchen und Finden von den Parteien unabhängiger Organisationsformen charakteristisch, wobei im November 1918 mit der Rätebewegung im Januar des Jahres 1918 allerdings ein Vorlauf ge- schaffen worden war. Vergleichbar für beide Revolutionen (wenn wir die Massenbewegung von 1989 wenigstens bis zum Jahresende als revolutionär anerkennen) ist auch der Um- schwung oder vielleicht genauer: die Peripetie (der Ausdruck „Wende“ würde in diesem Zusammenhang falsche Vorstellungen wecken) in der Zielsetzung der Ak- tionen: 1918 mit dem Reichsräte-Kongress im Dezember, 1989 in der Zeit von Anfang bis Mitte Dezember. Mit der erfolgreichen Einflussnahme von Parteien, in ersterem Falle durch die Mehrheits-Sozialdemokraten, im zweiten durch west- deutsche Parteien und die Regierung Kohl, verloren die spontanen Bewegungen ihren revolutionären Impetus. Sie erhielten eine Zielsetzung, die Bewährtes ver- sprach und die von der Mehrheit angenommen wurde. Gerade was das zuletzt Erörterte betrifft, müsste jetzt eine ausführliche, diffe- renzierende Betrachtung der Zielsetzung in beiden Erhebungen kommen, um die verbreiteten Enttäuschungen danach in Beziehung zueinander zu setzen. Eine sol- che Analyse ist im Rahmen dieses Beitrags nicht zu leisten. Denn in der Revolu- tion von 1918/19 hatten zumindest die drei aus der Sozialdemokratie heraus ent- standenen Parteien sehr unterschiedliche Ziele, über die zudem die Historiker unterschiedlichen politischen Standortes kontrovers diskutierten. Was die Ziele der nichtproletarischen Bevölkerungsgruppen und deren Interessenvertretungen betrifft, weist die Forschung noch beträchtliche Lücken auf. Es sei nur angemerkt, dass eine quantifizierende, mit statistischen Methoden arbeitende Forschung – an- ders als in den Forschungen zur Wählerbewegung in der Weimarer Republik – in der Revolutionsforschung noch nicht versucht worden ist. Eine solche Forschung hätte auch große Schwierigkeiten zu überwinden gehabt, weil über die Ziele, die die Menschen in einer Stadt mit der Revolution verbanden, nur wenig statistisches Material zu finden sein würde. Trotzdem bleibt der Vorwurf einer Unterlassung, weil zum Beispiel die militärgeschichtliche Forschung mit der Einbeziehung eines kulturgeschichtlichen Ansatzes durch die Sichtung von Feldpostbriefen im Ersten Weltkrieg neue Erkenntnisse gewonnen hat, die auch für die Sicht auf die Vor- stellungen von einem Deutschland nach dem Krieg von Bedeutung sein müssten.4 Es kann aus den genannten Gründen hier nur sehr summarisch festgehalten werden, dass die Haupttendenz in der Forschung seit längerem darin besteht, die Ziele der Mehrheitssozialdemokratie als die am meisten dem Mehrheitswillen der Bevölkerung entsprechenden und den realen Verhältnissen gerecht werdenden an- 4 Siehe u. a. Gerhard Engel: Rote in Feldgrau. Kriegs- und Felspostbriefe junger linkssozialdemokratischer Sol- daten des Ersten Weltkrieges, Berlin 2008.

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zusehen. Diese Ziele hätten in der Herbeiführung des Friedens und in der Errich- tung der Demokratie, und zwar der repräsentativen parlamentarischen Demokra- tie, bestanden. Es werden in dieser Sicht, die eine Rätedemokratie als illusionär verwirft, durchaus Fehler der MSPD eingeräumt; auch solche mit erheblichen Fol- gen wie die unterlassene Sozialisierung in der Schwerindustrie und in anderen Be- reichen der Industrie sowie im Finanzwesen und die Kooperation mit der militäri- schen Führung. Doch beide Faktoren werden zu gering gewichtet, was dem Besonderen dieser Revolution nicht gerecht wird, nämlich ihrer antimilitaristi- schen Stoßrichtung und der Trägerschaft durch die Arbeiterbewegung. Vor allem Letzteres gab dieser Revolution eine starke soziale Komponente. Beide Unterlas- sungen ermöglichten die schrittweise Aushöhlung des Sozialstaates und den Ein- fluss der militärischen Führung, ja überhaupt der militaristischen Kreise auf die Politik, wodurch der NS-Herrschaft der Boden bereitet wurde. Was die „friedliche Revolution“ von 1989 betrifft, so scheint das eben Erörterte mit deren Verlauf und Ausgang wenig und in dem Wenigen nur in sehr allgemei- ner Weise in Verbindung zu bringen sein. Zwar wurde auch die Erhebung im Herbst 1989 vom Ruf nach Demokratie und Freiheit, vor allem mehr individuel- ler Freiheit, getragen. Aber die Träger dieser Rebellion waren nicht die Angehöri- gen einer Klasse, sondern aufbegehrende Staatsbürger aller Schichten, wobei die Arbeiter unterrepräsentiert blieben. Das Problem Militär/Militarismus spielte nur in den ersten Tagen und auch da nur eine untergeordnete Rolle. Die Gegner der Erhebung waren andere als die von 1918/19 und verschwanden bald in der Ver- senkung, auch dies ganz anders als 70 Jahre zuvor. Was aber bei den bisherigen Deutungen des Umsturzes fast ganz außerhalb der Betrachtungen liegt, ist die Tat- sache, dass all die Unzufriedenen mit dem politischen System sich bewusst wa- ren, in einem ausgebauten Sozialstaat gelebt zu haben, der ihnen annähernd glei- che Chancen des Aufstiegs in der Gesellschaft ermöglichte und selbst eine gewisse Partizipation im politischen Bereich einräumte. Die Empörer, also die Bürgerbewegung und die sie unterstützenden Massen, wollten diese soziale Wirk- lichkeit mit wirklicher politischer Freiheit verbinden und hatten nicht daran ge- dacht, dass sie bald in eine Entgegensetzung von Gleichheit und Freiheit und da- mit in eine mindere Freiheit geraten könnten. So wurden die Aktionen in beiden Erhebungen von politischen und sozialen Zielen bestimmt, was Anlass sein muss, die Vernachlässigung der sozialen Frage nach dem politischen Umbruch mit ihren Folgeerscheinungen auf mittlere und längere Perspektiven abzuschätzen. Die Erschütterung des ersten deutschen Sozi- alstaates entfremdete einen großen Teil der Bürger der Weimarer Demokratie. Ge- wiss, die Berliner Republik ist nicht die von Weimar. Aber das Fortschreiten der Erosion des Sozialstaates Bundesrepublik hat dieser Demokratie bereits großen Schaden zugefügt. Kapitalismus und Demokratie sind eben keine Geschwister und können nur mühsam in der Balance gehalten werden. Das ist am Ende der „friedlichen Revolution“ vergessen gemacht worden.

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Namensverzeichnis

Abelshauser, Werner 104-106, 118 Adam, Thomas 163 Adelung, Bernhard 132, 136, 138 Albertini, Rudolf von 56 Altrichter, Helmut 43 Amonn, Alfred 291 Angell, Alan 56, 59 Arendt, Hannah 21, 23 Augspurg, Anita 270 Ausländer, Fritz 220 Axelrod, Pawel 279 Baake, Curt 103 Baden, Max von, Prinz 63, 95, 239 Baer, Emil 97 Balabanoff, Angelica 75, 214 Bandur, Gernot 232 Bartel, Walter 94, 202 Barth, Emil 63, 96, 192, 194, 224, 291 Baudert, August 152, 156 Bauer, Otto 292, 293 Baum, Marie 267 Baumann, Udo 171 Bayer, Osvaldo 56 Bayly, Christopher A. 285 Bebel, August 150, 201, 235 Beerfelde, Hans-Georg von 96, 270 Behr, Klaus 267 Beiersdorf, Franz 196 Bergmann, Joachim 148 Bernecker, Walther l. 51 Bernstein, Eduard 22 Berthold, Lothar 101, 202 Beutin, Wolfgang 40, 262 Beutin, Heidi 271 Beyrau, Dietrich 38, 43 Bieber, Léon E. 55 Bieber, Hans-Joachim 171 Bismarck, Otto von 28, 157, 273 Blair, Tony 47

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Blaschke, Karl Heinz 304 Bleiber, Helmut 232 Bloch, Ernst 18 Blühm, Norbert 302 Blumenthal, Paul 190, 192 Bock, Helmut 268, 271 Bock, Wilhelm 150, 151, 217 Bockel, Rolf von 270 Boebel, Chaja 192 Bogdal, Hermann 106, Bohm-Schuch, Klara 253, 260 Bois, Marcel 41, 298 Bojun, Fritz 188 Boll, Willi 153 Bonwetsch, Bernd 43 Borchardt, 218 Bordiga, Amadeo 49 Borsdorf, Ulrich 86, 106 Bramke, Werner 11, 168, 175, 304, 305 Brandenburg, Erich 170 Brandenburg, Ernst 171 Brandler, Heinrich 197, 210, 211 Braune, Peter 246 Braunthal, Julius 41 Brecher, Jeremy 53 Breitscheid, Rudolf 146 Brill, Hermann 161 Brinker-Gabler, Gisela 262 Bucharin, Nikolaj 263 Buck, Wilhelm 169 Buchsbaum, Ewald 148 Budich, Willi 228 Büchel, Franz 97 Burgsdorff von 176 Burckholt, Otto 182 Cammack, Paul 56 Carrière, Jean 59 Carsten, Francis L. 30, 38, 43 Casper, Cläre 190, 191 Clemenceau, Georges 36, 37, 45 Cohen-Reuß, Max 97, 173 Conert, Hansgeorg 200

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Cunow, Heinrich 290 Däumig, Ernst 76, 77, 93, 96, 98, 192, 194-196, 198, 224, 238 Dannat, KPD, Bremen 279 David, Eduard 132, 206 Delmes, Hugo 126 Deng Zhongxia 58 Depuy, Roger 305 Deutschland, Heinz 215 Dibelius, Otto 243 Diehl, Ernst 202 Dietrich, Mary 274 Dietze, Alfred 168, 179 Dittmann, Wilhelm 63, 76, 96 Dißmann, Robert 133, 142, 197, 302 Drabkin, Jakov S. 16, 68 Drahn, Ernst 68 Dressel, Guido 158 Düwell, Kurt 107 Duncker, Hermann 77, 212, 215, 218, 222, 225, 226, 228, 275 Duncker, Käte 70, 74, 75, 212, 215, 217, 218, 225, 228, 249, 275 Duncker, Karl 187 Dutschke, Oskar 187, 188 Dutt, Rajani Palme 57, 58 Eberlein, Hugo 213, 228 Ebert, Friedrich 24, 28-34, 35, 38, 62-64, 95, 96, 100-102, 140, 144, 146, 203, 206, 229, 249 Ebert, Hans Georg 57 Eckert, Paul 96, 190 Ehrler, Fritz 145 Eichhorn, Emil 65 Eildermann, Heinrich 200 Eildermann, Wilhelm 201, 204 Eisner, Freya 36 Eisner, Kurt 34, 97, 264, 266, 268, 269, 273, 280 Emmel, Leopold 133 Engel, Gerhard 93, 98, 200, 201, 275 Engelmann, Dieter 106, 238 Engels, Friedrich 22-24, 79, 80, 83, 87, 88-90, 283 Eulenberg, Franz 291 Fabian, Walter 169 Faouk-Sluglett, Marion 57

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Fellisch, Chemnitz 168 Fernbach, Wolfgang 229 Figes, Orlando 42 Fink von, Amtshauptmann 167, 176 Fisch, Jörg 54 Fischer, Edmund 182, 183 Fischer, Ruth 211 Fischer, Fritz 273 Fischer, Richard 217 Fleißner, Hermann 168, 169 Fräßdorf, USPD, Sachsen 178 Frakowiak, Johannes 14, Franke, Otto 222 Franz, Rudolf 70, 212, 219, 220 Franz, Peter 152 Fricke, Dieter 93, 158, 215 Fritzsche, Friedrich Wilhelm 233 Frölich, Paul 201 Frühwald, Wolfgang 272 Fulda, Heinrich 134 Gandhi, Mahatma 57 Gansberg, Fritz 200 Garber, Jörn 189 Gautschi, Willi 51 Geiger, Emil 72 Geithner, Otto 151 Geisler, Heiner 302 Gellert, Cornelius 139 Gentsch, Dirk H. 246 George, Jolly 47 Gerhardt, Soldatenrat, Berlin 97 Gesau, Karl-Friedrich 107 Geschwandtner, Erich 165 Geyer, Curt 163-166, 172, 173, 175, 177, 179 Geyer, Dietrich 43 Geyer, Friedrich 164-169 Gietinger, Klaus 33 Glöckner, Claus 188 Gluckstein, Donny 46 Goch, Stefan 107 Goetz, Walter, Prof. 170, 171 Gohlke, Friedrich Theodor 250

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Gohlke, Henriette 250 Gohlke, Otto 250 Gohlke-Röhl, Elisabeth 250, 259 Goldbach, Marie-Luise 230 Gorbatschow, Michail 11 Gorkij, Maxim 39 Gorlas, Johannes 106 Gottschling, Alfred 97 Gradnauer, Georg 169, 172 Gräf, Eduard 142 Gräf, Friedel 217 Gräfe, Karl-Heinz 292 Gramsci, Antonio 49, 263 Greuner, Ruth 271 Groener, Wilhelm 29, 64, 95, 99, 100, 140, 141 Groschopp, Horst 232, 236 Großmann, Stefan 273 Grotewohl, Otto 14 Grzesinski, Albert 132, 139 Gupta, Sobhanlal Datta 58 Gutsche, Willibald 215 Haase, Hugo 63, 93, 96, 134, 195, 206, 214 Habermas, Jürgen 304 Haenisch, Konrad 232, 240, 241, 243-246 Haenschel, Lotte 228 Hängekorb, Soldatenrat, Zittau 183 Hagedorn, USPD, Bremen 279 Hagener, Dirk 200 Hasenclever, Wilhelm 233 Häupel, Beate 148 Haffner, Sebastian 32 Hahn, Manfred 268 Harman, Chris 54, 224 Harms, Bernhard 213 Haren, Tobias 132 Harris, Leopold 144, 145 Harrison, James P. 58 Hartmann, Rudolf 53, 60 Haumann, Heiko 39, 43 Hauschildt, Richard 139, 141 Hautal, Günther 152 Hautmann, Hans 43

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Heckert, Fritz 98, 168, 169 Heid, Elisabeth 233 Heid, Ludger 233 Heidenreich, Frank 180 Heine, Wolfgang 124 Heinze, Rudolf 168 Henicke, Hartmut 61, 283, 286 Heldt, Max 98 Heller, Wilhelm 187, 188 Henke, Alfred 200-203 Herbst, Andreas 210 Herzfeld, Joseph 154, 215 Heß, Ulrich 11, 18, 168 Hess, Ullrich 149 Hesse, Hermann 34 Hesselbarth, Mario 61, 147, 161 Heymann, Lida Gustava 270 Hildebrand, Bodo 189 Hildemeier, Manfred 43 Hilferding, Rudolf 22, 23, 172 Hiller, Kurt 265, 270, 271 Himmelmann, Ralf 104 Hindenburg, Paul v. Beneckendorf 29, 99, 140, 193, 299 Hinton, James 46 Hitler, Adolf 13, 25, 37, 302 Ho Chi Minh 36 Hoch, Gustav 133 Hobsbawm, Eric 42, 60, 285 Hoffmann, Adolph 232-261 Hoffrogge, Ralf 189, 221, 222, 291 Hofmiller, Josef 266 Holtz, Bärbel 93, 224, 232 Hoelz, Max 272 Höpel, Thomas 305 Höpken, Jürgen 131 Holze, Reiner 42 Holzmeier, Wilhelm 200 Horne, John N. 44 Hottmann, Guenter 189 Huch, Ricarda 267, 281 Huber, Rudolf Günter 132 Huber, Ernst Rudolf 240

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Huber, Wolfgang 240 Hue, Otto 118 Humbert-Droz, Jules 214, 286 Ihrer, Emma 250 Jacob, Mathilde 217, 219, 228 Jacobsohn, Siegfried 271 Jaurès, Jean 286, 287 Jenko, Jürgen 107, 109, 120 Jochmann, August 182 Joffe, Adolph 70, 71, 74, 75, 77, 226 Jogiches, Leo 74, 93, 192, 218-222, 225, 228, 245, 275 John, Jürgen 11, 16, 147, 149 John, Matthias 246 Juchacz, Marie 249-261 Jülich, Ernst 96 Jünger, Ernst 266 Kaiser, Jochen Christop 236 Kaiser Karl I. 43 Kaliski, Julius 97 Kant, Immanuel 264 Kantorowicz, Ludwig 248 Kapp, Wolfgang 121, 124, 298 Kardinal Hartmann 243 Karl Ludwig, Großherzog 132 Karlen, Stefan 59, Kaul, Georg 135, 143 Kautsky, Karl 86, 89, 115, 154, 172, 214, 216, 290, 291, 293 Keller, Elke 237 Kellermann, Bernhard 34 Kellner, Michael 161 Kendall, Walter 46 Kern, H. (AEG-Arbeiter) 187 Kerr, Alfred 270 Kessler, Harry Graf 94 Keßler, Mario 16 Khan, Amanullah 58 Khan, Habibullah, Emir 58 Kirchhoff, Minister, Sachsen 178 Kirschmann, Emil 250 Kittel, Rudolf 171, 178 Klein, Fritz 237, 286 Klein, Thomas 138

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Kluge, Ulrich 11, 15 Knief, Johann Heinrich 200-209, 275, 276 Koch-Baumgarten, Sigrid 198 Koch, Erich, OB in Kassel 133, 140 Koch (Reichsinnenminister 1920) 185 Kocka, Jürgen 22 Köbis, Albin 29 Koenen, Wilhelm 196 Kohl, Helmut 302, 307 Kolb, Eberhard 12, 15, 106, 140, 159, Kolb, Johann 168 Köllmann, Wolfgang 104, 107 Korolenko, Wladimir 39 Kornfeld, Lotte 202, 204 König, Max 98 Kossok, Manfred 17, 18, Kötzschke, Rudolf 37 Kraus, Karl 271 Krause, Hartfrid 197 Krayer, Johannes 97 Kretzschmar, Hellmut 37 Kriegel, Annie 44 Krikler, Jeremy 54 Kruppa, Nadine 104 Kuckuk, Karin 202 Kuckuk, Peter 43, 202, 204 Kuda, Rudolf 193 Kuczynski, Jürgen 175 Kühn, Innenminister 185 Külz, Wilhelm Dr. 182 Küttler, Wolfgang 18, 232 Kulke Hermann 57 Lademacher, Horst 50, 214 Landauer, Gustav 263, 270, 271, 280 Landsberg, Otto 31, 63, 96 Lange, Annemarie 212, 225 Lange, Jürgen 106, 127 Lange, Karl 182 Lange, Paul 222, 228 Lange, Werner 97 Larkin, James 48 Laschitza, Annelies 216, 237

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Lasker, Eduard 157 Laufenberg, Heinrich 71 Ledebour, Georg 76, 77, 93, 96, 192, 206, 214-216, 224, 237, 239, 277 Legien, Carl 99 Lehnert, Detlef 30 Leipart, Theodor 81-86 Lemke, Elsaß-Lothringen 98 Lenin, W. I. 21, 60, 71, 75, 80, 83, 88, 89, 198, 221, 228, 230, 263, 288, 291, 293 Leonhard, Susanne 68, 71 Lequis, General 29 Lerner, Franz 131 Levi, Paul 71, 72, 74, 75, 77, 133, 134, 223, 225, 227- 229, 276 Levine, Eugen 160 Lieberasch, Arthur 176 Lieberknecht, Christine 147 Liebmann, Hermann 164, 166, 168, 175-179 Liebknecht, Karl 24, 25, 33, 34, 63, 65, 69, 74, 77, 78, 93, 99, 100, 101, 143, 146, 155, 156, 175, 182, 187- 189, 192, 193, 195, 214, 216, 217, 220, 222- 225, 227, 228, 233, 235-240, 245, 248, 254, 263, 275-277, 286, 299, 300 Liebknecht, Sophie 222 Lieby, Eugen 202 Limbertz, Heinrich 112 Limmer, Hans 192 Lindau, Rudolf 215 Lipinski, Richard 164-166, 168, 169, 174, 218 Lloyd, George 41, 46, 47 Löffler, Generalmajor 178 Lorenz, Richard 43, 58 Luban, Ottokar 68, 219-222, 238, 277 Lucas, Erhard 106, 109, 201 Ludendorff, Erich 193, 299 Ludwig, Ernst 135 Lüpke, Lennart 104 Lunatscharski, Anatolij 263 Lüttwitz, Walther, Freiherr von 121, 124, 298 Lützenkirchen, Harald 270 Luxemburg, Rosa 25, 32-34, 65, 67, 69, 74, 77, 80, 83, 87-91,

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93, 100, 101, 134, 143, 144, 146, 155, 156, 175, 188, 189, 211-215, 217, 221-223, 227- 229, 237, 245, 254, 263, 275-278, 288, 291, 293, 294, 299, 300, 304 MacIntyre, Stuart 54 Mai, Gunther 140, 147 Maercker, Georg 141, 156, 177, 179 Malanowski, Wolfgang 273 Mann, Heinrich 264, 267-270, 272 Mann, Thomas 264, 265 Mao Tse-tung 36 Marchart, Oliver 21 Marchlewski (Karski), Julian 212 Markov, Walter 17, 18 Martin, Fritz 302 Martiny, Martin 107 Marx, Karl 16, 22, 23, 80, 81, 83, 87, 89, 90, 276, 283 Materna, Ingo 88, 92, 93, 194, 224 Matthias, Erich 100 Matthias, Leo 270 Matthiesen, Helge 148, 157 Maxner, Stephen 36 Mayer, Hans 18 Maynz, Max 97 Meaker, Gerald 51 Meerfeld, Johannes 236 Mehring, Franz 74, 75, 88, 212, 213, 217, 218, 220, 222, 228, 263, 275-277 Meißner, Werner 58 Melzer (USPD, Chemnitz) 168 Merges, August 74 Merges, Walter 74 Metzner, Theodor 233 Meyer, Ernst, Dr. 70, 71, 74, 75, 210-231 Meyer-Leviné, Rosa 210, 214 Middell, Eike 34 Middel, Mattias 305 Miljutin, Wladimir 75 Miller, Susanne 24, 68, 100, 194, 214, 219, 249, 252, 280 Mitzenheim, Paul 148 Moczarski, Norbert 159 Möller, Karl 142

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Molkenbuhr, Brutus 96 Mommsen, Wolfgang J. 104, 106, 107 Montant, Jean-Claude 76 Morgan, David W. 191, 192, 195 Moring, Karl Ernst 200 Most, Johann 235 Mühsam, Erich 262, 263, 271, 279 Müller, General 184 Müller, Andreas 107 Müller, Dirk H. 195 Müller, Eckhard 232, 288 Müller, Hermann 97, 217, 286 Müller, Horst 148 Müller, Richard 63, 96, 189-199, 223, 224, 291 Müller, Robert 270 Mussolini, Benito 49, 50, 300 Mylau, Otto 179 Napoleon I. Bonaparte 263, 268 Nave-Herz, Rosemarie 258 Naumann, Horst 192, 238 Neef, Helmut 101 Negt, Oskar 80 Neubert, Erhart 304 Neugebauer, Karl-Volker 29 Neuendorf, Paul 96 Neuring, MSPD, Dresden 168, 169, 178 Neuschl, Sylvia 70 Nicholson, Philip Yale 41, 53 Nitzsche, Gerhard 223 Noske, Gustav 65, 101, 113, 124, 144, 145, 155, 156, 175, 179, 180 Obuch, Gerhard 245 O’Conner, Emmet 48 Oehme, Walter 38, 39 Oertzen, Peter von 12, 15, 79, 81, 85, 86, 105, 143, 189 Oeser, Rudolf 124 Opel, Fritz 193 Paasche, Hans 97 Pabst, Waldemar 65 Paeplow, Fritz 85 Pákh, Judith 131, 142, 301, 302 Pannekoek, Anton 201

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Paulmann, Christian 200 Pasternak, Boris 39 Patze, Hans 148 Paustovskij, Konstantin 39 Pech, Willibald 182 Peukert, Detlev J. K. 106, 121 Pieck, Wilhelm 76, 77, 200, 210-213, 220, 222-224, 228, 277 Piscator, Erwin 34 Plener, Ulla 79, 83, 86, 87, 213 Pöhland, Walter 148 Pollack, Detlev 304 Post, Bernhard 147 Potthoff, Heinrich 24, 100 Prager, Eugen 151 Puchta, Gerhard 163 Puhle, Hans-Jürgen 56 Pulewka, Lotte 228 Putlitz, Wolfgang zu 29, 38, 39 Quack, Sibylle 217 Radczun, Günter 216 Radek, Karl 201, 214, 230, 277 Rantzau, Graf, Staatssekretär 102 Raschke, Helga 151 Rathenau, Walter 290 Ratz, Ursula 237 Rauch, Emil 182, 184 Recknagel, Rolf 280 Reich, Konrad 34 Reichpietsch, Max 29 Reinhard, Wilhelm 33 Renner, Rudolf 185 Reisinger, Silvio 163 Retzlaw, Karl 216 Reulecke, Jürgen 107 Ribbe, Wolfgang 92 Richter, Ludwig 243 Riechers, Christian 48 Rieß von Scheurnschloß 142 Ritter, Gerhard A. 100, 280 Röhm, Ernst 264 Rörig, Arnold 117 Roesler, Jörg 306

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Rogg, Ulrich 73, 74 Rothe, Dr., Leipzig 167, 168, 179 Rosenberg, Arthur 13, 17, 27, 28, 37 Rosmer, Alfred 44 Rothermund, Dietmar 57 Roy, Manabendra Nath 58 Ruben, MSPD, Ruhrgebiet 117 Rubiner, Ludwig 270-272 Rubinstein, Siegmund 267 Rudolph, Karsten 149, 163 Rück, Fritz 72, 74 Rüdiger, Bernd 172 Rühle, Otto 168, 169, 182, 202 Ruge, Wolfgang 11 Rudloff, Michael 163 Rürup, Reinhard 12, 15, 19, 39, 105, 106, 305 Rumschöttel, General 144 Rusch, Oskar 97 Ryssel, Karl 166, 167 Salvadó, Francesco J. Romero 51 Sassoon, Donald 41 Schaaf, Peter 302 Schäfer, Heinrich 98 Schäfer, Michael 171 Scharrelmann, Wilhelm 200 Scharrer, Manfred 89, 90 Scheel, Heinrich 94 Scheib, Johann 166 Schembor, Otto 182, 183, 184 Scheidemann, Philipp 31, 32, 63, 95, 96, 102, 113, 132, 254 Scherer, Peter 13, 279, 296, 302 Schiller, Friedrich 278 Schlesinger, Walter 148 Scheüch, Heinrich 206 Schmid, Carl Christian 146 Schmidt, Ernst-Heinrich 21, 95 Schmidt, Michael 246 Schmitt, Hanno 189 Schneider, Dieter 193 Schneider, Michael 86 Schnellbacher, Friedrich 133, 134, 146 Schnettler, Heinrich 182

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Schöfer, Sophie 259 Schöning, Arbeiterrat, Leipzig 179 Schomerus, Dr. 154 Schreckenbach, Hans-Joachim 93 Schreiner, Ottmar 302 Schröder, Gerhard 302 Schroers, Arbeiterrat, Leipzig 179 Schröter, Klaus 265, 267 Schüddekopf, Otto-Ernst 33 Schuhmann, Klaus 272 Schulz, Oberst 177 Schulz, Eberhard 154 Schulz, Günther 58 Schulz, Heinrich 200, 246, 249 Schulz, Karl 74, 212 Schulze, Gerhard 100, 148 Schultze, USPD, Dresden 172 Schwarz, Arbeitsminister 168, 169, 176, 177 Schwarz, Josef 148 Schwarz, Albert 169, Schwarzbach, Helmut 181 Schwarzwälder, Herbert 200 Schwind, Wilhelm 146 Sachse, Mirjam 249 Salomon. David 263, 264 Satre, Jean Paul 263 Seger, Friedrich 166-168, 170, 175-177 Sender, Toni (Sidonie) 133, 142, 262, 281, 282 Serge, Victor 51 Severing, Carl 114, 125, 126, 145 Silone, Ignazio 48 Sinowjew, Grigorij 263 Sinzheimer, Hugo 142, 144 Sluglett, Peter 57 Solf, Wilhelm 206 Sonnemann, Emil 200 Spalek, John M. 272 Spethmann, Hans 105 Spriano, Paolo 48 Stalin, Josef 89, 295 Stöcker, Helene 270 Stegmann, Dirk 43

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Stein, Peter 268 Steinbring, Hilde 187, 188 Stern, Leo 69 Stinnes, Hugo 99 Strobach, Soldatenrat, Zittau 182 Struck, Wolf-Heino 132 Stürmer, Oskar 182 Stuãka, Pjotr 74 Sun Yat-sen 59 Suttner, Bertha von 270 Tampke, Jürgen 106 Tariq Ali 57 Tarnow, Fritz 83, 84 Taska, Angelo 48 Taylor, Lewis 55 Tedesco, Claus 106, 109 Tenfelde, Klaus 104, 107, 109 Thälmann, Ernst 211 Thalheimer, August 228 Thalheimer, Berta 215 Thiem, Sebastian 168 Tillys, Charles 21 Thöne, Georg 132, 139 Toller, Ernst 34, 262, 265, 271-274 Tosstorff, Reiner 41, 198, 298 Traven, B. (Ret Marut) 280 Treibig, Wilhelm 182 Trotzki, Leo 263, 289 Tucholsky, Kurt 304 Twellmann, Margit 270 Tych, Felix 222 Ueberhorst, Horst 128 Uhlig, Otto 169 Ullrich, Volker 70, 74, 77 Ulrich, Carl 132, 134-137 Umbreit, Paul 81 Unger, Karl 187 Unger, Kurt 188 Unruh, Peter (d.i. Johann Knief) 204 Vandervelde, Emile 286 Vatlin, Alexander 71 Vetterlein, Emil 155

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Vinschen, Klaus-Dieter 233 Virchow, Rudolf 243 Vögler, Albert 117 Vogel, Jesco 163 Vogtherr, Ewald 238 Voßke, Heinz 223 Wachenheim, Hedwig 250 Wagemann, Prof. 211 Wagner, Georg 146 Wahl, Volker 147 Walcher, Jacob 72-74, 222 Waldmann, Peter 55 Walther, Henri 106 Walter, Franz 150 Walz, Eduard 94, 97 Watter, Oskar von 112, 124-127 Weber, Jakob 187, 188 Weber, Heinrich 188 Weber, Hermann 210 Wegmann, Paul 96 Wehler, Hans-Ulrich 22 Wehner, Günter 187 Weiler, Dr., Berlin-Charlottenburg 202 Weißbecker, Manfred 148, 207, 208 Welk, Ehm 34 Wende, Peter 38 Wentzel, Lothar 192 Wette, Wolfram 101 Wickert, Christl 260 Wilde, Florian 210 Wilhelm II., Kaiser 43 Williams, Gwyn A. 48 Wilson, Woodrow 102, 254, 259, 273 Winkler, Erwin 189 Winkler, Heinrich August 11, 12, 15, 30, 107, 147, 293 Wirsching, Andreas 106, 111 Wissel, Rudolf 115, 116 Witzmann, Georg 147, 148 Wörfel, Erhard 148 Wohl, Robert 44 Wohlgemuth, Heinz 68, 215, 217 Wolffheim, Fritz 71-74

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Wolfrun, Andreas 149 Wulf, Peter 106 Zaghlul, Saad 57 Zahn-Harnack, Agnes 258 Zetkin, Clara 74, 88, 146, 213, 222, 234, 249, 250, 252, 253, 263, 275, 278 Zickler, Artur 33 Zietz, Luise 249, 250, 252, 254 Zilch, Reinhold 232 Zimmermann, Rüdiger 217 Zinn, Howard 41

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Autoren

Marcel Bois – Doktorand, Universität Hamburg Werner Bramke – Prof. Dr., Leipzig Wolfgang Beutin – Dr. habil, Universität Bremen Gerhard Engel – Prof. Dr., Am Mellensee/Brandenburg Hartmut Henicke – Dr., Berlin Mario Hesselbarth – Maschinenbauingenieur, Studierender an der Fernuniversität Hagen, Jena Ralf Hoffrogge – MA, Berlin Nadine Kruppa – studentische Mitarbeiterin, Ruhruniversität Bochum Ottokar Luban – Berlin Lennart Lüpke – wissenschaftliche Hilfskraft, Ruhruniversität Bochum Ingo Materna – Prof. Dr., Berlin Eckhard Müller – Dr., Berlin Judith Pákh – Dr., Frankfurt a. Main Ulla Plener – Dr. sc., Mitglied der Leibniz-Sozietät, Berlin Silvio Reisinger - MA, Universität Leipzig Mirjam Sachse – Doktorandin, Universität Kassel Peter Scherer – Dr., Frankfurt a. Main Helmut Schwarzbach – Prof. Dr., Zittau Reiner Tosstorff – Dr. habil., Privatdozent, Universität Mainz Günter Wehner – Dr., Berlin Florian Wilde – Promotionsstipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Hamburg

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