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Bernd Braun

Von Mutter Bertha bis – Die Sozialdemokratie Stiftung als Partei der Bildung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte

ISSN --- Stiftung ISBN ---- Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte kl_schriften_35_inhalt_final_Layout 1 24.04.13 12:49 Seite 1

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Bernd Braun

Von Mutter Bertha bis Rosa Luxemburg –

Die Sozialdemokratie als Partei der Bildung

Heidelberg  kl_schriften_35_inhalt_final_Layout 1 24.04.13 12:49 Seite 4

DER AUTOR

Braun, Bernd geb. 1963; Dr. phil.; 1990 bis 1999 Museumspädagoge, seither Wissenschaftlicher Mitar- beiter der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte in Heidelberg, Lehrbe- auftragter am Historischen Seminar der Universität Heidelberg.

Bildnachweis Bild Umschlag links und S. 5 (Archiv der Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Heidelberg), Bild Umschlag rechts (Bundesarchiv Koblenz, Plakat 102-069-055), Bild S. 6 (Internationales Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam), Bild S. 10 (Archiv der Friedrich-Ebert-Gedenk- stätte, Heidelberg), Bild S. 14 (Sammlung Dr. Bernd Braun), Bilder S. 16 u. 17 (Archiv der Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Heidelberg), Bild S. 20 (Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn), Bild S. 21 (Staats- und Universitätsbibliothek Ham- burg, LN : 181 : 114), Bild S. 24 (Internationales Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam), Bild S. 25 (Archiv der Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Heidelberg), Bild S. 28 (Ullstein-Bild, Berlin Nr. 00188422), Bild S. 29 (Ullstein-Bild, Berlin Nr. 01063811), Bild S. 32 (Archiv der Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Heidelberg), Bild S. 35 (Sammlung Dr. Bernd Braun), Bild S. 39 (Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn), Bild S. 40 (Archiv der Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Heidelberg), Bilder S. 43, 44 und 45 (Archiv der Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Heidelberg), Bild S. 49 (Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn), Bilder S. 50 u. 51 (Internationales Institut für Sozial- geschichte, Amsterdam), Bild S. 54 (Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert- Stiftung, Bonn), Bild S. 58 (Archiv der Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Heidelberg), Bild S. 60 (Sammlung Dr. Bernd Braun), Bild S. 62 (Wilhelm und Helene Kaisen-Stiftung, Bremen), Bild S. 64 (Archiv der Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Heidelberg).

Braun, Bernd Von Mutter Bertha bis Rosa Luxemburg – Die Sozialdemokratie als Partei der Bildung (Kleine Schriften / Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte: Nr. 35)

©2013 Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte Untere Str. 27 D – 69117 Heidelberg Tel.: (06221) 910 70 Fax: (06221)910710 Internet: http://www.ebert-gedenkstaette.de E-Mail: [email protected]

Redaktion: Bernd Braun Realisation: gschwend_grafik, Heidelberg Druck: Baier Digitaldruck GmbH, Heidelberg Logo: © Hühnlein & Hühnlein, Eching am Ammersee

Die Stiftung wird gefördert aus Mitteln des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

ISNN 3-928880-45-4 ISBN 978-3-928880-45-9 kl_schriften_35_inhalt_final_Layout 1 24.04.13 12:49 Seite 5

„Mein Lieb“ nach einem Gemälde des italienischen Malers Arnaldo Ferraguti (1862–1925), abgedruckt in der „Neuen Welt“ Nr. 24 des Jahrgangs 1896. Der auf dem Umschlag gewählte Ausschnitt soll die Romanfigur der „Mutter Bertha“ visualisieren. kl_schriften_35_inhalt_final_Layout 1 24.04.13 12:49 Seite 6

Porträt von Rosa Luxemburg, das die Grundlage für die auf dem Umschlag verwendete Darstellung bildet.

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Von Mutter Bertha bis Rosa Luxemburg –

Die Sozialdemokratie als Partei der Bildung

Im Jahr 2013 jährt sich zum 150. Mal die Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) und damit das kontinuierliche Bestehen der deutschen Sozialdemokratie als Partei.1 Natürlich hat das Thema Bildung in eineinhalb Jahrhunderten sozialdemokrati- scher Parteigeschichte einen so breiten Raum eingenommen, dass es im Rahmen eines in Schriftform gegossenen Vortrages nicht einmal in Umrissen angedeutet werden könnte.2 Dies gilt auch, wenn, wie im vorliegenden Fall, die Sozialdemokratie des Kaiserreiches im Zentrum der Betrachtungen steht. Konzentration tut Not. Deshalb sollen nach einigen einleitenden Bemerkungen über den generellen Stellenwert der Bildung innerhalb der sozialdemokratischen Arbei- terbewegung bis 1918 (mit Auswirkungen bis 1933) zwei sich er- gänzende Teilbereiche dieser Thematik näher beleuchtet werden: Der erste Aspekt beschäftigt sich mit der Bildung der breiten Massen und damit der Grundvoraussetzung von Massenrekrutierung in Gestalt von Wählern respektive Mitgliedern, der zweite Aspekt mit der Elitenbildung und damit der Rekrutierung eines adäquaten Partei- führernachwuchses; der erste Punkt behandelt die sogenannte

1 Vgl. Anja Kruke/Meik Woyke (Hrsg.), Deutsche Sozialdemokratie in Bewegung 1848 – 1863 – 2013, Bonn 2012. Der offizielle Jubiläumsband der Friedrich-Ebert-Stiftung re- lativiert allerdings schon im Titel durch die gleichberechtigte Nennung des Jahres 1848 die Bedeutung der Gründung des ADAV für die eigene Parteigeschichte. 2 Es handelt sich bei diesem Beitrag um die erweiterte Fassung eines Vortrages, den ich am 30. November 2011 in der Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte in Hei- delberg gehalten habe.

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Naturalismus-Debatte, die den reichsweiten SPD-Parteitag 1896 in Gotha beherrschte, der zweite Punkt die 1906 ins Leben gerufene Parteihochschule der SPD mit Sitz in Berlin.

I.

Im Jahr 1864 schrieb der Hamburger Sozialdemokrat Jakob Au- dorf (1834–1898) ein Gedicht, das sich, gesungen auf die Melodie der Marseillaise, zum populärsten deutschen Arbeiterlied des 19. Jahrhunderts entwickeln sollte.3 In dessen zweiter Strophe wird die Bildung des Volkes als Grundvoraussetzung für den Durchbruch des Sozialismus bezeichnet:

„Der Feind, den wir am tiefsten hassen, Der uns umlagert schwarz und dicht, Das ist der Unverstand der Massen, Den nur des Geistes Schwert durchbricht. Ist erst dies Bollwerk überstiegen, Wer will uns dann noch widersteh’n? Dann werden bald auf allen Höh’n Der wahren Freiheit Banner fliegen!“

Der Refrain stellt die Bedeutung des am 31. August 1864 bei einem Duell ums Leben gekommenen Ferdinand Lassalle als Ban- nerträger der Sozialdemokratie heraus:

3 Der gesamte Text der „Arbeiter-Marseillaise“ ist etwa abgedruckt bei Konrad Beiß- wanger, Stimmen der Freiheit. Blütenlese der besten Schöpfungen unserer Arbeiter- und Volksdichter, Nürnberg 41914, S. 237f.; vgl. zur Bedeutung der Arbeiterlieder all- gemein: Bettina Hitzer, Schlüssel zweier Welten. Politisches Lied und Gedicht von Ar- beitern und Bürgern 1848–1875, Bonn 2001.

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„Nicht zählen wir den Feind, Nicht die Gefahren all’: Der kühnen Bahn nur folgen wir, Die uns geführt Lassalle!“

Wie es der Liedtext der „Arbeiter-Marseillaise“ beschreibt, hatte Ferdinand Lassalle tatsächlich dem von ihm am 23. Mai 1863 ge- gründeten ADAV die Richtung vorgegeben, dass die Emanzipation des vierten Standes bzw. der Aufstieg der Arbeiterbewegung nur durch „des Geistes Schwert“, nur über Bildung möglich sei. Als das Hauptinstrument für die Massenaufklärung sah Lassalle die Presse an, obwohl er – und dies mag zunächst als paradox erscheinen – die meinungsführende Presse seiner Zeit als das Haupthindernis für mas- senwirksame Bildung betrachtete. Als den Hauptgrund für die nach seiner Ansicht dekadente Entwicklung der Presse im 19. Jahrhun- dert hob Lassalle ihre Degradierung zu einem reinen Wirtschafts- faktor hervor, der sich am Markt, vor allem am Anzeigenmarkt behaupten müsse. Die einstmals nur der Aufklärung verpflichteten Journalisten hätten ihre Arbeit völlig dem Marktinteresse unterge- ordnet. In seiner „Rheinischen Rede“,4 die Lassalle am 20., 27. und 28. September 1863 in Barmen, Solingen und Düsseldorf gehalten hatte, fasste er diese Gedanken prägnant zusammen und trieb sie polemisch auf die Spitze: „Wenn Tausende von Zeitungsschreibern, dieser heutigen Leh- rer des Volkes, mit hunderttausend Stimmen täglich ihre stupide Unwissenheit, ihre Gewissenlosigkeit, ihren Eunuchenhaß gegen alles Wahre und Große in Politik, Kunst und Wissenschaft dem

4 Die „Rheinische Rede“ ist unter ihrem ebenfalls geläufigen, aber weniger prägnanten Titel „Die Feste, die Presse und der Frankfurter Abgeordnetentag“ abgedruckt in: Fer- dinand Lassalle, Gesammelte Reden und Schriften, hrsg. und eingel. von Eduard Bern- stein, Bd. 3, Berlin 1919, S. 339–391, Zitate S. 358f. und S. 365f.

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.Der Hamburger Redakteur und Dichter Jakob Audorf verfasste 1864 „jenes unsterb- liche Lied, das unter dem Namen Deutsche ,Arbeiter-Marseillaise’ Gemeingut des arbeitenden Volkes deutscher Zunge geworden ist“. (Konrad Beißwanger, Stimmen der Freiheit [wie Anm. 3], S. 233).

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Volke einhauchen, dem Volke, das gläubig und vertrauend nach die- sem Gifte greift, weil es geistige Stärkung aus demselben zu schöp- fen glaubt, nun, so muß dieser Volksgeist zugrunde gehen und wäre er noch dreimal so herrlich!“ Lassalle fährt mit einem Satz fort, der so manchem deutschnationalen Dampfplauderer in der schwelen- den Euro-Krise in den Ohren klingen müsste: „Nicht das begabte- ste Volk der Welt, nicht die Griechen, hätten eine solche Presse überdauert!“ Die Ursache für diesen beklagenswerten Zustand der Zeitungslandschaft war nach Lassalle darauf zurückzuführen, „daß sich alle tüchtigen Elemente, die sich früher an der Presse beteiligt haben, allmählich von derselben bis auf sehr vereinzelte Ausnahmen zurückgezogen haben, und die Presse so zu einem Sammelplatz aller Mittelmäßigkeiten, aller ruinierten Existenzen, aller Arbeitsscheuen und Nichtswisser geworden ist, die zu keiner reellen Arbeit tüchtig, in der Presse immer noch eine mühelosere und auskömmlichere Existenz finden, als irgend sonst. Das sind die modernen Lands- knechte von der Feder, das geistige Proletariat, das stehende Heer der Zeitungsschreiber, das öffentliche Meinung macht und dem Volke tiefere Wunden geschlagen hat als das stehende Heer der Soldaten; denn dieses hält doch nur durch äußere Gewalt das Volk zu Boden, jenes bringt ihm die innere Fäulnis, vergiftet ihm Blut und Säfte!“ Soweit die Analyse Ferdinand Lassalles über den Zustand der Presse um die Mitte des 19. Jahrhunderts, wobei sich einige Ele- mente seiner Kritik ohne Weiteres auf die Verflachung und Boule- vardisierung der gedruckten wie der elektronischen und digitalen Medienlandschaft unserer Tage übertragen ließen. Die Rettung versprach sich der bedeutendste Agitator, den die Sozialdemokratie bis heute in ihrer Geschichte hervorgebracht hat, aus dem Verbot von Anzeigen in der Presse, was als Folge den Zei- tungsmarkt für Spekulanten uninteressant gemacht hätte und die Konjunkturjournalisten allmählich wieder durch solche Zeitungs-

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schreiber ersetzt hätte, die sich nur vom hehren Ideal der Aufklä- rung hätten leiten lassen. Man kann also mit einigem Fug und Recht behaupten, dass Ferdinand Lassalle auch der geistige Gründervater des späteren sozialdemokratischen Zeitungsimperiums des Kaiser- reichs gewesen ist, das sich bis in die Weimarer Republik hinüber- retten konnte und das 1933 von den Nationalsozialisten aus- bzw. gleichgeschaltet wurde.5 Seine nach 1945 wiederbegründeten Reste wurden dann durch Missmanagement in den 1950er und 1960er Jahren endgültig in den Ruin getrieben.6 Allerdings hatten selbst die Zeitungen des ADAV schon wenige Jahre nach dem Tod Lassalles damit begonnen Annoncen abzudrucken, weil sich mit Idealismus allein keine Zeitung finanzieren ließ. Kurz vor seinem Tod hatte Fer- dinand Lassalle am 22. Mai 1864 in der heute zu Wuppertal gehö- renden Kleinstadt Ronsdorf seine letzte große Rede gehalten und darin unter anderem die bildungspolitischen Errungenschaften des ADAV hervorgehoben: „Ein anderer höchst wesentlicher Erfolg unserer Tätigkeit ist die Bildung des Volkes. Unsere Gegner sprechen von Bildung, ohne sie zu verbreiten; wir verbreiten sie, ohne davon zu sprechen! Von wel- chem anderen Verein, kann ich wohl fragen, ist binnen einem Jahre eine solche Reihe von Schriften ausgegangen, die so geeignet waren, wissenschaftliche Einsicht und Bildung unter dem Volke zu ver-

5 Vgl. Gerhard Eisfeld/Kurt Koscyk, Die Presse der deutschen Sozialdemokratie. Eine Bibliographie, Bonn 21980; Werner Saerbeck, Die Presse der deutschen Sozialdemo- kratie unter dem Sozialistengesetz, Pfaffenweiler 1986; Kurt Koscyk, Zwischen Kaiser- reich und Diktatur. Die sozialdemokratische Presse von 1914 bis 1933, Heidelberg 1958. 6 Vgl. Klaus Lesche, Das programmierte Ende. Die SPD-nahe Lizenz-Tagespresse 1945 bis 1958 und ihre Verflechtungen mit der Partei, München 1988.

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breiten und die so tief in die Massen eingedrungen sind?“7 Dieses Zitat aus seiner „Ronsdorfer Rede“ ist allerdings in erster Linie ein Zeugnis für das ungeheuere Sendungsbewusstsein von Ferdinand Lassalle, denn von einer Massenwirksamkeit sozialdemokratischer Aufklärung konnte 1864 bei gerade einmal 4600 eingeschriebenen ADAV-Mitgliedern natürlich noch keine Rede sein. Der Staffelstab der Volksaufklärung wurde nach dem Tod Las- salles an Wilhelm Liebknecht (1826–1900) weitergereicht.8 Auch Liebknecht hatte 1872 mit einer Rede, nämlich derjenigen auf dem Stiftungsfest des Dresdener Arbeiterbildungsvereins (die er gleich- lautend auch in Leipzig hielt), bildungspolitische Pflöcke einge- schlagen. Dieser regelmäßig neu aufgelegte Vortrag, der den pro- grammatischen Titel „Wissen ist Macht – Macht ist Wissen“ trug, ist das zentrale Dokument, gewissermaßen die Magna Charta sozialde- mokratischer Bildungspolitik bis zum Ende der Weimarer Republik. Nicht nur, dass der Titel dieses Vortrages im Laufe der Zeit sprich- wörtlichen Charakter angenommen hat, der darin enthaltene Anspruch Wilhelm Liebknechts, dass die Sozialdemokratie „im emi- nentesten Sinne des Worts die Partei der Bildung“ sei,9 näherte sich der Wirklichkeit in den folgenden Jahrzehnten immer weiter an. Die- ser Bildungsfeldzug umfasste die Einrichtung von Agitatorenschulen, Leihbibliotheken und lokalen Bildungsschulen, die Gründung partei-

7 Die „Ronsdorfer Rede“ ist abgedruckt in: Ferdinand Lassalle, Gesammelte Reden und Schriften, hrsg. und eingel. von Eduard Bernstein, Bd. 4, Berlin 1919, S. 185–229, Zitat S. 224. 8 Vgl. Werner Wendorff, Schule und Bildung in der Politik von Wilhelm Liebknecht, Berlin 1978. 9 Wilhelm Liebknecht, Wissen ist Macht – Macht ist Wissen, Neuauflage Zürich 1888, S. 42.

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Ferdinand Lassalle vereint mit Wilhelm Liebknecht auf einer Darstellung aus einem am Vorabend des Ersten Weltkrieges erschienenen Konversationslexikon.

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eigener Zeitungen und Zeitschriften, die Edition wissenschaftlicher Schriften zu erschwinglichen Preisen in der Reihe der „Volksbiblio- thek“, die Ermöglichung günstigen Theaterbesuchs durch die Eta- blierung der „Freien Volksbühne“ bis hin zur Eröffnung der Arbeiter-Bildungsschule in Berlin 1891. Wilhelm Liebknecht selbst hatte etwa durch das von ihm 1874 erstmals herausgegebene „Volks- Fremdwörterbuch“ ein wichtiges Werkzeug für die Erschließung des breit gefächerten Schrifttums der Arbeiterbewegung geliefert. Es spricht für die Qualität wie die Popularität dieses Wörterbuches, das es trotz zweier Weltkriege und mehrerer Systemwechsel in Deutsch- land in überarbeiteter Form bis in die 1950er Jahre hinein immer wieder neu aufgelegt wurde. Zu den eben genannten vielfältigen Bildungsbestrebungen trat ein in seiner kulturellen Tiefe und Vielfalt bestechendes Vortrags- wesen, das den heutigen Zeitgenossen nur noch in Erstaunen ver- setzen kann. So hielt zum Beispiel Heinrich Schulz (1872–1932),10 der profilierteste Bildungspolitiker der SPD nach Wilhelm Lieb- knecht, am 18. Oktober 1896 einen Vortrag in den Arminhallen in der Kommandantenstraße in Berlin-Kreuzberg mit dem Titel „Pla- tens Bedeutung für die deutsche Literatur“. Anlass für diesen von der Arbeiter-Bildungsschule Berlin an einem Sonntagabend veran- stalteten Vortrag war der 100. Geburtstag des Lyrikers August von Platen (1796–1835). Das SPD-Zentralorgan „Vorwärts“ spricht drei Tage später in seiner Berichterstattung von einer „überaus zahlreich besuchten Versammlung“ – leider nennt der kurze Artikel die ex-

10 Vgl. Hinrich Wulff, Heinrich Schulz 1872–1932. Ein Leben im Spannungsfeld zwi- schen Pädagogik und Politik, in: „Bremisches Jahrbuch“ 48 (1962), S. 319–374; Frank Neumann, Heinrich Schulz und die sozialdemokratische Bildungspolitik im wilhelmi- nischen Deutschland 1893–1906, Marburg 1979.

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Umschlag des „Volks-Fremdwörterbuches“ von Wilhelm Liebknecht, erschienen in der achten Auflage 1907.

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Die Karikatur „Der Unterschied“ aus dem „Vorwärts“ vom 2. Juli 1932 stellt die Bedeutung des Schlagworts „Wissen ist Macht“ für die Sozialdemokratie heraus.

Anzeige aus dem „Vorwärts“ mit der Ankündigung des Platen-Vortrages von Heinrich Schulz am 18. Oktober 1896.

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akte Zahl der Teilnehmer nicht –, in deren Verlauf Heinrich Schulz auch einige politische Gedichte Platens (der unter anderem den Freiheitskampf der Griechen gegen das Osmanische Reich und den- jenigen der Polen gegen das Russische Reich thematisiert hatte) de- klamiert habe.11 Welcher sozialdemokratische Bildungspolitiker unserer Tage wäre in der Lage, über August von Platen zu sprechen?

II.

Wenige Tage vor dem Vortrag über August von Platen, am 12. und 13. Oktober 1896, hatte die Literatur im Zentrum einer Debatte auf dem reichsweiten Parteitag der SPD in Gotha gestanden, allerdings nicht die Lyrik des Vormärz, sondern die damals aktuelle literarische Strö- mung des Naturalismus.12 Gegenstand der Kontroverse war die Unterhaltungsbeilage „Die Neue Welt“, die nach dem Ende des Sozialistengesetzes ihren Status als eigenständiges Blatt verloren hatte; erschienen in der Hamburger Buchdruckerei und Verlagsan-

11 „Vorwärts“ Nr. 217 vom 21. Oktober 1896 („Versammlungen“). 12 Vgl. als wichtigste Quelle: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozi- aldemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Gotha vom 11. bis 16. Oktober 1896, Berlin 1896, Nachdruck Berlin/Bonn 1978 [künftig Protokoll Parteitag Gotha]; die Darstellungen in der Sekundärliteratur: Herbert Scherer, Bürgerlich-oppositionelle Literaten und sozialdemokratische Arbeiterbewegung nach 1890. Die ‚Friedrichsha- gener’ und ihr Einfluss auf die sozialdemokratische Kulturpolitik, Stuttgart 1974, be- sonders S. 139–193; Helmut Mörchen, Die Naturalismusdebatte auf dem Gothaer Par- teitag. Eher eine Medien- als eine Literaturdebatte, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 43 (1996), Heft 12, S. 1086–1090; Norbert Rothe (Hrsg.), Naturalismus-Debatte 1891–1896. Dokumente zur Literaturtheorie und Literaturkritik der revolutionären deutschen Sozialdemokratie. Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland, Bd. XXV, Berlin (Ost) 1986; Dietger Pforte, Die deutsche Sozialdemo- kratie und die Naturalisten. Aufriß eines fruchtbaren Missverständnisses, in: Helmut Scheuer (Hrsg.), Naturalismus. Bürgerliche Dichtung und soziales Engagement, Stutt- gart 1974, S. 175–205.

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stalt Auer & Co, wurde sie rund 30 im Abonnement bezogenen Par- teizeitungen der SPD einmal wöchentlich kostenlos beigelegt. Sie erreichte dadurch Ende der 1890er Jahre die hohe Auflage von 200.000 Exemplaren. Ohne jede Kontroverse und deshalb weitge- hend unbeachtet, war auf dem SPD-Parteitag in Breslau 1895 eine Erweiterung des Umfangs der „Neuen Welt“ von acht auf zwölf Seiten bei gleichzeitiger Zielvorgabe, den Lesestoff und die Illustra- tionen zu verbessern, beschlossen worden.13 Offensichtlich war dieser geplante Quantitäts- und Qualitätsschub der „Neuen Welt“ mit ihrem seit zweieinhalb Jahren amtierenden verantwortlichen Redakteur Samuel Kokosky (1838–1899) nicht zu bewerkstelligen. Kokosky war seit seiner Jugend chronisch krank und schwer leidend, was ihn schließlich nötigte, Ende Februar 1896 die Redaktion der „Neuen Welt“ niederzulegen.14 Ab der Nummer 9, der ersten März- Nummer, amtierte der in Leipzig ansässige Schweizer Edgar Steiger (1858–1919), der 1893/94 für ein Jahr als zweiter Redakteur des „Vorwärts“ in Basel gearbeitet und 1895 die Redaktion des Feuille- tons der „Leipziger Volkszeitung“ übernommen hatte, als Nachfol- ger Kokoskys.15 Ebenfalls ab der Nummer 9 erschien die „Neue Welt“ mit dem in Breslau 1895 beschlossenen, um immerhin 50 Pro- zent erweiterten Umfang von zwölf Seiten.

13 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Breslau vom 6. bis 12. Oktober 1895, Berlin 1895, Nach- druck Berlin/Bonn 1978, S. 15 (Anträge 65 und 66), S. 195f. (Debatte über die Anträge). 14 Vgl. die Nachrufe im „Vorwärts“ Nr. 118 vom 24. Mai 1899 („Samuel Kokosky †“) und im „Hamburger Echo“ Nr. 119 vom 25. Mai 1899 („Samuel Kokosky“). Im „Hamburger Echo“ heißt es drastisch über den Gesundheitszustand des Verstorbe- nen: „Seit seiner Jugend schon leidend, hatte Kokosky jahrzehntelanges Siechthum zu erdulden, das in den letzten Jahren ihn geistig und körperlich lähmte.“ 15 Vgl. Brigitte Regler-Bellinger, Edgar Steiger 1858–1919. Leben und Werk des deutsch- schweizerischen Schriftstellers, Norderstedt 2004, besonders S. 103–144.

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Samuel Kokosky, der Vorgänger von Edgar Steiger als Redakteur der „Neuen Welt“.

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Aufnahme von Edgar Steiger (l.) mit dem Schriftsteller Hans Merian (1857–1902) aus dem Jahr 1896, in dem er auf dem Parteitag in Gotha in der Kritik stand.

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Im Mittelpunkt der Kontroverse in Gotha stand die experimen- tierfreudige Literaturauswahl Edgar Steigers, vor allem die beiden ersten von ihm ausgesuchten, in Fortsetzungen abgedruckten Ro- mane „Der neue Gott“ von Hans Land und „Mutter Bertha“ von Wilhelm Hegeler.16 Bereits im Vorfeld des Parteitages war im „Ham- burger Echo“ und in der „Leipziger Volkszeitung“ eine Pressefehde ausgetragen worden, die durch den Anspruch Edgar Steigers, gleich- sam das Rad neu erfunden zu haben, also genau zu wissen, was der Arbeiter lesen wolle und wie er zur Lektüre animiert werden könne, zusätzlichen Zündstoff erhalten hatte.17 Schon der erste Satz seines Artikels „Die Erziehung des Volkes zur Kunst“ barg Konfliktpoten- zial in sich: „Die Kunst wurde von jeher im sozialdemokratischen Lager sehr stiefmütterlich behandelt.“ Dieser Missstand könne nur geändert werden, so Steiger, indem man die Leser mit der modernen Literatur konfrontiere: „Geben wir dem Volke die besten modernen Dichtungen zu lesen, in denen es Fleisch von seinem Fleisch und Geist von seinem Geist erkennt, damit es die widerspruchsvollen Regungen der Menschenseele belauschen lerne!“18 Seinen Kritikern bescheinigte Steiger, „unverbesserliche Spießbürger“ zu sein, „wun- derliche Käuze“ oder „alte Weiber männlichen Geschlechtes“.19 Dass Steiger nicht an mangelndem Selbstbewusstsein litt, machte er mit Sätzen deutlich, in denen er Schriftsteller von Weltrang als seine Kronzeugen aufrief: „Die größten Dichter aller Zeiten haben über

16 Vgl. den Jahrgang 1896 der „Neuen Welt“: Nachdem der Abdruck des letzten noch von Samuel Kokosky ausgewählten Romans „Die Evangelistin“ des französischen Schrift- stellers Alphonse Daudet (1840–1897) abgeschlossen war, wurde den Lesern in den Nummern 14 bis 24 „Der neue Gott“ und in den Nummern 26 bis 39 „Mutter Bertha“ zur Lektüre angeboten. 17 Vgl. die Artikelsammlung von Edgar Steiger, Das arbeitende Volk und die Kunst, Leipzig 1896. 18 Ebenda, S. 5 und 11. 19 Ebenda, S. 18–20.

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die Dichtkunst ebenso gedacht wie ich.“ An anderer Stelle nahm er den für die Arbeiterbewegung wichtigsten Dichter aller Zeiten – Friedrich Schiller – ebenfalls für seine Position in Anspruch, aller- dings nicht, ohne die Bedeutung des „Dichters der Freiheit“ gleich- sam im Vorbeigehen zu relativieren. Wer bestimmte Abhandlungen Schillers gelesen habe, wisse, „daß der große deutsche Dichter, den ich übrigens durchaus nicht als ästhetischen Gesetzgeber für alle Zeiten anerkenne, in allen Hauptpunkten, auf die es hier ankommt, mit mir übereinstimmt.“20 Dieser je nach Wahrnehmung sehr selbst- bewusste bis überhebliche Duktus rief die Hamburger Sozialdemo- kratie auf den Plan, die denn auch Steigers „im Tone absoluter geistiger Überlegenheit gehaltene Abhandlung“ scharf kritisierte.21 Die Hamburger Kritik an Steiger kulminierte in dem Vorwurf, nicht zu wissen, was das Volk denke und empfinde: „Der Redaktör, der es versteht, sich in die Volksseele zu vertiefen, der wird sich auch die Werthschätzung seiner Leser erringen.“22 Träger der Kritik an Steiger auf dem Parteitag in Gotha waren folgerichtig die Sozialdemokraten des Großraums Hamburg, die vier Anträge gegen die „Neue Welt“ eingebracht hatten. Neben allge- meinen Forderungen, dass das Blatt verbessert werden müsse und nicht mehr als Gratisbeilage fungieren solle, verlangte der Antrag des zweiten Hamburger Reichstagswahlkreises sehr präzise: „1. Die ‚Neue Welt’ ist auf acht Seiten zu reduzieren. 2. Die Leitung dersel- ben hat mehr als bisher darauf zu achten, daß ein populäres Unter- haltungsblatt statt eines Tummelplatzes für literarische Experimente daraus wird. 3. Die Redaktion soll sich am Druckorte des Blattes befinden.“23

20 Ebenda, S. 13 und 17. 21 „Hamburger Echo“ Nr. 235 vom 7. Oktober 1896 („Das arbeitende Volk und die Kunst“). 22 „Hamburger Echo“ Nr. 230 vom 1. Oktober 1896 („Das arbeitende Volk und die Kunst“). 23 Vgl. Protokoll Parteitag Gotha, S. 14.

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Karl Frohme, einer der Kritiker der „Neuen Welt“, gehörte von 1881 bis 1924 dem Reichstag an – eine der längsten Abgeordnetenkarrieren der deutschen Parlamentsgeschichte.

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Die Sozialdemokratie als Partei der Bildung

Hermann Molkenbuhr, von 1890 bis 1924 Mitglied des Reichstages und führender Sozialexperte der SPD-Reichstagsfraktion.

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Vertreten wurden die kritischen Anträge hauptsächlich von Rég- nard Bérard (1871–1915), dem Geschäftsführer der parteieigenen Hamburger Druckerei Auer & Co, und den beiden Reichstagsabge- ordneten Karl Frohme (1850–1933) aus Altona und Hermann Mol- kenbuhr (1851–1927) aus Hamburg.24 Verteidigt wurde die neue Linie der Kulturbeilage von Edgar Steiger selbst und von dem Chef- redakteur der „Leipziger Volkszeitung“, Dr. Bruno Schoenlank (1859–1901).25 Von den Granden der Partei schlug sich Wilhelm Liebknecht während der Debatte eindeutig auf die Seite der Kritiker, der Parteivorsitzende August Bebel (1840–1913) weniger pointiert, aber insgesamt doch auf die Seite der Verteidiger. Letztlich wurden die Anträge gegen die „Neue Welt“ zurückgezogen und nicht zur Ab- stimmung gestellt, während Edgar Steiger gelobte, bei der Auswahl der abzudruckenden Texte künftig sorgfältiger vorzugehen. Diese sogenannte Naturalismusdebatte ist in der Sekundärlite- ratur oft kommentiert, genauer nicht selten dämonisiert oder doch zumindest verzerrt worden. Wenn etwa in einem Aufsatz über die kulturellen Bestrebungen der SPD im Kaiserreich behauptet wird, man könne diese Debatte nicht lesen, „ohne daß man an die Kul- turpolitik der Bolschewisten und der Nazis erinnert“ werde, dann hätte der Autor Günther Roth diesen komparatistischen Knüppel besser nicht geschwungen, denn natürlich musste keiner der in Gotha kritisierten Autoren und Redakteure mit Sanktionen rech- nen, wie sie in den genannten Diktaturen systemimmanent waren.26

24 Vgl. Bernd Braun, Hermann Molkenbuhr (1851–1927). Eine politische Biographie, Düsseldorf 1999; zu Régnard Bérard und Karl Frohme gibt es außer Einträgen in Lexika bisher keine biographischen Untersuchungen. 25 Vgl. Paul Mayer, Bruno Schoenlank 1859–1901. Reformer der sozialdemokratischen Tagespresse, Hannover 1971. 26 Günther Roth, Die kulturellen Bestrebungen der Sozialdemokratie im kaiserlichen Deutschland, in: Moderne deutsche Sozialgeschichte, hrsg. von Hans-Ulrich Wehler, Köln 41973, S. 342–365, Zitat S. 352.

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Brigitte Seebacher-Brandt hat in ihrer 1988 veröffentlichten August- Bebel-Biographie den Kritikern der „Neuen Welt“ vorgeworfen, es habe sich bei ihnen um „einfache Gemüter von der Parteirechten“ gehandelt, denen lediglich die Elendsmalerei nicht gepasst habe: „Sie wollten Erbauung, hatten aber sonst keinen Ehrgeiz.“27 Nun, mangelnden Ehrgeiz kann man der damaligen Gattin von Willy Brandt sicher nicht vorwerfen, es sei denn, man meinte den man- gelnden Ehrgeiz, solche zugespitzten Urteile ohne jede Kenntnis der Quellen abzusondern. Die wichtigsten Quellen sind zunächst einmal die beiden kriti- sierten Romane von Hans Land (1861–1939) und Wilhelm Hegeler (1870–1943), die mit ihren Autoren das Schicksal teilen, heute völ- lig in Vergessenheit geraten zu sein. Bei dem 1861 geborenen Hugo Landsberger, der das Pseudonym Hans Land verwendete, war bis- lang selbst sein Todesdatum unbekannt. In dem ihn behandelnden Eintrag in der „Neuen Deutschen Biographie“ aus dem Jahr 1982 heißt es, er sei nach 1935 verschollen.28 Im „neuen Gott“ unserer Zeit, dem Internet, findet sich alternativ als Todesjahr 1938. Nach der Recherche in den Berliner Adressbüchern, wo zwar nicht Hugo Landsberger, aber dafür Hans Land noch mehrere Jahre über 1935 hinaus aufgeführt ist, konnte der Verfasser durch eine schriftliche Anfrage beim Landesarchiv Berlin die Auskunft erhalten, dass Hugo

27 Brigitte Seebacher-Brandt: Bebel. Künder und Kärrner im Kaiserreich, Berlin/Bonn 1988, S. 272–274.; Paul Mayer legt in seiner Schoenlank-Biographie noch einen drauf und bezeichnet die Kritiker der „Neuen Welt“ als „Kunstbanausen und konservative Moralisten“, ebenda [wie Anm. 25], S. 68. 28 Zur schnellen biographischen Information über beide Schriftsteller vgl. Rupprecht Leppla, „Hegeler, Wilhelm“, in: Neue Deutsche Biographie 8 (1969), S. 222f.; Klaus Siebenhaar, „Landsberger, Hugo“, in: Neue Deutsche Biographie 13 (1982), S. 518.

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Porträt des Schriftstellers Hans Land ca. 1912.

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Porträt des Schriftstellers Wilhelm Hegeler ca. 1898.

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Landsberger am 29. August 1939 in Berlin verstorben ist, wodurch dem jüdischen Schriftsteller letztendlich vieles erspart blieb.29 Die Lebensläufe beider Autoren weisen zahlreiche Parallelen auf. Sie stammten beide aus wohlsituierten Elternhäusern; Lands- berger wurde als Sohn eines Rabbiners in Berlin geboren, Hegeler als Sohn eines Fabrikanten in der friesländischen Stadt Varel. Beide sollten die akademische Laufbahn einschlagen, die „dem tüchtigen, zu einigem Wohlstand arrivierten Bürgertum als das höchste Ideal, das Sinnbild selbst sozialen Aufstiegs galt“.30 Nach dem Abitur am Joachimsthalschen Gymnasium in Wilmersdorf studierte Lands- berger Literaturwissenschaft und Geschichte in Leipzig und Berlin, während Hegeler nach der Reifeprüfung in Düsseldorf ein Studium der Rechtswissenschaft in München, Genf und Berlin absolvierte. Landsberger wie Hegeler sympathisierten zeitweilig mit der Sozial- demokratie; ersteren kosteten diese Sympathien seinen akademi- schen Abschluss, denn nach Vorträgen vor Arbeitervereinen wurde er von der Universität relegiert. Nach dem unfreiwilligen bzw. er- folgreichen Ende ihrer universitären Laufbahn lebten Landsberger und Hegeler nunmehr als freie Schriftsteller ihren literarischen Nei- gungen. Sie gehörten beide dem naturalistischen „Friedrichshagener Dichterkreis“ an.31 Beide schufen in den folgenden Jahrzehnten ein äußerst umfangreiches Oeuvre, das größtenteils – bei gutem Willen – dem Bereich der Unterhaltungsliteratur zuzurechnen ist. Diesem Genre entsprechend, reüssierten beide Autoren in der aufstreben- den Filmindustrie, Hans Land als Verfasser zahlreicher Drehbücher

29 Schriftliche Auskunft des Landesarchivs Berlin vom 24. August 2011; die Witwe von Hans Land, die Schauspielerin Lola Rameau (Pseudonym von Lina Pulvermacher), emigrierte im Dezember 1939 nach Kopenhagen, wo sie am 20. November 1962 im Alter von 90 Jahren verstarb. 30 So Antonina Vallentin in ihrer Biographie des ersten deutschen Friedensnobelpreis- trägers: Stresemann. Vom Werden einer Staatsidee, Leipzig 1930, S. 2. 31 Vgl. Herbert Scherer, Die Friedrichshagener [wie Anm. 12].

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und auf den Spuren seiner Ehefrau, der Schauspielerin Lola Rameau (eigentlich Lina Pulvermacher), auch als gelegentlicher Darsteller, während Wilhelm Hegelers 1906 erschienener Roman „Pietro der Korsar und die Jüdin Cheirinca“ von der UFA verfilmt wurde und 1925 mit dem verkürzten Titel „Pietro der Korsar“ (im englisch- sprachigen Raum als „Peter the Pirate“) in die Kinos kam. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 beendete die Karriere von Hand Land ob seiner jüdischen Herkunft und belastete dieje- nige von Wilhelm Hegeler spürbar, da er eine zu große Nähe zum Hitler-Regime vermied. Dass Hans Land wie Wilhelm Hegeler Sympathien für die So- zialdemokratie besaßen, aber ob ihrer Herkunft allenfalls bohe- mienhafte Erfahrungen mit den Sorgen und Nöten des Proletariats, merkt man den beiden Werken, jeweils den Erstlingsromanen ihrer Verfasser, auch deutlich an. Ihre jeweiligen Protagonisten sind keine aus dem Leben gegriffenen Charaktere, sondern Kunstfiguren, der „Held“ aus dem Roman „Der neue Gott“ in noch stärkerem Maße als „Mutter Bertha“, wie eine Zusammenfassung der Handlung deut- lich macht: Der junge Ulanenleutnant Graf Friedrich von der Haiden ver- achtet sein Leben als Soldat und die Umgangsformen des Adels. Das Verhältnis zu seinem Vater, einem preußischen General, ist distan- ziert. Halt findet er nur beim Betrachten eines Porträts seiner bei seiner Geburt verstorbenen Mutter. Zufällig stößt er bei einem abendlichen Spaziergang auf Sozialdemokraten und lässt sich dazu hinreißen, einen Versammlungsaufruf zu unterzeichnen. Am fol- genden Tag fordern Friedrichs Vater und der Oberst seiner Einheit von ihm die Aussage, dass es sich bei der Unterschrift um eine Fäl- schung handele. Friedrich erklärt, dass er den Militärdienst quittiert habe und bekennt sich zu seiner Unterschrift auch dann noch, als der Vater ihn mit vorgehaltener Pistole zu einer Lüge zwingen will.

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Umschlag der dritten Auflage des Romans „Der neue Gott“ von Hans Land, erschienen 1919 in Berlin.

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Dies führt zum endgültigen Bruch: Friedrich verlässt sein Vaterhaus. Beruflich versucht Friedrich als Übersetzer Fuß zu fassen; gleich- zeitig bitten ihn Sozialdemokraten, an der konspirativen Arbeiter- Bildungsschule Geschichte zu unterrichten. Auf der sozialdemo- kratischen Versammlung, für deren Einberufung Friedrich unter- zeichnet hatte, ergreift er das Wort, provoziert aber durch eine un- vorsichtige Bemerkung deren polizeiliche Auflösung. Während eines anschließenden Kneipenbesuchs – eine Schlüsselszene des Romans – kommt er in ersten engen Kontakt mit Arbeitern, deren robuste Trinkgewohnheiten und deren primitives Sozialverhalten ihn der- art abstoßen, dass er ohnmächtig wird.32 Durch den Tod des Gene- rals erbt Friedrich nur Schulden und einen Brief seiner Mutter, in dem sie ihn bittet, sich um seine Halbschwester aus einer früheren Beziehung, ihrer großen Liebe, zu kümmern, die, wie Friedrich später herausfindet, inzwischen in Berlin als Prostituierte ihren Lebens- unterhalt bestreitet. Als Übersetzer gescheitert, arbeitslos, von Kummer und Hunger geplagt, trifft Friedrich einen alten Kameraden, der sich als Polizei- spitzel verdingt. In seiner Not verrät Friedrich ihm das Tagungslokal der Arbeiter-Bildungsschule. Von Arbeitern, die auch in ihm einen Spitzel vermuten, wird er derart verprügelt, dass er sechs Wochen im Krankenhaus verbringen muss. Am Tag seiner Entlassung ist Reichstagswahl, bei der er nicht abstimmen darf, weil sein Name nicht in die Wählerliste eingetragen ist. Er trifft zufällig auf einen Sozialdemokraten, der von zwei Spitzeln verfolgt wird und der ihm das belastende Material, das er mit sich führt, übergibt. Friedrich flüchtet damit über einen zugefrorenen Fluss, bricht im Eis ein und ertrinkt.

32 Passend zu dieser Szene, wenn auch nicht auf sie abzielend, lautete die Überschrift eines Artikels in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 2. November 1996 zum 100. Jahrestag der Naturalismus-Debatte: „Kämpfende Proletarier als rülpsende Trunkenbolde“.

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Die Botschaft des Romans, der Anklänge an Hugo Landsber- gers Autobiographie enthält, könnte in der Hinsicht gedeutet wer- den: Wer sich der Sozialdemokratie anschließt, begibt sich auf dünnes Eis. Mit die unsympathischste der holzschnittartig gezeich- neten Figuren ist der sozialdemokratische Arbeiterführer Franz Herning, ein Mann, dem Solidarität und Empathie für seine Mitmenschen völlig fremd sind, während andererseits die sympa- thischste Figur, ein jüdischer Arzt, Solidarität und Einfühlungsver- mögen vorlebt, aber die Sozialdemokratie ablehnt. Man kann nachvollziehen, dass dieser Roman von etlichen Sozialdemokraten als Verhöhnung ihrer Partei empfunden wurde.33 Eine insgesamt äußerst negative Besprechung des Romans „Der neue Gott“, die kurz nach seiner Veröffentlichung in Buchform 1891 in „Westermanns Monatsheften“ erschienen war, gipfelt in dem ver- nichtenden Schlusssatz: „[…] ein redefertiger Parlamentarier könnte ihn auch geschrieben haben“.34 Der Inhalt von „Mutter Bertha“ ist bereits in einer Schweizer Dissertation über das Leben und Werk von Wilhelm Hegeler aus dem Jahr 1954 prägnant zusammengefasst. Bemerkenswert an die- ser Inhaltsangabe ist auch die verwendete Sprache, die ohne weite- res aus dem 19. Jahrhundert stammen könnte: „Die Kellnerin Bertha, siebzehnjährig in München von einem Wüstling verführt und im Stich gelassen, geht nach Berlin; ihr Kind Fritzle, einen nun zweijährigen Jungen, läßt sie in der Obhut ihrer Tante zurück. In Berlin trifft Bertha mit einem Studenten der Rechts- wissenschaft, Fritz Graebe, zusammen, einem ernsten, schwerblüti-

33 So die Einschätzung des Delegierten Régnard Bérard; vgl. Protokoll Parteitag Gotha, S. 79. 34 „Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte“, 35. Jg., Heft 420 vom September 1891, S. 860f., Zitat S. 861.

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Lesezeichen mit einem Porträt von Wilhelm Hegeler, gedruckt anlässlich seines 1931 erschienenen Romans „Das Wunder von Belair“. Der Werbetext enthält manche Anklänge an „Mutter Bertha“; er lautet auf der Rückseite:

„Die Liebesgeschichte des Romanes spielt sich inmitten spannender Geschehnisse ab. – Eine Hochgebirgs-Tour, bei der es um Tod und Leben geht, das Familienbad eines Schweizer Luxushotels, spiritistische Sitzungen, moderne Erziehungs-Probleme, entzückende Kinderszenen, ein bärbeißiger Großvater, ein geliebter Mann, der seit Jahren totgeglaubt ist und wiederkehrt – solche Szenen mögen die Fülle und die Weite der Welt andeuten, in die Hegeler uns führt.“

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gen, treuherzigen Norddeutschen. Ihre Schutzlosigkeit, ihr Bedürf- nis nach Anschluß und Wärme in dem ihr so fremden Berlin läßt schnell Freundschaft zwischen den beiden entstehen, die sich dann bald in Liebe verwandelt. Bertha hat inzwischen ihren Kellnerin- nenberuf, gegen dessen Anforderungen sich ihr Inneres empört, mit einer Anstellung in einem Blumengeschäft vertauscht; sie zieht mit Graebe in eine gemeinsame Wohnung. Um das Familienglück voll zu machen, nimmt Bertha ihr Kind zu sich nach Berlin. Von dem Kind jedoch fällt ein leiser Schatten auf die sonnige Heiterkeit der Idylle; von Geburt an ziemlich schwächlich, ist es ein Gegenstand bestän- diger Angst für seine Mutter. Während Graebe in die Ferien nach Hause gereist ist, kommt die Krankheit beim Kinde zum Ausbruch. Bertha widmet sich ganz der Pflege ihres Söhnchens, doch alle Sorg- falt und zärtlliche Kunst zeigen sich machtlos. In ihrer Verzweiflung gerät sie an einen Heilmagnetiseur, einen alten Lüstling, vor dessen Zudringlichkeit sie bereits in der Eingangsszene des Buches zu Graebe geflüchtet war; nun, da er allein Rettung ihres Kindes ver- spricht und seine Hilfe nur durch ihre Hingabe und nicht billiger zu haben ist, überwindet sie ihren Ekel und um des Kindes willen gibt sie sich ihm hin. Jedoch ihr Opfer ist umsonst; nachdem das Kind ausgelitten, hat auch sie mit dem Leben abgeschlossen. Sie stößt jetzt Graebe, den eine schwere Krankheit seiner Mutter über Er- warten lang zurückgehalten hatte, von sich und tötet sich mit Koh- lengas, um mit dem Kinde im Tode vereint zu sein, diese letzte Vereinigung als Glück empfindend.“35 Man gewinnt bereits aus dieser Zusammenfassung die Erkennt- nis, dass die geschilderte Vita von „Mutter Bertha“ nun nicht gerade ein typisches proletarisches Frauenschicksal des 19. Jahrhunderts

35 Heinrich Festner, Wilhelm Hegeler. Leben und Werk, Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde von der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg in der Schweiz, Freiburg (Schweiz) 1954, S. 48f.

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darstellt. Als besonders anstößig wurde von vielen Lesern eine Stelle des Romans empfunden, in der Bertha ihrem studentischen Lieb- haber mitteilt, dass sie ein sehr menschliches Bedürfnis verrichten müsse. Während Karl Frohme diese Passage als „absolute, stinkende Schweinerei“ verdammte, verteidigte sie Bruno Schoenlank mit der lateinischen, ursprünglich auf den griechischen Dichter Euripides zurückgehenden Wendung „naturalia non sunt turpia“ – „Natürliche Dinge sind nicht schändlich“, was wiederum Wilhelm Liebknecht ebenfalls ins Lateinische flüchten ließ, indem er mit einem Zitat aus Heinrich Heines „Deutschland – ein Wintermärchen“ entgegnete: „cacatum non est pictum“, was man nur in vornehmer Verfremdung wiedergeben kann: „Eine verrichtete Notdurft ist noch kein Ge- mälde“.36 Das bayerische Urgestein Richard Fischer (1855–1926) schließlich nahm diesen Faden auf und sagte: „Ich bin gewiß kein Moralfex, aber auch ich sah mich schon gezwungen, die ,Neue Welt’ meinen Kindern wegzuräumen. Gewiß – naturalia non sunt turpia –, aber man läßt sich doch nicht im Klosett photographieren.“37 Das Parteitagsprotokoll verzeichnet „Stürmische Heiterkeit“. Selbst einige Verteidiger der „Neuen Welt“ – auf dem Parteitag Bruno Schoenlank und August Bebel – meinten, an dieser Passage aus „Mutter Bertha“ hätte Edgar Steiger ruhig den Rotstift ansetzen, also zensieren sol- len. Im Jahr 1900 beschrieb Wilhelm Hegeler in einer autobiogra- phischen Skizze seine Hemmungen während der Entstehungsphase von „Mutter Bertha“: „Schon ziemlich früh hatte sich mein Inneres mit unheilvollen Plänen angefüllt, und ich hatte begonnen, Romane zu schreiben. Das heißt nur im Kopf. Denn sobald ich begann sie aufs Papier zu bringen, haperte es schon bei den ersten Sätzen.“38

36 Protokoll Parteitag Gotha, S. 93 (Frohme), 95 (Schoenlank), 103 (Liebknecht). 37 Protokoll Parteitag Gotha, S. 105. 38 Wilhelm Hegeler, Einiges aus meinem Leben, in: Die Gesellschaft. Halbmonatsschrift für Litteratur, Kunst und Sozialpolitik, Jg. 16 (1900), Bd. 2, S. 226–232, Zitat S. 230.

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Eine immerhin sehr ehrliche Selbstkritik, der man nach der Lektüre des Romans nur schwerlich widersprechen kann. Neben diesen beiden Romanen bilden die Pressefehde im Vor- feld des Parteitages und dessen Protokoll weitere wichtige Quellen, durch deren Analyse sich folgende Punkte festmachen lassen: Erstens: Es ging den Kritikern der „Neuen Welt“ nicht um eine generelle Abrechnung mit dem Naturalismus, sondern mit allenfalls zweit-, wenn nicht drittrangigen Werken. Hermann Molkenbuhr empfahl in der Debatte in Gotha als vorbildliches Werk der zeitge- nössischen Literatur Émile Zolas 1885 erschienenen Bergarbeiter- roman „Germinal“.39 Zwischen „Germinal“ und „Mutter Bertha“ bzw. dem „Neuen Gott“ liegen literarische Welten. Erst im Januar 1896 hatte Molkenbuhr während einer Reichstagsrede Gerhart Hauptmanns Drama „Die Weber“, das 1893 in Berlin uraufgeführt worden war, gelobt, dessen Bilder aus dem Leben gegriffen und tref- fend geschildert seien.40 Es war also schlicht eine Unverfrorenheit, wenn Bruno Schoenlank Hermann Molkenbuhr vorwarf, er verlange „sozialdemokratische Marlittiaden“.41 Gemeint waren damit die Trivialstromane der Herz-, Adels- und Schmerzschriftstellerin Eugenie Marlitt (1825–1887) – der literarischen Vorfahrin von Hed- wig Courths-Mahler (1867–1950) – wie etwa ihr berühmtestes Buch „Das Geheimnis der alten Mamsell“ aus dem Jahr 1867. Da „Mutter Bertha“ und „Der neue Gott“ ob ihrer höchst zweifelhaften literari- schen Qualität eigentlich nicht zu verteidigen waren, griff das Lager der „Neuen Welt“ zu der letztlich erfolgreichen Strategie, die Kritik

39 Protokoll Parteitag Gotha, S. 95. 40 Stenographische Berichte der Verhandlungen des Reichstages, 9. LP, 4. Session, 16. Sitzung vom 15. Januar 1896, S. 343. 41 Protokoll Parteitag Gotha, S. 95.

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Bruno Schoenlank alias Dr. Karbonadel, Reformer der sozialdemokratischen Tagespresse und von 1893 bis 1901 Reichstagsabgeordneter.

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Im Jahrgang 1895 (Nr. 1) findet sich diese Abbildung eines Lesers der „Neuen Welt“ – mehr biederer Hausvater als literarischer Revolutionär.

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als einen Angriff auf den Naturalismus und die Freiheit der Kunst im allgemeinen hochzustilisieren. Zweitens: Neben der sachlichen Kontroverse spielten noch zwei weitere Faktoren eine entscheidende Rolle. Zum einen der Gegen- satz Hamburg versus Leipzig, die rechts der Parteimitte angesiedelte Hamburger gegen die links von der Parteimitte angesiedelte Leipzi- ger Sozialdemokratie; zum anderen ein rein menschlicher Gegen- satz. Die autodidaktisch gebildeten Arbeiterführer, die sich aus kleinen bis kleinsten Verhältnissen emporgearbeitet hatten, reagier- ten äußerst allergisch, wenn ihnen die Akademiker innerhalb der Partei den Lauf der Welt erklären wollten. Hermann Molkenbuhr wehrte sich gegen den Anspruch Edgar Steigers, die Arbeiter zur Kunst erziehen zu wollen, die bisher keine Gelegenheit gehabt hät- ten, sich mit Kunst auseinanderzusetzen: „Wenn Steiger so etwas behauptet, so zeigt er nur, daß er nicht weiß, wie es im arbeitenden Volke aussieht. Wo sind denn die großen billigen Klassikerauflagen geblieben, wer besucht die Galerien in großen Städten, wer stellt das Hauptkontingent zu den billigen Klassikeraufführungen? Doch Leute aus der Arbeiterklasse, die sich schon vorher mit der Kunst beschäftigt haben. Es ist eine Überhebung, wenn Steiger meint, daß bis zur Übernahme der Redaktion durch ihn nichts geschehen ist.“42 Für manchen dieser Arbeiterführer dürfte jemand wie Dr. Bruno Schoenlank, der Mitglied einer schlagenden Studentenverbindung gewesen war und ob seines von zahlreichen Mensurnarben verun- stalteten Gesichts auch den Beinamen Dr. Karbonadel trug, ein Mann gewesen sein, dessen Sozialisation und Auftreten sie nur schwer nachvollziehen konnten.

42 Protokoll Parteitag Gotha, S. 95f.

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Drittens: Die Tatsache, dass August Bebel sich für Edgar Steiger einsetzte, dürfte weniger auf seinen progressiven Standpunkt in Fra- gen der modernen Kunst zurückzuführen sein – so interpretiert es zumindest Brigitte Seebacher-Brandt –, sondern darauf, dass er Edgar Steiger persönlich gut kannte. Manches in seiner Rede deu- tet darauf hin, dass Bebel Steiger für die Redakteursstelle an der „Neuen Welt“ empfohlen hatte.43 Bebels Lob: „Ich erkläre rund her- aus, daß ich die ,Neue Welt’ unter der Redaktion Steigers ihrem In- halt und ihrer Haltung nach für eine bedeutende Verbesserung halte“ wird schon im Folgesatz nicht unerheblich eingeschränkt: „Freilich hätte Steiger gut daran gethan, mit größerer Energie seinen Rothstift zu benutzen.“ Und vollends relativiert wird Bebels Eintre- ten für Steiger durch sein Bekenntnis: „Die meisten von uns, ich selbst nicht ausgenommen, sind infolge ihrer Thätigkeit gar nicht in der Lage, sich um die Entwickelung auf künstlerischem und litera- rischem Gebiete zu kümmern.“44 Bebel lobte also, was er in Wirk- lichkeit gar nicht gelesen hatte. Viertens: Die Tatsache, dass die Hamburger Anträge gegen die „Neue Welt“ auf dem Parteitag nicht zur Abstimmung gestellt wur- den, verleitete manchen zeitgenössischen und manchen nachgebo- renen Beobachter zu dem Fazit, dass Edgar Steiger aus der Kontroverse in Gotha als Sieger hervorgegangen sei. Ganz abgese- hen von der Tatsache, dass ein seit einem halben Jahr amtierender Redakteur selbst von seinen Anhängern die Empfehlung mit auf den Weg bekommt, er hätte öfter zensieren und bei der Auswahl der Li- teratur eine größere Sorgfalt an den Tag legen sollen, so konnte sich Edgar Steiger seines vermeintlichen Sieges nur kurze Zeit erfreuen.

43 Ebenda, S. 109 führt Bebel aus, dass er oft mit Steiger gesprochen habe – sicher nicht in Leipzig – und ihm den Rat gegeben habe, „nicht zu stürmisch vorzugehen“. 44 Ebenda, S. 109f.

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Er blieb nur noch für knapp eineinhalb Jahre auf diesem Posten, von denen er sechs Monate wegen Majestätsbeleidung im Gefängnis zu- bringen musste, um dann bis zu seinem Tod 1919 nach München überzusiedeln, wo er sich als ständiger Mitarbeiter der bürgerlichen Zeitschrift „Jugend“ und des bürgerlichen Satireblatts „Simplicissi- mus“ verdingte. Wenn man so möchte, hatte sich damit der Literat Steiger gegenüber dem Sozialdemokraten Steiger durchgesetzt. Fünftens: Die Naturalismus-Debatte böte einen reizvollen Aus- gangspunkt, einmal die Entwicklung des Schamgefühls vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur völligen Aufhebung der Schamgrenzen in unserer Zeit nachzuverfolgen, also von „Mutter Bertha“ bis etwa zu dem 2008 erschiene- nen Roman „Feuchtge- biete“ der „Schriftstelle- rin“ Charlotte Roche oder der US-amerikani- schen „Künstlerin“ Marni Kotak, die im Oktober 2011 damit Schlagzeilen machte, ihr Baby in einer Kunstgalerie in New York als „Perfor- mance“ auf die Welt bringen zu wollen.45 Das

Paul Singer (1844–1911), seit 1892 SPD-Parteivorsitzender neben August Bebel und Präsi- dent fast aller SPD-Parteitage.

45 www.sueddeutsche.de/panorama/baby-wird-in-galerie-geboren-kuenstliche-geburt- 1.1174519, zuletzt abgerufen am 25. 2. 2013.

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Edgar Steiger experimentierte auch mit den Abbildungen in der „Neuen Welt“ – hier in Nr. 16 (1896) „Das Gefühl der Abhängigkeit“ nach einer Vorlage von Sascha Schneider (1870–1927), der später als Illustrator von Karl-May-Bänden berühmt werden sollte.

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Erstaunlich viel Nacktheit für eine Zeitschrift aus dem Jahr 1896: „Adam und Eva“, abgedruckt in der Nr. 47 der „Neuen Welt“.

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gleiche gilt für die Entwicklung des Kunstbegriffs. Mit der Definition von Joseph Beuys – „Alles ist Kunst und Jeder ist ein Künstler“ – hätten die meisten Delegierten in Gotha 1896 nur sehr wenig anzu- fangen gewusst. Sechstens: Der wichtigste Punkt. Durch die gesamte Debatte des Gothaer Parteitages zieht sich wie ein Roter Faden die Frage, wie Massenaufklärung und Massenrekrutierung gelingen können. Nicht, indem man den Interessen oder dem Geschmack der Mas- sen blind hinterherläuft („keine Marlittiaden“ – Bruno Schoenlank), aber auf der anderen Seite auch nicht, indem man beide völlig igno- riert („Für literarische Experimente ist das arbeitende Volk am al- lerwenigsten zu haben“ – Hermann Molkenbuhr). Die Massen kann man nur gewinnen, so lautet die Botschaft von Gotha, indem man den schmalen Grat zwischen Tradition und Moderne beschreitet, wobei die Qualität immer den Maßstab bilden sollte. Der Parteitagspräsident Paul Singer lobte in seinem durchaus pathetisch gehaltenen Schlusswort ausdrücklich die Kunst-Debatte: „Mitten im tiefsten Elend und im Kampf ums tägliche Brot, ausge- beutet vom Kapital, entrechtet von der bürgerlichen Gesellschaft, strebt die deutsche Arbeiterschaft nach Geistesnahrung und will den höchsten Idealen des Menschenlebens, der Kunst, entgegeneilen. Welche Partei außer der unsrigen kann sich noch eine solche Dis- kussion leisten?“46 In der Tat: Sechs Jahre nach dem Ende des So- zialistengesetzes und ein Vierteljahrhundert bevor die katholische Zentrumspartei es überhaupt für notwendig erachtete, einen reichs- weiten Parteitag abzuhalten – ihr erster fand 1920 in Berlin statt –, debattierte die deutsche Sozialdemokratie engagiert, lebendig und in äußerst unterhaltsamer Form über ihr Verhältnis zur modernen Literatur; in dieser Beziehung sicher eine Partei, die ihrer Zeit weit voraus war.

46 Protokoll Parteitag Gotha, S. 181.

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III.

Nun zum zweiten Punkt, zur innerparteilichen Elitenbildung. Nach der Wende ins 20. Jahrhundert waren zumindest August Bebel und der Parteivorstand der SPD der Ansicht, dass die natürlichen Re- krutierungswege für den Parteiführernachwuchs nicht mehr ausrei- chend waren. Die Antwort darauf war 1906 die Einrichtung einer zentralen Parteischule in Berlin.47 Auslösendes Moment waren zum einen die heftigen Auseinandersetzungen um Theorie und Strategie der SPD gewesen (der sogenannte Revisionismus-Streit), die auf die mangelnde Kenntnis der Parteitheorie zurückgeführt wurden, und zum anderen die Tatsache, dass die Gewerkschaften bereits eine zentrale Bildungseinrichtung ins Leben gerufen hatten. Da die Par- tei die Gewerkschaften als Hauptverantwortliche für die theoreti- sche Versumpfung identifiziert hatte, galt es also, diesem Trend entgegenzuwirken.

47 Vgl. zur zentralen Parteischule der SPD allgemein: Handbuch der sozialdemokra- tischen Parteitage von 1863 bis 1909, bearbeitet von Wilhelm Schröder, München 1910; Handbuch der sozialdemokratischen Parteitage von 1910 bis 1913, München 1917; Dieter Fricke, Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1869 bis 1917, Bd. 1, Berlin (Ost) 1987, S. 691–696; ders., Die sozialdemokratische Parteischule (1906–1914), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 5 (1957), Heft 1, S. 229–248; Hanns-Albrecht Schwarz, Die Parteischule (1906–1914), in: Josef Olbrich (Hrsg.), Arbeiterbildung nach dem Fall des Sozialistengesetzes (1890–1914), Konzeption und Praxis, Braunschweig 1982, S. 189–244, S. 247–280 (Anhang mit Dokumenten); Günter Scharfenberg, Sozialistische Bildungsarbeit im Kaiserreich. Zur Theorie und Praxis der politischen Bildungsarbeit des Reichsbildungsausschusses und der Parteischule der SPD vom Mannheimer Parteitag bis zum Ersten Weltkrieg, Berlin 1989; Bernd Braun, Eine sozialistische Universität? Die Parteihochschule der SPD 1906 bis 1914, in: Zwischen Wissenschaft und Politik. Studien zur deut- schen Universitätsgeschichte. Festschrift für Eike Wolgast zum 65. Geburtstag, hrsg. von Armin Kohnle und Frank Engehausen, Stuttgart 2001, S. 173–193.

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Acht Dozenten nahmen am 15. November 1906 ihre Lehrtätig- keit in der Lindenstraße 3 in Berlin auf. Vier Kriterien unterschieden den Lehrkörper der Parteihochschule der SPD von vergleichbaren staatlichen Einrichtungen. Erstens die Tatsache, dass zunächst ein Viertel der Lehrenden, nämlich der Niederländer Anton Pannekoek (1873–1960) und der Österreicher (1877–1941), Ausländer waren. Diesen Umstand nutzte die preußische Polizei, als sie im Herbst 1907 den beiden Dozenten mit der Ausweisung drohte, falls sie den Unterricht erneut aufnehmen sollten. Dadurch kam Rosa Luxemburg (1871–1919) zu ihrem Lehramt, was den zweiten Unterschied markiert: eine Frau neben sieben bzw. später acht männlichen Kollegen, wobei die von ihr unterrichteten Fächer Wirt- schaftsgeschichte und Nationalökonomie mehr als ein Viertel des Stundenkontingents ausmachten. Drittens war der Altersdurch- schnitt der Dozenten auffallend niedrig, er lag anfangs bei knapp unter 40 Jahren, wobei zwei der Lehrkräfte aus dem Jahrgang 1877 deutlich jünger waren als die meisten ihrer Studenten. Und viertens fällt der hohe Anteil jüdischer Dozenten ins Auge, der bis zu zwei Drittel erreichte, wobei dieser Umstand entgegen der üblichen Pra- xis in den Protokollen der preußischen Polizei nicht thematisiert wurde. Für Rosa Luxemburg – und dies dürfte bei den anderen Do- zenten ähnlich gewesen sein – war das wichtigste Motiv zur Über- nahme des Lehramtes nicht das Ausleben des pädagogischen Eros, sondern der materielle Anreiz. An ihren Lebensgefährten Kostja Zet- kin (1885–1980) schrieb Luxemburg am 24. September 1907, einen Tag vor ihrer endgültigen Zusage: „Am 1. soll die Schule beginnen, und Lehrer fehlen. Nun faßt man mich Unglückliche beim Ohr, ich soll die Nationalökonomie übernehmen. Heute früh teilte mir Karl [Kautsky, Anm. des Verfassers] den Vorschlag mit, und ich muß mor- gen früh definitiv Antwort geben. Ich schwankte und schwanke noch

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Lehrer und Studenten des ersten Kursus der Parteischule im Winterhalbjahr 1906/07.

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Die Sozialdemokratie als Partei der Bildung

Das Lehrerkollegium des ersten Kursus der Parteischule, gemeinsam mit dem Partei- vorsitzenden August Bebel (2. v. l.): Anton Pannekoek (l.), Artur Stadthagen (3. v. l.) Simon Katzenstein (4. v. l.) und Hugo Heinemann (r.).

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Weitere Mitglieder des Gründungs-Lehrerkollegiums der Parteischule v. l. n. r.: Rudolf Hilferding, Heinrich Schulz und Franz Mehring.

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sehr stark. Mein erster Gedanke und mein Gefühl war, nein zu sagen. Die ganze Schule interessiert mich blutwenig, und zum Schulmeister bin ich nicht geboren. […] Andere Gründe sprechen dafür, nämlich es kam mir plötzlich in den Sinn, daß dies am Ende für mich endlich eine materielle Existenzbasis wäre. Man bekommt 3000 Mark für einen halbjährigen Kursus (Oktober bis März) zu vier Vorlesungen in der Woche. Das sind eigentlich glänzende Bedin- gungen, und in einem halben Jahr hätte ich ständig mehr als für ein ganzes Jahr verdient.“48 Die genannten 3000 Mark für einen Kursus, der immer vom 1. Oktober bis zum 31. März des Folgejahres dauerte, entsprachen annähernd der Hälfte eines staatlichen Professoren- jahresgehalts. Dieses sichere und gleichzeitig stattliche Gehalt dürfte Rosa Luxemburg über ihre wenig euphorische Stimmung bei Antritt ihrer Lehrtätigkeit hinweggetröstet haben; am 1. Oktober schrieb sie an (1857–1933) über ihre geringe Freude an ihrer neuen „Professoralwürde, die mir wie ein Ziegelstein auf den Kopf gefallen ist, mitten in ruhiger Arbeit.“49 An den sieben Kursen der Parteischule von 1906 bis 1914 – der Kurs von 1911 fiel wegen der anstehenden Reichstagswahl im Januar 1912 aus – nahmen insgesamt 203 Studenten teil. Die Bewerber um die angepeilten 30 Plätze pro Kurs sollten keine Neulinge in der SPD sein, sondern Parteiaktivisten, die sich bereits die ersten Meri- ten verdient hatten. Das Auswahlverfahren wurde auf der Basis strikter regionaler Ausgewogenheit durchgeführt. Die Studenten er- hielten ein Vollzeitstipendium und zusätzlich eine Familienunter- stützung, sofern sie verheiratet waren. Unter den 203 Studenten befanden sich 14 Frauen, ein uns heute niedrig erscheinender Anteil von knapp 7 Prozent, der allerdings darauf zurückzuführen war, dass

48 Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, Bd. 2, Berlin (Ost) 1982, S. 306f. 49 Zitiert ebenda, S. 310.

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Die Sozialdemokratie als Partei der Bildung erst nach der Einführung des Reichsvereinsgesetzes ab April 1908 Frauen Mitglieder in politischen Vereinen werden durften. Durch die Voraussetzung, dass nur bereits bewährter Nachwuchs zur Par- teischule zugelassen wurde, ergab sich außerdem ein relativ hoher Altersdurchschnitt der Studenten, im ersten Kurs waren beispiels- weise 19 von 31 Kursteilnehmern älter als die jüngsten Dozenten. Der Unterricht war sehr verschult und umfasste am Anfang 31 Lehrstunden und acht Arbeitsstunden an sechs Tagen die Woche, also ein nicht unerhebliches Pensum. Der Fächerkanon an der Par- teischule bestand aus historischen, ökonomischen, juristischen, so- zialpolitischen, rhetorisch-publizistischen und naturwissenschaft- lichen Unterrichtseinheiten. Das bevorzugte Fach war stets die Na- tionalökonomie, die im ersten Kurs 200 von 785 Stunden umfasste. Ein Kennzeichen der Parteihochschule war die praktizierte Mitbe- stimmung der Studenten, die ihre Kritik am Ende eines jeden Kurses auf einer Konferenz mit Vertretern des Parteivorstandes äußern konnten. An die Öffentlichkeit drang davon wenig, außer wenn in den Jahresberichten über die Parteischule, die im jährlichen Partei- tagsprotokoll abgedruckt wurden, von den Änderungen berichtet wurde, die auf Anregungen der Studenten zurückgingen. Nach außen war es den Dozenten der Parteischule und dem Parteivor- stand wichtig, die Erfolge der Bildungseinrichtung herauszustellen. Schließlich investierte die Partei einen nicht unerheblichen Teil ihrer Gesamteinnahmen – am Anfang waren es mehr als 5 Prozent – in dieses Projekt. 1908 hatte Heinrich Schulz, der Obmann der Parteischule und oben erwähnte Platen-Rezitator, die Absolventen des ersten und zweiten Kurses brieflich um Stellungnahmen über ihre Erfahrun- gen gebeten, von denen anschließend Auszüge im „Vorwärts“ ver- öffentlicht wurden. Einmal abgesehen von der Tatsache, dass von den 64 Angeschriebenen mehr als jeder fünfte nicht antwortete, fie- len die 50 eingegangenen Statements durchweg positiv aus. Dabei

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Lehrer und Studenten des zweiten Kursus der Parteischule im Winterhalbjahr 1907/08. Rosa Luxemburg (4. v. l.) hat das Deputat von Rudolf Hilferding übernommen. An der Rückwand des Klassenraumes hängt ein riesiges Porträt des Schweizer Reformpädago- gen Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827).

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mögen berufstaktische Überlegungen eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben. Heinrich Schulz kam jedenfalls zu dem Schluss, „daß die ehemaligen Parteischüler nicht etwa ungern an ihre Stu- dentenzeit zurückdenken, daß sie sich nicht freuen, sie endlich hin- ter sich zu haben, sondern daß sie einig sind in dem Lobe der Parteischule, und daß sie fast alle die kurze Dauer eines Kurses be- dauern.“50 In einem Protokoll einer Konferenz am 13. April 1910 zwischen Studenten, fünf Dozenten und dem für die Parteischule zuständi- gen Vertreter des Parteivorstandes, dem späteren SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzenden, Reichsaußenminister und zweimaligen Reichs- kanzler Hermann Müller (1876–1931), das sich in dessen Nachlass- teil im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde erhalten hat, liest sich das Ganze etwas weniger hymnisch.51 Im Laufe der zweieinhalbstündi- gen Zusammenkunft wurde von den Studenten Kritik geübt an den Schwerpunkten des Unterrichts; es wurde gefordert, dass die Theo- rie zugunsten der Praxis stärker eingeschränkt werden sollte, dass einzelne Themen zusätzlich behandelt und dafür andere weggelas- sen werden sollten, es wurde kritisiert, dass gerade dieser Kurs über den 31. März hinaus verlängert wurde; das „Getöse“ des Tagungs- gebäudes, das den Unterricht behinderte, wurde ebenso moniert wie der Unterrichtsstil einzelner Lehrer, die zum Beispiel öfter zu spät kamen oder zu schnell sprachen; es wurde aber auch Kritik laut am mangelnden Engagement des Obmanns Heinrich Schulz, der übri- gens bei der Konferenz zugegen war. Der Student Artur Crispien (1875–1946) sagte: „Es ist bedauerlich, dass der Obmann an den diesjährigen Lehrerkonferenzen so gut wie gar nicht teilgenommen

50 Heinrich Schulz, Die Parteischüler über die Parteischule I und II, in „Vorwärts“ Nr. 209 und 210 vom 6. und 8. September 1908; das Zitat stammt aus dem ersten Artikel. 51 Bundesarchiv Berlin, NL 2200 Hermann Müller, Nr. 170.

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hat. Der Obmann muss dauernd in der Schulverwaltung sitzen, sonst entwickeln sich gespannte Verhältnisse zwischen Lehrern und Schü- lern. Das Verhältnis war um Weihnachten herum fast feindlich.“ Ge- genüber dieser harten Kritik fällt dann kaum noch ins Gewicht, dass der Student Reinhold Zumtobel (1878–1953) an einer Parteiein- richtung, die ihren Schülern immerhin die Parteitheorie näher brin- gen sollte, beanstandete, dass einige Turngeräte, Hanteln und ein Trapez angeschafft werden sollten, damit die Schüler, die anschlie- ßend wieder arbeiten gingen, Gelegenheit hätten, ihre Muskeln zu gebrauchen. Mit den Zitaten aus diesem Protokoll soll kein negati- ves Urteil über die Parteischule gefällt, aber ein realistischeres er- möglicht werden als das von Heinrich Schulz im „Vorwärts“ veröffentlichte Te Deum. Die Kritik der Studenten unterstreicht, dass es sich weder um eingeschüchterte, noch um devote, nur auf die po- tentielle Karriere schielende Apparatschiks handelte, sondern um selbstbewusste, mit beiden Beinen im Leben stehende Nachwuchs- funktionäre. Wie sahen nun die Erfolge der Parteischule insgesamt aus? Hier wird in der Literatur gerne ein Zitat von Rosa Luxemburg abge- druckt, die auf dem Parteitag in Nürnberg 1908 gesagt hatte: „Wir haben als Lehrer die Erfahrung gemacht, daß die bisherigen Resul- tate ausgezeichnet sind, so daß ich mir ein besseres Elitekorps gar nicht wünschen möchte.“52 Keine acht Wochen zuvor hatte sie sich in einem Brief an Clara Zetkin sehr negativ über einen Artikel von Berta Selinger, Studentin des zweiten Kurses 1907/08 geäußert, der lediglich ins Reine abgeschriebene Notizen aus ihrem Unterricht enthalten habe: „Mir wurde schrecklich zumute, als ich sah, wie blaß

52 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Nürnberg vom 13. bis 19. September 1908, Berlin 1908, Nachdruck Berlin/Bonn 1982, S. 230.

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und platt sich meine Darlegungen in den Notizen der Schüler spie- geln und wie roh sie die neuerworbenen Kenntnisse verwenden wol- len. Ich habe auf jeden Fall das Gröbste etwas ausgebessert, aber ich bin der Meinung, daß man solche ‚Artikel’ überhaupt nicht brin- gen, sondern der Selinger auseinandersetzen muß, daß nur selb- ständige Bearbeitungen dazu taugen und daß die Schulvorlesungen nur als Material, als Grundlage zu betrachten sind. Die armen Leute wissen offenbar nicht, was sie mit der ihnen verzapften Weisheit an- fangen sollen, und wollen so direkt ‚frisch von der Kuh’ weiter dem Volke vermitteln. Eheu, me miserum! Ich habe so etwas schon in der Schule geahnt, und das vermindert bedeutend meine Freude am Lehramt.“53 Man sollte allerdings auch dieses Zitat nicht als sakro- sankt nehmen. Das Ausmaß der Qualifizierung der Parteischüler durch ihren Berliner Studienaufenthalt dürfte unterschiedlich aus- gefallen sein. Sie alle hatten jedoch ihr Wissen erheblich vermehrt, an Selbstbewusstsein gewonnen und einen Prestigegewinn in ihren jeweiligen Parteigliederungen verzeichnen können. 1911 konnte Heinrich Schulz in einer statistischen Untersuchung nachweisen, dass von den 141 Parteischülern der ersten fünf Kurse vor Beginn ihrer Ausbildung in Berlin 52 Angestellte in einem Teilbereich der Arbeiterbewegung gewesen waren, nunmehr waren es mit 101 fast doppelt so viele. 49 Parteischüler hatten also einen Karriereschub er- zielen können. Eine genaue Darstellung, inwieweit die Parteihoch- schule als berufliches Sprungbrett erfolgreich war, wird erst möglich sein, wenn sich jemand die Mühe machte, die 203 Studenten zu identifizieren und ihre Biographien und Karrieren nachzuzeichnen.

53 Rosa Luxemburg. Gesammelte Briefe [wie Anm. 48], S. 353.

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Die Karikatur „Die Sühne des Disziplinbruchs“ aus der satirischen Zeitschrift der SPD „Der Wahre Jacob“ vom 13. September 1910 sieht die Parteischule als marxistisches Gegengewicht zum revisionistischen Parteiflügel: Die Lehrer Rosa Luxemburg, Artur Stadthagen und Franz Mehring sollen die badischen Rechtsabweichler, die ihrem Landeshaushalt zugestimmt hatten, mit drastischen Körperstrafen zur Räson bringen.

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Die Erstellung einer Kollektivbiographie wäre auch die statisti- sche Grundlage dafür, um die ideologische Prägung durch die Par- teischule zu überprüfen. Bereits im Vorfeld ihrer Gründung hatte Heinrich Schulz 1904 gefordert, die Arbeiterfortbildung dürfe nicht „Selbstzweck“ sein und solle „auch nicht in erster Linie individuelle Bedeutung haben“, sondern solle bewußt in den Dienst des Klas- senkampfes treten: „Sonst erziehen wir uns Ästheten, Schöngeister und Schwärmer, die selbstgefällig an ihrem schönen Ich herumba- steln, aber keine Klassenkämpfer.“54 Im Rückblick hat Wilhelm Koe- nen (1886-1963), Absolvent der Parteischule 1910/11, der sich 1920 der KPD anschloss und von 1949 bis zu seinem Tod als Abgeordne- ter in der Volkskammer der DDR tätig war, den Erfolg der Partei- schule als marxistischer Kaderschmiede bestritten. Seine Aufstellung habe ergeben, „daß kaum ein Zehntel der Schüler von sieben Jahr- gängen die in sie gesetzten Erwartungen, den marxistischen Flügel der Partei zu stärken, erfüllt haben.“55 Auch dieses Urteil bedürfte zur Verifizierung der eingehenden Untersuchung der politischen Le- bensläufe aller Parteischüler; sieben Biographien später berühmt ge- wordener Absolventen mögen aber die Richtung andeuten, in der diese Frage vermutlich zu beantworten wäre. Der mit Abstand prominenteste Student an der Parteischule scheint der These Wilhelm Koenens sofort zu widersprechen. Der gelernte Tischler Wilhelm Pieck (1876–1960) war 1895 der SPD bei- getreten.56 Erste Schritte als Partei- und Gewerkschaftsfunktionär

54 Heinrich Schulz, Volksbildung oder Arbeiterbildung? in: „Die Neue Zeit“, 22. Jg., Bd. 2, Nr. 42 vom 13. Juli 1904, S. 522–529, Zitat S. 528f. 55 Zitiert bei Dieter Fricke, Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1869 bis 1917, Bd. 1, Berlin (Ost) 1987, S. 693. 56 Vgl. Wilhelm Pieck, Gesammelte Reden und Schriften, 6 Bände, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin (Ost) 1959ff.

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Aus Anlass seines Todes am 7. September 1960 verausgabt die Post der DDR einen Block zu Ehren von Wilhelm Pieck.

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machte der gebürtige Gubener innerhalb der Arbeiterbewegung in Bremen, die ihn zum zweiten Kursus der Parteischule 1907/08 ent- sandte. Dort muss sich der Sohn eines Kutschers und einer Wä- scherin unter den Augen von Heinrich Schulz derart bewährt haben, dass er 1910 zum zweiten Sekretär des zentralen Bildungsausschus- ses der SPD berufen wurde. Als Gegner der Burgfriedenspolitik der SPD-Parteiführung und unter dem Eindruck seiner Erfahrungen als Soldat ab 1915 tendierte Wilhelm Pieck immer weiter nach links. Er zählte zu den Gründungsmitgliedern der KPD und gehörte von 1921 bis 1928 dem preußischen Landtag und von 1928 bis 1933 dem Reichstag an. Im Exil übernahm er an Stelle des in Deutschland in- haftierten Ernst Thälmann den Vorsitz der KPD. 1946 wurden er und Otto Grotewohl zu Vorsitzenden der SED gewählt. Von 1949 bis zu seinem Tod amtierte er als erster und einziger Staatspräsident der DDR. Auf dem zweiten Platz der Skala der prominenten Parteischü- ler folgt ein Mann, dessen Lebenslauf wie derjenige Wilhelm Piecks auf das engste mit der Bremer Sozialdemokratie verknüpft ist und der seinen durch die NS-Diktatur verspäteten Karrierehöhepunkt ebenfalls erst nach 1945 erreichte, womit allerdings die Gemein- samkeiten in beiden Biographien auch schon erschöpft wären. Der gebürtige Hamburger Wilhelm Kaisen (1887–1979) trat 1905, den Spuren seines Vaters folgend, der SPD bei und wurde noch vor dem Ersten Weltkrieg Vorsitzender des Parteidistrikts Hamburg-Fuhls- büttel.57 Die Hamburger SPD entsandte den gelernten Stukkateur 1913/14 zum siebten und letzten Kurs der Parteischule nach Berlin.

57 Vgl. Karl-Ludwig Sommer, Wilhelm Kaisen. Eine politische Biographie, Bonn 2000.

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Ein Symbol des Aufbaus und der Wirtschaftswunderzeit: Wilhelm Kaisen, mit knapp 20 Jahren im Amt der seit 1945 am längsten regierende Bürgermeister von Bremen.

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Während des gesamten Ersten Weltkrieges diente Kaisen als Soldat an der Westfront, ohne an seiner Partei zu zweifeln oder zu ver- zweifeln. 1919 nahm er das Angebot an, als Journalist beim „Bremer Volksblatt“ zu arbeiten; ein für sein weiteres Leben entscheidender Ortswechsel. Von 1920 bis 1928 und für ganz kurze Zeit noch ein- mal 1933 gehörte Wilhelm Kaisen der Bremischen Bürgerschaft an; die Pause als Landtagsabgeordneter hatte er als Senator für Wohl- fahrtswesen „überbrückt“. Die Jahre der NS-Diktatur überlebte er in der inneren Emigration als Landwirt. Von 1945 bis 1965 amtierte er als Präsident des Senats der Hansestadt Bremen und damit als einer von elf westdeutschen Ministerpräsidenten. Kann man Wilhelm Pieck und Wilhelm Kaisen in gewissem Sinn als Antipoden definieren, so zogen die beiden folgenden Partei- schüler aus ihrer Mitgliedschaft in der USPD ganz unterschiedliche Konsequenzen: Der oben bereits erwähnte gebürtige Königsberger Artur Crispien (1875–1946) war 1894 Mitglied der SPD geworden.58 Der gelernte Theatermaler arbeitete als Journalist für Parteiblätter in Ost- und Westpreußen. Während seiner Tätigkeit als Parteisekre- tär für Westpreußen mit Sitz in Danzig in den Jahren 1906 bis 1912 nahm er am vierten Kurs der Parteischule 1909/10 teil. Aus seiner seit 1912 ausgeübten Beschäftigung als Journalist bei der „Schwäbi- schen Tagwacht“ in Stuttgart wurde er im November 1914 als ent- schiedener Gegner der Burgfriedenspolitik der SPD-Parteiführung verdrängt. 1917 schloss sich Crispien der USPD an, als deren Vor- sitzender er von 1919 bis 1922 amtierte. Nach der November-Revo- lution war er Mitglied der provisorischen württembergischen Regierung und wurde 1919 in den Landtag in Stuttgart, 1920 auch

58 Zu Artur Crispien, Hermann Remmele und Wilhelm Siering gibt es außer Einträgen in den einschlägigen Parlamentshandbüchern, Abgeordneten- und Parteien-Lexika sowie einigen Kurzbiographien bislang keine biographischen Studien.

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Der KPD-Führer Hermann Remmele, der Bruder des zeitweiligen badischen Staatsprä- sidenten Adam Remmele (SPD), gehört zu den zahlreichen Opfern des stalinistischen Terrors.

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in den Reichstag gewählt, dem er bis 1933 angehörte. Crispien ver- weigerte sich einer Fusion von USPD und KPD und schloss sich 1922 wieder der SPD an. Er amtierte bis 1933 als einer ihrer Vorsit- zenden, ohne an den Einfluss von Hermann Müller, Otto Wels oder Hans Vogel heranzureichen. Aus dem Exil in der Schweiz kehrte er nicht mehr nach Deutschland zurück. Der in Ziegelhausen (heute ein Stadtteil von Heidelberg) gebo- rene Hermann Remmele (1880–1939) schloss sich 1897 der SPD an. Über sein Engagement im regionalen Metallarbeiterverband wurde der gelernte Eisendreher zum dritten Kursus der Parteischule 1908/09 entsandt. Aufgrund seiner Erfahrungen als Soldat lehnte er die Burgfriedenspolitik ab und schloss sich 1917 der USPD an, 1920 der KPD, als deren kurzzeitiger Vorsitzender er 1924 fungierte. Von 1920 bis 1933 gehörte er dem Reichstag als einer der führenden Abgeordneten seiner Partei an. Seit 1932 im Exil in Moskau im berüchtigten Hotel Lux lebend, wurde er als eines der zahlreichen Opfer der stalinistischen Säuberungen 1937 zum Tode verurteilt und am 7. März 1939 erschossen. Fast ein halbes Jahrhundert später, im Jahr 1988, wurde Hermann Remmele durch ein sowjetisches Ge- richt rehabilitiert. Die prominenten Beispiele für Parteischüler Nummer fünf und sechs, zwei Gewerkschafter, besetzten nach dem Ersten Weltkrieg wichtige politische Verwaltungsposten in Preußen; beider Lebens- läufe entwickelten sich jedoch schon während der Weimarer Republik diametral auseinander. Aus dem Leben des gelernten Feilenhauers und Schmiedegehilfen Wilhelm Siering (1875–1945) sind nur relativ wenige dürre Fakten bekannt. Der gebürtige Berliner nahm am vierten Kurs der Parteischule 1909/10 teil. Von 1912 bis 1919 amtierte er

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als zweiter Bevollmächtigter des Metallarbeiterverbandes in Berlin. Er war 1919 Mitglied der Verfassunggebenden Landesversammlung in Preußen, danach von 1921 bis 1932 Abgeordneter des preußischen Landtages. Von 1921 bis 1925 gehörte er der preußischen Regierung als Minister für Handel und Gewerbe an, anschließend fungierte er von 1926 bis 1932 als Landrat des Kreises Osthavelland. Seiner Partei, der SPD, blieb Siering – ganz anders als der ge- lernte Maurer August Winnig (1878–1956) – ein Leben lang treu. Winnig, Absolvent des ersten Kurses der Parteischule 1906/07, wurde 1912 Vorsitzender des Bauarbeiterverbandes.59 Unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges entwickelte er sich im politischen Spektrum immer weiter nach rechts. 1919 in die Nationalversamm- lung gewählt, wurde er im gleichen Jahr zum Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen ernannt. In dieser Funktion unterstützte er im März 1920 den Kapp-Putsch, was seinen Partei- und Gewerk- schaftsausschluss nach fast einem Vierteljahrhundert Mitgliedschaft zur Folge hatte. In den kommenden Jahren trat Winnig als freier Schriftsteller mit autobiographisch gefärbten Werken hervor, die durch antisemitische Passagen und sein Bekenntnis als nationaler Sozialist Aufmerksamkeit erregten. 1930 wurde er Mitglied der Kon- servativen Volkspartei, aber 1933 nicht der NSDAP, als deren Sym- pathisant er nichtsdestotrotz galt. Nach 1945 gehörte Winnig zu den Mitbegründern der CDU und erhielt – wofür auch immer – 1955 das Große Bundesverdienstkreuz verliehen. Auch der siebte und letzte hier genannte Parteischüler war zu- nächst einmal eine Parteischülerin und ebenfalls eine Wanderin zwi- schen den politischen Welten, bekam aber selbstredend in der

59 Vgl. Wilhelm Landgrebe, August Winnig. Arbeiterführer, Oberpräsident, Christ, Ding- lingen 1961; Wilhelm Ribhegge, August Winnig. Eine historische Persönlichkeitsanalyse, Bonn-Bad Godesberg 1973.

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Bundesrepublik Deutschland keinen staatlichen Orden verliehen, da ihre politische Wanderschaft nicht in die Richtung von August Winnig geführt hatte. (1888–1987), Tochter eines jü- dischen Kaufmanns, wurde 1908 Mitglied der SPD und der Ange- stellten-Gewerkschaft.60 Sie war bereits vor ihrer Teilnahme am sechsten Kursus der Parteischule 1912/13 eine enge Freundin von Rosa Luxemburg. Als Gegnerin der Burgfriedenspolitik schloss sie sich 1917 der USPD an und gehörte nach Kriegsende zu den Mit- begründern der KPD. 1921 bis 1924 vertrat sie ihre Partei als Abge- ordnete im Preußischen Landtag. 1929 als Rechtsabweichlerin aus der KPD ausgeschlossen, wurde sie 1932 Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP), der sich auch der junge Herbert Frahm, der spätere Willy Brandt, anschloss. 1933 flüchtete sie ins Exil, zunächst nach Belgien und Frankreich; zuletzt lebte sie 1941 bis 1951 in den USA. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland wurde Rosi Wolfstein wieder Mitglied der SPD. Im Alter von 99 Jahren ver- starb die wahrscheinlich letzte lebende Studentin der Parteihoch- schule der SPD im Dezember 1987 in Frankfurt am Main. Vergleicht man nur diese sieben Biographien aus 203 weitgehend noch zu eru- ierenden, so lässt sich die These wagen, dass die Parteischule in der Tat keine eindimensionalen Lebensläufe generierte, sondern sich in diesen Biographien sämtliche Wege – Haupt- und Nebenstraßen, Saumpfade, Sackgassen, aber auch Irrwege – der deutschen Arbei- terbewegung im 20. Jahrhundert widerspiegeln.

60 Vgl. Sie wollte und konnte nie etwas Halbes tun. Die Sozialistin Rosi Wolfstein-Frölich 1914 bis 1924, hrsg. von der Rosi-Wolfstein-Gesellschaft Witten, bearb. von Frank Ahland und Beate Brunner, Witten 1995.

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Die Sozialdemokratie als Partei der Bildung

IV.

Abschließend lässt sich resümieren, dass die Naturalismusde- batte von 1896 und die Installation der Parteihochschule 1906 die Sozialdemokratie des Kaiserreiches nicht nur auf der Höhe der Zeit zeigen, sondern im besten Sinn des Wortes als Avantgarde auswei- sen, die ihren politischen Konkurrentinnen um Jahrzehnte voraus war. Die Fragen von Massenbildung und Massenrekrutierung, von Elitenbildung und Elitenrekrutierung waren keine Fragen, die nur für die Sozialdemokratie des Kaiserreiches von Relevanz waren, sie stehen auch heute auf der politischen Agenda und sie gelten für alle Parteien. Letztlich hängt die Überlebensfähigkeit unserer bundes- deutschen Variante von Demokratie davon ab, dass die breite Masse der Wählerinnen und Wähler demokratische Entscheidungsprozesse versteht und nachvollziehen kann und dass es den Parteien gelingt, charismatische und kompetente Nachwuchspolitiker zu entdecken und zu fördern, die den Menschen weder nach dem Munde reden, noch über ihre Köpfe hinweg, sondern vermögen, durch glaubwür- diges Reden und Handeln die Wähler zum Gang an die Wahlurnen zu motivieren. Die immer stärker zurückgehenden Mitgliederzahlen der politischen Parteien (die SPD besitzt heute nicht einmal mehr die Hälfte der Mitglieder, die sie am Vorabend des Ersten Weltkrie- ges hatte) und die dramatisch sinkenden Wahlbeteiligungen sind be- drohliche Signale, die von der politischen Klasse bisher weitgehend ignoriert werden. Wenn beispielsweise bei der Oberbürgermeister- wahl in Duisburg am 2. Juli 2012, zwei Jahre nach der organisatori- schen Katastrophe bei der Love-Parade, die 21 Menschenleben forderte, und der daraus resultierenden Abwahl des bisherigen Amts- inhabers, gerade einmal 25,75 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgeben, dann ist dies trotz eines Ergebnisses von fast 72 Prozent für den Gewinner aus den Reihen der SPD kein „großer

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Die Sozialdemokratie als Partei der Bildung

Wahlerfolg“, wie es Ministerpräsidentin Hannelore Kraft formu- lierte, sondern ein Menetekel für unsere Demokratie.61 Wenn heute in Teilen der Sozialdemokratie, etwa von Reprä- sentanten der parteinahen Friedrich-Ebert-Stiftung, Nichtakademi- ker als „bildungsferne Schichten“ definiert werden, dann ist man meilenweit vom Selbstverständnis der eigenen Partei des Kaiserrei- ches entfernt. Wenn der Hamburger Senat 2011 die einheitliche Schreibschrift in der Grundschule abschafft und es künftig jeder ein- zelnen Schule überlassen bleibt, wie sie ihre Grundschüler schreiben lernen lässt, dann sind dies äußerst fragwürdige Bildungsexperi- mente, aber noch keine Bildungsstrategie. Besänne man sich hin- gegen auf seine Wurzeln und könnte man mit der gleichen Berechtigung, wie Ferdinand Lassalle oder Wilhelm Liebknecht dies tun konnten, die Sozialdemokratie als „im eminentesten Sinne des Worts die Partei der Bildung“ definieren – es stünde vermutlich we- sentlich besser um sie.

61 http://www.spiegel.de/politik/deutschland/spd-mann-soeren-link-gewinnt-ob-stich- wahl-in-duisburg-a-842025.html, zuletzt abgerufen am 25. 12. 2012.

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Publikationen der Stiftung

Walter Mühlhausen 1871–1925. Reichspräsident der Weimarer Republik 1064 S. mit 76 Abb. 2. verb. Aufl. Bonn 2007 ISBN 3-8012-4164-5 48,– Euro

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Bernd Braun Die Weimarer Reichskanzler. Zwölf Lebensläufe in Bildern 503 S. mit über 800 Abb. / Düsseldorf 2011 ISBN 978-3-7700-5308-7 59,80 Euro

 kl_schriften_35_inhalt_final_Layout 1 24.04.13 12:49 Seite 72

Bernd Braun, Walter Mühlhausen (Hrsg.) Vom Arbeiterführer zum Reichspräsidenten. Friedrich Ebert (1871–1925). Katalog zur ständigen Ausstellung in der Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte 228 S. mit ca. 200 z. T. farb. Abb. Heidelberg 2012 ISBN 978-3-928880-42-8 14,80 Euro kl_schriften_35_cover_finale_Layout 1 24.04.13 12:45 Seite 1

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Bernd Braun

Von Mutter Bertha bis Rosa Luxemburg – Die Sozialdemokratie Stiftung als Partei der Bildung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte

ISSN --- Stiftung ISBN ---- Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte