Manuskripte 14
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Der Erste Weltkrieg brachte eine doppelte Katastrophe für die Arbeiter. Er war zum einen ein Krieg gegen die Arbeiter und Verzögerter Widerstand Verzögerter Bauern aller Länder, denn sie hatten das Gros der Toten zu Bernd Hüttner (Hrsg.) beklagen. Viele Kader der Arbeiterorganisationen waren an der Front oder anderweitig im Kriegseinsatz – und fielen als widerständige Akteure im Reich aus. Und zum anderen spitz- Verzögerter te der Umgang mit dem Ersten Weltkrieg die Widersprüche innerhalb der Arbeiterparteien zu und führte schließlich zur Spaltung der Arbeiterbewegung in SPD und KPD, die dann an- Widerstand gesichts der Russischen Revolution eine unerwartete, parallele Die Arbeiterbewegung unD Dynamik bekommen sollte – ein Schisma, das bis heute anhält. Der erste weltkrieg 14 MAnuskripte neue Folge ISSN 2194-864X 14 rosa Luxemburg stiftung Verzögerter Widerstand Die Arbeiterbewegung und der Erste Weltkrieg Bernd Hüttner (Hrsg.) Verzögerter Widerstand Die Arbeiterbewegung unD Der erste weltkrieg Rosa-Luxemburg-Stiftung IMPRESSUM MANUSKRIPTE – Neue Folge wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und erscheint unregelmäßig V. i. S. d. P.: Martin Beck Franz-Mehring-Platz 1 · 10243 Berlin · www.rosalux.de ISSN 2194-864X · Redaktionsschluss: Mai 2015 Lektorat: TEXT-ARBEIT, Berlin Layout/Herstellung: MediaService GmbH Druck und Kommunikation Gedruckt auf Circleoffset Premium White, 100 % Recycling inhalt Bernd Hüttner Vorwort 7 Axel Weipert Zur aktuellen Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg 10 Gisela Notz Widerstand sozialistischer Frauen gegen den Krieg 20 Jochen Weichold AnarchistInnen, SyndikalistInnen und der Erste Weltkrieg 31 Ottokar Luban Die Massenstreiks für Frieden und Demokratie 40 Reiner Tosstorff Die Zimmerwalder Bewegung 46 Marga Voigt Clara Zetkin und ihr Wirken gegen den Krieg im Spiegel ihrer Briefe 59 Reiner Tosstorff Die Antikriegsbewegung im Rhein-Main-Gebiet 70 Henning Holsten «Die Lage wird bedrohlich. (In Neukölln geht das besonders schnell.)» Proletarischer Widerstand und Protest in einer Groß-Berliner Vorstadtgemeinde 79 Mario Hesselbarth Der Widerstand der sozialistischen Arbeiterinnen und Arbeiter: Das Beispiel Jena 89 Holger Politt Im Wettlauf der Geschichte Rosa Luxemburg und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges 98 Marcel Bois Zeiten des Aufruhrs Die globalen Proteste am Ende des Ersten Weltkrieges 103 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 117 VorWort Ab ungefähr 1870 befindet sich das deutsche Kaiserreich in tief greifenden sozia- len Umbrüchen: Die Bevölkerung und die Produktion wachsen, das Bildungsniveau steigt, die Gesellschaft verstädtert sich.1 Die mit der nun auch in Deutschland begin- nenden kapitalistischen Moderne verbundene Beschleunigung bereitet vielen Men- schen Unwohlsein. Doch trotz der Militarisierung der Gesellschaft und der überall noch dominanten autoritären Strukturen (gerade auf dem Land) herrscht vor allem in den Städten Aufbruchsstimmung und Zukunftsoptimismus – nicht zuletzt in der Arbeiterbewegung: Die Utopie scheint greifbar, die technische Entwicklung werde zum Übergang in den Sozialismus führen. Künstlerische Avantgarde, Jugendbewegung und Psychoanalyse bringen neue, radi- kale Ideen und Weltsichten hervor. Die Aussicht auf ein neues, besseres Leben beflügelt die Menschen. 1907 etwa gründet sich der Deutsche Werkbund. Er erhebt als Zusam- menschluss von Industriellen, KünstlerInnen und AutorInnen Sachlichkeit, Schlichtheit und Gediegenheit zu neuen Leitbildern einer rationalen, gleichwohl industriellen Pro- duktion, die den Massen zugutekommen und ihre Lebensbedingungen verbessern sollte. Die Arbeiterbewegung mit ihren drei Säulen Partei, Gewerkschaft und Kultur- bzw. Konsumorganisationen gewinnt zunehmend an Stärke. 1912 wird die SPD stärkste Fraktion im Reichstag. Der Einbau sozialistischer Ideen in den Kapitalismus hat be- reits begonnen, und die über den Tellerrand ihrer Klasse hinausschauenden Teile des Bürgertums begreifen, dass die Organisationen der ArbeiterInnen nicht mehr zerstört werden können. Die rasante Herausbildung von Neuem entwertet und zerstört Hergebrachtes. All die genannten Prozesse führten schon vor 1914 zu einer tiefen Verunsicherung des Männlichen und des Untertanen. So kann der Erste Weltkrieg – frei nach Klaus The- 1 Zahlen z.B. bei Kroll, Frank-Lothar: Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg, Berlin 2013. 7 weleit – durchaus auch als eine Gegenrevolution, als blutiges Instrument zur Wieder- herstellung und Aufrechterhaltung der konservativen, harten, soldatischen Männlich- keiten interpretiert werden. Die soldatischen Männer und ihre Verbündeten in der Schwerindustrie wollen ihre Körpergrenzen aufrechterhalten, gegen Verweichlichung und Verweiblichung angehen – und wenn es den eigen Tod kosten sollte. Wie der Krieg jedoch ablaufen würde, davon hatten die wenigsten eine Vorstellung. Das tech- nisierte Töten in den «Blutmühlen» traumatisierte eine ganze Generation und schuf so die mentalen Voraussetzungen für den Aufstieg des Nationalsozialismus. Der Erste Weltkrieg brachte eine doppelte Katastrophe für die Arbeiter. Er war zum einen ein Krieg gegen die Arbeiter und Bauern aller Länder, denn sie hatten das Gros der Toten zu beklagen. Viele Kader der Arbeiterorganisationen waren an der Front oder anderweitig im Kriegseinsatz – und fielen als widerständige Akteure im Reich aus. Und zum anderen spitzte der Umgang mit dem Ersten Weltkrieg die Widersprü- che innerhalb der Arbeiterparteien zu und führte schließlich zur Spaltung der Arbei- terbewegung in SPD und KPD, die dann angesichts der Russischen Revolution eine unerwartete, parallele Dynamik bekommen sollte – ein Schisma, das bis heute anhält. Die Linken vermochten während und nach dem Krieg nicht, das durch das mas- senhafte Töten und Sterben entstandene Sinnvakuum zu füllen. Menschen wollen, dass der Tod der eigenen Verwandten und Freunde auf dem Schlachtfeld oder der Hungertod an der Heimatfront einen Sinn ergibt, und sei er noch so bescheiden. Und diesen Sinn stifteten die Nationalisten, Militaristen und die sozialdemokratischen Va- terlandsverteidiger. Die Linke konnte dazu keine Gegenerzählung anbieten. Das Pro- blem im Verhältnis von Intellektuellen und Bevölkerung hat Antonio Gramsci bereits Anfang der 1930er Jahre gesehen: «Das volkshafte Element ‹fühlt›, aber versteht oder weiß nicht immer, das intellektuelle Element ‹weiß›, aber es versteht und vor allem ‹fühlt› nicht immer. Die beiden Extreme sind folglich Pedanterie und Spießbürger- tum auf der einen Seite und blinde Leidenschaft und Sektierertum auf der anderen.»2 Ähnliches ist heute beim Umgang mit den geschichtspolitischen Debatten zum Ersten Weltkrieg zu beobachten. Das Handeln und Fühlen von Menschen verstehen zu wollen, diesem Bedürfnis kamen beispielsweise die vielen lokalen und regionalen Ausstellungen zum Ersten Weltkrieg nach. Sie zeigten den Wahnsinn des Krieges sehr wohl und in teilweise drastischen Bildern oder durch andere Dokumente. Das viel- debattierte Buch von Christopher Clark3 passt relativ gut zu diesem Bedürfnis, da es persönlich argumentiert. Die linke Kritik blieb dagegen abgehoben, letztlich akade- misch. Die mechanistisch-ökonomistische Erklärung des Ersten Weltkrieges etwa aus der Entwicklung der Produktionskräfte heraus blieb seltsam stumpf. Die Publikati- onen und Argumente der Linken erwiesen sich – erwartetermaßen – als randstän- 2 Gramsci, Antonio: Gefängnishefte, Bd. 6: Philosophie der Praxis, Hefte 10 und 11, Hamburg u. a. 1994, S. 1490. 3 Vgl. Clark, Christopher: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013. 8 dig. Einige Beiträge von Wolfram Wette erzielten größere Resonanz, und das in fünf Auflagen erschienene Werk von Jörn Leonhard gilt allgemein als Antithese zu den Büchern von Clark und Herfried Münkler, wird aber nicht der Linken zugerechnet.4 Der nachfolgende Beitrag von Axel Weipert gibt einen Überblick über die geschichts- politische Debatte der letzten Monate. Die Literatur zum Verhalten der SPD und zu vielen anderen Aspekten des Kriegs- beginns und dann wieder des Kriegsendes ist umfangreich,5 aber es bleibt die Frage, warum es so – vergleichsweise – wenig Widerstand gab. Dass es durchaus Widerstand gab, dies zeigen die Beiträge in dieser Publikation, die widerständiges Verhalten schil- dern und Bedingungen und Räume für Widerstand ausloten. Nachfolgend finden sich Überblicke ebenso wie Lokalstudien, Artikel über programmatische und the- oretische Debatten in Parteien und bei einzelnen, wichtigen Intellektuellen neben solchen über konkrete Proteste und Streiks. Ich danke allen Autorinnen und Autoren vielmals für ihre Mitwirkung. Bernd Hüttner Berlin, Mai 2015 4 Vgl. Leonhard, Jörn: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014; Münkler, Herfried: Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918, Berlin 2013. 5 Eine Liste ausgewählter Titel und Quellen (mit Stand Sommer 2014) findet sich unter www.rosalux.de/ news/39231. 9 Axel Weipert zur aktuellen geschichtsschreibung über den ersten Weltkrieg Zum 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges ist eine wahre Flut an his- torischen Publikationen erschienen. Darin finden sich zahlreiche neue Erkenntnisse im Detail ebenso wie veränderte Perspektiven auf den Gesamtkonflikt. Zumindest in Deutschland ist die meistdiskutierte Frage in den Feuilletons die nach der Verantwor- tung für den Kriegsausbruch. Dennoch lohnt es sich, den Blick auch auf einen weit weniger beachteten Aspekt des Krieges zu richten: auf den Protest und Widerstand gegen