Rosa Luxemburg Contra Pieter Jelles Troelstra Zur Haltung Der Radikalen Linken in Deutschland Nach Dem 4

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Rosa Luxemburg Contra Pieter Jelles Troelstra Zur Haltung Der Radikalen Linken in Deutschland Nach Dem 4 JURGEN ROJAHN UM DIE ERNEUERUNG DER INTERNATIONALE: ROSA LUXEMBURG CONTRA PIETER JELLES TROELSTRA ZUR HALTUNG DER RADIKALEN LINKEN IN DEUTSCHLAND NACH DEM 4. AUGUST 1914 1. Einleitung Die Gemiitsverfassung derer, die am Abend des 4. August 1914 - nach jener denkwurdigen Sitzung des Deutschen Reichstags, in der die sozialde- mokratische Fraktion geschlossen fur die Kriegskredite stimmte - in der Wohnung Rosa Luxemburgs zusammenkamen, konne man sich denken. Aber wahrend etwa Karl Liebknechts folgende Kampfe gegen die Parteiin- stanzen in einem ,,nach dem Krieg erschienenen Briefwechsel" dokumen- tarisch festgelegt seien, unterrichte uns iiber Rosa Luxemburgs Leben in der ersten bitteren Zeit nach jenem 4. August ,,kein Brief, kein einziges Dokument" - schrieb etwa zwei Jahrzehnte spater Henriette Roland Hoist in ihrer Biographie der toten Freundin.1 DaB solch ein Brief von Rosa Luxemburg sich ausgerechnet in dem NachlaB ihres Landsmanns Troelstra finden konnte, jenes langjahrigen Fiihrers der hollandischen Sozialdemo- kratie, den sie, selbst auf dem radikalen Fliigel der hollandischen Arbeiter- 1 Vgl. H. Roland Hoist-van der Schalk, [Rosa Luxemburg. Haar leven en werken, Rotterdam 1935; deutsch:] Rosa Luxemburg. Ihr Leben und Wirken, Zurich [1937], S. 131f. Die Angaben fiber die Teilnehmer an der Zusammenkunft - laut Henriette Roland Hoist: Franz Mehring, Clara Zetkin, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg - sind unzutreffend. Vgl. unten. Die Bemerkung fiber Liebknechts Briefwechsel bezieht sich vermutlich auf den Briefwechsel mit dem Parteivorstand vom Oktober 1914 (Liebknecht an den Parteivorstand, 2.10.1914; Scheidemann an Liebknecht, 7.10.1914; Liebknecht an den Parteivorstand, 10.10., 16.10.1914; Scheidemann an Liebknecht, 17.10., 23.10.1914; Liebknecht an den Parteivorstand, 26.10., 31.10.1914). Derselbe wurde zunachst in Form maschinenschriftlicher Abschriften verbreitet (s. unten, Anm. 411; Anhang, Nr 3 a, 5), dann auch in gedruckter Form. Vgl. das Exemplar im NachlaB Grimm/Zimmerwald-Bewegung, I 22, Internationaal Instituut voor Sociale Geschiede- nis. Danach wurde er nochmals abgedruckt in Liebknechts Broschure Klassenkampf gegen den Krieg! Material zum ,,Fall Liebknecht". Als Manuskript gedruckt!, o.O. [1915] (Exemplar im IISG, a.a.O.), im folgenden zitiert nach Karl Liebknecht, Gesam- melte Reden und Schriften, 9 Bde, Berlin 1958-68 (fortan KLGRS), Bd 8, S. 1-144. Henriette Roland Hoist bezog sich wohl auf die um einen Anhang erweiterte Neuauf- lage: Karl Liebknecht, Klassenkampf gegen den Krieg, Berlin [1919], S. 21-33. Downloaded from https://www.cambridge.org/core. IP address: 170.106.202.226, on 30 Sep 2021 at 05:35:54, subject to the Cambridge Core terms of use, available at https://www.cambridge.org/core/terms. https://doi.org/10.1017/S0020859000111514 UM DIE ERNEUERUNG DER INTERNATIONALE 3 bewegung stehend, fortgesetzt befehdet hatte,2 dtirfte ihr kaum in den Sinn gekommen sein. Das Inventar des Troelstra-Nachlasses im Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis fuhrte bis vor kurzem unter der Nummer III.F.551 einen undatierten Brief von ,,Leibeck?" auf. Der bei einer systematischen Durchsicht aufkommende Verdacht, daB statt ,,Leibeck" vielmehr ,,Liibeck" zu lesen sein, d.h. es sich um einen Brief von Rosa Luxemburg handeln konnte, lieB sich leicht verifizieren: die Handschrift, in der die beiden Halften eines quer gefalteten Bogens (230 x 179 mm) jeweils beidseitig beschrieben sind, die am Kopf angegebene Adresse ,,Berlin- Sudende, Lindenstr. 2", die Unterschrift, die in der Tat ,,R. Lubeck" lautet, lieBen keinen Zweifel.3 Der Adressat war wohl, obwohl sein Name nicht genannt ist, Troelstra selbst. DaB der Brief 1914, zu Beginn des Kriegs, geschrieben wurde, laBt schon die Bemerkung iiber den ,,Verlust Jaures'" annehmen.4 Der Brief ist nicht der einzige erhaltene Brief von Rosa Luxemburg aus jener Zeit. Als Henriette Roland Hoist die einleitend zitierten Satze schrieb, war schon, abgesehen von dem Schreiben an den Labour Leader vom Dezember 1914,5 der bedeutsame Brief an Carl Moor vom 12. Okto- ber 1914, wenngleich schwer zuganglich, veroffentlicht.6 Seit dem zweiten Weltkrieg wurden peu a peu - zumeist erst in den letzten Jahren - weitere Briefe aus den letzten Monaten des Jahres 1914 an verschiedene Adressa- ten - Hans Diefenbach, Camille Huysmans, Paul Levi, Franz Mehring, Ernst Meyer, Clara Zetkin, Kostja Zetkin u.a. - publiziert.7 2 Zu Troelstra vgl. P. J. Troelstra, Gedenkschriften, 4 Bde, Amsterdam 1927-31 (kri- tisch hierzu A. Mellink, ,,De Gedenkschriften van Troelstra", in: Bulletin Nederlandse Arbeidersbeweging, August 1984, S. 5-37); E. Hueting, F. de Jong Edz., R. Ney, Ik moet, het is mijn roeping. Een politieke biografie van Pieter Jelles Troelstra, o.0.1981. - Zu Henriette Roland Hoist vgl. K. F. Proost, Henriette Roland Hoist in haar strijd voor gemeenschap, Arnhem 1937; H. Roland Hoist-van der Schalk, Het vuur brandde voort. Levensherinneringen, Amsterdam, Antwerpen [1949]. 3 In der Lindenstr. 2 wohnte Rosa Luxemburg seit dem Herbst 1911. Vgl. J. P. Nettl, Rosa Luxemburg, 2 Bde, London, New York, Toronto 1966, Bd 2, S. 475. Seit ihrer 1897 zur Erlangung der deutschen Staatsangehorigkeit eingegangenen Scheinehe mit Gustav Lubeck war - trotz 1903 erfolgter Scheidung - ihr offizieller Name, dessen sie sich auch gelegentlich in ihrer Korrespondenz bediente, Lubeck. Ebd., Bd 1, S. 109f., 200. 4 Vgl. Anhang, Nr 1. 5 Vgl. Liebknecht, Klassenkampf, S. 69-71; naheres unten. 6 E. Meyer, ,,Gegen den Strom! Ein unverdffentlichter Brief Rosa Luxemburgs", in: Niedersachsische Arbeiterzeitung, 1926, Nr 182 (7.8.), Beilage. 7 Vgl. Rosa Luxemburg, Briefe an Freunde, nach dem von L. Kautsky fertiggestellten Manuskript hrsg. von B. Kautsky, Hamburg [1950]; F. Tych, ,,Listy R6zy Luksemburg do Franciszka Mehringa (w 50 rocznice smierci)", in: Z Pola Walki, Jg. 12 (1969), Nr 1, S. 145-80; S. Quack, Geistig frei und niemandes Knecht. Paul Levi - Rosa Luxemburg. Downloaded from https://www.cambridge.org/core. IP address: 170.106.202.226, on 30 Sep 2021 at 05:35:54, subject to the Cambridge Core terms of use, available at https://www.cambridge.org/core/terms. https://doi.org/10.1017/S0020859000111514 4 JURGEN ROJAHN Nichtsdestoweniger verdient der jetzt gefundene, im Anhang (Nr 1) veroffentlichte Brief von Rosa Luxemburg besondere Beachtung: ihre friiheste bisher bekannte Einschatzung der Reaktion der sozialistischen Parteien auf den ausgebrochenen Krieg enthaltend, wirft er neues Licht auf ihre Haltung nach dem 4. August 1914. Obwohl namentlich die Historiographie der DDR, die sich der radikalen Linken in der alten SPD8 besonders angenommen hat, hierzu eine Fiille Material erschlossen hat, ist die Beginnphase des Prozesses, in dem sich jene Stromung nach dem 4. August zu einer besonderen Kraft formierte, noch immer unzureichend untersucht.9 Schon friih trat die - in der Politische Arbeit und personliche Beziehung. Mit 50 unveroffentlichten Briefen, [Koln 1983]; Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, hrsg. vom Institut fur Marxismus-Leninis- mus beim ZK der SED, 5 Bde, Berlin 1982-84 (fortan RLGB). Im folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert, die - auBer dem an Huysmans - alle bislang publizierten Briefe an die o.a. Personen en t halt. - Zu den bisher veroffentlichten Briefen Rosa Luxem- burgs im IISG vgl. G. Langkau,,,Briefe Rosa Luxemburgs im IISG - Ein Nachtrag", in: International Review of Social History, Jg. 21 (1976), S. 412-44, wo die vorangegange- nen Publikationen nachgewiesen sind. 8 Fur verschiedene Parteien werden im folgenden die iiblichen Abkiirzungen benutzt. BSP: British Socialist Party; Bund: Allgemeiner Jiidischer Arbeiterbund in Litauen, Polen und RuBland; ILP: Independent Labour Party; KPD: Kommunistische Partei Deutschlands; POB: Parti Ouvrier Beige (Belgische Werkliedenpartij); PPS: Polska Partja Socjalistyczna; PSI: Partito Socialista Italiano; SDAP: Sociaal-Demokratische Arbeiderspartij; SDKPiL: Socjaldemokracja Krolestwa Polskiego i Litwy; SDP: So- ciaal-Demokratische Partij; SFIO: Section franchise de l'lnternationale ouvriere; SLP: Socialist Labor Party; SPA: Socialist Party of America; SPD: Sozialdemokratische Partei Deutschlands; SPS: Sozialdemokratische Partei der Schweiz. 9 Vgl. besonders J. Kuczynski, Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie. Chronik und Analyse, Berlin 1957; L. Dornemann, Clara Zetkin. Ein Lebensbild, Berlin 1957; W. Bartel, Die Linken in der deutschen Sozialdemokratie im Kampf gegen Militarismus und Krieg, Berlin 1958; J. Schleifstein, Franz Mehring. Sein marxistisches Schaffen 1891-1919, Berlin 1959; H. Wohlgemuth, Burgkrieg, nicht Burg- friede! Der Kampf Karl Liebknechts, Rosa Luxemburgs und ihrer Anhanger um die Rettung der deutschen Nation in den Jahren 1914-1916, Berlin 1963; Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, hrsg. vom Institut fur Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, 8 Bde, Berlin 1966; H. Wohlgemuth, Die Entstehung der Kommunistischen Partei Deutschlands 1914 bis 1918, Berlin 1968; A. Laschitza, G. Radczun, Rosa Luxem- burg. Ihr Wirken in der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin 1971; H. Wohlgemuth, Karl Liebknecht. Eine Biographie, Berlin 1973. - Sonst waren auBer Nettls Luxemburg- Biographie (s. Anm. 3) besonders zu nennen: C. E. Schorske, German Social Democ- racy 1905-1917. The Development of the Great Schism, Cambridge, Mass., 1955; G. Badia, ,,L'attitude de la gauche social-d6mocrate allemande dans les premiers mois de la guerre (aout 1914 - avril 1915)", in: Le Mouvement Social, Nr 49 (1964), S. 81-105; S. Miller,
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