Kultur

BERLINALE „Sieht aus wie in Tokio“ Zum ersten Mal finden die Filmfestspiele in Hightech-Atmosphäre am neuen Potsdamer Platz statt – Anlass, durch Kultur, Stars und Glamour das Schlagwort von der neuen Mitte der Republik mit Leben zu erfüllen.

eorge Clooney war wenigstens ehr- maxx und Cinestar, Tiefgaragen, einer lich. Nein, er habe nichts von der Spielbank und gläsern überdachten Ein- GStadt gesehen, lächelte der grau kaufsarkaden. melierte US-Star charmant in eine Fern- Hier spielen alle Weltstadt, hier feiert sehkamera, er sei bloß vom Flughafen ins die deutsche Metropolengegenwart sich Hotel gefahren. Da Clooney, 38, Haupt- selbst; nichts, was minimalistisch schick ist darsteller des Berlinale-Beitrags „Three (und irgendwie aus den USA stammt), darf Kings“, in der vergangenen Woche der am Potsdamer Platz fehlen. Die Berlinale- größte Star war, den die Festspiele aufzu- City bietet alles, was der Festival-Mensch bieten hatten (Leonardo DiCaprios fle- so braucht – wer nicht will, braucht nicht hentlich erbettelter Auftritt zu „The Beach“ hinaus in die schmuddelige Stadt. wurde für vorigen Samstag erwartet), wird Die Bayern haben, was fürs Gemüt, so- er – dank Interviews, Empfängen, Presse- gar ein echtes Hofbräuhaus ins Sony Cen- konferenzen und der „Three Kings“-Party ter platziert; letzte Woche wurde es einge- Berlinale-Palast (bei der Eröffnung am vergangenen – auch den Rest der Zeit nicht viel von gesehen haben. Das immerhin verbindet ihn mit den normalsterblichen Er- werbstätigen der internationa- len Filmbranche, die in diesem Jahr zum ersten Mal ihre An- derthalb-Wochen-Festival-Heer- lager in jenes dreieckige Hoch- hausareal verlegt haben, das in Berlin unter dem Decknamen „Potsdamer Platz“ fungiert. Im Jubiläumsjahr – sie finden zum 50. Mal statt – sind die Film- festspiele mit Sack und Pack und rotem Teppich hierher um- gezogen: eine brandneue Ber- linale im neuen Jahrtausend.

Am Potsdamer Platz soll al- AP les größer werden (7500 Plätze Berlinale-Helden Wenders, Jovovich, Jurychefin Gong in 27 Sälen), technisch perfek- „Vor lauter Stars sieht man keine Berliner mehr“ ter und vielfältiger (circa 300 Filme in mehr als 700 Vorführungen), rum- weiht, unter großer Anteilnahme der Lo- meliger (rund 3000 akkreditierte Journalis- kalpresse. Nun steht neben dem Eingang ten) und sicherer (etwa 1300 Sicherheits- ein uniformierter Wachmann und ver- kräfte). schreckt japanische Touristen. Und ein Platz ist allerdings das Einzige, was es paar Meter weiter hastet der neue Bahn- am Potsdamer Platz nicht gibt, stattdessen chef Hartmut Mehdorn, den Blick nach enge, verquererweise nach deutschen oben, durch das zugige Rund, von wo aus Dichtern und Denkern benannte Asphalt- demnächst auch die Deutsche Bahn regiert gassen, in die zwischen steil aufragenden wird. Nein, ein Büro habe er sich noch Neubauten nur wenig Berliner Winterlicht nicht ausgesucht, sagt Mehdorn, und ei- fällt: eine Stadt in der Stadt, retortenper- gentlich würde er sowieso viel lieber zur fekt, mit Hotels, Sushi-Bars, Bagel-Läden, Berlinale gehen: „Bekommt man da ei-

Leinwandsupermärkten namens Cine- gentlich noch Karten?“ PRESS KRUG / ACTION F.

220 7/2000 BUTZMANN / ZENIT BUTZMANN Mittwoch): Die Augen der Welt blicken nicht allzu begeistert auf „New Berlin“

nicht schwer gefallen“ vom al- Zur Eröffnungsgala am vergangenen ten Standort am Bahnhof Zoo, Mittwoch trat erstmals der amtierende die Gegend wirke schließlich Bundespräsident an, und SPD-Altkader „heruntergekommen“. Johannes Rau hielt, mit Karteikarten ra- Auch die gegenwärtige Re- schelnd, eine jovial plätschernde Rede, an gierung hat sich der Berlinale deren Ende sich die „Berlinjale“ (Rau-Ver- freudiger angenommen, als es sprecher) als eröffnet betrachten durfte. die alte CDU-Garde je für rat- Davor ließ es sich der allgegenwärtige Kul- sam hielt: Helmut Kohl hatte tur-Staatsminister Michael Naumann nicht jahrelang nur seinen Partei- nehmen, mit huldvollem Lächeln dem Fes- freund Eberhard Diepgen vor- tival seinen Weg in die Zukunft zu weisen: geschickt. Der quälte sich „Schluss mit den Rückblicken“, verlangte durch seine Ansprachen und Naumann. outete die christlichen Demo- Für das gesellschaftspolitische Projekt kraten mit jedem Auftritt als der neuen Mitte liefern die Filmfestspiele Leinwand-Ignoranten, die die am Potsdamer Platz, buchstäblich in der internationale Filmlandschaft Mitte der Stadt gelegen, eine maßgefertig-

N. KEESTEN / SHAMROCK PHOTO N. KEESTEN als Terra incognita betrachte- te Vorlage: En miniature praktiziert das Berlinale-Gast Campbell: Globales Flair ten. Berlinale, na ja. Das Festival jenen Neustart, der globales Flair, macht die neue Regierungs- Glamour für die Massen und das wohlig Da mag ein Zigarrenasche verstreuender mannschaft ganz anders. Gerhard Schröder wärmende Gefühl entstehen lässt, dass die Filmproduzent beim Eröffnungsempfang lässt per Grußwort im Programmheft aus- Errungenschaften der aufgekratzten neuen fluchen, dass „der Potsdamer Platz nicht richten, die Bundesregierung stehe „mit Republik wohlwollend beklatscht werden. Berlin“ sei: Mit dem neuen Standort ver- Vergnügen“ zu ihrem Engagement bei den „In diesen Tagen schauen die Augen der binden sich große gesellschaftspolitische Festspielen – das Vergnügen war Schröder Welt auf den Potsdamer Platz“, säuselte Erwartungen. Die Filmfestspiele seien anzusehen, als er Ehrengast Jeanne der „Tagesspiegel“ und erspähte „Hol- „dort angekommen, wo sie hingehören: im Moreau („Jules und Jim“), 72, begrüßen lywoods Fußabdrücke an einem Ort, der Zentrum der neuen deutschen Haupt- durfte: Die französische Schauspielerin, noch jung ist, aber mit der Berlinale 2000 stadt“, trumpfte die „Welt“ auf, und die mit einer Hommage an ihr Lebenswerk eine neue Aura gewinnt“. „“-Zeitung übte Hurra-Lokalpatriotis- nach Berlin gelockt, und der deutsche Aber die Augen der Welt blicken bisher mus: „Wer braucht schon Cannes, wir ha- Kanzler dinierten zufällig im selben Res- nicht allzu begeistert auf „New Berlin“. ben den Potsdamer Platz!“ Selbst der ewi- taurant, und zum Glück waren ganz zufäl- „Das sieht hier aus wie in Tokio“, empört ge Festival-Chef Moritz de Hadeln, 59, be- lig Fotografen zur Stelle, um den Hand- sich Asako Fujioka von der japanischen kannte, letztlich sei ihm „der Abschied schlag Berlin– zu verewigen. Independentfilm-Organisation New Cine-

der spiegel 7/2000 221 Kultur Grillparty mit der Volker Schlöndorff drehte das Leben der Terroristin Inge Viett nach – und bekam eine Menge Ärger.

ass die sauberen Herren der Stasi autor („Solo Sun- Richtig sei, bestätigt Schlöndorff, „dass ausgerechnet den Stadtguerrilla- ny“), 68, in die Geschichte ihrer ideellen wir ihr kein Mitspracherecht einräumen DAussteigern der RAF Asyl in ih- Gesamtterroristin eingearbeitet. wollten“. Der Film sei zwar „nicht denk- rem sozialistischen Arbeiter-und-Bau- Obwohl der Film erst am Mittwoch die- bar ohne Vietts Leben, wohl aber ohne ern-Paradies gewährten, zählt sicher zu ser Woche uraufgeführt wird, hat Viett ihre Autobiografie“. Während die ersten den absurderen Polit-Deals der deutsch- bereits massiv gegen „Die Stille nach dem Drehbuchfassungen „haarscharf an der Aktenlage geklebt“ hätten, seien er und Kohlhaase, als sie das Projekt nach mehr- jähriger Unterbrechung wieder in Angriff nahmen, zum Schluss gekommen: „Wir verfügen frei über alles, was wir kennen.“ So geriet die Hauptfigur schließlich zu ei- nem Destillat mehrerer RAF-Schicksale. Aus Vietts lesbischen Affären wird im Film eine einzige amouröse Beziehung zu einer Frau; stattdessen verliebt sich die Filmheldin, Rita Vogt (Bibiana Beglau) ge- tauft, während der Sommerfrische in ei- nen strammen Aushilfsbademeister, der sie heiraten und in seine Ausbildungsstät- te nach Russland mitnehmen will – dieses Kapitel stammt angeblich aus Susanne Albrechts DDR-Erfahrung. Insgesamt entwirft der Film, für knapp fünf Millionen Mark an 36 Drehtagen zu „besseren Fernsehbedingungen“ (Schlön- dorff) fertig gestellt, ein rundum schmei-

ARTHAUS chelhaftes Porträt der radikalen Rita: „Stille nach dem Schuss“-Darstellerin Beglau (2. v. l.): RAF-Geschichte im Zeitraffer Sie ist eine aufrechte Weltverbessererin, loyal, strahlend, sie arbeitet hart und deutschen Geschichte. Aber es war ein Schuss“ protestiert. Ihren Prozess An- ist stets von der Sache begeistert – egal Deal, von dem alle Seiten profitierten: fang der Neunziger hatten Kohlhaase und ob es anfangs der bewaffnete Kampf ist Die gejagten, ausgelaugten RAF-Ausstei- Schlöndorff beobachten und sich einen oder später der antikapitalistische Traum ger – insgesamt waren es zehn, die von 100-seitigen Bericht darüber liefern las- der DDR. 1980 an in der DDR mit neuen Lebens- sen. 1993 begannen sie, sich um eine Zu- Im Zeitraffer hastet die Geschichte zu- läufen ausgestattet wurden – waren ihre sammenarbeit mit Viett zu bemühen. erst durch die Siebziger. Berlin, Naher Verfolger los, und die DDR hatte (neben Kohlhaase besuchte die Ex-Terroristin Osten, Paris, ein Bankraub („Nieder mit besten Quellen über die westdeutsche mehrfach im Gefängnis, und die war zu- dem Kapitalismus!“), eine Gefangenen- illegale Szene und der Sicherheit, nicht erst recht angetan von dem „sprühenden befreiung, ein paar konspirative Treffs. selbst Ziel von Anschlägen zu werden) Mann“. Nachdem sie aber erste Dreh- Sehr bald läuft Rita einem gewieften Sta- ein paar Staatsbürger mehr, die tatsäch- buchfassungen gelesen hatte, verweiger- si-Mann (basierend auf dem für „Anti- lich an ihr System glaubten. te Viett die Mitarbeit am Leinwandpro- terror“ verantwortlichen MfS-Offizier In „Die Stille nach dem Schuss“, sei- jekt, weil sie „den gesamten Grundtenor Harry Dahl, dargestellt von Martin Wutt- nem Wettbewerbsbeitrag bei den Berliner des Films“ als „falsch“ empfand. ke) in die Arme, und mit den Jahren ver- Filmfestspielen, verquickt Volker Schlön- 1996 publizierte sie dann ihre Autobio- tiefen sich die antiimperialistischen Be- dorff, 60, jetzt die Lebensgeschichten grafie „Nie war ich furchtloser“. Vietts ziehungen: Man feiert und belauert sich mehrerer umgesiedelter und proletarisch Verlag, die Hamburger Edition Nautilus, bei Grillpartys und Gelagen auf einem resozialisierter RAF-Frauen zum, so der beklagt jetzt, dass Schlöndorff „die Her- idyllischen Stasi-Landsitz. Regisseur, „Denkmal für eine unbekann- kunft des Stoffes nicht honoriert“ und Schließlich das Angebot: Die frustrier- te Terroristin“. „Leben und Werk einer Autorin nach Gut- ten RAF-Altlasten sollen in der DDR ent- Viele Details der Filmstory stammen dünken geplündert“ habe. Verhandlun- sorgt werden statt – wie erträumt – in so- aus der Biografie Inge Vietts, 56, die nach gen über eine finanzielle Regelung blieben zialistischen Staaten Afrikas, etwa Ango- der Wende in der DDR gefasst und zu 13 erfolglos, weil Viett „das gesamte Gebaren la oder Mosambik. Denn dort sind, schla- Jahren Haft verurteilt wurde, aber auch von Schlöndorff und seinen Justiziaren als gendes Argument, „alle schwarz“ – ein Erfahrungen von Silke Maier-Witt, 50, Su- würdelos“ verurteilte: „Ich sollte eine Art Untertauchen für die blassen RAFler sanne Albrecht, 48, und anderen haben Schweigegeld bekommen und damit jedes wäre schwierig. Die traumatisierte Rita, der Filmemacher und sein Drehbuch- Recht auf Mitsprache verlieren.“ die in Paris einen Verkehrspolizisten an-

222 der spiegel 7/2000 geschossen und schwer verletzt hat, schließt sich den Aussteigern an. Mit ihrem neuem Leben zwischen Plat- tenbau und Fabrik setzt auch der Film neu an – zu der Geschichte, die Schlön- dorff vor allem erzählen will: In „Die Stil- le nach dem Schuss“ soll es „nicht um Terrorismus gehen, sondern um die DDR“. Aber in dem Stoff, den sich der West-Filmemacher und sein Ost-Dreh- buchautor ausgesucht haben, ist das eine nicht ohne das andere zu haben. Ritas Vergangenheit ragt in den DDR-Alltag hinein, überschattet ihn, zerfrisst jeden Anschein von Norma- lität. Die DDR ist in „Die Stille nach dem Schuss“ nicht viel mehr

als eine naturalistisch PRESS ADOLPH ausgestattete Guckka- Berlinale-Star Clooney, Begleiterinnen: Dienstgespräche an der Bar stenbühne, auf der ein zutiefst innerliches Dra- ma, das Filmfestspielareal sei „wie zu Hau- Kellern anlegen. Die Alliierten zerbomb- ma seinen Lauf nimmt. se“, nämlich hässlich. ten und zerschossen das Gelände im Kampf Genau an diesem Doch so wie die Berlinale den futuristi- um Berlin, nach dem Krieg wurde es zum Drama aber scheitert schen Standort braucht, um sich als Grenzgebiet, und damit ja keine Arbeiter der Film. In seinem Ei- „Hauptstadtfestival“ neu zu kreieren, ge- und Bauern ihrem Staat durch die unterir- fer, Ritas Vorgeschichte nauso braucht auch der Potsdamer Platz dischen Gänge entfliehen konnten, mauer- schnell abzuhaken, ver- das Festival: Die Berlinale legitimiert und te die DDR-Führung nach 1961 diesen Teil nachlässigt er das ideo- adelt das rein kommerzielle, städtebaulich der Grenze besonders aufwendig zu.

A. POLING / FOTEX A. POLING logische Woher der Fi- fragwürdige Boom-Viertel, das sich im Lau- Fast drei Jahrzehnte lang degradierte die Schlöndorff gur, die Frage, was der fe der letzten Jahre aus der Brache gewal- Teilung der Stadt den Potsdamer Platz zum Terrorismus für sie ei- tiger Baugruben emporgeschraubt hat und Niemandsland, zur gebrochenen Achse gentlich bedeutet hat. bis heute so fremd wirkt wie ein Spender- zwischen Ost und West: Statt Ampeln Dadurch raubt er auch herz im Gewebe der Stadt – isoliert und im- stoppten Wachtürme, Stacheldraht und ihrem Wohin die psy- mer in Gefahr, abgestoßen zu werden. Mauer jeden Verkehr. chologische Spannung. Die Berlinale werde „den neuen Platz in Doch kaum war 1989 die Mauer gefällt Wie geht man einen sol- die Stadt hineinholen“, hofft die „FAZ“, worden, war Schluss mit der quälenden Er- chen Weg? Wie über- und das Boulevardblatt „B.Z.“ titelte er- innerung: „Visit Tomorrowland“ hieß jetzt zeugt man sich selbst leichtert: „Endlich strahlt der Potsdamer das Motto, und bald entwickelte sich die davon, dass man den al- Platz“ – ganz so, als gelte es, ein bisschen rote „Info-Box“ am Rand der Baugruben ten Idealen trotz allem schlechtes Gewissen angesichts der Tatsa- zur Touristenattraktion. treu bleibt? Bereut che abzuschütteln, dass der Platz nach dem „Tomorrowland“ ist jetzt Gegenwart, man? Zweifelt man? Si- Mauerfall ratz, fatz an die Meistbietenden auch wenn immer noch Kräne, Bauzäune cher, da ist Ritas Angst, versteigert worden war. In der Tat: Der und Gerüste die Ränder des Viertels säu- sich zu verraten, da ist Muff des Wildwuchskapitalismus wird von men. Wie für den Potsdamer Platz ist es die enorme Anstren- den Duftmarken der Stars aufs Trefflichste auch für das Festival nicht das erste Mal, gung, nie die Wahrheit überdeckt: Eau de culture, sozusagen. dass die „Schluss mit den Rückblicken“-Pa- sagen zu dürfen. Wie heute haben sich am Potsdamer role ausgegeben wird. An seinem alten Was es aber bedeuten Platz, drastischer als an jeder anderen Stel- Hauptquartier aber, dem Zoo-Palast im

M. WITT muss, eines Tages mit le der Stadt, immer wieder die Zeitläuf- Westen der Stadt, hätte sich die Wiederge- Viett fremder Identität in ei- te niedergeschlagen. Seine Entwicklung burt der Berlinale aus dem Geist der neu- ner fremden Stadt in ei- durch die Jahrzehnte folgte weniger städte- en Mitte nicht so leicht zelebrieren lassen. nem fremden Staat aufzuwachen, abge- baulichen als politischen Vorgaben: Der Denn dort zerrte der Ballast von meh- schnitten von allen vertrauten Kontakten, Potsdamer Platz ist Geografie als Zeitge- reren Jahrzehnten Festival-Geschichte an von jeder Vergangenheit und jeder Kon- schichte. 1929 dichtete Erich Kästner über jedem Klappsitz – mehr historischer Ballast tinuität des eigenen Lebens, das alles ver- einen „Besuch vom Lande“: „Sie stehen denn ästhetischer, denn die Berlinale galt schwindet in „Die Stille nach dem Schuss“ verstört am Potsdamer Platz. Und finden unter den drei A-Filmfestivals der Welt hinter Ritas optimistischem Lächeln. Berlin zu laut.“ Kein Wunder: Damals war (Berlin, Cannes, Venedig) schon immer als Sie findet sich einfach zurecht. Als der Potsdamer Platz die verkehrsreichste das „politische“. ihre erste Tarnung nach einigen Jah- Straßenkreuzung Europas. Hier stand die In den Anfangsjahren des Kalten Krieges ren auffliegt, zischt eine Kollegin ihr erste Ampel Deutschlands, hier fuhren waren die Festspiele 1951 vor allem deshalb gehässig die Frage zu: „Wie lebt es sich stündlich 600 Straßenbahnen. Und hier gab (mit Unterstützung der US-Alliierten) ge- mit dieser Vergangenheit?“ Der Film es, seit 1914, den Vergnügungspalast „Haus gründet worden, um ein Zeichen des stellt sich diese Frage viel zu selten. Vaterland“. Selbstbehauptungswillens der westlichen Susanne Weingarten Während der Nazi-Ära tagte am Potsda- Inselstadt im „Roten Meer“ zu setzen. Nur mer Platz der Volksgerichtshof, unterirdisch zwei Jahre danach musste das Festival ent- ließ Hitler ein Labyrinth aus Gängen und scheiden, ob es trotz des blutigen Auf-

der spiegel 7/2000 223 Kultur Psychokrieg unter Palmen Berühmt wurde er als romantischer, trauriger „Titanic“-Held. Nun spielt Leonardo DiCaprio in „The Beach“ einen kaltherzigen Rucksacktouristen in Thailands Inselwelt.

o sieht die perfekte Idylle aus: Pal- bessere Welt beschreibt, die am Ende die men, weißer Sand, grünblaues Was- schlechtere ist. Das Buch wurde ein in- Sser; in einer felsengeschützten Bucht ternationaler Bestseller. Nun ist es von hält ein wunderschöner Mann wie Leo- dem Regisseur Danny Boyle, dem Dreh- nardo DiCaprio eine junge, bezaubernde buchautor John Hodge und dem Produ- Französin im Arm und schaut mit ihr aufs zenten Andrew MacDonald verfilmt wor- „Beach“-Star DiCaprio: Den Sonnyboy treibt Meer. Ein Stück weiter sind die anderen den, die sich schon mit den schwarzen Freunde, sie lachen. Bald werden alle zu- Komödien „Kleine Morde unter Freun- Das Vorparadies ist eine Marihuana- sammen den selbst gefangenen Fisch gril- den“, „Trainspotting“ und „Lebe lieber Plantage, bewacht von düsteren thailän- len. Dann kommt der Sonnenuntergang. ungewöhnlich“ Respekt verschafft haben. dischen Gangstern. Und dann sind sie an- Dann die Nacht. Das ist das Paradies. In dieser Woche kommt „The Beach“ in gekommen: an dem Strand, der so perfekt Natürlich träumen fast alle Rucksack- die deutschen Kinos, mit Leonardo Di- ist wie die Phantasie. touristen, die nach Thailand fahren, von Caprio, 25, als Richard – zwei Jahre nach Dort treffen sie auf eine kleine inter- so einem verwunschenen Ort, versteckt seinem Triumph in „Titanic“. nationale Gemeinschaft aus sesshaft ge- auf einer Insel vor der Küste. Vom per- DiCaprio erweist sich als die perfekte wordenen Rucksackreisenden. Diese ha- fekten Strand, der Erlösung verspricht Besetzung. Zum einen, weil er mit seinen ben Hütten aus Palmwedeln gebaut, als vom Entsetzlichen der modernen Welt. sonnenblondierten Haaren und klaren wären sie Darsteller der Bacardi-Rekla- Die meisten Reisenden bleiben dann blauen Augen den Archetyp des Beach- me, und alle sind schlank und schön und doch irgendwo vorher hängen, in den lau- boys verkörpert – auch wenn die Haupt- braun gebrannt, auch wie in der Bacardi- ten Bars von Chaweng Beach auf Ko Sa- figur im Roman Engländer ist. Er ist nicht Reklame. Die einen fischen, die anderen mui oder bei den Techno-Partys auf Ko dick geworden, wie manche spekuliert kümmern sich um den Gemüseanbau, ei- Phangan, wo sie wenigstens im Alkohol-, oder vielleicht gehofft hatten, sondern jun- nige kochen, alle essen und schlafen ge- Gras- oder Ecstasy-Rausch in ihre schöne genhaft schlank, gut durchtrainiert, nett, meinsam. Hier ist das Glück zu Hause. Parallel-Welt driften. harmlos, jedenfalls scheint es so. Nein, natürlich nicht. Der Strand ist Richard aber hat die Landkarte. Die Zum anderen aber schafft es DiCaprio, ein Glücksversprechen, das nicht einge- Landkarte mit einem Kreuz auf einer der die Maske von seinem romantischen Ge- löst wird. In Garlands Roman erkennt vielen Inseln. Daffy, ein durchgedrehter sicht abzuziehen. Aus Schönheit wird Richard nach und nach die wahre, bösar- Brite, hatte ihm vom perfekten Strand Selbstgefälligkeit, aus großen Gefühlen tige Struktur der Gruppe: Es ist ein fa- erzählt und ihm am nächsten Tag die wird große Kälte, statt sich aufzuopfern, schistisches System, angeführt von Sal, Skizze an die Tür seines klapprigen Ho- opfert er andere. Es ist DiCaprios persön- die sich als esoterische „Erdmutter“ gibt, telzimmers in Bangkok geheftet. Dann liches Wagnis und eine große schauspiele- aber eine kontrollsüchtige Diktatorin ist. hat Daffy sich die Pulsadern aufgeschnit- rische Leistung, sein „Titanic“-Kitsch- Sie legt die Regeln fest. Schwache und ten, und, vermutlich Image mit der Rolle zu Kranke werden aus der Elite-Gemein- die Arme durch die demontieren: Aus dem schaft aussortiert, Zweifel und Wider- Luft wirbelnd, die Weichei wird ein – spruch sind verboten, die Außenwelt ist Wände mit Blut be- wenn auch nur bedingt der Feind. Das Paradies ist die Hölle. spritzt, als wären sie sympathischer – Mann. Auch in der Verfilmung ist das Para- die Leinwand für ein Als netter Kerl, ein dies die Hölle, aber eine ganz andere. Für Jackson-Pollock-Gemäl- bisschen unsicher, ein einen Film zu passiv sei der Roman- de. Richard findet Daf- bisschen verliebt in Richard, sagt Boyle, und deshalb hat er fy tot neben dem Bett die Französin Françoise dem Sonnyboy eine finstere Energie ge- liegend. Und gemein- (Virginie Ledoyen), tritt geben. Sie treibt die Strandgesellschaft in sam mit Françoise und er die Abenteuerreise die Katastrophe. Für alle auf Ko Phangan Etienne, einem franzö- zum Strand an. Der feststeckenden Traveller blieb der Weg sischen Traveller-Paar, Weg zum Paradies ist das Ziel. Als Richard am Strand ankommt, macht er sich auf den voller Prüfungen: Ein ist er dagegen am Ziel der Ziele. Und er Weg zum Strand, wo Fischer bringt Richard, stellt sich die Frage: Was jetzt? sie auf eine Clique von Françoise und ihren Das Paradies taugt nur als Fiktion. Als anderen Paradies-Träu- Freund Etienne (Guil- Wirklichkeit ist es langweilig. Zumindest mern stoßen. laume Canet) zu- für jemanden wie Richard, der seine 1996 veröffentlichte nächst zu einer Insel im Lebenseinstellung aus dem Gameboy be- der junge Brite Alex Naturschutzgebiet. Zum zieht: jagen, zuschlagen, töten. Her mit Garland seinen Roman Strand der Nachbar- dem nächsten Thrill. Zufriedenheit mit

„Der Strand“, der FOX TWENTIETH CENTURY insel müssen sie dann dem Hier und Jetzt ist in der Psyche eines Richards Reise in die „Beach“-Darsteller Ledoyen, Canet schwimmen. modernen Menschen nicht vorgesehen.

224 der spiegel 7/2000 stands im Osten der Stadt, der am Tag vor Schade nur, dass Frau Gong ungefähr so der geplanten Eröffnung begonnen hatte, viel Englisch spricht wie Rau Chinesisch. „Business as usual“ bieten wollte. Das Fes- Schade auch, dass ihm nicht mal der poly- tival fand statt, die Eröffnungsgala geriet glotte Kavalier auf allen Festen, Michael zum Trauerakt. Naumann, helfen konnte. Dessen Auf- Von 1961 an, dem Jahr des Mauerbaus, merksamkeit galt dem mehr oder weniger fehlten die rund 50000 Zuschauer aus Ost- durchsichtigen Kleid der Aktrice Milla Jo- Berlin, für die bis dahin speziell subven- vovich, 24. Was wohl Naumanns Begleite- tionierte Vorstellungen abgehalten worden rin, seine Patentochter Caroline, 16, dazu waren: Die Berlinale wurde ganz zum Fes- gesagt hat? tival des Westens. Da es keine diplomati- Egal: Gong Li! Rau! Jovovich! Wim schen Beziehungen zur DDR gab, war auch Wenders! Und Senta Berger! Es war ein das Filmschaffen der ostdeutschen Defa glamouröser Abend; das, was im PR- lange tabu; erst mit dem Einsetzen politi- Deutsch heute „Event“ heißt, selbst wenn schen Tauwetters traten ab 1974 auch die dann auch, wie hier, Antje Vollmer, Moni- Ostblockstaaten an. Im Rahmen der Ent- ka Griefahn und Günter Rexrodt erschei-

TWENTIETH CENTURY FOX TWENTIETH CENTURY spannungspolitik entwickelten sich beste nen. Aber dafür waren auch Model Naomi eine finstere Energie Kontakte nach Moskau, und nun konnte Campbell da und der Popsänger Bono von sich die Berlinale zur Abwechslung rüh- der Firma U2, dessen Pressekonferenz so Der nächste Thrill kommt. Beim Fischen men, der Brückenkopf zum Osten zu sein. viel Gedränge verursachte wie sonst nur wird Richard von einem Hai angegrif- Aber Ostblock hin, Vietnam her, am die Spenden-Beichten der CDU. fen. Er überwindet seine Angst, tötet den dollsten freuten sich die Berliner Zuschau- Ansonsten ist die Glitzerkulisse verbes- Hai – und steigt in der Hierarchie am er immer, wenn irgendwo ein Kleid an der serungswürdig. Im teuren Hyatt-Hotel Strand auf Platz zwei hinter Sal auf. strategisch richtigen Stelle aufplatzte – wie etwa, schräg gegenüber vom Berlinale-Pa- Und nun? Richard erobert die schöne 1961 bei der Busendiva Jayne Mansfield. last, logiert nicht nur die Jury; in der Lob- Françoise. Gut, abgehakt, mehr bedeutet Und wenn nichts platzt, wird heute eben by haben sich auch aufdringliche Rekla- es ihm nicht. Er schläft mit Sal, als sie recherchiert – wenn’s sein muss, auch ganz mestände von Coca-Cola, Jakobs Krönung Sex von ihm verlangt. Sie ist älter, erfah- unten: „Wer war ohne Slip?“, fragte letzte und der Brauerei Veltins einquartiert. Gla- rener als er, und sie ist die Mächtigste in Woche nach einem Promi-Empfang die mour? Eher glaubt man sich auf einer der Gruppe. Warum also nicht? Françoise, „B.Z.“ – schließlich hat das Boulevardblatt Hochzeitsfeier von Gerhard Glogowski. die den Betrug ahnt, lügt er an. Der schöne Leo DiCaprio, der roman- tischste aller Kinohelden, lügt? Die Film- produzenten baten Boyle, die Szene her- auszuschneiden. „Amerikaner glauben mit Herz und Seele an ihren Helden“, sagt der Regisseur, „und deshalb darf er nicht lügen und betrügen.“ Europäer aber lieben widersprüchliche Helden. Der Brite Boyle ließ sich nicht umstimmen. Im Gegenteil, Richard wird noch nie- derträchtiger, als er in Sals Auftrag den Strand vor Eindringlingen beschützen soll. Er hält sich, inszeniert in einer Boyle- typischen surrealen Passage, für die Hauptfigur seines Computerspiels, für ei- nen unbesiegbaren Dschungelsoldaten. Jetzt will er Menschen sterben sehen. „Es gibt eine Dunkelheit in DiCaprio, die nicht sehr kalifornisch ist“, sagt Boyle, „deshalb wird er nie ein Tom Hanks oder Tom Cruise sein.“ Auch für den Film war zunächst ein finsteres Ende vorgesehen. Als der Rohschnitt fertig war, „wirkte das

sehr trostlos“, erzählt Boyle. „Ich dach- / SHAMROCK PHOTO N. KEESTEN te, wir müssen den Zuschauern mehr Berlinale-Ehrengast Moreau, Kanzler Schröder*: Zufallstreffen im Restaurant Hoffnung anbieten.“ Sie drehten eine Szene nach. Richard/ einen Ruf zu verlieren als zuverlässigster Weltstar George Clooney übrigens traf DiCaprio blickt auf ein Foto, das ihm Lieferant der schönsten Lügen der Stadt: sich bei der „Three Kings“-PR-Party nachts Françoise als E-Mail geschickt hat: das „Vor lauter Stars sieht man keine Berliner um eins höchst dienstlich an der Bar Gruppenbild der Strand-Gesellschaft, die mehr“, orgelte die „B.Z.“ schon vor dem mit dem Wuppertaler „Lola rennt“-Regis- gemeinsam jubelnd in die Luft springt. Festspielstart. Als es dann endlich losging, seur Tom Tykwer. „Wir hatten uns verab- Das Paradies hat keinen Ort. Das Pa- gab es kein Halten mehr: „Bundespräsi- redet“, sagt Tykwer, „weil wir uns gut radies ist ein Moment, den man nicht fest- dent Johannes Rau unterhielt sich mit der finden.“ Ansonsten hat Tykwer, weil er ge- halten kann, und so kurz wie ein Luft- Jury-Vorsitzenden, der chinesischen Schau- rade seinen neuen Film schneidet, vom sprung. Und dann landet man wieder in spielerin Gong Li.“ Festival am Potsdamer Platz „leider noch der Hölle. Marianne Wellershoff überhaupt nichts gesehen“. Der Mann ist * Mit Berlinale-Chef Moritz de Hadeln (l.), Kultur-Staats- wenigstens ehrlich. minister Michael Naumann (2. v. r.). Susanne Weingarten, Martin Wolf

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