Titel

Ex-RAF-MItglied Klar (1992 in Stammheim) RAF-Opfer Schleyer (während seiner Entführung im Oktober 1977) Genug der Sühne? Bundespräsident Köhler erwägt die Begnadigung des Ex-Terroristen . Er könnte so einen Schlussstrich unter ein blutiges Kapitel deutscher Geschichte ziehen. Doch auch 30 Jahre nach dem „Deutschen Herbst“ spaltet die Frage nach dem Umgang mit der RAF Politik und Gesellschaft.

er junge Mann, der mit einer klei- senwald bei verhaftet wurde, nen Schaufel durch den Sachsen- hieß Christian Klar. Er zählte zu den meist- Dwald lief, war ein Schatzsucher gesuchten Männern der Republik, galt spezieller Art. Sein Ziel war ein Erddepot Ermittlern als Top-Terrorist. Er war eine mit dem Codenamen „Daphne“, in dem treibende Kraft der Roten Armee Fraktion 11000 Mark versteckt waren. Er bemerkte (RAF). nicht, dass 15 Polizisten im Unterholz auf Heute ist Klar, 54, neben Brigitte Mohn- der Lauer lagen. Und noch bevor er mit haupt, 57, , 52, und Birgit Ho- dem Graben beginnen konnte, schnappte gefeld, 50, eines von vier ehemaligen die Falle zu. Statt seinen durchgeladenen RAF-Mitgliedern, die nach wie vor hinter Colt Combat Commander zu ziehen, warf Gittern für ihre Morde büßen. Bis vor der Umzingelte sich angesichts der Über- wenigen Wochen erschienen die letzten macht auf den Boden und schrie: „Nicht Gefangenen der RAF wie Vergessene aus schießen!“ einer längst vergangenen Zeit. Er selbst hatte in den Jahren zuvor mehr als einmal geschossen, gnadenlos. Der Staatsoberhaupt Köhler

Mann, der am 16. November 1982 im Sach- DARCHINGER MARC Positives Gutachten 20 1998 in einem gemeinsamen Schreiben quasi offiziell auflöste, inzwischen Historie ist – ganz bewältigt ist die dramatischste in- nenpolitische Krise in der Geschichte der Republik offenbar nicht. Zwar erscheint der „Krieg der Sechs ge- gen sechzig Millionen“ (Heinrich Böll), er- scheint diese „Bleierne Zeit“ (Margarethe von Trotta) umso fremder und irrealer, je länger sie zurückliegt: Ausgerechnet im rei- chen Westdeutschland ernannten sich pri- vilegierte Bürgerkinder zur bewaffneten Avantgarde einer kommunistischen Welt- revolution und erklärten einem demokra- tischen Staat einen blutigen Krieg. Umso realer war der Feldzug der RAF für die Familien der Opfer – und ist es bis heute. Die Terrorgruppe hat insgesamt 34 Menschen ermordet: Mächtige, aber auch Fahrer, Polizisten, Leibwächter. In den eigenen Reihen wiederum bezahlten 26 RAF-Mitglieder den bewaffneten Kampf mit ihrem Leben. Insgesamt 26 Terroristen wurden zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt. Nun stehen gleichermaßen schwierige wie brisante Fragen zur Diskussion: Kann und soll, 30 Jahre nach dem „Deutschen Herbst“ 1977, ein Schlussstrich unter das deprimierende Kapitel gezogen, sollen die RAF-Leute freigelassen werden? Ist der Sühne Genüge getan? Dürfen Menschen, die gnadenlos getötet haben, in den Ge- nuss von Gnade kommen? Müssen sie dafür zuvor Reue zeigen – und wenn ja,

ULLSTEIN / DPA (L.); AP (M.); NORBERT FÖRSTERLING / PICTURE-ALLIANCE/ DPA (R.) DPA / PICTURE-ALLIANCE/ FÖRSTERLING (L.); AP (M.); NORBERT / DPA BILD ULLSTEIN wie soll diese aussehen? Ist den Angehö- Ex-Terroristin Mohnhaupt (auf dem Weg zum Gerichtssaal im Juli 1993) rigen der Opfer eine Begnadigung zu- zumuten – und darf diese Frage wichtig sein? Es war ein juristischer Routine-Vorgang, Es handelt sich in beiden Fällen um Klar wird Anfang 2009 seine gerichtlich der das vergangen Geglaubte jetzt un- schlichte juristische Vorgänge – doch sie angeordnete Mindeststrafe verbüßt haben; vermittelt in die Gegenwart katapultier- provozieren eine kontroverse, ebenso mo- spätestens dann käme wohl auch er auf te: ein Antrag auf Entlassung zur Be- ral- wie geschichtsträchtige Debatte. Denn Bewährung frei. Es scheint also nur darum währung. In diesem Fall aber stellte die Stuttgarter Richter wie auch der Berli- zu gehen, ob ein Mann, der bereits 24 Jah- nicht ein unbekannter Häftling den An- ner Präsident werden – ob sie es wollen re gesessen hat, noch zwei weitere sitzen trag beim Oberlandesgericht , oder nicht – über den Umgang mit einem soll. Aber die öffentliche Aufregung zeigt, sondern , die Anfüh- der dunkelsten Kapitel der Geschichte um wie viel mehr es in Wahrheit geht: Ist rerin der RAF in den blutigen Jahren Westdeutschlands entscheiden. der Rechtsstaat auch ein Rächer-Staat, darf 1977 bis 1982. Sie hat ihre vom Gericht an- Denn obwohl die RAF, die 1993 ihren er das sein? geordnete Mindeststrafe fast abgesessen. letzten Anschlag verübte und sich im April Über gewöhnliche Verbrecher richten Aller Wahrscheinlichkeit nach kommt die aus guten Gründen nicht Opfer oder deren einstige Terroristin, die nur fünf Tage vor UMFRAGE: BEGNADIGUNG Hinterbliebene. Es entscheidet die unab- Christian Klar verhaftet worden war, im hängige Justiz. Die Terroristen aber nah- März frei. „Sollte Bundespräsident men die Repräsentanten des Staates ins Fast zeitgleich mit dem Gericht in Stutt- Horst Köhler den RAF-Häftling Visier – der Rechtsstaat selbst war ein Ziel gart wird Bundespräsident Horst Köhler des Terrors. Gemeint waren nicht in erster über das Schicksal Christian Klars ent- Christian Klar, der seit 24 Jahren Linie die Menschen Jürgen Ponto, Sieg- scheiden, über ein Gnadengesuch dieses seine Strafe absitzt, begnadigen, fried Buback, Hanns Martin Schleyer; es einst gnadenlosen Mannes. Und das ist al- auch wenn dieser bislang öffent- ging um ihre Funktionen: der Bankchef, les andere als ein Routine-Vorgang. lich keine Reue gezeigt hat?“ der Generalbundesanwalt, der Arbeitge- Denn es gibt zwar ein Gnadenrecht, berpräsident. Auch der Staat war also aber kein Recht auf Gnade. Dass das JA 20 % Opfer, hat er nun das Recht oder gar die Staatsoberhaupt ein Gerichtsurteil quasi Pflicht zu verzeihen? abwandeln kann, läuft dem Grundgedan- Der dramatische Höhepunkt je- ken des Rechtsstaates sogar zuwider, es ist NEIN 71 % ner Epoche, die die Bundesrepu- ein Relikt aus der Zeit des Feudalismus. blik zeichnete, ist 30 Jahre vergan- Für den Philosophen Immanuel Kant war TNS Forschung für den SPIEGEL vom 24. und 25. Januar 2007; gen. Mohnhaupt und Klar gehörten damals das Gnadenrecht „wohl unter allen Rech- rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/ zur sogenannten Zweiten Generation der keine Angabe ten des Souveräns das schlüpfrigste“. RAF, die mit ihrer „Offensive 77“ die Bun-

5/2007 21 SPIEGEL TV (L.); NIEHUES / ADVANTAGE (R.) SPIEGEL TV (L.); NIEHUES / ADVANTAGE Schleyer-Attentat (1977) Schleyer-Witwe Waltrude desrepublik an den Rand des Staatsnot- Gruppe, die mit deutscher Endsieg-Men- gungsrecht aus“, heißt es knapp in Artikel stands brachte. talität auch in hoffnungsloser Lage wei- 60 des Grundgesetzes. Soll er dieses Recht Eingebrannt ins Gedächtnis der Nation terkämpfte. nutzen, um ein Zeichen zu setzen? Das haben sich die brutalen Bilder; die Schock- Gründlich bestraft wurde der Mann „menschliche Schicksal“ des Inhaftierten welle des Terrors hat einen Teil der poli- dafür: Das für Klar zuständige Oberlan- beschäftige ihn, hat er einmal gesagt – und tischen Klasse traumatisiert: Über Wochen desgericht Stuttgart entschied, dass er we- er hat mehrmals erkennen lassen, dass er hielt die RAF damals im „Deutschen gen der „besonderen Schwere der Schuld“ den Schlussstrich gern ziehen würde. Herbst“ mit der Entführung Schleyers nicht vor dem 3. Januar 2009 entlassen Doch er zögert, und er hat gute Gründe die Regierung unter SPD-Kanzler Hel- werden dürfe. Seine Hoffnung auf eine dafür. Denn der ansonsten interventions- mut Schmidt im Würgegriff. Eine nur vorzeitige Freilassung ruht deshalb einzig freudige Präsident, der schon zwei Gesetze 20-köpfige Truppe zum Letzten ent- und allein auf dem höchsten Repräsentan- stoppte, steht vor einer der schwierigsten, schlossener Terroristen wollte so die ten jenes Staates, den er einst mit Waffen- in jedem Fall kontroversesten Entschei- Freilassung der inhaftierten RAF-Gründer gewalt zerstören wollte. dungen seiner bisherigen Amtszeit. Eine erzwingen. Ausgerechnet Köhler, der als Direktor deutliche Mehrheit von 71 Prozent der Bür- Der nervenaufreibende Kampf eskalier- des Internationalen Währungsfonds jenes ger ist laut einer Umfrage im Auftrag des te mit der Erstürmung der Lufthansa-Ma- „imperialistische Schweinesystem“ (RAF- SPIEGEL gegen die Begnadigung Klars. schine „Landshut“ in Mogadischu, die ein Jargon) vertrat, das Klar so hasste und Was eine sowohl nüchterne als auch mo- mit der RAF verbündetes Palästinenser- bekämpfte, hat die Prüfung seines Gna- ralisch vertretbare Entscheidung über Klars kommando entführt hatte. Unmittelbar dengesuchs eingeleitet. Der Bundespräsi- Schicksal noch weiter erschwert: Horst darauf begingen die RAF-Führer Andreas dent und seine Beamten beschäftigen sich Köhler weiß, dass er sich auf einem Mi- Baader und Gudrun Ensslin sowie Jan-Carl seit einem halben Jahr mit dem Antrag des nenfeld aus Traumata, Tabus und Mythen Raspe im Hochsicherheitsgefängnis Stutt- einstigen Terroristen. Köhlers Vorgänger bewegt. Fast so, als wäre die RAF nach wie gart-Stammheim Selbstmord. Daraufhin haben bereits diesen Weg zur Versöhnung vor „Staatsfeind Nummer eins“, diskutie- erschoss ein RAF-Mann, dessen Identität beschritten: Richard von Weizsäcker und ren nun Politiker aller Parteien über die bis heute nicht zweifelsfrei geklärt ist, in ei- Roman Herzog haben jeweils drei, Johannes Frage, ob und unter welchen Bedingungen nem Wald in Frankreich hinterrücks den Rau hat zwei zu lebenslanger Freiheitsstra- noch einsitzende Ex-Terroristen freizulas- entführten Schleyer. fe verurteilte Ex-RAF-Mitglieder begnadigt. sen wären. Der „Deutsche Herbst“, der in der Und Köhler? In seiner Entscheidung ist Und dabei gruppieren sich die Kontra- Rückschau wie ein diabolisch inszenierter er vollkommen frei – jederzeit kann er henten entlang einstigen Frontlinien. Noch Alptraum wirkt, bedeutete für die RAF über den Antrag entscheiden, niemandem einmal geistert das Gespenst RAF durch die entscheidende Niederlage. Christian ist er Rechenschaft schuldig. „Er übt im die Republik – wie in einem verspäteten Klar aber gehörte zu jener Hälfte der Einzelfalle für den Bund das Begnadi- Requiem. Denn natürlich wissen alle: Eine

Wahn und Wirklichkeit Chronik des Terrors 1972 1973 Juni/Juli Nach einer Serie von Januar RAF-Gefangene starten Hunger- Anschlägen werden die steckbrief- streiks gegen die „Isolationsfolter“. 15. Juni Der SPIEGEL veröffent- 1968 lich gesuchten Baader, Meinhof, Mit den Aktionen sollen vor allem Sym- 2./3. April Gudrun Ensslin, Andreas licht ein Interview, in dem Mein- hof den bewaffneten Untergrund- Ensslin, , Jan-Carl Ras- pathisanten draußen zu weiteren Aktio- Baader und zwei weitere Mitstreiter pe, Brigitte nen motiviert werden. zünden in aus Protest ge- kampf ankündigt: „Natürlich kann geschossen werden.“ Mohnhaupt gen den Vietnam-Krieg zwei Kauf- und Irmgard 1974 häuser an. Die Täter werden zu 1971 Möller inner- 11. Februar Der aus der Bewegung Freiheitsstrafen verurteilt. ausgestiegene „Bommi“ Baumann 22. Oktober In Hamburg wird der halb weniger Polizeimeister Norbert Schmid Wochen ver- fordert im SPIEGEL ein Ende des be- 1970 zum ersten Todesopfer der „Roten haftet. waffneten Kampfs: „Freunde, schmeißt die Knarre weg!“ 14. Mai Die ehemalige „Konkret“- Armee Fraktion“. Bis 1993 fallen Autorin , Ensslin und weitere 33 Menschen dem Terror 9. November Holger Meins stirbt an andere befreien Baader aus der Haft. der RAF zum Opfer. den Folgen seines Hungerstreiks.

22 der spiegel 5/2007 ULI DECK / PICTURE-ALLIANCE / DPA (L.); / DPA DECK / PICTURE-ALLIANCE ULI (R.) / DPA HEINZ WIESELER Buback-Hinterbliebene* Buback-Attentat (1977)

Freilassung von Klar und Mohnhaupt wäre Rechtsstaat wollen, der nicht allein auf ner Sitzung des Krisenstabs die Er- ein Signal für Eva Haule und Birgit Hoge- Strafe setzt – und der auf Rache verzichtet. schießung von RAF-Gefangenen ins Ge- feld. Haule besucht als Freigängerin in Ber- Gestandene Vertreter dieses Rechts- spräch gebracht haben soll, kommen die lin eine Fotoschule. Hogefeld hat öffentlich staates sind es – etwa die früheren FDP-Mi- unversöhnlicheren Töne aus dem Süden die bisher schärfste moralische und politi- nister Klaus Kinkel und Gerhart Baum –, der Republik. „Die Terroristen“ müss- sche Kritik der RAF-Praxis geübt. die Gnade vor Recht ergehen lassen wol- ten erst, fordert Bayerns Noch-Minister- Damals – als Bomben explodierten, als len. Baum, selbst stark geprägt von jener präsident Edmund Stoiber (CSU), „ihre führende Repräsentanten aus Politik und Terrorzeit, wirbt schon lange dafür, den Taten ehrlich bedauern und sich zum Wirtschaft entführt und ermordet wurden – letzten inhaftierten Ex-Terroristen „die Rechtsstaat bekennen“. Der Innenminis- waren es Linke und Liberale, Intellektuel- Chance zu geben, in die Gesellschaft ter des Freistaats, Günther Beckstein le und Künstler, die in den Terroristen nicht zurückzukehren“. Es müsse „endlich mal (CSU), warnt: Eine „vorzeitige Freilassung nur Mörder sahen, sondern auch Men- ein Schlussstrich gezogen werden“. würde die Gefühle der Opfer zutiefst ver- schen, deren Irrweg mit der Empörung ge- Auch Antje Vollmer, Ex-Bundestags- letzen“. gen den Krieg der Amerikaner in Vietnam vizepräsidentin der Grünen, plädiert seit Waltrude Schleyer, die Witwe Hanns begonnen hatte; die eine bessere Welt nur Jahren für die Freilassung. Die Theologin Martin Schleyers, die schon wiederholt, mit den falschen Mitteln und zur falschen verweist darauf, dass Hitlers Rüstungs- aber erfolglos gegen die Begnadigung an- Zeit erzwingen wollten; die auch an der minister Albert Speer nach 20 Jahren ent- derer RAF-Gefangener protestiert hat, ur- üblen Verdrängung der Nazi-Vergangenheit lassen wurde, die Ex-Terroristen Brigitte teilt: „Diese Menschen haben keine Gnade in Deutschland irre wurden. Mohnhaupt und Christian Klar bereits vier verdient.“ Konservative hingegen stempelten Jahre länger als der NS-Schreibtischmör- Michael Buback, Göttinger Professor Schriftsteller wie Heinrich Böll und Erich der einsitzen. und Sohn des ermordeten Generalbundes- Fried, die den Dialog mit den Terroristen Ein Gnadenakt, meint der grüne Bun- anwalts, meint hingegen, dass Angehörige forderten, als „Sympathisanten“ ab. Die destagsabgeordnete Volker Beck, „wäre von Opfern nicht über das Schicksal der meisten Politiker sprachen den Terroristen eine humanitäre Geste, ein Signal der Ver- Täter entscheiden sollten: Es werde von jegliche politische und moralische Motiva- söhnung“. Nach so langer Haft, findet auch seiner Seite „gewiss keinen Einwand gegen tion ab; für sie waren sie nur besonders Sozialdemokrat Wolfgang Thierse, „ist die eine Begnadigung geben“. Allerdings ver- ruchlose Mörder. Sühne erreicht“. Und sehr viele, wie FDP- langt er, dass Klar endlich preisgibt, wer im Heute sind es erneut Liberale und Lin- Generalsekretär Dirk Niebel, plädieren für April 1977 das Motorrad der Attentäter ke, die für Gnade plädieren, die einen einen Mittelweg: Klar dürfe nur freigelas- lenkte – und wer vom Soziussitz aus mit sen werden, sollte er deutlich Reue zeigen. einem Selbstladegewehr seinen Vater und * Bubacks Witwe Ingrid und sein Sohn Michael 2002 in Wie schon vor 30 Jahren, als der CSU- dessen zwei Begleiter erschoss. Für die An- . Vorsitzende Franz Josef Strauß auf ei- gehörigen der Ermordeten sei es von im-

10. November Der Berliner Kammergerichtspräsident Günter 21. Mai In Stuttgart-Stammheim beginnt unter 27. Juni Deutsche Terroristen be- von Drenkmann wird von der „Bewegung 2. Juni“ ermordet. höchsten Sicherheitsvorkehrungen der Prozess teiligen sich an der Entführung eines gegen Baader, Meinhof, Ensslin und Raspe. Air-France-Flugzeugs nach Entebbe, 1975 Uganda. Sie helfen u.a. „zionis-

AP tische“ Geiseln von den übrigen 27. Februar Terroristen kidnappen den 21. Dezember Ein Überfall auf die Berliner CDU-Vorsitzenden . Wiener Opec-Konferenz fordert Passagieren zu selektieren. Der Staat gibt nach: Mit ihrer Geisel drei Tote. Zu den Tätern gehören pressen die Terroristen vier inhaftierte der Deutsche Hans-Joachim Klein Herbst RAF-Angehörige trainieren Gesinnungsgenossen frei. und der international gesuchte in Ausbildungslagern im Jemen. Top-Terrorist „“. 24. April Beim Überfall auf die deutsche Bot- 1977 schaft in Stockholm durch ein „Kommando 8. Februar Brigitte Mohnhaupt Holger Meins“ werden zwei Botschaftsan- 1976 wird nach viereinhalbjähriger Frei- gehörige ermordet. Bei einer Sprengstoff- 9. Mai Ulrike Meinhof erhängt sich in heitsstrafe entlassen und taucht explosion sterben auch zwei der Täter. Brennendes Botschaftsgebäude ihrer Zelle in Stuttgart-Stammheim. sofort unter.

der spiegel 5/2007 23 Titel Klassenkeile statt Klassenkampf Wie sich ehemalige RAF-Kämpfer mit der Normalität arrangieren

ür den Mittwoch vergangener Wo- Dellwo als Verräter, weil sie öffentlich der che war Inge Viett eigentlich fest Mär vom Mord entgegentraten. Fgebucht. Gemeinsam mit Horst Treffen Vertreter der Mordthese auf Franz, dem ehemaligen Leiter der - solche, die dem letzten RAF-Mythos den Terrorabwehr, sollte sie im Berliner Ver- Garaus machen wollen, gibt es Klassen- lagsgebäude des „Neuen Deutschland“ keile statt Klassenkampf – das habe Dell- („ND“) zum Thema „30 Jahre Deutscher wo auf einer der Geburtstagsfeiern zum Herbst … auch eine Ost-West-Geschich- 60. erfahren müssen, wird in der Szene te“ diskutieren. Davon versteht die ehe- kolportiert. Befürworter der Mord-These malige RAF-Terroristin etwas, war sie um die Sprengstoffattentäterin Irmgard doch 1982 vor West-Fahndern auf die an- Möller sollen sich geweigert haben, von dere Seite der Mauer geflüchtet. Dellwo gegrillte Koteletts zu essen. Doch kurz vor der Veranstaltung fand Möllers Wort wiegt in dieser Frage der „ND“-Redakteur Tom Strohschnei- noch immer schwer. Denn die RAF-Frau der einen Brief in seiner Post, in dem die überlebte als Einzige die Stammheimer Ex-Terroristin barsch absagte und ausge- Todesnacht im Herbst 1977 – mit vier rechnet dem „ND“-Mann vorwarf, in der Messerstichen in der Brust. Sie behauptet Einladung „die Terminologie des Staats- bis heute, ein staatliches Mord-Komman-

schutzes“ benutzt zu haben. ARCHIV FRIEDRICH / INTERFOTO do habe sie überfallen. Es folgte eine im Ton ehemaliger RAF- BKA-Fahndungsplakat (1980) Doch es sind nicht nur ideologische Bekennerschreiben gehaltene Suada: Da Brötchen für die „taz“-Redaktion Gräben, die sich zwischen den Genossen war die Rede von „aggressivem Klassen- von einst aufgetan haben. Auch die so- kampf von oben, neoliberaler Manipula- schaft ist dahin, Kontakte unter den Ehe- zialen Unterschiede erschweren neue Ge- tion, Raubzügen der imperialistischen maligen sind selten – wenn überhaupt meinsamkeiten. Staaten“ und von 30 Jahren „fiebrigen trifft man sich meist auf Feiern zum 60. Für viele führte der Weg nach der Suchens nach Mitteln, den mutierenden Geburtstag, die häufen sich ja jetzt. Haftentlassung geradewegs in die Für- Moloch aufzuhalten“. Es gab Versuche von kleinen Gruppen, sorge des einst verhassten Systems. „Es Der Stil legt nahe, dass Viett mit ihrer über die Gewalt von damals zu reden. ist wahnsinnig schwer, mit so einer Bio- Vergangenheit noch nicht so ganz abge- Bis vor zwei Jahren etwa trafen sich Frau- grafie und nach langer Haft im normalen schlossen hat, will sie doch auch als „Ak- en aus der RAF und der Bewegung Leben wieder Fuß zu fassen“, sagt Till tivistin gegen Ausbeutung und imperialis- 2. Juni zu diesem Zweck alle sechs Mo- Meyer. Als Mitglied der Bewegung 2. Juni tische Kriege“ weitermachen. Nur dem nate bei Inge Viett. Die Rückschau ende- entführte er 1975 den Berliner CDU-Po- bewaffneten Kampf hat sie seit mehr als te im Streit über die Frage, ob der be- litiker Peter Lorenz, heute arbeitet er als 25 Jahren abgeschworen, und das ist waffnete Kampf seinerzeit legitim war – Journalist. glaubhaft, zumal sie vor kurzem 63 Jah- oder von Anfang an ein Irrweg. Nur wenige haben es – wie Viett oder re alt geworden ist. Auch die Frage, ob die RAF-Gründer der Schleyer-Entführer Peter-Jürgen Auch die anderen RAF-Rentner, deren 1977 in Stammheim ermordet wurden Boock – geschafft, als Autoren Vergan- Fotos einst neben dem von Viett auf oder Selbstmord begingen, sorgt immer genheit und Gegenwart lukrativ zu ver- Fahndungsplakaten in der ganzen Repu- noch für Zoff. Vielen Ehemaligen gelten knüpfen oder sich anderweitig eine halb- blik prangten, sind nach ihrer Entlassung Ex-Genossen wie der Schleyer-Entführer wegs gesicherte bürgerliche Existenz auf- oder Begnadigung friedlich geblieben. Peter-Jürgen Boock oder der an dem zubauen. Mit ihrer Vergangenheit aber hadern sie Überfall auf die Deutsche Botschaft in , die Hamburger alle. Die einst verschworene Gemein- Stockholm 1975 beteiligte Karl-Heinz Großbürgertochter, die ihren RAF-Ge-

7. April RAF-Terroristen ermorden den 13. Oktober Ein palästinensi- AP 18. Oktober Dem Sonderein- Generalbundesanwalt Siegfried Bu- sches Kommando entführt die satzkommando GSG 9 gelingt back und seine Begleiter in Karlsruhe. Lufthansa-Maschine „Lands- es, sämtliche Geiseln zu befrei- hut“ auf dem Flug von Mallorca en. Drei der vier Terroristen 28. April Baader, Ensslin und Raspe werden nach Frankfurt. Die Entführer finden dabei den Tod. zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. stellen ein Ultimatum zur Frei- Baader, Ensslin und Raspe be- lassung der inhaftierten Terro- gehen in ihren Stammheimer 30. Juli Der Bankier Jürgen Ponto wird, risten. Nach einer mehrtägigen Zellen Selbstmord. Die Mitge- vermutlich bei einem misslungenen Odyssee und der Ermordung fangene Irmgard Möller ver- Entführungsversuch, erschossen. des Flugkapitäns Jürgen Schu- sucht sich zu erstechen, 5. September RAF-Terroristen entführen den Arbeitgeberpräsi- mann landet der Jet im somali- überlebt aber schwer verletzt. denten Hanns Martin Schleyer, um die inhaftierten Terroristen schen Mogadischu. freizupressen. Schleyers Begleiter sterben im Kugelhagel. 18./19. Oktober Nach sechswöchi- Trotz beispielloser Großfahndung gelingt es in den folgenden ger Geiselhaft wird Schleyer von Wochen nicht, den Entführten aufzuspüren. Entführte „Landshut“ (in Dubai) seinen Entführern ermordet.

24 der spiegel 5/2007 menser Bedeutung zu erfahren, was wirk- lich geschehen ist. Die Debatte wird streckenweise so emo- tional geführt, dass manche rechtliche Rea- lität aus dem Blick gerät. Da ist zum einen ein Kerngedanke des Strafrechts, an den der Theologe und Verfassungsrichter in Brandenburg, Richard Schröder, erinnerte: „Die Erfindung von unabhängigen Rich- tern beruht eben auf der Erkenntnis, dass die Wiederherstellung der Gerechtigkeit bei den Opfern nicht immer in den besten Händen ist.“ Im Strafgesetzbuch ist zudem festgeschrieben, dass eine Freiheitsstrafe auch der Resozialisierung zu dienen habe. Von Rache steht da nichts. Zum anderen sind es die Fälle selbst, die gänzlich unterschiedlich gelagert sind. Denn bei der Entscheidung über die Frei-

SABINE SAUER / DER SPIEGEL (L.); SCHINDLER / DPA (R.) / DPA / DER SPIEGEL (L.); SCHINDLER SAUER SABINE lassung von Brigitte Mohnhaupt geht es – Entlassene Ex-Terroristen Boock, Viett rechtlich gesehen – ausschließlich um die Frage, ob sie in Freiheit wieder Straftaten begehen würde. Nicht einmal die Gegner nossen bei der Ermordung Jürgen Pontos, Dennoch ist für Maier-Witt die Linie, ihrer Entlassung sehen aber die Gefahr des Patenonkels ihrer Schwester, half, die sie von der RAF in den Kosovo führ- eines Rückfalls. gehört dazu. Sie arbeitet heute unter an- te, eine gerade. Sie habe einst für Frieden Tatsächlich bittet Mohnhaupt, die seit derem Namen als Lehrerin in Nord- in Vietnam und Gerechtigkeit in der Drit- Jahren beharrlich schweigt, nicht um Gna- deutschland. Und , der zu ten Welt kämpfen wollen. Dabei habe sie de. Sie sieht die RAF als ihr Leben. Sie sei den Schleyer-Entführern zählte und in gelernt: „Wenn man etwas bewaffnet bis heute – so schildern es Freunde – zu Holland einen Polizisten erschoss, führt macht, schlägt es auf einen zurück.“ Dies stolz, um Reue zu zeigen. Offenbar hat sie jetzt in einer Hamburger Logistikfirma sei eine Lehre, die sie den Menschen im immer noch nicht eingesehen, wie un- die Geschäftsbücher. Kosovo weitergeben wolle. menschlich die RAF agiert hat. Sie hat ein- Karl-Heinz Dellwo schlägt sich als Ihre ehemalige Mitkämpferin Friederi- fach nur „die Aussetzung des Strafrestes Dokumentarfilmer und Hörbuchautor ke Krabbe, mit der sie 1977 in Bagdad zur Bewährung“ beantragt. durch. Sein Stockholm-Komplize Lutz zusammentraf, dürfte das anders sehen. Und hat sie nicht wirklich genug gebüßt? Taufer arbeitete nach seiner Haftent- Krabbe ist die letzte RAF-Terroristin, Insgesamt fast 29 Jahre hat sie in bundes- lassung 1995 für eine Berliner Bio-Bäcke- nach der bis heute gefahndet wird – we- deutschen Gefängnissen verbracht, die rei und belieferte unter anderem die gen der Entführung und Ermordung letzten 20 davon in der bayerischen Justiz- „taz“-Redaktion mit Brötchen, inzwi- Schleyers. Ein palästinensischer V-Mann vollzugsanstalt Aichach. schen soll er bei seiner Schwester in Bra- des Bundeskriminalamts hatte bereits Zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verur- silien leben. Ende der siebziger Jahre gemeldet, dass teilte können nach 15 Jahren die Entlas- Silke Maier-Witt ist in mehrfacher Hin- Krabbe sich der Gruppe „15. Mai“ um sung zur Bewährung beantragen; im sicht eine Ausnahme: Weil sie nicht nur den Bombenspezialisten Abu Ibrahim an- Schnitt kommen sie bei guter Führung glaubhaft Reue zeigte, sondern auch um- geschlossen habe. Geheimdienstinforma- nach 17 Jahren frei. Doch dies ist ausge- fassend aussagte, wurde sie 1995 vorzei- tionen zufolge soll sie den Terrorfürsten schlossen, wenn die Richter eine „beson- tig aus der Haft entlassen und studierte später geheiratet haben. dere Schwere der Schuld“ feststellten – wie Psychologie. Noch kurz nach dem Irak-Feldzug der bei den vier noch einsitzenden Ex-RAF- Dank einer Empfehlung des damaligen Amerikaner 2003 vermuteten deutsche Mitgliedern. In deren Fällen entscheidet Generalbundesanwalts Kay Nehm konn- Fahnder das Paar in Abu Ihrahims Haus jenes Gericht, das bereits das Urteil sprach, te sie ab dem Jahr 2000 im Kosovo als in Bagdads Villenviertel al-Mansur, das wann die Verurteilten frühestens freikom- Friedensfachkraft Projekte betreuen, die die Bombardements heil überstanden men können. vom Entwicklungshilfe-Ministerium fi- hatte. Seitdem fehlt von beiden jede Vergangenes Jahr hatte das Oberlandes- nanziert wurden. Spur. Gunther Latsch gericht Stuttgart entschieden, dass Mohn-

1979 1986 1991 1993 25. Juni Ein Mordanschlag auf 10. Oktober Mord an dem Diplo- 1. April Treuhandchef 27. März RAF-Mitglieder spren- den Nato-Oberbefehlshaber und maten Gerold von Braunmühl. Detlev Karsten Roh- gen den Neubau der Justizvoll- späteren US-Außenminister Ge- 1989 wedder wird von zugsanstalt Weiterstadt. neral Alexander Haig misslingt. einem „Kommando 30. November Der Vorstandsvorsit- Ulrich Wessel“ er- 27. Juni In Bad Kleinen kommen 1982 zende der Deutschen Bank, Alfred mordet. bei einem Schusswechsel das November Innerhalb weniger Tage Herrhausen, wird durch einen RAF-Mitglied werden Brigitte Mohnhaupt, Adel- Sprengstoffanschlag getötet. Die 1992 und der GSG-9-Beamte Michael heid Schulz und Christian Klar Täter sind bis heute unbekannt. Newrzella ums Leben. Birgit festgenommen. 6. Januar Justizmi- 1990 nister Klaus Kinkel Hogefeld wird festgenommen. 1985 Juni Nach dem Fall der Mauer werden zehn in der DDR spricht von mögli- 2. April Mohnhaupt und Klar lebende RAF-Aussteiger verhaftet, darunter Susanne Al- cher „Versöhnung“ 1998 werden zu lebenslangen Frei- brecht, Inge Viett und Silke Maier-Witt. Sie hatten dort mit auch mit Ex- 25. April Die RAF gibt ihre heitsstrafen verurteilt. Hilfe der Stasi eine normale bürgerliche Existenz geführt. Terroristen. Selbstauflösung bekannt.

der spiegel 5/2007 25 Titel haupt mindestens bis zum 26. März dieses wie die Mehrheit der RAF-Mitglieder aus gart sah es als erwiesen an, dass Klar neun Jahres im Gefängnis bleiben muss. Jetzt hat einem gutbürgerlichen Elternhaus stammt, Morde und elf Mordversuche anzulasten die Bundesanwaltschaft eine mögliche Ent- dass sein 1992 verstorbener Vater leiten- seien. lassung befürwortet. Die Stuttgarter Rich- der Beamter des Oberschulamts, seine Er wurde für die Beteiligung an der Er- ter, die meist den Bundesanwälten folgen, Mutter Lehrerin war. „Wir sind von den mordung des Generalbundesanwalts Bu- werden bis Mitte Februar entscheiden. Al- Eltern aus in der Bildung aufgewachsen“, back und einen misslungenen Granatwer- les spricht für die baldige Freilassung. sagte Klar einmal: „Alle Möglichkeiten fer-Anschlag auf das Gebäude der Bun- Ganz anders liegt der Fall Klar: Bei ihm sind mitgegeben worden.“ desanwaltschaft verurteilt. Er wurde auch befand das Oberlandesgericht Stuttgart, er Doch statt ernsthaft Philosophie und verurteilt für seine Beteiligung an der Er- müsse mindestens bis Januar 2009 sitzen. Geschichte zu studieren, tat er sich mit sei- mordung Pontos und Schleyers und außer- „Viele Medien, allen voran die ‚Bild‘-Zei- nen beiden späteren RAF-Mitkämpfern dem für die Kollektivschuld aller damali- tung, haben aus Christian Klar ein Monster Knut Folkerts und Günter Sonnenberg in gen RAF-Mitglieder. gemacht“, sagt ein Hamburger Schauspie- einer Kommune zusammen und empörte Mit der ihm eigenen Sturheit forderte ler, der ihn betreut und regelmäßig be- sich über die Haftbedingungen von Ulrike Klar, als Kriegsgefangener nach den Gen- sucht. „Jetzt lässt die Justiz an ihm, stell- Meinhof und die anderer RAF-Gefange- fer Konventionen behandelt zu werden – vertretend für die gesamte RAF, Strafe in ner. Als Klar Ende Oktober 1974 das Ham- stattdessen wurde er scharfen Sonderhaft- Rache umschlagen.“ burger Büro von Amnesty International bedingungen unterworfen. Sieben Jahre Doch erschwert wird die Debatte um besetzte, um gegen die angebliche „Ver- lang war er von anderen Gefangenen iso- Klar, weil er selbst seit Jahren schweigt. nichtungshaft“ der RAF-Gründer zu pro- liert. Sein Vater hatte kurz vor der Ver- Er ist ein Phantom. Die wenigen Fotos von testieren, traf er dort auf elf Gesinnungs- haftung im Sachsenwald gesagt: „Besser, ihm zeigen einen ausgezehrten Menschen genossen, die bald ebenfalls in den Unter- Christian wird getötet, als dass er lebens- mit tiefliegenden Augen und bohrendem grund abtauchten und sich den illegalen länglich hinter Gitter muss.“ Erst durch Blick. Wie sollte es auch anders sein bei Kämpfern anschlossen. einen fünfwöchigen Hungerstreik im Jahr 1995 setzte Klar durch, dass er nach und nach so behandelt wurde wie andere Ge- fangene auch. Doch weitere Zugeständnisse wurden nicht gemacht, mitunter geht die Justiz mit ihm um, als wäre er noch immer der Top- Terrorist: Selbst zu einem Besuch seiner Mutter wurde er gefesselt „ausgeführt“, wie das im Justizjargon heißt. Im Wohn- zimmer der Mutter nahmen zwei bewaff- nete Beamte auf dem Sofa Platz. Seitdem verzichtet Klar auf „Ausgänge“. Und auf noch mehr verzichtet er – im Unterschied zu Häftlingen wie Birgit Ho- gefeld, die regelmäßig Reporter empfängt, schweigt Klar. Er spricht nicht mit Journa- listen, weil sein einziger publizistischer Be- freiungsversuch gründlich missriet: Im De- zember 2001 gab er dem inzwischen ver- storbenen Journalisten und Diplomaten Günter Gaus ein Fernsehinterview. Ein verstörter, um Worte ringender Ge- fangener war da zu sehen. Er verlor sich in abstrakten Gedankengängen, und manche Gestürmte „Landshut“ (1977 in Mogadischu) seiner Sätze müssen den Angehörigen von Opfern wie Hohn in den Ohren geklungen haben. „Wenn jemand an die Wand ge- einem Mann, der seit nunmehr drei Jahr- „Er war geradlinig und einsatzfreudig“, drückt wird, muss er kämpfen“, erklärte zehnten alles andere als ein normales Le- beschreibt ihn ein Ex-Terrorist. Zum in- Klar. Er sprach von einem „Aufbruch, den ben führt? nersten Führungszirkel der RAF stieg Klar auch eben die RAF dargestellt hat, der wei- Klar ging 1976 in den Untergrund und zwar nie auf; die inoffizielle Chefin der ter getragen wird“. verschwand schließlich in der Dämmerwelt RAF in den Jahren 1977 bis 1982 war Bri- Endgültig verprellte er selbst viele ihm des Strafvollzugs. Was er wirklich genau gitte Mohnhaupt. Doch auch, wenn er Wohlgesinnte mit seiner Antwort auf die getan hat, konnten auch die Gerichte nie nicht immer das Sagen hatte – zu den Ent- Frage nach Reue: „In dem politischen vollständig aufklären. Darüber, wie er heu- schlossenen, die keine Zweifel zuließen, Raum, vor dem Hintergrund von unserem te über seine Vergangenheit denkt, wissen gehörte er schon bald. Klar war ein fanati- Kampf, sind das keine Begriffe.“ diejenigen, die über seine Begnadigung scher Kämpfer. „Wenn er mal anfing zu Doch trotz aller Uneinsichtigkeit von streiten, gar nichts. schießen“, so erinnert sich ein Kumpan, Klar – wenigstens eines gelang Gaus: Er Auch für den Bundespräsidenten ist der „konnte er nicht mehr aufhören – bis das bewegte den Gefangenen dazu, im Früh- einstige Terrorist ein Rätsel, derart un- Magazin leer war.“ jahr 2003 ein Gnadengesuch beim Bundes- durchsichtig, dass Köhlers Beamte schon Die Rechnung des Gerichts für diese präsidenten einzureichen. Zudem setzte überlegten, ob der Präsident den Terroris- blutige Bilanz fiel entsprechend hart aus: Gaus sich persönlich bei dem damaligen ten nicht einmal besuchen müsste. Köhler Im April 1985 wurde Klar zu fünfmal Le- Amtsinhaber Rau für Klar ein. Für Gaus weiß nur wenig über den Mann, über des- benslang plus 15 Jahren verurteilt; die Stra- wurde die Begnadigung seines einstigen sen Gnadenantrag er entscheiden muss: fen wurden später zu Lebenslang zusam- Interviewpartners zu einem derart wichti- dass der 1952 in Freiburg geborene Klar mengefasst. Das Oberlandesgericht Stutt- gen Anliegen, dass er noch am Tage seines

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Todes, im Mai 2004, besorgt fragte, wie die temberg blockiert bis heute jegliche Voll- Für das Bundespräsidialamt wird die Ex- Sache mit Klar stehe. zugslockerungen. Sowohl im Dezember pertise eine zentrale Entscheidungsgrund- Inzwischen ärgert Klar sich angeblich 2004 als auch ein zweites Mal Ende 2005 lage sein – dass Kurys Gutachten nicht um- über seine unsensiblen Antworten in dem erklärte die Bruchsaler Anstaltsleitung gehend nach geschickt wurde, wird Interview mit Gaus. Er arbeitet in dem zwar den Stuttgarter Beamten, dass Klar in Schloss Bellevue als weitere Bösartigkeit 1848 erbauten Gefängnis Bruchsal in der „lockerungsgeeignet erscheint“. Deshalb aus Stuttgart gedeutet. Wenigstens wissen Wäscherei, er hat in seiner Zelle ein Fern- solle das Justizministerium ein für solche Köhlers Leute inzwischen von dem Gut- sehgerät, und er spielt Basketball, im Team Fälle vorgesehenes „kriminalprognosti- achten, auch von dessen positiver Tendenz. der Anstalt. Der Häftling gilt als freundlich sches Gutachten“ einholen lassen – doch es Sei das Dossier erst einmal da, werde und friedfertig. passierte nichts. bald entschieden, heißt es aus dem Amt, Und es gibt Indizien für einen Sinnes- Erst ein Anwalt Klars setzte im März auch wenn der Präsident – wie seine Vor- wandel: Dass er Distanz zu seinen Verbre- vergangenen Jahres eine Begutachtung gänger – noch gründlich prüfen werde. Vor chen gewonnen hat, zeigt ein Brief an durch. Wenig überzeugend wirkt es vor allem eine Vorstellung ist Köhlers Leuten Rau, den er dem Gnadengesuch hinter- diesem Hintergrund, wenn der baden- ein Graus: dass Klar nach einer Entlassung herschickte: „Eine Rückkehr zu gewaltsa- württembergische Justizminister Ulrich beispielsweise in Fernsehsendungen zum men Konzepten wie zu dem der RAF gibt Goll (FDP) erklärt, der „Gefangene Klar“ 30. Jahrestag des „Deutschen Herbstes“ es für mich nicht“, schrieb er im Spätsom- werde behandelt „wie jeder andere Ge- auftreten und die RAF-Geschichte ver- mer 2003. „Selbstverständlich muss ich fangene“. klären könnte. Wird sich der einstige Fa- eine Schuld anerkennen. Ich verstehe die „Was getan wird, muss auch für die Op- natiker Klar so zurückhaltend geben wie Gefühle der Opfer und bedauere das Leid fer und Hinterbliebenen vertretbar sein“, die anderen entlassenen RAF-Gefangenen dieser Menschen.“ erklärt Goll. Eine Entlassung „Knall auf bislang? Kann man das als Reue verstehen, reicht Fall“ berge Gefahren, warnte er – eine Mit vielen hat ein nachdenklicher Prä- das, und wie glaubwürdig ist dieser Schritt? Äußerung, die Beamte im Präsidialamt är- sident den Fall inzwischen diskutiert, auch RBB (L.); ZENTRIXX / IMAGO (R.) RBB (L.); / IMAGO ZENTRIXX Häftling Klar (2001) Haftanstalt Bruchsal

Freunden hat er erklärt, dass ein „insze- gert. Golls Vorgehen, zürnen sie, lasse den mit dem früheren Chefankläger der Re- nierter, öffentlicher Kniefall“ von ihm Respekt vor dem Bundespräsidenten ver- publik, mit Generalbundesanwalt Kay nicht zu erwarten sei. missen. Mehrfach wurde aus Köhlers Amt Nehm, der sich zum Resozialisierungs- Rau konnte er jedenfalls nicht mehr die Begutachtung Klars angemahnt. gedanken auch für einst Schwerstkrimi- überzeugen, der SPD-Mann entschied Nun endlich ist sie erfolgt – und die Pro- nelle bekennt. Vergangenen Freitag wur- nicht mehr über sein Gesuch. Einer von gnose ist offenbar positiv. Er sei, wie alle de ein langjähriger Betreuer Klars im Raus Beamten riet allerdings Klars Anwalt, RAF-Terroristen, kein „normaler Straf- Präsidialamt empfangen. Vor einer Ent- einen Antrag auf Vollzugslockerungen zu täter, sondern ein intellektueller Überzeu- scheidung will Köhler noch weitere Ge- stellen, weil positive Erfahrungen dabei gungstäter“, meint der renommierte Frei- spräche führen – wahrscheinlich auch mit auch „für die Entscheidung über das Gna- burger Kriminologe Helmut Kury. Er hat Angehörigen von RAF-Opfern, heißt es dengesuch bedeutsam sein können“, wie Klar im vergangenen September eine Wo- aus Köhlers Umfeld. Noch sei nichts ent- es in dem Brief aus dem Amt heißt. Ein che lang von morgens bis abends gründlich schieden. erster Schritt schien möglich: Claus Pey- befragt, um sich ein Bild davon zu machen, Christian Klar wird also noch ein wenig mann, Intendant des Berliner Ensembles, ob man „bei ihm mit weiteren schweren warten müssen. Darauf aber kommt es nun bot Klar prompt mit Verweis auf „die Tra- Straftaten rechnen muss“. Kurys 130 Sei- auch nicht mehr an. „Die Jahre“, beschrieb gik dieser Generation“ einen Platz als ten starkes Gutachten empfiehlt Voll- er einem Besucher seine Situation, „die Praktikant an. zugslockerungen. Das Papier liegt seit ver- laufen ja so durch.“ Doch nun schalteten andere auf stur: gangener Woche dem Stuttgarter Justiz- Stefan Berg, Dietmar Hipp, Das Justizministerium von Baden-Würt- ministerium vor. Michael Sontheimer

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