Deutschland „Hier sind wir die Ketzer“ Acht Jahre lebte die frühere Terroristin Inge Viett als RAF-Aussteigerin unter dem Schutz der . In ihrer Autobiographie schildert die 1990 gefaßte und kürzlich aus der Haft entlassene Viett das seltsame Leben einer DDR-Neubürgerin mit revolutionärer West-Vergangenheit*. Auszüge:

ir sind zu dritt nach zu ei- nem Treffen mit dem MfS ange- Wreist, meine RAF-Genossen Iris, Hans und ich. Die Begrüßung verläuft wie immer: herzlich, in etwas angestrengter Lockerheit. Für uns Frauen ein Küßchen links und rechts, für Hans Schulterklop- fen. Eine Tasse Kaffee, einen Cognac und den zweiten, weil man auf einem Bein nicht stehen kann, und in den dritten hin- ein sage ich: „Ich bleibe hier.“ Maßlose Überraschung bei Wolfgang und Werner, unseren Gastgebern vom MfS, in den Augen von Iris und Hans Erleichte- rung. Dies ist unser letzter Augenblick, wir befreien uns voneinander ohne Bedauern und ohne Haß. „Wie, du bleibst hier?“ fragt Wolfgang, „bist du mit großem Koffer gekommen?“ „Ja.“ Ich stelle das Glas auf den Tisch und gehe hinaus. Im Nebenzimmer bre- che ich auseinander, heule, daß es mich schüttelt, ich kann mich nicht mehr zu- sammenreißen. Ein Überdruck verschafft sich Raum, ohne nach Scham und Pein- lichkeit zu fragen. Die letzten zwei Jahre habe ich mich wie ein Bogen gekrümmt, gezerrt und ge- spannt von zwei Polen: Ich will nicht ins System zurück. Niemals! Und: Ich kann auch nicht weiter. Politische und persönli- che Sackgasse. Jetzt bin ich endlich durch- gebrochen, nicht freiwillig, mehr aus Ver- zweiflung, aber unumkehrbar. Wolfgang kommt herein, setzt sich zu mir und fragt ein bißchen hilflos: „Ist es denn so schlimm, hier zu bleiben?“ „Wieso, das kann ich doch gar nicht wis- sen, darum heule ich nicht“, antworte ich. Er schweigt, drängt mich nicht.Als ich mei- ne Beherrschung wiederfinde, fragt er mich, ob ich hier weg will. „Ja, sofort, ich will sie nicht mehr sehen.“ Es geht dann ganz schnell. Wolfgang bringt mich in das Haus am See, das ich von früheren Treffen her kenne. Ich habe

hier viele Gespräche geführt in eigenarti- M. WITT ger Atmosphäre: ein Gemisch aus Diplo- matie, Freundschaft, Vorsicht, Mißtrauen, Inge Viett Gemeinsamkeit, Distanz und Neugier. Es war führendes Mitglied der terroristischen „Bewegung 2. Juni“, nach deren Auflö- war immer schwierig, oft entnervend, sung schloß sie sich für kurze Zeit der RAF an. Die gelernte Kindergärtnerin setz- und manchmal haben wir uns danach be- te sich 1982 in die DDR ab. Am 4. August 1981 hatte sie in einen Streifenpoli- soffen. zisten niedergeschossen, der sie kontrollieren wollte. Der Mann blieb querschnitt- Das Haus liegt in einem Waldgebiet mit gelähmt. Nach der Wende wurde Inge Viett ebenso wie die anderen neun RAF-Aus- hohen alten Kiefern. Die Bäume würzen steiger, die in der DDR Asyl gefunden hatten, festgenommen. 1992 verurteilte das Oberlandesgericht sie wegen Mordversuchs an dem Polizisten zu 13 Jah- * Inge Viett: „Nie war ich furchtloser. Autobiographie“. ren Haft. Ende Januar dieses Jahres wurde Inge Viett vorzeitig entlassen. Edition Nautilus; 320 Seiten; 39,80 Mark.

9/1997 59 Deutschland die Luft mit einem betörenden Harzge- ruch. Der See ist verführerisch idyllisch. Ich beginne über meine neue Lage nach- zudenken und stelle fest, daß dies im Mo- ment völlig überflüssig ist, denn ich habe vorübergehend nichts zu entscheiden und zu regeln. Ich bin in Händen. Für alles wird gesorgt. Das ist ungewohnt für mich, aber nicht unangenehm.

Ich bin im Krieg geboren. Es war am 12. Ja- nuar 1944, und Europa ächzte unter der Herrschaft des deutschen Faschismus. Der Tag meiner Geburt war lange ungeklärt. Manche Dokumente sprechen vom zwei- ten, andere vom zwölften Januar. Von mei- nen Geburtstagen hat während der Kin- derjahre niemand Notiz genommen. Als ich sechzehn wurde, erlebte ich die erste Aufmerksamkeit. Viel später dann legte ich meinen Geburtstag auf den 15. Januar fest. Der Todestag von Rosa Luxemburg. Bürokratisches aus meinen ersten Le- bensjahren haben Beamte des Bundeskri- minalamtes zusammengetragen: Geburts- urkunde, Vaterschaftsfeststellung, kurze Sachberichte von Fürsorgebehörden: Als Kleinkind wurde ich zusammen mit drei Schwestern in einer Bretterbude aus drei

Wänden ohne Dach aufgefunden. Kinder DPA und Mutter waren erbarmungswürdig zer- DDR-Warteschlange (1982 in Ost-Berlin): „Vom Supermarkt weit entfernt“ lumpt, abgemagert, verlaust, krank, dem Tod näher als dem Leben. Der Mutter ken und Anpassung zu lehren. Die den wurde das Sorgerecht entzogen, die Kin- Vietnamkrieg unterstützte, weil sie ohne der ins Heim gebracht. Umschweife von der Vernichtungsstrategie Ich weiß nichts von dieser Mutter, die sie- gegen die „Jüdische Weltverschwörung“ ben Kinder gebären mußte, die sie nicht zur Vernichtungsstrategie gegen die „Bol- ernähren, behüten und lieben konnte. Ich schewistische Verschwörung“ übergegan- wüßte wohl gerne, wie sie ohne uns alle gen war. gelebt hat. Heute finde ich es fast ein we- Der Faschismus mußte in den städti- nig traurig, daß sie nicht erfahren hat, schen Gebieten große propagandistische welch ein rebellisches und ambitioniertes Schlachten entfalten, um das Proletariat Herz sie in die Welt gesetzt hat. der Aufklärung zu entziehen und auf sei- ne Seite zu bringen, die dörflich-bäuer-

Auf meinen ersten ausgedehnten Streif- R. DIETRICH liche Verständniswelt hingegen war der zügen durch die Wälder, Wiesen und Dör- SED-Losung faschistischen Ideologie sehr nah. Alles fer der Umgebung, beim Herumsuchen in „Oft ganz unerwartet“ Fremde, Andersartige wurde mißtrauisch der Kaufhalle, in den ersten vorsichtigen abgelehnt, war Ziel bösester Projektio- Begegnungen und belanglosen Gesprächen eines Sägewerks: Den Sozialismus auf- nen von Zwietracht, Schuld, Sünde. Alles des Alltags, der für mich freilich noch nicht bauen! Vorwärts zum 8. Parteitag der SED. Schwache wurde vernutzt, allein gelassen, alltäglich ist, beginnt sich ein merkwürdi- An der Schule: Wir lernen für den Frieden. beiseite gestoßen. ges neues Gefühl zu entwickeln. Hier be- Nein, ich finde sie nicht lächerlich, pa- Ich wuchs im Nachhall dieser Ideologie ginne ich schon meine Zugehörigkeit zur thetisch manchmal, ja. Auch altmodisch. heran. „Heil Hitler“, wenn ein Besucher anderen deutschen Geschichte zu empfin- Aber diese Losungen können niemals so das Haus betrat, „Heil Hitler“, wenn er es den. Ja, ich beginne, Besitz von ihr zu neh- falsch und zynisch sein wie der Kittekat- wieder verließ. Das war normal. men, als hätte ich sie mitgeschaffen. Werbeslogan in einer Welt, in der jährlich Ich bin so gründlich fertig mit dem Im- 14 Millionen Kinder an Hunger und Seu- Von Zeit zu Zeit kommt Werner vorbei. perialismus, bin so gründlich gescheitert chen sterben: „Das beste für unsere Kat- Wir gehen spazieren, essen zusammen, mit meinen eigenen Versuchen, ihm die ze.“ Niemals entleerter als der tägliche Ra- diskutieren oder plaudern auch nur. Er Stirn zu bieten, habe mit Getöse den Gue- diospruch: „-Zeitung, was braucht prüft mich unauffällig (denkt er), will rillakampf begonnen und kläglich als un- man mehr?“ und auch niemals dümmer meine Eindrücke wissen und wie ich mich tauglich erkennen müssen, daß ich nun und hohler als: „Alles Müller oder was?“ fühle. dem nahezu vierzigjährigen Beharren der „Ich war gerade im Supermarkt“, er- DDR einen fast zärtlichen Respekt entge- Wir „Terroristen“ sind aus allen Gesell- zähle ich. „Kaufhalle“, sagt er geduldig genbringe. Ohne Umschweife ergreife ich schaftsschichten gekommen, jeder mit der zum wiederholten Mal. Wir lachen. „Ich Partei für den sozialistischen Staat als letz- eigenen sozialen und geistig-kulturellen bin immer überrascht. Irgendwie dachte te reale Alternative. Prägung. Was uns in die Radikalität trieb, ich, es mangelt euch an allem. Das denken Mir gefallen auch die Losungen. Sie be- war die soziale Kälte einer herzlosen wir alle drüben“, sage ich. gegnen mir oft ganz unerwartet. Am Ende Kriegsgeneration, die ihre beispiellosen „Das ist natürlich Quatsch, aber wenn einer Landstraßenkurve nach Berlin: Ich Verbrechen leugnete oder verdrängte, die du länger hier bist, wirst du merken, wo es bin Arbeiter, wer ist mehr? An der Ruine unfähig war, uns anderes als Besitzden- fehlt und hakt. Vom Supermarkt sind wir

62 der spiegel 9/1997 Deutschland noch weit entfernt.“ – „Gott sei Dank“, auf welches es ihm ankommt. Es sind die päck viel Neugier, viel Banges, viel Span- entgegne ich. Momente, in denen ich spüre, daß ich sein nung. Schließlich sagt er: „Sobald du dich in Objekt bin, nicht seine Genossin. der Lage fühlst, fangen wir an zu arbeiten. „Was willst du machen bei uns, welcher Die Rote Armee Fraktion (RAF) hatte sich Deine Legende, dein Beruf, deine neuen Beruf würde dir Spaß machen, in welcher gegründet. Der Springer-Konzern war Verhältnisse, es wird nicht einfach, mach Stadt möchtest du leben, und wie möchtest noch Angriffsziel, der Vietnamkrieg zen- dir schon mal Gedanken.“ du heißen?“ werde ich gefragt. „Mal sehen, trales Thema, der Kampf gegen Polizei und Ich suche eine Bibliothek auf, ich will die ob wir alle Wünsche zu einer Geschichte Justiz wurde härter. Der „Blues“ organi- DDR-Sprache lernen. Jedes Gespräch ver- machen können.“ sierte sich im Untergrund zur „Bewegung rät mich als „die aus dem Westen“ und „Repro-Technik“, damit habe ich aus 2. Juni“. stürzt anfängliche Unbefangenheit in Be- dem Untergrund einige Erfahrung, „und Ich beteiligte mich an Demonstrationen, fangenheit. Stets ist Mißtrauen und Unsi- bloß nicht in die Provinz, wenn Berlin we- Vorlesungen, Versammlungen und Hap- cherheit in der Frage: „Sie kommen aus gen der Sicherheit schon nicht in Frage penings in der Uni, machte überall ein der BRD?“ kommt, dann wenigstens in die zweit- oder bißchen mit, war aber genauso vergnügt drittgrößte Stadt.“ und unverbindlich auf Festivals und in Mein schulisches Umfeld in Kiel war un- Nach einem halben Jahr Vorberei- Lesben- und Schwulenkneipen zu finden. berührt von politischen Vorgängen, voll- tung reise ich nach . Im Ge- Die Diskussion: „Revolutionäre Gewalt, kommen unpolitisch. Ich interessierte mich für die Beatles, für französische Chansons und Ballett. Ich las antike Lite- ratur und fand mich außerordentlich kul- tiviert. Zeitungen las ich nicht. Der Geist der Schule war konservativ, mit einem tra- ditionellen, noch vom Faschismus gepräg- ten Frauenbild. Bei „würdigen“ Anlässen – Jubiläen von Institutionen, Honoratioren oder ähnli- chen Feierlichkeiten – gehörten die tänze- rischen Vorführungen unserer Schule zum unerläßlichen kulturellen Programm. Die Kriterien für die Auswahl der Mädchen waren ganz simpel: blond, groß, schlank, feminines Äußeres und schön. Manchmal wurden wir auch von den Kie- ler Burschenschaften gebraucht. Sie be- stellten dann bei der Schulleitung en gros: „40 Tischdamen aus gutem Hause“. Ich geriet trotzdem einmal mit hinein und re- dete wohl nicht mehr als fünf Sätze über den Abend verteilt mit meinem Tisch- herrn. Es ging grotesk steif und verkrampft zu, bis die Burschen total besoffen waren. Wir Mädchen waren Beiwerk in den schwach- sinnigen Ritualen einer Männerwelt, die Militarismus, Hierarchie, bis zur Lächer- lichkeit blinden Gehorsam als Grundtu- genden des deutschen Volkes vergötzte.

Selbst nach einem halben Jahr Vorbe- reitung kann ich unmöglich als DDR-Bür- gerin durchgehen. Mir fehlt die Alltags- sprache, und meine westlichen Sprach- gewohnheiten kann ich nicht so schnell abstellen. Also entscheiden wir uns für eine Legende als Übersiedlerin. Das gibt mir auch einen freieren Kommunikations- raum. Ich bin ausgehungert nach sozialen Kontakten, Geselligkeit und Kommuni- kation. Mein MfS-Betreuer Wolfgang ist der Ge- heimdienstmann von Welt und Kultur, von beider Seiten Welt und Kultur. Er ist mir angenehm, sein Blick ist frei von Klein- lichkeit und Provinzialität. Sein Kollege Werner ist der Praktiker, der Arbeiter am Detail, der schlaue Fuchs, der seine Karten nie offenlegt. Es ist mir peinlich, wenn er nicht merkt, daß ich ihn durchschaue. Er rührt stets viele Seiten gleichzeitig an, um zu vertuschen,

64 der spiegel 9/1997 ja oder nein“, forderte von mir noch kei- Es wird Kaffee gekocht. Der Abtei- Nach einiger Zeit wird mir eine eigene ne Antwort. Die Bewegung 2. Juni und die lungsleiter ist gegangen, alle setzen sich in Wohnung zugeteilt. Sie ist schrecklich RAF waren zwar in aller Munde, aber wir den Pausenraum. Sie holen mir einen Stuhl klein, wenn ich nicht allein in ihr bin. Ein diskutierten sie eher wie einen interes- heran, und die Brigadeleiterin stellt mir ei- Zimmer, Küche, Bad. Sie kostet 36 Mark: santen Off-limit-Film. Zur Parteinahme nen Kaffee hin.Weiter nimmt niemand No- 36 Mark für 34 Quadratmeter! Ich verdie- fühlte ich mich noch nicht gedrängt. tiz von mir. Nur hin und wieder trifft mich ne jetzt achthundert Mark. ein neugieriger Blick. Zu Beginn meines ersten Arbeitstages, Während meiner Ausbildung zur Fach- Wir wollen den Springer-Autopark ein- es ist 6 Uhr 45, führt mich der Abteilungs- arbeiterin gibt es natürlich auch Staats- äschern. Wir machen dafür ein bombasti- leiter durch die Fotoabteilung, zeigt mir bürgerkunde. Mein Stabü-Lehrer ist über- sches Flugblatt: „Nieder mit den Mono- meinen Arbeitsplatz, stellt mich vor. Ich zeugter Marxist-Leninist, so mein Ein- polen der Volksverhetzung ...“ Es ist mein bin befangen, aufgeregt, aber äußerlich druck. Er läßt mich eine Arbeit schreiben, erstes agitatorisches Werk. Ich bin begei- ganz cool, da spielt meine lange trainierte dann sagt er: „Du brauchst nicht mehr zum stert und überzeugt, es wird die Mensch- Gelassenheit ihre Rolle. Ich drücke die Unterricht zu kommen, du weißt ja mehr heit aufrütteln. Ganz konspirativ mit Hände meiner zukünftigen Arbeitskolle- als ich.“ Da staune ich; denn mein Wissen Handschuhen und Letraset-Buchstaben gen, höre Namen, sage meinen eigenen: über marxistische Theorie ist wirklich nicht schreibe ich einen langen feurigen Text. Eva-Maria Sommer. sehr ausladend. Leider hat ihn niemand gelesen, denn un- ser nächtlicher Großangriff auf den Sprin- ger-Konzern scheitert an unserer Un- fähigkeit, das Benzin in Brand zu stecken. Die Kohlenanzünder verlöschen einfach in der Benzinlache. Wir nehmen alles grundernst, was wir tun. Es ist wichtig. Ich bin wichtig. Wir sind wichtig. Jeder Steinwurf in die Glasfronten der Bankhäuser verbindet uns mit den Re- volutionären in der ganzen Welt.

Nach etwa einem halben Jahr Dresden komme ich auch zu einem Auto. Ich habe für vieles noch nicht das richtige Gefühl, mit dem Besitz eines Ladas habe ich mich über meine Mitmenschen erhoben, ganz ohne Absicht. Ich kann noch nicht wissen, daß der Lada in der DDR so etwas wie die Mercedes-S-Klasse in der BRD ist. „Du mit deinem dicken Lada“, höre ich die Kollegen öfters sagen, und das ist ge- nauso, wie ich früher: „Der mit dem dicken Mercedes“ gesagt habe. Etwas proletari- sche Verachtung, etwas spießbürgerlicher Neid. Langsam kriege ich das Gefühl, mich für das Auto entschuldigen zu müssen, und sozialisiere es, wo immer sich Gelegenheit dazu bietet. Jedenfalls tausche ich den Wagen schließlich in einen kleineren. Zum Trabi allerdings kann ich keinerlei Zuneigung entwickeln. Ich bleibe bei meiner Meinung: Die Entwicklungsingenieure haben alle- samt die Prügelstrafe verdient. Dann errege ich die Aufmerksamkeit meines Parteisekretärs: „Du liest immer das neue deutschland und die einheit.Willst du nicht in die Partei eintreten?“ – „Das reicht?“ frage ich. „Ich will doch nur wissen, wie die Partei die Probleme sieht. Aber die kommen gedruckt ja gar nicht vor.“ Das nd ist ein tägliches Ärgernis. Ein- mal, weil es so großseitig ist, daß ich es in der Straßenbahn nicht lesen kann. Zum anderen, weil die Suche nach Informatio- nen zwischen den Zeilen selten erfolgreich und daher frustrierend ist. Kein Inhalt, keine Analyse. Die Redakti- on ist nicht bei Trost oder unverschämt. Den innenpolitischen Teil überblättere ich gleich, er ist eigentlich auch gar nicht da. In der DDR gibt es ja keine Innenpolitik. Es gibt nur den gemeinsamen Kampf für die Erfül- lung des Volkswirtschaftsplanes und den ge-

der spiegel 9/1997 65 Deutschland viele jeder will. Ich sage: „Für mich nicht, ich brauche jetzt keine.“ Alle gucken mich verwundert an: „Na und?“ Dem System ist einfach nicht beizu- kommen: Wenn es etwas gibt, rennen alle hin und kaufen es in Mengen. Egal, ob sie es grad brauchen oder nicht. In kürzester Zeit ist die Ware wieder aus allen Regalen in der Stadt verschwunden. Wenn ich et- was brauche, gehe ich los und suche da- nach, bis ich entnervt aufgebe. „Siehst du“, sagen dann die Kollegen. „Du mußt kaufen, wenn es da ist, nicht wenn du es benötigst.“ Dem habe ich mich aber bis zuletzt widersetzt. Es war eine Weigerung, die Tatsache anzuerkennen, daß es nach vierzig Jahren Planwirtschaft noch nicht möglich war, zum Beispiel einen Bohrer Nr. 3 zu kaufen, wenn ich ihn brauchte. Das ganze Land bot dann offen- sichtlich in einer geheimen Verschwörung gegen mich über Monate hin nur den Boh- rer Nr. 5 an. E. VENOHR Vietnamkriegs-Demo (1968 in West-Berlin): „Der Kampf wurde härter“ Wir müssen auf dem Niveau des Gegners angreifen, sagte die RAF, und wir fanden: meinsamen Kampf um die Durch- auf dem Niveau der fortschrittlichen Teile setzung der Beschlüsse der Partei. der Massen. Massentick und Opportunis- mus war das für die RAF. Die Wahrheit Eine Bank zu überfallen, ist nicht braucht keine Vermittlung, sie agitiert im- einfach. Schon gar nicht, wenn alle mer, sagte sie. Die Schweine aus der Elite Beteiligten keine Ahnung haben, anzugreifen, das versteht jeder … wie sie sich in so einer Situation ver- Jeder Angriff muß eine Machtprobe sein, halten werden. Politisches Motiv sagte die RAF. Das ist einfach verrückt bei hin, ideeller Anspruch her, man muß der Schwäche der revolutionären Bewe- da rein mit der Waffe in der Hand gung, sagten wir. Es ist anmaßend und und das Geld fordern, und man muß aussichtslos. da wieder raus und sich in Sicherheit Es ist immer die neue Ausschließlichkeit in bringen, ohne daß irgendeinem den Gedanken der RAF-Genossen, die Menschen was dabei passiert. mich einschüchtert und die ich nicht mag. Wir zogen morgens los mit dem Ge- Sie beklemmt mich. Ich will aber das, was fühl, dem Jüngsten Tag entgegenzu- ich richtig finde, auch mögen. Dieses Ver- gehen, und sahen aus wie einem hältnis zur RAF habe ich niemals abwer- Film der Marx Brothers entsprun- fen können. Ich fand vieles richtig, aber ich gen. Lupus in seinem langen ver- mochte sie nicht. knitterten Mantel, unter dem ein al- So schätzte die RAF unsere politischen tes Gewehr verborgen war, sah aus Vorstellungen zur Entwicklung einer re- wie Harpo und Harald wie Zeppo volutionären Bewegung und unsere be- mit seinem Cowboytuch um den waffneten Aktionen gering und bedeu- Hals, dem Hütl und der Sonnenbril- tungslos, und wir, die Bewegung 2. Juni, le. So stiegen sie aus dem Auto und sahen ihren dramatischen Machtproben lungerten einige Minuten verunsi- mit dem Staat kopfschüttelnd, den Show- chert vor dem Bankeingang herum. down erwartend, zu. Dann kamen sie zurück, Lupus mit

einem absurden Blick im käsigen G. ROSSKAMP Eines Tages fährt meine Kollegin Beate in Gesicht: „Nein, so gehe ich da nicht Angriffsziel Springer-Hochhaus*: „Erstes Werk“ die Bundesrepublik. Nachts steht sie ge- rein, unsere Verkleidung ist lächer- langweilt auf einem Bahnhof und wartet lich.“ Wir fuhren betreten ab. Wieder nicht Was in der Illegalität Sinn hatte, kann ich auf den Anschlußzug. Sie betrachtet die geschafft. Wieder nicht die Angst bewäl- als Gewohnheit in der DDR, im Land der vielen Reklameschilder. Zwischen ihnen tigt. Als es dann endlich geklappt hatte, großen sozialistischen Planung, nicht ab- hängt ein großes Fahndungsplakat gesuch- wirkte es wie ein Befreiungsakt. legen. Ich falle deshalb immer wieder auf ter Terroristen. Sie studiert es und ist plötz- die Nase. lich hellwach. In dem Foto der gesuchten Meine alltäglichen Grundversorgungen Christa kommt aufgeräumt aus der Pau- Inge Viett erkennt sie die ihr gut bekannte wie Essen, Wohnen und Kleidung gingen se zurück. „Kinder, ich war auf Nahrungs- Eva-Maria Sommer aus Dresden. früher im Untergrund recht flüchtig, spon- suche, und was finde ich? Frottee-Tücher!“ Nach ihrer Rückkehr ißt Beate bei uns tan und planlos vor sich. Sie liefen so ne- Sie legt einen Stapel Handtücher auf den zu Abend. Sie sagt nichts, aber ich spüre benher ab, waren in der Regel von Not- Tisch. „Wer geht noch mal und holt für ihre Blicke öfter und in gezwungener Un- wendigkeit und Zweckmäßigkeit bestimmt. alle?“ Es wird eine Liste gemacht, wie auffälligkeit auf meinem Gesicht und mei- Mobilität und Mimikry widersprachen je- nen Händen. Sie sucht die Narbe, die als der Besitzanhäufung und allen unabän- * Angezündete Autos vor dem Berliner Verlagsgebäude besonderes Merkmal auf dem Fahndungs- derlichen Vorlieben. 1968. plakat ausgewiesen ist.

68 der spiegel 9/1997 Mir ist sofort klar, was das bedeutet: nichtung unserer Gefangenen sie etwas ko- Nach dreieinhalb Jahren Dresden muß ich sten wird. alles aufgeben, muß verschwinden. Ich rin- Das Volksgefängnis ist fertig. Wir werden ge um einen Entschluß. Soll ich die Situa- uns den höchsten Richter greifen tion vor dem MfS verheimlichen, einfach und hineinstecken. Die Aktion geht an- so tun, als wenn nichts wäre? ders aus. Der Präsident des Berliner Kam- Ich möchte es. Ich will nicht weg aus mergerichts, Günter von Drenkmann, wird Dresden, ich fühle mich wohl, habe Wur- beim Entführungsversuch erschossen. zeln geschlagen im Betrieb, in der Stadt, Zum Jahreswechsel treffen wir alle zur aus- privat. Jetzt bin ich gerade sicher gewor- führlichen Diskussion für mehrere Tage zu- den, freier, beweglicher und unabhängiger. sammen. Ein Sympathisant hat uns seine Es ist verdammt schwer gewesen, mich ein- Wohnung zur Verfügung gestellt. Wir sind zuleben und Nähe zu entwickeln. neun Personen und haben uns vorgenom- Nein, es geht nicht! Ich habe mich ver- men, eine richtig ausgelassene Silvester- pflichtet, alles für meine Sicherheit und nacht zu feiern, quasi zur Einleitung der Geheimhaltung zu tun. Ein Fehler kann Endphase unseres Gefangenen-Befrei- unübersehbaren politischen Schaden für ungsplanes. Die Entscheidung ist auf den die DDR bedeuten. Ich weiß nicht, wie vie- Vorsitzenden der Berliner CDU, Peter Lo- le Bekannte bereits von meinem gefährli- renz, gefallen. Ihn werden wir entführen. chen Geheimnis wissen. So rufe ich in Ber- Warum gerade ihn? In Berlin läuft der lin an und erkläre die Lage. Wahlkampf. ist der Spitzen- kandidat der Opposition. Uns ist natürlich Wir werden einen Mann aus der politi- klar, daß die Entscheidung für den Aus- schen Elite entführen, ihn ein paar Tage ins tausch der Gefangenen gegen die Geisel Volksgefängnis stecken und Gefangene für Fahndungsplakat (1980) nicht im Berliner Senat, sondern in Bonn, seine Freilassung fordern. Mit größter Be- „Es ist wichtig. Ich bin wichtig“ in Schmidts Krisenstab, getroffen wird. geisterung und in voller Überzeugung sei- Eine einfache Psychologie überzeugt uns: nes Gelingens arbeiten wir an der Reali- Die Situation ist zugespitzt und eskaliert Die SPD als Regierungspartei in Bonn wie sierung des Plans. mit dem Tod von . Eine un- in Berlin kann es sich moralisch nicht er- Seit mehreren Wochen sind die Gefange- geheure Wut, eine ungeheure Ohnmacht lauben, den einzigen aussichtsreichen Op- nen wieder im Hungerstreik gegen die Iso- setzt uns unter Druck. Wir wollen zurück- positionskonkurrenten von der Guerilla lationsfolter. Es ist der dritte, und die ein- schlagen und überlegen fieberhaft, wo und erschießen und damit die CDU die Wahl zige Antwort des Staates ist die brutale wen wir aus dem Stand heraus angreifen gewinnen zu lassen. Methode der Zwangsernährung. können. Sie sollen spüren, daß die Ver- Deutschland P. MITCHELL P. Tatort der Schleyer-Entführung (1977): „Genau die richtige Person“

Ich habe den Arbeitsbereich bestimmte Räume in der BRD besser mei- Kinderferienaustausch und den sollten. Kinderferienlager zu leiten, Meine erste Reaktion war Unverständnis: dem jährlich über eine Million Wie konnten sie so etwas mit vier geplan- Mark zur Verfügung stehen. ten Toten beginnen! Andererseits empfand Die Entscheidungsfreiheit bei ich auch Bewunderung und war über- der Verwendung der Mittel ist zeugt, daß Schleyer genau die richtige Per- enorm. Ich bin nicht selbst- son für eine Befreiungsaktion war, als zen- herrlich, aber ich könnte trales Beispiel für den bestimmenden Ein- durchaus nach Belieben mit fluß der Elite des Dritten Reiches auf die manchen Summen umgehen. BRD und als Austauschperson für die ge-

ULLSTEIN Im Kombinat kriege ich forderten Gefangenen, als höchster Funk- Terroristen-Geisel Lorenz (1975): „Ungeheure Wut“ langsam Erfahrung mit der tionär der Wirtschaft. Hierarchie. Die DDR hat in Beide Seiten, Staat und RAF, haben ihre Diesmal soll es sein. Lustlos, ihrem Versuch, den Sozialismus zu prakti- Schritte militaristisch bestimmt, aber die widerstrebend habe ich akzeptiert. Es ist zieren, unter vielen Merkwürdigkeiten RAF hat den tödlichen Reigen eröffnet und nicht einfach, eine angemessene Arbeit für auch diese hervorgebracht: die unwirkliche mit der Ermordung der vier Begleiter von mich zu finden. Meine Voraussetzungen Ebene des Autoritären und die wirkliche Schleyer das Niveau bestimmt. Diese po- sind jetzt zwar besser, weil ich fähig bin, als Ebene des Antiautoritären. litische Verantwortungslosigkeit wurde bis DDR-Bürgerin aufzutreten. Aber eine Die Hierarchie im Betrieb hat ihren of- zum Ende durchgehalten. DDR-Bürgerin in meinem Alter, mit mei- fiziellen Ritus, ihren Orderstrang von oben ner Selbständigkeit, meinem Habitus und nach unten, und der wird rituell auch ein- Der Drang an die kapitalistischen meinem gesellschaftlichen Denken hat in gehalten. Aber die persönlichen Verbin- Fleischtöpfe ergreift die Leute. Mit ange- der Regel eine zumindest mittlere Karrie- dungen der Leute im Betrieb machen die haltenem Atem starren die im Land Blei- re gemacht, hat studiert, hat Leitungs- Hierarchie unwirksam, neutral, oft über- benden auf das ungarische Szenarium.Was funktionen. flüssig. wird die DDR-Regierung machen? Nun habe ich gerade auf dieser Ebene Im Kombinat hat kein Lehrling Angst Die Regierung macht gar nichts, die Par- noch keine Ahnung von der DDR. Das vor seinem Meister, und auch wir haben tei schweigt. Die Dinge werden sich selbst staatliche und parteiliche Innenleben, die keine Furcht vor Achim, unserem Abtei- überlassen. Mechanismen von Leitung und Funktion lungsleiter. Eher schon umgekehrt. Und Unser Ferienlager im Sommer 1989 ist sind mir noch unbekannt. privat hat Frau Doktor ihren Garten neben von ersten Auflösungserscheinungen ge- Am Ende bringen wir doch alles zu ei- dem Elektriker. Herr Direktor ist befreun- kennzeichnet.Von einem Tag zum anderen ner schönen, runden Legende zusammen: det mit dem Gewerkschaftsleiter, der wie- verschwinden die Freundschaftsleiter, Ju- untere Leitungsebene mit einem Ökono- derum Brigadier ist. gendliche aus der Umgebung verwüsten miestudium, zuvor mit Ehemann dessen Es reizt mich schon, ich würde gern in das Gelände. Im Lager wird gesoffen, die elterlichen Familienbetrieb geführt. Nach die Partei gehen. Schon weil so viele drin ärztliche Versorgung bricht zusammen, Tod des Mannes nun eine Neuorientierung sind, die ich gerne rausschmeißen würde, weil der Arzt auf dem Weg nach Ungarn jenseits der Familienenge. weil sie die Partei mit Opportunismus, In- ist. Ich bin heilfroh, als der Feriensommer Ich lande also in der Provinz. Immerhin kompetenz, Autoritätshörigkeit und Still- vorüber ist und die Kinder wieder in der bin ich jetzt in einem riesigen Kombinat, stand mästen. Aber ich darf nicht. „Das Verantwortung der Eltern sind. und dies scheint mir größer und unüber- geht nicht“, sagen die Genossen aus der Jetzt sind es schon Zigtausende, die in sichtlicher als die ganze Stadt Magdeburg Hauptstadt. „Vor der Partei können wir den Westen ziehen. Im Kombinat fehlen zu sein. Auch in drei Jahren wird es mir deine Legende nicht verbergen, vor der überall Leute. Die Betriebsleiter schauen nicht gelingen, alle Betriebsteile und Struk- Partei müssen wir die Hosen runterlassen.“ auf die Partei, die Partei ist sprachlos. In turen kennenzulernen, bei weitem nicht. der Belegschaft zeigen sich öffentlich noch Im VEB Schwermaschinenbau „Karl Die Schleyer-Entführung überraschte auch keine oppositionellen Bewegungen, aber Liebknecht“ werden Dieselmotoren und uns, obgleich die RAF uns Informationen die Versammlungen verlaufen in ange- Industrieanlagen gebaut. Er ist Arbeits- hatte zukommen lassen, daß sie eine spannter, abweisender Ruhe. Es ist zu und Lebensbezug für 9000 Menschen. größere Aktion vorbereiten würde und wir spüren: Alle warten auf ein Zeichen, eine

72 der spiegel 9/1997 Gelegenheit, in den heraufziehenden Aufstand gegen die Verhältnisse einzu- haken. Was in Leipzig die Montags-Demos, sind in Magdeburg die Montagsgebete im Dom. Meine Freundin Hanna und ich gehen hin. Es ist brechend voll. Das düstere Dom- innere ist mit Kerzen erhellt.Wir drängeln uns durch die Katakombenatmosphäre bis zum Podium. Ein Redner nach dem anderen ergreift das Mikrophon. Der Applaus ist frenetisch, wenn die Partei und der Sicherheitsappa- rat angegriffen werden. Überhaupt wird ständig geklatscht. Die Reden sind aggres- siv, sie machen Stimmung. „Komm, laß uns gehen“, flüstere ich. „18. Jahrhundert, hier sind wir die Ket- zer.“ Wir drängeln zurück. „Beten wir für die friedliche Vereini- gung mit unseren Schwestern und Brüdern in der Bundesrepublik.“ Eine Gruppe schwarzberockter Kirchenmänner verstellt uns den Weg nach außen. Ich will mich wütend hindurchzwängen, aber sie pressen einfach ihre Bäuche aneinander und halten mich so in der Mitte fest. Dabei schauen sie an mir vorbei, als sei nichts. „Zwingt mich nicht in euren Mummen- schanz“, zische ich in ihre anonymen Ge- sichter und bin schon bereit, mir den Weg mit den Fäusten freizuschlagen. Hanna be- ruhigt mich. Endlich sind wir durch und draußen.

Paris, das ist eine Stadt, in der es sich ille- gal wunderbar leben läßt, wenn die Wohn- und Finanzverhältnisse gesichert sind. Die Stadt der revolutionären historischen My- then. Die Metropole der großen Kämpfe, Siege und der noch größeren Niederlagen der Volksmassen. Ich wünschte mir kein anderes Leben als das, welches ich führte. Ich wollte nir- gendwohin zurück, aber ich konnte kaum noch vorwärts, weil die Machtlosigkeit, die Zersplitterung, die Isoliertheit unserer Aktivitäten mich überfiel. Das war die Situation, als wir die Ge- spräche mit der RAF begannen. Und hol's der Teufel, sie haben es sofort gemerkt. Mit einer entschiedenen, von Verfall und Zweifel gereinigten Gruppe wollte die RAF eine neue Anti-Nato-Eskalation ent- wickeln. Wer dazu nicht in der Lage war, mußte den aktiven Untergrund verlassen. Es ist ja kein Geheimnis, daß die RAF alle Aktionen der Bewegung 2. Juni politisch als defensiv und ihr massenorientiertes Konzept als opportunistisch klassifizier- te. Natürlich hatten wir uns praktisch von diesem Konzept entfernt. Nicht aus Über- zeugung, sondern weil um uns herum kei- ne Massen waren, deren Veränderungsbe- dürfnis unserem noch ähnlich war. Im Herzen hingen wir – und besonders wohl ich – an unserer 2.-Juni-Geschichte und -Herkunft. Ich hatte mit ganzer See- le in jeder Aktion dringesteckt. Es war mir unmöglich, sie mit den Augen, mit dem Bewußtsein der RAF zu sehen. Ich ver-

der spiegel 9/1997 Deutschland bis zu meiner Haustür? Was ist noch zu regeln bis dahin?

Es ist schönster Augustsommer in Paris. Ich fahre im T-Shirt und ohne Helm. Das ist verboten, was ich dummerweise nicht weiß. Die Ampel ist rot, ich stoppe an ei- ner breiten Kreuzung. Zwei Verkehrspoli- zisten pfeifen mich von der anderen Seite der Kreuzung an. Ich denke: Nicht hin- gucken, so tun, als wärst du nicht gemeint. Die müssen erst mal über die breite Straße, bis dahin ist grün, und du bist weg. Das Pfeifen wird schriller und ich nervöser. Das Motorrad bringt mich nicht fort. Ich springe ab und lasse es liegen, vielleicht kann ich zu Fuß irgendwo reinschlüpfen, mich verstecken. Und tatsächlich, schon ermüdet vom Laufen, sehe ich eine Tief- garage, laufe hinunter in der Hoffnung, ei- nen zweiten Ausgang zu finden. Es gibt keinen. Um Gottes willen, ich bin in der Falle und will wieder raus. Da sehe ich ihn vor der Ausfahrt auf der Straße stehen. Er ruft in sein Sprechfunkgerät. Was soll ich tun? Hinter einem Auto versteckt, im Halb- dunkel der Garage, beobachte ich ihn. Dann ziehe ich meine Waffe und trete her-

DPA vor, richte sie auf ihn und sage: „Jetzt ver- Verhaftete Viett (1990 in Karlsruhe): „Abgebrühtes Siegerbewußtsein“ schwinde.“ Ungläubig, dümmlich ist sein Blick. Sekundenlang, dann greift er lang- körperte die Geschichte der Bewegung ten. In dem Votum liegt etwas Richtiges sam zu seiner Waffe in ungeheuerlicher 2. Juni, und für die Genossen von der RAF und Notwendiges, aber auch etwas Ge- Verkennung der Situation. war ich die Ikone, die gestürzt werden meines, Mobhaftes, und letzteres bringt Ich starre versteinert auf ihn, er wird klei- mußte. mich dazu, deutlich zu machen, daß es ner und kleiner, seine langsame Bewegung Am Ende des Diskussionsprozesses muß nicht mein persönliches Votum ist. zur Pistole wischt wie ein Schatten über ich mich entscheiden: Bleibe ich mit mei- Ich hoffe jeden Tag, daß hier und da meine Augen. Dann fällt der Schuß. Ich ner Gruppe zusammen und höre auf mit Bastionen erhalten bleiben. Über die habe geschossen. dem Guerillakampf, oder integriere ich Modrow-Regierung mache ich mir ein paar mich in die RAF. Wochen Illusionen, aber schnell zeigt sich, Zuerst trifft es . Die daß Bonn fest entschlossen ist, die Herr- Medien toben und verkochen ihre Ent- Als Erich Honecker abgesetzt wird, geht schaft in der DDR zu übernehmen, und deckung als sensationellen Beweis für das es auch im Betrieb offen los. Alle neuen auf keinen Fall eine DDR-eigene Entwick- „verbrecherische Wirken“ des MfS. Kolle- politischen Gruppen sind da: Demokrati- lung zulassen wird. gen kommen mit der bild in mein Büro: scher Aufbruch, Demokratie Jetzt, Verei- Die Leute in der DDR werden jeden Tag „Stell dir das mal vor, sogar Terroristen nigte Linke, Sozialdemokratische Partei. mit neuen Enthüllungen, Skandalen und haben bei uns gelebt.“ Das Neue Forum gewinnt die Meinungs- Stasi-Diskussionen beladen. Sie und ihr Am Abend des 12. Juni 1990 bin ich mit herrschaft. Absetzungen von Direktoren bisheriges Leben werden mit der Macht Hanna bei einer Bekannten. Mein Fahn- und Funktionären werden gefordert, die eines abgebrühten Siegerbewußtseins in dungsfoto erscheint groß in den TV-Nach- SED und die Gewerkschaft werden massiv den Schlamm gezerrt. Ihr seid betrogen richten. Ich verschütte vor Schreck die angegriffen, Teile der Belegschaft legen die worden, sagen die Sprachrohre des Kapi- Milch und lenke hastig vom Fernseher ab. Arbeit nieder und ziehen vor das Haupt- talismus, aber jetzt kommt das Geld, jetzt Der Countdown läuft. Hanna und ich gebäude. kommen die Autos, die Videos. Jetzt kom- fahren sehr spät nach Haus. Unterwegs Unser Direktor ist Zielscheibe von Kri- men die Freiheit und der Wohlstand.Wohl überholt uns ein mit jungen Männern voll- tik und Hetze. Sein Kopf wird gefordert, es die Hälfte der Bevölkerung berauscht sich besetzter Lada. Ich nehme ihn wahr mit finden sich kaum Verteidiger. Der Gene- wie mit Heroin an diesen Versprechungen. dem Hauch des Beschattungsgefühls. Es raldirektor will ihn nicht ohne Gegenwehr Sie wählt die „Allianz für Deutschland“. ist gleich wieder weg, nur das Aufblitzen ei- opfern und beraumt eine große Aussprache Ich bringe am 18. März die Wahl in mei- ner fast verlorenen Erinnerung aus frühe- für alle Leute aus dem Bereich Bildung nem Wohngebiet mit über die Bühne. Mei- rer Zeit. und Sozialwesen an. ne nette Frau Nachbarin hat mich gebeten, Wir gehen ins Haus, Hanna steigt eine Es wird ein schreckliches Tribunal gegen als Wahlhelferin tätig zu sein. Drei Mona- Treppe tiefer, um den Fahrstuhl zu holen, den Direktor, Hauptanklage ist sein dikta- te später wird sie mich als die gesuchte ich will noch schnell den Briefkasten lee- torischer Führungsstil und natürlich seine Terroristin Inge Viett der Polizei melden – ren. Dann sind sie da! Vor dem Fahrstuhl Funktion als Ideologieträger der SED. Die aus Gesetzestreue, wie sie versichern wird. Getrampel und Getose, etwas klirrt zu Bo- Anklage ist richtig, trotzdem hasse ich das Aus Gesetzestreue wird sie auch vom Bun- den, es ist Hannas Brille. Ich höre sie Kesseltreiben, bei dem am lautesten von deskriminalamt mein Kopfgeld, 50 000 schreien: „Hilfe, Polizei, Überfall!“ den vorherigen Bucklern und Wasserträ- Mark, einfordern. Bevor ich mich umsehen kann, fühle ich gern gelärmt und gehetzt wird. In der Nacht nach der Wahl rädert zum die Mündung der Maschinenpistole an Ich bin Vertrauensfrau und muß für mei- ersten Mal die Frage durch meinen Kopf: meinem Kopf. „Rühren Sie sich nicht! Sie ne Abteilung den Daumen nach unten hal- Wie lange werden sie wohl noch brauchen sind verhaftet!“ ™

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