Um die koreanische Wiedervereinigung - Die Sonnenscheinpolitik Kim Dae Jungs im Vergleich mit der Willy Brandts

Inaugural-Dissertation zur Erlangen der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät Freiburg i. Br.

vorgelegt von

Geonwoo KIM aus Daegu/Südkorea

SS 2007

1. Referent: Prof. Dr. Hans Fenske

2. Referent: Prof. Dr. Bernd Martin

Datum der mündlichen Prüfung: 14. 12. 2007 Vorwort

Die vorliegende Arbeit versucht, durch den Vergleich der Sonnenscheinpolitik Kim Dae Jungs mit der Ostpolitik Willy Brandts festzustellen, ob die Sonnenscheinpolitik in Bezug auf die koreanische Wiedervereinigung eine historische Lehre aus der Ostpolitik ziehen kann.

Die so genannte Sonnenscheinpolitik, zu der Kim Dae Jung von der Ostpolitik Willy Brandts inspiriert wurde, ist die Nordkorea-Politik, die die Spannung auf der koreanischen Halbinsel allmählich beseitigen und eine friedliche Koexistenz mit Nordkorea schaffen will. Nach dem Antritt der Präsidentschaft im Februar 1998 setzte Kim Dae Jung die Sonnenscheinpolitik in die Tat um, die er seit 1971 kontinuierlich entwickelt und er selbst als eigene Initiative zur Wiedervereinigung vorbereitet hat. Nach dem Amtsantritt vermittelte er dem Norden ständig die Botschaft der Versöhnung und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, auch wenn sich Nordkorea ablehnend verhalten hat, weil es befürchtete, durch diese Sonnenscheinpolitik hintergangen zu werden. Beharrlichkeit und ehrliche Bemühungen mit internationaler Unterstützung führten schließlich im Juni 2000 zum Gipfeltreffen zwischen Kim Dae Jung und Kim Jeong Il, das zwischen beiden staatlichen Machthabern zum ersten Mal nach der Teilung Koreas in zwei Staaten stattgefunden hat. Mit diesem innerkoreanischen Treffen haben die beiden koreanischen Staaten ein neues Kapitel in der Geschichte der Wiedervereinigung aufgeschlagen. Nach dem erfolgreichen Gipfeltreffen erfolgten Abkommen in verschiedenen Bereichen und eine militärische Zusammenarbeit mit Nordkorea, die in der Tat dazu beitragen, das gegenseitige Vertrauen wiederherzustellen und in Südkorea neue Hoffnung auf die Wiedervereinigung aufkeimen zu lassen.

Genauso wie Kim seine Sonnenscheinpolitik führte Brandt die Ostpolitik bereits in den 60er Jahren mit den Schlagworten „Wandel durch Annährung“ unbeirrt durch. Dies führte zur .Koexistenz und der Entspannung zwischen Bundesrepublik Deutschlandٛund der DDR Durch die ständigen Bemühungen und die Kooperation wurde nicht nur das Misstrauen der DDR-Führung in Ost- gegen West-Deutschland aufgelöst, sondern es wurde auch die ideologische Feindschaft zwischen den beiden Bevölkerungen gemildert. Diese Politik wurde trotz des Regierungswechsels 1982 in der BRD fortgesetzt und spielte bei der deutschen Wiedervereinigung eine große Rolle.

Nach der Untersuchung lässt sich zusammengefasst sagen: Aus der deutschen Ostpolitik kann die Sonnenscheinpolitik Südkoreas die historische Lehre ziehen, dass sich Geduld und die ständigen Bemühungen um die friedliche Verbesserung des Verhältnisses zwischen beiden Staaten als lohnend erweist, auch wenn die andere Seite ablehnend verhält. Für Koreaner ist es sehr relevant, sich auf die Wiedervereinigung Schritt für Schritt vorzubereiten. Denn schon allein aus finanziellen Gründen könnte Südkorea nicht überleben, wenn Nordkorea zusammenbrechen würde. Deshalb soll die Sonnenscheinpolitik weitergeführt werden, auch wenn ein Regierungswechsel in Südkorea vorkommt. Außerdem muss Korea ein Interesse daran haben, gutnachbarschaftliche Beziehungen zu China, Russland und Japan zu entwickeln. Nicht Konfrontation, sondern das Angebot zum Dialog und zur Zusammenarbeit muss die Antwort Südkoreas auf die Politik Nordkoreas sein.

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2007/08 von der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwig-Universität Freiburg als Dissertation angenommen. Um diese umfangreiche Untersuchung anfertigen zu können, war ich auf die Hilfe zahlreicher Personen angewiesen, bei denen ich mich an dieser Stelle bedanken möchte. In erster Linie danke ich meinem akademischen Lehrer und Förderer, dem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Hans Fenske für die Anregung des Themas und die intensive Betreuung der Arbeit. Ebenso bin ich auch Herrn Prof. Dr. Bernd Martin für die Zweitgutachten sehr verbunden.

Für die Korrektur der Arbeit und die lebhaften Diskussionen über das Thema danke ich besonders meinen alten Freunden Dr. Carmen Diller und Gernot Haidorfer. Erna und Oskar Gutekunst bin ich auch sehr dankbar, dass sie mir neben dem ersten Korrekturlesen auch gerne eines ihrer Zimmer sonntags zum Lernen zur Verfügung gestellt haben. Außerdem danke ich auch meiner langjährigen Physiotherapeutin Frau Hansen, die mir vom Anfang bis zum Ende der Promotion geholfen hat, meine Lähmungen nach einem Schlaganfall zu beseitigen.

Für die Archivarbeit danke ich vor allem dem Sachbearbeiter des Willy-Brandt-Archivs, Herrn Harry Scholz, im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn. Ebenso gehört meine tiefe Dankbarkeit der Dr. Leo-Ricker-Stiftung in Freiburg, die mir ein zweijähriges Stipendium gewährt hat.

Mein besonderer Dank gilt meinen Eltern für die Unterstützung während des Studiums und der Promotion in Deutschland. Ganz besonders möchte ich auch meiner Ehefrau Philsook danken, die mich aufmunternd begleitet und fortdauernd unterstützt hat. Schließlich hoffe ich, dass meine liebevollen Kinder I Hyang und Do Won später einmal verstehen werden, warum Papa wegen dieser Doktorarbeit nicht so viel Zeit für sie gehabt hat. Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung ...... 1 1.1. Vormerkung ...... 2 1.2. Forschungsstand ...... 3 1.3. Quellenlage ...... 4 1.4. Ziel und Fragestellung ...... 6

2. Kontinuität und Erneuerung: Ein Wendepunkt in der Wiedervereinigungspolitik 2.1. Ostpolitik 2.1.1. Deutschland- und Ostpolitik vor der neuen Ostpolitik ...... 7 2.1.1.1. Deutschland- und Ostpolitik der BRD ...... 7 2.1.1.1.1. Die Regierung Adenauer (1949-1963) ...... 7 2.1.1.1.2. Die Regierung Erhard (1963-1966) ...... 12 2.1.1.1.3. Die Große Koalition (1966-1969) ...... 18 2.2. Die Wiedervereinigungspolitik der DDR ...... 23 2.2.1. Der Alleinvertretungsanspruch und die Bildung eines gesamtdeutschen Rates (1949- 1955) ...... 23 2.2.2. Der Konföderationsplan (1956-1966) ...... 26 2.2.3. Auf dem Weg zum Grundlagenvertrag (1967-1972) ...... 30

2.2. Sonnenscheinpolitik 2.2.1. Die Wiedervereinigungspolitik vor der Sonnenscheinpolitik ...... 31 2.2.1.1. Von der Befreiung von der japanischen Kolonialherrschaft bis zur Gründung der zwei Staaten in einer Nation (1945-1948) ...... 31 2.2.1.1.1. Der weltpolitische Hintergrund der Teilung der koreanischen Halbinsel ...... 32 2.2.1.1.1.1. Koreapolitik auf den alliierten Konferenzen im Zweiten Weltkrieg ...... 32 2.2.1.1.1.2. Die Teilung Koreas und die amerikanisch-sowjetische Besatzungspolitik ...... 35 2.2.1.1.1.3. Die Moskauer Außenministerkonferenz 1945 und die Gemeinsame amerikanisch- sowjetische Kommission ...... 40 2.2.1.1.2. Die politische Lage der koreanischen Nation ...... 43 2.2.1.1.2.1. Die Auseinandersetzung der politischen Kräfte nach der Befreiung ...... 43 2.2.1.1.2.2. Die Widerstandsbewegung gegen die internationale Treuhandschaft ...... 46 2.2.1.1.2.3. Die Vereinigungsbewegung zwischen der Linken und Rechten ...... 48 2.2.1.1.3. Die Gründung der zwei Staaten in einer Nation ...... 50 2.2.1.1.3.1. Die Resolution über die Koreafrage in den Vereinten Nationen ...... 50 2.2.1.1.3.2. Die Gründung der Republik Korea (RK) und der Demokratisch Volksrepublik Korea (DVRK) ...... 51 2.2.1.2. Die Wiedervereinigungspolitik der zwei koreanischen Staaten (1948-1998) ...... 53 2.2.1.2.1. Die Regierung der Republik Korea ...... 53 2.2.1.2.1.1. Die Regierung Rhee Sung Man (1948-1960) ...... 53 2.2.1.2.1.2. Die Regierung Jang Myeon (1960-1961) ...... 57 2.2.1.2.1.3. Die Regierung Park Jeong-Hee (1961-1980) ...... 61 2.2.1.2.1.4. Die Regierung Jeon Doo-Hweon (1980-1988) ...... 68 2.2.1.2.1.5. Die Regierung Roh Tae-Woo (1988-1994) ...... 76 2.2.1.2.1.6. Die Regierung Kim Young-Sam (1994-1998) ...... 83 2.2.1.2.2. Die Regierung der Demokratischen Volksrepublik Korea ...... 89 2.2.1.2.2.1. Vor der Wiedervereinigungspolitik „Föderation Koryo“(1948-1959) ...... 89 2.2.1.2.2.2. Die Wiedervereinigungspolitik „Föderation Koryo“(1960-1980) ...... 92

2.2.2. Sonnenscheinpolitik als Novum der Wiedervereinigungspolitik ...... 96 2.2.2.1. Hintergrund der Sonnenscheinpolitik ...... 96 2.2.2.2. Herkunft der Sonnenscheinpolitik ...... 97 2.2.2.3. Grundlage der Sonnenscheinpolitik ...... 98

3. Realität und Illusion: Entstehung und Entwicklung der neuen Politik 3.1. Ostpolitik (1961-1969) 3.1.1. Weltpolitische Ausgangslage und Berliner Mauerbau ...... 103 3.1.2. Wandel durch Annäherung ...... 108

3.2. Sonnenscheinpolitik (1971-1997) 3.2.1. Die Wiedervereinigungspolitik Kim Dae Jungs in den 70er Jahren ...... 115 3.2.2. Die Wiedervereinigungspolitik Kim Dae Jungs in den 80er Jahren ...... 123 3.2.3. Die Wiedervereinigungspolitik Kim Dae Jungs in den 90er Jahren ...... 132

4. Erfolg und Enttäuschung: Umsetzung und Folge der neuen Politik 4.1. Ostpolitik (1969-1972) 4.1.1. Internationale Rahmenbedingungen ...... 139 4.1.2. Die sozial-liberale Regierung und das Anzeichen für die neue Ostpolitik ...... 140 4.1.3. Der Moskauer Vertrag und der Warschauer Vertrag ...... 142 4.1.4. Das vier Mächte Abkommen über Berlin ...... 145 4.1.5. Die innerdeutschen Gipfeltreffen und der Grundlagenvertrag ...... 146

4.2. Sonnenscheinpolitik (1998-2003) 4.2.1. Sonnenscheinpolitik bis zum Gipfeltreffen ...... 150 4.2.2. Sonnenscheinpolitik und das innerkoreanische Gipfeltreffen ...... 157 4.2.2.1. Die Vorgeschichte des innerkoreanischen Gipfeltreffens ...... 157 4.2.2.2. Das innerkoreanische Gipfeltreffen ...... 158 4.2.2.3. Die Bewertung des innerkoreanischen Gipfeltreffens ...... 160 4.2.3. Sonnenscheinpolitik nach dem Gipfeltreffen ...... 164 4.2.3.1. Folge des innerkoreanischen Gipfeltreffens ...... 167 4.2.3.1.1. Wirtschaftlicher Bereich ...... 167 4.2.3.1.2. Sozialer Bereich ...... 169 4.3.2.1.3. Kultureller Bereich ...... 170 4.3.2.1.4. Militärischer Bereich ...... 171

5. Schlussfolgerung ...... 172

6. Literaturverzeichnis ...... 175

1. Einleitung 1.1. Vormerkung Die Koreanische Halbinsel, die am östlichen Ende des asiatischen Kontinents zwischen China und Japan liegt, wurde nach dem Ende des 2. Weltkrieges durch die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten in einen nördlichen und südlichen Teil geteilt. Durch den einsetzenden Kalten Krieg blieb es bei der Teilung des Landes in zwei ideologisch entgegengesetzte Lager. Nach der Staatsgründung der Republik Korea und der Demokratischen Volksrepublik Korea im Jahr 1948 erhob jede Regierung den Anspruch, allein legitim zu sein. Die ideologischen Konflikte zwischen beiden rivalisierenden Staaten spitzten sich weiter zu und führten schließlich am 25. Juni 1950 durch den Angriff des Nordens zum Koreakrieg. Dieser dauerte drei Jahre bis zum Waffenstillstandsabkommen von 1953, das noch heute in Kraft ist. Entlang der letzten Grenze des Kalten Krieges zwischen dem kommunistischen Nordkorea und dem demokratischen Südkorea stehen sich mehr als 1 Millionen schwerbewaffneten Soldaten der beiden Seiten feindlich gegenüber. Der Frieden zwischen den verfeindeten Nachbarn scheint in absehbarer Zeit nicht möglich zu sein. Die schmerzhafte Teilung führte vor allem zu andauernden seelischen Leiden für die Menschen, die durch den Krieg von ihren Familienangehörigen getrennt sind und keinerlei Kontakt zu ihnen auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs haben. Die Wiedervereinigung ist und bleibt das lang ersehnte, aber schwer zu erreichende Ziel der Koreaner.

Das Scheitern des Kommunismus in der Sowjetunion und in Osteuropa sowie die Wiedervereinigung Deutschlands haben in Korea neue Hoffnung geweckt. Zu Beginn der 90er Jahre wurden einige offensichtliche Fortschritte bei der Annährung zwischen dem Norden und dem Süden erreicht. Diese positiven Fortschritte wurden aufgrund des unerwarteten Todes des nordkoreanischen Machthabers Kim Il Seong und der sich aus diesem Ereignis entwickelnden nationalen und sicherheitspolitischen Probleme in Südkorea nicht fortgesetzt und der innerkoreanische Dialog wurde abgebrochen und die Zusammenarbeit gestoppt. Das innerkoreanische Verhältnis zwischen beiden Staaten war abgekühlt und wurde danach nicht wieder verbessert, bis in Folge der Sonnenscheinpolitik Kim Dae Jungs das innerkoreanische Gipfeltreffen stattgefunden hat.

Die so genannte Sonnenscheinpolitik, zu der Kim Dae Jung von der Ostpolitik Willy Brandts inspiriert wurde, ist die Nordkorea-Politik, die allmählich auf der koreanischen Halbinsel die Spannung beseitigen und eine friedliche Koexistenz mit Nordkorea schaffen will. Nach dem Antritt der Präsidentschaft im Februar 1998 setzte Kim Dae Jung die Sonnenscheinpolitik in die Tat um, die er seit 1971 kontinuierlich entwickelt und er selbst als eigene Initiative zur

1 Wiedervereinigung vorbereitet hat. Nach dem Amtsantritt vermittelte er dem Norden ständig die Botschaft der Versöhnung und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, auch wenn sich Nordkorea ablehnend verhalten hat, weil es befürchtete, durch diese Sonnenscheinpolitik hintergangen zu werden. Beharrlichkeit und ehrliche Bemühungen mit internationaler Unterstützung führten schließlich im Juni 2000 zum Gipfeltreffen zwischen Kim Dae Jung und Kim Jeong Il, das zwischen beiden staatlichen Machthabern zum ersten Mal nach der Trennung in zwei Staaten stattgefunden hat. Mit diesem innerkoreanischen Treffen haben die beiden koreanischen Staaten ein neues Kapitel in der Geschichte der Wiedervereinigung aufgeschlagen. Nach dem erfolgreichen Gipfeltreffen erfolgten Abkommen in verschiedenen Bereichen und eine militärische Zusammenarbeit mit Nordkorea, die in der Tat dazu beitragen, das gegenseitige Vertrauen wiederherzustellen und in Südkorea neue Hoffnung auf die Wiedervereinigung aufkeimen zu lassen.

Trotz der eindeutigen Fortschritte bei der atmosphärischen Entspannung zwischen Nord und Süd wurde die Sonnenscheinpolitik nicht nur von den parteipolitischen Gegnern, sondern auch von der konservativen Presse oft kritisiert. Diese haben nach wie vor die ideologische Perspektive des Kalten Krieges und orientieren sich dabei nur an den sichtbaren Ergebnissen. Daher fordern sie, mit der einseitigen Einbindungspolitik sofort aufzuhören und bei jeder Angelegenheit mit Nordkorea das Prinzip der Reziprozität rigoros durchzusetzen. Aber nach Meinung der Befürworter ist es noch zu früh, ein negatives Urteil über die Sonnenscheinpolitik zu fällen, weil sie eher Wert auf den Prozess als auf konkrete Ergebnisse legt. Ähnlich wie die Sonnenscheinpolitik wurde die Ostpolitik Brandts von der Opposition heftig kritisiert. So wurde zum ersten Mal in der deutschen Geschichte versucht, den Kanzler durch das konstruktive Misstrauensvotum zu stürzen.

Während der Amtszeit Kims ist es zwar weder gelungen, die geteilte Halbinsel wiederzuvereinigen noch die Spannungen auf der koreanischen Halbinsel ganz und gar abzubauen. Aber Kim gelang es mit der Sonnenscheinpolitik, die ideologisch feindlichen Vorstellungen über Nordkorea, die wegen den Folgen des Koreakrieges bei den Südkoreanern extrem negativ geprägt sind und die bisher bei jedem Annäherungsversuch zu Nordkorea die Bildung einer positiven öffentlichen Meinung verhindert haben, zu wandeln. Er machte so den ersten richtigen Schritt zur friedlichen Wiedervereinigung in der Geschichte der staatlichen Wiedervereinigungspolitik.

Genauso wie Kim seine Sonnenscheinpolitik führte Brandt die Ostpolitik bereits in den 60er Jahren mit den Schlagworten „Wandel durch Annährung“ unbeirrt durch. Dies führte zur

2 Koexistenz und der Entspannung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Durch die ständigen Bemühungen und die Kooperation wurde nicht nur das Misstrauen der DDR-Führung in Ost-Berlin gegen West-Deutschland aufgelöst, sondern es wurde auch die ideologische Feindschaft zwischen den beiden Bevölkerungen gemildert. Diese Politik wurde trotz des Regierungswechsels 1982 weiter fortgesetzt und spielte bei der deutschen Wiedervereinigung eine große Rolle.

1.2. Forschungsstand Trotz der Ähnlichkeit der beiden Politiken wurde ihnen von der historischen Forschung überraschend wenig Interesse entgegengebracht. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die historische Darstellung von Entwicklungen im zeitgeschichtlichen Bereich eine schwierige Unternehmung ist. Es ist offensichtlich problematisch, aus kurzer zeitlicher Distanz einen historisch-politischen Vorgang zu betrachten, da die darzustellenden Ereignisse in ihrer Fortwirkung noch im Fluss sind und folglich eine Entscheidung über Stellenwert und Rang der Details überaus schwierig ist. Außerdem müssen Forscher zuerst die beiden Sprachen, Deutsch und Koreanisch, die man nicht schnell erlernen kann, beherrschen, um die betreffenden Quellen und Literaturen zu bewältigen.

Zu nennen ist als einzige Studie in Südkorea nur die im Jahr 2000 von Hoang Byeng Dek, Kim Hak Seng, Park Hyeong Jung und Son Ki Ung gefertigte Arbeit1 über die Ostpolitik und die Sonnenscheinpolitik. Diese gemeinsame Arbeit von der koreanischen Politikwissenschaftler ist zwar sehr umfangreich und hilfreich für jeden, der sich mit dem politischen Zusammenhang zwischen der Sonnenscheinpolitik und Ostpolitik beschäftigt, aber die Darstellung der historischen Ereignisse ist äußerlich schwach und lückenhaft, da die Verfasser dieses Buches im Grunde die Politik nicht unter der historischen Perspektive betrachtet haben. Eigentlich ist bei der Forschung zu berücksichtigen, dass die beiden Politiken eine eigene Geschichte haben. Eine weitere Schwäche ist die Tatsache, dass das Buch in der Mitte der Regierungszeit Kims herausgegeben wurde. Daher wurden in der Studie wichtige Ereignisse, die die Beziehung zwischen Nord- und Südkorea nach 2000 betreffen, z. B. das innerkoreanische Gipfeltreffen und die darauf folgende Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen, nicht beurteilt. Bedauerlicherweise findet in dieser Forschung die

1 Hoang Byeng Dek, Kim Hak Seng, Park Hyeong Jung und Son Ki Ung, Die Neue Ostpolitik und die Sonnenscheinpolitik: Konzeption der nationalen Wiedervereinigung Brandts und Kim Dae Jungs, 2000. 3 historische Bedeutung des innerkoreanischen Treffens, eine deutlich sichtbare Zäsur in der Geschichte der Wiedervereinigung auf der koreanischen Halbinsel markiert, keinen Niederschlag.

1.3. Quellenlage 1.3.1. Die Sonnenscheinpolitik Quellen zur Sonnenscheinpolitik sind relativ schwer zu gewinnen, weil die Regierungsakten noch nicht zugänglich sind. Vor allem bleiben die vom Präsidialamt produzierten Akten und Sitzungsprotokolle der Regierung geheim und sind nach wie vor gesperrt. Daher ist eine der wertvollsten Quellen zur Erforschung der Sonnenscheinpolitik die aus fünf Bänden bestehende Redesammlung des Präsidenten Kim Dae Jung, die fast alle wichtigen Reden über die Sonnenscheinpolitik im Lauf seiner Amtszeit enthält. Für die Darstellung der Grundsätze der Sonnenscheinpolitik ist die Sammlung gut geeignet. Weitere Quellen sind die zahlreichen Bulletins und Weißbücher des Ministeriums für Wiedervereinigung, die offizielle Information über bestimmte Ereignisse zwischen Süd- und Nordkorea umfassen. Im Gegensatz zu Regierungsakten stehen sie für die Benutzung relativ leicht zur Verfügung. Für den Überblick über die außenpolitische Lage und die militärische Sicherheitspolitik der Regierung Kims sind die jährlich publizierten Weißbücher und regelmäßigen Lageberichte von Außen- und Verteidigungsministerium und das im Jahr 2003 vom Presse- und Informationsamt der Regierung veröffentlichte Informationsbuch der fünfjährigen „Regierung des Volks“ sehr hilfsreich. Neben den Regierungsmaterialien spielen die zahlreichen koreanischen Zeitungen zwar eine wichtige Rolle, um herauszufinden, was tatsächlich im Zusammenhang mit der Sonnenscheinpolitik in Süd- und Nordkorea geschah und wie die Ereignisse zwischen Süd- und Nordkorea in den öffentlichen Meinungen empfunden wurden. Aber bei der Nutzung dieser Quelle muss man vorsichtig sein, weil die Zeitungen nur die zur politischen Gesinnung ihrer Leser passenden Meinungen publizieren. Daher ist es sinnvoll, diese Quelle durch ausländische Zeitungen zu ergänzen.

Quellen zur Vorgeschichte der Sonnenscheinpolitik und Dokumente über die langjährigen politischen und schriftlichen Tätigkeiten für die koreanische Wiedervereinigung vor dem Amtseintritt Kim Dae Jungs sind in der Bibliothek Kim Dae Jung in Seoul gut und zahlreich zu erwerben. Diese wurde die im Jahr 2003 als erste Personalbibliothek eines Ex-Präsidenten in Korea errichtet. In dieser Bibliothek befinden sich vor allem viele Ton- und Videobänder,

4 auf denen wichtige Reden und Vorträge über Kims Nordkoreapolitik vor 1998 sowie die sorgfältige Analyse der internationalen Lage und Studien der deutschen Wiedervereinigung aufgenommen wurden. Für die Rekonstruktion der von 1971 bis 1998 graduell entwickelten Sonnenscheinpolitik sind diese audiovisuellen Materialien von Bedeutung.

Informationen und Auskünfte über Nordkorea sind zwar beschränkt, aber quantitativ befriedigend vorhanden. Vor allem sind sie im dem Wiedervereinigungsministerium untergeordneten Dokumentationszentrum für Nordkorea in Seoul meistens frei zugänglich, bei dem die Forschung über Nordkorea und die Sicherheitslage der koreanischen Halbinsel im Mittelpunkt steht. Der Zugang zu einigen Materialien im Zentrum ist jedoch nur zum Zwecke der wissenschaftlichen Forschung erlaubt.

Schließlich sind die Aussagen der lebenden Entscheidungsträger, z. B. des ehemaligen Präsidenten und Erfinders der Sonnenscheinpolitik, Kim Dae Jung, und des Staatssekretärs und späteren Minister des Wiedervereinigungsministeriums, Lim Dong Won, der in Südkorea als „Missionar der Sonnenscheinpolitik“ angesehen wurde, nicht irrelevant, um die Materialien zu vervollständigen.

1.3.2. Die Ostpolitik Im Unterschied zur Sonnenscheinpolitik stehen Quellen zur Ostpolitik sowohl quantitativ als auch qualitativ hervorragend zur Verfügung. Hier sind nur folgende wichtige Quellen genannt: Ein Standardwerk sind die Dokumente zur Deutschlandpolitik, die seit 1961 vom gesamtdeutschen, später innerdeutschen, Ministerium herausgegeben wurden. Von der Souveränität der Bundesrepublik bis Ende 1970 bilden die 36 dicken Bände eine solide, breite Grundlage. Für diejenigen, die sich Bonns Verhältnis zu Moskau, Warschau, Prag und Ostberlin widmen, sind diese Quellen geeignet. Außerdem wurden Memoiren, Zeitungskommentare, Aufzeichnungen, Protokolle sowie Vermerke über Gespräche und Kontakte des Bundeskanzlers und leitender Beamter mit führenden Vertretern insbesondere der Vier Mächte, Polens und der DDR aufbewahrt. Bewerkenswerterweise enthält der letzte Band, der sich über die Anfangsphase der Regierung Brandt von ihrer Amtsübernahme bis zum Ende des Jahres 1970 erstreckt, Planungspapiere, Entwürfe und Vorlagen an die Leitungsebene des Bundeskanzleramtes, die Einblicke in den internen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess geben können.

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1.4. Ziel und Fragestellung Diese Einbindungspolitik Brandts und Kims präsentieren eine neue Vision für die Wiedervereinigung, die sich von der vorherigen Politik wesentlich unterscheidet. Aber sie haben auch ein ähnliches Ziel, nämlich das geteilte Land nicht unmittelbar wiederzuvereinigen, sondern durch die Anerkennung des Status quo und das Schaffen einer friedlichen Koexistenz günstigere Umstände für eine künftige Wiedervereinigung zu bilden. Insofern besteht trotz des Unterschiedes des historischen Zeitraumes und der nationalen und weltpolitischen Rahmenbedingungen eine Ähnlichkeit zwischen der Politik der beiden Staaten. Aus diesem Grund betracht man in Südkorea die Ostpolitik als historisches Modell für die Sonnenscheinpolitik.

Es ist somit das Ziel der vorliegenden Dissertationsarbeit, die Sonnenscheinpolitik Kim Dae Jungs mit der Ostpolitik Willy Brandts zu vergleichen festzustellen, ob die Sonnenscheinpolitik eine historische Lehre aus der Ostpolitik ziehen kann. Zudem soll geprüft werden, ob aus der Sonnenscheinpolitik nach erst fünfjähriger Anwendung einige für die künftige Nordkoreapolitik Südkoreas relevante Schlüsse in historischer Hinsicht ziehen lassen.

Um der Antwort näher zu kommen, ist es zunächst erforderlich, Konzeptionen der Politik grundsätzlich darzustellen und sich dabei die stufenweise Entwicklung vor dem Hintergrund der nationalen und internationalen Rahmenbedingungen zu vergegenwärtigen. Im Grunde genommen geht es im Dissertationsprojekt darum, aus dem Vergleich der beiden historischen Tatsachen konkrete Resümees zu ziehen, die einen positiven Beitrag zur künftigen Sonnenscheinpolitik leisten können.

6 2. Kontinuität und Erneuerung: Ein Wendepunkt in der Wiedervereinigungspolitik 2.1. Ostpolitik 2.1.1. Deutschland- und Ostpolitik vor der neuen Ostpolitik 2.1.1.1. Deutschland- und Ostpolitik der BRD 2.1.1.1.1. Die Regierung Adenauer (1949-1963) Als Adenauer vom zum ersten Bundeskanzler gewählt wurde, waren die Grundzüge der deutschen Außenpolitik mehr oder weniger klar. In seiner Regierungserklärung am 20. September 1949 befürwortete er die enge Bindung Deutschlands an die westlichen Demokratien: „Es besteht für uns kein Zweifel, dass wir nach unserer Herkunft und nach unserer Gesinnung zur westeuropäischen Welt gehören. Wir wollen zu allen Ländern gute Beziehungen, auch solche persönlicher Art, unterhalten, insbesondere aber zu unseren Nachbarländern, den Benelux-Staaten, Frankreich, Italien, England und den nordischen Staaten.“2 Allerdings beabsichtigte er aufgrund des von den Westmächten erzwungenen Verzichtes auf eine eigenständige Außenpolitik, die Sicherheit der Bundesrepublik zu garantieren. Demontage stoppen, die Saarfrage offen halten und der Bundesrepublik den Beitritt zum Europarat ermöglichen, waren seine wichtigsten Ziele. Im Grunde wollte der Kanzler die Bundesrepublik an den Westen anbinden, denn er glaubte, dass die Bundesrepublik auf diesem Weg zu einem souveränen Staat werden und nur diese westorientierte Politik die Sicherheit der Westdeutschen gewährleisten konnte.

Ausgangpunkt seiner deutschen Wiedervereinigungspolitik, die in einem engen Zusammenhang zur Politik der Westintegration stand, war die massive Bedrohung durch die Sowjetunion. Der Bundesminister für die gesamtdeutsche Frage, Jakob Kaiser, äußerte sich im Interview am 6. Dezember 1949 mit dem Journalisten Berdolt für die „Stuttgarter Zeitung“ zur Wiedervereinigungspolitik der Regierung, die die Wiedervereinigung durch freie und geheime Wahlen in der Sowjetzone beinhaltete: „Frage: Sehen Sie, Herr Bundesminister, einen gangbaren Weg, wenn auch nur einen theoretischen, der zur Wiedervereinigung West- und Ostdeutschlands führen könnte? Antwort: Der beste und sicherste Weg zur deutschen Wiedervereinigung wäre eine Verständigung unter den vier Alliierten, die für die Bevölkerung der Sowjetzone zumindest die gleichen Lebensbedingungen schaffen müssten wie in den westlichen Besatzungszonen. Dazu gehören vor allen Dingen zuerst einmal freie und geheime Wahlen mit gleichen Chancen der Wahlvorbereitungen für alle Parteien in der

2 Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik II. Reihe/Bd. 2, München 1996, S. 38. 7 Sowjetzone.“3 Aber Adenauer war fest davon überzeugt, dass die Sowjetunion nicht nur machtpolitisch, sondern auch ideologisch eine große Bedrohung für Deutschland darstellt, die durch den Ausbruch des Koreakrieges und nach den Erfahrungen mit der Berliner Blockade als durchaus realistisch empfunden wurde. Als Waffe im Kampf gegen die sowjetische Bedrohung diente die militärische Stärke des Westens unter der Führung der USA und dementsprechend die Eingliederung der Bundesrepublik in das westliche Bündnis. Mit Unterstützung des Westens und aufgrund seiner politischen und militärischen Stärke sollte die Sowjetunion dazu bewogen werden, eine Wiedervereinigung Deutschlands anzunehmen: „Mit den Verträgen gewinnen wir drei Großmächte für dieses Ziel. Sie erklären sich mit uns solidarisch in Verfolgung der Politik der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands. Gemeinsam werden wir eines Tages auch die vierte Großmächte davon überzeugen können, dass die deutsche Einheit ein unabdingbares, naturgegebenes Recht der Deutschen ist, das die anderen Mächte uns schulden.“4

Die Auseinandersetzung über den Westintegrationskurs unter der Perspektive der deutschen Wiedervereinigung war eine der wichtigsten Themen, die im Laufe der Regierung Adenauers in der Öffentlichkeit intensiv diskutiert wurden. Die Verpflichtung zur Lösung der deutschen Frage war sowohl in der Verfassung festgesetzt, als auch für alle politischen Parteien mit Ausnahme der Kommunisten ein felsenfestes Ziel ihrer Politik. Die Westdeutschen waren zwar nicht in der Lage, aus eigener Kraft die deutsche Frage zu lösen, aber alle politischen Gruppen hielten die Verpflichtung auf die Wiedervereinigung für so stark, dass jede außenpolitische Maßnahme danach beurteilt wurde, ob sie der Wiedervereinigung nutze oder schade. Aus diesem Grund wurden die Kontroversen über die Außenpolitik der Bundesrepublik fast ausschließlich in Hinsicht auf ihre Auswirkung auf die Wiedervereinigung geführt. In der deutschen Außenpolitik der Ära Adenauers hatte das Ziel der Wiedervereinigung absolute Priorität. Auch für Adenauer ergab sich diese Priorität der Wiedervereinigung. Seine Politik der Westintegration hat er immer wieder damit verteidigt, dass sie der sicherste und für die Bundesrepublik gefahrloseste Weg zur Wiedervereinigung sei. Seine Behauptung wurde sogar Anfang der 60er Jahr von der SPD bestätigt: Die Westbindung müsse die Grundlage der Wiedervereinigung sein.5 In den innenpolitischen Auseinandersetzungen über die West- und Deutschlandpolitik zeigte sich, dass die Frage der Wiedervereinigung in der Adenauer-Zeit ein neuralgischer Punkt der deutschen Politik war,

3 Ebd., S. 306. 4 Bulletin der Bundesregierung vom 9. Juli 1952, S. 863f. In: Kurt Sontheimer, Die Adenauer-Ära, München 1991. 5 Hans Fenske, Deutsche Geschichte, Darmstadt 2002, S. 203. 8 mit dem man sich dauernd beschäftigen musste, obwohl mit der Zeit erkennbar wurde, dass die Teilung Deutschlands zu einem Status quo der Politik geworden war.

Neben der „Politik der Stärke“ wurde der Alleinvertretungsanspruch als außenpolitisches Mittel der Wiedervereinigungspolitik der Regierung Adenauers verwendet. Bereits am 15. September 1949 stellte Adenauer im Interview mit der Agence France-Presse klar, dass eine Anerkennung des in der Sowjetzone errichteten kommunistischen Regimes nicht in Frage komme: „Frage: Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um die deutsche Einheit wiederherzustellen? Antwort: In der nächsten Zukunft können wir nichts Bestimmtes tun, da das Problem der deutschen Einheit in vieler Hinsicht von den Beziehungen zwischen den westlichen Alliierten und der Sowjetunion abhängig ist. Wir müssen indessen alles tun, damit die 20 Millionen Deutschen in der Ostzone nicht den Eindruck erhalten, verlassen und vergessen zu sein. Die Bundesrepublik muss ein Anziehungspol für Ostdeutschland werden und die psychologischen Beziehungen mit dem Osten wahren und stärken. Unsere Politik darf indessen nicht zu dem Glauben verleiten, dass wir das in der Sowjetzone errichtete kommunistische Regime anerkennen.“6

Zudem erklärte der Bundeskanzler am 21. Oktober 1949 zur Gründung der DDR vor dem Bundestag, dass die Bundesrepublik keinesfalls die DDR als zweiten deutschen Staat völkerrechtlich anerkennen kann: „Ich stelle folgendes fest: In der Sowjetzone gibt es keinen freien Willen der deutschen Bevölkerung. Das, was jetzt dort geschieht, wird nicht von der Bevölkerung getragen und damit legitimiert. Die Bundesrepublik Deutschland stützt sich dagegen auf die Anerkennung durch den frei bekundeten Willen von rund 23 Millionen stimmberechtigten Deutschen. Die Bundesrepublik Deutschland ist somit bis zur Erreichung der deutschen Einheit insgesamt die alleinige legitimierte staatliche Organisation des deutschen Volkes.“7

Dies war auch die Auffassung der Westmächte. Sie fand ihren Niederschlag im Kommunique der New Yorker Außenministerkonferenz vom 18. September 19508 und wurde später in das Pariser Vertragswerk vom Oktober 1954 übernommen. Aus den Dokumenten ergibt sich, dass die Bundesregierung sowie die Westmächte die Nichtanerkennung der DDR vornehmlich in

6 Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik II. Reihe/Bd. 2, München 1996, S. 29. 7 Ebd., S. 214. 8 Die Formel lautete: „Da die Vereinigung Deutschlands noch in der Schwebe ist, betrachten die drei Regierungen die Regierung der Bundesrepublik Deutschland als die einzige deutsche Regierung, die frei und legitim konstatiert wurde und daher berechtigt ist, für Deutschland als Vertreterin des deutschen Volkes in internationalen Angelegenheiten zu sprechen.“ In: Archiv der Gegenwart (Hrsg.), Dokumentation zur Deutschlandfrage Bd. 1, Bonn/Wien/Zürich 1961, S.102. 9 deren Unfreiheit und Mangel an Demokratie begründeten, und dass der Kern der Begründung des Alleinvertretungsanspruchs in der demokratischen Legitimität der BRD lag.9 Es war daher kein Wunder, dass die Bundesrepublik „die sogenannte DDR“ weiterhin als „Ostzone“, „sowjetische Besatzungszone“ oder „Sowjetzone“ bezeichnete.

Nach der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion im Jahr 1955 wurde diesem Alleinvertretungsanspruch die „Hallstein-Doktrin“ hinzugefügt. Sie diente als außenpolitisches Instrument des Alleinvertretungsanspruchs der westdeutschen Bundesregierung. Die Bundesregierung erkannte sehr wohl, dass die Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion bei neutralen Staaten ein starkes Interesse hervorrief, die DDR als zweiten deutschen Staat anzuerkennen. Daher legte sie eine förmliche Verwahrung in Hinsicht auf ihren Rechtsstand ein, indem sie der Sowjetunion eine einseitige Vorbehaltserklärung übermittelte: „Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Regierung der Sowjetunion bedeutet keine Änderung des Rechtsstandpunktes der Bundesregierung der Bundesrepublik in Bezug auf ihre Befugnis zur Vertretung des deutschen Volkes in internationalen Angelegenheiten.“10Die Vorbehalterklärung allein konnte den Alleinvertretungsanspruch der Bundesregierung auf Dauer nicht konstruktiv genug repräsentieren, weil die Bundesrepublik durch die Normalisierung mit der Sowjetunion ihren eigenen Alleinvertretungsanspruch verletzte. Deshalb musste die Bundesrepublik vor aller Welt ausdrücklich klarstellen, dass die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen mit der UdSSR keineswegs den Verzicht auf den Alleinvertretungsanspruch bedeutete. Dies realisierte Adenauer am 22. September 1955 in der Regierungserklärung zu seiner Moskaureise vor dem Bundestag: „Ich muss unzweideutig feststellen, dass die Bundesregierung auch künftig die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der DDR durch dritte Staaten, mit denen sie offizielle Beziehungen unterhält, als einen unfreundlichen Akt ansehen würde, da er geeignet wäre, die Spaltung Deutschlands zu vertiefen.“11

Während des Fortgangs der deutschen Westintegration machte die Sowjetunion das Angebot, einer Wiedervereinigung unter der Bedingung zuzustimmen, dass Deutschland ein politisch völlig neutrales demokratisches Land werde. Ohne Zweifel wurde das Angebot gemacht, um den westlichen Verhandlungsprozess zu stören. Allerdings war in der Öffentlichkeit umstritten, ob die Sowjetunion ein ernsthaftes Angebot unterbreiten wollte. Inzwischen

9 Yang Ying-Feng, Der Alleinvertretungsanspruch der geteilten Länder, Frankfurt a. M. 1997, S. 27. 10 Bundesministerium für gesamtdeutsche Frage (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik III. Reihe/Bd. 1, Frankfurt a. M. 1961, S. 337. 11 Ebd. S. 389. 10 versucht eine umfangreiche Forschungsliteratur herauszuarbeiten, ob damals tatsächlich eine echte Chance zu einer Wiedervereinigung Deutschlands bestand. Die gewichtigeren Interpreten sind der Auffassung, dass es eine echte und annehmbare Wiedervereinigungschance auf der Basis der Stalin-Note nicht gegeben habe. Allerdings wurde das Angebot Stalins von den Westmächten und der Bundesrepublik tatsächlich auch nicht in ernsthaften Verhandlungen geprüft.

Das Wiedervereinigungsangebot Stalins unter der Bedingung eines neutralen Deutschlands war für die Regierung Adenauer keinesfalls erwägenswert. In einer Rede vor dem Evangelischen Arbeitskreis seiner Partei in Siegen erklärte Adenauer, dass die Wiedervereinigung Deutschlands nur im Zusammenhang mit einer totalen Neuordnung Ost- Europas erreicht werden könnte.12 Außerdem waren die Westmächte auch nicht bereit, den Aufnahmeprozess Westdeutschlands in das westliche Verteidigungsbündnis zu stoppen. Adenauer war der gleichen Auffassung wie die Westmächte, dass die Verhandlungen über die EVG unter keinen Umständen hinausgezögert werden dürften. Nach einem andauernden Notenwechsel zwischen der Sowjetunion und den Westmächten ging das Angebot Stalins schließlich unwirksam zu Ende.

Das Angebot Stalins vom 10. März 1952, das in der historischen und politischen Debatte nach wie vor kontrovers behandelt wird, ist für die Kritiker Adenauers das erste Beweisstück dafür, dass Adenauer an der Wiedervereinigung nicht interessiert war und durch seinen politischen Kurs die Chance verspielte, die sich für eine Politik der Wiedervereinigung zu bieten schien. Man hielt sein Desinteresse am sowjetischen Angebot für richtig. Man darf nicht übersehen dass die drei Westmächte in aller Regel einer Entwicklung auf keinen Fall zustimmen konnten, die ganz Deutschland in eine fragwürdige Neutralität entlassen hätte.

Die Wiedervereinigungspolitik Adenauers führte damals nicht zum Erfolg, weil die Stärkung der westlichen Verteidigungsbereitschaft und die deutsche Westintegration die Sowjetunion veranlassten, ihren Machtbereich noch mehr abzusichern und den durch und nach dem Zweiten Weltkrieg errungenen Besitzstand zu wahren. Daher war am Ende der Adenauer-Ära nicht mehr zu verschweigen, dass die Wiedervereinigung in weite Ferne gerückt war. Jedoch befriedigte seine Westintegrationspolitik das fundamentale Sicherheitsbedürfnis der Bundesdeutschen in den 50er Jahren. Dies wurde mit dem Wahlerfolg für Adenauer im Jahr 1953, 1957 und 1961 bestätigt. Zudem bestand für die Bundesrepublik in den Jahren der

12 Dietrich Thränhardt, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1996, S. 91. 11 Besatzungszeit der einzig mögliche Weg im Westkurs. Ohne ihn wäre ein eigener deutscher Kurs gar nicht möglich gewesen.13

Eine Chance für die Wiedervereinigung erhoffte sich Adenauer von einer krisenhaften Entwicklung im sowjetischen Herrschaftsbereich. Er war bereits über die großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Sowjetunion informiert. Daher glaubte er, dass die Sowjetunion ihre massive Rüstungspolitik nicht unbegrenzt fortsetzen könnte: „Sowjetrussland könne auf die Dauer seine ganze Menschen- und Finanzkraft nicht ausschließlich für die Rüstung einsetzen, da die übrigen Aufgaben in Sowjetrussland immer dringlicher würden. (...) wenn es sehe, dass der Weg über die Bedrohung und den Kalten Krieg nicht zum Ziel führe und die Investition von Menschen- und Kapitalkraft ausschließlich für Rüstung nicht mehr möglich sei.“14 Adenauer ging offensichtlich davon aus, dass die Sowjetunion die gewaltige Überforderung und gigantische Überlastung nicht lange tragen kann, vor allem da die osteuropäischen Staaten nicht nur eine Stütze waren, sondern in ihrer mangelnden inneren Stabilität auch zu einer Belastung für die sowjetische Hegemonialmacht werden mussten. Die politische Entwicklung erfüllte Adenauers Erwartungen zu seinen Lebzeiten zwar nicht, doch sind seine Überlegungen durchaus diskutabel, weil genau die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Sowjetunion, wenn auch dreißig Jahre später, zur Beendigung der sowjetischen Vormacht in den Ostblockstaaten und zur Befreiung der osteuropäischen Staaten von der sowjetischen Herrschaft geführt haben.15

2.1.1.1.2. Die Regierung Erhard (1963-1966)

Nach dem Rücktritt des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer wählte der 4. Bundestag am 16. Oktober 1963 den bisherigen Bundesminister für Wirtschaft und Stellvertreter des Bundeskanzlers, , zum neuen Bundeskanzler. Einen Tag darauf stellte Bundeskanzler Erhard dem Bundestag sein Kabinett vor, dessen Mitglieder anschließend vereidigt wurden. Er setzte die von der CDU/CSU und der FDP im Herbst 1961 gebildete Koalition fort, nahm jedoch personelle Veränderungen vor. Damit begann die neue Regierung Erhard, die bis Ende 1966 dauerte.

13 Anselm Doering-Manteuffel, Konrad Adenauer – Jakob Kaiser – Gustav Heinemann: Deutschalandpolitische Positionen in der CDU. In: Jürgen Weber (Hrsg.), Die Republik der fünfziger Jahre, München 1989, S. 18. 14 Klaus A. Maier, Bruno Thoss (Hrsg.), Westintegration, Sicherheit und Deutsche Frage: Quellen zur Außenpolitik in der Ära Adenauer 1949-1963, Darmstadt 1994, S. 107. 15 Kurt Sontheimer, Die Adenauer-Ära, München 1991, S. 163f. 12 Der Regierungswechsel von Adenauer zu Erhard ereignete sich vor dem Hintergrund weltpolitischer Veränderungen, die weitreichende Folgen für die deutsche Situation haben sollten. Mit der Kuba-Krise hatte der Kalte Krieg im Oktober 1962 einen gefährlichen Höhepunkt, aber auch seinen Wendepunkt erreicht. Der Sowjetunion war es nicht gelungen, einen weltpolitischen Durchbruch ohne Krieg, aber auf der Grundlage militärischer Stärke zu erzielen. Gleichzeitig erkannte die amerikanische Regierung, dass ihre Politik der Zurückdrängung der Sowjetunion aus dem Machtbereich Europa gescheitert war. Die Regierung Kennedy proklamierte als neues Ziel ihrer Außenpolitik Entspannung und Friedenssicherung.

Für die Bundesrepublik brachte der Übergang von der Konfrontations- zur Entspannungspolitik große innen- und außenpolitische Schwierigkeiten mit sich, weil die bisherige Auffassung in der deutschen Wiedervereinigungsfrage, nämlich dass Entspannung in Europa nur durch Schritte zur Wiedervereinigung Deutschlands erreichbar sei, nun gerade umgekehrt wurde: Entspannung in Europa wurde zur Voraussetzung für eine Verbesserung der Situation in Deutschland. Aus diesem Grund war es kein Wunder, dass die Anpassung an die neue amerikanische Politik in der Bundesrepublik wesentlich langsamer und zögernder als bei den anderen NATO-Mitgliedern erfolgte. Sie setzte mit der Deutschland- und Ostpolitik Gerhard Schröders ein, dem der neue Bundeskanzler die Außenpolitik anvertraute. Als am 16. Oktober 1963 Ludwig Erhard Bundeskanzler wurde, blieb Schröder Außenminister. Er war lange Jahre hindurch Adenauers Innenminister gewesen und löste im Herbst 1961 den als extrem antisowjetisch geltenden Außenminister Heinrich von Brentano ab.

Die Grundprinzipien der Deutschlandpolitik Erhards sind sowohl an der Regierungserklärung vom 18. Oktober 1963, als auch an der „Politik der Bewegung“ von Außenminister Schröder abzulesen. In der ersten Erklärung begrüßte der neue Bundeskanzler den Abschluss des Vertrages über die Einstellung von Kernwaffenversuchen zwischen den USA, der Sowjetunion und Großbritannien vom August 1963. Er wandte sich jedoch entschieden gegen die Unterordnung der deutschen Frage unter die weltpolitischen Bemühungen um Entspannung: „Die Bundesregierung ist dennoch der Auffassung, dass Kontakte und Gespräche zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion nützlich sein können und dass sie mit dem Ziel fortgesetzt werden sollten, zu prüfen, ob es Möglichkeiten eines Abbaues der Spannungen gibt. (...) Denn darüber darf kein Zweifel sein: Die Deutschland- Frage ist eine der Hauptursachen für die Spannungen in der Welt, und man kann nicht hoffen, diese Spannungen zu beseitigen, wenn die Deutschland-Frage ungelöst bleibt. (...) Dies bleibt ein allgemeiner Grundsatz unserer Politik, denn die Herrschaft, die in jenem Teil

13 Deutschlands errichtet wurde, ist nichts anderes als eine Fremdherrschaft und ein Gewaltsystem, das gegen den Willen der überwältigenden Mehrheit des unterdrückten Teiles unseres Volkes die freie Verbindung zwischen ihm und uns zerschneidet.“16

Die Regierungserklärung Erhards war für diejenigen, die sich von der neuen Regierung neue Akzente, vor allem in der Deutschlandpolitik, erhofften, eine Enttäuschung, weil die Bundesregierung offiziell nach wie vor die Alleinvertretung für Gesamtdeutschland beanspruchte. Jedoch wurden die Regeln ihres außenpolitischen Verhaltens etwas undogmatischer. In der Erklärung ist eindeutig zu bemerken, dass die deutsche Regierung die Verbesserung des Verhältnisses zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den osteuropäischen Staaten und die Erweiterung des Wirtschaftsaustauschs mit diesen Ländern im Rahmen ihrer Möglichkeiten als Ziele wollte: „Die Bundesregierung wird der weiteren Verbesserung des Verhältnisses zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den osteuropäischen Staaten ihre volle Aufmerksamkeit widmen. Sie ist bereit, mit jedem dieser Staaten Schritt für Schritt zu prüfen, wie man auf beiden Seiten Vorurteile abbauen und den vorhandenen Sorgen und Befürchtungen den Boden entziehen kann. Im Zuge eines solchen Prozesses ist die Bundesregierung auch bereit, im Rahmen ihrer Möglichkeiten den Wirtschaftsaustausch mit diesen Ländern zu erweitern.“17

In diesem Zusammenhang äußerte Außenminister Schröder in einem Rundfunkinterview am 4. November 1963, dass die Hallstein-Doktrin nach wie vor der Kompass bleibe, an dem sich die außen- und deutschlandpolitische Entscheidungen der Bundesregierung zu orientieren hatten: „Unser Ziel muss sein, wirklich und nicht nur theoretisch der alleinige Sprecher für Deutschland in der Welt zu sein. (...) Also muss unsere Politik natürlicherweise darauf gerichtet sein, zu verhindern, dass Pankow mehr und mehr etwa als eine internationale Figur in Erscheinung treten könnte.“18 Im Unterschied zur Außenpolitik Adenauers versuchte Schröder aber zu erreichen, Beziehungen zu den einzelnen osteuropäischen Ländern aufzubauen. Er ging davon aus, dass die DDR von den osteuropäischen Staaten isoliert werde, wenn sich die osteuropäische Unterstützung der DDR aufgrund des großen Interesses an den Beziehungen zur Bundesrepublik abschwächte. Zu diesem Zweck sollte die Bundesregierung jede Möglichkeit ergreifen, um ohne Preisgabe lebenswichtiger deutscher Interessen zu einer

16 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik IV. Reihe/Bd. 9, Frankfurt a. M. 1978, S. 793f. 17 Ebd., S. 796. 18 Ebd., S. 841. 14 Normalisierung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den osteuropäischen Staaten zu gelangen.19

Diese Politik wurde dadurch realisiert, dass die Bundesregierung mit Polen am 7. März 1963, mit Rumänien am 17. Oktober 1963, mit Ungarn am 9. November 1963 und mit Bulgarien am 7. März 1964 Verhandlungen über Handelsabkommen aufnahm, die auch die Errichtung bundesdeutscher Handelsmissionen vorsahen. Sie erledigten neben ihren ursprünglichen Aufgaben informell auch manche Arbeit, die offiziell Sache diplomatischer Missionen war. Da diese nicht den Status einer diplomatischen Vertretung haben würden, war die Hallstein- Doktrin nicht durchbrochen. Anders formuliert, die Ostpolitik Schröders, die oft „Politik der Bewegung“ genannt wurde, bestand zwar auf der Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Grenze und der DDR, versuchte jedoch, durch Handelsabkommen mit den osteuropäischen Staaten die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Bundesrepublik und diesen Ländern zu intensivieren und die Grundlage für bessere Beziehungen auch in anderen Bereichen zu legen, um zur Isolierung der DDR im östlichen Bündnis beizutragen.

Doch die beabsichtigten Rückwirkungen auf die Deutschlandfrage blieben aus, weil inzwischen die sowjetische und die DDR-Regierung die Stoßrichtung dieser Politik durchschauten und Gegenmaßnahmen ergriffen. Am 23. Januar 1964 teilte die sowjetische Regierung der Bundesregierung mit, dass sie das am 31. Dezember 1963 ausgelaufene Handelsabkommen nicht verlängern würde. Der am 12. Juni 1964 zwischen der Sowjetunion und der DDR unterzeichnete Vertrag über Freundschaft, gegenseitigen Beistand und Zusammenarbeit sollte signalisieren, dass die Sowjetunion eine Isolierung der DDR im östlichen Bündnis nicht zulassen würde. Außerdem stellten die beiden Unterzeichner noch einmal klar, dass sie West-Berlin als eine selbständige politische Einheit betrachten. Die Sowjetunion verhinderte schließlich, dass die osteuropäischen Staaten ihre Beziehungen zu Bonn auf Kosten Ost- ausbauten. Wie die erfolglosen Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik und der Tschechoslowakei über ein Handelsabkommen zeigten, übte zudem Ulbricht starken Druck auf seine Partner aus, der Bundesrepublik nicht entgegenzukommen. Mit der Unterstützung Moskau formulierte er 1967 die sogenannte Ulbricht-Doktrin, der zufolge ein sozialistischer Staat diplomatische Beziehungen zur Bundesrepublik erst dann aufnehmen sollte, wenn Bonn die bestehenden Grenzen in Europa, die Existenz einer selbständigen politischen Einheit West-Berlin und die DDR völkerrechtlich anerkannt hatte.

19 Hans Buchheim, Deutschlandpolitik 1949-1972, Stuttgart 1984, S. 114. 15 Trotz des Festhaltens an der Hallstein-Doktrin und der Durchsetzung der Berlin-Klausel musste sich Außenminister Schröder gegen Kritik aus der eigenen Partei verteidigen. Einige Vertreter der CDU/CSU, die zu den „Gaullisten“ gehörten, beurteilten die Außenpolitik Schröders negativ. Sie meinten, dass der Außenminister mit der Errichtung der Handelsmissionen in den osteuropäischen Hauptstädten schon zu weit gegangen sei. Schröders Amtsvorgänger von Brentano sah in den Handelsabkommen etwa eine schleichende Durchlöcherung der Hallstein-Doktrin. Diese außenpolitischen Auseinandersetzungen zwischen dem alten und dem neuen Außenminister, Heinrich von Brentano und Gerhard Schröder, waren beim Regierungswechsel mehr oder weniger vorprogrammiert. „Atlantiker“, zu denen der Bundeskanzler und der Außenminister gehörten, waren bereit, sich der amerikanischen Entspannungspolitik anzuschließen und auf die Politik der Stärke gegenüber Moskau zu verzichten, während „Gaullisten“ sich mehr an Frankreich orientieren und die Politik der Stärke beibehalten wollten.

Am 25. März 1966 ergriff die Bundesregierung eine Initiative, die auch die Zustimmung der SPD-Opposition fand.20 Sie richtete vor allem an die Adresse der Sowjetunion, aber auch an die anderen osteuropäischen Staaten eine Friedensnote.21 Der Schwerpunkt der Friedensnote waren Rüstungskontrolle, die Grenzfrage und Gewaltverzicht. Im Zentrum dieses Dokuments stand der Vorschlag des Austausches von Gewaltverzichtserklärungen mit der Sowjetunion und den osteuropäischen Staaten: „(...) schlägt die Bundesregierung vor, auch mit den Regierungen der Sowjetunion, Polens, der Tschechoslowakei und jedes anderen osteuropäischen Staates, der dies wünscht, förmliche Erklärungen auszutauschen, in denen jede Seite gegenüber dem anderen Volk auf die Anwendung von Gewalt zur Regelung internationaler Streitfragen verzichtet.“22

Die Friedensnote, die im Laufe der Regierung Erhard als letzte aktive Initiative der Außenpolitik betrachtet wurde, fand dann bei den Staaten des Westens, mit Ausnahme Frankreichs, aber auch bei den Blockfreien ein insgesamt positives Echo. Hingegen waren die Reaktionen aus den direkt angesprochenen osteuropäischen Staaten betont reserviert, blieb doch die Bundesregierung bei ihren völkerrechtlichen Vorbehalten gegenüber der „Oder-

20 Nach der Erklärung des Bundeskanzlers Erhard vor dem Bundestag zur Note zur deutschen Friedenspolitik äußerte Wehner, der Fraktionsvorsitzende der SPD, dass die Fraktion der Sozialdemokraten mit der in der Note zum Ausdruck gebrachten Ansicht der Bundesregierung, welche auch die schwierigsten Probleme zwischen den Völkern auf eine friedliche und gerechte Weise gelöst werden können, übereinstimme. 21 Die Note wurde allen Regierungen, mit denen die Bundesrepublik Deutschland diplomatische Beziehungen unterhielt, sowie den osteuropäischen und arabischen Staaten überreicht. 22 Auswärtiges Amt (Hrsg.), Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Dokumente von 1949 bis 1994, Köln 1995, S. 298. 16 Neiße-Linie“. Da sie von der Existenz der DDR keine Notiz nahm, wurde die DDR überhaupt nicht in die Friedensnote einbezogen.

Allerdings war es zu diesem Zeitpunkt den meisten Beobachtern in der Bundesrepublik klar, dass die Zeit der aktiven Wiedervereinigungspolitik vorüber ist, wie dies Staatssekretär Carstens im Oktober 1966 feststellte. Auch Franz Josef Strauß glaubte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr an die Wiederherstellung eines deutschen Nationalstaates, auch nicht innerhalb der Grenzen der vier Besatzungszonen.23 Aus dieser Tatsache mussten die entsprechenden Konsequenzen gezogen werden.

Es wäre dennoch nicht gerechtfertigt, die Deutschland- und Ostpolitik der Regierung Erhard als Fehlschlag zu bezeichnen. Mit der Errichtung von Handelsvertretungen öffnete die Bundesregierung die Tür nach Osteuropa und erschloss der Bundesrepublik ein Terrain, in dem die DDR bislang eine Monopolstellung besaß. Die Bundesregierung war in einen Dialog mit den osteuropäischen Regierungen eingetreten und verfügte nun über die Möglichkeit, im direkten Gespräch ihre politischen Ansichten darzulegen. Im Grunde genommen bereitete die Deutschland- und Ostpolitik der Regierung Erhard die „neue“ Ostpolitik der Großen Koalition 1966 und der sozial-liberalen Koalition 1969 vor.

Angesichts der vor allem entspannungspolitisch motivierten Ostpolitik der nachfolgenden Bundesregierungen war Schröder der letzte Außenminister der Bundesrepublik, dessen Politik klar auf die Wiederherstellung der staatlichen Einheit ausgerichtet war. Er war nicht bereit, sich mit dem Status quo abzufinden, auch wenn die Aussichten auf eine Überwindung der Teilung Deutschlands augenscheinlich im Schwinden begriffen waren. Unbeirrt hielt Schröder an der Einheit Deutschlands fest. Nicht die völkerrechtliche Anerkennung der DDR, sondern nur eine radikale Änderung der sowjetischen Politik konnte nach seiner Überzeugung die Wiedervereinigung ermöglichen.24 Der Versuch, von einer passiven Politik der Rechtsansprüche weg zu einer aktiven Politik der Bewegung zu kommen, brachte wenig Erfolg. Das Ziel der Regierung, nämlich die Isolierung der DDR, war durch eine solche Politik unmöglich. Es lag daran, dass die neue politische Vorgehensweise gegenüber den osteuropäischen Ländern und der Sowjetunion durch die alten Rechtsvorbehalte gebremst wurde. Das Fazit dieser Phase der deutschen Ostpolitik lässt sich folgendermaßen ziehen: „Die von Schröder vorsichtig begonnene Politik der Öffnung nach Osten, die im Frühjahr

23 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik IV. Reihe/Bd. 12, Frankfurt a. M. 1981, S. 439. 24 Franz Eibl, Politik der Bewegung, München 2001, S. 448. 17 1966 in der sogenannten Friedensnote kulminierte, erbrachte allerdings keine wirklichen Resultate.“25

2.1.1.1.3. Die Große Koalition (1966-1969) Nach der Wahl Kurt Kiesingers, des Kanzlerkandidaten der CDU/CSU, und dem anschließenden Scheitern von Koalitionsverhandlungen zwischen CDU, CSU und FDP trat Bundeskanzler Erhard im November 1966 zurück. Bei den zweiwöchigen Koalitionsverhandlungen, an denen alle Parteien beteiligt waren, kam es am Ende der Verhandlungen zu einer Übereinstimung zwischen CDU/CSU und der SPD, eine Große Koalition zu bilden. Am 1. Dezember 1966 wurde der bisherige baden-württembergische Ministerpräsident vom Bundestag zum Bundeskanzler der Großen Koalition gewählt. Bei der Ablösung der Regierung Erhard spielten zwar die innenpolitischen Probleme im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik die entscheidende Rolle, jedoch wirkten auch die Faktoren der Deutschland- und Ostpolitik mit, denn es war der Regierung Erhard nicht gelungen, die deutsche Frage in den Entspannungskurs der Weltmächte einzuordnen und die in der Friedensnote vom 25. März 1966 enthaltenen Ansätze zu neuen Wegen einer eigenständigen Deutschlandpolitik weiterzuentwickeln. Daher stand die Große Koalition vor der Aufgabe, die wirtschaftliche Rezession schnell zu überwinden und die Position der Bundesrepublik Deutschland in der Welt und ihr Verhältnis zu den westlichen Verbündeten neu zu bestimmen, um so auch die Initiative in der Deutschland- und Ostpolitik zurückzugewinnen.

Bereits in der ersten Regierungserklärung am 13. Dezember 1966 setzte Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger deutlich einen neuen Akzent in der Deutschland- und Ostpolitik, die von der Außenpolitik Adenauers abwich und auf Entspannung zielte. Kiesinger schloss an die Friedensnote vom März 1966 an, modifizierte diese wenig wirksame Initiative aber wesentlich, indem er jetzt die DDR mit Nachdruck in das Gewaltverzichtsangebot einbezog: „Deutschland war jahrhundertelang die Brücke zwischen West- und Osteuropa. Wir möchten diese Aufgaben auch in unserer Zeit gerne erfüllen. Es liegt uns darum daran, das Verhältnis zu unseren östlichen Nachbarn, die denselben Wunsch haben, auf allen Gebieten des

25 Hans Fenske, a. a. O., S. 217. 18 wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Lebens zu verbessern und, wo immer dies nach den Umständen möglich ist, auch diplomatische Beziehungen aufzunehmen.“26

Diese Formulierung Kiesingers deutete bereits die „neue Ostpolitik“ der späteren SPD/FDP- Regierung an. In dieser Regierungserklärung hielt Kiesinger zwar noch am Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik ausdrücklich fest, aber er ergänzte folgendes: „Wir wollen entkrampfen und nicht verhärten; Gräben überwinden und nicht vertiefen. Deshalb wollen wir die menschlichen, wirtschaftlichen und geistigen Beziehungen mit unseren Landleuten im anderen Teil Deutschlands mit allen Kräften fördern. Wo dazu die Aufnahme von Kontakten zwischen Behörden der Bundesrepublik und solchen im anderen Teil Deutschland notwendig ist, bedeutet dies keine Anerkennung eines zweiten deutschen Staates. Wir werden diese Kontakte von Fall zu Fall so handhaben, dass in der Weltmeinung nicht der Eindruck erweckt werden kann, als rücken wir von unserem Rechtsstandpunkt ab.“27

In dieser Erklärung ist zudem von der üblichen Bezeichnung für die DDR als „Sowjetzone“ nicht mehr die Rede. An den Formulierungen „(Behörden) im anderen Teil Deutschlands“ und die Bereitschaft zu „entkrampfen“ lässt sich erkennen, dass die Regierung der Großen Koalition bereits die Bereitschaft der de facto Anerkennung der DDR besaß. Diese Bereitschaft blieb aber auf halbem Weg stehen, weil die Bundesregierung formell an ihrem „Rechtsstandpunkt“ festhielt. Zusammengefasst lässt sich der Charakter der Großen Koalition in Bezug auf die Deutschland- und Ostpolitik als der Übergang zwischen der Tradition der christdemokratischen Deutschland- und Ostpolitik zu dem künftigen Neuansatz der sozialliberalen Regierung deuten.

Die Rahmenbedingungen der internationalen Lage hatten sich zwar nicht verändert, dennoch ließen sich die ersten Schritte in der Ostpolitik zunächst gut an, die an die von der Regierung Erhard begonnene außenpolitischen Initiative nach Osten anschlossen. Im Januar 1967 erfolgte die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Rumänien, im August 1967 der Aufbau von Handelsmissionen mit der Tschechoslowakei. Außerdem kam es zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Jugoslawien. Zwar schien die aktive Ostpolitik der Großen Koalition zunächst erfolgreich zu sein, jedoch war langsam zu konstatieren, dass die Bundesregierung mit dem Alleinvertretungsanspruch und der Hallstein-Doktrin in Schwierigkeiten geriet. Bei der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Rumänien wurde, erstmals bei einem osteuropäischen Staat, mit der „Geburtsfehlertheorie“ argumentiert:

26 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik V. Reihe/Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984, S. 57. 27 Ebd., S. 60. 19 Rumänien, wie alle anderen osteuropäischen Staaten, sei nie in der Lage gewesen, sich frei zu entscheiden, sondern habe von vornherein keine andere Wahl gehabt als die DDR anzuerkennen. Mithin habe es im Falle Rumäniens eine Entscheidung gegen das Alleinvertretungsrecht der Bundesrepublik und einen unfreundlichen Akt, der die Spaltung Deutschlands vertiefte, eigentlich nie gegeben.28

Aber bei der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen mit Jugoslawien29 wurde es für die Bundesregierung enorm schwierig, zu erklären, dass die Hallstein-Doktrin nicht verletzt sei. Denn die Bundesregierung hatte bereits die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Jugoslawien und der DDR im Jahr 1957 als einen gegen die Lebensinteressen des deutschen Volkes gerichteten unfreundlichen Akt bezeichnet und brach die diplomatischen Beziehungen mit Jugoslawien ab. Einerseits kann man beide Aufnahmen diplomatischer Beziehungen als außenpolitischen Erfolg der Großen Koalition betrachten, anderseits weisen sie jedoch eindeutig auf die Erosion des Alleinvertretungsanspruchs der Bundesregierung und die Aushöhlung der Hallstein-Doktrin hin.

Im Fall Kambodscha zeigte sich prägnant die Aushöhlung der Hallstein-Doktrin, als dieser Staat in Hinterindien am 8. Mai 1969 diplomatische Beziehungen mit der DDR aufnahm. Die Bundesregierung traf die Entscheidung, ihre diplomatischen Beziehungen zu diesem Land nicht abzubrechen, sondern ihren Botschafter in Phnom Penh kurzzeitig abzuberufen und die Beziehungen zu Kambodscha einzufrieren, die die Bundesregierung nach der Hallstein- Doktrin ohne Wenn und Aber hätten abbrechen müssen.

Gegen die aktive Ostpolitik der Bundesregierung blieben die Sowjetunion und die DDR nicht untätig. Auf der Karlsbader Konferenz vom April 1967 wurden unüberwindliche Hindernisse von der Sowjetunion und den anderen osteuropäischen Staaten des militärischen Bündnisses errichtet. Nach der sogenannten „Erklärung für den Frieden und die Sicherheit in Europa“, die am Ende der Konferenz verkündet wurde, sollen die bestehenden Grenzen in Europa und insbesondere die Grenze an Oder und Neiße sowie die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten anerkannt werden: „ (...) die Anerkennung der Existenz zweier souveräner und gleichberechtigter deutscher Staaten; der Deutschen Demokratischen Republik und der westdeutschen Bundesrepublik, was von der Bundesrepublik den Verzicht auf die

28 Buchheim, a. a. O. S.127. 29 Der Grund für die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen war in erster Linie, dass Jugoslawien im Gegensatz zu den osteuropäischen Staaten sehr positiv auf die Entspannungspolitik der Bundesregierung reagierte. Außerdem entwickelten sich in den 60er Jahren mit Jugoslawien intensive Wirtschaftsbeziehungen und ein ungehinderter Kulturaustausch. 100.000 jugoslawische Gastarbeiter waren in der Bundesrepublik tätig und jährlich fuhren 700.000 deutsche Touristen nach Jugoslawien. 20 Alleinvertretungsanmaßung erfordert.“30 Außerdem wurde in Karlsbad eine gesamteuropäische Sicherheitskonferenz gefordert, an der die DDR, aber nicht die USA beteiligt werden soll. Damit war klar deutlich, dass die sowjetische Politik nicht nur auf Konfrontation gegenüber den entspannungspolitischen Bemühungen der Bundesrepublik ging, sondern auch die amerikanischen Arbeiten an einer Brücke zwischen Ost und West vereiteln wollte.

Unter diesen schwierigen Umständen versuchte die Bundesregierung vorsichtig, direkten Kontakt mit der Sowjetunion aufzunehmen. So beabsichtigte sie Anfang 1967, eine Note über den Gewaltverzicht mit der Sowjetunion auszutauschen.31 Aber erste vorsichtige Kontaktversuche zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion, die zwischen der westdeutschen Botschaft in Moskau und dem sowjetischen Außenministerium angebahnt worden waren, scheiterten nicht zuletzt am Einmarsch der Armeen der Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes unter sowjetischer Führung in die Tschechoslowakei am 12. August 1968. Diese Besetzung war ein schwerer Rückschlag für die Ostpolitik der Bundesregierung. Zugleich machte die Führung in Moskau deutlich, dass der Frieden in Europa nur auf der Grundlage eines gefestigten Ostblocks und unter klarer Vorherrschaft der Sowjetunion möglich sein würde. Voraussetzungen dafür waren die Anerkennung der Grenzen und vor allem die der DDR.

Das außenpolitische Ziel der Großen Koalition, diplomatische Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten aufzunehmen, war ohne Erfolg, abgesehen von Rumänien. Der Hauptgrund dafür war, dass die Sowjetunion und die DDR gemeinsam mit der Ulbricht- Doktrin einen Riegel vor die Ostpolitik der Bundesregierung setzten. Nach der Ulbricht- Doktrin musste jeder kommunistische Staat, mit dem die Bundesrepublik Deutschland diplomatische Beziehungen aufnehmen wollte, Bonn folgende Bedingungen stellen: Anerkennung Westberlins als selbständige politische Einheit, Anerkennung der Oder-Neiße- Linie und Anerkennung der DDR. Diese Forderungen waren für die Bundesregierung nicht annehmbar. Im Grunde genommen wurde jede außenpolitische Bemühung der Bundesregierung vorerst blockiert, solange die Bundesregierung ihre außenpolitischen Grundsätze, Nichtanerkennung der DDR und der Oder-Neiße-Linie, beibehalten wollte.

Um in der Deutschlandpolitik voranzukommen, machte Bundeskanzler Kiesinger am 12. April 1967 der DDR Vorschläge zur Erleichterung des gesamtdeutschen Alltags für die

30 Archive der Gegenwart (Hrsg.), Dokumentation zur Deutschlandfrage Bd. 4, Bonn/Wien/Zürich 1970, S. 567. 31 Vgl. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Dokumente zur Deutschlandpolitik V. Reihe/Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984, S. 482ff. 21 Menschen in beiden Teilen Deutschland. Die aus 16 Punkten bestehenden Vorschläge enthielten vor allem Maßnahmen zur verstärkten wirtschaftlichen und verkehrspolitischen Zusammenarbeit wie auch Rahmenbedingungen für einen wissenschaftlichen, technischen und kulturellen Austausch.32 Auf diese Vorschläge antwortete der Vorsitzende des Ministerrates der DDR, Willi Stoph, am 10. Mai 1967 mit einem offiziellen Brief. Darin forderte Stoph hauptsächlich die Normalisierung der Beziehungen, die Anerkennung der gegenwärtig bestehenden Grenzen und die Aufgabe des Alleinvertretungsanspruchs von der Bundesregierung. Außerdem sollten umfassende Verhandlungen über Gewaltverzicht von den Außenministern beider deutschen Staaten vorbereitet werden. Schließlich würde Stoph Kanzler Kiesinger nach Ostberlin einladen.33

Am 13. Juni 1967 beantwortete Kiesinger das Schreiben vom 10. Mai, indem er zuerst die Forderungen Stophs zurückwies. Er machte dagegen folgendes Angebot: „Ich schlage deshalb vor, dass von Ihnen und von mir zu bestimmende Beauftragte ohne politische Vorbedingungen Gespräche über solche praktischen Fragen des Zusammenlebens der Deutschen aufnehmen, (...).“34 Die Meinungsverschiedenheit zwischen beiden Seiten war so groß, dass man keine Einigung finden konnte. Vor allem war die Differenz bei der Vorgehensweise eindeutig. Während Kiesinger Kontakte suchte, die sich von unten nach oben unter Ausschluss der Anerkennung der DDR erweitern sollten, suchte Ulbricht zuerst die Anerkennung von oben. Die DDR zeigte keine Kompromissbereitschaft. Im Gegensatz zur Regierung in Ost-Berlin legte die Große Koalition großen Wert darauf, die Kontakte von unten nach oben zu suchen. In einem Schreiben vom 28. September 1967 wiederholte der Bundeskanzler zwar sein Gesprächsangebot, weitere Kontakte blieben aber aus. Trotz der Stagnation in der Ost- und Deutschlandpolitik zwischen 1966 und 1969 wird man wohl kaum fehlgehen mit der Annahme, dass die sozialliberale Koalition im Jahr 1969 ihre Ost- und Deutschlandpolitik nicht aus dem Stand hätte beginnen können ohne die Einleitungsphase der Großen Koalition.

Positiv an der Ost- und Deutschlandpolitik der Großen Koalition ist zu bewerten, dass immerhin die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Rumänien, der Aufbau von Handelsmissionen mit der Tschechoslowakei erreicht und mit der Sowjetunion über einen Gewaltverzicht gesprochen wurde. Aber deutliche Verbesserungen waren in den beiderseitigen Beziehungen nicht zu erreichen. So gab es auch in der Deutschlandpolitik trotz

32 Vgl. Ebd., S. 903. 33 Ebd., S. 1115ff. 34 Ebd., S. 1278f. 22 ausgeprägter Konzessionsbereitschaft Kiesingers und Brandts keinen Fortschritt. Als die Sowjetunion im August 1968 den „Prager Frühling“, die Entwicklung zu einem pluralistischen System, durch die militärische Besetzung der Tschechoslowakei beendete, kühlte sich das Klima zwischen Ost und West merklich ab.35

2.1.1.2. Die Wiedervereinigungspolitik der DDR (1949-1972)

Die Wiedervereinigungspolitik der DDR war bis zum Ende zahlreichen Schwankungen unterworfen. Dies geht darauf zurück, dass die Politik der DDR-Regierung von der Außen- und Deutschlandpolitik der Sowjetunion erheblich beeinflusst wurde. Sie ist trotzdem bis zum Grundlagenvertrag des Jahres 1972 in drei Phasen einzuteilen. In der ersten Phase (1949- 1955) war die Politik der deutschen nationalen Frage durch den Alleinvertretungsanspruch der DRR für Gesamtdeutschland und die Bildung eines gesamtdeutschen Rates gekennzeichnet. In der folgenden zweiten Phase (1956-1967) stand der Konföderationsplan in der Wiedervereinigungspolitik im Vordergrund. Diese Idee wurde zum ersten Mal Ende 1956 vom Ersten Sekretär des Zentralkomitees (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), Walter Ulbricht, hervorgebracht. Nach dem Rückgang der Konföderationsidee kam es in der dritten Phase (1968-1972) zu keinem konkreten Wiedervereinigungsplan der DDR. In dieser Zeit reagierte die Führung in Ost-Berlin mehr oder weniger auf die Bonner Politik.

2.1.1.2.1. Der Alleinvertretungsanspruch und die Bildung eines gesamtdeutschen Rates (1949-1955) Der erste Präsident der DDR, Wilhelm Pieck, kündigte am 11. Oktober 1949 nachdrücklich an: „Die Regierung, die die Interessen des gesamten deutschen Volkes wahrnimmt und die Legitimation besitzt, für das ganze deutsche Volk zu sprechen, wird durch ihre Arbeit sich nicht nur das Vertrauen des Volkes erwerben, sondern auch zur Stärkung der Nationalen Front aller Deutschen beitragen. (...) nicht eher werden wir ruhen, bis die widerrechtlich von Deutschland losgerissenen und dem Besatzungsstatut unterworfenen Teile Deutschland mit

35 Hans Fenske, a. a. O., S. 218. 23 dem deutschen Kerngebiet, mit der DDR in einem einheitlichen demokratischen Deutschland vereinigt sind.“36 Dieser Anspruch der DDR, als einzig rechtmäßiger deutscher Staat für das ganze deutsche Volk zu sprechen, wurde bis Mitte der 50er Jahre fortgesetzt. Allerdings leugnete die Bundesrepublik die Existenz der DDR. Trotz des Alleinvertretungsanspruchs behielt die DDR eine Flexibilität in der deutschen Frage. Am 27. Oktober 1950 forderte das ZK der SED entsprechend den Beschlüssen der Prager Außenministerkonferenz, an der die Außenminister der Sowjetunion, Polens, der Tschechoslowakei, Rumäniens, Bulgariens, Albaniens und der DDR teilnahmen, die Bildung eines gesamtdeutschen Rates, in dem die westdeutsche Regierung als gleichberechtigter Partner betrachtet wurde: „Der Hebel hierfür liegt für das deutsche Volk vor allem in Punkt 4 der Prager Vorschläge.37 Erheben wir die Forderung nach Bildung eines gesamtdeutschen Rates unter paritätischer Zusammensetzung aus Vertretern Ost- und Westdeutschlands zur nationalen Forderung aller Deutschen.“38 Im Lauf des Jahres 1951 zeigte sich die Regierung der DDR zu weiteren substantiellen Zugeständnissen bereit. Ministerpräsident Grotewohl erklärte am 15. September 1951 vor der Volkskammer, dass man auf östlicher Seite nicht unbedingt auf der paritätischen Vertretung in einem Gesamtdeutschen Konstituierenden Rat beharre, denn die Zahl der Verhandlungsteilnehmer sei bei solchen Beratungen nicht von grundsätzlicher Bedeutung. Allerdings rückte die DDR nicht von ihrer Grundbedingung ab, dass freien Wahlen eine gesamtdeutsche Beratung vorangehen müsste. Die im Oktober 1950 formulierte Strategie der DDR zur Wiedervereinigungsfrage Deutschlands blieb bis 1955 ohne große Veränderung bestehen. Das Jahr 1952 war ein Höhepunkt und zugleich ein Wendepunkt in der nationalen Propaganda und Agitation der SED. Am 9. Januar 1952 verabschiedete die Volkskammer der DDR einen Gesetzesentwurf für die Durchführung gesamtdeutscher Wahlen, der sich im Wesentlichen an den vorangegangenen Wiedervereinigungsvorschlägen orientierte.39 Einen Monat später

36 Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik II. Reihe/Bd. 2, München 1996, S. 186. 37 Der Wortlaut des Punktes 4: „Bildung eines aus Vertretern Ost- und Westdeutschlands paritätisch zusammengesetzten Gesamtdeutschen Konstituierenden Rates, der die Bildung einer Provisorischen demokratischen, friedlichen, gesamtdeutschen souveränen Regierung vorbereiten und der Regierung der UdSSR, der USA, Großbritanniens und Frankreichs die entsprechenden Vorschläge zwecks gemeinsamer Bestätigung unterbreiten soll und der bis zur Bildung einer gesamtdeutschen Regierung zur Konsultation bei der Ausarbeitung des Friedensvertrages heranzuziehen ist. Unter bestimmten Umständen kann eine unmittelbare Befragung des deutschen Volkes über diesen Vorschlag durchgeführt werden.“ 38 Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik II. Reihe/Bd. 3, München 1997, S. 406. 39 Vgl. Archivs der Gegenwart (Hrsg.), Dokumentation zur Deutschlandfrage Bd. 1, Bonn/Wien/Zürich 1961, S. 126-133. 24 appellierte die Regierung der DDR an die vier Siegermächte, einen Friedensvertrag mit Deutschland abzuschließen und dem deutschen Volk die Möglichkeit zu geben, die Spaltung Deutschlands zu beseitigen und einen eigenen, einheitlichen, unabhängigen, friedliebenden und demokratischen Staat aufzubauen.40 Am 10. März 1952 richtete die sowjetische Regierung an die drei Westmächte eine Note, die den Entwurf und die Grundlagen eines Friedensvertrages mit Deutschland enthielt. Zusammengefasst war die sogenannte Stalinnote ein sowjetisches Angebot für ein wiedervereinigtes, neutrales Deutschland: „Deutschland verpflichtet sich, keinerlei Koalitionen oder Militärbündnisse einzugehen, die sich gegen irgendeinen Staat richten, der mit seinen Streitkräften am Krieg gegen Deutschland teilgenommen hat.“ Die Bundesregierung und die drei Westmächte zogen das Angebot nicht in Erwägung, weil sie den Hintergrund der Note erkannten, nämlich die Westintegration der Bundesrepublik taktisch zu stören. Nach dem Scheitern des sowjetischen Angebotes verschärften sich die Beziehungen zwischen beiden Teilen Deutschlands beträchtlich. Am 12. Juli 1952 beschloss die SED den forcierten Aufbau des Sozialismus. Nach diesem Beschluss wurde angestrebt, jene Kräfte in der SED zu stärken, die Kompromisse mit der kapitalistischen Bundesrepublik strikt ablehnten. Seit Juli 1953 wurde die Forderung nach freien gesamtdeutschen Wahlen mehr in den Hintergrund gestellt. Stattdessen unterstrich die DDR die Notwendigkeit einer schrittweisen Annäherung zwischen beiden deutschen Staaten als Voraussetzung für die Wiedervereinigung. In Bezug auf die Prinzipien der Wiedervereinigung plädierte der Ministerpräsident der DDR Grotewohl am 7. Mai 1955 in einer Rede auf dem Staatakt anlässlich des 10. Befreiungstages für folgende Punkte: 1. Annullierung der Pariser Verträge als Voraussetzung der Wiedervereinigung Deutschlands; 2. Sofortige Herbeiführung der Verständigung zwischen beiden Teilen Deutschlands zur Beseitigung des Militarismus und zur Vorbereitung freier gesamtdeutscher Wahlen für eine Nationalversammlung; 3. Gemeinsame Forderungen beider Teile Deutschlands an die vier Großmächte auf beschleunigten Abschluss eines Friedensvertrages und den Abzug aller Besatzungstruppen;

40 Deutsches Institut für Zeitgeschichte (Hrsg.), Dokumente zur Außenpolitik der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik Bd. 1, Berlin 1954, S. 74f. 25 4. Schaffung einer ständigen Beratung aus Vertretern Ost- und Westdeutschlands zur Prüfung aller übrigen Fragen der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Zusammenarbeit.41

Zwischen 1954 und 1955 zeigte sich die DDR insgesamt immer weniger bereit, die sozialistische Umgestaltung der ostdeutschen Gesellschaft in einem Prozess der Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik zur Disposition zu stellen. Forderungen wie die Durchführung einer demokratischen Bodenreform in Westdeutschland schienen der Bundesrepublik als inakzeptable Vorbedingung, die dem Ergebnis freier gesamtdeutscher Wahlen vorgreifen würde.42 Zusammenfassend lässt sich eruieren, dass die zahlreichen Anregungen und Vorschläge der SED-Führung, wie ihrer Meinung nach die Einheit Deutschlands wiederhergestellt werden könnte, nie ein ernsthaftes und realistisches Bemühen erkennen ließen, die Wiedervereinigung Deutschlands zu fördern. Vielmehr waren sie ausschließlich darauf gerichtet, durch die Aufnahme von Kontakten, Gesprächen oder Verhandlungen mit der Bundesrepublik die fehlende demokratische Legitimation der eigenen Machtposition zu verdecken. Außer gelegentlichen und äußerst kurzlebigen propagandistischen Effekten waren diese Bemühungen der SED ergebnislos geblieben.

2.1.1.2.2 Der Konföderationsplan (1956-1966) Die Absicht der SED-Führung, das sozialistische System der DDR einer Wiedervereinigung nicht zu opfern, ging im Jahr 1956 weiter. Am 30. Dezember 1956 schlug der Erste Sekretär des Zentralkomitees (ZK) der SED, Walter Ulbricht, in einem Artikel unter dem Titel „Was wir wollen und was wir nicht wollen“ die Bildung eines deutschen Staatenbundes vor: „Nachdem in Deutschland zwei Staaten mit verschiedenen gesellschaftlichen Systemen bestehen, ist es notwendig, zunächst eine Annäherung der beiden deutschen Staaten herbeizuführen, später eine Zwischenlösung in Form der Konföderation oder Föderation zu finden, bis es möglich ist, die Wiedervereinigung und wirklich demokratische Wahlen zur Nationalversammlung zu erreichen.“43 Ulbricht begründete seinen Vorschlag des Konföderationsplans mit der Remilitarisierung der Bundesrepublik und deren Eintritt in den Nordatlantikpakt, wodurch eine baldige Wiedervereinigung verhindert werden würde. Er

41 Bundesministerium für gesamtdeutsche Frage (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik III. Reihe/Bd. 1, Bonn/Berlin 1961, S. 18. 42 Volker Grabowsky, Die Wiedervereinigungspolitik der DDR und Nordkorea, Offenbach/M. 1987, S. 5f. 43 Bundesministerium für gesamtdeutsche Frage (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik III. Reihe/Bd. 2, Bonn/Berlin 1963, S. 1009. 26 betonte zudem, dass lediglich eine Demokratisierung Westdeutschlands, aber keine Bedingungen im Sinne des marxistischen Zieles des Sozialismus verlangt würden.

Auf der vom 30. Januar bis zum 1. Februar 1957 stattgefundenen Tagung des ZK der SED erklärte Ulbricht ausführlich die Beschaffenheit einer deutschen Konföderation. Es sollte ein Gesamtdeutscher Rat gebildet werden, der sich paritätisch aus Vertretern beider deutschen Staaten zusammensetzt, wobei die Mitglieder des Rates aufgrund der jeweils geltenden Wahlgesetze zu wählen seien. Der Gesamtdeutsche Rat würde die Funktion einer Konföderationsregierung ausüben und Maßnahmen zur Vereinheitlichung von Verwaltung und Wirtschaft in beiden deutschen Staaten vorbereiten, wie die Herstellung einer einheitlichen Verwaltung, besonders zur Schaffung einer Zoll- und Valuta-Union und einer Koordinationskommission für Fragen der nationalen Industrie, zur Schaffung einer einheitlichen Notenbank, einer einheitlichen Währung, eines einheitlichen Transport- und Nachrichtenwesens und anderes. Der Gesamtdeutsche Rat würde ferner auf der Grundlage gleichberechtigter Verhandlungen die Maßnahmen für die Durchführung von freien gesamtdeutschen Wahlen zur Nationalversammlung ausarbeiten. Schließlich habe die aus den gesamtdeutschen Wahlen hervorgegangene Nationalversammlung die hohe Verantwortung, die Verfassung auszuarbeiten und aus ihrer Mitte eine Regierung zu bilden, die dem Frieden, der Demokratie und dem Fortschritt diente und in der kein Platz für eine imperialistische Politik sei.44

Obwohl Ulbricht keine sozialistische Umgestaltung Westdeutschlands für die Bildung einer deutschen Konföderation verlangte, gingen seine Forderungen nach Demokratisierung im sozialistischen Sinne sehr weit. „Die Liquidierung der Herrschaft der Monopole in der Bundesrepublik“, „Der Verzicht auf die Politik der Remilitarisierung“, „Die Aufhebung des Betriebsverfassungsgesetzes“, „Die Herstellung der vollen Rechte der Arbeiter einschließlich der Arbeiterkontrolle in den Großbetrieben“ und „eine demokratische Bodenreform“ waren die Forderungen, die allerdings eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik darstellten. Seine Forderungen führten zugleich unter den konföderationsfreundlichen Kräften in Westdeutschland zum Zweifel an der Aufrichtigkeit der SED-Führung.

Am 11. Februar 1957 relativierte Ministerpräsident Otto Grotewohl die Vorschläge von Parteichef Ulbricht auf der Parteiversammlung der Akademie der Wissenschaften. Er hob hervor, dass die Konföderation keine über den einzelnen Staaten stehende Staatsgewalt

44 Bundesministerium für gesamtdeutsche Frage (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik III. Reihe/Bd. 3, Bonn/Berlin 1967, S. 93f. 27 schaffe. Sie stelle keinen politischen Idealzustand dar und sei vielmehr ein Zwischenstadium auf dem Weg der angestrebten Wiedervereinigung.45 Am 27. Juli 1957 übernahm die Regierung der DDR in einer programmatischen Erklärung den Konföderationsplan Ulbrichts. Sie verband den Konföderationsvorschlag mit der Forderung nach einem Abkommen zwischen der Bundesrepublik und der DDR über das Verbot der Lagerung und der Herstellung von Atomwaffen auf deutschem Boden, nach dem Ausscheiden der beiden deutschen Staaten aus NATO und Warschauer Pakt, sowie mit einem Ersuchen an die vier Siegermächte wegen eines baldigen schrittweisen Rückzugs ihrer Truppen aus ganz Deutschland. Anschließend wurde weiter erklärt: „Ein solches Abkommen über diese vorrangigen Fragen wäre der Beginn einer zwischen den souveränen und unabhängigen deutschen Staaten einzugehenden Konföderation, die im weiteren zu Absprachen auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Verbindungen, auf dem Gebiete der Zoll- und Währungsangelegenheiten, des Verkehrs- und Nachrichtenwesens, der mit dem Status von Berlin verbundenen Fragen sowie der Aufhebung des Verbots demokratischer Parteien und Organisationen in Westdeutschland führen könnte.“46

Auf dem 5. Parteitag der SED am 10. Juli 1958 machte Ulbricht erneut Vorschläge, die der Entspannung sowie der Annäherung beider deutscher Staaten dienen und die Schaffung von Kontakten fördern sollten: „1. Öffentlicher Meinungsaustausch über die Annäherung der beiden deutschen Staaten und die Bildung einer Konföderation als Weg zur Wiedervereinigung unseres deutschen Vaterlandes. 2. Beratung der innerdeutschen Fragen, die beide deutsche Staaten betreffen, auf Regierungsebene, um ein weiteres Auseinanderleben zu verhindern und eine Annäherung zu erreichen. Außerdem schlagen wir Beratungen zwischen Vertretern des Zentralkomitees der SED und des Parteivorstandes der SPD über den Weg zur Konföderation beider deutscher Staaten und zur Wiedervereinigung vor.“47 Außerdem betonte er angesichts der Vorschläge von Chruschtschow an Eisenhower48 als Grundlage eines Friedensvertrages seinen Konföderationsplan: „Was müssen die Grundlagen eines Friedensvertrages sein, der unter solchen Bedingungen ausgearbeitet wird? 1.

45 Volker Grabowsky, a. a. O. in: Neues Deutschland vom 13. Februar 1957, S. 3. 46 Bundesministerium für gesamtdeutsche Frage (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik III. Reihe/Bd. 3, Bonn/Berlin 1967, S. 1303. 47 Bundesministerium für gesamtdeutsche Frage (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik III. Reihe/Bd. 4, Bonn/Berlin 1969, S. 1406f. 48 Einer der neun Vorschläge zur Erörterung war der Abschluss eines deutschen Friedensvertrages. Vgl. Bundesministerium für gesamtdeutsche Frage (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik III. Reihe/Bd. 3, Bonn/Berlin 1967, S. 22. 28 Deutschland wird auf dem Weg der Herstellung der Konföderation der beiden deutschen Staaten ein friedliebender, demokratischer und unabhängiger Staat. (...)“49

Diese neue Formel, nämlich Friedensvertrag und Konföderation, erklärte der Erste Sekretär des ZK der SED mit Nachdruck am 13. Februar 1959 in einer Rede vor Mitgliedern der SED und der Nationalen Front des demokratischen Deutschland in Berlin: „Der Friedensvertrag würde das Tor für die Wiedervereinigung Deutschlands auf dem Weg der Bildung einer Konföderation der beiden deutschen Staaten öffnen.“50 Und kurz darauf erörterte er in einem Interview für die „Neue Ruhr-Zeitung“, dass die DDR für den kürzesten Weg zur Bildung einer Konföderation und zur Wiedervereinigung sei. Dieser kürzeste Weg sei die Einberufung der Friedenskonferenz und der Abschluss eines Friedensvertrages.51

Im Grunde unterbreitete die Regierung der DDR zwar seit Juli 1957 zahlreiche weitere Vorschläge zur Bildung einer deutschen Konföderation. Aber die Konföderationsidee der SED rief in der Bundesrepublik in kurzer Zeit eine negative Resonanz hervor. Aber die oppositionelle SPD näherte sich mit ihrem Deutschlandplan vom 18. März 1959 dem Staatenbundsgedanken an. Doch als die Sozialdemokraten den Deutschlandplan widerriefen und auf die außen- und deutschlandpolitische Linie der Adenauer-Regierung einschwenkten, verlor die SED ihren einzigen bedeutenden potentiellen Bündnispartner in der Bundesrepublik. Allerdings bestand auch seit Beginn der 60er Jahre nur in geringem Maße eine realistische Chance zur Durchsetzung des Konföderationsplans.

Die DDR und die SED gaben dennoch ihren Staatenbundplan nicht auf. So erwähnten die ostdeutschen Kommunisten am 12. Februar 1961 in ihren Thesen des Politbüros des ZK der SED zum 15. Jahrestag der Vereinigung von KPD und SPD: „Mit der konstruktiven Politik in der Frage der Wiedervereinigung, die ihren Ausdruck in dem Vorschlag zur Bildung einer Konföderation der beiden deutschen Staaten und im Deutschlandplan des Volkes gefunden hat, weist die SED allen Schichten der Bevölkerung die Perspektive.“52 Nach dem Mauerbau am 13. August 1961 verebbte die Propaganda der SED nicht, wie das „Nationale Dokument“ vom 17. Juni 1962 beweist. Das Dokument, das den Titel „die geschichtliche Aufgabe der Deutschen Demokratischen Republik und die Zukunft Deutschlands“ trug, war insofern bedeutend, als es erstmals Westberlin in eine deutsche Konföderation einbezog. Erst Mitte der

49 Bundesministerium für gesamtdeutsche Frage (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik III. Reihe/Bd. 4, Bonn/Berlin 1969, S. 1393. 50 Bundesministerium für gesamtdeutsche Frage (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik IV. Reihe/Bd. 1, Bonn/Berlin 1971, S. 876. 51 Vgl. Ebd., S. 963-972. 52 Bundesministerium für gesamtdeutsche Frage (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik IV. Reihe/Bd. 6, Frankfurt a. M. 1975, S. 309. 29 60er Jahre verlor die SED ihr Interesse an der Konföderationsidee. In seiner Neujahrsansprache zum Jahreswechsel 1967 erwähnte Ulbricht die Konföderationsidee das letzte Mal.53 Danach wurde der Begriff „Konföderation“ im deutschlandpolitischen Programm der SED nicht mehr verwendet.

2.1.1.2.3 Auf dem Weg zum Grundlagenvertrag (1967-1972)

In den Jahren der Bonner Großen Koalition verschärfte die SED ihre Angriffe gegen den westdeutschen Alleinvertretungsanspruch, der nach wie vor in der westdeutschen Außenpolitik bestand und in der Hallstein-Doktrin seinen Niederschlag fand. Die Hallstein- Doktrin verlor Ende der 60er Jahre in zunehmendem Maß ihre außenpolitische Wirkung. Trotz der Schwierigkeiten bei der Durchsetzung der Hallstein-Doktrin bemühte sich die Bundesregierung nicht um die staatliche Anerkennung der DDR, sondern versuchte, unter Umgehung der Normalisierung der innerdeutschen Beziehungen das Verhältnis der Bundesrepublik zu den anderen osteuropäischen Ländern zu verbessern.

Zwar wurde zwischen Bundeskanzler Kiesinger und dem Vorsitzenden des Ministerrates Willi Stoph Briefkontakt aufgenommen, aber die DDR forderte obstinat die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und der DDR und die Aufgabe des Alleinvertretungsanspruchs. Offensichtlich sah die Führung in Ost-Berlin in der westdeutschen Politik eine besonders heimtückische Form des Revanchismus und malte zusammen mit dem Wiedererstarken des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik, der Verabschiedung der Notstandsgesetze und der westdeutschen Unterstützung für die amerikanische Intervention in Vietnam das verzerrte Bild eines aggressiven und expansionistischen westdeutschen Imperialismus, der eine ernste Bedrohung des Weltfriedens darstellt, an die Wand.

Die im Herbst 1969 entstehende sozial-liberalen Koalition erkannte, dass eine Politik der Verständigung der Bundesrepublik mit den osteuropäischen Ländern nur möglich war, wenn gleichzeitig die Normalisierung der Beziehungen zum anderen deutschen Staat vorangetrieben wurde. Innerdeutsche Gespräche auf Regierungsebene nahmen ihren Auftakt, als sich am 19. März 1970 in Erfurt die Regierungschefs der beiden deutschen Staaten, und Willi Stoph, zum ersten Mal trafen. Ihre Begegnung setzten sie am 21. Mai 1970 in Kassel fort. Obwohl in den Grundfragen der innerdeutschen Beziehungen keine Übereinstimmung

53 Vgl. Bundesministerium des Innerdeutschen Beziehungen (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik V. Reihe/Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984, S. 231-234. 30 erzielt wurde, nahmen die Bundesrepublik und die DDR Ende November 1970 den offiziellen Meinungstausch über Fragen, deren „Regelung der Entspannung im Zentrum Europas dienen würden und die für beide Staaten von Interesse sind“, wieder auf. Es begann ein Dialog, der in über siebzig Begegnungen im Verlauf von zwei Jahren zum Abschluss eines Transitabkommens, eines Verkehrsvertrages und schließlich des Grundlagenvertrages führte.

In dem am 21. Dezember 1972 unterzeichneten Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik erkannte die Bundesrepublik die staatliche Existenz und Souveränität der DDR an. Damit erreichte die DDR ein Zwischenziel ihrer Wiedervereinigungspolitik, nämlich die Anerkennung der DDR und die Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten.

2.2. Sonnenscheinpolitik 2.2.1. Die Wiedervereinigungspolitik vor der Sonnenscheinpolitik 2.2.1.1. Von der Befreiung von der japanischen Kolonialherrschaft bis zur Gründung der zwei Staaten in einer Nation (1945-1948) „An unsere guten und treuen Untertanen! Nach tiefen Überlegungen über den allgemeinen Lauf der Welt und über die gegenwärtige Lage unseres Reiches, haben wir heute beschlossen, die gegenwärtige Lage durch eine außergewöhnliche Maßnahme zu beenden. Wir haben unsere Regierung angewiesen, den Regierungen der Vereinigten Staaten, Großbritanniens, Chinas und Sowjet Union mitzuteilen, dass unser Reich die Bedingungen ihrer gemeinsamen Proklamation annimmt.“54 Mit dieser Rundfunkmeldung, die der japanische Kaiser Hirohito am 15. August 1945 zum ersten Mal in der Öffentlichkeit machte, verkündete Japan unmittelbar nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki die Kapitulation. Damit ging der Krieg in Asien endgültig zu Ende.

Korea, ein im Jahr 1910 unter japanische Kolonialherrschaft geratenes und ein auf der internationalen Politikbühne relativ unbekanntes Land, wurde durch diese Kapitulation von der 35jährigen Herrschaft Japans befreit. Die Befreiung Koreas brachte aber dem koreanischen Volk, das während der Kolonialherrschaft Japans an den Widerstandskämpfen mit dem Ziel der Befreiung und Unabhängigkeit Koreas lebhaft beteiligt war, keine vollständige Unabhängigkeit. Stattdessen wurde die koreanische Halbinsel überraschend

54 Neue Zürcher Zeitung vom 15. August 1945, Abendausgabe No.1240 Blatt 5. 31 durch eine Teilungslinie auf dem 38. Breitengrad in eine nördliche sowjetische und eine südliche amerikanische Besatzungszone aufgeteilt. Diese Teilung wurde in der weiteren politischen Entwicklung zum entscheidenden Faktor der Auseinanderentwicklung der koreanischen Nation. Trotz der nationalen Bestrebung nach sofortiger Wiedervereinigung und der Resolution zur Einheit von den Vereinigten Nationen wurden im Jahr 1948 die Republik Korea im Süden und die Demokratische Volksrepublik Korea im Norden der koreanischen Halbinsel gegründet. Die „provisorisch“ gedachte Teilung wurde durch den Einfluss der veränderten Konstellation der Weltpolitik und das Fehlschlagen der nationalen Zusammenarbeit zwischen der Linken und der Rechten nach und nach festgelegt und durch die Staatsgründungen im Süden und im Norden endgültig zementiert.

In der folgenden Darstellung liegt das Schwergewicht auf den Ursachen und dem Verlauf der Teilung des Zwei-Zonen-Koreas in die amerikanische Besatzungszone bzw. die spätere Republik Korea (RK) auf der einen Seite und die sowjetische Besatzungszone bzw. die spätere Demokratische Volksrepublik Korea (DVRK) auf der anderen Seite. Außerdem wird der Versuch unternommen, die einzelnen Vereinigungsbemühungen der voneinander getrennten Besatzungszonen im Laufe der Teilungsprozesse und die Verhandlungen über die Überwindung der vorläufigen Trennung zwischen dem Süden und dem Norden darzulegen. Um diese historische Darstellung der Teilung Koreas und deren erste Überwindungsbemühungen der von den fremden Mächten getrennten Koreaner wissenschaftlich korrekt zu gewährleisten, ist es zuerst erforderlich, sich die innen- und außenpolitischen Umstände, die für die Teilung der koreanischen Halbinsel und für die gescheiterten Verhandlungen über die Vereinigung vor den beiden Staatsgründungen die entscheidende Rolle gespielt haben, zu vergegenwärtigen. Zum außenpolitischen Faktor gehören vor allem die Beschlüsse zur Koreapolitik auf den alliierten Konferenzen, die internationalen Rahmenbedingungen sowie die Besatzungspolitik der beiden Großmächte. Die politische Lage der koreanischen Nation vor und während der Besatzungszeit in beiden Zonen zählt zum innenpolitischen Faktor.

2.2.1.1.1 Der weltpolitische Hintergrund der Teilung der koreanischen Halbinsel

2.2.1.1.1.1. Koreapolitik auf den alliierten Konferenzen im Zweiten Weltkrieg

Während der Konferenzen der Alliierten des Zweiten Weltkriegs wurde zur Regelung der Koreafrage zwar vereinbart, dass ein einheitlicher und unabhängiger Nationalstaat auf der 32 koreanischen Halbinsel wieder hergestellt werden sollte. Aber die Vereinbarung der Alliierten wurde aufgrund der Veränderungen in der internationalen Politik nicht in die Tat umgesetzt.

In den Gesprächen vom März 1943 zwischen dem amerikanischen Präsidenten Roosevelt und dem britischen Außenminister Eden, der wegen der Teilnahme an der Konferenz der drei Außenminister in Washington gerade die Vereinigten Staaten besuchte, wurde die Koreafrage zum ersten Mal kurz angesprochen. Korea sollte zuerst von Japan befreit werden, danach für eine bestimmte Zeit unter internationale Treuhandschaft gestellt werden und schließlich als unabhängiger Staat proklamiert werden.55 Zwar verfügte Roosevelt über keinerlei Kenntnisse über die Koreaner und die koreanische Halbinsel, er wusste jedoch aus eigenen Erfahrungen mit den Philippinen genau, was für das kleine und unterentwickelte Land in Ostasien nach dem Krieg unternommen werden sollte. Der grundlegende Gedanke einer internationalen Treuhandschaft für Korea stammte aus der Erfahrung der Vereinigten Staaten, die sie mit den Philippinen gemacht haben. Dies lässt sich aus der Rede von Roosevelt am 15. November 1942 auf den Philippinen erkennen: „The history of the Philippine Islands in the last 44 years provides in a very real sense a pattern for the future of other small nations and peoples of the world.“56 Außerdem wies er bei der Unterredung mit Stalin mit Stolz darauf hin, wie die Amerikaner den Philippinen geholfen hatten, sich auf ihre Unabhängigkeit vorzubereiten. Die Erziehung der Völker des fernöstlichen Kolonialgebiets war eines der Lieblingsthemen des amerikanischen Präsidenten auf internationalen Konferenzen.57

Nach dieser kurzen Unterredung in Washington wurde die Koreafrage in Kairo auf der internationalen Konferenzebene offiziell diskutiert. In Bezug auf die Unabhängigkeit Koreas verkündeten die drei Staatoberhäupter Roosevelt, Churchill und Zhang in der Erklärung von Kairo: „The aforesaid three great powers, mindful of the enslavement of the people of Korea, are determined that in due course Korea shall become free and independent.”58 In dieser Vereinbarung von Kairo wurde in Bezug auf die Befreiung und Unabhängigkeit Koreas der Vorbehalt „in due course“ geäußert. Der umstrittene Passus „in due course“ kann zwar auf einen Vorschlag Churchills zurückgeführt werden, aber er entsprach dem Vorsatz der US-

55 „Korea is to be detached from Japan and after being placed under international trusteeship for a limited period will be proclaimed an independent state” in: Department of State (Hrsg.), Foreign Relations of the Untied States 1943 Vol.III, Washington 1963, S. 1090. 56 Public Papers and Addresses of Franklin D. Roosevelt 1942, New York 1950, S. 475, hier zitiert nach: Hyun- Mo Yang, Deutsche Einheit und die Wiedervereinigung Koreas: Eine vergleichende Untersuchung über die Einigungspolitik geteilter Länder, Bonn 1994, S. 115. 57 Robert E. Sherwood, Roosevelt und Hopkins, Hamburg 1950, S. 633. 58 Department of State (Hrsg.), Foreign Relations of the Untied States 1943 China, Washington 1957, S. 177. 33 Delegation, dass die koreanische Halbinsel vor der Unabhängigkeit zuerst unter die Treuhandschaft der vier Großmächte gestellt werden sollte.59

Auf der Teheraner Konferenz, auf der sich Roosevelt und Stalin während des Zweiten Weltkriegs zum ersten Mal trafen, wurde die Koreafrage zwar nicht offiziell behandelt. Aber es dürfte zwischen Roosevelt und Stalin abgesprochen worden sein, dass die Treuhandschaft für Korea 40 Jahre dauern sollte. Auf dem Pazifischen Kriegsrat, der am 12. Januar 1944 in Washington in Fortsetzung der Konferenz von Teheran stattfand, äußerte sich nämlich der amerikanische Präsident darüber, dass Stalin damit einverstanden gewesen sei, dass Korea für 40 Jahre unter die Treuhandschaft der Alliierten gestellt werden sollte.60 Aber weder auf der Konferenz von Kairo noch auf der in Teheran wurde im Protokoll festgehalten, dass die Periode der Treuhandschaft 40 Jahre betragen sollte.

Auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 hielt Roosevelt eine Dauer von 20 bis 30 Jahren für die Treuhandschaft für ausreichend, damit sich die Koreaner auf die Gründung einer eigenen Republik vorbereiten konnten. Dagegen war Stalin in Jalta nun der Meinung, dass die Zeit der Treuhandschaft für Korea so kurz wie möglich sein sollte. Außerdem waren sich die zwei Großmächte in Jalta einig, dass nach dem Weltkrieg keine ausländischen Truppen in Korea stationiert werden sollten.61

Als Hopkins nach dem Tod Roosevelts als Sondergesandter des neu gewählten Präsidenten Truman Ende Mai 1945 Moskau besuchte, um die Gespräche mit Stalin zu fortführen, wurde erneut eine kurze Dauer der Treuhandschaft für Korea besprochen: „It would be desirable to have a trusteeship for Korea made up of the , the , China and Great Britain. The period of trusteeship had not been fixed. It might be twenty-five years; it might be less, but it would certainly be five or ten. Marshal Stalin said he fully agree with the desirability of a four-power trusteeship for Korea.”62 Obwohl die Frage nach der Treuhandschaft für Korea auf den Kriegskonferenzen und in Unterredungen zwischen den beiden Großmächten diskutiert wurde, wurde durch die Alliierten bis 1945 keine detaillierte Treuhandschaft für die koreanische Halbinsel festgelegt. Aus diesem Grund legte Harriman,

59 „Under some type of trusteeship in which the four great powers would participate“ in: Department of State (Hrsg.), Foreign Relations of the Untied States, The Conferences at Cairo and Teheran 1943, Washington 1961, S. 376. 60 “Marshall Stalin had specifically agreed to the idea that Manchuria, Formosa and the Pescadores should be returned to China; that the Koreans (are not yet capable of exercising and maintaining independent government and that they should be placed under a 40-year tutelage” in: Department of State (Hrsg.), Foreign Relations of the Untied States, The Conferences at Cairo and Teheran 1943, Washington 1961, S. 869. 61 Department of State (Hrsg.), Foreign Relations of the Untied States, The Conferences at Malta and Jalta 1945, Washington 1955, S. 770. 62 Department of State (Hrsg.), Foreign Relations of the Untied States, The Conference of Berlin (The Potzdam Conference) 1945 Volume I, Washington 1960, S. 47. 34 der amerikanische Botschafter in der Sowjetunion, in einem geheimen Telegramm dem Präsidenten der Vereinigten Staaten und dem Präsidialamt nahe, ausführliche Gespräche über den Charakter der Treuhandschaft für Korea dringend vorzubereiten.63

Trotz des Vorschlags von Harriman wurden weder die Vorbereitungen für eine detaillierte und ausführliche Diskussion getroffen, noch die Koreafrage in der Potsdamer Konferenz behandelt. Auf der Potsdamer Konferenz wurde nur die Entscheidung getroffen, dass nach dem Eintritt der UdSSR in den Krieg gegen Japan die koreanische Halbinsel für Luft- und Seeoperationen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion aufgeteilt werden sollte. Die Siegermächte kalkulierten allerdings noch keine Zonenaufteilung für Landoperationen ein, weil eine baldige Kapitulation Japans noch nicht zu erwarten war.64

Im Allgemeinen kann man der Behauptung zustimmen, die sich aus dem Verlauf der internationalen Konferenzen ergibt, dass nämlich die Siegermächte unter der Leitung der Vereinigten Staaten die koreanische Halbinsel gemeinsam verwalten wollten. Trotz der Gespräche der Alliierten bezüglich der Koreafrage wurden aber bis Ende des Krieges in Asien keine detaillierten Angaben zur Treuhandschaft schriftlich festgelegt. Es bestanden nichts weiter als informelle und verbale Übereinkommen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Darüber hinaus wurden die Koreaner bei der Diskussionen und Vereinbarung über ihr politisches Schicksal nicht beteiligt. Die Alliierten konnten daher nicht vorhersehen, dass diese einseitige Entscheidung der Koreafrage negative Auswirkungen in Korea hervorrufen werde. Im Rahmen der internationalen Nachkriegspolitik und aufgrund der unterschiedlichen Interessenlage der beiden Großmächte war das Schicksal der koreanischen Halbinsel besiegelt, ebenso wie das der anderen kleinen Länder in Asien. Unter diesen Umständen wurden die Koreaner von der 35jährigen Kolonialherrschaft befreit und versuchten nun auf eigene Faust, einen unabhängigen Staat zu konstituieren.

2.2.1.1.1.2. Die Teilung Koreas und die amerikanisch-sowjetische Besatzungspolitik

Unmittelbar nach der zweiten US-Atombombe auf Nagasaki und der sowjetischen Kriegserklärung gegen Japan überschritt die Rote Armee unter General Iwan Tschistjakow,

63 “In addition I suggest that preparations should be made for a detailed discussion of the character of the proposed four power trusteeship for Korea” in: Department of State (Hrsg.), Foreign Relations of the Untied States, The Conference of Berlin (The Potzdam Conference) 1945 Volume I, Washington 1960, S. 234. 64 Department of State (Hrsg.), Foreign Relations of the Untied States, The Conference of Berlin (The Potzdam Conference) 1945 Volume II, Washington 1960, S. 410f. 35 Kommandeur der 25. sowjetischen Armee, die Nordgrenze Koreas und marschierte weiter nach Süden. Schließlich besetzte sie am 24. August die heutige Hauptstadt Nordkoreas, Pjöngjang. Dieses rasche und unerwartete Vordringen der sowjetischen Truppen nach Korea löste bei den Amerikanern zunächst große Überraschung aus. Da die amerikanischen Hauptstreitkräfte noch auf der Insel Okinawa stationiert und nicht in der Lage waren, so schnell auf die koreanische Halbinsel überzusetzen, trafen sich die Kriegsplaner aus dem Außen-, Kriegs- und Marineministerium und beschlossen am 12. August, Korea am 38. Breitengrad zu teilen. Die Amerikaner wollten verhindern, dass die gesamte koreanische Halbinsel in die Hände der Sowjets fällt. Für den 38. Breitengrad als Teilungslinie entschieden sie sich, da diese geographische Linie gerade in der Mitte der Halbinsel lag und die Hauptstadt Seoul mit seiner Hafenstadt Inchon in der amerikanischen Zone beließ.

Dean Rusk, der als Offizier des Kriegsministeriums den Teilungsplan Koreas entwarf, beschrieb die Teilungsgeschichte in seinen Memoiren: „I retired to an adjacent room late at night and studied intently a map of the Korean peninsula. Working in haste and under great pressure, we had a formidable task: to pick a zone for the American occupation. Neither Tic nor I was a Korea expert, but it seemed to us that Seoul, the capital, should be in the American sector. We also knew that the U. S. Army opposed an extensive area of occupation. Using a National Geographic map, we looked just north of Seoul for a convenient dividing line but could not find a natural geographical line. We saw instead the thirty-eighth parallel and decided to recommend that.”65

Dieser Teilungsplan wurde zuerst vom Generalstabschef und anschließend von Präsidenten Truman genehmigt und der britischen und sowjetischen Regierung übermittelt. Stalin war mit dem amerikanischen Teilungsprogramm Koreas einverstanden, ohne Kritisches anzumerken. Die Amerikaner, die die unerwartet frühzeitige Kapitulation Japans überraschte, waren einerseits mit der sowjetischen Zustimmung zufrieden, weil sie in dieser Zeit weder konkrete Pläne noch militärische Truppen für eine Besetzung Koreas verfügbar hatten. Zu diesem Zeitpunkt war nicht ganz ausgeschlossen, dass die gesamte koreanische Halbinsel allein von den sowjetischen Truppen besetzt werden könnte. Anderseits glaubten sie wegen des sowjetischen Einverständnisses zur Teilung der koreanischen Halbinsel daran, dass die Sowjets und die Amerikaner nach der japanischen Kapitulation die Idee der internationalen Treuhandschaft in Korea realisieren könnten. Aber bei dieser Entscheidung zur Teilung und der Besatzung durch alliierte Streitkräfte wurde die ursprüngliche Vereinbarung von Jalta

65 Dean Rusk, As I Saw It, London 1991, S. 102. Vgl. Department of State (Hrsg.), Foreign Relations of the Untied States 1945 Vol.VI, Washington 1969, S. 1039. 36 über die Koreafrage, keine militärischen Fremdtruppen im befreiten Korea zu stationieren, nicht berücksichtigt. Außerdem waren nicht nur die Koreaner, sondern auch Großbritannien und China nicht an der Entscheidung beteiligt. Aus diesem Grund könnte man die Teilung wohl als „unilateral and hasty“66 bezeichnen.

Am 15 August 1945 wurde das Teilungsprogramm für die koreanische Halbinsel als „General Order No. 1“ dem General Douglas MacArthur, Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte im Pazifik, mitgeteilt. Er veröffentlichte am 2. September 1945 die „General Order No. 1.“ Darin stet as under alley: “b. The senior Japanese commanders and all ground, sea, air and auxiliary forces within Manchuria, Korea north of 38° north latitude and Karafuto shall surrender to the Commander in Chief of Soviet Forces in the Far East. (…) e. The Imperial General Headquarters, its senior commanders, and all ground, sea, air and auxiliary forces in the main islands of Japan, minor islands adjacent thereto, Korea south of 38° north latitude, and the Philippines shall surrender to the Commander in Chief, U. S. Army Forces in the Pacific.”67 Dieser militärische Befehl stellte die Grundlage für die Besatzung Koreas durch amerikanische und sowjetische Truppen entlang des 38. Breitengrads dar. Allerdings bedeutete dieser Befehl mit seinen militärischen Vorbehalten keineswegs die politische Teilung Koreas. Die Trennungslinie am 38. Breitengrad wurde provisorisch und nur zum Zweck der vorläufigen Besatzung gedacht. Die „vorläufige“ Teilung wurde jedoch von den ideologischen Auseinandersetzungen der koreanischen Politiker und die Änderung der amerikanischen und sowjetischen Machtinteressen allmählich gefestigt und schließlich durch die beiden Staatsgründungen endgültig zementiert.

Nach der „General Order No. 1“ wurde das XXIV. Korps der Amerikaner, das bis dahin auf der Insel Okinawa stationiert war, unter Führung von General John R. Hodge am 8. September 1945 als Besatzungstruppe in Korea eingesetzt. Neben der Entwaffnung und Deportation der japanischen Streitkräfte nach Japan sah es seine vorrangige Aufgabe in der Grenzabsicherung des 38. Breitengrades. Angesichts des schnellen militärischen Erfolgs der Sowjetunion und wegen ihrer zunehmend starren außenpolitischen Haltung bedeutete Grenzabsicherung hauptsächlich, die sowjetische Expansion nach Süden zu verhindern. Da die amerikanischen Besatzungstruppen Kampfeinheiten waren, die nicht auf die Übernahme einer Zivilverwaltung vorbereitet waren,68 verfügten sie über keine Kenntnisse über Korea und keine konkreten Pläne. Aber der erste militärische Besatzungsgrundsatz für die

66 Bruce Cumings, Korean’s Place in the Sun: a modern History, New York 1997, S. 187. 67 Department of State (Hrsg.), Foreign Relations of the Untied States 1945 Vol.VI, Washington 1969, S. 659. 68 Bei der Presskonferenz am 11. September 1945 gestand der General Hadge seine mangelnde Vorbereitung auf die Besatzung in Südkorea ein. 37 koreanische Halbinsel südlich des 38. Breitengrades wurde bereits einen Tag vor der Landung der Amerikaner als „Proklamation No. 1“ vom alliierten Oberbefehlshaber im Pazifik, General MacArthur, veröffentlicht: „All powers of Government over the territory of Korea south of 38 degrees north latitude and the people thereof will be for the present exercised under my authority.”69 Dieser militärische Befehl und die sich daraus ergebende Besatzung bedeutete für die Koreaner, die die Unabhängigkeit nach der Befreiung erhofft hatten, sowohl die Teilung des Landes als auch eine erneute Fremdherrschaft.

Am 12. September wurde die Amerikanische Militärregierung, die von da an bis zur Gründung der Republik Korea 1948 bestand, in Seoul eingerichtet. Damit wurde Südkorea der Autorität der Verwaltung der amerikanischen Militärregierung unterstellt. Nach der öffentlichen Erklärung von MacArthur70 beließen die Amerikaner zuerst die japanischen Verwaltungsbeamten und die ehemaligen koreanischen Kollaborateure, die unter der japanischen Herrschaft die an der Widerstandbewegung aktiv beteiligten Koreaner verfolgt und unterdrückt hatten, in ihren Ämtern, um die öffentliche Ordnung und Ruhe aufrecht zu erhalten. Diese unsensible Maßnahme der US-Militärregierung wurde bereits in dem am 4. Mai 1944 von dem „Inter-Divisional Area Committee on the Far East“ erstellten Memorandum71 erwähnt und in der späteren Direktive72 empfohlen, die am 8. September 1945 von „Joint Chiefs of Staffs“ über MacArthur an Hodge erteilt wurde. Jedoch berücksichtigten die Amerikaner nicht die möglichen psychologischen Reaktionen der Koreaner auf solche dirigistischen Maßnahmen der Besatzungsmächte nach der Befreiung.

Die Folge war ein heftiger Protest gegen die Personalpolitik der Besatzungsmacht. Infolge des massiven Widerstandes wurde der japanische Generalgouverneur Abe Nobuyuki zwar aus seinem Amt entlassen, aber die Bevölkerung hatte durch die rigide Besatzungspolitik das nationale Identifikationsgefühl verloren und das moralische Sanktionssystem war funktionslos geworden. Zudem weigerte sich die US-Militärregierung unter General Hodge von Anfang an, mit dem Führer der Volksrepublik zusammenzuarbeiten sowie die Provisorische Regierung im Exil anzuerkennen. Damit verhinderte die Amerikanische Besatzungsmacht die nach der März-Unabhängigkeitsbewegung von 1919 aus dem Wunsch des Volkes

69 Department of State (Hrsg.), Foreign Relations of the Untied States 1945 Vol.VI, Washington 1969, S. 1043. 70 In der Proklamation am 07. September 1945 besteht es: „Until further orders, all governmental, public and honorary functionaries and employees, as well as all officials and employees, paid or voluntary, of all public utilities and services, including public welfare and public health, and all other persons engaged in essential services, shall continue to perform their usual functions and duties, and shall preserve and safeguard all records and property.” 71 Department of State (Hrsg.), Foreign Relations of the United States 1944 Vol.V, Washington 1965, S. 1239- 1242. 72 Department of State (Hrsg.), Foreign Relations of the Untied States 1945 Vol.VI, Washington 1969, S. 1073- 1091. 38 hervorgegangene potentielle einheimische Regierung, die eine Chance gehabt hätte, rasch und effektiv ein eigenes koreanisches Regierungssystem zu etablieren, das vielleicht sogar das ganze Land hätte umfassen können.73

Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten trat die Sowjetunion im Norden der koreanischen Halbinsel mit einem grundlegenden Konzept auf. Nachdem die sowjetischen Truppen unter General Tschistjakow am 24. August 1945 in Pjöngjang eingetroffen waren, bildeten sie im Unterschied zur amerikanischen Besatzungsmacht74 keine Militärregierung in ihrem Besatzungsgebiet, sondern ließen die Koreaner ihre Zone selbst regieren. Auch erkannten sie Koreanisch als offizielle Sprache an. Das wesentliche Ziel ihrer Besatzungspolitik lässt sich aber in der Proklamation erkennen: „The Soviets will to the end advocate among the four powers the setting up for workers` and peasants` sovereignty.“75 Um dieses Ziel reibungslos und schnell zu erreichen, begann die Sowjetunion unter Berücksichtigung des nationalen Gefühls der Bevölkerung den bereits vor der Ankunft der sowjetischen Truppen vorhandenen „Pyongnam-Zweig des Komitees zur Vorbereitung der nationalen Unabhängigkeit“ unter der Führung von Cho Man Shik, der aufgrund seines beharrlichen und gewaltlosen Widerstandes gegen die japanische Kolonialherrschaft von den Koreanern als „Gandhi von Korea“ verehrt wurde, zum „Politischen Volkskomitee der Provinz Pyongnam“ umzugestalten.76 Danach setzte die sowjetische Besatzungsmacht Cho Man Shik an die Spitze des neuen „Politischen Volkskomitee der Provinz Pyongnam“. Diese Maßnahme bewirkte, dass viele Kommunisten in der Besatzungszone in das Politische Volkskomitee eintraten. Zur problemlosen Realisierung ihrer Besatzungspolitik nutzten die Russen nicht nur die einheimischen koreanischen Politiker, sondern auch die nach dem Annexionsvertrag vom Jahr 1910 nach Sibirien emigrierten Sowjetkoreaner, die die sowjetische Armee beim Marsch auf die koreanische Halbinsel begleiteten. Sie wurden die wichtigsten Helfer für die Regierung, die einheimischen Koreaner in der sowjetischen Zone in den Griff zu bekommen.77 Neben der sympathischen Personalpolitik unterstützte die sowjetische Besatzungsmacht die kommunistische Partisanengruppe, die vor der Befreiung Koreas unter der Führung Kim Il Seong in der Mandschurei aktiven Widerstand gegen Japan geleistet hatte. Der Partisanenführer Il-Sung Kim, der auf der Kundgebung vom 3. Oktober 1945 der Öffentlichkeit als hervorragender Nationalheld vorgestellt wurde, konnte mit sowjetischer

73 Lee Won-Myong, Zur frage der Nation und der Wiedervereinigung im geteilten Korea, Seoul 1989, S. 62f. 74 Vgl. Department of State (Hrsg.), Foreign Relations of the Untied States 1945 Vol.VI, Washington 1969, S. 1043. 75 Bruce Cumings, The Origins of the , Princeton 1981, S. 387. 76 Forschungsinstitut für Nordkorea (Hrsg.), Studie über die Politik Nordkoreas, Seoul 1979, S. 91. 77 Neue Zürcher Zeitung vom 11. Juni 1950, Sonntagsausgabe N.1220 Blatt 2. 39 Hilfe einen einflussreichen Posten in der neugegründeten koreanischen Kommunistischen Partei besetzen.

Wie sich aus der Besatzungspolitik der Sowjetunion in der Anfangsphase erkennen lässt, war sie auf eine Besatzung besser vorbereitet als die Vereinigten Staaten. Sie zeigte sich mit der Situation in Korea wesentlich besser vertraut. Dies war jedoch nichts anderes als eine politische Strategie, die rigoros zur Erfüllung ihrer Pläne angewendet wurde. Ziel war es, ein sozialistisches Regime im Nordteil der koreanischen Halbinsel zu bilden, wie es auch in den Ländern in Osteuropa und in der DDR geschehen ist. Ein Beweis dafür ist das Schicksal des Nationalisten Cho Man Shik, der Anfang 1946 das hinter der sympathischen Besatzungspolitik versteckte Ziel der Sowjetunion herausfand und sich weigerte, mit der sowjetischen Besatzungsmacht weiter zusammenzuarbeiten. Dies führte schließlich zu seiner politischen Entmachtung. Er verschwand von der politischen Bühne in Nordkorea.78

2.2.1.1.1.3. Die Moskauer Außenministerkonferenz 1945 und die Gemeinsame amerikanisch- sowjetische Kommission

Vom 16. bis 26. Dezember 1945 fand die Außenministerkonferenz der drei Großmächte USA, UdSSR und Großbritannien in Moskau statt, die nach der Aufteilung der Koreanischen Halbinsel in zwei Besatzungszonen eine Lösung der Koreafrage finden wollte. Der Hauptgrund bestand darin, dass bis dahin ein Meinungsaustausch über die Etablierung einer internationalen Treuhandschaft für Korea vorhanden war, ohne dass eine Übereinstimung über die konkreten Probleme der Nachkriegszeit in Korea gefunden war. Während dieser Moskauer Außenministerkonferenz wurde zum ersten Mal eine konkrete Konzeption der Vier-Mächte-Treuhandschaft über Korea ausgearbeitet. Das sowjetische Konzept wurde von den drei Außenministern in einer leicht modifizierten Form angenommen und am 27. Dezember bekannt gegeben. Im Beschluss stand vor allem, dass eine provisorische koreanische Regierung auf der Basis der Demokratie gebildet werden sollte. Außerdem sollte eine gemeinsame Amerikanisch-Sowjetische Kommission errichtet werden, die sich bei der Bildung der provisorischen Regierung mit den demokratischen Parteien und den

78 Vgl. Kim Youn-Soo, Der Nationalismus in Nordkorea als eine Möglichkeit für die friedliche Wiedervereinigung Koreas, Kiel 1968, S. 96-99. 40 gesellschaftlichen Organisationen in Korea berät. Schließlich sollte die Treuhandschaft der Großmächte USA, Sowjetunion, Großbritannien und China höchstens fünf Jahre dauern.79

Trotz der Vereinbarungen der drei Außenminister ließ sich die Treuhandschaft für Korea aber nicht realisieren, weil die Übereinkunft ohne Teilnahme der Koreaner getroffen wurde, die die Volksmeinung über die Treuhandschaft hätten vertreten können. Die Folge davon war Protest gegen die geplante Treuhandschaft im ganzen Land.80 Vertreter aller Parteien, darunter zunächst auch noch die Kommunisten, betrachteten mit tiefem Misstrauen die gemeinsame Fremdverwaltung als Parallele zum japanischen Kolonialismus und wiesen daher die internationale Treuhandschaft grundsätzlich zurück. Außerdem eskalierte zu dieser Zeit angesichts der Osteuropafrage allmählich der Konflikt zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten. Eine Zusammenarbeit zwischen den zwei Großmächten wie im 2. Weltkrieg und zu Beginn der Nachkriegzeit war kaum zu erwarten.

Diese Spannungen zeigten sich auch bei den Verhandlungen der „Gemeinsamen amerikanisch-sowjetischen Kommission“, die gemäß des Beschlusses der Moskauer Außenministerkonferenz und der Vereinbarung der militärischen Vertreterkonferenz81 in der Zeit zwischen dem 20. März und dem 8. Mai 1946 unter der Leitung der Generale Archibald V. Arnold und Terentij Shitikow in Seoul stattfand. Das Ziel der gemeinsamen amerikanisch- sowjetischen Kommission war die Einigung über grundsätzliche Fragen, die zur Bildung der provisorischen demokratischen Regierung in Korea zu klären waren. Aber bereits bei der ersten Sitzung der Kommission bestand keine Einigkeit in der Frage, von welchen demokratischen Parteien und gesellschaftlichen Organisationen im Sinne der Moskauer Übereinkunft die provisorische koreanische Regierung gebildet werden sollte.

79 Department of State (Hrsg.), Foreign Relations of the Untied States 1945 Vol.II, Washington 1969, S. 820. und Department of State (Hrsg.), Foreign Relations of the Untied States 1945 Vol.VI, Washington 1969, S. 1150f. 80 Unter dem Titel “Koreans angered by trusteeship” berichtete New York Times am 31. Dezember 1945 die damalige Situation in Korea folgendermaßen: “The announcement from Moscow that the Foreign Ministers of Russia, Great Britain and the United States agreed upon a period of “trusteeship” for Korea, not to exceed five years, has been greeted here with a rising tide of disappointment, chagrin, anger and finally violence.” Aus: New York Times vom 31.12.1945 S. 1. Emmons, ein Beamter des US-Außenministeriums im Büro der politischen Beraters in Seoul, beschrieb am 30. Dezember 1945 auch: „News released concerning results of recent Moscow conference respecting Korea have caused strong and widespread Korean reaction varying from depression and disillusionment to anger and open defiance.” Aus: Department of State (Hrsg.), Foreign Relations of the Untied States 1945 Vol.VI, Washington 1969, S. 1152f. 81 Diese Konferenz fand vom 16. Januar 1946 bis 05. Februar 1946 in Seoul statt. Die Vertreter beiden Seiten vereinbarten, dass die Gemeinsame Kommission aus den zehn Mitgliedern bestehen soll, der jeweils fünf Mitglieder der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten angehören. Zudem sollten die Verhandlungen innerhalb eines Monats nach dem Ende der militärischen Vertreterkonferenzarbeit in Seoul aufgenommen werden. in: Department of State (Hrsg.), Foreign Relations of the Untied States 1946 Vol.VIII, Washington 1971, S. 633- 637. 41 „The Soviet Union has a keen interest in Korea being a true democratic and independent country friendly to the Soviet Union so that in future it will not become a base for an attack on the Soviet Union. (…) Russia is a close neighbor to Korea, and because of it is interested in establishing in Korea a provisional democratic government which would be loyal to the Soviet Union.”82 Diese Stellungnahme brachte der Delegationschef der sowjetischen Seite, General Shitikow, bei der Verhandlung ein. Dabei forderte er die Ausklammerung der aktiv an der Protestbewegung gegen die Treuhandschaft beteiligten Politiker und Parteien von der Bildung der provisorischen Regierung. Daraus trat die Absicht der Sowjetunion deutlich zutage: Sie strebte nach der Bildung einer kommunistisch kontrollierten prosowjetischen Regierung in Korea.

Im Gegensatz zur sowjetischen Position bestanden die Amerikaner darauf, dass Vertreter aller politischen und sozialen Gruppen das Recht auf die Teilnahme an der Beratung zur Bildung der provisorischen Regierung Koreas hätten: “Any party representative who had expressed criticism of trusteeship should be considered an opponent of the Moscow decision and should be ineligible for consultation in forming the new Korean Provisional Government.”83 Aufgrund des großen Meinungsunterschieds zwischen der Sowjetunion und den USA waren die Verhandlungen allmählich in eine Sackgasse geraten. Deshalb wurden sie nach 24 Sitzungen ohne positive Ergebnisse beendet. Im Grunde konnte man in der Koreafrage keine befriedigende Vereinbarung zwischen den beiden Großmächten erhoffen, weil sie die Entscheidung über die Teilnahmebedingungen als eine Vorentscheidung über die politische Zusammensetzung einer künftigen provisorischen koreanischen Regierung betrachteten. Beide wollten auf ihre eigene grundlegende Überzeugung nicht verzichten, und gleichzeitig versuchten sie, bei den Verhandlungen die eigene Meinung gegen die andere Meinung durchzusetzen.

Auch der zweiten Konferenz der Gemeinsamen Kommission, die am 21. Mai 1947 in Seoul zustande kam, war aufgrund der sich weiter verhärtenden Verhandlungspositionen ebenfalls kein Erfolg beschieden. Dass diese Verhandlungen mit einem gewissen Mangel an Ernsthaftigkeit oder zumindest begleitet von einer skeptischen Einschätzung der Erfolgsaussichten einer gesamtkoreanischen Lösung geführt wurden, verdeutlicht die Tatsache, dass sowohl die USA als auch die Sowjetunion an der Konkretisierung ihrer

82 Klaus Rodenberg, Problemstrukturen der Teilung Koreas im Spannungsverhältnis von Konfrontation und Dialog: Eine Analyse der internationalen Entwicklungen und bilateralen Verhandlungen zwischen Nord- und Südkorea unter besonderer Berücksichtigung der multipolaren Konstellation in Ostasien im Zeitraum von 1970- 1977, S. 21f. 83 U. S. War Department, Summation of United States Army Military Government Activities in Korea, Washington D.C. 1946, S. 4. Hier zittert nach: Yang Hyun-Mo, S. 115. 42 tatsächlichen Absicht, Systeme nach ihrem Vorbild zu schaffen, zielstrebig weiterarbeiteten.84 Insofern war das Scheitern der Gemeinsamen Kommission wegen der tiefen Interessensgegensätze der beiden Großmächte in Korea vorprogrammiert.

2.2.1.1.2. Die politische Lage der koreanischen Nation 2.2.1.1.2.1. Die Auseinandersetzung der politischen Kräfte nach der Befreiung Nach der Befreiung des Landes bemühten sich die Koreaner in Euphorie um die Schaffung eines unabhängigen Nationalstaates. In der Hauptstadt Seoul wurde unter der Führung des linksorientierten Nationalisten Lyuh Woon Hyong das „Komitee zur Vorbereitung der Staatgründung (KzVS)“ als überparteiliche Organisation aus Vertretern der Rechten und der Linken gegründet.85 Am 25. August 1945 verkündete das Komitee das Manifest, das die absolute Unabhängigkeit Koreas und die Einrichtung einer wahrhaften Demokratie sowie die Sicherung des Lebensstandards durch die Wahrung der sozialen Ordnung beinhaltete.86 In Folge der politischen Aktivitäten und der massiven Unterstützung des Volkes entstanden bis Ende August 1945 rund 145 Zweigstellen des Volkskomitees und 162 Sicherheitsgarden87 im ganzen Land, die unter direkter Führung des KzVS aufgestellt wurden. Das Komitee war in der Zeit zwischen der Kapitulation Japans am 15. August und der Landung der amerikanischen Besatzungstruppen am 8. September 1945 die einzige politische Kraft auf der ganzen koreanischen Halbinsel.88

Trotz der erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen den Linken und Rechten gab es einen Machtkampf um die politische Hegemonie im KzVS. Die führenden Mitglieder waren in erster Linie gleich gesinnte Intellektuelle, die meistens links bzw. kommunistisch orientiert waren. Der bekannte Nationalist An Jae-Hong, der am Anfang als Vertreter der Rechten für das Amt des Vizevorsitzenden des KzVS gewonnen wurde, versuchte mit großer Mühe, die einseitige Führungsrolle der linken Kräfte einzudämmen, indem er stets die Aufnahme vieler

84 Klaus Rodenberg, Problemstrukturen der Teilung Koreas im Spannungsverhältnis von Konfrontation und Dialog, Ebenhausen/Isar 1980, S. 22. 85 Am 16. August 1945 machte der Vizevorsitzende des KzVS, An Jae-Hong, über den Rundfunk die Gründung des KzVS und dessen Aufgaben bekannt. 86 Wiedervereinigungsministerium (Hrsg.), Dreißigjährige Geschichte des Wiedervereinigungsministeriums, Seoul 1999, S. 16. 87 Z. B. bestand die in Seoul gegründete Sicherheitsgarde überwiegend aus Hochschulstudenten, Lehrern von Gymnasien und geeigneten jungen Leuten. Sie bewältigte ihre Aufgabe problemlos, die Ordnung und Sicherheit in der Hauptstadt aufrechtzuerhalten und die polizeiliche Gewalt von den japanischen Polizisten zu übernehmen. 88 Wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft für die koreanische Geschichte (Hrsg.), Die Vorlesung der koreanischen Geschichte, 1990 2.Auf. Seoul, S. 362. 43 Nationalisten in das Führungsgremium des KzVS anstrebte. Aber aufgrund der zunehmenden Verbreitung des kommunistischen Einflusses unter der Führung Park Heon Yeongs auf das Komitee traten die Nationalisten unter der Führung An Jae Hongs aus.89 Trotz des Rücktritts von An und seinen Gefolgsleuten berief das KzVS am 6. September 1945 die repräsentative Nationalversammlung ein, an der Tausende Vertreter aus dem südlichen Teil der koreanischen Halbinsel beteiligt waren. Am gleichen Tag proklamierte das Komitee die Gründung der „Volksrepublik Choseon (VR)“.

Ungeachtet der heftigen ideologischen Auseinandersetzungen zwischen dem Nationalismus und dem Kommunismus und des zwischen ihnen anhaltenden Machtkampfes um die politische Vorherrschaft innerhalb des Komitees ist es aber eine unumstrittene Tatsache, dass das KzVS nach der Befreiung durch eine enge Zusammenarbeit zwischen Nationalisten und Kommunisten ins Leben gerufen wurde und vor der amerikanischen Besatzung als erstes versucht hat, demokratisch legitimiert in Selbstregierung die Funktionen des in Desintegration begriffenen kolonialen Verwaltungsapparates zu übernehmen.

Am 14. September 1945 gab das zentrale Volkskomitee der VR offiziell das politische, wirtschaftliche und soziale Programm und die Mitglieder der Regierung bekannt, die aus 14 Ministern90 bestand. Das Programm beinhaltete die Beschlagnahmung der Ländereien und Besitztümer von Japanern und nationalen Verrätern sowie die kostenlose Verteilung von Ackerboden an die Bauern. Es versicherte die allgemeinen bürgerlichen Freiheiten, die soziale Gleichheit und die freie Volkswirtschaft.91

Auch in Nordkorea wurde der „Pyongnam-Zweig des Komitees zur Vorbereitung der Staatsgründung“ unter der Führung von Cho Man Shik am 17. August 1945 gegründet. Cho Man Shik, der einer der prominentesten Nationalisten in Nordkorea war, führte durch enge Zusammenarbeit mit den einheimischen Kommunisten92 die mühsame Arbeit aus, die administrative Macht von der japanischen Herrschaft zu übernehmen und die politische Ordnung und die öffentliche Sicherheit im Nachkriegsnordkorea zu bewahren. Nach dem

89 Er kritisierte die Intoleranz der Linken, die die Erweiterung des KzVS für alle politischen Kräfte verhindert hatten. Für ihn war die provisorische Regierung im Exil die einzige politische Institution, auf deren Grundlage die neue Regierung geschaffen werden sollte. Darüber hinaus lehnte er entscheidend die Gründung der Volksrepublik ab. 90 Wichtige Posten wurden von folgenden prominenten Personen besetzt: Premierminister wurde Ho Hon, Innenminister Kim Ku (KPR – koreanische provisorische Regierung in China), Außenminister Kim Kyu Shik (KPR), Verteidigungsminister Kim Won Bong (KPR), Finanzminister Cho Man Shik (KzVS in Nordkorea), Justizminister Kim Byong Ro (DP – Demokratische Partei) und Erziehungsminister Kim Seong Soo (DP). 91 Kim Byung-Ung, Nationalismus und Großmachtpolitik. Das Dilemma des Nationalismus in Korea unter der US-Militärbesetzung 1945-1948, München 1981, S. 111. 92 In Nordkorea war bereits eine einheimische und kommunistische Gruppe unter der Führung Hyuk Hyun Juns vorhanden, der das damalige Korea als noch in der Stufe einer bürgerlich-demokratischen Revolution befindlich ansah. 44 Eintreffen der sowjetischen Besatzungsmächte wurde das Komitee zum „Politischen Volkskomitee der Provinz Pyongnam“ umgestaltet, bei dem Cho zum Vorsitzenden gewählt wurde. Diese Umschaltung war die Gelegenheit für die koreanischen Kommunisten, auf der politischen Bühne zu erscheinen.

Zu diesem Zeitpunkt gab es in der sowjetischen Besatzungszone drei unterschiedliche kommunistische Gruppen, die während der Kolonialzeit aktiven Widerstand gegen Japan geleistet hatten. Nach der Befreiung kehrten sie nach Korea zurück, um zur Gründung des unabhängigen Nationalstaats beizutragen. Die erste Gruppe war die so genannte „prosowjetische Gruppe“ unter der Führung Kim Il Seong. Diese Personen waren meistens in der Kolonialzeit in der Sowjetunion im Exil und hatten einen vertrauten Kontakt mit den Russen. Die zweite Gruppe der Kommunisten war die „Yenan-Gruppe“. Diese Kommunisten hatten in der Mandschurei und in China den Befreiungskrieg gegen das imperialistische Japan geführt. Hauptfigur dieser Gruppe waren General Mu Chong und Kim Du Bong. Die letzte Gruppe war die „einheimische Gruppe“ die unter der Führung Hyun Jun Hyuk stand und mit den südkoreanischen Kommunisten unter der Führung Park Hon-Yong eng verbunden war.93

Im Grunde genommen gab es, in der Zeit von der Befreiung Mitte August bis zur Besetzung durch sowjetische und amerikanische Truppen einen stürmischen Aufschwung des Nationalismus und eine hohe Welle der politischen Bewegung und der Aktivitäten. In diesem Zeitraum schossen viele politische Organisationen und Parteien wie Pilze aus der Erde. Nach den Angaben der amerikanischen Militärregierung Anfang November 1945 erreichte die Zahl der politischen Parteien und Organisationen, die in der Besatzungsbehörde ordentlich registriert waren, etwa 250. Während der amerikanischen Besatzung waren die rechtsorientierte Koreanische Demokratische Partei (KDP), die Kommunistische Partei Koreas (KPK) sowie die Koreanische Nationale Partei (KNP) und die Chosun Volkspartei (CV) aktiv politisch tätig. Diese politischen Gruppen hatten Dissens in den Fragen der Ideologie der Gründung eines unabhängigen Staates, dem Vorgehen gegenüber koreanischen Kollaborateuren und der Bodenreform. Die amerikanische Militärregierung unterstützte jedoch die rechtsorientierten und proamerikanischen Kräfte unter der Leitung Rhee Syng Mans, der im Oktober 1945 vom Exil in den USA nach Korea zurückkehrte. Neben Rhee Syng Man gewann die rechtsorientierte KDP unter der Führung Kim Seng Soos auch schrittweise an politischer Bedeutung. Im Gegensatz zur politischen Entwicklung in Südkorea in Richtung rechts wurde die politische Macht in Nordkorea allmählich in der

93 Vgl. Yang, a. a. O., S. 125f. sowie Kim Youn-Soo, a. a. O., S. 87-90 und Department of State (Hrsg.), Foreign Relations of the Untied States 1946 Vol.VIII, Washington 1971, S. 640. 45 kommunistischen und prosowjetischen Gruppe unter der Führung Kim Il Seongs mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht konzentriert.

2.2.1.1.2.2. Die Widerstandsbewegung gegen die internationale Treuhandschaft

Nachdem der Moskauer Abschluss der internationalen Treuhandschaft bekannt worden war, geriet ganz Korea in eine heftige Protestbewegung, von der General Hodge bereits vorher aus Überzeugung gewarnt hatte.94 Die Frage der von den Alliierten jahrelang geplanten Treuhandschaft rief im ganzen Land Protest hervor und wurde sofort zum heiklen Thema der politischen Auseinandersetzungen in ganz Korea.

Vor allem in der amerikanischen Besatzungszone gingen die Wellen des Protestes hoch: Bereits am 29. Dezember 1945, einen Tag nach der Veröffentlichung der Moskauer Vereinbarung, wurde das „Nationale Widerstandskomitee gegen die Treuhandschaft“ auf Initiative der Provisorischen Regierung der Republik Korea unter der Führung Kim Kus in Seoul gegründet. In ihm waren alle politischen Parteien und gesellschaftlichen Organisationen in Südkorea beteiligt. Kim Ku, der Führer der sogenannten Koreanischen Provisorischen Regierung (KPR), forderte mit einem Schreiben an die Alliierten: „Sowohl für die unmittelbare Unabhängigkeit von Korea als auch für den Weltfrieden erklären wir hiermit im Voraus unsere Position der Nichtkooperation bei der besagten Treuhandschaft. Wir fordern dringend ihr unmittelbares Überdenken.“ 95

Darüber hinaus gab es am 30. Dezember in Seoul eine große Massendemonstration mit einer nationalen Kundgebung. Da verlangte man leidenschaftlich und heftig von den Alliierten die fünf folgenden Punkte: Erstens müsse die Barriere des 38. Breitengrades als Trennungslinie beseitigt werden. Zweitens müssten die amerikanischen und sowjetischen Streitkräfte aus Korea abgezogen werden. Drittens müsse die provisorische Regierung der Republik Korea anerkannt werden. Viertens müssten die zwei Großmächte die klare Erklärung abgeben, auf die Treuhandschaft über Korea zu verzichten. Schließlich müssten die Alliierten ihre Versprechen bezüglich vollständiger Unabhängigkeit Koreas einhalten.96 Die

94 Hodge berichtete bereits vor der Konferenz der Moskauer Außenminister von den heftigen Gefühlen der Koreaner gegen die Treuhandschaft folgendermaßen: „In den Augen aller Koreaner hängt die Treuhandschaft wie ein Damoklesschwert über ihnen. Wenn sie jetzt oder in Zukunft getäuscht werden, ist aller Wahrscheinlichkeit nach anzunehmen, dass sie wirklich und physisch revoltieren werden.“ in: U. S. Department of State (Hrg.), Foreign Relations of Untied States 1945 Vol.VI, Washington 1969, S. 1146. 95 Department of State (Hrsg.), Foreign Relations of the Untied States 1945 Vol.VI, Washington 1969, S. 1154. 96 Lee Ho-Je, Ideal und Realität der Außenpolitik Koreas. Rhee Syng Mans Diplomatie und die Vereinigten Staaten, 4.Aufl., Seoul 1980, S. 167. hier zitiert nach Lee Won-Myong, S. 66. 46 Widerstandsbewegung breitete sich im ganzen Land aus, alle nationalistischen Kräfte schienen wieder im nationalen Geist eine einheitliche Position in der nationalen Frage zu demonstrieren. Dem Aufruf zum Widerstand folgend legten alle Beamten und Angestellten der öffentlichen Institutionen sofort ihre Arbeit nieder. Sämtliche Vorsteher der acht Polizeibehörden in Seoul reichten geschlossen der US-Militärregierung ihre Rücktrittsgesuche ein, und alle Polizisten verweigerten den Dienst.97 Nicht nur der öffentliche Bereich protestierte. Auch schlossen die Geschäftsleute ihre Läden, Märkte und Lokale, um den alliierten Plan zu verweigern.

Während sich die große Mehrheit der Koreaner der Treuhandschaft gegenüber ablehnend verhielt, votierten die Kommunisten, die anfangs an der Widerstandsbewegung gegen die Moskauer Entscheidung beteiligt waren und sogar die gleichberechtigte Teilnahme am Führungsausschuss des Nationalen Widerstandskomitees gegen die Treuhandschaft gefordert hatten, für diesen alliierten Plan. Um ihren raschen Meinungswechsel für die Treuhandschaft zu rechtfertigen, beriefen die Kommunisten am 10 Januar 1946 eine Versammlung der Vertreter der regionalen Volkskomitees ein und verkündeten ihre Unterstützung des Moskauer Abkommens. Danach weigerten sie sich weiterhin, bei der Widerstandsbewegung gegen die Treuhandschaft mitzuwirken.98 Sie waren die einzige politische Kraft in der amerikanischen Besatzungszone, die sich für die Treuhandschaft einsetzte.99 Jedoch konnten die Kommunisten bei der Bevölkerung kein Verständnis für ihre neue Position finden. Sie verloren nicht nur ihr politisches Ansehen, sondern auch viele ihrer Anhänger.

Im Grund wurde bei der Protestaktion ganz klar und deutlich gezeigt, dass ein gravierender Unterschied zwischen dem alliierten Plan einer Zukunft Koreas mit einer Phase internationaler Treuhandschaft und dem nationalen Verlangen der Koreaner nach baldiger Unabhängigkeit ihres Landes bestand. Dies ist darauf zurückzuführen, dass den Koreanern nicht die Frage gestellt wurde, welche Vorstellungen über die Zukunft ihres Landes sie haben. Mit anderen Worten: Die Alliierten entschieden für das Schicksal der koreanischen Halbinsel enorm einseitig, ohne die Meinungen und die nationalen Gefühle der Koreaner zu berücksichtigen.

97 Kim Byung-Ung, a. a. O., S. 197. 98 Department of State (Hrsg.), Foreign Relations of the Untied States 1946 Vol.VIII, Washington 1971, S. 615. 99 Vgl. Kim Byung-Ung, a. a. O., S. 201-208. 47 2.2.1.1.2.3. Die Vereinigungsbewegung zwischen der Linken und Rechten Unter dem Umstand, dass die Verhandlungen der Amerikanisch-Sowjetischen Kommission keine positiven Aussichten zur Gründung der Provisorischen Regierung zeigten, wurden die politischen Kräfte im Süden polarisierten und es spitzten sich die politischen Auseinandersetzungen zwischen der Linken und der Rechten immer mehr zu. Gleichzeitig wurde die Teilung zwischen dem Norden und dem Süden allmählich konsolidiert. Nach der umstrittenen Rede in Jengub100 strebte Rhee Syng Man, der von der amerikanischen Militärregierung volle Unterstützung bekam, die Gründung einer Provisorischen Regierung nur im Süden an. Von da an spaltete sich die politische Meinung in der amerikanischen Besatzungszone über die Provisorische Regierung Koreas. Die proamerikanische und extrem antikommunistische Gruppe „Zentrales Verhandlungskomitee zur Förderung der Unabhängigkeit(ZVFU)“ war die erste und einzige politische Gruppe im Süden, die für die Provisorische Regierung nur im Süden Koreas plädierte. Außerdem gab im Mai 1946 die amerikanische Militärregierung aus Anlass der illegalen Arbeit von Kommunisten den Befehl, die Unterdrückung an den Kommunisten zu verstärken und aktiv führende Mitglieder der kommunistischen Partei zu verhaften. Die KDP, die mit dem ZVFU zusammen arbeitete, stand der militärischen Regierung mit der Aufforderung bei, sofort die kommunistische Partei aufzulösen. Ungeachtet der sich verschärfenden politischen Lage wurde der Versuch unternommen, die einzige Regierung Koreas dadurch zu konstituieren, dass sich die Linke und Rechte vereinigten. Dieser Versuch wurde in der damaligen politischen Situation als notwendig betrachtet, denn die Vereinigung zwischen der Linken und der Rechten im Süden sollte die erforderliche Voraussetzung für die Schaffung einer einzigen Regierung auf der koreanischen Halbinsel erfüllten. Darüber hinaus wurde es für möglich gehalten, dass ohne eine solche Vereinigung ein harmloser politischer Konflikt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der Linken und der Rechten eskalieren könnte. Zudem wurde diese Bewegung von der amerikanischen Militärregierung unterstützt, weil sie hoffte, durch diesen Weg die politische und ideologische Auseinandersetzung zu mildern und die politische Sicherheit in ihrer Zone zu gewinnen. Ende Juli 1946 wurde das „Gemeinsame Komitee der Linken und Rechten“ durch die Verhandlungen zwischen dem rechtsorientierten Kim Kyu Sik und dem linksorientierten Lyuh Woon Hyong gegründet. Am 04. Oktober 1946 erzielte das Komitee trotz der

100 Am 03. Juni 1946 äußerte er sich zum ersten Mal in der kleinen Stadt wie folgt: „Lasst uns eine provisorische Regierung allein im südlichen Teil Koreas bilden“ 48 Meinungsunterschiede über die Bodenreform und dem Vorgehen gegenüber den Kollaborateuren Übereinstimmungen auf Basis der folgenden sieben Grundlinien: 1. Gemäß der Moskauer Entscheidung, die Korea Demokratie und Unabhängigkeit garantiert hat, wird die demokratische provisorische Regierung durch die Links- Rechts-Koalition zwischen Nord und Süd gebildet, 2. Forderung nach der Wiedereröffnung der Gemeinsamen Kommission, 3. Landreform nach einem detaillierten Plan (Beschlagnahmung der japanischen Ländereien ohne Entschädigung, kostenlose Verteilung von diesem an die landlosen Bauern und Beschlagnahmung der Ländereien der koreanischen Großgrundbesitzer gegen angemessene Entschädigung), Verstaatlichung der wichtigen Industrien, Sozialgesetze, Sozialreformen und lokale Selbständigkeit, 4. Bestrafung der projapanischen Elemente und Nationalverräter durch ein Gerichtsverfahren, 5. Befreiung der politischen Gefangenen und Unterbindung des politischen Terrors, 6. Bildung einer legislativen Körperschaft durch das Koalitionskomitee und 7. absolute Garantie der Freiheit der Presse, der Meinung, der Versammlung, der Wahl und Freizügigkeit im ganzen Lande.101 Aber diese Bestrebung fand in der Bevölkerung keine positiven Resonanz, so dass sich aus diesem Versuch keine politische Massenbewegung mit großer Basis entwickelte, weil diese politischen Bemühungen um die Vereinigung nicht über die Überzeugungskraft verfügten, die Bevölkerung zur Zustimmung der vereinigten Volksbewegung zu bringen. Daher konnte der etwas wagende Versuch der Vereinigung zwischen der Linken und der Rechten nicht erfolgreich werden. Schließlich wurde das Komitee aufgelöst, nachdem einer der Begründer des Komitees, Lyuh Woon Hyong, durch ein Attentat ermordet worden war. Trotz des Scheiterns des Komitees bestand die Bedeutung der neuen politischen Bewegung darin, dass unter allen schwierigen Umständen versucht wurde, einen neuen Weg zur Gründung eines unabhängigen Staates Korea zu finden. Der Entwicklungsprozess der Teilung Koreas in der Periode von 1945 bis 1948 zeigt deutlich, dass das Schicksal Koreas eher von den äußeren Kräften bestimmt worden ist als von den inneren. Es ist freilich nicht zu übersehen, dass die politische Spaltung der inneren Kräfte bei der Teilung der Nation auch eine Rolle spielte. Dies stand jedoch im Zusammenhang mit der Koreapolitik der USA bzw. der UdSSR. Der Antagonismus zwischen den radikalen Linken und den Ultra-Rechten, d.h. der prosowjetischen Gruppe um Kim Il Seong und der

101 Kim Byung-Ung, a. a. O., S. 305f. 49 proamerikanischen, antikommunistischen Gruppen um Rhee Syng Man, war schließlich nichts anders als eine Widerspiegelung des ideologischen Gegensatzes zwischen den USA und der UdSSR. 102

2.2.1.1.3. Die Gründung der zwei Staaten in einer Nation 2.2.1.1.3.1. Die Resolution über die Koreafrage in den Vereinten Nationen Nach dem Scheitern der „amerikanisch-sowjetischen Gemeinsamen Kommission“ schlug die Regierung Truman am 26. August 1947 der Sowjetunion vor, die Koreafrage der Vieraußenministerkonferenz zu überweisen. Nach der Ablehnung durch die Sowjetunion beschlossen die Amerikaner im Herbst 1947, die Koreafrage in die Verantwortung der Vereinten Nationen zu übertragen, die damals mehr oder weniger unter starkem Einfluss der Vereinigten Staaten standen. Von diesem Zeitpunkt an wurde über die Zukunft der koreanischen Halbinsel und der koreanischen Nation nicht mehr von den zwei Großmächten, sondern von der Vereinten Nationen beraten.

Nach der Übertragung der Koreafrage auf die Vereinten Nationen wurde zum ersten Mal in der Vollversammlung der Vereinten Nationen beraten, wie die Koreafrage gelöst werden sollte. Trotz der vehementen Renitenz der Sowjetunion und den mit ihr verbündeten Staaten beschloss die UN-Vollversammlung am 14. November 1947 die folgende Resolution: Die geheimen und proportionalen Wahlen sollen unter Aufsicht der aus 9 Ländern bestehenden ‚Provisorischen Kommission’ im Nord- und Südgebiet des Landes durchgeführt werden, um eine Nationalversammlung zu bilden, die so bald als möglich zusammentreten und eine Nationalregierung von Korea errichten soll.103 Aber diese Resolution wurde aufgrund der verschärften Konstellation zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion nicht in die Tat umgesetzt. Andrej Gromyko, der Delegierte der Sowjetunion bei der UNO, kündigte nach der Veröffentlichung der UN-Resolution an, dass die so genannte ‚Korea-Kommission’ keine Einreise in die sowjetrussisch besetzte Nordzone des Landes erhalten könne. Damit blockierte die Sowjetunion eindeutig, die Wahlen im ganzen Land durchzuführen und einen einheitlichen Staat auf der koreanischen Halbinsel zu gründen.

Trotz der heftigen Einheitsbestrebungen der koreanischen Nation nach freien Wahlen in ganz Korea wurden die Wahlen am 10. Mai 1948 unter Aufsicht der UNO-Kommission nur im

102 Lee Won-Myong, a. a. O., S. 74. 103 Raymond Dennett, Robert K. Turner (Hrsg.), Documents on American Foreign Relations Vol. IX, New York 1976, S. 121f. 50 Süden abgehalten, um die verfassungsgebende Nationalversammlung zu bilden. Nach den Wahlen wurde der proportionale Anteil von 100 nordkoreanischen Vertretern in der Nationalversammlung frei gelassen. Am 17. Juli wurde die erste demokratische Verfassung mit präsidialem System in Kraft gesetzt. Nach der neuen Verfassung wurde der Präsident Rhee Syng Man von der Nationalversammlung gewählt. Danach wurde am 15. August der demokratische Staat „Republik Korea“ gegründet. Die Resolution der UNO am 26. Februar 1948, die Wahlen nur in der amerikanischen Besatzungszone abzuhalten, rief heftige Auseinandersetzungen innerhalb der politischen Bewegung in Südkorea hervor. Neben der Linken stellten sich die Rechten gegen den Beschluss der UNO und forderten zu Verhandlungen mit den nordkoreanischen Kommunisten auf. Sie riefen die „Süd-Nord-Verhandlungsgruppe“ ins Leben und waren an der „Konferenz von Parteien und Organisationen aus dem Norden und dem Süden“ in Pjöngjang beteiligt, die von der Partei der Arbeit Nordkoreas einberufen wurde. Aus dieser Nord-Süd-Konferenz erfolgte zwar kein positives Resultat, das die unterschiedliche Gruppe zur Einheit führen konnte, weil die Kommunisten die Konferenz als eine Gelegenheit zur Rechtfertigung ihrer bisherigen Koreapolitik benutzen wollten. Jedoch lehnten die Teilnehmer die bevorstehenden Wahlen in Südkorea grundsätzlich ab. Die einzige befürwortende Gruppe war die proamerikanische Gruppe unter der Führung Rhee Syng Mans, der sich bereits seit Ende des Jahres 1946 dafür eingesetzt hatte.

2.2.1.1.3.2. Die Gründung der Republik Korea (RK) und der Demokratisch Volksrepublik Korea (DVRK) Trotz der heftigen Widerstände und blutigen Unruhen wurde die Nationalversammlungswahl am 10. Mai 1948 unter Aufsicht der Vereinten Nationen nur im Süden abgehalten. Nach den Wahlen gab es eine konservative Mehrheit in der Versammlung, da die Linke aus Protest verweigerte, an den Wahlen teilzunehmen. Am 31. Mai 1948 traten die gewählten 198 Vertreter in Seoul zu ihrer ersten Sitzung der Nationalversammlung zusammen und wählten Rhee Syng Man zu ihrem Vorsitzenden. Es war auffallend, dass hundert Sitze der Nationalversammlung für die später zu wählenden Vertreter aus dem Norden offen gehalten wurden. Mit dieser bemerkenswerten Maßnahme signalisierte die Nationalversammlung in erste Linie, dass die durch die Wahl einberufene Nationalversammlung allein den Anspruch hatte, ganz Korea zu vertreten. Danach verabschiedete sie die Verfassung der Republik Korea, die am 17. Juli 1948 in Kraft trat. Am 20. Juli wählte die Nationalversammlung Rhee Syng

51 Man zum Präsidenten der Republik Korea. Am 15. August 1948, also am dritten Jahrestag der nationalen Befreiung, wurde Rhee als erster Staatspräsident in der Nationalversammlung vereidigt und die Republik Korea offiziell gegründet. Am selben Tag erklärte die US- Militärregierung, dass die Regierungsgewalt nun an die frei gewählte neue Regierung übergeben werde. Damit kam die amerikanische Besatzungszeit im Süden zu ihrem Ende. Parallel hierzu kam es im Norden zur Staatsgründung. Im August 1948 kündigte der Provisorische Volksausschuss Wahlen zu einer in Pjöngjang zusammenzutretenden Obersten Volksversammlung an. Die Wahlen für die 572 Sitze der Obersten Volksversammlung wurden am 25. August 1948 abgehalten. Die Kommunisten behaupteten, dass die Wahlen insgeheim auch in Südkorea stattgefunden hätten. Am 3. September verabschiedete die Oberste Volksversammlung eine Verfassung nach dem Vorbild der Sowjetunion und proklamierte am 9. September die Demokratische Volksrepublik Korea (DVRK). Kim Il Seong wurde zum Ministerpräsidenten der ersten Regierung der DVRK gewählt. Damit hatte in Korea der Prozess der militärischen und politischen Spaltung auch seinen staatsrechtlichen Ausdruck gefunden. Die Regierung der Republik Korea wurde bis November 1949 von mehr als 25 westlichen Staaten einschließlich der USA als „einzige legitime Regierung in Korea“ anerkannt. Die Sowjetunion und andere Ostblockstaaten gewährten dagegen nur der DVRK die diplomatische Anerkennung. Aus bisheriger Darstellung lässt sich zusammenfassend behaupten, dass das Schicksal der koreanischen Halbinsel im Teilungsprozess eher von äußeren Umständen als von den inneren besiegelt wurde. Man darf aber nicht übersehen, dass die scharfen ideologischen Auseinandersetzungen zwischen der Rechten und den Linken und die daraus sich ergebenden historischen Ereignisse, die mehr oder weniger die antagonistische Weltanschauung zwischen dem Kommunismus und dem Kapitalismus widerspiegelten und schließlich zur politischen Spaltung der inneren Kräften führten, die Überwindung der nationalen Teilung erschwerten. Durch die Teilung Koreas und den darauf zurückzuführenden Koreakrieg wurde die koreanische Halbinsel unerwünscht zum Pulverfass, das Frieden und Sicherheit zwischen den Weltvölkern in Gefahr brachte. Im Gegensatz zu den zwei deutschen Staaten vor der Wiedervereinigung sorgte die stagnierende Situation der Teilung Koreas nach wie vor dafür, dass Korea ein Krisengebiet der internationalen Politik blieb.

52 2.2.1.2. Die Wiedervereinigungspolitik der zwei koreanischen Staaten (1948-1998) Seit 1948 stehen sich auf der koreanischen Halbinsel zwei Staaten gegenüber, die unterschiedliche politische Ideologien haben und die sich in direktem Systemwettbewerb miteinander befinden. Nach den Staatsgründungen 1948 strebten die Regierungen der beiden Staaten nachdrücklich die Wiedervereinigung an. Die Bemühungen der jeweiligen Regierungen um die Überwindung der unerwünschten nationalen Trennung sind in der eigenen Wiedervereinigungspolitik gut und leicht zu erkennen. Im Norden gibt es die so genannte „Föderation Koryo“, die erst am 15. August 1960 vom nordkoreanischen Staatspräsidenten Kim Il Seong artikuliert und bis heute im Vergleich mit der südkoreanischen Wiedervereinigungspolitik relativ konstant verwendet wurde. Im Gegensatz zum Norden ist im Süden kein einheitlicher Wiedervereinigungsentwurf vorhanden. Die Politik der Wiedervereinigung im Süden erscheint je nach der südkoreanischen Regierung im Zusammenhang mit der außenpolitischen Lage und der Demokratisierung des Südens unterschiedlich. Die kommende Darstellung bezieht sich vor allem auf die unter den Umständen der inneren bzw. äußeren Lage der koreanischen Halbinsel verschieden auftretende Wiedervereinigungspolitik bis zum Amtsantritt Kim Dae Jungs im Süden und bis zum unerwarteten Tod des Staatschefs Kim Il Seong im Norden. In dieser Beschreibung wird versucht, darzustellen, wie sich die Wiedervereinigungspolitik nach der Entstehung der zwei Koreas entwickelte und welche historische Bedeutung der Sonnenscheinpolitik in der Geschichte der Wiedervereinigungspolitik zukommt.

2.2.1.2.1. Die Regierung der Republik Korea 2.2.1.2.1.1. Die Regierung Rhee Syng Man (1948-1960) Die neu gegründete Republik Korea unter dem Präsidenten Rhee führte zwei unterschiedlichen Arten von Wiedervereinigungspolitik vor dem Koreakrieg: die eine war die friedliche Wiedervereinigung, die durch die dem UNO-Beschluss entsprechenden freien Wahlen im Norden erreicht werden sollte, die andere war die unfriedliche Lösung, die vom Schlagwort von der „Wiedervereinigung durch den Marsch nach Norden“ gekennzeichnet ist. Vor dem Koreakrieg wurden die beiden Politiken angesichts des innerkoreanischen Dialogs und der innen- und außenpolitischen Umstände der Republik Korea von der Regierung Rhee nicht kontinuierlich und zeitweise gleichzeitig umgesetzt.

53 Die offizielle Wiedervereinigungspolitik begann die Regierung Rhee zuerst mit dem Programm der friedlichen Wiedervereinigung durch freie Wahlen mit Hilfe und Beratung der Vereinten Nationen in Nordkorea. Der erste Präsident der Republik Korea erwähnte in der Amtsantrittserklärung am 24. Juli 1948, dass die Wiedervereinigung durch eine friedliche Lösung so schnell wie möglich geschaffen werden sollte. Neben der relativ kurzen Darstellung über die künftige Wiedervereinigungspolitik der Regierung übte er Kritik an den Kommunisten in Nordkorea. Allein die Kommunisten in Nordkorea seien schuld an der Trennung der koreanischen Nation. Diese sollten den Versuch aufgeben, die ganze koreanische Halbinsel unter den Kommunismus zu bringen. 104 Beim Lesen dieser Erklärung kommt man zur Erkenntnis, dass die Regierung Rhee von da an versuchen wollte, die Wiedervereinigung Koreas durch eine friedliche Vereinigung des Südens mit dem Norden zu schaffen. Außerdem ist bereits bei seiner Rede spürbar zu bemerken, dass der Antikommunismus bei den innenpolitischen Angelegenheiten zur Wiedervereinigung im Mittelpunkt stehen wird. Dieser wurde später nach dem Koreakrieg noch extrem verstärkt. Im Hinblick auf die anschließende Umsetzung der Wiedervereinigungspolitik und die freie Bildung der öffentlichen Meinung über die Wiedervereinigung mit dem kommunistischen Nordkorea spielte dieser Antikommunismus die entscheidende Rolle beim Scheitern der Wiedervereinigung. Aber die erste offizielle Wiedervereinigungspolitik der Regierung Rhee ist nicht in der Antrittserklärung des Präsidenten, sondern in der Gründungsproklamation der Republik Korea enthalten. Die künftigen Grundlinien der Wiedervereinigungspolitik wurden am 15. August 1948105 bei der feierlichen Verkündigung der Bildung der koreanischen Regierung angekündigt, die zum ersten Mal in der koreanischen Geschichte nach einer demokratischen Verfassung geformt wurde: Erstens sei die koreanische Regierung nach der demokratischen Verfassung die einzige rechtmäßige Regierung, die über die Souveränität der koreanischen Halbinsel verfüge. Zweitens müssten die freien Wahlen so bald wie möglich in Nordkorea durchgeführt werden, um die frei gelassenen Abgeordnetenplätze in der Nationalversammlung zu besetzen. Schließlich habe die Republik Korea das Recht, die Souveränität von Nordkorea durch militärische Gewalt zu gewinnen, falls die freiendemokratischen Meinungen der nordkoreanischen Bevölkerung weiter verhindert würden.

104 Stenografisches Plenarsitzungsprotokoll der Nationalversammlung vom 24. Juli 1948, S. 637. 105 Der 15. August gilt als ein historischer Tag in der Zeitgeschichte Koreas, denn der Tag ist sowohl der Befreiungstag von der 36jährigen japanischen Kolonialherrschaft im Jahr 1945, als auch der Gründungstag der Republik Korea im Jahr 1948. 54 In dieser Ankündigung wird deutlich, dass die Regierung zwei entgegengesetzte Richtungen der Wiedervereinigungspolitik gleichzeitig führen wollte. Wenn die südkoreanische Regierung bei Wiedervereinigungsverhandlungen mit dem nordkoreanischen Staatschef Kim Il Seong herausfand, sich mit der eigenen Politik nicht durchsetzen zu können, gab sie die bisherige friedliche Wiedervereinigungspolitik auf und drängte sofort auf eine militärische Lösung der nationalen Frage. Aber die militärische Lösung war in Bezug auf die damalige Rüstungs- und Wirtschaftskapazität in Südkorea unrealistisch. Aus diesem Grund war die Propagierung „der Wiedervereinigung mit Waffengewalt“ in dieser Zeit als eine andere Art und Weise der Bekräftigung des Alleinvertretungsanspruchs und eine Reaktion auf die nordkoreanische Wiedervereinigungspolitik zu betrachten.

Außerdem war die neue Regierung Rhee in der Außenpolitik überwiegend auf die Hilfe und Beratung der UNO angewiesen, weil die Republik Korea im politischen Sinne als moderner Staat völlig neu gegründet wurde und daher im Gegensatz zu anderen Staaten kein richtiger Apparat der Exekutivbehörde vorhanden war. Unter diesen Umständen war für die Regierung Rhee in der Außenpolitik erstrangig, von der UNO zuerst anerkannt zu werden, damit die Regierung den Alleinvertretungsanspruch gegen Nordkorea legitim durchsetzen konnte. Die schwache außenpolitische Lage der Regierung Rhee wurde jedoch durch die Erklärung der UNO-Vollversammlung am 12. Dezember 1948 verbessert, aus der die Regierung ihre Legitimität ableitete. In der Resolution der UNO wurde festgestellt, dass eine legale, rechtmäßige Regierung der Republik Korea gebildet würde, die ihre Autorität in dem von der ‚Provisorischen Kommission’ unter Beobachtung gehaltenen Gebiet ausübt, in dem die Mehrheit der Bevölkerung wohnt. Diese Regierung sei aus Wahlen hervorgegangen, die der gültige Ausdruck des Willens der Wählerschaft in diesem Gebiet gewesen seien. Die Wahlen würden durch die ‚Provisorische Kommission’ der UNO beobachtet; die genannte Regierung sei die einzige, die diese Eigenschaft besitze.106

Nach dieser Anerkennung der Republik Korea durch die UNO verstärkte die Regierung Rhee ihre bisherige friedliche Wiedervereinigungspolitik. Bei der feierlichen Abschlussrede am letzten Tag der ersten Session der Nationalversammlung kündigte Präsident Rhee an: „Die Regierung wird versuchen, nach der Beratung mit der UNO freie Wahlen in Nordkorea durchzuführen und die hierbei gewählten nordkoreanischen Abgeordneten den frei geblieben proportionalen Anteil der Nationalversammlung besetzen zu lassen.“ Anschließend erklärte der südkoreanische Präsident dazu, dass die Regierung vorhabe, die Gouverneure in aller

106 Raymond Dennett, Robert K. Turner (Hrsg.), Documents on American Foreign Relations Vol. X, New York 1976, S. 178f. 55 nordkoreanischen Provinz zu ernennen, um eine komplette Regierung zu bilden.107 Mit dieser zusätzlichen Ankündigung wies die südkoreanische Regierung die Nordkoreaner darauf hin, dass die Regierung der Republik Korea die einzige rechtmäßige Regierung sei, die in der Lage wäre, den Alleinvertretungsanspruch auf der ganzen koreanischen Halbinsel zu vertreten. Von dieser Rede an konzentrierte sich die Regierung Rhee darauf, der nordkoreanischen Regierung die internationale Anerkennung zu versagen und ihren Zutritt zu internationalen Organisationen zu versperren. Auf diese Weise hat sich der Alleinvertretungsanspruch Südkoreas zu einer kompromisslosen koreanischen Version der Hallsteindoktrin entwickelt.108

Der nordkoreanische Versuch, mit Waffengewalt die geteilte Halbinsel zu vereinigen, war dank der militärischen Hilfe der UNO gescheitert, die überwiegend auf dem amerikanischen Militär beruhte. Nach dem Ende des Koreakrieges, also nach der Anwendung der Waffengewalt, keimte langsam auf beiden Seiten der Wunsch, die Koreafrage durch Verhandlungen friedlich zu lösen. Der erste internationale Versuch hierzu war die Genfer Konferenz. Nach Artikel 4 des Waffenstillstandsabkommens 109 kam sie im April 1954 zustande, um eine friedliche Lösung der Koreafrage zu finden. Bei der Genfer Konferenz schlug der damalige südkoreanische Außenminister Pyun Young Tai ein Vierzehn-Punkte- Programm zur Wiedervereinigung Koreas vor. Der Kernpunkt des Programms bestand darin, dass für die Gründung des vereinigten Koreas freie und allgemeine Wahlen im Verhältnis zur Bevölkerungszahl auf der ganzen koreanischen Halbinsel nach der Verfassung der Republik Korea unter UNO-Aufsicht durchgeführt werden sollten.110 Dieser Vierzehn-Punkte Vorschlag war für die kommunistischen Konferenzteilnehmer nicht anzunehmen, weil er eng mit dem Alleinvertretungsanspruch Südkoreas verbunden war und von der nordkoreanischen Seite als das Ende der nordkoreanischen Regierung betrachtet wurde.111 Der internationalen Plan, in der Genfer Konferenz durch Verhandlungen die Koreafrage zu lösen, war nicht gelungen. Anschließend ging die Wiedervereinigungspolitik der Regierung Rhee zur Position

107 Stenografisches Plenarsitzungsprotokoll der Nationalversammlung vom 08. Dezember 1948, S. 1355. 108 Lee Won-Myong, a. a. O., S. 160. 109 Der Inhalt des Abkommens lautet: „Um die friedliche Regelung der koreanischen Fragen zu sichern, empfehlen die militärischen Kommandanten der beiden Lager ihren Regierungen, dass innerhalb von drei Monaten nach der Inkraftsetzung des Vertrags eine politische Konferenz auf höherer Ebene zusammentrete, damit die Vertreter der beiden Parteien auf dem Verhandlungswege die Probleme des Rückzugs aller ausländischen Truppen aus Korea lösen und eine friedliche Regelung der koreanischen Fragen herbeiführen.“ 110 Wiedervereinigungsministerium, Weißbuch 1998, Seoul 1999, S. 18. Der ganze Redetext befindet sich in: Shim Ji Yeon, Die Entwicklung und Umsetzung der süd- und nordkoreanischen Wiedervereinigungspolitik, Seoul 2001, S. 178-184. 111 Shim Ji Yeon, a. a. O., S. 43. 56 vor dem Koreakrieg zurück: Wiedervereinigung unter dem Schlagwort „Marsch nach Norden“.

Aus der bisherigen Beschreibung ist zusammenfassend zu konstatieren, dass die Regierung Rhee von der Staatsgründung bis zum Koreakrieg eine Konfrontationspolitik gegen den kommunistischen Norden verfolgte. Während der Norden eine „friedliche Wiedervereinigung“ vortäuschte und insgeheim die Anwendung von Waffengewalt plante, versuchte der Süden neben dem Alleinvertretungsanspruch mit der Politik „Wiedervereinigung durch Marsch nach Norden“, die man in Bezug auf das militärische Potential von damals für unrealistisch hielt, die Wiedervereinigung zustande zu bringen.

2.2.1.2.1.2. Die Regierung Chang Myeon (1960-1961) 1. Der Ausgangpunkt der Regierung Chang Angesichts der Unterdrückung durch das Nationale Sicherheitsgesetz, der politischen Verfolgung der Opposition, der Korruption der Beamten und der Wahlmanipulation von der Regierung und von der 1951 vom Präsidenten Rhee gegründeten und regierenden „Liberalen Partei“ wuchs im Lauf der Ersten Republik in der Bevölkerung nach und nach die Unzufriedenheit mit der Regierung Rhee an. Unzufrieden waren vor allem die Studenten, die sich in alter konfuzianischer Tradition als Hüter der Staatsmoral sahen.112 Während der Ersten Republik wurde die zahlenmäßig zunehmende Gruppe der Universitätsstudenten durch den Bildungseifer des von Aufstieg träumenden Volkes hervorgebracht.113 Im Zeitraum zwischen 1948 und 1960 wurde die Zahl der Hochschulen verdoppelt und gleichzeitig erhöhte sich die Studentenzahl um das Zwölffache. Der unmittelbare Grund für den Beginn von nun einsetzenden Massendemonstrationen war am 11. die zufällige Entdeckung der Leiche eines Sechzehnjährigen in der Bucht von Masan, einer Hafenstadt in der südlichen Provinz Kyeongsang. Durch die Untersuchung der Leiche wurde festgestellt, dass der als der Vermisste Kim Ju Yeol identifizierte Tote im März während einer Demonstration gegen die Wahlmanipulation mit einem Tränengaskanister erschlagen wurde. Dann hatte die Polizei versucht, die Leiche heimlich zu beseitigen. Diese schreckliche Entdeckung, die die Bevölkerung der Stadt Masan zu einer gewaltigen Demonstration gegen die Polizei veranlasste, löste eine schnelle Verbreitung von Massendemonstrationen gegen die Regierung Rhee im ganzen Land aus.

112 Kim Hiyoul, Koreanische Geschichte, St. Augustin 2004, S. 304. 113 Marion Eggert, Jörg Plassen, Kleine Geschichte Koreas, München 2005, S. 159. 57 Am 19. April 1960 kam es zu einer Großdemonstration in Seoul, die überwiegend aus Studenten in Seoul bestand. Die Hauptforderung der Studenten war der sofortige Rücktritt des Stattpräsidenten Rhee. Als die Demonstranten zum Präsidentenpalast zu einem gewünschten Gespräch mit Präsidenten Rhee marschierten, wurden sie von der Polizei beschossen. An diesem Tag starben allein in der Hauptstadt 130 Studenten und weitere 1.000 wurden verletzt. Trotz des von der Regierung Rhee verhängten Kriegsrechts wurde der Massenwiderstand gegen die Regierung und die Forderung nach dem Rücktritt Rhees verstärkt. Am 26. April trat Präsident Rhee von seinem Amt zurück und ging ins Exil nach Hawaii. Damit endete die Erste Republik. Zum Rücktritt Rhees trugen drei Faktoren gemeinsam bei: Erstens der Wechsel in der Politik der USA nach dem 19. April von zuvor zurückhaltender Toleranz gegenüber Rhees Gewalttätigkeiten hin zur öffentlichen Verurteilung der Unterdrückung durch das Regime. Zweitens die Demonstration von rund 300 Universitätsprofessoren für Rhees Abdankung vor dem Gebäude der Nationalversammlung am 25. April. Das war ein Zeichen der Unterstützung der breiten gebildeten städtischen Elite für die Studenten. Drittens die Weigerung des Kriegsrechtkommandos unter General Song Yo Chan, auf die Demonstranten zu schießen.114 Die provisorische Regierung Jeong entwarf am 15. Juli 1960 rasch eine neue Verfassung mit einer parlamentarischen Regierung unter einem Premierminister und einem Kabinett und einem Parlament mit zwei Kammern. Zwar wurde die Präsidentschaft beibehalten, aber das Amt war repräsentativ. Bei den Wahlen am 29. Juli 1960 gewann die Demokratie-Partei in beiden Kammern die klare Mehrheit. Daraufhin wurde Yun Bo Seon von der Nationalversammlung zum Präsidenten gewählt. Der neue Präsident Yun ernannte Chang Myeon zum Premierminister.

2. Die Wiedervereinigungspolitik der Regierung Chang Nach dem Sturz der diktatorischen Regierung Rhee traten viele konservative oder progressive Parteien auf, die über ein eigenes Parteiprogramm in der Wiedervereinigungsfrage verfügten. Damit fanden lebhafte Diskussionen über die Frage der Wiedervereinigung im Land statt und es wurden verschiedene Vorschläge aufgestellt. Die Übergangszeit zwischen der Ersten Republik und der Zweiten Republik scheint eine „erste Goldene Zeit der Diskussion über die

114 Kim Hiyoul, a. a. O., S. 305. 58 Wiedervereinigungsfrage“115 gewesen zu sein. Es war daher kein Wunder, dass die Frage der Wiedervereinigung ein zentrales Wahlkampfthema im Juli 1960 wurde. Neben diesen verschiedenen Meinungen über die Lösung der nationalen Frage stellte die demokratische Partei, die spätere Regierungspartei unter dem Premierminister Chang Myeon, ihre eigene Wiedervereinigungspolitik vor: Erstens sollte die friedliche und demokratische Wiedervereinigung durch freie Wahlen im Süden und Norden unter UNO-Aufsicht erreicht werden. Zweitens sollte die Aufsichtskommission für die Wahl nach der Resolution der UNO und aus den UNO-Mitgliedstaaten gebildet werden, die selbst freie Wahlen abgehalten haben. Drittens widerspreche die Errichtung eines „Gemeinsamen Ausschusses von Südkorea und Nordkorea“ vor der nationalen Wahl der UNO-Resolution, die die Republik Korea als die einzige legitime Regierung in Korea anerkannt hatte. Somit konnte der Vorschlag nicht akzeptiert werden. Viertens sollte jeder kulturelle und wirtschaftliche Austausch vor der Wiedervereinigung abgelehnt werden, da Nordkorea auf die kommunistischen Manöver zur Zerstörung der Republik Korea nicht verzichtete. Schließlich sollte ein vereinigtes Korea ein Staat sein, der die Demokratie und die Freiheit des bürgerlichen Rechtes bewahrt. Weder eine rote Diktatur noch eine weiße Diktatur sollte akzeptiert werden. Nach der Bildung des Kabinetts, am 24. August 1960, nahm der Außenminister Cheong Il Hyeong Stellung zur Wiedervereinigungspolitik seiner Regierung mit einer Erklärung über das außenpolitische Programm. Seine Regierung sollte den rücksichtslosen und gedankenlosen Slogan „Wiedervereinigung durch Marsch nach Norden“ beseitigen und die Wiedervereinigung durch eine freie Wahl in ganz Korea unter UNO-Aufsicht mit Rücksicht auf die UNO-Resolution schaffen.116 Drei Tage später bestätigte Premierminister Chang nochmals die Wiedervereinigungspolitik seiner Regierung bei der ersten Regierungserklärung vor dem Unterhaus.117 Neben der Wiedervereinigungspolitik der Regierung wurden verschiedene Vorschläge zur Wiedervereinigung, die man bis dahin aufgrund der Beschränkung der Meinungsfreiheit über die Wiedervereinigungsfrage durch die Regierung Rhee nicht zum Ausdruck bringen konnte, von den progressiven Oppositionsparteien und Studenten vorgetragen. Am 1. November 1960 wurde von Studenten an der Nationalen Universität Seoul die “Studentenliga für Nationale Wiedervereinigung” gegründet. Einen Tag später verabschiedete diese Studentenliga eine Resolution, die unter anderem den Ministerpräsidenten Chang Myeon aufforderte, die USA und die UdSSR zu besuchen, um die Möglichkeiten einer koreanischen Wiedervereinigung zu

115 Yang Young Shik, Die Einführung der Wiedervereinigungspolitik, Seoul 1997, S. 58. 116 Ebd., S. 32f. 117 Stenografisches Plenarsitzungsprotokoll des Unterhauses vom 27. August 1960, S. 4. 59 sondieren. Die Wiedervereinigungskonzeption wurde verkündet: „Die ältere Generation muss die volle moralische Verantwortung für die nationale Teilung übernehmen und der jüngeren Generation das Recht zuerkennen, in der Sache der nationalen Wiedervereinigung zu sprechen. Zur Vorbereitung der bevorstehenden gesamtkoreanischen Wahlen müssen sich alle südkoreanischen Parteien zusammentun, um der Herausforderung durch die kommunistische Partei zu begegnen. Die Regierung muss ihre Außenpolitik zur Vorbereitung der nationalen Wiedervereinigung flexibler gestalten und sie soll bereit sein, mit Vertretern sowohl der Vereinigten Staaten als auch der Sowjetunion darüber zu verhandeln. Es müssen Verhandlungen aufgenommen werden über einen sofortigen Briefwechsel zwischen dem Norden und dem Süden.“118 Nach der Zurückweisung der Resolution von den beiden koreanischen Regierungen stellte am 14. Mai 1961 die Studentenliga für Nationale Wiedervereinigung der südkoreanischen Regierung die Forderungen nach innerkoreanischer Kooperation im wirtschaftlichen Bereich, der Durchführung des freien Postverkehrs zwischen beiden Teilen Koreas und der Teilnahme einer gemeinsamen Mannschaft bei den nächsten Olympischen Sommerspielen. Anschließend machte die Studentenliga den Vorschlag, eine Konferenz der Studentenführer des Südens und des Nordens in Panmunjom abzuhalten. Dieser Vorschlag führte sowohl zu einer heftigen Diskussion über die innerkoreanische Studentenkonferenz als auch zu einem scharfen Konflikt mit ihrer Regierung.119 Neben den vielfältigen Aufforderungen der Studenten verlangte die Sozialistische Massenpartei eine neutralistische Wiedervereinigung: Erstens sollte eine internationale Konferenz unter Beteiligung Nordkoreas und Südkoreas abgehalten werden, um die ständige Neutralität Koreas zu garantieren. Zweitens sollte eine Kommission aus neutralen Ländern, die kein militärisches oder politisches Interesse an Korea haben, freie gesamtkoreanische Wahlen kontrollieren. Drittens sollte nach der Etablierung einer einheitlichen Regierung das militärische Potential auf der koreanischen Halbinsel auf normale Friedensstärke reduziert werden.120 Dieser neutralistische Wiedervereinigungsvorschlag, der von der österreichischen Neutralität inspiriert wurde, fand zwar eine positive Resonanz in der Öffentlichkeit. Befürworter dieses Plans waren der Meinung, dass Korea nie unabhängig und frei sein könnte, solange es einem Lager der beiden Supermächte im Kalten Krieg angehörte. Deshalb sei die Neutralität Koreas unter international garantierten Vereinbarungen die einzige Möglichkeit für eine Wiedervereinigung. Aber die Regierung Chang lehnte die Neutralitätskonzeption strikt ab.

118 Lee Won-Myoung, a. a. O., S. 163. 119 Vgl. Yang Young Shik, a. a. O., S. 58-148. 120 Lee Won-Myoung, a. a. O., S. 164f. 60 Denn sie argumentierte folgendermaßen gegen die Österreich-Lösung: In erster Linie sei die Lage Koreas strategisch von großer Bedeutung, da es in Nachbarschaft zu der Sowjetunion und der Volksrepublik China liegt. Zweitens befinde sich Österreich faktisch unter starkem Schutz der NATO, während die Militärstärke Südkoreas einen Teil des Machtpotentials der freien Welt im Fernen Osten bildet. Drittens sei Österreich im Fall einer Invasion leicht zu verteidigen, während Südkorea geopolitisch gesehen schwer zu verteidigen ist. Viertens habe Österreich trotz der in Zonen getrennten Besetzung der vier Großmächte eine einheitliche Regierung aufrechterhalten können. Schließlich seien die politischen, wirtschaftlichen und soziokulturellen Aspekte Koreas mit denen Österreichs nicht gleichzusetzen.121 Während sich die Studenten wie die Oppositionsparteien lebhaft mit der Wiedervereinigungsfrage beschäftigten und unterschiedliche Vorschläge machten, vertrat die Regierung in der nationalen Frage ein rein defensives Konzept. Am 20. Dezember 1960 kündigte die Regierung Chang ihre offizielle Wiedervereinigungspolitik an: „Die grundlegende Politik der Wiedervereinigung ist die Schaffung der friedlichen und freidemokratischen Wiedervereinigung durch freie Wahlen im Süden und Norden unter UNO- Aufsicht.“122 Die Regierung Chang bestand kompromisslos auf ihren Standpunkt, der demjenigen der Regierung Rhee stark ähnelte: Das geteilte Korea sollte durch freie Wahlen in strenger Übereinstimmung mit der südkoreanischen Verfassung und unter der Aufsicht der UNO wiedervereinigt werden.123 Zur Lösung der nationalen Frage vermochte die neue südkoreanische Regierung unter Chang, die aus antikommunistischen, konservativen Kräften bestand, allerdings keine neuen Impulse zu geben.

2.2.1.2.1.3. Die Regierung Park Jeong Hee (1961-1980) 1. Der Ausgangspunkt der Regierung Park Die in der koreanischen Geschichte erstmalig durch ein parlamentarisches System geführte Zweite Republik, die im Rahmen der Demokratisierungsmaßnahmen von anhaltenden Protesten und Demonstrationen geprägt wurde, ging durch den militärischen Putsch am 16. Mai 1961 zu Ende. In den frühen Morgenstunden des 16. Mai 1962 besetzten die Putschisten Radiostationen, Regierungsgebäude und Polizeistationen in Seoul. Im Mittelpunkt des Staatsstreiches standen der General Park Jeong Hee und seine Gefolgsleute, die die nach der Befreiung eingerichtete koreanische Militärakademie absolviert hatten und im Militär über

121 Lee Woon Myoung, a. a. O., S. 166. 122 Yang Young Shik, a. a. O., S. 34. 123 Wiedervereinigungsministerium, Weißbuch 2003, Seoul 2003, S. 19. 61 wichtige Posten verfügten. Sie gründeten sofort das „Militärische Revolutionskomitee“, das daraufhin in den „Obersten Rat für den Nationalen Wiederaufbau“ umbenannt wurde, und verkündeten ein Manifest, das aus den sechs Versprechungen der militärischen Revolution bestand. Die Versprechungen beinhalteten vor allem den Antikommunismus als zentrales Prinzip der nationalen Politik, die Ausrottung der Korruption und Regeneration der nationalen Moral, die Reform der Wirtschaft, die Maßnahmen zur Wiedervereinigung Koreas und die Rückgabe der Macht nach Realisierung dieser Maßnamen an einer Zivilregierung.124 Die Versprechungen zeigten ausdrücklich, dass der Grund für den Putsch die Unzufriedenheit mit den in der Zweite Republik Koreas entstandenen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Zuständen war. Die erste Maßnahme der Militärregierung bestand darin, Regierungsmitglieder zu verhaften und die Nationalversammlung und die Provinzräte aufzulösen. Nach dem Rücktritt des bisherigen Premierministers wurde der „Oberste Rat für Nationalen Wiederaufbau“ gebildet. Durch das am 6. Juni 1961 erlassene „Gesetz über außergewöhnliche Maßnahmen zum Nationalen Wiederaufbau“ vereinigte der Oberste Rat Legislative, Exekutive und Judikative auf sich. Dies bedeutete, dass die bisherige Verfassung außer Kraft gesetzt wurde.125 Durch diese Maßnahme konnte die Militärregierung beginnen, die Redaktionen zahlreicher Zeitungen zu schließen und eine größere Anzahl von Journalisten zu verhaften, die als Kommunisten verdächtigt wurden. Außerdem entließ sie die im Verdacht der Korruption stehenden Beamten und Parlamentarier der Ersten und Zweiten Republik Koreas. Diese Reinigungsmaßnahme der Militärregierung beruhte in erster Linie auf wichtigen Indizien für die Korruption und Sympathien für den Kommunismus. Nach einem kurzen Machtkampf innerhalb der Militärregierung gelang es im Juli 1961 dem Generalmajor Park Jeong Hee, der einer armen Bauernfamilie in der nördlichen Provinz Kyeongsang entstammte und im Koreakrieg zum General aufstieg, die Macht zu übernehmen. Er wurde der Vorsitzende des Obersten Rats für Nationalen Wiederaufbau und übernahm im März 1962 das Amt des Staatspräsidenten, nachdem Präsident Yun Bo Sun zurückgetreten war."

2. Die Wiedervereinigungspolitik der Regierung Park Das Wiedervereinigungskonzept der Regierung Chang, eine friedliche Wiedervereinigung durch freie Wahlen unter UNO-Aufsicht, wurde im Lauf der zwei Jahre und sieben Monate bestehenden Militärregierung unverändert fortgesetzt. Am 24. Juni 1961 gab der

124 Vgl. Gottfried-Karl Kindermann, Der Aufstieg Koreas in der Weltpolitik, München 2005, S. 139. 125 Nach dem Artikel 24 dieses neuen Grundgesetzes verloren die Bestimmungen der alten Verfassung, die im Widerspruch zu diesem Grundgesetz stehen, ihre Gültigkeit. Damit diente dieses Gesetz als Legitimation und primär Rechtsquelle des Herrschaftssystems der Militärregierung. 62 Außenminister der Militärregierung, Kim Hong Il, die Mitteilung bekannt, dass seine Regierung die Wiedervereinigung nicht durch Gewalt, sondern eine friedliche Wiedervereinigung wünschte und dafür freie Wahlen in Süd- und Nordkorea unter der UNO- Aufsicht befürwortete.126 Die Militärregierung stellte gleich zu Beginn des Staatsstreiches ihre Politik zur Frage der Wiedervereinigung Koreas klar. Sie ist in den Versprechungen des Militärischen Revolutionskomitees an das südkoreanische Volk deutlich zu bemerken: „Um den nationalen Wunsch nach Wiedervereinigung des Landes zu verwirklichen, werden energische Anstrengungen auf das Ziel gerichtet, die Nation in die Lage zu versetzen, sich mit dem Kommunismus im Norden zu messen.“127 Der Grundzug der Militärregierung für die Wiedervereinigung war die Verstärkung des Antikommunismus und der Ausbau der nationalen Kräfte. Um dieses Ziel problemlos und rasch zu erreichen, wurde im Juli 1961 ein „Antikommunistisches Gesetz“ erlassen. Parallel dazu wurden mehr als 2.000 des Kommunismus Verdächtige verhaftet. Gleichzeitig wurden die Arbeiten aller progressiven Parteien und Gewerkschaften eingestellt. Das weist evident darauf hin, dass die bis dahin relativ aktive Debatte über die friedliche Lösung der nationalen Frage in der Öffentlichkeit im Keim erstickt wurde. Diese Verhinderung der freien öffentlichen Meinungsbildung und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit über die Wiedervereinigungsfrage wurden in der Dritten Republik fortgesetzt und gingen im Grund bis Mitte der 80er Jahre weiter. Es gab inhaltlich kaum Unterschiede zwischen der Wiedervereinigungsvorstellung der Militärregierung und derjenigen der Regierung Chang.

Nach dem Beginn der Dritten Republik am 17. Dezember 1963 formulierte Präsident Park Jeong Hee bei der Ansprache zum Neujahr 1964 seine Grundüberzeugung und Meinung über die Wiedervereinigung, wobei die angestrebte Wiedervereinigung unter dem freidemokratischen Prinzip durch die UNO und die Wiedervereinigung durch die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Republik Korea sowie die Erforschung und die Vorbereitung von Vorkehrungen gegen die verschiedenen Probleme der Wiedervereinigung betont wurden.128 Außerdem äußerte er bei der Neujahrsansprache im Januar 1966 erneut: „Der wirtschaftliche Aufbau der Nation, nach dem man strebt, ist eine Priorität der Nation und ein Zwischenziel für die nationale Wiedervereinigung. Wenn der wirtschaftliche Aufbau die wirtschaftliche Unabhängigkeit voraussetzt, wird die

126 Presse- und Informationsamt, Informations- und Materialbuch der fünfjährigen Regierung des Volkes, Seoul 2003, S. 302. 127 Wiedervereinigungsministerium, Weißbuch 1998, Seoul 1999, S. 19. 128 Wiedervereinigungsministerium, Weißbuch 2003, Seoul 2003, S. 19. 63 wirtschaftliche Unabhängigkeit die erste Stufe der Wiedervereinigung sein.“129 Mit dem Leitsatz „Erst wirtschaftlicher Aufbau, dann Wiedervereinigung“ und „Wiedervereinigung durch den Sieg über den Kommunismus“ beschränkte er vor allem die freien Diskussionen über die Wiedervereinigung. Somit war offensichtlich klar, dass die Diskussion über die Wiedervereinigung nur unter der Kontrolle der Regierung durchgeführt werden sollte.

Die Konzeption der Regierung Park Jeong Hee unter den Schlagwörtern „Erst wirtschaftlicher Aufbau, dann Wiedervereinigung“ und „Wiedervereinigung durch den Sieg über den Kommunismus“ bestand eindeutig darin, dass eine Überrundung des nordkoreanischen kommunistischen Systems durch wirtschaftliche Überlegenheit des Südens beabsichtigt war. Diese Politik änderte sich freilich ab 1969. Zuerst versuchte die Regierung Park die Diskussion über die Frage der nationalen Wiedervereinigung zu eröffnen. Nach der starken Forderung der Oppositionspartei in der Nationalversammlung wurde am 1. März 1969 das Ministerium für Nationale Wiedervereinigung eingerichtet. Dieses Ministerium, das nach dem Vorbild des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland geschaffen worden war,130 begann nun eine friedliche Lösung und Möglichkeiten der Wiedervereinigung systematisch zu erforschen. Trotz der Schaffung des Ministeriums für Nationale Wiedervereinigung wurde die Wiedervereinigungspolitik der Regierung Park vom Sekretariat des Präsidenten und von südkoreanischen Geheimdienst (KCIA) bestimmt.131

Die Bekanntmachung der Nixon-Deklaration im Juli 1968 und die anschließend folgende Entspannung und friedliche Koexistenz durch die Annäherung zwischen den USA und China und die Entspannung zwischen den USA und der Sowjetunion gab Südkorea die neue Aufgabe, hinsichtlich der Konzeption der Wiedervereinigung umzudenken. Da internationale Bemühungen zur Lösung der koreanischen Frage seit dem Waffenstillstandsabkommen von 1953 mehr oder weniger fehlgeschlagen waren, traf die südkoreanische Regierung unter den besonderen Umständen der qualitativ veränderten Weltsituation die Entscheidung, die Frage der koreanischen Nation selbst in die Hand zu nehmen. Staatspräsident Park war wegen des wirtschaftlichen Erfolgs Südkoreas der Überzeugung, die koreanische Frage durch direkten innerkoreanischen Dialog lösen zu können. Am 15. August 1970 verkündete er in der Gedenkrede zur Feier des 25. Jahrestags der nationalen Befreiung eine neue Wiedervereinigungspolitik: „Ohne Nachlassen der Spannungen ist eine friedlicher

129 Presse- und Informationsamt, a. a. O., S. 302. 130 Lee Won-Myoung, a. a. O., S. 168. 131 Yang Young Shik, a. a. O., S. 159. 64 Wiedervereinigung nicht durchführbar. (...) Außerdem sollten die nordkoreanischen Kommunisten öffentlich verkünden, dass sie in Zukunft darauf verzichten werden, ganz Korea kommunistisch zu machen und die Republik Korea durch eine gewaltsame Revolution zu stürzen. (...) wenn sie die Kompetenz und die Autorität der Vereinten Nationen unzweifelhaft anerkennen, dann haben wir auch gegen die Anwesenheit der nordkoreanischen Kommunisten bei den Beratungen der Vereinten Nationen über die Koreafrage nichts einzuwenden. In diesem Sinn möchte ich folgende Frage stellen: Sind die nordkoreanischen Kommunisten an einem Wettstreit interessiert, um zu beweisen, welches System, die Demokratie oder der kommunistische Totalitarismus, dem Volk ein besseres Leben bietet?“132

An dieser Erklärung ist bemerkenswert, dass die südkoreanische Regierung nach der getrennten Staatsgründung zum ersten Mal die Realität auf der koreanischen Halbinsel annahm. Mit anderen Worten erkannte der Süden durch diese Erklärung an, dass de facto ein Regime im nördlichen koreanischen Teil vorhanden war. Dies stellte ein neues Zeichen der Kursänderung gegen die bisherige Wiedervereinigungspolitik dar, so dass unter den damaligen Umständen Dialog, Austausch und Zusammenarbeit zwischen dem Süden und dem Norden für die Vorbereitung einer friedlichen Wiedervereinigung als unumgänglich angesehen wurden.133 Von diesem Gesichtspunkt aus schlug die südkoreanische Rot-Kreuz- Organisation am 12. August 1971 eine Konferenz zwischen beiden Organisationen vor, um über Zusammenführung der durch die Teilung und den Krieg getrennten Familien zu verhandeln. Als Pjöngjang den südkoreanischen Vorschlag überraschend annahm, kam ein innerkoreanischer Dialog auf der humanitären Ebene nach 26 Jahren der Teilung auf. Parallel zu der Rotkreuzkonferenz kam es zu geheimen Kontakten auf der Regierungsebene: Der Präsident Park schickte heimlich den Sondergesandten Lee Hu Rak, den Chef des südkoreanischen Geheimdiensts (KCIA), nach Pjöngjang, um sich mit der dortigen Führung über die Entspannung zwischen beiden Ländern zu beraten. Einige Wochen später stattete der Sondergesandte von Kim Il Seong, Park Seong Chel, auch heimlich einen Gegenbesuch in Südkorea ab.

Als Folge der geheimen Verhandlungen zwischen dem Süden und dem Norden wurde eine „Gemeinsame Erklärung vom 4. Juli“ gleichzeitig in Seoul und Pjöngjang am 4. Juli 1972 verkündet. Sie besteht aus siebten Punkten und unter anderem stehen die drei Prinzipien über

132 Das Sekretariat des Präsidenten der Republik Korea, Der Weg zur friedlichen Wiedervereinigung: ausgewählte Ansprachen und Interviews von Präsident Park Chung Hee, Seoul 1976, S. 28f. 133 Presse- und Informationsamt, a. a. O., S. 303. 65 die friedliche Wiedervereinigung im Mittelpunkt: Erstens muss die Wiedervereinigung unabhängig ohne Intervention und Einmischung äußerer Kräfte verwirklicht werden. Außerdem muss die Wiedervereinigung nicht durch Gewalt, sondern friedlich vollzogen werden. Schließlich muss die nationale Einheit durch die Überwindung der Unterschiede in der Ideologie und dem System erreicht werden.134

In folgenden Punkten wurde auch Übereinstimmung erzielt: Die beiden Staaten suchen nach dem Abbau der Spannungen, dem Ende der gegenseitigen Verleumdungen, dem Stop der militärischen Zwischenfälle, um eine Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens zu schaffen. Ferner streben die beiden Länder nach einer Förderung des Austauschs sowie einer aktiven Unterstützung für weitere Rotkreuzgespräche. Eine direkte Telefonverbindung zwischen den Hautstädten Seoul und Pjöngjang sollte eingerichtet werden. Für die Durchführung dieser Punkte wurde die Einrichtung eines gemeinsamen „Süd-Nord-Koordinierungskomitees“ beschlossen. Schließlich sollten die Vereinbarungen von beiden Seiten ehrlich umgesetzt werden.135

Mit der „Gemeinsamen Erklärung vom 14. Juli“ waren nun die Beziehungen zwischen dem Süden und dem Norden in eine neue Phase eingetreten. Obwohl die Erklärung nur von Unterhändlern unterschrieben und niemals förmlich unterzeichnet wurde,136 hatte die Erklärung allerdings als überhaupt erste politische Vereinbarung zwischen dem Süden und dem Norden eine symbolische Bedeutung und setzte neben der Rotkreuzkonferenz auf humanitärer Ebene den direkten innerkoreanischen Dialog auf der politischen Ebene in Gang. Aber trotz aller anfänglichen Euphorie zum innerkoreanischen Dialog gab es auf beiden Verhandlungsebenen keinen konkreten Konsens vorzuweisen und der Dialog stand bald still, weil der Unterschied zwischen beiden Seiten in Bezug auf die Form der Wiedervereinigung so groß war, dass die beide Seiten keinen Kompromiss finden konnten. Zudem konnte Südkorea die nordkoreanische Aufforderung nach dem Abzug der amerikanischen Soldaten aus Südkorea überhaupt nicht annehmen. 137 Schließlich brach die Führung in Pjöngjang das bevorstehende Gespräch des gemeinsamen Süd-Nord-Koordinierungskomitees aufgrund der Veränderung der südkoreanischen Innenpolitik138 einseitig ab.

134 Wiedervereinigungsministerium, Weißbuch 1998, Seoul 1999, S. 20f. 135 Asien-Pazifik-Friedensstiftung, Asien-Parzifik-Jahresschrift für die Wiedervereinigung 1995, Seoul 1995, S. 62f. 136 Marc Oliver Dugge, Wirkt Sonnenschein? die Nordkorea-Politik von Kim Dae Jung zwischen Versöhnungsgipfel und Atomprogramm, Marburg 2003, S. 12. 137 Press- und Informationsamt, a. a. O., S. 303. 138 Am 17. Oktober 1972 gab der Präsident Park in einer Rundfunkansprache bekannt, dass er zur Förderung auf die friedliche Wiedervereinigung der Nation die Verfassungsänderung benötigt. Die neue Verfassung, so 66 Nach dem Beginn der Vierten Republik versuchte die neue Regierung unter dem Präsidenten Park Jeong Hee eine neue Wendung für den innerkoreanischen Dialog zu schaffen. Am 23. Juni 1973 verkündete Park Jeong Hee die sieben außenpolitischen Grundsätze für eine friedliche Widervereinigung, die vor allem die unbedingte Bewahrung des Friedens auf der koreanischen Halbinsel, keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten des anderen, keinen militärischen Angriff auf die andere Seite, Fortsetzung des innerkoreanischen Dialogs, Einverständnis mit der Teilnahme Nordkoreas an den internationalen Organisationen, Zustimmung zum gemeinsamen Beitritt mit Nordkorea in die Vereinten Nationen, Öffnung der koreanischen Tür zu allen Ländern und die Weiterführung der friedensorientierten Außenpolitik beinhalteten.139

Mit der sogenannten „Sondererklärung vom 23. Juni“ machte Präsident Park einen weiteren, früher unvorstellbaren Schritt: Die Aufgebe der bisherigen koreanischen Hallstein-Doktrin. Damit wies die südkoreanische Regierung klar darauf hin, dass sie für den Austausch oder für diplomatische Beziehungen mit den kommunistischen Ländern und für den Beitritt Nordkoreas in jede internationale Organisation bereit ist. Im Grund stellte das eine friedliche Koexistenz zwischen dem Süden und dem Norden dar.

Nach der Erklärung vom 23. Juni 1973 kündigte der Staatschef Park in seiner Gedenkrede zum 29. Jahrestag der nationalen Befreiung 1974 erneut eine grundlegende politische Richtlinie der Regierung an, die in den drei Grundprinzipien einer friedlichen Wiedervereinigung zusammengefasst wurde: „Erstens sollte der Frieden auf der koreanischen Halbinsel fest verankert werden. Zu diesem Zweck sollte zwischen Süd- und Nordkorea ein gegenseitiger Nichtangriffspakt geschlossen werden. Zweitens sollten der Süden und der Norden einander ihre Tore öffnen, und ein gegenseitiges Vertrauen müsste wiederhergestellt werden. (...) Drittens sollten auf den genannten Grundlagen freie, allgemeine Wahlen in ganz Korea abgehalten werden.“140

Nun lagen diese drei Grundprinzipien im Mittelpunkt der südkoreanischen Wiedervereinigungspolitik und gleichzeitig schufen sie einen Wendepunkt der Wiedervereinigungspolitik der Regierung Park, nämlich vom Motto „Erst wirtschaftlicher

genannte „Yushin-Verfassung“, ermöglichte Park unbegrenzte Wiederwahl. Damit begann die Vierte Republik und die faschistische Yushin-Periode in der koreanischen Geschichte. 139 Wiedervereinigungsministerium, Weißbuch 2003, Seoul 2003, S. 20. Das ganze Text befindet sich in: Das Sekretariat des Präsidenten der Republik Korea, Der Weg zur friedlichen Wiedervereinigung: ausgewählte ansprachen und Interviews von Präsident Park Chung Hee, Seoul 1976, S. 108f. 140 Das Sekretariat des Präsidenten der Republik Korea, Der Weg zur friedlichen Wiedervereinigung: ausgewählte Ansprachen und Interviews von Präsident Park Chung Hee, Seoul 1976, S. 151f. 67 Aufbau, dann Wiedervereinigung“ zum Motto „Erst Frieden, dann Wiedervereinigung“.141 Auf der Grundlage dieser drei Grundprinzipien wurde die Wiedervereinigungspolitik der Regierung Park ergänzt und entwickelt. Schließlich wurde der Grundsatz „Erst Frieden, dann Wiedervereinigung“ von den folgenden Regierungen als eines der wichtigsten Prinzipien der Wiedervereinigungspolitik übernommen.

Trotz der Bemühungen um die Realisierung der Wiedervereinigungspolitik und die historische gemeinsame Erklärung vom 04. Juli 1971 konnte die Regierung Park die Konfrontationslage zwischen den beiden verfeindeten Seiten nicht überwinden. Unter dem Umstand, nämlich der kommunistischen Diktatur im Norden und der diktatorischen Alleinherrschaft im Süden, konnte keine freie Meinungsbildung über die Wiedervereinigungsfrage in der Öffentlichkeit stattfinden. Zudem wurde die Wiedervereinigungspolitik der südlichen und nördlichen Seite nicht gegenseitig angenommen und vorangetrieben.

2.2.1.2.1.4. Die Regierung Chun Doo Hwan (1980-1988) 1. Der Ausgangspunkt der Regierung Chun Die unerwarteten Schüsse, die am 26. Oktober 1979 im Speisesaal des Gebäudes des südkoreanischen Geheimdienstes (KCIA) in Seoul auf den Staatspräsidenten Park abgefeuert wurden und diesen töteten, versetzten einerseits dem Volk einen schweren Schock und brachten Konfusion in die innenpolitische Situation, andererseits weckten sie beim Volk Erwartungen, die von Park allein ausgeübte Militärherrschaft zu beenden und das Land zu demokratisieren. Unmittelbar nach der Ermordung Parks wurde der Ministerpräsident Choi Kyu Ha verfassungsmäßig als amtierender Staatspräsident eingesetzt und die Oberste Kriegsrechtsverwaltung übernahm der Stabschef des Heeres, General Cheng Sung Hwa. Damit sollte die Entstehung eines machtpolitischen Vakuums und die weitere Destabilisierung der Lage verhindert werden. Der neue Regierungschef rief in einer „Sondererklärung“ zur Notstandssituation zum Patriotismus und zur Einheit des Volkes auf. Vor allem appellierte er an die Armee, die Polizei und die Regierungsangehörigen, dass sie alle Anstrengungen für die nationale Sicherheit dadurch unternehmen sollten, dass sie die Zusammenarbeit miteinander verstärkten. Dabei verkündete er auch, die „alte“ Verfassung zu ändern und Wahlen gemäß der geänderten Verfassung durchzuführen. Seine Ankündigung

141 Presse- und Informationsamt, a. a. O., S. 304. 68 wurde umgesetzt, indem er am 7. Dezember das Notstands-Dekret Nr. 9 aus dem Jahre 1975 aufhob. Das hatte zur Folge, dass zunächst 68 politische Häftlingen freigelassen wurden und danach Hunderte anderer politischer Gefangene aus der Haft oder auf Bewährung freigelassen wurden. Dazu zählte der prominente Dissident Kim Dae Jung, der seit Ende des Jahres 1978 unter Hausarrest gestanden hatte. In der Tat wagte Präsident Choi erste zaghafte Schritte in Richtung auf eine Liberalisierung und Demokratisierung Südkoreas. Nach 18 Jahren repressiver Park-Diktatur wurde erstmals wieder eine halbwegs freie politische Diskussion geduldet.142 Dieser Anlauf zur Demokratisierung und Liberalisierung Südkoreas blieb bedauerlicherweise stecken, weil das Militär, das im Lauf der diktatorischen Herrschaft alle Macht in Händen hatte, nicht tolerierte, dass eine neue demokratische Regierung aufgestellt und die Macht an Zivilisten übergeben wurde. Bereits am 12. Dezember 1979 gab Generalmajor Chun Doo Hwan, der als Chef des militärischen Sicherheitsdienstes für die Untersuchung von Parks Ermordung verantwortlich war, den Befehl, den Stabschef der Armee und des Kriegsrechtskommandos, Cheng Sung Hwa, festzunehmen. Denn Chun behauptete, dass General Cheng im Verdacht der Ermordung des alten Präsidenten stand. Dies benutzte Chun nur als Vorwand, um ihn festzunehmen und sich die ganze Armee unterzustellen. Nach einer blutigen Schießerei beim Hauptquartier der Armee und dem nahe liegenden Verteidigungsministerium gelang es Chun, General Cheng und einige auf seiner Seite stehende Generäle in seine Gewalt zu bringen. Damit war der blutige Machtkampf um die militärische Führung für Chun und seine Gefolgschaft entschieden. Der so genannte „12.12- Vorfall“, diese erfolgreiche Meuterei gegen die Armee selbst, war der erste Schritt für die Realisierung des Staatsstreiches von Chun. General Chun und seine Gefolgsleute gehörten zu einer Führungsgruppe innerhalb der Streitkräfte, die von Park Jeong Hee gefördert worden war. Wegen ihrer kompromisslosen Treue zur alten Park-Regierung mussten sie befürchten, dass sie nach dem Regierungswechsel ihre privilegierten Stellungen in Armee und Gesellschaft verlieren würden.143 Die Meuterei innerhalb der Armee, die Ernennung Chuns zum Chef des Geheimdienstes und vor allem die negative politische Entwicklung, die dem Wunsch des Volkes nicht entsprach, riefen eine Welle heftiger Demonstrationen hervor. Die Straßenschlachten zwischen den Studenten und der Polizei gehörten wieder zum Alltag. Die Opposition und die Studenten forderten den sofortigen Rücktritt Chuns, die prompte Aufhebung des Kriegsrechts und eine

142 „Der Spiegel“ vom 26.05.1980 (22/1980), S. 124. 143 Yang Hyun-Mo, Deutsche Einheit und die Wiedervereinigung Koreas: Eine vergleichende Untersuchung über die Einigungspolitik geteilter Länder, Bonn 1994, S. 196. 69 schnellere Abschaffung der Yusin-Verfassung. Die Demonstrationen spitzten sich immer mehr zu und erreichten am 15. Mai 1980 den Höhepunkt. An diesem Tag gingen allein in der Hauptstadt Seoul rund 100.000 Studenten und zahlreiche Bürger auf die Straßen und stellten die Forderung nach unverzüglichen Maßnahmen zur Demokratisierung. Im Gegensatz zum politischen Postulat der Demonstranten verkündete Präsident Choi unter dem Druck Chuns den Kriegsrechtserlass Nr.10, der das bisher nur kommunal beschränkte Kriegsrecht auf das ganze Land ausweitete. Die Nationalversammlung wurde aufgelöst und Streiks sowie jede politische Betätigung und Versammlungen wurden verboten. Schließlich wurden zwei Dutzend wichtiger Politiker der Regierungspartei und der Oppositionspartei, darunter sowohl Kim Dae Jung, als auch Kim Jong Pil, aufgrund eines angeblichen Umsturzversuches bzw. aufgrund angeblicher Korruption verhaftet, damit die potenziellen politischen Gegner Chuns, die seinen politischen Alleingang zum künftigen Staatspräsidenten gefährden konnte, von der politischen Bühne entfernt wurden.

In Kwangju, der etwa 200 Kilometer südwestlich von Seoul entfernten Hauptstadt der Provinz Süd-Cholla, demonstrierten die Studenten gegen die Ausdehnung des Kriegsrechts und die Schließung der Universitäten. Im Lauf der Demonstration wurden die Studenten durch brutales Einschreiten der Polizei und des Militärs mehr und mehr radikalisiert. Ein belagerter Student äußerte seinen tiefen Schmerz über die grausame und aussichtslose Lage damals in Kwangju folgendermaßen: „Wie kann der Himmel so gnadenlos sein? Wir stehen vor einer großen Tragödie unseres Volkes. Die Soldaten, die der Verteidigung des Volkes verpflichtet sind, massakrieren das Volk. (...) Eine Kampftruppe der Polizei hat den Bürgern den Weg versperrt, sie mit Tränengas beschossen. Die aus der Hauptstadt Seoul eilig entsandten Fallschirmjäger haben mit Bajonetten die fliehende Bevölkerung abschlachtet, Schülerinnen aus den Häusern geschleppt und vor den Augen der Menge getötet. Diese Brutalität löste den Aufstand der Bürger aus. Mit geballten Fäusten stehen sie den Bajonetten gegenüber. (...) Die Fallschirmjäger haben der Bevölkerung immer wieder zugeschrien: „Wir töten auch euch!“ Nackte, blutende Studentinnen wurden abgeführt. Aber die Fallschirmjäger waren selbst verstört, denn diesen Protest der Bevölkerung hatten sie nicht erwartet. Sie verfrachteten Leute wie Vieh in Lastwagen, traten sie mit Stiefeln. Die Leichen verfaulen am Straßenrand. Junge Leute liegen wie Trockenfisch festgebunden aneinandergereiht auf der Straße.“144

So kam es ab dem 19. Mai zu bürgerkriegsähnlichen Kämpfen zwischen etwa 50.000 bewaffneten Demonstranten auf der eine Seite und Polizei und Militär auf der anderen. Im Verlauf der Kämpfe schlossen sich weite Teile der Bevölkerung den Aufständischen an, deren

144 „Der Spiegel“ vom 02.06.1980, S. 130. 70 Gesamtzahl auf 150.000 geschätzt wurde. Zum ersten Mal seit den 50er Jahren erlebte Südkorea einen, wenn auch regional begrenzten, Bürgerkrieg.145 Wegen des heftigen und bewaffneten Widerstandes der Stadtbewohner verloren die Polizei und das Militär die Kontrolle über die Stadt und zogen sich zurück. Damit ging die ganze Stadt, abgesehen vom Gefängnis, über in die Hand der Aufständischen.

Um die weitere Ausbreitung des Aufstandes zu verhindern, riegelte das Militär alle Straßen und Wege aus Kwangju hermetisch ab und wartete auf den Befehl zum sofortigen Eindringen mit Panzern, Kampfhubschraubern und Maschinengewehren. Darüber hinaus waren die Massenmedien aufgrund der scharfen Zensur nicht in der Lage, über die Schreckenstage in Kwangju zu berichten. Stattdessen gab es die Information, dass die Stadt von kommunistischen Rebellen besetzt worden wäre. So war die Stadt Kwangju von der Außenwelt völlig isoliert. Unter diesem Umstand wurde ein fünfzehnköpfiger Bürgerrat gebildet, der aus Personen verschiedener Berufe und Schichten bestand. Der Rat unternahm den Versuch, mit der Armee über einen Waffenstillstand zu verhandeln. Aber die Verhandlung scheiterte, weil das Militär die Forderungen des Bürgerrats ablehnte. Dieser verlangte vom Militär die sofortige Freilassung aller Festgenommener, eine Entschuldigung der Militärregierung für die Brutalität gegen die Demonstranten, die Entlassung des Generals Chun und Kompensationszahlungen für die Familien getöteter Demonstranten. Schließlich stürmten die Soldaten der Regulären 20. Division der Armee bei Einbruch der Morgendämmerung am 27. Mai 1980 die Stadt, die sie nach leichteren Kämpfen innerhalb von vier Stunden unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Damit waren die Demonstranten geschlagen und das Kriegsrecht in Kwangju wiederhergestellt. An diesem Tag wurden mindestens 200 Demonstranten getötet, weitere 1.000 schwer verletzt und mehrere tausend festgenommen.146 Mit der Niederschlagung der „Demokratischen Bewegung von Kwangju“ ging der „Seouler Frühling“ 147 zu Ende. Die nach der Ermordung Parks vom Volk gewünschte Demokratisierung und Liberalisierung in Südkorea wurde wieder vom Militär niedergeschlagen und die weitere Entwicklung in dieser Richtung blockiert. Außerdem trug die unumstrittene Tatsache, dass General Wickham, der amerikanische Oberkommandierende in Korea, einige dem gemeinsamen amerikanisch-koreanischen Kommando unterstellte

145 Kindermann Gottfried-Karl, Der Aufstieg Koreas in der Weltpolitik: Von der Landesöffnung bis zur Gegenwart, München 2005, S. 187. 146 Die genaue Zahl der Opfer wurde bis heute nicht ermittelt. Nach Angaben einer in den 90er Jahren eingesetzten Kommission lag die Zahl der Opfer des Gwangju-Massakers bei 207 Toten und etwa 1000 Schwerverletztern. Aber die Opferorganisationen gehen von mindestens 1.000 Toten und 15.000 Verletzten aus. Die Opfer wurden auf einem eigenen Friedhof bestattet, an dem später eine nationale Gedenkstätte eingerichtet wurde. 147 Gang Man Gil, Koreanische Geschichte im 20 Jahrhundert., 1999 Seoul, S. 324. 71 koreanische Einheiten freigab, damit sie in Kwangju eingesetzt werden konnten, zum später stärker anwachsenden Anti-Amerikanismus in der südkoreanischen Bevölkerung bei.

Am 31. Mai nach dem Massaker von Kwangju wurde ein „Gemeinsamer militärischer und ziviler Sonderausschuss für Nationale Sicherheitsmaßnahmen“ als oberste politische Instanz des Landes gebildet. General Chen wurde zum Vorsitzenden des Ausschusses gewählt und konnte durch diesen Posten die drei Gewalten der staatlichen Obrigkeit ausüben. Bereits im Juni 1980 führte der Sonderausschuss Säuberungsaktionen größten Umfangs durch. In erster Linie klagte der Ausschuss den Oppositionsführer Kim Dae Jung mit einigen Politikern zusammen vor dem Militärgericht an, da der Ausschuss nach der Untersuchung des Kwangju- Aufstandes behauptete, dass Kim versucht habe, mithilfe des Kwangju-Aufstandes die Regierung zu stürzen. Nicht nur Politiker und Beamte, sondern auch Professoren und Lehrer sowie zahlreiche Journalisten wurden fristlos entlassen. Schließlich legte am 16. August 1980 der amtierende Präsident Choi unter dem Druck Chuns sein Amt nieder. So räumte General Chun endgültig alle Steine aus dem Weg. Danach, am 27. August, wurde Chun nach der Yusin-Verfassung im „Nationalen Rat für Wiedervereinigung“ zum Präsidenten gewählt. Am 27. Oktober 1980 wurde eine von der Regierung entworfene Verfassungsänderung148 nach einem unter dem Kriegsrecht durchgeführten Volksentscheid angenommen. Im Februar 1981 wurde Chun noch einmal nach der geänderten Verfassung im Wahlgremium, das „dem Nationalen Rat für Wiedervereinigung“ ähnelte, zum Präsidenten der fünften Republik Korea gewählt.

4.2. Die Wiedervereinigungspolitik der Regierung Chun In der Antrittsrede am 01. September 1980 erklärte Chun über seine Auffassung der Süd- Nord-Frage: „Ich bin der festen Ansicht, dass ein Krieg auf der koreanischen Halbinsel verhindert werden muss und dass die Vereinigung des Volkes und des nationalen Territoriums auf friedlichem Wege zu erfolgen hat. (...) Ausgehend von dem Grundsatz der Gegenseitigkeit, wird die Regierung auch gegenüber den Ländern, die andere Ideologien und Gesellschaftssysteme besitzen, eine Politik der offenen Tür treiben und beständig nach einer praktischen Zusammenarbeit mit dem Ausland trachten.“ 149 In der Erklärung betonte er

148 Es bestanden keine großen Unterschiede zwischen den beiden Verfassungen. Nennenswert ist, dass die Amtszeit des Präsidenten in der veränderten Verfassung 7 Jahre ist und derselbe Präsident nicht wiedergewählt werden darf. Im Grund genommen wurde das indirekte Wahlsystem des Präsidenten gar nicht angetastet. Insofern blieb die Änderung weit entfernt von der demokratischen Verfassungsreform, die seit der Yusin- Verfassung das Volk wünschte. 149 Archiv der Gegenwart: 50. Jahrgang 1980, St. Augustin, S. 23827. 72 erneut die friedliche Wiedervereinigungspolitik seines Vorgängers und knüpfte eindeutig an die „Sieben-Punkte-Erklärung“ Parks von 1973 an, in der Südkorea die Politik der offenen Tür zur Verbesserung der Beziehungen zu kommunistischen Ländern einschließlich Nordkorea betrieb. Der Präsident Chun versuchte seine Vorstellung über die Wiedervereinigung dadurch umzusetzen, dass er am 12. Januar 1981 erstmals dem Norden ein Gipfeltreffen vorschlug: „Heute möchte ich vorschlagen, dass die Verantwortlichen, die in der Hierarchie im Norden und Süden die höchsten Stellungen bekleiden, sich gegenseitig abwechselnd Besuche abstatten, ohne sich darum zu kümmern, wer in der Vergangenheit recht oder unrecht hatte. Diese Bemühungen sollen dem Zweck dienen, eine entscheidende Gelegenheit zur Wiederherstellung des nationalen Vertrauens zwischen dem Norden und dem Süden zu schaffen, eine Wiederkehr des Krieges zwischen Landsleuten zu verhindern und den Weg zu einer friedlichen Wiedervereinigung durch eine nicht an Bedingungen geknüpfte Wiederaufnahme des abgebrochenen Nord-Süd-Dialogs zu öffnen.“150 Nach der Ablehnung von Nordkorea151 erneuerte Chun am 5. Juni seinen Vorschlag vom Januar und stellte nunmehr einen konkreten Durchführungsweg zum Gipfeltreffen vor: Das Gipfeltreffen könne irgendwo im In- oder Ausland stattfinden; beim Gipfeltreffen können alle Fragen hinsichtlich der Wiedervereinigung Koreas behandelt werden; der Süden überlässt dem Norden die Wahl über die Zeit und den Ort des Gipfeltreffens. Die Wiedervereinigung muss durch das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung erreicht werden.152

Am 22. Januar 1982 legte Präsident Chun vor der Nationalversammlung den südkoreanischen Stufenplan für eine Wiedervereinigung vor. Es handelt sich um einen 7-Punkte-Vorschlag zur Wiedervereinigung Koreas. Außerdem wiederholte er seinen am 12. Januar 1981 unterbreiteten Vorschlag eines Gipfeltreffens zwischen ihm und dem nordkoreanischen Präsidenten Kim Il Seong, das dieser jedoch am 19. Januar 1981 zurückwies. Chun schlug die Schaffung einer „Konsultativkonferenz für die nationale Wiedervereinigung“ (KKNV) vor, der Repräsentanten der Bevölkerung aus dem Norden und dem Süden mit der Aufgabe angehören sollten, eine Verfassung zu entwerfen, in der die Bedingungen für eine Vereinigte Demokratische Republik Korea niedergelegt werden. Zudem sollte ein freies, demokratisches

150 Wiedervereinigungsministerium, Der innerkoreanische Dialog, Band 25. Seoul 1981, S. 11. 151 Der eine Grund dafür ist angeblich die Rücksicht auf die unterdrückte Opposition Südkoreas. Die Nordkoreaner ging davon aus, dass die südkoreanische Opposition sich von Nordkorea verraten glauben sowie den Mut verlieren würde und teilweise aufhören könnte, eine konstruktive Rolle zu spielen, wenn es zu einem Gipfeltreffen zwischen den Präsidenten des Nordens und Südens käme. Der andere ist die kritische Einstellung der Nordkoreaner zur Regierung Chun. Die Kommunisten in Nordkorea hielten den Präsidenten Chun und seine Gefolgsleute für Mörder und betrachteten die Annahme des Gipfeltreffens als eine Beleidigung der geheiligten Sache der Wiedervereinigung und als einen Betrug an der südkoreanischen Bevölkerung. 152 Yang Young Shik, a. a. O., S. 191. 73 Referendum auf der ganzen koreanischen Halbinsel über den Verfassungsentwurf abgehalten und Süd- und Nordkorea vereinigt werden, indem die Gesetzgebung vereinheitlicht und entsprechend der Verfassung durch allgemeine Wahlen eine Regierung gewählt werde.

Im Mittelpunkt steht aber der folgende 7-Punkte-Vorschlag für ein Nord-Süd-Abkommen: Erstens müssten bis zur Wiedervereinigung die Beziehung zwischen dem Süden und dem Norden auf dem Prinzip der Gleichberechtigung und der Gegenseitigkeit beruhen. Zweitens verzichteten beide Staaten auf alle Arten militärischer Gewaltanwendung und andere Gewaltakte wie auch auf ihre Androhung und strebten die Lösung aller Probleme durch Dialog und Verhandlungen an. Drittens erkennen beide Seiten ihre jeweilige politische Ordnung und ihre gesellschaftlichen Institutionen an und sie mischen sich nicht in die inneren Angelegenheiten des anderen ein. Viertens lassen beide Seiten den gegenwärtigen Zustand des Waffenstillstands in Kraft und arbeiten zugleich Maßnahmen zur Beendigung des Wettrüstens und der militärischen Konfrontationen aus. Fünftens würden beide Seiten ihre Gesellschaft schrittweise öffnen, und zwar durch verschiedene Formen des Austausches und der Zusammenarbeit einschließlich freien Reiseverkehrs und Zusammenführung von getrennten Familien und durch interkoreanische Austauschbeziehungen in praktisch allen Lebensbereichen wie Handel, gegenseitigem Postverkehr, Kommunikationswesen, Sport, Erziehung, Technologie und Umweltschutz. Sechstens respektieren beide Seiten bis zu ihrer Vereinigung ihre bilateralen und multilateralen Verträge und Abkommen mit Drittländern und sie führen miteinander Konsultationen über Fragen, die die Interessen des koreanischen Volkes als Ganzes betreffen. Schließlich richten beide Seiten in ihren Hauptstädten Verbindungsmissionen ein und ernennen einen dort ständig wohnhaften bevollmächtigten Gesandten im Range eines Kabinettsministers. Das weiteren schlug Chun eine Zusammenkunft hochrangiger Delegationen unter Leitung von Repräsentanten beider Seiten im Rang von Kabinettsministern vor, auf der das Gipfeltreffen zwischen Seoul und Pjöngjang vorbereitet werden sollte.153

Diese Vorschläge wurden wiederum am 1. Februar 1982 vom Minister Sohn Jae Shik von Amt für Nationale Wiedervereinigung präzisiert. Der Minister Sohn präsentierte ein 20- Punkte-Programm, wie der von Präsidenten Chun vertretene Wiedervereinigungsplan zu realisieren ist.154

153 Stenografisches Plenarsitzungsprotokoll der Nationalversammlung vom 22. Januar 1982. 154 Die Einzelheiten sind folgendermaßen: 1. Ausbau und Eröffnung einer Straßenverbindung zwischen Seoul und Pjöngjang zum freien Zugang zu beiden Landesteilen, 2. Beginn des Briefaustausches und Wiedervereinigung getrennter Familien, 74 Im Grunde zielte das Programm zuerst auf die Verringerung der Spannungen auf der koreanischen Halbinsel, die schrittweise Öffnung beider Landesteile, die Förderung des gegenseitigen Vertrauens und der nationalen Homogenität und schließlich die Schaffung eines friedlich wiedervereinten Korea auf der Grundlage nationaler Aussöhnung.

Trotz der positiven Annäherung155 zwischen dem Süden und dem Norden und des innerkoreanischen Dialoges in wirtschaftlichen und sportlichen Bereichen konnte die Regierung Chun die Konfrontation mit Nordkorea genauso wie ihre vorherige Regierung Park nicht überwinden. Da die Regierung Chun durch die brutale Niederschlagung des Kwangju- Aufstandes die Macht über die Staatsgewalt gewonnen hatte, war die Unterdrückung der politischen Tätigkeit des Regimegegners und die Nichtzulassung einer offenen Diskussion über die Wiedervereinigungsfrage in der Öffentlichkeit für die Regierungszeit vorprogrammiert. Insofern wird man wohl kaum fehlgehen mit der Annahme, dass die

3. Öffnung des Gebietes nördlich des Sorakgebirges und südlich des Kumganggebirges als gemeinsames Touristengebiet, 4. Gemeinsame Durchführung von Besuchsprogrammen von Auslandskoreanern und freie Reisemöglichkeiten für sie zwischen den beiden Landesteilen über Panmunjom, 5. Öffnung der Häfen Inchon und Chinnampo für freien Handel zwischen dem Norden und dem Süden, 6. Einstellung der Propagandasendungen und Abschaffung der Störsender, Zulassung der beidseitigen regulären Radioprogramme, 7. Teilnahme des Nordens an den Asiatischen Spielen 1986 und an der Olympiade, Einreise in den Süden über Panmunjom, 8. Freier Zugang zu beiden Landesteilen über Panmunjom für ausländische Touristen, 9. Errichtung einer gemeinsamen Fischereizone zur freien Nutzung durch nord- und südkoreanische Fischer, 10. Besucheraustausch von Repräsentanten aller Schichten wie Politikern, Geschäftsleuten, Jungendlichen, Studenten, Arbeitern, Schriftstellern, Künstlern, Sportlern, zur Verbesserung der Beziehungen und zum Aufbau einer Vertrauensbasis, 11. Zulassung von Journalisten zur freien Berichterstattung über die Lage in beiden Landesteilen, 12. Gemeinsame Geschichtsforschung zur Bewahrung und Entwicklung der nationalen Kultur, 13. Durchführung von Freundschaftsspielen im Sport und Bildung einer gemeinsamen Mannschaft für internationale Sportveranstaltungen, 14. Handel mit den wichtigsten Lebensgütern, 15. Gemeinsame Entwicklung und Nutzung der Bodenschätze, 16. Austausch von Technikern und Ausstellungen von Fertigwaren, 17. Bau von Sportanlagen innerhalb der entmilitarisierten Zone zur Durchführung von Freundschaftsspielen zwischen Nord- und Südkorea, 18. Gründung von gemeinsamen akademischen Forschungsprogrammen zur Untersuchung des ökologischen Systems von Fauna und Flora in der entmilitarisierten Zone, 19. Entfernung aller militärischen Anlagen aus der entmilitarisierten Zone zum Abbau der Spannungen, 20. Beratungen über Maßnahmen zur Rüstungskontrolle und Einrichtung einer direkten Telefonverbindung zwischen den verantwortlichen militärischen Führen beider Seiten. In: Amt für Nationale Wiedervereinigung, Eine vergleichende Studie Nord- und Südkoreas, Seoul 1982. S. 30f. 155 Nach dem Vorschlag des Roten Kreuzes Nordkorea, den Überschwemmungsopfern Südkoreas Hilfe anzubieten, erfolgte im November 1984 der Transport der nordkoreanischen Hilfsgüter nach Südkorea. Nach dieser Aktion folgten anschließend Wirtschaftsgespräche, Sportgespräche über die gemeinsame Teilnahme an den Olympischen Sommerspielen in Los Angeles und Gespräche zwischen beiden Nationalversammlungen. Allerdings kam es nicht zu konkreten Ergebnissen. 75 Regierung Chun aufgrund des Mangels an Regierungslegitimation nicht in der Lage war, die richtige Wiedervereinigungspolitik gegenüber Nordkorea problemlos durchzusetzen.

2.2.1.2.1.5. Die Regierung Roh Tae Woo (1988-1994)

1.Der Ausgangspunkt der Regierung Roh Für das südkoreanische Volk war das Jahr 1987 eines der Schicksalsjahre in der koreanischen Geschichte. Denn die politische Demokratie in Südkorea wurde endlich durch den „Juni- Widerstand“ realisiert. Der unmittelbare Ausgangspunkt der südkoreanischen Demokratisierung war allerdings die historische „Erklärung vom 29. Juni 1987“, die vom Juni-Aufstand direkt angeregt wurde und eine lange Vorgeschichte hatte: Am Ende des Jahres 1986 kündigte der Präsidenten Chun an, dass er und seine Regierung die Präsidentschaftswahl vom 16. Dezember 1987 nach einer neu zu entwerfenden Verfassung abhalten wollten. Der Präsident Chun und seine regierende Demokratische Gerechtigkeitspartei beabsichtigten durch die Verfassungsänderung, die politische Macht weitgehend an den vom Parlament gewählten Ministerpräsidenten zu übertragen. Im Gegensatz zur Vorstellung der Regierung forderte die Opposition die direkte Wahl des Präsidenten durch das Volk, weil die Übermacht der Regierungspartei im Parlament einstweilen nicht zu brechen sei und Regimegegner fest davon überzeugt waren, dass der erwünschte Machtwechsel und die politische Demokratisierung nur durch den vom Volk direkt gewählten Präsidenten gelingen würden. Somit führte der Plan der Verfassungsänderung zu heftigen Diskussionen zwischen der Regierung und den Oppositionsparteien, die das Vorhaben der Regierung mit allen Mitteln verhindern wollten.

Die Frage der Verfassungsreform führte zudem nicht nur zum Konflikt zwischen Regierung und Opposition, sondern rief auch eine schwere Spaltung innerhalb der führenden Oppositionspartei der „Neuen Koreanischen Demokratischen Partei“ hervor. Mit der harten Kritik, dass der Parteivorsitzende Lee Min Woo einem Kompromiss der Regierung zuneigte, traten Kim Young Sam und Kim Dae Jung mit ihren Gefolgsleuten aus der Partei aus und gründeten eine neue Oppositionspartei mit dem Namen „Demokratische Wiedervereinigungspartei“. Allerdings war die von schweren politischen Turbulenzen begleitete Kontroverse über die Verfassungsreform und das daraus resultierende Durcheinander in der innenpolitischen Konstellation für den Präsidenten Chun ein willkommner Vorwand, die Verhandlungen mit der Opposition zu beenden. In einer Ansprache vom 13. April 1987 plädierte der noch amtierende Präsident Chun, dass die

76 leidenschaftliche Auseinandersetzung über die Verfassungsreform erst nach dem Olympiadesommerspiel in Seoul 1988 fortgesetzt werden soll. Mit dieser Ansprache drückte er eindeutig aus, dass die noch im Jahr 1987 fälligen Präsidentschaftswahlen noch nach der Bestimmung der bestehenden alten Verfassung nicht direkt vom Volk, sondern von einem Wahlmännergremium von etwa 5.000 Personen durchgeführt werden sollen. Diese Absicht der Regierung war aber für Studenten und Oppositionelle nicht akzeptabel, die sich seit den Erlassen der Yu-Shin Verfassung permanent für die Direktwahl des Präsidenten einsetzten. Außerdem verbot der Präsident die öffentliche Diskussion über die Verfassungsreform und anschließend ernannte am 10. Juni Roh Tae Woo, den Vorsitzenden der regierenden „Demokratischen Gerechtigkeitspartei“, zum einzigen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl. Die schwerwiegende Folge davon war, dass die südliche Seite der koreanischen Halbinsel von der höchsten Welle vehementer Demonstrationen verschlungen wurde, die Südkorea seit 1980 erlebte. In mehr als 20 Großstädten Südkoreas kam es zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten. Dabei wurden mehrere Tausende Demonstranten verhaftet und unzählige Zivilisten von Gasgeschossen der Polizei verletzt. Vor allem seit Anfang Juni 1987 gehörten in der Hauptstadt Seoul schwere Straßenschlachten zwischen den Demonstranten und der Polizei zum Alltagsbild. Ein Hagel von Pflastersteinen ging auf die Polizisten nieder, die Polizeifahrzeuge und Busse wurden von Molotowcocktails seitens der Demonstranten ausgebrannt. Die Polizei feuerte wahllos viele tausend Tränengasgranaten in die Menschenmasse. Mehrere Demonstranten wurden von Gasgeschossen am Kopf getroffen und lebensgefährlich verletzt. Ein europäischer Spitzendiplomat in Seoul brachte die brenzlige Situation so zum Ausdruck, dass das hier ein Volksaufstand sei, gleich ein offener Bürgerkrieg sei.156

Unter diesem weitergehenden heftigen Umstand explizierte der Oppositionsführer Kim Young Sam, dass Südkorea gerade vor einem Wendepunkt der koreanischen Geschichte steht. In der Tat wurde ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg der Demokratisierung in Südkorea gelegt, als am 29. Juli 1987 der Präsidentschaftskandidat der regierenden Partei Roh sein Acht-Punkteprogramm zur Demokratisierung und Liberalisierung Südkoreas verkündete, das an erster Stelle die Verfassungsreform mit einer Direktwahl des Präsidenten durch das Volk, die parteilose Durchführung der Präsidentenwahlen, die Rehabilitierung des Dissidenten Kim Dae Jung, die Wiederherstellung der Pressefreiheit, die Bildung des Landtages und des kommunalen Rates, das Verbot der Menschenrechtsverletzung und die Gewährleistung der

156 „Der Spiegel“ vom 22. Juni 1987 (26/1987), S. 101. 77 Universitätsautonomie umfasst.157 Darüber hinaus plädierte er mit starkem Ton, dass er von allen Ämtern und auch von der Position des Präsidentschaftskandidaten seiner Partei zurücktreten werde, sollten Präsident Chun und die Partei seinen Vorschlag nicht akzeptieren. Nach kurzer Überlegung gab der Präsident Chun eine Erklärung ab, in der er sich voll hinter den überraschenden Vorschlag von Roh stellte. Damit kapitulierte die Regierung Chun und versetzte die Koreaner, die für die Verfassungsreform und die wahre Demokratie demonstrierten, in Jubelstimmung. Anschließend nach der Erklärung Chuns wurden 2.335 Dissidenten, die sich in Haft befanden, entlassen und ihre Bürgerrechte wiederhergestellt. Der nach den Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition vorgelegte Entwurf einer neuen Verfassung wurde zuerst von der Nationalversammlung und danach am 27. Oktober 1987 bei der Volksabstimmung158 ohne weitere Schwierigkeiten angenommen. Hiermit ging die gewaltige Auseinandersetzung der Verfassungsreform endgültig zu Ende. Nach dieser Verfassung wurden die Präsidentschaftswahlen vom 16. Dezember 1987 durchgeführt. Bei den Wahlen gewann der Präsidentschaftskandidat der regierenden Partei, Roh Tae Woo, da sich die beiden Führer der Demokratischen Wiedervereinigungspartei, Kim Young Sam und Kim Dae Jung, vor den Wahlen nicht darüber einigen konnten, wer Präsidentschaftskandidat ihrer Partei werden sollte. Am Ende der Auseinandersetzung über den gemeinsamen Kandidaten der führenden Oppositionskräfte kandidierten die beiden mit je einer eigenen Partei. Daraus ergab sich, dass der Kandidat der Regierungspartei wegen der Zerstreuung der Stimmen für die Opposition mit einer nur relativen Mehrheit die Wahl gewann.159

Im Gegensatz zum verheerenden Durcheinander der innenpolitischen Lage war weltpolitisch der Wandel der sowjetischen Innen- und Außenpolitik unter Präsident Gorbatschow wichtig. Nach der Übernahme der politischen Führung 1985 durch Michail Gorbatschow dezimierte sich sukzessive Moskaus ideologisches Vorstellungsbild von einer grundsätzlichen Hegemonie des Sozialismusmodells beziehungsweise von der Konfrontation zwischen dem Osten und dem Westen als Grundgegebenheit der Außenpolitik. Nicht nur aus wirtschafts- und sozialpolitischen Gründen, die in erster Linie aus der machtmäßigen Überlastung der Sowjetunion hervorgegangen waren, sondern auch aus Gründen des außenpolitischen Ansehens der Sowjetunion steuerte Moskau den Kurs auf Kooperation statt Konfrontation in der Außenbeziehung. In der Tat strebte die Moskauer Regierung nach einer aktiven

157 Gang Man Gil, a. a. O., S. 344. 158 Bei der Wahlbeteiligung von 78,2 Prozent der 25,6 Millionen wahlberechtigten Bürger wurde die neue Verfassung mit 93,3 Prozent der gültig abgegebenen Stimmen angenommen. 159 Bei den Wahl erhielten Roh Tae Woo 35,9 Prozent, Kim Young Sam 27,5 Prozent, Kim Dae Jung 26,5 Prozent der Stimmberechtigten. In der Tat hätten die vereinigten Oppositionskräfte 54 Prozent der Stimmen und damit die absolute Mehrheit erhalten können. 78 Friedensdiplomatie, die sich transatlantisch auf die Vereinigten Staaten, in Europa auf Deutschland und die Ostblockregime sowie ostasiatisch-pazifisch auf China und Japan richtete.

5.2. Die Wiedervereinigungspolitik der Regierung Roh Der Ansatzpunkt der Wiedervereinigungspolitik der ersten Regierung in der sechsten Republik ist die neue Verfassung, die von der Außenwelt eine starke demokratische Legitimation erhielt. In dieser Verfassung wurde zum ersten Mal in der koreanischen Geschichte der Grundsatz zur friedlichen Wiedervereinigung verankert. In der Präambel der neuen Verfassung wurde die Aufgabe der Nation zur friedlichen Wiedervereinigung betont: Artikel 4 fordert das Streben nach friedlicher Wiedervereinigung auf der Grundlage der Prinzipien von Freiheit und Demokratie und die treue Pflicht des Präsidenten zur friedlichen Widervereinigung wurde im Artikel 66 dargelegt.160 Damit bemühte sich die erste Regierung der sechsten Republik um neue Gestaltung der Nord-Süd-Beziehung.

Im Gegensatz zu der vorherigen Regierung Chun führte die Regierung Roh die Politik gegenüber Nordkorea im Rahmen der so genanten „Nordpolitik“ durch. Diese Nordpolitik war eine auswärtige Gesamtpolitik gegenüber den kommunistischen Ländern, die vor allem Nordkorea, China, Sowjetunion und osteuropäische Länder umfassen. Diese Politik rekurriert ursprünglich auf die unter dem Präsidenten Park geleitete Außenpolitik in den frühen 70er Jahren. 161 Angesichts der Entspannung und Annäherung zwischen den Vereinigten Staaten und China war es nötig, dass Südkorea seine damalige Politik gegenüber den kommunistischen Ländern verändert, um zum Wandel der sicherheitspolitischen Umwelt zu passen. Seither versuchte die südkoreanische Regierung, den diplomatischen Kontakt zur Sowjetunion und zu China aufzunehmen. Zwar konnte es zur substantiellen Kontaktaufnahme auf Regierungsebene nicht kommen, aber es gab viele Kontakte zwischen Südkorea und den beiden kommunistischen Großmächten in den 70er und 80er Jahren auf der Zivilebene wie Sport, Wissenschaft und Handel.

Am 25. Februar 1988 verkündete der nach der neuen Verfassung durch die Präsidentschaftswahl gewählte Staatenpräsident Roh Tae Woo in der Amtsantrittsrede erst die

160 Presse- und Informationsamt, a. a. O., S. 304f. 161 Der heute verwendete Begriff „Nordpolitik“ kam aber vom Außenminister der Regierung Chun, Lee Bum Suk, beim Vortrag an der „National Defence University“ im Jahr 1983 im Hinblick auf das Vorbild der westdeutschen Ostpolitik zu sprechen. Dabei bekräftigte er die Notwendigkeit für gute nachbarschaftliche Beziehungen zu China und Sowjetunion, um innerkoreanische Beziehungen zu verbessern und den Frieden auf der koreanischen Halbinsel zu erhalten. 79 Vorstellung über die mit dem Ziel der Wiedervereinigung verbundene Nordpolitik: „Wir werden die Nordpolitik definitiv verfolgen und Verbindungen mit den nördlichen Ländern verbessern, mit denen Südkorea keine diplomatischen Verbindungen hat. Verbesserte Verbindungen mit diesen Ländern werden zur Stabilität, Frieden und gewöhnlichem Wohlstand im nordöstlichem Asien beitragen (...) Dieser diplomatische Kurs wird auch auf den Weg zur Wiedervereinigung unseres geteilten Vaterlandes führen.“162

Ergänzt durch den innenpolitischen Reformwillen, unter anderem sichtbar an der neuen Verfassung als Gemeinschaftsprodukt von Regierung und Opposition, setzte der neue Präsident damit völlig andere Akzente der südkoreanischen Regierungspolitik als seine Vorgänger.163 Er war im Bezug auf die grundlegende Änderung der außenpolitischen Lage fest davon überzeugt, dass die diplomatische Verbesserung mit den kommunistischen Ländern zur Wiederherstellung der nationalen Einheit führen wird.

In diesem Zusammenhang erklärte Präsident Roh am 7. Juli 1988 in einer Ansprache die neue Politik gegenüber Nordkorea, die durch drei Punkte gekennzeichnet ist: Erstens wird Südkorea Nordkorea nicht mehr als Staatfeind, sondern als ein Mitglied einer ethnischen Gemeinschaft betrachten. Zweitens wird Südkorea Nordkorea zu der aktiven Teilnahme an der internationalen Gemeinschaft als ein verantwortliches Mitglied helfen. Drittens wird Südkorea kontinuierlich eine Politik gegenseitiger Zusammenarbeit und Versöhnung zwischen dem Süden und dem Norden verfolgen.164

Diese so genannte „Sondererklärung zur nationalen Selbstachtung, Wiedervereinigung und Prosperität vom 7. Juli 1988“, die vor allem 6 Vorschläge 165 des südkoreanischen

162 Präsidialamt, Redesammlung des Präsidenten Roh Tae Woo Bd. 1, Seoul 1992, S. 11. 163 Andreas Wilhelm, Südkorea neue Nordpolitik, Frankfurt/M. 1996, S. 50. 164 Wiedervereinigungsministerium, Weißbuch 2003, Seoul 2003, S. 22. 165 Die Einzelne der Vorschläge Rohs lautet: 1. Es sollen gegenseitige Besuche aller gesellschaftlichen Gruppen möglich sein – wobei außer den Sektoren Politik, Wirtschaft, Journalismus, Religion, Kultur, Künsten und Wissenschaft auch Kontakte von Studenten genannt werden, deren Kontaktversuche kurz zuvor von südkoreanischen Sicherheitskräften vereitelt worden waren. Koreanern, die im Ausland leben, soll der Besuch im Norden und Süden der Halbinsel erlaubt sein. 2. Die Zusammenführung der getrennten Familien soll durch eine systematischer Suche nach überlebenden Angehörigen, Ermittlungen von Anschriften – im Todesfall von Grabstätten -, die Zulassung des Briefverkehrs und andere konkrete Hilfsmaßnahmen vorbereitet werden. Bislang hat nur einmal ein gegenseitiger Besuch von Delegationen stattgefunden, bei dem je rund 50 Mitglieder getrennter Familien die Möglichkeit zu einem Wiedersehen mit ihren Familienangehörigen erhielten. Südkoreanische Stellen schätzen, dass die Familien von mehr als 10 Millionen Koreaner durch die Teilung von 1945 oder den Koreakrieg von 1050-1953 zerrissen worden sind. 3. Die Wirtschaftbeziehungen sollen durch die Aufnahme des bilateralen Handels gefördert werden. Bisher gibt es keinerlei regulären Warenaustausch zwischen Nord- und Südkorea. 4. Südkorea will im Interesse einer ausgewogenen Wirtschaftsentwicklung darauf verzichten, den Handel Nordkoreas mit westlichen Ländern wie Japan oder Amerika zu behindern. 80 Präsidenten Roh umfasst, enthält im Gegensatz zu früheren Initiativen keine Bedingungen oder Formulierungen, die das Selbstwertgefühl des Nordens verletzen. Auch bisher immer deutlich zum Ausdruck gebrachte Hinweise auf die wirtschaftliche Überlegenheit oder das gewachsene Militärpotential des Südens fehlten. Um diese Sondererklärung zu realisieren, wurde das „Gesetz zum Austausch und zur Kooperation zwischen dem Süden und dem Norden“ in Südkorea erlassen und am 1. August 1990 in Kraft gesetzt.

Im Sinne dieser Sondererklärung vom 7. Juli kündigte der Präsident Roh am 11. September 1989 in einer Rede vor dem Parlament weiter die „Wiedervereinigungspolitik zur Bildung der koreanischen Nationalgemeinschaft“ an.166 Diese Wiedervereinigungspolitik stellte Selbständigkeit, Frieden und Demokratie als die Prinzipien für die Widervereinigung und die Vision des zukünftig vereinten Staates auf, nämlich die Gründung eines demokratischen Staates mit der Gewährleistung der Freiheit, des Menschenrechts und des Wohlergehens. Diese Politik erforderte an erste Stelle die Schaffung eines „Grundsatzes der koreanischen Nationalgemeinschaft“, der durch ein Gipfeltreffen zwischen den beiden Staatoberhäuptern zustande kommt. Der Grundsatz der koreanischen Nationalgemeinschaft soll das Grundprogramm für den Frieden und die Wiedervereinigung, die Frage über den gegenseitigen Nichtangriff und die Einrichtung und die Leitung der einheitlichen Organisation in der Phase der Süd-Nord-Konföderation beinhalten. Danach soll die Nord- Süd-Konföderation als die Übergangsphase zur Wiedervereinigung gebildet werden. Während dieser Übergangsstufe sollten die beiden Seiten die nationale Identität wiederherstellen und die Koexistenz und den gemeinsamen Wohlstand ohne Rücksicht auf Unterschiede des politischen Systems suchen. Die Süd-Nord-Konföderation sieht nach dem Grundsatz der koreanischen Nationalgemeinschaft einen Präsidentenrat, einen Ministerrat, einen Parlamentsrat und ein gemeinsames Sekretariat vor. Nach dem endgültigen Erlassen der neuen Verfassung sollten allgemeine Wahlen abgehalten werden, um die Einheitsregierung und das Einheitsparlament zu bilden. Damit sollte ein vereintes Korea als ein Nationsstaat und eine demokratische Republik zustande kommen.167

5. Vertreter Süd- und Nordkoreas sollen im Ausland frei miteinander verkehren und nach Möglichkeit zusammenarbeiten. 6. Falls der Norden die Aufnahme von Beziehungen zu Japan oder zu den Vereinigten Staaten wünsche, sei der Süden bereit, Hilfestellung zu leisten. Andererseits will der Süden sein Verhältnis zu den sozialistischen Ländern, besonders zu China und der Sowjetunion, verbessern. Die japanische Regierung nahm die Initiative Rohs zum Anlass, ihrerseits dem Norden der geteilten Halbinsel erstmals direkt Verhandlungen zur Beilegung einer Reihe von Streitfragen und zur Verbesserung der Beziehungen vorzuschlagen. Tokio und Pjöngjang haben bisher noch keine diplomatischen Beziehungen aufgenommen. 166 Stenografisches Plenarsitzungsprotokoll der Nationalversammlung vom 11. September 1989. 167 Wiedervereinigungsministerium, Weißbuch 1998, Seoul 1999, S. 24f. 81 Trotz der Bemühungen um die Realisierung der südkoreanischen Wiedervereinigungspolitik brachte die Regierung Roh bis zum Ende der 80er Jahre den innerkoreanischen Dialog und Austausch nicht in Gang. Stattdessen hatte die Regierung Roh mit der Nordpolitik infolge der politischen Veränderungen in der Sowjetunion und schließlich in der Weltpolitik den durchschlagenden Erfolg: Nach den Olympiadesommerspielen in Seoul 1988 nahm Südkorea zuerst im Jahr 1989 mit Ungarn, dann mit Polen und Jugoslawien, schließlich 1990 mit der Sowjetunion volle diplomatische Beziehungen auf. Mit der Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zu China 1992 brachte die Regierung Roh die Nordpolitik unter Dach und Fach.

Unter diesen außenpolitischen Umständen begann die innerkoreanische Annäherung langsam. Am 4. September 1990 fand in Seoul das erste innerkoreanische Gespräch auf Ministerebene statt. Im Lauf der Amtsperiode Roh folgten insgesamt acht Ministergespräche, in denen Vereinbarungen auf verschiedenen Gebieten abgeschlossen wurden. Vor allem unterzeichneten die beiden Ministerpräsidenten nach dem fünften Gespräch am 13. Dezember 1991 das „Abkommen über Aussöhnung, Nichtangriff, Zusammenarbeit und Austausch zwischen dem Süden und dem Norden.“168 Darin kündigten beide Staaten einen Verzicht auf Provokationen und Diffamierungen an. Weiter wurden der friedliche Dialog, die gegenseitige Anerkennung der Systeme und der Gewaltverzicht angemahnt. Darüber hinaus wurden der Bau eines Nord-Süd-Verbindungsbüros in Panmunjom, die Bildung eines Nord-Süd- Militärkomitees, die Installierung einer Telefonleitung zwischen den Militärführungen im Rahmen der vertrauensbildenden Maßnahmen vereinbart. Schließlich wurde der Plan zur Wiederherstellung von Verkehrsverbindungen, Post- und Telekommunikationsverkehr und kulturellem Austausch erklärt.

Trotz der innerkoreanischen Annäherung und der erfolgreichen Verhandlungen mit positiven Ergebnissen kündigte Nordkorea am 29. Januar 1993 aufgrund des amerikanischen Verdachtes auf die Herstellung von Atombomben in Nordkorea und des südkoreanischen militärischen Großmanövern mit den USA an, die weiteren Verhandlungen mit Südkorea abzubrechen.169 Damit ging die dritte Tauwetterphase auf der koreanischen Halbinsel170 zu Ende, und das Grundsatzabkommen konnte nicht in die Tat umgesetzt werden. Trotzdem hat das Abkommen eine historische Bedeutung in der Wiedervereinigungsgeschichte, da sich

168 Vgl. Shim Ji Yeon, a. a. O., S. 416-419. 169 Wiedervereinigungsministerium, Weißbuch 2000, Seoul 2000, S. 14. 170 Hanns W. Maul, Der Prozess der Entspannung auf der koreanischen Halbinsel in: Partick Köllner(Hrsg.), Korea 2001, Hamburg 2001, S. 217. 82 beide Seiten schriftlich darauf einigten, sich gemeinsam und als gleichberechtigte Partner durch friedliche Verhandlungen für das Ziel der Wiedervereinigung einzusetzen.

Im Gegensatz zur vorherigen Regierung Chun kam die Regierung Roh durch das demokratische Wahlverfahren zustande und bracht einige positive Ergebnisse mit der Politik gegenüber Nordkorea. Zum ersten Mal fand das Ministergespräch zwischen beiden Seiten statt. Daraus resultierte das historische Grundsatzabkommen vom 13. Dezember 1991, das zwar wegen des einseitigen Abbruchs Nordkoreas nicht realisiert wurde. Außerdem öffnete die Regierung die diplomatischen Beziehungen zu den Ostblockstaaten und China. Trotzdem wurde die Regierung Roh von der Mehrzahl der südkoreanischen Bevölkerung nicht angenommen, sondern weitaus abgelehnt, weil die Regierung Roh durchaus als Kontinuitätsregime der diktatorischen Militärregime Park und Chun betrachtet wurde. Der Hintergrund dieser Betrachtung kam aus der unumstrittenen Tatsache, dass auch Roh genau so wie seine Vorgänger Park und Chun aus der Militärakademie stammt und am militärischen Putsch vom 12. Dezember 1979 mit dem General Chun beteiligt war. Schließlich führte der außenpolitische Erfolg mit den kommunistischen Ländern nicht auf die eigenen innerlichen Antriebskräfte, sondern mehr auf den äußerlichen Einfluss, nämlich den internationalen Konstellationswandel, zurück.

2.2.1.2.1.6. Die Regierung Kim Young Sam (1994-1998)

6.1. Der Ausgangspunkt der Regierung Kim

Während der Regierung Roh wurde die Bevölkerung nicht nur von der im Rahmen der Nordpolitik erfolgreich geleiteten Außenpolitik, sondern auch von der aus aufsehenerregenden Ereignissen bestehenden Innenpolitik überrascht. Als es im Januar 1990 in der Öffentlichkeit bekannt gegeben wurde, dass sich die Regierungspartei, die in der Nationalversammlung keine absolute Mehrheit hatte171, mit zwei Oppositionsparteien zu einer neuen Regierungspartei, Demokratisch-Liberale Partei, zusammenschließen würde, werteten die weiten Teile der Presse als „politische Revolution“.172 Die neue Partei verfügte über 215 der insgesamt 299 Sitze der Nationalversammlung, eine Zweidrittelmehrheit, die sogar in der Lage ist, die Verfassung zu ändern.173 Beim Gründungsparteitag am 9. Februar 1990 wurde

171 Im Sinne des Präsidialsystems bedeutet die Regierungspartei die Partei, an der amtierender Präsident gehört. 172 Kindermann Gottfried-Karl, a. a. O. , S. 271. 173 Die 215 Sitzen der Demokratisch-Liberalen Partei bestanden aus 54 Sitzen der Partei für Wiedervereinigung und Demokratie, 34 Sitzen der Neuen Demokratischen Republikanischen Partei und 127 Sitze der Regierungspartei, der Partei für Demokratie und Gerechtigkeit. 83 Roh Tae Woo zum Parteipräsidenten und Kim Young Sam zum Stellvertretenden Vorsitzenden ernannt, der aber bald vor den Präsidentschaftswahlen vom Dezember 1992 zum Präsidentschaftskandidaten der Regierungspartei gewählt wurde. Nach der Auszählung der Wahlen erhielt der Kandidat der Regierungspartei Kim Young Sam 42 Prozent der gültigen abgegebenen Stimmen. Der Kandidat der Oppositionspartei Kim Dae Jung lag mit 33,9 Prozent der Stimmen an zweiter Stelle und verlor zum dritten Mal die Wahl zur Präsidentschaft. Dieser Wahlerfolg Kims brachte die Periode der aus dem Militär stammenden Präsidenten in der südkoreanischen Geschichte zu Ende und wurde von der Bevölkerung als Ende der militärischen Diktaturherrschaft angenommen. Kim Young Sam war somit der erste Zivilist und zugleich der erste ehemalige Dissident an der Spitze des südkoreanischen Staates.174 Aus diesem Grund wurden er und seine Regierung von der breiten südkoreanischen Bevölkerung in euphorischen Stimmungen begrüßt.

6.2. Die Wiedervereinigungspolitik der Regierung Kim Als Kim Young Sam am 25. Februar 1993 seine fünfjährige Amtszeit als Staatpräsident der Republik Korea antrat, war die Hauptaufgabe seiner Amtszeit und seiner Regierung evident: Der 1987 eingeleiteten Demokratisierungsprozess in Südkorea ist zu konsolidieren und weiter voranzutreiben. Dafür waren die äußeren Umstände aber nicht unbedingt positiv. Zwar wurde Kim vom Volk direkt gewählt, aber nur von einer relativen Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Außerdem erlebt zu dieser Zeit die südkoreanische Wirtschaft eine empfindliche Rezession. Vor allem hatte sich seit 1992 aufgrund des Verdachts auf das nordkoreanische Nuklearwaffenprogramm das innerkoreanische Verhältnis ernorm verschlechtert.175 Unter solch schwierigen Umständen akzentuierte der neue und als erster Zivilist seit 1961 in der Geschichte der Republik Korea gewählte Präsident Kim in seiner Antrittsrede die zukünftige Vorstellung eines freieren und demokratischeren „Neu-Koreas“ und verkündigte, die einschneidende und durchgreifende Reformpolitik seiner Regierung durchzuführen, um die derzeit drei relevanten Nationalaufgaben zu bewältigen: Erstens, das massive Vorgehen gegen die überhand nehmende Korruption, Zweitens, den wirtschaftlichen Aufschwung durch die technische Innovation und freien Wettbewerb anzustreben und schließlich die Wiederherstellung der eisernen Disziplin, die sowohl im Amt als auch in der bürgerlichen Gesellschaft untergraben wurde. Darüber hinaus appellierte der südkoreanische Präsident an

174 Hans W. Maull, Ivo M. Maull, Im Brennpunkt: Korea, München 2004, S. 92. 175 Am 15 Februar 1993 lehnte Nordkorea die Sonderinspektion von der IAEO für radioaktive Abfälle in Yongbyon ab und danach kündigte seinen Austritt aus dem Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen an. Außerdem verlautete in Moskau, dass Nordkorea bereits über einen fertigen Atomsprengkopf aus eigener Produktion verfügt. 84 den nordkoreanischen Staatpräsidenten Kim Il Seong, die seriöse und kontinuierliche Zusammenarbeit aufzunehmen, um das Ziel der Versöhnung und Wiedervereinigung zu erreichen. Zur Bewältigung der anschwellenden Schwierigkeiten im innerkoreanischen Verhältnis schlug er ausdrücklich vor, dass er bereit sei, mit ihm an jedem Ort und zu jedem Zeitpunkt zusammenzutreffen, um über die ernstliche Versöhnung und friedliche Wiedervereinigung auf der koreanischen Halbinsel zu sprechen.176 Allerdings ist in seiner ersten Rede als Präsident nicht festzustellen, welche Politik gegen Nordkorea er im Lauf der Amtzeit durchführen wird, ob er den Wiedervereinigungskurs des Vorgängers weiter führen oder in eine neue Richtung steuern will. Die prägnante Wiedervereinigungspolitik der Regierung Kim wurde erst in der Rede vor der Nationalversammlung aufgezeigt. Am 21. September 1993 formulierte der Regierungschef vor den Abgeordneten die Grundlinie der Wiedervereinigung und den dreistufigen Modus zur Überwindung der nationalen Trennung: „Unsere Regierung hat den dreistufigen Wiedervereinigungsplan, der folgendes zum Inhalt hat: Als erste Phase die Versöhnung und die Zusammenarbeit, dann als zweite Phase die Bildung eine Konföderation zwischen dem Norden und dem Süden und danach endlich als dritte Phase die Wiederherstellung eines einheitlichen Staates. Außerdem präsentiert die Regierung die drei Grundlinien der Wiedervereinigungspolitik, nämlich das demokratische Verfahren, das friedliche Nebeneinanderbestehen und den nationalen Wohlstand. Wenn die nukleare Frage in absehbarer Zeit friedlich gelöst wird, können der Norden und der Süden in Angriff nehmen, die gegenwärtigen Schwierigkeiten aller Bereiche zu beseitigen.“177

Diese relativ unerkennbar formulierte Wiedervereinigungspolitik wurde durch die Ansprache am 15. August 1994 konkretisiert. Anlässlich der Feier des nationalen Befreiungstages gab der Präsident Kim unter dem Motto „Der dreistufige Wiedervereinigungsplan zur Bildung der Nationalgemeinschaft“ die Politik gegenüber Nordkorea bekannt, die während der Regierungszeit Kims kennzeichnend bestand: „Die Wiedervereinigung bedeutet keineswegs die flüchtige Errichtung des einheitlichen Staatsystems, sondern die Bildung der Nationalgemeinschaft, unter der alle Koreaner gemeinsam ein friedliches Leben führen sollen.“178 Er markierte im Weiteren, dass die Wiedervereinigung nur dadurch möglich werde, dass die demokratische Gemeinschaft des koreanischen Volkes schritt- und stufenweise konstituiert werde. Der eventuell langjährige Prozess der Wiedervereinigung solle aber demokratisch und glückselig sein. Außerdem sei die Wiedervereinigung zwar

176 Präsidialamt, Redesammlung des Präsidenten Kim Young Sam Bd. 1, Seoul 1998, S. 59. 177 Stenografische Plenarprotokolle der Nationalversammlung vom 15. August 1994. 178 Wiedervereinigungsministerium. Weißbuch 1998, Seoul 1999, S. 446. 85 ernorm relevant, aber mehr Wert lag an der Bildung der koreanischen Nationalgemeinschaft, die auf dem Nationalgefühl basiert und damit die beiden Staaten harmonisch verbinden werde. Daher solle die Wiedervereinigung auf der Grundlage der Nationalgemeinschaft, unter der allen Koreanern auf der Halbinsel die individuelle Freiheit, die öffentliche Wohlfahrt und die Menschenwürde gewährleistet werden, erreicht werden.179 Im Grunde versteht man unter der offiziellen Wiedervereinigungspolitik der Regierung Kims, dass in erster Linie durch die Versöhnung und die Zusammenarbeit zwischen dem Norden und dem Süden gegenseitiges Vertrauen hervorgebracht werden soll, und danach auf der erreichten Grundlage dieses Vertrauens die günstigen Rahmenbedingungen für den politischen Zusammenschluss, eine Konföderation zwischen dem Norden und dem Süden, geschaffen werden sollten. Nach der Zwischenstation entsteht schließlich ein aus einer Nation und einem Staat bestehender Einheitsstaat, der auf der Basis der koreanischen Nationalgemeinschaft aufgebaut ist.180 Zwar scheint diese Wiedervereinigungspolitik der Regierung Kims unter dem damaligen innerkoreanischen Verhältnis ernorm vernünftig und realistisch zu sein, aber in Wirklichkeit stand die Wiedervereinigungspolitik nur auf dem Papier und wurde nicht in die Tat umgesetzt, weil die innenpolitische Lage und die öffentliche Meinung gegen das nukleare Nordkorea sich zunehmend verschärften. Die nordkoreanische Nuklearkrise begann mit der Bekanntmachung der amerikanischen Geheimdienstinformation, dass Plutonium in den nordkoreanischen Reaktoren, die eigentlich zum Zweck der Atomforschung und zur Produktion elektrischen Stromes erbaut wurden, für die Produktion von Atombomben hergestellt wird. Washington verlangte sofort von Nordkorea, Inspektoren der Internationalen Atomenergiebehörde Zugang zu den Reaktoren zu ermöglichen. Pjöngjang weigerte sich allerdings strikt und konfrontierte weiter USA und Südkorea mit der Provokation. Um die südliche Seite der Halbinsel vor einem nordkoreanischen Raketenangriff zu verteidigen, wurden Patriot-Abwehrraketen in Südkorea stationiert und das gemeinsame Militärmanöver „Team Spirit“ abgehalten. Nach den neuesten Informationen beabsichtigte Washington zu dieser Zeit sogar, einen Krieg gegen Nordkorea zu führen.181 Um die Krise zu überwinden, wurde der amerikanische Ex-Präsident Jimmy Carter als Vermittlungsperson nach Pjöngjang geschickt. Er erzielte nach dem Gespräch mit dem nordkoreanischen Staatchef Kim Il Seong den erhofften Erfolg. Nach dem Besuch Carters wurden die Ergebnisse auf einer Pressekonferenz vom 22. Juni 1994 dargelegt: Die

179 Die Friedensstiftung für das Asiatisch-Pazifische Gebiet, das Wiedervereinigungsjahresbuch für Asien und Pazifik, Seoul 1995. S. 45f. 180 Wiedervereinigungsministerium. Weißbuch 2003, Seoul 2003, S. 24-26. 181 Lee Won Sep, Apologie der Sonnenscheinpolitik, Seoul 2003, S. 204. 86 USA würden Anfang Juli 1994 in Genf ihre diplomatischen Gespräche mit Nordkorea fortsetzen und in der Zwischenzeit alle Bemühungen um die Annahme von Sanktionen durch den UN-Sicherheitsrat einstellen. Im Gegenzug werde Nordkorea sein Nuklearprogramm einfrieren, der Fünf-Megawatt-Reaktor würde nicht neu aufgeladen, auch werde keine nukleare Wiederaufbereitung stattfinden. Schließlich erklärte sich Kim Il Seong zur ersten Gipfelkonferenz zwischen den beiden Präsidenten Nord- und Südkoreas bereit.182 Nach dieser Erklärung über die innerkoreanischen Vorgespräche wurde am 28. Juni 1994 in den beiden Hauptstädten verkündet, dass das erste Gipfeltreffen zwischen dem südkoreanischen Staatspräsidenten Kim Young Sam und den nordkoreanischen Staatschef Kim Il Seong vom 25. Juli bis zum 27. Juli 1994 in Pjöngjang stattfinden würde. Trotz der hohen Erwartungen auf das bevorstehende Gipfeltreffen wurde die historische Begegnung zwischen den beiden Staatsoberhäuptern abgesagt, weil der nordkoreanische Staatpräsident Kim Il Seong am 8. Juli 1994 vor dem Treffen unerwartet gestorben war. Nach dem überraschenden Tod Kim Il Seongs rief der südkoreanische Präsident Kim zu erhöhter Alarmbereitschaft auf, die auf der nordkoreanischen Seite als militärische Provokation empfunden wurde, und beschloss, keinen Beileidsbesuch in Pjöngjang zu machen, den die Führung in Nordkorea erwartet hatte. Zu dieser Fehlentscheidung trugen die konservative Presse und Politiker ernorm bei, die nach wie vor mit Nordkorea konfrontieren wollten. Daher war es kein Wunder, dass die neue innerkoreanische Annäherung vor dem nicht gelungenen Gipfeltreffen erneut in Stillstand versetzt wurde.183 Um das zum Stillstand verurteilte innerkoreanische Verhältnis in Gang zu bringen und einen dauerhaften Frieden auf der Halbinsel herbeizuführen, schlug der Präsident Kim am 16. April 1996 auf der Insel Jeju nach der Gipfelkonferenz mit dem amerikanischen Präsidenten Bill Clinton der Regierung Nordkoreas und der Volksrepublik China vor, mit Südkorea und den Vereinigten Staaten in Vierparteiengespräche184 einzutreten. Dieser Vorschlag zur Bildung eines Vierparteiengespräches wurde nicht zum ersten Mal gemacht, sondern ging bereits auf eine Anregung des amerikanischen Präsidenten Ronald Regen im Januar 1984 zurück.185 Auf den Vorschlag reagierte die Führung in Pjöngjang im September 1996 ablehnend und betrachtete das Gespräch als überflüssig. Damit schlug der neue Versuch fehl, Nordkorea an dem innerkoreanischen Verhandlungstisch zu setzen.

182 Kindermann Gottfried-Karl, a. a. O., S. 301. 183 Gang Man Gil, a. a. O., S. 357. 184 Anstatt Vierparteigespräch findet inzwischen einschließlich Japan und Russland das Sechsparteigespräch statt. 185 Shim Ji Yeon, a. a. O., S. 92f. 87 Parallel zum innerkoreanischen Gipfeltreffen versuchten die USA mit Nordkorea die Nuklearkrise durch die Verhandlungen in Genf zu bewältigen. Nach den mühsamen Verhandlungen zwischen Nordkorea und den USA einigten sich beiden Seiten in einer am 13. August 1994 veröffentlichten gemeinsamen Erklärung auf die Maßnahme in Richtung einer Normalisierung der bilateralen Beziehungen. Nordkorea wollte zudem seine Graphitreaktoren durch Leichtwasserreaktoren ersetzen und die Bestimmungen des Atomwaffensperrvertrags einhalten. Washington verpflichtete sich, beim Bau der Leichtwasserreaktoren, in denen weniger atomwaffenfähiges Plutonium anfällt, mitzuhelfen und bis zu deren Fertigstellung andere Energiequellen zu finanzieren.186 Danach unterzeichneten die Vertreter der Regierungen von Washington und Pjöngjang am 21. Oktober 1994 in Genf den Vertrag, in dem sich Nordkorea einverstanden erklärte, die alten Atomreaktoren abzuschalten und Leichtwasserreaktoren zu erbauen. Der Bau der Reaktoren wurde vom für diesen Zweck gebildeten Konsortium von vier Ländern mit dem Namen KEDO (Korean Economic Development Organisation)187 übernommen. 188 Für die Entschädigung des aus dem Abschalten der Atomkraftwerke resultierenden Stromverlusts erhielt Nordkorea von den USA jährlich 500.000 Tonnen Schweröl. Mit diesem Vertrag wurde die erste Nuklearkrise im Jahr 1994 beigelegt. Allerdings war die Frage zu dieser Zeit offen, ob Nordkorea in der Tat den Vertrag in Zukunft einhalten wird.

Die Reaktion der südkoreanischen Regierung auf das nordkoreanische Atomwaffenprogramm war in erster Linie gespalten. Offensichtlich wurden die Meinungen zwischen den einsichtigen Ratschlägen der gegen Nordkorea positionellen Konservativen innerhalb der Regierungspartei und der moderaten Position hin- und hergerissen. Der Staatpräsident Kim unterstrich auf der einen Seite die Notwendigkeit einer friedlichen Lösung und deutete anschließend durch die umgänglichen Attitüden Flexibilität und Gesprächsbereitschaft gegenüber Nordkorea an. Auf der andere Seite stieß Kim immer wieder mit scharfer Kritik bei der Angelegenheit des nordkoreanischen Atomwaffenprogramms an und übte dabei Druck auf den Norden aus, insbesondere durch die Maßnahme, alle Geschäftsverbindungen und Reisen nach Nordkorea zu verbieten. Zusammengefasst lässt sich behaupten, dass die Regierung Kim in ihrer Politik gegenüber Nordkorea den Kurs sehr häufig änderte, und damit eine klare Linie vermissen ließ. Die schwankende Anwendung der Wiedervereinigungspolitik brachte bei der Führung in Nordkorea kein Vertrauen mehr, und daher konnte die südkoreanische Regierung

186 Frankfurt Allgemein Zeitung vom 15. August 1994, S. 2. 187 Im Gremium des Konsortiums sitzen Vertreter von Südkorea, Japan, USA und EU 188 Nach dem Streit über die Verteilung der finanziellen Lasten einigten sich die Mitglieder des Gremiums 1998 über die Kostenverteilung. Südkorea übernimmt 70 Prozent der Baukosten in Höhe von insgesamt rund 3,2 Milliarden US-Dollar. Japan trug eine Milliarde und die EU 75 Millionen US-Dollar bei. 88 insgesamt im Laufe der Amtsperiode Kim Young Sam im Vergleich mit der vorherigen Regierung Roh Tae Woo kein besseres Ergebnis erzielen.

2.2.1.2.2. Die Regierung der Demokratischen Volksrepublik Korea (1948-1994) Die kennzeichnende Wiedervereinigungspolitik der Demokratischen Volksrepublik Korea ist geprägt von Begriff der so genannten „Föderation Koryo“, der seit der ersten offiziellen Ankündigung 1960 bis heute in verschiedenen Varianten verwendet wird. 189 Man wird wohl kaum fehlgehen mit der Annahme, dass die Nordkoreaner für die Wiedervereinigung den Kurs der „Föderation Koryo“ fixieren.

2.2.1.2.2.1. Vor der Wiedervereinigungspolitik „Föderation Koryo“ (1948-1959) Am 28. März 1948 auf der Plenarsitzung des Zentralkomitees der Arbeitspartei Nordkoreas hielt Kim Il Seong auf dem 2. Parteitag eine Rede über die damalige politische Situation in Korea und den Kampf für die Vereinigung der koreanischen Halbinsel, aus der sich der Wiedervereinigungsplan Nordkoreas unter der sowjetischen Besatzungsmacht eruieren lässt: „Die Forderung unserer Partei in Bezug auf die Schaffung einer einheitlichen demokratischen Regierung ist die gleiche wie früher. Unsere Partei fordert die Durchführung von Wahlen zum höchsten gesetzgebenden Organ im Maßstab ganz Koreas nach dem Prinzip allgemeiner, gleicher und direkter Wahlen bei geheimer Abstimmung. Das auf diese Weise gewählte höchste gesetzgebende Organ des Volkes muss die demokratische Verfassung beschließen und eine wahrhaft demokratische Volksregierung bilden, die unser Volk auf dem Weg des nationalen Aufblühens und des Glücks führt. Diese Schaffung einer einheitlichen Regierung, vorgenommen auf diesem Wege vom koreanischen Volk selbst, ist nur unter der Bedingung des Abzugs der ausländischen Truppen möglich.“ 190 Im Gegensatz zum Plan Südkoreas, also Wahl unter der Aufsicht der UNO, insistierte Nordkorea auf der Wahl auf der ganzen koreanischen Halbinsel ohne ausländische Einmischung. Auf den ersten Blick machte dieser nordkoreanische Wiedervereinigungsplan

189 In Nordkorea wird diese Wiedervereinigungsversion auf Koreanisch als „Younbang“ bezeichnet, was in deutsche Sprache „Föderation“ bedeutet. Aber die Nordkoreaner gebrauchen in ihrem deutschen Texten stattdessen das Wort „Konföderation“. Dem Inhalt nach designierte die nordkoreanische Version bis zum Jahre 1980 eine lockere Staatsverbindung der beiden Teile Koreas, die einem Staatenbund entspricht. Im Gegensatz dazu setzt sich Nordkorea seit 1980 unter demselben Namen für eine breite und starke Kompetenz der Bundesorgane ein. Unbeeinflusst von der offiziellen Wortverwendung Nordkoreas wird in dieser Arbeit nach ihren Inhalten die vom Norden in seiner Wiedervereinigungspolitik angestrebte Staatsform bis 1980 als „Konföderation“, ab 1980 als „Föderation“ bezeichnet. 190 Institut für Parteigeschichte beim Zentralkomitee der Partei der Arbeit Koreas, Kim Ir Sen: Ausgewählte Werke Band I, Pjöngjang 1971, S. 222. 89 zwar einen besonnenen Eindruck, auf den zweiten Blick ist er jedoch als Finte Nordkoreas zu erkennen, mit der die Nordkoreaner Südkorea und die UNO täuschen wollten. Das tatsächliche Ziel Kim Il Seongs war die erfolgreiche Beendigung der kommunistischen Revolution auf der ganzen koreanischen Halbinsel, indem die Expansion des Kommunismus auf die andere Seite der Demarkationslinie am 38. Breitengrad erfolgen sollte.

Dieses Wiedervereinigungskonzept wurde nach der kommunistischen Staatsgründung Nordkoreas nicht geändert. Zwar organisierten die Nordkoreaner die „Demokratische Front für die Wiedervereinigung des Vaterlandes“, der Vertreter verschiedener Parteien und gesellschaftlicher Organisationen Nordkoreas angehörten. Auf der ersten Versammlung dieser Volksfront fassten die Delegierten folgenden Entschluss: Erstens muss Koreas friedliche Vereinigung von den koreanischen Menschen selbst bewirkt werden. Zweitens müssen die amerikanischen Truppen sofort die koreanische Halbinsel verlassen und die UNO- Kommission aufgelöst werden. Drittens sollen danach Wahlen am 15. September abgehalten werden.191 Zudem schlug Ministerpräsident Kim Il Seong am 7. Juni 1950 vor, eine polische Konferenz zwischen dem Norden und dem Süden zu eröffnen und ein gesamtkoreanisches oberstes legislatives Organ durch allgemeine Wahlen ohne fremde Einmischung zu bilden. Neben dem Vorschlag Kims beschloss schließlich das Präsidium der Obersten Volksversammlung Nordkoreas eine Resolution, wonach die südkoreanische Nationalversammlung und die nordkoreanische Oberste Volksversammlung friedlich zu einem einheitlichen gesetzgebenden Organ Gesamtkoreas vereinigt werden sollten.192 Die beiden Vorschläge wurden von der Regierung Südkoreas abgewiesen, da die Regierung Rhee offensichtlich keine Absicht hatte, mit den Kommunisten zu verhandeln. Dies hätte eine Anerkennung der DVRK ohne offizielle Abmachung bedeutet und daher dem Alleinvertretungsanspruch der südkoreanischen Regierung entgegenstehen können.

Kurz danach, am 25. Juni 1950, überschritten die mit sowjetischen Panzern und Geschützen ausgerüsteten Nordkoreaner die Demarkationslinie am 38. Breitengrad. Mit diesem unerwarteten Angriff der DVRK begann der Koreakrieg, der bis zum Waffenstillstand vom 27. Juli 1953 drei Jahre andauerte. In Bezug auf die Wiedervereinigungspolitik der DVRK ist der Koreakrieg der schlüssige Beweis dafür, dass die beiden Vorschläge der nordkoreanischen Regierung im Juni 1950 zur friedlichen Wiedervereinigung zweifellos eine glatte Lüge waren und die Nordkoreaner die Wiedervereinigung nicht auf friedlichem Wege, sondern mit Waffengewalt zu erreichen suchten.

191 Lee Won-Myong, a. a. O., S. 180. 192 Yang Ying-Feng, Der Alleinvertretungsanspruch der geteilten Länder, Frankfurt/M 1997, S. 97. 90 Nach dem dreijährigen Koreakrieg nahm die DVRK einerseits die Existenz zweier koreanischer Staaten hin und andererseits wiederholte sie die Forderung nach einer friedlichen Lösung der Wiedervereinigung von vor dem Koreakrieg. Auf der 6. Plenarsitzung des Zentralkomitees der Arbeitspartei Koreas am 5. August 1953 äußerte Kim: „Die erstrangige Aufgabe, die im Zusammenhang mit dem Abschluss des Waffenstillstandsabkommens vor uns entstanden ist, besteht darin, einen unermüdlichen Kampf für die Erreichung einer vollständigen friedlichen Lösung der Koreafrage zu führen.“193 Auf der Grundlage dieser Linie der Wiedervereinigungspolitik Kims unterbreitete der Außenminister der DVRK, Nam Il, am 27. April auf der Genfer Konferenz fünf Vorschläge: Erstens werden die Wahlen für eine gesamtkoreanische Nationalversammlung durchgeführt. Zweitens wird eine Kommission aus Vertretern der Obersten Volksversammlung des Nordens und der Nationalversammlung des Südens für die Vorbereitung und Durchführung freier Wahlen gebildet. Drittens wird ein Wahlgesetz durch eine Kommission vorbereitet. Viertens werden die ausländischen Truppen innerhalb von 6 Monaten abgezogen. Schließlich werden die nord- und südkoreanischen Streitkräfte auf 100.000 Mann reduziert.

Aus diesen Vorschlägen Nam Ils ergibt sich deutlich, dass die nordkoreanische Wiedervereinigungspolitik mit ihrer Forderung nach gesamtkoreanischen Wahlen nach dem Koreakrieg fast identisch mit der Wiedervereinigungspolitik vor dem Krieg war. Zwei Jahre nach dem Scheitern der Genfer Konferenz stellte der nordkoreanische Staatschef Kim am 15. August 1955 einen „Fünf-Punkte-Plan“ zur Lösung der Koreafrage194 vor.

Im Unterschied den Genfer Vorschlägen wurde zum ersten Mal der Abschluss eines Nichtangriffsvertrags zwischen Nord- und Südkorea vorgeschlagen. Im Grund zeigten der „Fünf-Punkte-Plan“ Kims und die Vorschläge Nam Ils, dass die nordkoreanische Regierung den Kurs der Wiedervereinigungspolitik wechselte, nämlich von der gewaltsamen Wiedervereinigung zur friedlichen Wiedervereinigung. Außerdem war der „Fünf-Punkte- Plan“ von 1955 der Grundbegriff im Bereich der Wiedervereinigungspolitik der zweiten Hälfte der 50er Jahre. In Zusammenhang mit dem „Fünf-Punkte-Plan“ äußerte sich Kim Il

193 Kim Il-Sung, Ausgewählte Werke, Bd. I, Pjöngjang 1971, S. 419.; Kim Il-Sung, Für die selbständige friedliche Vereinigung des Vaterlandes, Pjöngjang 1978, S. 46. 194 Die Vorschläge lauten im Einzelnen: 1. Um den dauerhaften Frieden in Korea zu garantieren, muss erneut eine internationale Konferenz stattfinden 2. Sofortiger Abzug ausländischer Truppen aus Korea 3. Abschluss eines Nichtangriffsvertrags zwischen Nord- und Südkorea 4. Reduzierung der nord- und südkoreanischen Streitkräfte auf 100.000 Mann 5. Einberufung einer Wiedervereinigungskonferenz aus Vertretern von nord- und südkoreanischen Parteien und gesellschaftlichen Organisationen. In: Yang Ying-Feng, a. a. O., S. 99f. 91 Seong am 9. Juni 1956 bei einem Interview mit einem Korrespondenten der indischen Nachrichtenagentur „Nafen“ wie folgt: „Frage: Was beabsichtigt die Regierung der Koreanischen Volksdemokratischen Republik für die Beschleunigung der Wiedervereinigung Koreas zu unternehmen? Antwort: Die Regierung der Koreanischen Volksdemokratischen Republik unternimmt Anstrengungen und wird sie weiter unternehmen, um die Vereinigung Koreas durch die Koreaner selbst auf demokratischer Grundlage, auf friedlichem Weg, zu erreichen. Wir haben uns bereits wiederholt an die südkoreanischen Behörden mit dem Vorschlag gewandt, eine Annäherung und Verhandlungen zwischen dem Norden und dem Süden zu verwirklichen, und auch jetzt bleiben wir dabei und bestehen darauf, dass ein ständiges Komitee aus Vertreten des Nordens und Südens für die Beratung der Fragen des Kontakts zwischen dem Norden und dem Süden des Landes sowie der Vereinigung Koreas geschaffen wird. Indem wir Anstrengungen unternehmen, um den Waffenstillstand in Korea in einen festen Frieden zu verwandeln, haben wir in jüngster Zeit als reale Maßnahme den Beschluss gefasst, die Streitkräfte der Republik um 80.000 Mann zu verringern und die entsprechenden Militärausgaben für den friedlichen Aufbau zu verwenden. Wir sind bereit, auch künftig effektive Maßnahmen zu ergreifen, um die Spannung zu vermindern und eine Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens zu schaffen. Wir bestehen unabänderlich darauf, dass alle ausländischen Truppen aus Korea abgezogen werden müssen und dass eine internationale Konferenz der interessierten Staaten unter Teilnahme von Vertretern der Regierungen Nord- und Südkoreas zur friedlichen Regelung der Koreafrage einberufen werden muss.“195

Bei der Besprechung wiederholte Kim hauptsächlich seinen „Fünf-Punkte-Plan“ von 1955, mit leichten Veränderungen. In dieser Phase vertrat die Regierung Nordkoreas die Auffassung, dass nicht nur die beiden Streitkräfte reduziert werden sollten, sondern auch das vom Koreakrieg hervorgerufene tiefe Misstrauen und die Spannung zwischen Nord- und dem Südkorea abgebaut werden sollten.

2.2.1.2.2.2. Die Wiedervereinigungspolitik „Föderation Koryo“ (1960-1980)

Nach dem Stürz der südkoreanischen Regierung Rhee durch den Studentenaufstand am 19. April 1960 schlug Kim Il Seong eine neue Wiedervereinigungspolitik vor, die eine Konföderation zur Lösung der Koreafrage vorsah. Damit tat Nordkorea den ersten Schritt in Richtung „Föderation Koryo“. Anlässlich der 15-Jahr-Feier der Befreiung des Landes sprach

195 Kim Ir-Sen, Antworten auf die Fragen ausländischen Journalisten, Pjöngjang 1975, S. 53f. 92 er am 15 August über die neue Möglichkeit einer friedlichen Lösung der nationalen Frage: „Wenn jedoch die südkoreanischen Behörden befürchten, dass ganz Südkorea kommunistisch werden könnte, und deshalb freien Gesamtwahlen im Norden und Süden noch nicht zustimmen können, sollte man zunächst wenigstens eine Übergangsmaßnahme zur Lösung der vor der Nation stehenden dringlichen Frage ergreifen. Als solch eine Maßnahme schlagen wir eine Konföderation des Nordens und des Südens vor. Die Konföderation, die wir meinen, sollte dadurch zustande kommen, indem ein Oberstes Nationalkomitee, das sich aus Vertretern der beiden Regierungen der HDVR und der „Republik Korea“ zusammensetzt, gegründet und somit hauptsächlich die ökonomische und kulturelle Entwicklung Nord- und Südkoreas einheitlich koordiniert wird, wobei die heutigen politischen Systeme Nord- und Südkoreas vorläufig beibehalten und die voneinander unabhängigen Tätigkeiten der beiden Regierungen aufrechterhalten werden.“196 Aufgrund seines provisorischen Charakters machte Kim für den zu gründenden Staatenbund keinen Namensvorschlag. Die Bedeutung dieses Konföderationskonzepts bestand darin, dass von nordkoreanischer Seite die Perspektive eines Staatenbundes als kurzfristiger Übergangslösung zunächst überhaupt einmal erörtert worden ist.197 Zwei Jahre später präzisierte Kim auf der Tagung der Obersten Volksversammlung der III. Legislaturperiode den Charakter der zu bildenden Konföderation: Nach der Auffassung Kims sei die Konföderation, bei der „weder der Norden noch der Süden sich in die inneren Angelegenheiten des anderen einmischen“ würde, die ideale Form für die „Vereinigung einer vorübergehend in zwei Teile gespalteten Nation“. Die Konföderation würde es ermöglichen, zwischen dem Norden und dem Süden „die Nationalwirtschaft und die Nationalkultur einheitlich zu entwickeln, alle Reichtümer des Landes gemeinsam auszubeuten, auf vielen Gebieten der Außenbeziehungen gemeinsam als eine einheitliche Nation aufzutreten.“198 Aus der Erläuterung Kims zur Konföderation lässt sich schließen, dass für Nordkorea das Bestehen zweier koreanischer Staaten eine Realität und die Wiedervereinigung nur durch Bildung einer Konföderation möglich war. Aber der Widerspruch des Konföderationsplans besteht darin, dass die nordkoreanische Parteiführung keineswegs von dem völkerrechtlichen Staatenbund beider Staaten sprach.199

196 Kim Il-Sung, Für die selbständige friedliche Vereinigung des Vaterlandes, Pjöngjang 1978, S. 85. 197 Chi Tai-Nam, Das Herrschaftssystem Nordkoreas unter besonderer Berücksichtigung der Wiedervereinigungspolitik, Frankfurt/M. 1994, S. 149. 198 Kim Il-Sung, a. a. O., S. 122. 199 Auf dem Parteitag der Arbeiterpartei Koreas von 1961 wurde festgelegt, dass das Wesen der Arbeit gegenüber dem Süden eine „nationale Befreiungsbewegung gegen den Imperialismus“ und eine „demokratische Revolution gegen die Feudalmacht“ sei, und dass die Wiedervereinigung ein „Krieg der Befreiung der Nation“ sei. 93 Im Zeichen der weltweiten Entspannung Anfang der 70er Jahre trat in dem nordkoreanischen Konföderationskonzept eine aufschlussreiche Detailverschiebung ein. Nun machte Kim den Vorschlag, dass ein einheitlicher Staat unter der Staatsbezeichnung „Konföderative Republik Koryo“200 gegründet werden sollte. Am 23. Juni 1973 erläuterte Kim seine folgende „Fünf- Punkte-Erklärung zur friedlichen Wiedervereinigung“: „Der von uns vorgeschlagene Fünf- Punkte-Kurs für die Vereinigung des Heimatlandes hat zum Inhalt: Die Beseitigung der militärischen Konfrontation und die Verminderung der Spannungen zwischen dem Norden und dem Süden, die Realisierung vielseitiger Zusammenarbeit und vielseitigen Austausches zwischen dem Norden und dem Süden, die Einberufung einer großen nationalen Versammlung der politischen Parteien und gesellschaftlichen Organisationen des Nordens und des Südens, die Schaffung der Konföderation des Nordens und des Südens unter dem einheitlichen Staatsnamen Konföderative Republik Koryo und der Eintritt in die UNO unter diesem einheitlichen Staatsnamen – Konföderative Republik Koryo.201 Bis Ende der 70er Jahre hat die nordkoreanische Führung dem Süden diese „Fünf-Punkte- Erklärung zur friedlichen Wiedervereinigung“ immer wieder angeboten, auch wenn dieser „Fünf-Punkte-Konföderationsplan“ von der Regierung Park vehement abgelehnt wurde.202

Der nordkoreanische Staatspräsident Kim konkretisierte auf dem Parteitag von 1980 das Konföderationskonzept, indem er am 10 Oktober ein Zehn-Punkte-Programm für die Bildung einer „Demokratischen Konföderativen Republik Koryo“ vorschlug: „Ferner müssten beide Seiten ihre jeweiligen Gesellschaftsordnungen und Ideologien gegenseitig tolerieren und anerkennen; schließlich sollten Nord- und Südkorea eine gemeinsame nationale Regierung der „Demokratischen Konföderation Republik Koryo (DKRK)“ bilden, in der sie gleichberechtigt vertreten wären und regionale Autonomie mit gleichen Rechten und Pflichten genießen würden: „Die DVRK sollte 1. ein vollständig unabhängiger und souveräner Staat sein und eine blockfreie Politik betreiben... 2. in allen Bereichen der Gesellschaft die Demokratie verwirklichen und die große nationale Einheit fördern... 3. auf wirtschaftlichem Gebiet Zusammenarbeit und Austausch zwischen dem Norden und dem Süden herbeiführen sowie die Entwicklung einer unabhängigen Volkswirtschaft sicherstellen... und 4. in den Bereichen Wissenschaft, Kultur und Erziehung zwischen dem Norden und dem Süden

200 Koryo war ein Königreich in der koreanischen Geschichte, das von 935 bis 1392 n.Chr. auf der koreanischen Halbinsel existierte stand und das einst weltweit bekannt war. 201 Kim Il-Sung, a. a. O., S. 291. 202 Der südkoreanische Präsident Park wies in einer Ansprache vor Absolventen der Akademie für Nationalverteidigung und der Hochschule des Vereinigten Stabes zurück: „Die Republik Korea lehnt alle Vorschläge oder Maßnahmen energisch ab, die den Frieden auf der koreanischen Halbinsel oder die Sicherheit der Republik Korea gefährden können. Die Vorschläge des Nordens sind nichts weiter als mangelhaft verhüllte Machenschaften zur Gefährdung unserer Sicherheit.“ 94 Beziehungen des Austausches und der Zusammenarbeit herstellen...“ Im Einzelnen sollte die Koryo-Konföderation das Recht auf Rede-, Presse-, Versammlungs- und Religionsfreiheit gewährleisten, die Gründung politischer Parteien und gesellschaftlicher Organisationen und ihre freie Betätigung erlauben, der Bevölkerung beider Landesteile gestatten, frei durch das Land zu reisen und überall ungehindert ihren politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aktivitäten nachzugehen, das staatliche, genossenschaftliche und private Eigentum in beiden Landesteilen anerkennen und schützen sowie für eine gemeinsame Ausbeutung der Bodenschätze, eine Arbeitsteilung in Handel und Industrie und für gleichmäßige Fortschritte in Kunst, Kultur und Erziehung sorgen.“203

Im Vergleich zu den beiden früheren Konföderationskonzepten von 1960 und 1973 zeichnet sich das Zehn-Punkte-Programm durch eine Reihe von Besonderheiten aus. Erstens wurden die verschiedenen Punkte detailliert erläutert. Zweitens wurden die Auslandkoreaner deutlich in den Wiedervereinigungsprozess einbezogen. Drittens enthält das Zehn-Punkte-Programm als neues Moment die Forderung, die Föderation solle im Rahmen eines einheitlichen Nationalstaates mit zwei regionalen Regierungen verwirklicht werden.204 Inhaltlich handelt es sich hier bei der „Demokratischen Konföderativen Republik Koryo“ um einen Bundesstaat, weshalb er besser als „Demokratische Föderative Republik Koryo“ bezeichnet werden sollte. Als Voraussetzungen für die Bildung der „Demokratischen Föderativen Republik Koryo“ nannte Kim nach wie vor den Abzug der fremden Truppen aus Südkorea und eine umfassende Demokratisierung des südkoreanischen politischen Systems.

Im Hinblick auf die Wiedervereinigungspolitik steht der nordkoreanische Plan zur Bildung des Föderationskonzepts, also der „Demokratischen Föderativen Republik Koryo“, einem südkoreanischen Plan zur Errichtung eines supranationalen Organisationskonzepts, also der „Koreanischen Nationalen Gemeinschaft“, als Übergangsform auf dem Weg zur Entstehung eines einheitlichen Staates gegenüber.

203 Kim Il-Sung, Ausgewählte Werke Bd. 35, Pjöngjang 1971, S. 361ff.; Kim, Il-Sung, Rechenschaftsbericht des ZK der APK an den VI. Parteitag, S. 87ff. 204 Chi Tai-Nam, a. a. O., S. 154. 95 2.2.2. Die Sonnenscheinpolitik als Novum der Wiedervereinigungspolitik 2.2.2.1. Hintergrund der Sonnenscheinpolitik Mit der schwankenden Anwendung der Politik gegenüber Nordkorea und der daraus resultierenden Stagnation des innerkoreanischen Verhältnis unter der Regierung Kim Young Sam begann die Sonnenscheinpolitik der Regierung Kim Dae Jung. Im Gegensatz zur vorherigen Regierung ging der Präsident Kim Dae Jung davon aus, dass das kommunistische Regime in Nordkorea trotz der massiven wirtschaftlichen Probleme nicht in absehbarer Zeit zusammenbrechen werde. Darüber hinaus würde sich eine sofortige Wiedervereinigung aus wirtschaftlichen Gründen schlicht negativ auswirken, falls Südkorea nach dem Zusammenbruch des Regimes in Pjöngjang sich Nordkorea einverleiben würde. Die finanziellen Ausgaben einer Absorption Nordkoreas nach deutschem Vorbild wären enorm hoch. Südkorea wäre nicht in der Lage, die Kosten der unerwarteten Wiedervereinigung zu tragen. Aus diesen Gründen war die neue Regierung der Meinung, dass Südkorea durch die schrittweise Verbesserung des Verhältnisses zwischen dem Norden und dem Süden Nordkorea zur Öffnung der eisernen Tür führen sollte. Für die Regierung Kim Dae Jung war es daher vorrangig, die Koexistenz und die Friedensbeibehaltung auf der koreanischen Halbinsel zu realisieren, indem sich die beiden Staaten um den Abbau des bisherigen gegenseitigen Misstrauens und die Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen bemühen sollten. Die Wiedervereinigung stellt sich aber auf ein Fernziel ein. Außerdem war die Regierung davon überzeugt, dass sich die Sicherheitssphäre auf der koreanischen Halbinsel aufgrund der ernormen Differenz der nationalen Kräfte zwischen dem Norden und dem Süden für Südkorea sehr positiv änderte, und Südkorea angesichts des militärischen Verbündeten USA Nordkorea an militärischer Kraft qualitativ weit überlegen sei. Aus dieser Einsicht heraus beschloss die südkoreanische Regierung, dass die Politik gegenüber Nordkorea nicht passiv, sondern aktiv gegen die Sicherheitsbedrohung Nordkoreas durchgeführt werden soll, damit die gesamte Sicherheitssphäre für Südkorea positiv entwickelt wird. Schließlich spielte die schwere Wirtschaftskrise, die sich teilweise aus der von Südostasien ausgehenden asiatischen Wirtschaftkrise ergab, in die Politik gegenüber Nordkorea hinein. Im Sommer 1997 gab es einen Rückgang der Industrieproduktion um 12,9 Prozent und eine Rekordarbeitslosigkeit von 7,6 Prozent, das bedeutet eine Zunahme der Arbeitslosen um eine Million Menschen. Sozial verschärfend wirkte sich die Tatsache aus, dass die beispiellose Steigerung der Arbeitslosigkeit den Arbeitskampf anheizte, so dass es zu umfangreichen Streikaktionen, einschließlich temporärer Besetzung von Betrieben durch deren Angestellte,

96 kam. Zeitweilig gingen pro Tag gegen 90 Firmen in Konkurs.205 Um die verheerende Krise schnell zu überwinden, benötigte man besonders eine stabile Sicherheitssphäre auf der koreanischen Halbinsel. Mit anderen Worten: Es war für die Gewährleitung des erneuten Wirtschaftaufschwungs und wirtschaftlichen Wohlstandes notwendig, jede Art von Spannungen zwischen dem Norden und dem Süden zu verhindern. So beabsichtigte die Regierung Kim offensichtlich, die Wiedervereinigungsfrage durch den innerkoreanischen Dialog und zuverlässige Verhandlungen mit Nordkorea friedlich zu lösen.

2.2.2.2. Herkunft der Sonnenscheinpolitik Die komplexe Wiedervereinigungspolitik Kims wurde am Anfang der Präsidentschaftsperiode „Sonnenscheinpolitik“ genannt. Den Begriff „Sonnenscheinpolitik“ machte der Präsident Kim zum Schlagwort seiner Politik gegenüber Nordkorea. Der Name der Politik wurde zwar im Lauf der Amtszeit aufgrund des Protests der Nordkoreaner und der südkoreanischen Opposition in „Einbindungspolitik“ umbenannt, aber die Politik wurde inhaltlich bis zum Ende der Ära Kim Dae Jung unverändert fortgeführt. Die Bezeichnung „Sonnenscheinpolitik“ benutzte Kim Dae Jung zum ersten Mal am 19. Mai 1997 bei seiner Rede nach der erfolgreichen Wahl zum Präsidentschaftskandidat seiner Partei: „Die Öffnung und die Reform des nordkoreanischen Regimes ist der einzige Weg, der zur Verhinderung eines nationalen Debakels und zur Koexistenz der beiden Staaten führen wird. Die vier Großmächte um die koreanische Halbinsel sind mit dieser Ansicht einverstanden. Ich bezeichne diese Politik als „Sonnenscheinpolitik“ und bestehe seit 25 Jahren darauf.“206 Damit lehnte er sich an die Fabel des griechischen Dichters Äsop an: „Der Wind und die Sonne stritten darum, wer die größere Macht habe. Sie vereinbarten nun, dass derjenige der Sieger sei, der er schaffe, einen Wanderer auszuziehen. Der Wind machte den Anfang und blies heftig. Als sich der Mensch aber mit seiner Kleidung zu schützen versuchte, blies er noch heftiger. Der Mensch litt dann noch mehr unter der Kälte und zog sich wärmer an, bis der Wind es aufgab und der Sonne das Feld überließ. Von der Sonne ging zuerst eine ganz maßvolle Wärme aus. Als der Mensch daraufhin seine überflüssigen Kleider ablegte, wurde die Sonne stärker, bis er die Hitze nicht mehr aushalten konnte, sich ganz auszog und zu seinem Schutz in einen Fluss sprang, um sich abzukühlen.“207

205 Gottfried-Karl Kindermann, a. a. O., S. 316. 206 Kim Sam Woong, Bis zum Blühen der Winterpflanze, Seoul 1998, S. 556f. 207 Rainer Nickel (Hrsg. u. Übers.), Äsop Fabeln, Düsseldorf/Zürich 2005, S. 53f. 97 Die Geschichte zeigt, dass es oft wirksamer ist, zu überzeugen als Gewalt anzuwenden. Diese Lehre der Fabel machte Kim für seine Politik gegenüber Nordkorea zunutze. So war Kim der Auffassung, dass Nordkorea sich freiwillig öffnen werde, wenn Südkorea nur beständig auf den Norden zugehe und Vertrauen schenke. Neben der Anlehnung an die Fabel Äsops beruht die „Sonnenscheinpolitik“ auf dem Glauben an funktionalistische Grundsätze, ähnlich wie die Ostpolitik von Willy Brandt mit ihrem Schlagwort des „Wandels durch Annäherung“. Der Funktionalismus geht von der Annahme aus, dass sich eine Annäherung zwischen souveränen Staaten am besten durch fortschreitende Zusammenarbeit auf spezifischen Sachgebieten erreichen lasse, in denen kein Konflikt und keine Spannung zwischen den Staaten provoziert werden. Die zunehmende Zusammenarbeit in bestimmten Bereichen bringe folglich einen Lernprozess in Gang, der Kooperation auch in anderen Sachbereichen initiiere oder fördere. Durch den Aufbau eines immer dichteren Netzes gemeinsamer unpolitischer Arbeiten würden die Beziehungen zwischen den Staaten allmählich institutionalisiert. Die Zusammenarbeit dehne sich durch sogenannte „spill-over“ Effekte nach und nach auch auf eine höherrangige politische und militärische Ebene aus. Durch diesen funktionalistischen Prozess würden die nationalen Grenzen und übernationalen Institutionen irrelevant und kämen zu einem Ende.208 In Analogie zu der Lehre des Funktionalismus209 versuchte der Präsident Kim, Austausch und Zusammenarbeit mit Nordkorea aktiv und ununterbrochen zu verfolgen, auch wenn Nordkorea zunächst negativ darauf reagierte. Durch Geduld und Ausdauer sollte eine Öffnung Nordkoreas und eine friedliche Koexistenz ermöglicht werden.

2.2.2.3. Grundlage der Sonnenscheinpolitik Als erste Grundlage der Sonnenscheinpolitik nannte Kim Dae Jung in seiner Rede zum Amtsantritt am 25. Februar 1998 drei Prinzipien: „Ich setze Nordkorea hiermit von drei Prinzipien in Kenntnis. Erstens erkläre ich, dass wir niemals eine bewaffnete Provokation seitens des Nordens tolerieren werden; zweitens erkläre ich ausdrücklich, dass wir keinerlei Absicht hegen, Nordkorea zu verletzen oder zu vereinnahmen; drittens verspreche ich, Versöhnung und Kooperation zwischen Süd- und Nordkorea aktiv anzustreben, um eine Ära der Versöhnung und Kooperation einzuleiten.“210

208 Gu Young Rok, Korea und Sonnenscheinpolitik: Funktionalismus und innerkoreanisches Verhältnis, Seoul 2000, S. 110ff. 209 Als bekanntestes Beispiel für diese Theorie wird oft die Entstehung der Europäischen Union angeführt. 210 Präsidialamt, Der Weg zur Überwindung der Staatskrise: Redensammlung der ersten sechs Monate nach dem Präsidentschaftsantritt Kims, Seoul 1998, S. 13-22. 98 Im ersten Prinzip machte Kim Dae Jung deutlich, dass Südkorea die Ausübung militärischer Gewalt gegen den Süden nicht dulden werde. Der Koreakrieg, der wegen der im Krieg angewendeten Waffengewalt die Bildung einer positiven öffentlichen Meinung zugunsten einer friedlichen Wiedervereinigungspolitik in Südkorea blockierte, sollte nie wieder auf der koreanischen Halbinsel ausbrechen. Mit anderen Worten war eine der wichtigsten Voraussetzungen für die erfolgreiche Ausführung der Sonnenscheinpolitik nach der Auffassung Kim Dae Jungs die Friedensbeibehaltung auf der Halbinsel. Ohne den anhaltenden Frieden zwischen dem Norden und dem Süden sei jede Art von Wiedervereinigungspolitik auf Sand gebaut.

Mit dem zweiten Prinzip versprach er den Nordkoreanern klar und deutlich, dass Südkorea dem Fall der Wiedervereinigung Deutschlands nicht nachfolgen werde. Eine unvorbereitete und einseitige Wiedervereinigung löse ohne Zweifel unüberwindbare soziale Konflikte zwischen Nord und Süd und einen Rückgang der Hochkonjunktur aus, wie der Fall Deutschlands nach der Wiedervereinigung zeigte. Trotz der langjährigen Zusammenarbeit und des Austausches bis zur Wiedervereinigung und der massiven Wertübertragung von West nach Ost nach der Wiedervereinigung klagen die Deutschen über gesellschaftliche Auseinandersetzungen und die negativen wirtschaftlichen Nebenwirkungen. Zwar ist die territoriale Wiedervereinigung geschafft, aber die innere Wiedervereinigung ist noch auf weitem Weg.

Mit dem letzten Prinzip brachte er zum Ausdruck, dass die dringendste Aufgabe auf der koreanischen Halbinsel die Aussöhnung und friedliche Zusammenarbeit sei. Nach der separaten Gründung und dem dreijährigen Koreakrieg spitzte sich der ideologische Konflikt und die gegenseitige Feindschaft zu, obwohl die beiden Staaten unter dem Einfluss der internationalen Politik zeitweise versuchten, einen innerkoreanischen Dialog zu führen. Das tiefe Misstrauen zwischen dem Norden und dem Süden wurde aber nicht abgebaut und nach wie vor war es das größte Hindernis für die Verwirklichung der Sonnenscheinpolitik gegenüber Nordkorea. Aus diesem Grund sah Kim Dae Jung zuerst den bilateralen Dialog und die Zusammenarbeit vor, um Misstrauen und Feindschaft abzubauen und sich miteinander auszusöhnen. Die Aussöhnung und Zusammenarbeit zwischen beiden Seiten sollte nicht nur den gegenseitigen Vorteil und das Wohl aller Koreaner fördern, sondern auch allmählich zur nationalen Sicherheit und einer Beziehung der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen beiden koreanischen Teilstaaten beitragen.211

211 An Bok Rok, Die Wiedervereinigungsfrage Koreas unter der Berücksichtigung der deutschen Erfahrungen, Berlin 2005, S. 104. 99 Zur Aufklärungskampagne für die Sonnenscheinpolitik veröffentlichte das Ministerium für Wiedervereinigung im Juli 1998 folgende sechs konkrete Richtlinien der Sonnenscheinpolitik:212

1) Die Wiederbelebung des Grundsatzabkommens von 1991 durch innerkoreanischen Dialog Das Grundsatzabkommen von 1991 ist eine national vereinbarte Urkunde (Schriftstück, Bestätigung, Dokument, Zeugnis, Unterlage), in der sich Nord und Süd auf die Versöhnung, den Nichtangriff, den Austausch und die Kooperation für die Verbesserung des Verhältnisses verständigten. Der Ausgangspunkt der Beziehungsverbesserung zwischen dem Norden und dem Süden ist die zuverlässige Ausführung des Grundsatzabkommens. Wie in der Antrittsrede der Präsidentschaft am 25. Februar 1998 erwähnt wurde, strebt die Regierung nach einem innerkoreanischen Dialog und einem Austausch der Sondergesandten, um Wille und Meinungen der beiden Staatsoberhäupter zur Ausführung des Grundsatzabkommens festzustellen. Nach dem Beginn des innerkoreanischen Dialogs vollziehen sich die Unterredungen und die Umsetzung zuerst in den verwirklichbaren Bereichen. Danach wird sukzessive das ganze Abkommen realisiert.

2) Die aktive Tätigkeit der wirtschaftlichen Kooperation unter dem Grundsatz der Trennung von Wirtschaft und Politik Die wirtschaftliche Kooperation zwischen dem Norden und dem Süden wird nach wirtschaftlichen Prinzipien mit Rücksicht auf die selbständigen Entscheidungen der beteiligten Firmen realisiert. Man kann aus der Kooperation zwischen China und Taiwan eine Lehre ziehen. Der personale und materielle Austausch muss nach dem Prinzip der Trennung von Wirtschaft und Politik in besonderem Maße abgewickelt werden.

Um die stärkere wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen beiden Seiten zu unterstützen, schafft die Regierung bereits die Investitionsbeschränkung ab, sorgt für eine Erweiterung der Unternehmerzahl zum Besuch nach Nordkorea und sorgt für die Vereinfachung des Verfahrens zur wirtschaftlichen Kooperation. Und sie wird sich weiter um die aktive Zusammenarbeit im wirtschaftlichen Bereich bemühen.

3) Die sofortige Realisierung der Familienzusammenführungen

212 Das Ministerium für die Wiedervereinigung, Bedeutung und Richtlinien der „Sonnenscheinpolitik“, Seoul 1998, S. 18-23. 100 Die etwa zehn Millionen getrennten Familien konnten noch nichts darüber erfahren, ob ihre Familienangehörigen auf der andere Seite der innerkoreanischen Grenze am Leben sind. Dies ist eine der traurigsten Geschichten auf der koreanischen Halbinsel. Aus diesem Grund setzt die Regierung unverzüglich die Priorität, die Frage der getrennten Familien zu lösen. Durch Verhandlungen mit der nordkoreanischen Regierung will die Regierung die sofortige Familienzusammenführung in die Tat umsetzen. Außerdem wird sie je nach Angelegenheit eine Besuchsstätte für getrennte Familien und eine Austauschstätte für die Post an der Grenze einrichten.

4) Die Anwendung der flexiblen Reziprozität bei der Hilfe an Nordkorea Es wäre zu empfehlen, dass die Nahrungshilfe an die verhungernden Nordkoreaner von humanistischen Gesichtspunkten aus weiter geleistet wird. Die humanitäre Unterstützung durch den Süden ist unentgeltlich und umfangreiche Hilfe auf Regierungsebene wird rigoros unter dem reziproken Prinzip geleistet. Über die Nahrungsmittelhilfe hinaus wird sich die südkoreanische Regierung durch die landwirtschaftliche Kooperation zwischen dem Norden und dem Süden um die Lösung der Knappheit der Nahrung der nordkoreanischen Seite bemühen.

5) Die weitere Unterstützung für die Einrichtung des Leichtwasserreaktors in Nordkorea Die Errichtung eines Leichtwasserreaktors ist eine Maßnahme, die im Gegenzug auf den Verzicht des Nordens auf sein Atomprojekt von den Vereinigten Staaten, Japan und Südkorea in Aussicht gestellt wurde. Um diese Maßnahme reibungslos durchzuführen, müssen die Verhandlungen zwischen den finanziell beteiligten Ländern erfolgreich beendet werden. Die südkoreanische Regierung wird in Bezug auf die heutige wirtschaftliche Lage den vernünftigen Versuch unternehmen, die finanziellen Mittel für die Errichtung des Reaktors aufzubringen.

6) Die Bildung einer friedlichen Sphäre auf der koreanischen Halbinsel Parallel zum innerkoreanischen Dialog spielen die Vier-Parteien-Gespräche, außer Nordkorea und Südkorea nehmen daran China und die Vereinigten Staaten teil, eine wichtige Rolle für den zum Frieden auf der koreanischen Halbinsel. Im innerkoreanischen Dialog werden als Schwerpunktthemen Aussöhnung, Austausch und Kooperation zwischen dem Norden und dem Süden verhandelt. Die Verhandlungen in den Vier-Parteien-Gesprächen beinhalten die 101 Fragen nach dem Übergang vom Waffenstillstand zum Friedensvertrag, nach der Errichtung einer militärischen Vertrauensbasis und nach dem daraus resultierenden Aufbau der Friedensordnung. Außerdem wird die südkoreanische Regierung, neben den USA und Japan, im Hinblick auf den innerkoreanischen Dialog Nordkorea helfen, mit internationalen Organisationen zusammenzuarbeiten und in den Vereinten Nationen als zuverlässiges Mitglied zu arbeiten.

Diese sechs konkreten Pläne wurden neben den drei Prinzipien der Sonnenscheinpolitik bis zum historischen Gipfeltreffen zwischen dem südkoreanischen Präsidenten Kim Dae Jung und dem nordkoreanischen Staatschef Kim Jong Il am 15. Juni 2000 von der südkoreanischen Regierung kontinuierlich forciert, auch wenn es von der nordkoreanischen Seite keine positive Resonanz fand.

102 3. Realität und Illusion: Entstehung und Entwicklung der neuen Politik 3. 1. Die Ostpolitik (1961-1969) 3. 1. 1. Weltpolitische Ausgangslage und Berliner Mauerbau Am 27. November 1958 richtete die Regierung der Sowjetunion Noten an die drei Westmächte,213 in denen sie ultimativ forderte, West-Berlin aus der im Potsdamer Abkommen vereinbarten Vier-Mächte-Verantwortung herauszunehmen und es in eine Freie Stadt, nämlich eine unabhängige politische Einheit, umzuwandeln. Danach sollte die Stadt entmilitarisiert werden und eine eigene Regierung bekommen. Dieser neu entstehende Status von West-Berlin sollte international garantiert werden. Schließlich kündigte die Führung in Moskau ultimativ an, dass sie ihre Rechte einschließlich der Kontrolle der Zugangswege an die DDR abgeben werde, falls die Verhandlungen nicht innerhalb von sechs Monaten abgeschlossen seien.214 Mit diesem Berlin-Ultimatum suchte die Sowjetunion eine neue Lösung der Deutschlandfrage in ihrem Sinne zu erzwingen.

Auf der Außenministerkonferenz, die vom 11. Mai bis zum 5. August 1959 in Genf zur Lösung der Berlin- und Deutschlandfrage stattfand, nahmen die Westmächte und die Sowjetunion zunächst einen Austausch der bisherigen Standpunkte vor. An der Konferenz nahmen zwar Berater aus der Bundesrepublik und der DDR teil, aber sie gewannen keinen Einfluss auf die Verhandlungen über die Deutschlandfrage. Die Westmächte legten einen Stufenplan zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands vor. Im Gegensatz zum Plan der Westmächte ging die Sowjetunion vom sofortigen Abschluss eines Friedensvertrages und der Umwandlung von West-Berlin in eine Freie Stadt aus. Der Meinungsunterschied zwischen beiden Seiten war so groß, dass man sich scheinbar nicht einigen konnte. Aber im Lauf der Konferenz kamen die Westmächte in einem entscheidenden Punkt den sowjetischen Zielsetzungen entgegen. Sie kündigten an, dass sie damit einverstanden seien, das Berlin- Problem getrennt von der Wiedervereinigungsfrage und der Abrüstungsproblematik zu behandeln. Mit dieser Konzession ihrer bisherigen gesamtdeutschen Zielsetzung im Sinne des Deutschlandvertrages von 1954 und der „Berliner Erklärung“ vom 29. Juli 1957 war der Wendepunkt im Ringen zwischen Ost und West um Deutschland eingetreten.215 Mit anderen Worten: Die Westmächte zeigten sich auf der Konferenz bereit, Konzession in der

213 Nicht nur den drei Westmächten, sondern auch den Regierungen aller Staaten, zu denen die Sowjetunion diplomatische Beziehungen unterhielt, sowie den Regierungen der anderen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen wurden Abschriften der Note zugestellt. 214 Vgl. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik IV. Reihe/Bd. 1, Frankfurt a. M./Berlin 1971, S. 151-177. 215 Rudolf Morsey, Die Bundesrepublik Deutschland, München 2000, S. 61. 103 Blockpolitik zu machen, ohne entsprechende Fortschritte in der deutschen Wiedervereinigungspolitik zu verlangen.

Trotz dem Entgegenkommen der Westmächte verlief die Konferenz in Bezug auf die Berlin- Krise ergebnislos. Auch das Gipfeltreffen zwischen dem amerikanischen Präsidenten Eisenhower und dem sowjetischen Ministerpräsidenten Chruschtschow am 26. September 1959 in Camp David in den USA verfolgte nur eine temporäre Entspannung der Krise. Anfang 1960 unterstrich Chruschtschow in einer Tagung des Obersten Sowjets der UdSSR in Moskau mit Nachdruck Folgendes: „Wenn aber all unsere Anstrengungen, mit den beiden deutschen Staaten, die dazu bereit sein werden, einen Friedensvertrag zu schließen, trotz alledem keinen Erfolg zeitigen, wird die Sowjetunion, zusammen anderen Staaten, die dazu bereit sein werden, einen Friedensvertrag mit der Deutschen Demokratischen Republik unterzeichen.“216 Die Sowjetunion verstärkte wiederum den Druck auf Berlin und drohte erneut, mit der DDR einen separaten Friedensvertrag abzuschließen.

Um über die Berlin- und Deutschland-Frage weiter zu verhandeln, fand zwar eine Gipfelkonferenz der vier Großmächte im Mai 1960 in Paris statt. Aber die Gipfelkonferenz scheiterte, da Chruschtschow im Lauf der Konferenz Paris verließ. Der Grund dafür war, dass während der Konferenz ein amerikanisches Aufklärungsflugzeug über dem Gebiet der Sowjetunion abgeschossen wurde. Dieser Zwischenfall war für die westdeutsche Außenpolitik unter den damaligen Umständen ein schierer Glücksfall. Denn die Westmächte hatten weitere Zugeständnisse in der deutschen Frage auf der Konferenz geplant.

Nach dem Fehlschlag der Genfer Außenministerkonferenz und der Pariser Gipfelkonferenz kam die Sowjetunion zu der Erkenntnis, dass ihr Plan zur entgültigen Lösung, nämlich den Abschluss eines Friedensvertrages mit beiden Deutschlands, gegen die Westmächten undurchsetzbar war, die nur zu Konzessionen in der Deutschland-Frage bereit waren. Trotzdem hörte die Sowjetunion nicht auf, die Berlin- und Deutschlandfrage im Sinne der Sowjetunion zu regeln.

Unter diesen Umständen übernahm der neugewählte Präsident John F. Kennedy am 20. Januar 1961 sein Amt von seinem Vorgänger Dwight D. Eisenhower. In seiner Antrittsrede, die er nach Ablegung seines Amtseides hielt, wies der neue Präsident darauf hin, dass sich die Außenpolitik der USA ändern werde: „Und schließlich möchten wir an all jene Nationen, die sich selbst zu unserem Gegner erklären wollen, nicht ein Versprechen, sondern ein dringendes

216 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik IV. Reihe/Bd. 4, Frankfurt a. M./Berlin 1972, S. 84. 104 Ersuchen richten: Dass beide Seiten erneut mit der Suche nach Frieden beginnen mögen, bevor die dunklen Mächte der Zerstörung, die von der Wissenschaft entfesselt worden sind, die ganze Menschheit in geplanter oder zufälliger Selbstvernichtung verschlingen. (...) Lasst uns auf beiden Seiten herausfinden, welche Probleme uns vereinen anstatt auf den Problemen herumzureiten, die uns trennen. Lasst uns auf beiden Seiten zum erstenmal ernsthafte und präzise Vorschläge für die Inspektion und Kontrolle der Rüstungen formulieren.“217 An seiner ersten Botschaft an die Welt war zu erkennen, dass sich die Außenpolitik der Vereinigten Staaten nicht an der Konfrontation mit der Sowjetunion, sondern an der Zusammenarbeit und dem Frieden orientieren wird. Damit signalisierte er bereits seine spätere außenpolitische Grundlinie „Strategie des Friedens“. Er appellierte zudem an die Verbündeten, dass sie ihren eigenen Beitrag zum gemeinsamen Ziel leisten sollten: „Meine Mitbürger in der Welt: Fragt nicht, was Amerika für Euch tun wird, sondern fragt, was wir zusammen für die Freiheit des Menschen tun können.“

Der neue amerikanische Präsident setzte zunächst dem erneuten Versuch Chruschtschows zur Umgestaltung Deutschlands und Berlins die Entschlossenheit der Vereinigten Staaten entgegen, den westlichen Besitzstand in Deutschland unverändert zu erhalten. Am 25. Juli 1961 bekräftigte er in einer Rundfunk- und Fernsehansprache218 die Berliner Garantie vom 14. Dezember 1958, reduzierte sie jedoch auf drei Grundsätze, die unter allen Umständen gewahrt werden müssen: Das Anwesenheitsrecht der Westmächte in Berlin, das Recht auf freien Zugang nach West-Berlin sowie das Recht der Bevölkerung von West-Berlin, über ihre Zukunft selbst zu bestimmen und ihre Lebensweise frei zu wählen.

Nach der vom amerikanischen Präsidenten konkretisierten Strategie in der Berlin-Frage, nämlich die eindeutige Ablehnung des sowjetischen Plans, begann die Führung in Ost-Berlin mit Rückendeckung des Warschauer Paktes in der Nacht zum 13. August 1961, den innerstädtische Zugang zu West-Berlin mit Stacheldraht und durch den Bau einer Mauer abzusperren. Damit erreichte die Berlin-Krise ihren Höhepunkt.

Während der Berlin-Krise wurde deutlich sichtbar, dass die „Politik der Stärke“ Adenauers in bezug auf die deutsche Wiedervereinigung keine Erfolge hatte. Vor allem mit der Errichtung der Berliner Mauer zementierte die DDR-Führung die Teilung Deutschlands und schirmte sich gegen westliche Einflüsse und die Fluchtbewegung von Ost- nach West-Berlin219 ab. Die

217 Archiv der Gegenwart, 31 Jahrgang 1961, S. 8873. 218 Vgl. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik IV. Reihe/Bd. 6, Frankfurt a. M. 1972, S. 1348-1356. 219 Seit 1949 wurden in der Bundesrepublik 2,6 Millionen Flüchtlingen aus der DDR amtlich registriert. Etwa die Hälfte davon war über West-Berlin gekommen. 105 Fluchtbewegung in Richtung West-Berlin war für die DDR ein ernsthaftes Problem, weil dadurch das politische Ansehen des SED-Regimes sowie qualifizierte und junge Arbeitskräfte der DDR verloren gingen. Bereits in den 50er Jahren wurde erwogen, ein künstliches Hindernis, etwa einen Zaun oder eine Mauer aufzurichten, um die Fluchtbewegung von Ost- nach West-Berlin aufzuhalten. Aber die Sowjetunion und die DDR zögerten, eine solche Imageverlusterklärung öffentlich einzugestehen. Erst ab 1956, nach der Schaffung der innen- und außenpolitischen Rahmenbedingungen konnte die Sowjetunion eine Verschärfung der Lage in Berlin riskieren. Berlin wurde als Ort des Konflikts zwischen Ost und West gewählt, denn die Insellage der Stadt konnte mit den leicht zu blockierenden Zufahrtswegen ohne große Schwierigkeiten als Hebel angewendet werden, um vielfach gestufte Spannungen zu verursachen.

In der Zeit zwischen dem Mauerbau bis zur Kuba-Krise 1963 stand die fortdauernde Berlin- Krise und die Bemühungen der Vereinigten Staaten um ihre Beilegung und zugleich um eine Entspannung des Verhältnisses zum Osten im Vordergrund. Die USA versuchten in dieser Zeit in den Gesprächen mit der Sowjetunion eine Verhandlungsgrundlage für ein Berlinabkommen, zumindest aber einen Modus vivendi für Berlin zu finden. Die bereits im September 1961 aufgenommenen Gespräche wurden von Januar bis zum Ausbruch der Kuba- Krise Mitte Oktober in unterschiedlichen Zeitabständen fortgeführt, verliefen aber im Ganzen ergebnislos, da die Grundpositionen beider Seiten unvereinbar blieben. Der Westen beharrte auf seinen grundsätzlichen Rechten und Interessen: der Anwesenheit der westlichen Streitkräfte in West-Berlin, dem freien Zugang zur Stadt und der Freiheit der Bevölkerung von West-Berlin. Im Gegensatz zu den Westmächten blieben die sowjetischen Forderungen nach wie vor Abzug der westlichen Truppen aus Berlin, Umwandlung West-Berlins in eine Freie Stadt und Abschluss eines deutschen Friedensvertrages.

Im Lauf der Verhandlungen über die Berlin-Frage spitzte sich in West-Berlin die Krise zum Jahrestag des Mauerbaus gefährlich zu. Als am 17. August 1962 der 18jährige Peter Fechter, der bei der Flucht nach West-Berlin niedergeschossen wurde, mehrere Stunden lang schwer verwundet hinter der Mauer auf Ost-Berliner Gebiet liegen blieb und verblutete, kam es in West-Berlin zu Demonstrationen, die mehrere Tage lang anhielten. Der Protest richtete sich nicht nur gegen die Sowjets und die DDR-Grenzsoldaten, sondern auch gegen die Alliierten. Brandt schrieb später in seinem Buch „Erinnerungen“: „Leidenschaftliche Proteste waren berechtigt, auch notwendig, aber sie änderten nichts an der Lage. Die Mauer blieb; man musste mit ihr leben, und ich habe Polizei aufbieten müssen, damit junge Demonstranten nicht in ihr Unglück rannten. (...) Das Spiel mit Trümpfen, die keine sind, wie Golo Mann

106 formuliert hat, änderte nichts. Man musste die politischen Möglichkeiten neu durchdenken, wenn man für die Menschen etwas erreichen und den Frieden sicherer machen wollten.“

Im Gegensatz zur Hoffnung auf die Lösung des Berlin-Problems gab die Sowjetunion am 11. September 1962 durch TASS (Telegrafnoe Agenstvo Sovestskogo Sojuza: Telegrafenagentur der Sowjetunion) bekannt, dass sie die Verhandlungen über einen deutschen Friedensvertrag bis nach den amerikanischen Kongresswahlen vertagen.220 Dies löste im Westen die Befürchtung aus, dass die Sowjetunion nach Ablauf der Frist harte Maßnahmen gegen Berlin ergreifen wird.

Statt zu harten Maßnahmen in Berlin kam es Mitte Oktober zur Kuba-Krise, die durch den im Sommer 1962 begonnenen Bau von Abschussbasen für sowjetische Mittelstreckenraketen auf Kuba ausgelöst wurde. Nach intensiven Bemühungen zur Beilegung des Konfliktes auf verschiedenen Ebenen erklärte sich Chruschtschow Ende Oktober 1962 zum Abbau der Abschussbasen und der Raketen bereit. Die Beendigung der Kuba-Krise bedeutete auch einen Wendepunkt für die Berlin-Krise. Die USA verhinderten durch ihre entschlossene Haltung einen Tauschhandel sowjetischer Positionen in Kuba gegen westliche Positionen in Berlin und sicherten damit den Modus vivendi für Berlin. Durch den amerikanischen Erfolg war die Stellung Berlins im Westen wesentlich stärker geworden. Durch den amerikanischen Erfolg war die Stellung Berlins im Westen wesentlich stärker geworden.

Nach der Berlin- und Kuba-Krise wurden im Jahr 1963 unter der Führung der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion im Westen und Osten Bemühungen sichtbar, eine Politik der Entspannung in den internationalen Beziehungen herbeizuführen. Zwar ließ keine der beiden Seiten die Bereitschaft erkennen, grundsätzliche Standpunkte preiszugeben, und es blieben weiterhin ernsthafte Reibungspunkte bestehen: Berlin, Kuba und Südostasien. Aber es wurden schrittweise neue Überlegungen angestellt und neue Wege gesucht, um den Kalten Krieg und die bisherige Politik der Konfrontation zu überwinden. So artikuliert Präsident Kennedy in seiner Rede vom 10. Juni 1963 öffentlich, dass der Weltfrieden eines der wichtigsten Themen auf der Erde sei und dass voller Vertrauen und ohne Furcht weiter in Richtung auf eine Strategie des Friedens gearbeitet werden sollte.

Auch die Sowjetunion verminderte ihren Konfrontationskurs. Die sowjetische Führung in Moskau, die in einen immer heftiger werdenden ideologischen Konflikt mit der Kommunistischen Partei (KP) Chinas verwickelt wurde, bediente sich im Allgemein eines

220 Vgl. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik IV. Reihe/Bd. 8, Frankfurt a. M. 1977, S. 1075-1084. 107 gemäßigteren Tones gegenüber den Vereinigten Staaten und fand sich auf Teilgebieten sogar zur Zusammenarbeit bereit. So kam ein spektakuläres Ereignis zwischen den USA und der Sowjetunion zustande: der Abschluss eines Teststoppabkommens für Atomwaffentests. Nach jahrelangen ergebnislosen Verhandlungen über die vollständige Einstellung aller Kernwaffenversuche wurde auf der Grundlage eines amerikanischen Kompromissvorschlages eine Teilregelung erzielt. Am 5. August 1963 wurde in Moskau der „Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser“221 von Großbritannien, der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten unterzeichnet. Er wurde als erster Schritt auf dem Weg zu einem allgemeinen Kernwaffenversuchsverbot betrachtet und weltweit begrüßt. Noch wichtiger als diese Vereinbarungen war, dass die Großmächte begonnen hatten, sich über ihr strategisches Verhältnis zu verständigen.

3.1.2. Wandel durch Annäherung Am Tag des Berliner Mauerbaus erklärte der Regierende Bürgermeister und Kanzlerkandidat der SPD Brandt, der seine Wahlkampfreise sofort abbrach, vor dem Berliner Abgeordnetenhaus ausdrücklich, dass der Senat von Berlin vor aller Welt Anklage gegen die widerrechtlichen und unmenschlichen Maßnahmen der Spalter Deutschlands, der Bedrücker Ostberlins und der Bedroher Westberlins erheben werde. Ferner rief der regierende Bürgermeister von Berlin auf: „An alle Landsleute in der Bundesrepublik möchte ich den Appell richten, Solidarität mit Berlin und mit den Landsleuten in der Zone zu üben. Jede Teilnahme an Veranstaltungen des Zonenregimes muss angesichts dieser Situation abgesagt werden.“222 Brandt verurteilte die Absperrungen als eine Art Konzentrationslager und krasse Verletzung des Viermächtestatus. Die Bundesregierung reagierte auf den Mauerbau mit machtlosem Warten auf Gegenmaßnahmen der Westmächte. Aber die Westmächte beschränkten sich nur auf Proteste und einige demonstrative Akte. Adenauer vermied es, sofort Berlin zu besuchen, weil er befürchtete, dass sein Besuch in Berlin unbeherrschte Reaktionen der Sowjetunion hervorrufen könnte.

Auf dem Hannoveraner Parteitag der SPD am 25. November 1960 plädierte Willy Brandt in bezug auf den Mauerbau und die weltpolitische Lage: „Wir werden uns daran gewöhnen müssen, im Gleichgewicht des Schreckens zu leben, in einem Zustand, der weder Krieg noch Frieden ist, im klassischen Sinne. (...) Es gibt keine Alternative, da es den Krieg nicht geben

221 Vgl. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik IV. Reihe/Bd. 9, Frankfurt a. M. 1978, S. 608-610. 222 Willy Brandt, Berliner Ausgabe Bd. 3. Berlin bleibt frei Politik in und für Berlin 1947-1966, Ulm 2004, S. 330f. 108 soll. Das Problem ist, den Status quo militärisch zu fixieren, um die notwendige Bewegungsfreiheit zu bekommen für die politische Überwindung des Status quo.“ Er verwies ferner darauf, dass die Verbündeten der BRD von ihr hierzu einen eigenen Beitrag erwarten würden.

Der Gedanke eines eigenen deutschen Beitrags zur Lösung des Deutschlandproblems führte zu seiner Aufforderung, durch deutsch-deutsche Kontakte die Auswirkungen der Teilung Deutschlands zu mildern. Knapp fünf Monate nach dem Mauerbau erklärte Willy Brandt bei einem Spiegel-Gespräch, dass er bereit sei, mit Ost-Berlin zu verhandeln. Damit betonte er erneut seine Aufforderung, direkt Kontakt mit der DDR aufzunehmen. Außerdem urteilte er über die Zukunft der eingeschlossenen Bürger und des politischen Systems der DDR: „Spiegel: Die Mauer ist doch ein deutliches Zeichen dafür, dass sich Ulbricht und Genossen selbst eine Grenze gesetzt haben. Brandt: Ja, das ist bei so einer Mauer das Problem, ob man sich selbst einmauert, ob man andere ausmauert. (...) Dabei ist es doch so, dass der menschliche Schmerz, das menschliche Leid, das von dort ausgeht, sich auf beide Seiten erstreckt. Aber ich glaube, Sie haben recht. Es ist im Wesentlichen eine Einmauerung des Zonenregimes. Vielleicht wird man später einmal sagen: Das war der Punkt, an dem der Kommunismus auf deutschem Boden sich selbst seine Grenzen gesetzt hat. Aber auch das ist nur ein schwacher Trost.“223

Seine Auffassung von Berliner-Mauerbau wiederholte Willy Brandt in einer Rede an dem vom 26. bis 30. Mai 1962 in Köln stattgefundenen Parteitag ausdrücklich: Die Mauer wurde errichtet, damit aus einem aufgezwungen Regime nicht ein Regime ohne Volk würde. Die Mauer sei Terror, der fotografiert werden könne. Zudem mahnte er in seiner Rede, die er zum Thema „Wer rastet, der rostet – Dynamische Politik als deutsche Gemeinschaftsaufgabe“ hielt, „wer sich allein an das Erreichte klammert, der wird es morgen schon verloren haben. Wer sich gegen schöpferische Experimente wehrt, der wird stehen bleiben. Und wer stehen bleibt, der wird auf der Strecke bleiben. Wir wollen nicht stehen bleiben. Die Zukunft liegt vor uns. Sie wartet auf den, der sie gestaltet.“224 Schließlich fasste er die außenpolitische Lage und die Schwierigkeit der deutschen Außenpolitik zusammen und formulierte seinen Grundgedanken zur Außenpolitik: „Wir leben in einer Zeit des Wandels, außenpolitisch und innenpolitisch. In der Weltpolitik bestehen die Gegensätze fort, und trotzdem versuchen die führenden Mächte, Spielregeln zu finden, um nebeneinander existieren zu können. (...) Die

223 Erich Böhme, Klaus Wirtgen (Hrsg.), Willy Brandt: Die Spiegel-Gespräche, Reinbek 1995, S. 75. 224 Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Hrsg.), Protokoll der Verhandlungen und Anträge. Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Köln 26. bis 30 Mai 1962, Bonn 1962, S. 78. 109 Bundesrepublik muss alles fördern, was der Einheit Europas dient. Sie muss alles vermeiden, was die atlantische Gemeinschaft, die erst noch weiter entwickelt werden muss, schwächen könnte oder gar zersetzen müsste. Wandlungen vollziehen sich in den beiden Teilen Deutschlands. Die Zone lebt in einem Zustand verzweifelten Drucks. Die Bundesrepublik hat es mit Anpassungsschwierigkeiten an eine veränderte Wirklichkeit zu tun.“225

Am 2. Oktober 1962 äußerte der Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, in einem Vortrag unter dem Titel „Koexistenz – Zwang zum Wagnis“ in der Harvard- Universität, dass die Koexistenz die Grundlage sei, auf der die aktuellen Fragen und Konflikte hätten gelöst werden können. Außerdem betonte Brandt neben den Problemen der internationalen Sicherheit, der kulturellen Kommunikation, der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, dass die politische Strategie des Westens auf vielen Schauplätzen des internationalen Geschehens Initiative und Offensive zeigen müsse. In dieser Rede wurde die Übereinstimmung mit John F. Kennedy in Bezug auf den strategischen Weg deutlich, der an seinem Ende die Perspektive des weltweiten Sieges westlicher Wertvorstellungen eröffnen sollte: „Wir haben die Formel zu suchen, die die Blöcke von heute überlagern und durchdringen. Wir brauchen soviel reale Berührungspunkte und soviel sinnvolle Kommunikation wie möglich. Wir brauchen uns vor dem Austausch von Wissenschaftern und Studenten, von Informationen, Ideen und Leistungen nicht zu fürchten. Entscheidend sollte für uns sein, dass es sich um vernünftige Vorhaben in verantwortlichen Formen handelt.“ Anschließend erklärte er weiter, dass eine solche Konzeption zu einer Transformation der anderen Seite beitragen könne. „Wir hätten uns darauf konzentrieren sollen, eine Entwicklung zu unterstützen, die uns mehr verspreche als bloße Selbstbehauptung, die dazu beitragen könne, eine friedliche und dynamische Transformation zu fördern“.226 Wie Willy Brandt in seinen zahlreichen Reden zum Ausdruck brachte, gab der 13. August 1961 und seine Folgen den entscheidenden Anstoß, neue Wege zu suchen.

Das Umdenken in der Außenpolitik begann in den USA. Der neue amerikanische Präsident John F. Kennedy, der bereits in seiner Amtsantrittsrede einen neuen Kurs in der Außenpolitik der Vereinigten Staaten angedeutet hatte, formulierte vor der Amerikanischen Universität in Washington seine „Strategie des Friedens“: „Doch ist es eines der wichtigsten Themen auf der Erde: der Weltfrieden. (...) Ich spreche hier von dem echten Frieden – jedem Frieden, der das Leben auf Erde lebenswert macht, jedem Frieden, der Menschen und Nationen befähigt, zu wachsen und zu hoffen und ein besseres Leben für die Kinder aufzubauen, nicht nur ein

225 Ebd., S. 85. 226 Ebd., S. 87. 110 Frieden für Amerikaner, sondern ein Friede für alle Menschen. Nicht nur Frieden in unserer Generation, sondern Frieden für alle Zeiten. (...) Kurz gesagt: Beide, die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten sowie die Sowjetunion und ihre Verbündeten, haben ein gemeinsames tiefes Interesse an einem gerechten und wirklichen Frieden und einer Einstellung des Wettrüstens. Abkommen, die zu diesem Ziel führen, sind im Interesse der Sowjets wie auch im unsrigen. Selbst bei den feindlichsten Ländern kann man damit rechnen, dass sie solche vertraglichen Verpflichtungen akzeptieren und einhalten, die in ihrem eigenen Interesse sind. (...) Voller Vertrauen und ohne Furcht werden wir weiter arbeiten, nicht in Richtung auf eine Strategie der Vernichtung, sondern in Richtung auf eine Strategie des Friedens.“227

Der amerikanische Präsident Kennedy fasste beim Berlin-Besuch 1963 die Grundprinzipien der neuen amerikanischen Politik zusammen und erörterte zugleich, welche Rolle die Bundesrepublik in dieser Situation des Wandels und der Herausforderung spielen könne. Es genüge nicht, hinter dem Schild militärischer Verpflichtung auf der Stelle zu treten und in Erwartung besserer Zeiten den Status quo aufrechtzuerhalten. Es sei vielmehr erforderlich, alles zu tun, damit für den Menschen in den stillen Straßen östlich von uns die Verbindung mit der westlichen Gesellschaft aufrechterhalten wird.228

Der außenpolitische Grundsatz der Vereinigten Staaten, „Strategie des Friedens“, wirkte sich auf die deutsche Politik stark aus. Regierende Bürgermeister von Berlin Brandt und sein enger Mitarbeiter Bahr waren im Juli 1963 aus Anlass des zehnjährigen Bestehens des Politischen Clubs eingeladen, in der Evangelischen Akademie Tutzing Vorträge zu halten. In dem kleinen Ort am Westufer des Starnberger Sees treffen sich alljährlich Politiker, Publizisten und Wissenschaftler, um im kleinen Kreis aktuelle Themen zu diskutieren. Da zog Brandt in seinem Vortrag eine umfassende Bilanz der außen- und innenpolitischen Situation der Bundesrepublik, die 1963 ihren ersten Kanzlerwechsel erlebte. Im zweiten Teil seiner Rede fanden sich sämtliche Grundgedanken, die auch in seiner Rede verarbeitete: „In Wirklichkeit geht es um die simple Erkenntnis, dass es keine andere Aussicht auf die friedliche Wiedervereinigung unseres Volkes gibt als den nicht erlahmenden Versuch, die Erstarrung der Fronten zwischen Ost und West aufzubrechen. Gerade weil das Deutschlandproblem so sehr in das Verhältnis zwischen Ost und West eingebettet ist, gibt es für uns keine Hoffung, wenn es keinen Wandel gibt. Das bloße Beharren bietet keine

227 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik IV Reihe/Bd. 9, Frankfurt a. M. 1978, S. 382-388. 228 Dietrich Thränhardt, a. a. O., S. 145. 111 Perspektive.“229 Er unterstrich zudem, dass es in der Außenpolitik nicht um umwälzende Veränderungen, sondern um Korrekturen und neue Akzente gehen sollte.230 Den Äußerungen Brandts wurde aber weder in der eigenen Partei noch in der breiten Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit zuteil.

Im Gegensatz zur Rede Brandts sorgte der Diskussionsbeitrag Bahrs in der damaligen politischen Szene für große Aufregung. In seiner Tutzinger Rede legte er das Konzept vom „Wandel durch Annäherung“ das erste Mal öffentlich dar. Bahr berief sich in seinen Ausführungen auf Kennedys gerade proklamierte „Strategie des Friedens“ und versuchte die Gedanken Kennedys auf die deutsche Situation zu übertragen. Bahr formulierte in Tutzing erstmalig jenes Paradox, das zum Wesenszug der späteren Ostpolitik werden sollte: „ Überwindung des Status quo, indem der Status quo zunächst nicht verändert werden soll.“ Eine Hauptthese seines Tutzinger Vortrages war die Feststellung, dass das Deutschlandproblem Teil des Ost-West-Konflikts und somit nur in Verbindung mit den Supermächten zu lösen war. Er sah den Schlüssel der Lösung der deutschen Frage in Moskau: „Die Voraussetzungen zur Wiedervereinigung sind nur mit der Sowjetunion zu schaffen.“

Die Formel „Wandel durch Annäherung“ enthielt für Bahr auch eine „Politik der kleinen Schritte“: „Die erste Folgerung, die sich aus einer Übertragung der Strategie des Friedens auf Deutschland ergibt, ist, dass die Politik des Alles oder Nichts ausscheidet. (...) Heute ist klar, dass die Wiedervereinigung nicht ein einmaliger Akt ist, der durch einen historischen Beschluss an einem historischen Tag auf einer historischen Konferenz ins Werk gesetzt wird, sondern ein Prozess mit vielen Schritten und vielen Stationen.“

Bahr zog aus seiner Analyse folgende Schlussfolgerung: Man könnte auch sagen, die Mauer sei ein Zeichen der Angst und des Selbsterhaltungstriebes des kommunistischen Regimes gewesen. Die Frage sei, „ob es nicht eine Möglichkeit gibt, diese durchaus berechtigten Sorgen dem Regime graduell soweit zu nehmen, dass auch die Auflockerung der Grenzen und der Mauer praktikabel wird, weil das Risiko erträglich ist. Das ist eine Politik, die man auf die Formel bringen könnte: Wandel durch Annäherung. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir Selbstbewusstsein genug haben können, um eine solche Politik ohne Illusionen zu verfolgen, die sich außerdem nahtlos in das westliche Konzept der Strategie des Friedens einpasst, denn sonst müssten wir auf Wunder warten, und das ist keine Politik.“231

229 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik IV Reihe/Bd.9, Frankfurt a. M. 1978, S. 567. 230 Ebd., S. 566. 231 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik IV Reihe/Bd. 9, Frankfurt a. M. 1978, S. 575. 112 Bahr nahm in dieser Konzeption eine Anerkennung der DDR als Staat aus. Denn er glaubte, dass die Anerkennung der DDR zum damaligen Zeitpunkt unpraktikabel war. Ohnedies rief seine Rede eine Flut an Verdächtigungen hervor. Der neue Ansatz ging vom Scheitern der bisherigen Politik aus, das mit dem Bau der Berliner Mauer sichtbar geworden war. An die Stelle westlicher Nichtachtungsmaßnahmen, wie sie nach dem Bau der Mauer zunächst eingeleitet wurden, sollte eine Forderung nach Kontakten aller Art treten. Eine gewisse Stabilisierung der DDR sollte in der Erwartung in Kauf genommen werden, dass sie den Menschen und den Beziehungen zwischen Ost und West zugute kommen werde.

Nicht nur im Westen, sondern auch im Osten wurde Bahr kritisiert. Der damalige Außenminister der DDR, Otto Winzer, sah in der Formel eine Aggression auf Filzlatschen. Der Berliner Bürgermeister Franz Amrehn (CDU) meinte, die Rede Bahrs enthalte Elemente einer neuen Richtung der Berlin-Politik mit nicht mehr übersehbaren Aufweichungstendenzen, denen von Anfang an der entschiedenste Widerstand entgegengesetzt werden müsse. Der Journalist Matthias Walden formulierte die konservative Gegenposition zu Bahr: Im Kampf gegen Kommunisten gebe es nur Sieg oder Niederlage. Man dürfte nicht die Gewöhnung an das Ungewöhnbare fördern.232 Aber auch in der SPD war der Plan heiß umstritten. Damals gab es in der SPD viele, die die Bedenken hatten, die Partei, die erst 1960 mit der Rede Wehners im Bundestag auch den außenpolitischen Grundlagen der Regierung Adenauer zugestimmt hatte, hätte sich mit Bahrs Konzept von dieser Position schon wieder entfernen und innenpolitisch zu angreifbar werden können. Aus diesem Grund unternahm die SPD auch alles, um sich von Bahr zu distanzieren. Die Berliner Sozialdemokraten bezeichneten die problematischen Ausführungen Bahrs als einen Beitrag zur eigenen Meinungsbildung in der Partei. Bahr habe weder für die SPD noch für irgendeinen anderen gesprochen, sondern allein seine persönliche Meinung geäußert. Trotzdem setzte sich die Konzeption Bahrs in der SPD durch.

Bereits wenige Monate nach Egon Bahrs Tutzinger Rede fand sein Konzept eine erste praktische Anwendung, nämlich im sogenannten Berliner Passierscheinabkommen. Im Dezember 1963 wurde in Berlin die erste Passierscheinregelung nach dem Mauerbau erreicht. Die Bundesregierung versuchte zwar bereits im Jahr 1962 im Zusammenhang mit einem Kreditersuchen der DDR eine Passierscheinregelung auszuhandeln. Doch der Staatsratsvorsitzende Ulbrich lehnte sie auf dem VI. Parteitag der SED endgültig mit der Begründung ab, die Bundesregierung fordere dafür die Zustimmung der DDR zur

232 Andreas Vogtmeier, Egon Bahr und die deutsche Frage. Zur Entwicklung der sozialdemokratischen Ost- und Deutschlandpolitik vom Kriegsende bis zur Vereinigung, Bonn 1996, S. 64. 113 Eingliederung West-Berlins in die Bundesrepublik. Als unmittelbare Folge dieser Ablehnung musste der Regierende Bürgermeister von Berlin Brandt auf ein bereits vereinbartes Gespräch mit dem sowjetischen Ministerpräsidenten Chruschtschow in Ost-Berlin verzichten, nachdem der Koalitionspartner CDU für den Fall eines Zustandekommens des Gesprächs mit dem Auszug aus dem Senat gedroht hatte.

Am 5. Dezember 1963 bot dann die Regierung der DDR dem Berliner Senat den Abschluss eines Passierscheinabkommens an, das den Einwohnern von West-Berlin erlauben sollte, zu Weihnachten und Neujahr ihre in Ost-Berlin lebenden Verwandten zu besuchen.233 Der Versuch der Bundesregierung, im Einvernehmen mit dem Senat die Treuhandstelle für den Interzonenhandel als Gremium für die anstehenden Verhandlungen einzuschalten,234 scheiterte am Widerspruch der Regierung der DDR, die auf direkte Verhandlungen mit dem Senat bestand. Die Bundesregierung gab nur zögernd und mit großen Bedenken dazu ihre Zustimmung. Eine zusätzliche Schwierigkeit entstand dadurch, dass die DDR auf die Verwendung ihrer Amtsbezeichnungen bestand, während der Senat und die Bundesregierung jeglichen Anschein einer Anerkennung der DDR als Staat zu vermeiden suchten. Die Vertragspartner fanden schließlich den Ausweg in einer „salvatorischen Klausel“, wonach durch den Abschluss der Passierscheinvereinbarung keine Seite die offizielle Terminologie der anderen akzeptierte. Ummittelbar nach der Besuchsregelung wurde sowohl in West-Berlin als auch im Bundesgebiet eine lang andauernde, zuweilen heftige Diskussion geführt, die die Passierscheinverhandlungen des Jahres 1964 begleiteten und in der beklagt und kritisiert wurde, dass Rechtspositionen aufgegeben wurden und die DDR sowohl hinsichtlich ihrer staatlichen Anerkennung als auch hinsichtlich der Aushöhlung des Rechtsstatus von Berlin einen Erfolg erzielt habe. Trotz der Kritik und des zeitlichen Vorbehaltes öffnete das Abkommen den zwei Millionen West-Berlinern nach 28 Monaten der erzwungenen Trennung wieder den Weg in den Ostteil der Stadt. Schließlich wurden bis zum Jahre 1966 immer wieder neue Abkommen vereinbart. Als die DDR 1966 die „salvatorische Klausel“ nicht mehr hinnahm, war es mit den Passierscheinen endgültig zu Ende. Allgemein kann man der Behauptung zustimmen, dass das Passierscheinabkommen vom 17. Dezember 1963 die erste erfolgreiche Konkretisierung von Bahrs Formel „Wandel durch Annäherung“ in der war.

233 Vgl. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik IV Reihe/Bd. 9, Frankfurt a. M. 1978, S. 982. 234 Ebd., S. 983. 114 Zusammenfassend lässt sich sagen: Wenige Tage nach dem Mauerbau machte die DDR den freien Zugang in den Ostteil der Stadt von Aufenthaltsgenehmigungen abhängig. West-Berlin schaute zunächst machtlos und tatenlos der Absperrung zu. Die Westmächte konnten keine Gegenmaßnahmen ergreifen. Während dieses Höhepunkts in der Krise zwischen West und Ost keimte ein Gedanke für eine neue Ost- und Deutschlandpolitik: „Wandel durch Annäherung“. „Wandel durch Annäherung“ war bei seiner erstmaligen Formulierung als Wiedervereinigungskonzept gedacht und wurde ein Modell für die spätere Neuorientierung der bundesdeutschen Ostpolitik. Und „Wandel durch Annäherung“ sollte die deutsche Antwort auf die Außenpolitik der USA, besonders auf Kennedys „Strategie des Friedens“ darstellen. Unter diesem Konzept verhandelte Willy Brandt mit der DDR-Regierung direkt und vereinbarte erfolgreich das Passierscheinabkommen, ohne das Ulbrich-Regime anzuerkennen, auch wenn die Bundesregierung damals noch andere Ziele verfolgte.

3.2. Sonnenscheinpolitik (1971-1998)

Im folgenden Teil wird eine chronologische Untersuchung über die Vorgeschichte der Sonnenscheinpolitik unternommen. Dabei werden nicht nur die am Anfang der 70er Jahre entstehenden Grundlagen der Sonnenscheinpolitik, sondern auch die sich auf die innen- und außenpolitischen Lage und das persönliche Schicksal Kims bezogene Entwicklung der Politik dargestellt. Zudem wird am Ende des Kapitels der Versuch unternommen, den historischen Zusammenhang mit der Ostpolitik Brandts zu erklären. Das Ziel dieser Untersuchung ist es, die eigene Geschichte der Sonnenscheinpolitik und die Verbindung zwischen der deutschen und koreanischen Politik herauszufinden. Inwieweit sich die Wiedervereinigungspolitik Kims von der seiner Amtsvorgänger unterscheidet und inwieweit sie sich in Anlehnung an Brandts Ostpolitik herausbildet, ist hier von Interesse.

3.2.1. Die Wiedervereinigungspolitik Kim Dae Jungs in den 70er Jahren

Bevor man sich mit der Entstehung der Sonnenscheinpolitik in den 70er Jahren beschäftigt, muss man ausdrücklich berücksichtigen, dass Kim sich bereits in den 60er Jahren als Abgeordneter im Parlament für die Überwindung der Teilung auf der koreanischen Halbinsel eingesetzt hatte. Seine Einstellung zur Lösung der nationalen Frage lässt sich bei den

115 zahlreichen Interpellationen im Parlament über die Frage der Wiedervereinigung und die Lage der Innen- und Außenpolitik ohne weiteres feststellen. Bei einer kurzen Rede vor den Fragestellungen an die Minister charakterisierte er die damalige innere und äußere Lage der Wiedervereinigung auf der koreanischen Halbinsel und die Bemühungen der Regierung um die Überwindung der nationalen Frage als sehr negativ und kritisch:

„Wer sich in der Öffentlichkeit über die Wiedervereinigungsfrage äußert, der wird bedroht, eine Strafe zu bekommen, genauso wie in der japanischen Kolonialzeit, in der den Koreanern verboten war, Koreanisch sowie seinen eigenen Namen zu sprechen und über koreanische Geschichte zu reden (...) Weder legte die Regierung dem Volk ein neues konkretes Wiedervereinigungskonzept vor, noch ließ sie eine öffentliche Diskussion über die nationale Frage zu. Die Regierung besteht darauf, dass die Wiedervereinigungsdebatte Ende der 70er Jahre stattfinden soll. Diese gegenwärtigen Maßnahmen der Regierung zur Wiedervereinigungsfrage geben Anlass zu großem Pessimismus.“ 235

Außerdem postulierte er neben der harten Kritik an der strikten Anwendung des Antikommunismusgesetzes, dass der damalige Wiedervereinigungsplan der Regierung, nämlich die Durchführung freier Wahlen unter UNO-Aufsicht, unter den gegenwärtigen Umständen der UNO nicht mehr realisierbar ist und die Hallstein-Doktrin Südkoreas in Bezug auf die in Richtung Entspannung sich wandelnde Lage der internationalen Außenpolitik aufgehoben werden soll. Schließlich forderte er vom Präsidenten Park und der Regierung die sofortige Bildung eines Gremiums für die Wiedervereinigung. Zwar war seine Rede und Kritik im Parlament mehr oder weniger eine oppositionelle Reaktion auf die stagnierende, aussichtslose Wiedervereinigungspolitik der Regierung unter dem diktatorischen Präsidenten Park, aber er brachte zum Teil die positiv beurteilte deutsche Lage, z.B. den Austausch vom Briefen zwischen BRD und DDR, als gutes Beispiel an, das er beim Präsidentschaftswahlkampf 1971 vorbrachte.236

Allerdings wird man wohl kaum fehlgehen in der Annahme, dass er derzeit nicht über einen konkreten Wiedervereinigungsplan verfügte, aus dem die Sonnenscheinpolitik hervorgehen konnte. So nahm er durch die Parlamentsarbeit als Abgeordneter zur Kenntnis, dass die Überwindung der nationalen Frage, also die Wiedervereinigung, eine der wichtigsten Aufgaben der Nation ist, auf die man auf keinen Fall verzichten soll. Hierbei nahm er

235 Stenographisches Plenarsitzungsprotokoll der Nationalversammlung vom 1. Juli 1966. 236 In einer Interpellation am 28.12.1963 schlug er zum ersten Mal den vom deutschen Vorbild zu übernehmenden Briefwechsel zwischen dem Süden und dem Norden unter der Aufsicht der UNO oder des Roten-Kreuzes vor. 116 offensichtlich als vorbildlich wahr, was im geteilten Deutschland in Bezug auf die Kooperation geschah.

Der erste Grundgedanke der langjährigen Sonnenscheinpolitik Kims geht erst auf die 70er Jahre zurück. Am 29. September 1970 wurde er zum ersten Mal zum Präsidentschaftskandidaten der oppositionellen Partei „Neue Demokratische Partei“ gewählt. Die Leitlinien seiner Politik gegenüber Nordkorea sind in der am 16. Oktober 1970 einberufenen Pressekonferenz und in dem am 24. März 1971 offiziell aufgestellten Wahlprogramm für die Präsidentenwahl am 27. April 1971 gut zu erkennen. Mit diesem im Lauf des Wahlkampfes veröffentlichten Programm tat Kim Dae Jung öffentlich den ersten Schritt seiner langjährigen Wiedervereinigungspolitik. Als Kandidat der oppositionellen Partei stellte Kim im Unterschied zu anderen Kandidaten den Wählern eine innovative und aktive Wiedervereinigungspolitik in Aussicht, die der amtierende Präsident Park und seine Regierung für unrealisierbar betrachteten und daher scharf kritisierten. Vor allem sprach er überzeugt aus, dass die unabdingbaren Voraussetzungen für die Entspannung zwischen dem Norden und dem Süden die beiderseitigen Verzichte auf einen erneuten Binnenkrieg und die Einstellung der gegenseitigen terroristischen Tätigkeiten seien. Darüber hinaus drückte er fest seinen Willen aus, zur Entspannung auf der koreanischen Halbinsel durch gegenseitigen Austausch von Journalisten, Briefwechsel und Sportaustausch, also hauptsächlich durch Austausch in unpolitischen Bereichen, beitragen zu wollen. Schließlich sollte eine Sicherheitsgarantie für die Kriegsverhinderung auf der koreanischen Halbinsel durch die vier Großmächte, Vereinigte Staaten, Sowjetunion, Japan und China, geschlossen werden.237 Vor allem wurde der Vorschlag einer Sicherheitsgarantie durch die vier Großmächte von der Presse als bemerkenswert betrachtet.238

Neben den offiziellen Wahlprogrammen zur Wiedervereinigung kündigte er in der gut aufgebauten Rede bei der Presskonferenz im Nationalclub in Washington D.C. wichtige Schritte seiner geplanten Politik an, die damals jedoch keine große Aufmerksamkeit von der Öffentlichkeit bekam. Seine Rede beinhaltete eine dreistufige Politik zur friedlichen Wiedervereinigung: „Trotz unserer Wünsche wird die sofortige Wiedervereinigung meiner Meinung nach nicht in absehbarer Zeit gelingen. Daher werde ich zuerst den Boden der Wiedervereinigung durch die drei Stufen bereiten. Erstens müssen die beiden Staaten erkennen, dass die Waffengewalt ein unakzeptables Mittel zur Wiedervereinigung ist. Die Entspannung zwischen dem Süden und dem Norden entsteht nur durch das Aufgeben der

237 Kim Dae Jung, Mit bewegendem Gewissen, Seoul 1985, S. 214. 238 Dongailbo , vom 18.10.1970, S. 3. 117 militärischen Gewalt und der gegenseitigen Terroraktion. Zweitens wird der gegenseitige Austausch von Journalisten, im Sport und durch Briefwechsel vor allem in unpolitischen und unmilitärischen Bereichen versucht. Dazu gehört auch die Erlaubnis des wechselseitigen Fernseh- und Rundfunkempfangs und dessen Zuschauens und Zuhörens. Drittens wird der Austausch auf wirtschaftlichen und politischen Gebieten angestrebt. Schließlich die Wiedervereinigung erreicht.“239

Auf diese Politik mit dem Dreistufenplan wurde im Lauf des Präsidentschaftswahlkampfes nicht mehr eingegangen. Allerdings war sie der Grundstein der langjährigen Entwicklung der Wiedervereinigungspolitik Kims. Aus diesem ursprünglichen Gedanken entwickelte sich der in der Sonnenscheinpolitik enthaltene Dreistufenplan zur Wiedervereinigung.

Seine versöhnliche, kooperative und friedliche Wiedervereinigungspolitik wurde aber von Präsident Park und der Regierungspartei „Demokratische Republikpartei“ scharf kritisiert. Sie betonten, dass man sich mit den Kommunisten auf keinen Fall versöhnen könne. Denn es sei eindeutiges Ziel Nordkoreas, durch die Waffengewalt die ganze koreanische Halbinsel kommunistisch zu machen.240 Die Kritik hatte diesen Tenor, weil die Wiedervereinigung in der damaligen Öffentlichkeit ein tabuisiertes Thema war. Seit dem militärischen Putsch 1962 unterdrückte das Diktaturregime unter dem Präsidenten Park die freie Diskussion über die nationale Frage und beschränkte die freien Meinungen über die Wiedervereinigung. Jeder, der über Wiedervereinigung redete, wurde zunächst als Kommunist angesehen und als „Roter“ beschimpft. Unter diesem Umstand ist es nicht erstaunlich, dass Kim Dae Jung für immer als Kommunist, Roter und Linksradikaler gebrandmarkt wurde.

Dies benutzten die Wahlkampfgegner Kims, der amtierende Präsident Park und seine gut organisierten Wahlhelfer, als Wahlkampfmunition und führten mit dieser negativen Agitation eine massive Kampagne gegen Kim Dae Jung. Sie verhöhnten sogar Kim Dae Jung: „Wenn Kim Dae Jung die Flöte spielt, tanzt Kim Il Seong. Wenn Kim Il Seong die Trommel schlägt, dann singt Kim Dae Jung.“241 Dies war nicht der einzige ungerechte Angriff gegen Kim Dae Jung während des Wahlkampfes. Die Regierung und der Geheimdienst KCIA versuchten, alle Mittel einschließlich Betrug und Bestechung, im Wahlkampf einzusetzen, um Park wieder zum Präsidenten zu machen. Das Wahlergebnis war in diesem Sinne vorprogrammiert. Der amtierende Präsident Park gewann mit einem Vorsprung von 947.000 Stimmen gegen den Oppositionskandidaten Kim.

239 Dongailbo, vom 05.02.1971, S. 1. vgl. Chosunilbo, vom 05.02.1971, S. 1. 240 Chosunilbo, vom 03.11.1970, S. 1. vgl. Chosunilbo, vom 04.11.1970, S. 1.u.3. 241 Kim Dae Jung, Mein Leben, mein Weg: Autobiografie des Präsidenten der Republik Korea, Frankfurt/M. 2000, S. 128. 118 Nach der knappen Niederlage der Präsidentschaftswahl am 27. April 1971 entwickelten sich aus Kims konstruktiven Wahlversprechen und dem dreistufigen Plan für die Wiedervereinigung eine konkrete und zukunftsorientierte Wiedervereinigungspolitik, die am 24. Februar 1972 bei der Rede im Klub der Auslandsjournalisten in Tokio im Namen der „Dreistufigen Wiedervereinigungspolitik“ bekannt gegeben wurde. Diese Politik ist für die Wiedervereinigungspolitik Kims in den 70er Jahren kennzeichnend.

Die erste Stufe gehört zur Phase der Kriegsverhinderung und Entspannung. In dieser Phase bemühen sich zunächst die beiden Korea um die Kriegsverhinderung. Dies ist die notwendige Voraussetzung für die Entspannung auf der koreanischen Halbinsel. Es ist eine unumstrittene Tatsache, dass Kim Il Seong durch militärische Gewalt, den Koreakrieg, die geteilte Halbinsel zu vereinigen suchte. Der dreijährige Bruderkrieg legte nicht nur das ganze Land in Schutt und Asche, sondern rief auch extrem verstärkte Feindseligkeiten und verschärfte ideologische Konfrontationen zwischen Nord- und Südkorea hervor. Aus diesem Grund sollte die südkoreanische Regierung eine klare Stellungnahme gegen Gewaltanwendung und einen militärischen Angriff abgeben, um einen Ausgangspunkt der politischen und militärischen Entspannung zu schaffen.

Die zweite Stufe zählt zur Phase der Verbreitung des Austausches zwischen dem Norden und dem Süden. Nach der ersten Phase soll ein gegenseitiger Austausch in den Bereichen Presse, Post und Sport geführt werden, um Missvertrauen, Feindschaften und Argwohn, welche eine negative Folge des Koreakrieges sind, zu beseitigen. Der Austausch in diesen unpolitischen Bereichen sollte aber auch letztendlich zu einem wirtschaftlichen Austausch führen. Unter diesen Umständen sollte das angesichts der ideologischen Auseinandersetzungen und dem militärischen Konflikt verloren gegangene Nationalgefühl zwischen den Nord- und Südkoreanern wieder aufleben. Schließlich sollte die dritte Stufe die politische Wiedervereinigung sein.242

Kurz darauf, bei einer anlässlich des Kriegsopfergedenktages am 6. Juni 1972 gehalten Rede wiederholte er neben der Einschätzung der innenpolitischen Lage als diktatorisch mit Nachdruck seine dreistufige Wiedervereinigungspolitik, die er inhaltlich leicht modifiziert hatte: „Die koreanische Wiedervereinigung soll auf dreistufige Weise erreicht werden. Es könnte den Südkoreanern in absehbarer Zeit gelingen, das seit 1948 geteilte Land im politischen Rahmen der freien Demokratie wiederzuvereinigen, wenn der dreistufige Kurs beibehalten und weiter fortgesetzt wird. (...) Die erste Stufe soll zuerst die friedliche

242 Kim Sang Shin (Hrsg.), Sammelwerke von Kim Dae Jung, Bd. 3. Seoul 1993, S. 64-67. 119 Koexistenz zwischen dem Norden und dem Süden sein. Ohne friedliche Koexistenz können sich Nordkorea und Südkorea nicht annähern. Sie ist die erste Voraussetzung für die langjährige Wiedervereinigung. Nach der friedlichen Koexistenz soll der friedliche Austausch kommen. In dieser Zeit sind wir alle in erster Linie verpflichtet, durch jede Art Austausch das Gemeinschaftsgefühl und das Brüderlichkeitsgefühl, mit denen die geteilten Koreaner psychisch verbunden werden können, wiederzugewinnen. Danach kommt die Zeit der Wiedervereinigung, also im Norden und Süden zusammen leben, ohne sich Sorgen um die negativen Wiedervereinigungsfolgen zu machen. Mit kurzen Worten soll die koreanische Wiedervereinigung durch die drei aufeinander folgenden Phasen, die friedliche Koexistenz, den friedliche Austausch und die friedliche Wiedervereinigung erreichet werden.“ 243

Die friedliche Koexistenz gliedert sich wiederum in zwei Teile. Der eine ist die nationale Koexistenz, der andere ist die internationale Koexistenz. Unter der nationalen Koexistenz versteht man im Allgemeinen die Kriegsverhinderung und die Entspannung auf der koreanischen Halbinsel. Zu konkreten Vorschlägen zählen die Erklärung des Nichtangriffes, der Übergang des Waffenstillstandsabkommens auf einen Friedensvertrag und die Erweiterung der Aufsichtsorganisation. Die internationale Koexistenz bedeutet nach der Vorstellung Kims, dass die mit beiden Koreas mittelbar oder unmittelbar verbundenen vier Großmächte, nämlich die Vereinigten Staaten, Japan, die Sowjetunion und China, durch diplomatische Verhandlungen ein Kriegsverhinderungsabkommen schließen sollen, damit die Sicherheitsgarantie auf der koreanischen Halbinsel gewährleistet werden kann. Außerdem schlug er im Sinne der internationalen Koexistenz vor, nach dem deutschen Beispiel bis zum Tag der Wiedervereinigung beide Staaten der UNO beitreten zu lassen. Dieser Vorschlag wurde zwar von beiden Seiten nicht angenommen, aber wurde für ernorm fortschrittlich und kreativ gehalten. Diese Rede war besonders wichtig für seine Politik, denn er stellte zum ersten Mal offiziell die drei Prinzipien für die Wiedervereinigung dar: die friedliche Wiedervereinigung, die Wiedervereinigung in Freiheit und die Wiedervereinigung mit demokratischem Verfahren.244 Diese drei Wiedervereinigungsprinzipien wurden unverändert bis zum Anfang der 80er Jahre aufrechterhalten und beeinflussten mehr oder weniger die Wiedervereinigungspolitik der folgenden Regierung. Außerdem erwähnte er in dieser Rede, dass es nach dem Vorbild der deutschen Staaten durchaus denkbar sei, dass beide koreanischen Staaten gleichzeitig in die UNO eintreten könnten.245

243 Ebd., S. 109. 244 Ebd., S. 123. 245 Ebd., S. 119. 120 Die „Ursonnenscheinpolitik“ Kims entstand wesentlich vor dem Hintergrund des Strukturwandels der internationalen Politik im ostasiatisch-pazifischen Raum. Angesichts des eskalierenden Konflikts zwischen Moskau und Peking beabsichtigte der neu gewählte Präsident der Vereinigten Staaten, Richard Nixon, eine Entspannung mit der VR China, um sein Land von einer der beiden großen Konfrontationen zu befreien. Nixon hatte bereits in seiner Amtsantrittsrede formuliert, die Periode der Konfrontation sei zu Ende, die Periode der Verhandlungen habe begonnen. Am 25. Juli 1969 hatte er während seines Aufenthaltes auf der pazifischen Insel Guam die „Guam-Doktrin“ bekannt gegeben, die als Grundlage der so genannten „Nixon-Doktrin“ angesehen wird. Nach der Guam-Doktrin rechneten die Vereinigte Staaten damit, dass ihre asiatischen Verbündeten künftig in Fragen ihrer Verteidigung viel mehr Eigenverantwortung übernehmen müssten: „Asians will say in every country that we visit that they do not want to be dictated to from the outside, Asia for the Asians. And that is what we want, and that is the role we should play. We should assist, but we should not dictate. At this time, the political and economic plans that they are gradually developing are very hopeful. We will give assistance to those plans. We, of course, will keep the treaty commitments that we have. But as far as our role is concerned, we must avoid that kind of policy that will make countries in Asia so dependent upon us that we are dragged into conflicts such as the one that we have in Vietnam. This is going to be a difficult line to follow. It is one, however, that I think, with proper planning, we can develop.“ 246

Auf der Grundlage der „Guam-Doktrin“ veröffentlichte der US-Präsident in einem im Februar 1970 an den US-Senat adressierten Kommuniqué, „U.S. foreign Policy for the 1970s: A New Strategy of Peace“, sein außenpolitisches Programm für die 70er Jahre. Diese so genannte „Nixon-Doktrin“ beinhaltet hauptsächlich die Umverteilung der Lasten und Kosten des Vietnamkrieges, Übernahme von mehr Selbstverantwortung durch die Verbündeten, Angebote zur Kooperation an die Sowjetunion und die VR China und den Rückzug der USA aus der Rolle der „Weltpolizei“. Nach Veröffentlichung der „Nixon-Doktrin“ wurde bekannt gegeben, dass die amerikanischen Streitkräfte in Ostasien schrittweise zurückgezogen werden. Im März 1971 folgte dann der partielle Rückzug der 20.000 amerikanischen Soldaten aus Südkorea, die der 7. Infanteriedivision angehörten. Darüber hinaus gelang es dem US- Präsidenten Nixon im Februar 1972, offiziell nach Peking zu reisen, um mit Mao Tse-tung, dem Führer des totalitären chinesischen Kommunismus, zu sprechen. Während des ersten offiziellen Besuches eines amerikanischen Präsidenten in China wurde am 27. Februar in Shanghai eine „gemeinsame Erklärung“ von Präsident Nixon und Ministerpräsident Chou En-

246 Documents on American Foreign Relations 1968-69, New York 1972, S. 333. 121 Lai unterzeichnet. Der Hauptpunkt der Erklärung bestand in der Fortsetzung der Normalisierung der Beziehungen zwischen China und den Vereinigten Staaten: With these principles of international relations in mind the two sides stated that:

- progress toward the normalization of relations between China and the United States is in the interests of all countries;

- both wish to reduce the danger of international military conflict;

- neither should seek hegemony in the Asia-Pacific region and each is opposed to efforts by any other country or group of countries to establish such hegemony;

- and neither is prepared to negotiate on behalf of any third party or to enter into agreements or understandings with the other directed at other states. 247

Nach der so genannten „Shanghai-Erklärung“ flog Nixon zu Gesprächen mit Breschnew, dem Generalsekretär der KPdSU, nach Moskau. Dieser Staatbesuch in Moskau im Mai 1972 führte zum SALT I-Abkommen und zu einer Vereinbarung über die Grundlagen der Beziehungen zwischen beiden Staaten.248

Neben der Entspannung im Kalten Krieg erkannte Kim Dae Jung die Bedeutung der daraus resultierenden Ostpolitik Willy Brandts. Beim ersten Besuch in Deutschland im Februar 1972 erhielt er durch die Gespräche mit dem Minister des Innerdeutschen Ministeriums aufschlussreiche Hinweise über die Ostpolitik und die innerdeutschen Beziehungen. Die Informationen und Ratschläge der deutschen Seite legten den Grundstein für seine zu seiner Wiedervereinigungspolitik.

Diese historische Neuentwicklung der weltpolitischen Lage betrachtete Kim Dae Jung als guten Ansatzpunkt für den Frieden und die Koexistenz auf der koreanischen Halbinsel. Unter der richtigen Wahrnehmung der für die koreanische Halbinsel positiv herausgebildeten Konstellation und der korrekten Analyse der außenpolitischen Absicht der Vereinigten Staaten forderte er im Gegensatz zu der Politik der Regierung Park gegenüber Nordkorea, nämlich der Wiedervereinigung durch den Sieg im Systemwettbewerb über den Kommunismus, die friedliche Wiedervereinigung durch den sportlichen, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und journalistischen Austausch zwischen den beiden koreanischen Staaten. Zwar wurde seine Forderung nach innerkoreanischem Dialog zuerst von der Regierung

247 Documents on American Foreign Relations 1972, New York 1976, S. 309. 248 “Basic Principles of Mutual Relations Between the United States of America and the Union of Soviet Socialist Republics” in: Documents on American Foreign Relations 1972, New York 1976, S. 75-78. 122 abgelehnt, freilich aber später durch die „Gemeinsame Erklärung vom 04. Juli 1972“ in die Tat umgesetzt.

Trotz des von damaligen Zeitgenossen für enorm wichtig gehaltenen Dialoges zwischen den zwei koreanischen Staaten verstand Kim die „Gemeinsame Erklärung des Südens und des Nordens am 04. Juli 1972“ als Mittel zur Beibehaltung des diktatorischen Regimes. In der am 13. Juli 1972 im „Klub der Auslandjournalisten in Seoul“ gehaltenen Rede beurteilte Kim Dae Jung die „Gemeinsame Erklärung“ so, dass er im Grunde genommen zustimme. Aber der Präsident Park habe kein Recht, eine solche Politik fortzuführen, er stehe im Verdacht, mit der innerkoreanischen Annäherung das diktatorische Regime beizubehalten. Darüber hinaus kritisierte er den Präsidenten Park, dass er das Verfahren der Gemeinsamen Erklärung am 4. Juli geheim und undemokratisch entwickelt habe:249 „Die aktuellen Maßnahmen von Park Chung Hee sind antidemokratisch. Zwar wird nach außen hin die koreanische Wiedervereinigung beschworen, doch in Wirklichkeit geht es um die Einrichtung einer Diktatur, die Durchsetzung einer Herrschaft auf Lebenszeit. Dieses Verhalten verstößt gegen die Verfassung, ist Nordkorea vergleichbar und richtet sich gegen das in der Bevölkerung wachsende demokratische Bewusstsein. Der Wunsch des koreanischen Volkes nach einer möglichst baldigen Wiedervereinigung wird gnadenlos mit Füßen getreten.“250

Wie Kim vorhersagte, kam der innerkoreanische Dialog angesichts des vom amtierenden Präsidenten Park ausgerufenen „Oktober-Kriegsrechts“ 1972 und des Erlasses der Yusin- Verfassung zum Stillstand und die „Gemeinsame Erklärung vom 4. Juli“ bestand nur auf dem Papier. Wegen des Kriegsrechts konnte Kim Dae Jung seine Meinungen über die friedliche Wiedervereinigung nicht weiter artikulieren. Im Gegenteil, er ging ins Exil nach Japan und in die Vereinigten Staaten. Im August 1973 wurde er in Japan vom KCIA entführt und stand schließlich unter dem Yusin-Regime unter Hausarrest und hatte dabei strenges Verbot der politischen Betätigung. Zudem saß er in dieser Zeit infolge des Verstoßes gegen das Notstandsgesetzt jahrelang im Gefängnis. Unter diesen persönlichen Umständen stagnierte seine Wiedervereinigungspolitik bis Anfang der 80er Jahre.

3.2.2. Die Wiedervereinigungspolitik Kim Dae Jungs in den 80er Jahren

Die Wiedervereinigungspolitik Kims in den 80er Jahren war weitaus mehr mit dem persönlichen Schicksal unter der Militärdiktatur verbunden als in den anderen Jahren. Der

249 Kim Dae Jung, Mit bewegendem Gewissen, Seoul 1985, S. 221-227. 250 Kim Dae Jung, Mein Leben, mein Weg, Frankfurt/M. 2000, S. 151. Vgl. Kim Dae Jung, Mit bewegendem Gewissen, Seoul 1985, S. 231. 123 unerwartete Tod des Staatspräsidenten Park am Ende der 70er Jahre und der daraus resultierende „Seouler Frühling“ gab zunächst dem Volk eine große Hoffnung auf die baldige Demokratisierung in Südkorea. Diese veränderte Konstellation wirkte sich vor allem im politischen und gesellschaftlichen Terrain erheblich positiv aus. Der seit Ende des Jahres 1978 unter Hausarrest stehende Kim und zahlreiche politische Häftlinge wurden am 08. Dezember 1979 durch die Aufhebung des Notstands-Dekretes Nr. 9 auf freien Fuß gesetzt und rehabilitiert. Unter diesen Umständen begann Kim Dae Jung erneut mit seinem politischen Engagement für die Demokratisierung. Dabei forderte er von der Übergangsregierung Choi nicht nur die Verstärkung der nationalen Sicherheit gegen den Kommunismus, die Verwirklichung der Demokratie und der freien Marktwirtschaft, und die Realisierung der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch die Wiedervereinigung durch den friedlichen Dialog zwischen Süd- und Nordkorea. Die erste Rede nach seiner Rehabilitation am 29. Februar 1980 deutete ausdrücklich an, dass seine Wiedervereinigungspolitik forciert werden sollte, die seit der Mitte der 70er Jahre in Stillstand geraten war. Seine Vorstellungen konkretisierte Kim bei der Gedenkfeier des April-Aufstandes am 18. April 1980: „Die Wiedervereinigung soll auf der Grundlage der Demokratie zustande kommen. Wir werden über die nationale Sicherheit und die Wiedervereinigung verfügen, wenn wir zuerst die Freiheit und die Gerechtigkeit, also das Fundament der Demokratie, in die Tat umgesetzt haben.“251 Bei dieser Rede ist zwar nichts Neues über die Wiedervereinigung hinzugekommen, denn Kim plädierte bereits im Juli 1973 in Japan dafür, dass die Wiederherstellung der Demokratie ein geschichtlicher Vorgang zur Wiedervereinigung sei,252 aber seine Aussage spiegelt mehr oder weniger gut die aus dem langjährigen Diktaturregime resultierende politische Situation und die Fortsetzung seiner Wiedervereinigungspolitik der 70er Jahre wider. Sie zeigt aber auch auf, dass er den Terminus „Demokratie“ mit dem in Südkorea tabuisierten Thema „Wiedervereinigung“ wiederholt verband. Damit ist definitiv festzustellen, dass er das Wort „Demokratie“ in seine Wiedervereinigungspolitik der 80er Jahre einfließen ließ. Es gab aber neben der Fortsetzung seiner Politik in dieser Zeit auch Anzeichen des Wandels. In der am 16. April 1980 an der Evangelischen Universität Hanguk gehaltenen Rede appellierte Kim, dass sein dreistufiger Wiedervereinigungsplan unter den genannten drei Prinzipien erreicht werde. Nämlich: souveräne Wiedervereinigung nur unter dem Selbstbestimmungsrecht der koreanischen Nation, friedliche Wiedervereinigung nur durch

251 Kim Sang Shin (Hrsg.), Sammelwerke von Kim Dae Jung, Bd. 9. Seoul 1993, S. 86. 252 Dies erwähnte er zwar in Japan bei dem Gespräch mit dem Redakteur der Zeitschrift „Welt“, Ase Ryoske, aber er sprach sich nicht mehr dafür in den 70er Jahren aus. In: Kim Sang Shin (Hrsg.), Sammelwerke von Kim Dae Jung, Bd. 4. Seoul 1993, S. 78. 124 den Verzicht auf Waffengewalt, demokratische Wiedervereinigung nur unter einer demokratischen Regierung.253 Es lässt sich ohne Schwierigkeiten feststellen, dass die vorherigen drei Prinzipien, also die friedliche Wiedervereinigung, die Wiedervereinigung in Freiheit und die Wiedervereinigung durch ein demokratisches Verfahren, ein wenig abgewandelt wurden. Diese Wandlung ist darauf zurückzuführen, dass Kim sowohl den Begriff „Freiheit“ als im Wort „Demokratie“ inhärent ansieht, als auch ihn mit anderen Formeln wie „Gerechtigkeit“ und „Wiedervereinigung“ übergreifend versteht. In der Tat plädierte er in der oben genannten Rede dafür, den Kampf für die Freiheit, die Gerechtigkeit und die Wiedervereinigung weiterzuführen.254 Die neuen drei Prinzipien bestanden bis zur Änderung am Ende der 80er Jahre weiter und wurden offenkundig gemeinsam mit dem dreistufigen Plan zu einem Teil der Wiedervereinigungspolitik Kims in den 80er Jahren.

Die innenpolitischen Umstände ließen anscheinend nicht zu, dass Kim sich mit der Wiedervereinigung weiterhin beschäftigte. Die erneute Machtergreifung der Militärgruppe unter dem General Chun und das Massaker in Kwangju am 18. Mai 1980 waren für den Militärregimekritiker Kim die Zeit der Finsternis. Er wurde als Hauptdrahtzieher des bewaffneten Widerstandes in Kwangju festgenommen. Anschließend wurde er vor dem Militärgericht wegen Hochverrats angeklagt und zu Unrecht für schuldig befunden. Schließlich wurde er zum Tode verurteilt. Das Todesurteil wurde zwar durch den massiven innen- und außenpolitischen Druck aufgehoben und zu einer lebenslänglichen Haft abgeschwächt. Aber nach der Freilassung nach 2 Jahren und 7 Monaten Haft musste er das Land sofort verlassen und ging zum zweiten Mal in die USA ins Exil.

Trotz der ungerechtfertigten Gefängnishaft und der schwierigen Verhältnisse im Exil gab Kim Dae Jung seine Wiedervereinigungspolitik nicht auf. Im am 02. November 1982 im Gefängniskrankenhaus geschriebenen Brief an seine Frau stellte er fest: „Es muss unermüdlich versucht werden, die friedliche Koexistenz und die gegenseitige Kooperation zwischen Süd- und Nordkorea zu realisieren, um die erste Voraussetzung für die unabdingbare Wiedervereinigung zu erfüllen und die Tragödie des Bruderkrieges und die Last der militärischen Aufrüstung zu mildern.“255 Außerdem betonte er neben der Verbesserung des innerkoreanischen Verhältnisses ausdrücklich die wesentliche Mithilfe der vier Großmächte, die laut Kim im geopolitischen Sinne die entscheidende Rolle im Prozess der Wiedervereinigung spielten. Schließlich brachte er zum Ausdruck, dass die Erfüllung der

253 Kim Sang Shin (Hrsg.), Sammelwerke von Kim Dae Jung, Bd. 9. Seoul 1993, S. 70. 254 Ebd., S. 74. 255 Kim Sang Shin(Hrsg.), Sammelwerke von Kim Dae Jung, Bd.8. Seoul 1995, S. 251. 125 zwei dringenden Aufgaben, nämlich die Kooperation der vier Großmächte zur Sicherung des Friedens der koreanischen Halbinsel und der gleichzeitige Beitritt Süd- und Nordkoreas zur UNO, zur Sicherheit und Existenz des koreanischen Volkes dringend weiter angestrebt werden sollte.256 Bei diesen Wünschen, die in den 70er Jahren oft von Kim postuliert wurden, ist zu konstatieren, dass Kim nach wie vor deren Realisierung als ersten sichtbaren Ausgangspunkt zur Wiedervereinigung ansah.

Allerdings blieb Kim während des Exils in den Vereinigten Staaten nicht untätig für seine Politik. Im Gegenteil, ein neuer Ansatzpunkt für die Wiedervereinigung lässt sich nun erkennen, der an seine frühere Politik anschlossen. Bei einem Interview mit der amerikanischen Zeitschrift „Newsweek“ erwähnte er als Antwort auf die Frage nach der Wiedervereinigung auf der koreanischen Halbinsel betont den Begriff „Demokratie“: „Q. You ardently support reunification of North and . How do you think it can be brought about? A. First, South Korea has to become a democracy. Only when it has a government that can obtain the people’s full support will North Korea view it as a strong partner. It will then be easier for South Korea to get the North to negotiate.”257

In diesem Interview ist bemerkbar, dass er die Demokratisierung und die Entstehung einer demokratischen Regierung in Südkorea zu diesem Zeitpunkt als Voraussetzung für die Wiedervereinigung betrachtete. Etwas später führte er seine Vorstellungen einer Wiedervereinigungspolitik weiter aus. Bei dem Vortrag, den er am 13. Mai 1983 an der Universität Berkeley hielt, unter dem Titel „Der Frieden der koreanischen Halbinsel und die nationale Wiedervereinigung“, bestand er eindeutig darauf, dass die Demokratisierung in Südkorea der erste und notwendige Schritt zur Wiedervereinigung und zum Frieden auf der koreanischen Halbinsel sei.258 Mit anderen Worten: Seine Einstellung lässt sich zusammenfassen mit dem Wort „zuerst Demokratie, und dann Wiedervereinigung“. Das überzeugende Schlagwort lässt darauf schließen, dass sich ein Ansatzpunkt für seine Wiedervereinigungspolitik der 80er Jahre gefunden hat. Die während des Exils in den USA wiederholte Betonung seines Schlagwortes ist als Reaktion auf die sich ausbreitende unbegründete und unüberlegte Stimmung von „zuerst Wiedervereinigung“ in der Gesellschaft der koreanischen Emigranten zu verstehen. Als Kim in den Vereinigten Staaten sein Exil begann, war dies die vorherrschende Meinung. Aus diesem Grund stellte er seine eigene Meinung zur Lösung der nationalen Hauptfrage, also „zuerst Demokratie, und dann

256 Ebd., S. 253. 257 „Newsweek“ vom 31.01.1983, S. 48. 258 Kim Sang Shin (Hrsg.), Sammelwerke von Kim Dae Jung, Bd. 3. Seoul 1993, S. 162. 126 Wiedervereinigung“ heraus: „Bei den Reden und Diskussionen für die koreanischen Emigranten beharre ich darauf, dass die Demokratie in Südkorea vorrangig realisiert werden soll, obwohl die Demokratie und die Wiedervereinigung für Südkorea dringend notwendig sind.“259

Im Grunde genommen entsteht der Ansatzpunkt für seine Politik der 80er Jahre sicherlich aus dem Widerstand gegen die militärischen Diktatoren, die die Überwindung der nationalen Frage nur als Mittel zum Zweck der Konsolidierung der langjährigen Alleinherrschaft ansahen. Das neue Militärregime stellte zwar in der Öffentlichkeit dem Volk mehr Demokratie, Freiheit und soziale Gerechtigkeit in Aussicht, aber war in Wirklichkeit nichts als eine diktatorische Herrschaft. Unter dem Präsidenten Chun, genau wie unter seinem Vorgänger Park, wurde die freie Meinungsäußerung über die Wiedervereinigung verboten und die sich für die Wiedervereinigung einsetzenden Politiker und Dissidenten der Oppositionspartei unterdrückt, verhaftet und schließlich ins Gefängnis gebracht. Die politische Freiheit und die allgemeinen Menschenrechte wurden in beträchtlichen Umfang eingeschränkt. Unter diesen undemokratischen Umständen bedeutete die Wiedervereinigung zuerst wenig. So bildete sich allmählich ein wichtiger Teil der Wiedervereinigungspolitik Kims in den 80er Jahren.

Der andere Teil der Politik Kims ist gekennzeichnet durch die neue Idee einer föderativen Staatsform zwischen Süd- und Nordkorea. Das Wort „Föderation“ wurde zwar bereits am Anfang der 70er Jahre erwähnt, aber nicht genau konkretisiert. Erst in seinem zweiten amerikanischen Exil legte Kim Wert auf die Feststellung, dass es durchaus vorstellbar ist, ein föderatives Staatsystem zwischen dem Süden und dem Norden zu bilden. In einem Interview mit der amerikanischen Zeitschrift „Journal of International Affairs“ artikulierte er ausführlich „das Föderationssystem“: „Journal: Is reunification a realistic possibility? How would the onset of democracy affect the prospects for reunification? Kim: Democracy is an essential precondition of reunification. Unlike the German situation, if there is democratic government, then we can realize the first steps toward reunification. In concrete terms, if there is democracy, as I told you, we can force North Korea to give up its mission to communize South Korea, then we can produce peace on the Korean peninsula. Then we can organize a kind of federal system. There will be two independent republics, in the South a democratic republic, in the North and Communist republic. Under a loose type of federal organization, there will be a congress, some type of organization. These two republics can then enter the UN and can have cross-diplomacy with every country so that there will be some exchange and

259 Dongailbo, Shin DongA, Juli 1985, S. 220f. 127 a reunification process as a first step. As there is more mutual trust between both sides, then we can gradually transfer power to the federal organization. If we succeed in this process, then some day we can change our system to a federal republic like in America. Then concurrent inter-UN membership will become one membership, cross-diplomacy will end and we can realize one national defence and one military to defend this country. But this will be long in our future. As a0first step we can realize0this federal organisation.”

Mit dieser Idee einer „Föderation“ gab Kim seiner Politik vehement einen neuen Impuls. Seine Meinung über eine föderative Staatsform wurde allerdings unter dem Militärregime massiv kritisiert. Es wurde behauptet, dass sie der nordkoreanischen Auffassung „Föderation Koryo“ entspreche, obwohl bei beiden Vorstellungen inhaltlich ein gewisser Unterschied vorhanden ist. Die von Nordkorea vorgeschlagene Staatsform „Föderation Koryo“ ist ähnlich wie ein Bundesstaat, aber das von Kim propagierte Staatssystem „republikanische Förderation“ ist mehr oder weniger ein republikanischer Staatenbund.260 Trotz der eindeutigen Diskrepanz zwischen der „Föderation Koryo“ und der „Republikanischen Föderation“ wurden der Dissident Kim und seine Wiedervereinigungspolitik in der Öffentlichkeit verdreht dargestellt. Denn unter dem diktatorischen Militärregime Chun gab es eine strenge Zensur. Es trug auch die stark antikommunistische Stimmung in Südkorea dazu bei, dass die Wiedervereinigungspolitik Kims von den Zeitgenossen keine richtige Bewertung erhielt.

Nach der gefahrvollen Rückkehr aus dem Exil konnte Kim zunächst keine politische Tätigkeit ausüben, weil er noch nicht rehabilitiert wurde. Trotzdem setzte er sich für eine Verfassungsänderung zur Direktwahl des Staatspräsidenten und für die Demokratisierung in Korea ein. Der Widerstand gegen das Militärregime und der Wunsch des ganzen Volkes nach einer baldigen Demokratisierung erreichten im Juni 1987 den Höhepunkt, der in der koreanischen Zeitgeschichte „Juni-Aufstand“ genannt wird. Die Demonstrationen gegen das diktatorische Militärregime waren so massiv und heftig, dass ein militärischer Konflikt zwischen der Regierung und den Bürgern befürchtet wurde. Die internationale öffentliche Meinung war auch nicht positiv für die koreanische Regierung, weil nur noch ein Jahr bis zu den 24. Olympischen Sommerspielen in der Hauptstadt Südkoreas blieb und der Fokus darum auf Korea gerichtet war. Unter diesen Umständen blieb dem Militärregime nichts anders übrig, als vor dem Volk in die Knie zu gehen. Es versprach durch die „6.29-Erklärung“261,

260 Chosunilbo, WooelganChosun, April 1985, S. 135. 261 Die vom von der Regierungspartei gewählten Kandidaten Roh am 29.06.1987 veröffentlichte Erklärung umfasst 8 Artikel, die vom Volk für die Demokratisierung verlangt wurden. Diese Erklärung wurde im Ausland überwiegend als Beginn der Demokratie in Südkorea betrachtet. 128 die Verfassung für die Direktwahl des Präsidenten zu ändern und die Macht ohne Gewalt zu übergeben. Trotz der durchaus positiven Rahmenbedingungen für den friedlichen Machwechsel wurde der aus dem Militär stammende Kandidat der Regierungspartei Roh Tae Woo zum Staatspräsidenten gewählt, 262 weil es nicht gelang, einen gemeinsamen Kandidaten für die ganze Opposition zu bestimmen. Die beiden prominenten Oppositionspolitiker, Kim Young Sam und Kim Dae Jung, konnten sich nicht über eine Einzelkandidatur einigen.

Nach dem Scheitern einer Einigung der oppositionellen Präsidentschaftskandidaten gründete Kim Dae Jung im November 1987 die neue Partei „Demokratiepartei des Friedens“, in der er sowohl zum Parteivorsitzenden als auch zum Kandidaten für die im Dezember 1987 stattfindende Präsidentenwahl gewählt wurde. In dieser politischen Umbruchszeit stellte Kim seine Wiedervereinigungspolitik nicht unproblematisch dar: „Den dreistufigen Wiedervereinigungsplan fordere ich wie ein Schlagwort, aber wenn ich dies noch mehr konkretisiert ausdrücke, bestehe ich auf der republikanischen Föderation.“263 Vor allem sind die zwei Hauptelemente der Wiedervereinigungspolitik Kims, also „die republikanische Föderation“ und der „dreistufige Wiedervereinigungsplan“, nicht klar in eine chronologische Reihenfolge eingeordnet. Diese Verwirrung war schon vorprogrammiert, als Kim die „republikanische Föderation“ in den Mittelpunkt seiner Wiedervereinigungspolitik stellte. Kim schien die Problematik gut zu erkennen. Daher versuchte er zuerst, die beiden Konzeptionen zu einer Politik zu vereinigen: „(...) zuerst die friedliche Koexistenz in die Tat umsetzen, und dann ist das nationale Homogenitätsgefühl durch die Zusammenarbeit zwischen Süd- und Nordkorea wiederherzustellen. Um diesen Plan realisieren zu können, bilden wir eine Organisation für die Wiedervereinigung. Falls es unsere Generation bis dahin schafft und dann zurücktritt, könnte die nächste Generation durch die Vereinbarung mehr und mehr unternehmen, die Macht der vorläufigen Regierung der Wiedervereinigung zu übergeben. Schließlich wird diese vorläufige Regierung zur einheitlichen Regierung auf der Halbinsel, der die jeweiligen jetzigen Regierungen als Landesregierungen unterstehen. Es dauert zwar 20 oder 30 Jahren, aber die beiden Seiten sind damit zufrieden. Auf jeden Fall ist es Schritt für Schritt zu erreichen.“264 Durch die Vereinigung der beiden Pläne entstand im Jahr 1988 ein neuer Wiedervereinigungsplan, der in der Geschichte der Wiedervereinigungspolitik Kims charakteristisch als Übergangspolitik betrachtet wird.

262 Bei der Wahl bekam Roh Tae Woo 36.6 Prozent, Kim Young Sam 28.0 Prozent, Kim Dae Jung 27 Prozent, und Kim Jong Pil 8,1 Prozent der Stimmen. 263 Dongailbo, ShinDongA, August 1987, S. 243. 264 Bei der Rede am 10.09.1987 im Hng Sa Dan, in: Kim Sang Shin (Hrsg.), Sammelwerke von Kim Dae Jung, Bd. 9. Seoul 1993, S. 236 129 Nach der Entstehung der 6. Republik begann die neue Regierung im Gegensatz zur 5. Republik sowohl mit der Initiative zu einer „gesunden“ Diskussion über die Wiedervereinigung, als auch mit der Erklärung, die Informationen und Materialien für die Forschung nach der Wiedervereinigung zur Verfügung zu stellen. Anschließend kündigte die südkoreanische Regierung mit der „7.7-Deklaration“ an, dass Nordkorea nicht mehr als gefährlicher Systemkonkurrent, sondern als Begleiter für die Zusammenarbeit angesehen wird. Diese positive Maßnahme der Regierung führte unmittelbar herbei, dass ab Mitte 1988 die öffentliche Diskussion über die Wiedervereinigung und das Interesse an der Wiedervereinigungspolitik nach und nach in Schwung gebracht wurden. Zahlreiche verschiedene Pläne und Konzeptionen zur Lösung der nationalen Frage kamen heraus. Angesichts der gegebenen Situation musste Kim seine Politik zusammenfassend darstellen, um sie von den Vorhaben der politischen Gegner zu differenzieren.

In einem Zeitschriftenaufsatz stimmte Kim im Grunde genommen zwar der „7.7-Deklaration“ zu, hielt aber den zukünftigen Plan der südkoreanischen Regierung für rudimentär. Außerdem brachte er seine gut abgestufte Wiedervereinigungspolitik auf den Punkt: „Der Föderationsplan wird zuerst nach der ersten und zweiten Phase, also nach der Umsetzung der „friedlichen Koexistenz“ und der „friedlichen Zusammenarbeit“ aufkommen.“265 Dies brachte Kim bei der Rede am 26. Oktober 1988 im Parlament erneut zum Ausdruck: „Die friedliche Koexistenz und die friedliche Zusammenarbeit zwischen Süd- und Nordkorea sollen zuerst realisiert werden. Dadurch wird es in absehbarer Zeit möglich, dass die erste Phase zur Wiedervereinigung mit der Gründung der provisorischen Wiedervereinigungsorganisation beginnt.“266 Zusammengefasst lässt sich behaupten, dass das Föderationssystem im dreistufigen Plan eingegliedert ist. Diese Ansicht ist durch die Rede in der Pressekonferenz vom 28. Januar 1989 zu bestätigen: „Ich schlage dem Volk vor, die republikanische Föderation zwischen Süd- und Nordkorea durchzuführen. Dabei dient die republikanische Föderation als erste Maßnahme zur „friedlichen Wiedervereinigung“ im dreistufigen Wiedervereinigungsplan.“267

Im Gegensatz zum unverändert bestehenden dreistufigen Wiedervereinigungsplan wandelten sich die drei Prinzipien der Wiedervereinigung am Ende der 80er Jahre nochmals. Die drei Prinzipien am Anfang der 80er Jahre, also „Souveränität“, „Frieden“ und „Demokratie“, änderten sich zu den neuen drei Prinzipien, „Souveränität“, „Versöhnung“ und

265 Hangilsa, Gesellschaft und Philosophie, September 1988, Seoul S. 76. 266 Stenographisches Plenarsitzungsprotokoll der Nationalversammlung vom 25.10.1988. 267 Kim Sang Shin (Hrsg.), Sammelwerke von Kim Dae Jung, Bd. 15. Seoul 1993, S. 117. 130 „Demokratie“.268 Diese Änderung hängt damit zusammen, dass die drei alten Mottos, die Kim oft bei seinen Reden verwendete, „Freiheit“, „Gerechtigkeit“ und „Wiedervereinigung“, durch die neuen Parolen „Freiheit“, „Gerechtigkeit“, „Frieden“ und „Wiedervereinigung“ ersetzt wurden.269 Man wird wohl kaum fehlgehen in der Annahme, dass Kim das Wort „Frieden“ nicht in bezug auf die Wiedervereinigungspolitik benutzte, sondern verwendete er zum übergreifenden Ausdrücken wie der Begriff „Wiedervereinigung“. Dies hat zur Folge, dass der neue Begriff „die Versöhnung“ statt „der Frieden“ in den drei Prinzipien für die Wiedervereinigung eingesetzt wurde.

Die Wiedervereinigungspolitik Kims in den 80er Jahren ist durch sein am 24. Juli 1989 bei der Pressekonferenz bekannt gegebenes Programm für die „Demokratiepartei des Friedens“ zusammengefasst worden: „Ich schlage vor, die republikanische Föderation zwischen Süd- und Nordkorea als Volksübereinstimmung anzunehmen. Daneben wird der dreistufige Plan, „friedliche Koexistenz“, „friedliche Zusammenarbeit“ und „friedliche Wiedervereinigung“, unter den Grundlagen, nämlich Souveränität, Versöhnung und Demokratie, weiter durchgeführt. Allerdings ist dieses Streben nur dadurch möglich, dass die Demokratie zuerst realisiert wird. Schließlich ist die kommunistische Wiedervereinigung überhaupt auszuschließen.“ 270

Die Wiedervereinigungspolitik Kims in den 80er Jahren wahrte grundsätzlich die historische Kontinuität seiner Politik der 70er Jahre. Dies wird plausibel durch die zwei Schwerpunkte, auf die Kim ständig in den 80er Jahren Wert legte, also „zuerst Demokratie, und dann Wiedervereinigung“ und „republikanisches Föderationssystem“. Diese stammen nämlich bereits aus der 70er Jahren. Die beiden Fokusse entwickelten sich unter dem starken Einfluss der innenpolitischen Situation der 80er Jahre und wurden dann konkretisiert. Um es kurz zu fassen, die Politik Kims in den 80er Jahren besteht aus den drei Prinzipien und dem dreistufigen Plan mit der republikanischen Föderation zur Wiedervereinigung. Schließlich beruht seine ganze Politik auf der vorausgesetzten Rahmenbedingung, dass die Demokratie in Südkorea realisiert wird und sich eine demokratische Regierung bildet.

3.2.3. Die Wiedervereinigungspolitik Kims in den 90er Jahren Im Rahmen des Zusammenbruches der Sowjetunion und des sich daraus ergebenden Endes des Kalten Krieges änderte sich Anfang der 90er Jahre das innerkoreanische Verhältnis dem

268 Vgl. Ebd., S. 136. 269 Vgl. Kim Sang Shin (Hrsg.), Sammelwerke von Kim Dae Jung, Bd. 10. Seoul 1993, S. 75. 270 Kim Sang Shin (Hrsg.), Sammelwerke von Kim Dae Jung, Bd. 15. Seoul 1993, S. 136. 131 Anschein nach. Das erste Anzeichen, das man in Bezug auf die Wiedervereinigung für positiv hält, war das am 04. September 1990 in Seoul stattfindende Gespräch zwischen dem südkoreanischen und dem nordkoreanischen Ministerpräsidenten. Dieses Treffen zwischen den Regierungschefs fand zum ersten Mal nach der Teilung der koreanischen Halbinsel statt. Anschließend, am 16. Oktober 1990, besuchte der südkoreanische Ministerpräsident Kang Young Hun offiziell die nordkoreanische Hauptstadt Pjöngjang, um Gespräche mit dem nordkoreanischen Ministerpräsidenten Yeon Heong Muk zu führen. Zwar kamen daraus keine positiven Ergebnisse zustande, aber das nach der Teilung der koreanischen Halbinsel erste offizielle Treffen zwischen süd- und nordkoreanischen Regierungschefs in beiden Hauptstädten und die auf hoher Regierungsebene vereinbarten Gespräche fanden neben der sich gerade zuvor ereignenden Normalisierung mit Russland und der deutschen Wiedervereinigung eine breite Resonanz im Hinblick auf die Wiederherstellung der koreanischen Einheit.

Unter diesen Umständen schlug Kim Dae Jung im November 1990 im Parlament ausdrücklich vor, zuerst das so genannte „Nationalkomitee für die Wiedervereinigung“ zu gründen. Dieses Komitee sollte aus den Bürgern der verschiedenen Schichten und Gesellschaften bestehen. Und im Komitee sollten die diversen Wiedervereinigungspläne, nicht nur die der Regierung und der oppositionellen Partei, sondern auch die der außerparlamentarischen Opposition, herausgearbeitet und diskutiert werden und dadurch sollte ein vereinigter Plan gebildet werden. Danach sollte der vom Nationalkomitee beschlossene Wiedervereinigungsplan durch einen Volksentscheid mit Mehrheitsprinzip als Wiedervereinigungsplan für Südkorea abgestimmt werden.271 Sein Vorschlag würde nicht unmittelbar realisiert, er basierte angesichts der Entstehung der damaligen vielen Wiedervereinigungskonzepte in der Öffentlichkeit auf dem Bedürfnis nach einem vereinigten Wiedervereinigungsplan, den man dem nordkoreanischen Plan „Koryo Föderation“ gegenüber stellen konnte. Außerdem war Kim anscheinend fest davon überzeugt, dass durch den Volksentscheid seinen Wiedervereinigungsplan „Republikanische Föderation“ als vereinigten Wiedervereinigungsplan zugestimmt wird.

Nach der neuen Parteigründung „Vereinte Partei für die Neue Demokratie“ im April 1991, die hauptsächlich durch die Vereinigung zwischen der „Demokratiepartei des Friedens“ und der außerparlamentarischen Opposition entstand, gab Kim Dae Jung als Parteipräsident bei der ersten Pressekonferenz das Parteiprogramm für die Wiedervereinigung bekannt: „Unsere Partei wird nach dem Frieden und der Kooperation zwischen dem Süden und Norden unter

271 Stenographisches Plenarsitzungsprotokoll der Nationalversammlung vom 23. November 1990. 132 der Basis der drei Prinzipien, friedliche Koexistenz, friedlicher Austausch und friedliche Wiedervereinigung, die Wiedervereinigung anstreben. In der ersten Stufe wird vor allem versucht werden, die republikanische Föderation zu verwirklichen. Das republikanische Föderationssystem beinhaltet eine Föderation und zwei souveräne Regierungen. Unsere Partei hat die Absicht, innerhalb von 5 Jahren nach der Bildung der demokratischen Regierung in Südkorea die erste Stufe der Wiedervereinigung unter dem republikanischen Föderationssystem zu schaffen. Falls die Wiedervereinigung der ersten Phase nach dem republikanischen Föderationsplan zustande kommen wird, könnte unsere Partei davon ausgehen, dass der Wiedervereinigungsprozess über die zweite Station, eine Föderation und zwei autonome regionale Regierungen, schließlich die letzte Stufe, ein Staat und eine Regierung, erreichen wird.“ 272 Dieses Programm für die Wiedervereinigung wurde zwar im Rahmen der „Vereinten Partei für die Neue Demokratie“ mitgeteilt, aber es konnte kein Zweifel bestehen, dass es sich bei diesem Programm um die langjährige Wiedervereinigungspolitik Kims handelt.

Im Grunde war dieses Parteiprogramm für die Wiedervereinigung nichts anderes als Zwischenstation. Denn kurz darauf legte Kim erneut seine modifizierte Wiedervereinigungspolitik vor, die nach dem Inhalt „die republikanische Konföderation mit drei Prinzipien und drei Stufen“ genannt wurde. Seine neue Politik wird vor allem auf der Basis der drei Grundprinzipien durchgeführt, die aus der friedlichen Koexistenz, dem friedlichen Austausch und der friedlichen Wiedervereinigung bestehen. Der dreistufige Plan beinhaltet hauptsächlich ein konkretes und realisierbares Konzept zur friedlichen Wiedervereinigung: In der ersten Phase bilden sich eine Konföderation und zwei unabhängige Regierungen. Das erste Ziel dieser Stufe besteht in der Bildung einer Organisation für die Konföderation, die zwei souveräne Republiken umfasst. Trotz der Entstehung der Konföderation verfügen die beiden Staaten nach wie vor über die staatliche Gewalt, z.B. die Diplomatie, die Verteidigung und die interne Verwaltung. Diese gemeinsame Organisation wird von den Delegierten aus Süd- und Nordkorea paritätisch gebildet und alle Ausgaben werden auch gleichmäßig geteilt. Die Hauptaufgaben der Organisation sind die Beschäftigung mit internen und internationalen Angelegenheiten und die Realisierung der drei Prinzipien. Danach entstehen in der zweiten Phase eine Föderation und zwei autonome regionale Regierungen. Diese Föderation entspricht derjenigen der Vereinigten Staaten von Amerika, sie hat volle Macht in diplomatischen und militärischen Angelegenheiten. Der Bundesstaat

272 Kim Sang Shin (Hrsg.), Sammelwerke von Kim Dae Jung, Bd. 15. Seoul 1993, S. 213. 133 wird auch die Gewalt über die wichtigen internen Angelegenheiten haben. Schließlich endet die dritte Phase mit einem Staat und einer Regierung auf der koreanischen Halbinsel.273

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich der republikanische Föderationsplan der 80er Jahre zum republikanischen Konföderationsplan veränderte, der nicht zuletzt auf den drei Prinzipien und dem dreistufigen Wiedervereinigungsplan beruht. Die drei Stufen unter dem Föderationsplan werden zu den drei Prinzipien unter dem Konföderationsplan gewandelt, der den neuen drei Stufen, nämlich einer Konföderation und zwei unabhängigen Regierungen, eine Föderation und zwei autonome regionale Regierungen, schließlich ein Staat und eine Regierung, umfasst.

Mit diesem Plan suchte er seine bisherige Wiedervereinigungspolitik zu verbessern und seine Politik von der der Regierung bzw. der anderen Gruppen zu differenzieren. Diesem auf seiner langjährigen Wiedervereinigungspolitik basierenden Plan kommt bis heute eine Schlüsselstellung in der Wiedervereinigungspolitik Kims zu.274 Aus diesem Grund könnte man der Behauptung zustimmen, dass Kim bereits Anfang der 90er Jahre mit dem Plan „die republikanische Konföderation mit drei Prinzipien und drei Stufen“ seine Wiedervereinigungspolitik mehr oder weniger zu Ende führte. Von diesem Zeitpunkt an hatte Kim einen Entwurf für die friedliche Wiedervereinigung Koreas, der sowohl von der südkoreanischen Regierung als auch vom Ausland als realisierbarer Plan anerkannt wurde.

Unmittelbar nach seinem dritten Scheitern der Präsidentschaftswahl im Jahre 1992 kündigte er an, dass er sich aus allen politischen Tätigkeiten zurückzog: „Verehrte Landsleute, heute werde ich mein Abgeordnetenmandat niederlegen und von nun an als normaler Bürger unter Ihnen leben. Damit setzte ich einen Schlusspunkt unter meine vierzigjährige Karriere als Politiker, die häufig ein Leidensweg für mich war. (...) Das Urteil über mich überlasse ich der koreanischen Geschichte. Ich möchte meine Zeit nun als einfacher Bürger verbringen und wünsche meinen Parteifreunden und allen anderen viel Glück.“ 275 Einen Monat später flog er dann nach Großbritannien, um an der Universität Cambridge als Gastwissenschaftler über die EU und die deutsche Wiedervereinigung zu forschen. Während des Aufenthaltes in Cambridge entschloss er sich einerseits, den Rest seines Lebens vor allem den Vorbereitungen für die koreanische Wiedervereinigung zu widmen. Sein fester Entschluss resultierte ausdrücklich aus den negativen Erfahrungen der deutschen Wiedervereinigung und aus den

273 Kim Sang Shin (Hrsg.), Sammelwerke von Kim Dae Jung, Bd. 3. Seoul 1993, S. 240-246. 274 Bei der Dankesrede anlässlich der Verleihung des Freiheitspreises der Freien Universität Berlin am 16. Mai 2007 erwähnte Kim seinen wesentlichen Plan für die friedliche Wiedervereinigung, „die republikanische Konföderation mit drei Prinzipien und drei Stufen“. 275 Kim Dae Jung, Mein Leben, mein Weg, Frankfurt/M. 2000, S. 255. 134 Gesprächen mit deutschen Politikern und Wissenschaftlern. Anderseits überzeugte er sich fest davon, dass mit seinem dreistufigen Konzept zur friedlichen Wiedervereinigung die immensen Probleme des Übergangs zu überwinden sind.

Nach der Rückkehr nach Korea im Juli 1993 setzte er sich als „Missionar der friedlichen Wiedervereinigung“ für die Wiedervereinigung Koreas ein. In erster Linie suchte er durch die zahlreiche Interviews mit der Presse sowie viele Vorträge an den Universitäten bzw. Instituten und die Veröffentlichung des Buches „Mein Weg und meine politische Idee“ seinen friedlichen Wiedervereinigungsplan einem breiten Publikum bekannt zu machen und sein von der Militärdiktatur verpasstes Image als gefährlicher Kommunist abzulegen. Neben dem aktiven Engagement für die koreanische Wiedervereinigung bemühte er sich auch um die Gründung der „Asiatisch-Pazifischen Stiftung für den Frieden“, an der viele Professoren und Experten für die koreanische Wiedervereinigung und die internationale Politik beteiligt waren. Dieses Forschungsinstitut wurde am 27. Januar 1994 offiziell gegründet. Im Gründungsmanifest wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich die Stiftung mit den Forschungsthemen der koreanischen Wiedervereinigung sowie mit der Demokratisierung in Asien und mit dem Weltfrieden beschäftigt. 276 Aber in der Tat konzentrierte sie sich bei der Forschung auf die Lösung der koreanischen Nationalfrage.

Die durch die langjährige Beschäftigung mit der Problematik der koreanischen Teilung und der Wiedervereinigung auf der koreanischen Halbinsel gewonnene Scharfsinnigkeit über die nordkoreanischen Probleme wurde bei der Überwindung der nordkoreanischen Nuklearfrage bewiesen, die sich Anfang 1994 fast bis zum Kriegeszustand zuspitzte. Als Kim im Mai 1994 einen Vortrag über die Asienpolitik der USA in Washington hielt, schlug er zur Lösung des Nuklearproblems folgendes vor: Zunächst solle Nordkorea alle Daten und Fakten über sein Atomprogramm offen auf den Tisch legen. Im Gegenzug sollten die USA Nordkorea die Aufnahme diplomatischer Beziehungen anbieten. Alle zwischenstaatlichen Probleme sollten in offenen und zügig geführten Gesprächen geklärt werden. Es sei besonders wichtig, die Atomproblematik mit Kim Il Seong direkt zu besprechen. Einzig und allein Kim Il Seong sei der Mann, mit dem man vielleicht ein Verhandlungsergebnis erreichen könne. Kim Dae Jung schlüge Präsident Clinton vor, einen international anerkannten und geachteten Politiker als Sondergesandten nach China und Nordkorea zu schicken, der über eine Lösung des Problems verhandeln könne. Als geeigneten Sondergesandten empfahl er den ehemaligen Präsidenten Jimmy Carter, der Clinton politisch relativ nahe stand und in China und Nordkorea positiv gesehen wurde. Denn er hatte während seiner Amtszeit als US-Präsident die amerikanischen

276 Kim Sam Woong, Bis zum Blühen der Winterpflanze, Seoul 1998, S. 431f. 135 Truppen in Südkorea verringert und die diplomatischen Beziehungen mit China intensiviert.277

In der Tat besuchte Jimmy Carter Nordkorea278 und hielt sich vom 15. bis 18. Juni 1994 in Pjöngjang auf, um mit Staats- und Parteichef Kim Il-Seong zu konferieren. Am Ende der Gespräche gelang es, eine weitere Verschärfung der Lage zuerst zu verhindern und die Zusage für ein Gipfeltreffen der beiden koreanischen Staatschefs zu erhalten. Das Angebot nahm der südkoreanische Staatspräsident unverzüglich an. Wenige Tage später einigten sich Vertreter der beiden koreanischen Regierungen in Panmunjom auf die Zeit vom 25. bis 27 Juli als Datum für das Gipfeltreffen, das in Pjöngjang stattfinden und dem später eine zweite entsprechende Konferenz in Seoul folgen sollte.

Diese Gipfelbegegnung, die zwischen beiden koreanischen Staatsoberhäuptern seit fast 50 Jahren zum ersten Mal stattfinden sollte, wurde aufgrund des unerwarteten Todes Kim Il Seongs am 8. Juli im Alter von 82 Jahren bedauerlicherweise abgesagt. Durch die unglückliche Absage des Gipfeltreffens wurde eine große Chance auf eine von der koreanischen Nation selbst bestimmten Lösung des Nuklearkonflikts und eine Verbesserung des innerkoreanischen Verhältnisses verpasst. Trotz der positiven Hoffnung nach dem Tod Kim Il Seongs auf ein verbessertes innerkoreanisches Verhältnis zeigte Nordkorea zunächst kein Interesse am innerkoreanischen Dialog, weil die südkoreanische Regierung die Entscheidung getroffen hatte, bei der Beisetzung Kim Il Seongs am 19. Juli keinen Beileidsbesuch zu machen.

Im Gegensatz zum in Stillstand gekommenen innerkoreanischen Dialog verhandelte Nordkorea mit den Vereinigten Staaten überraschend einen Erfolg. In der gemeinsamen Erklärung, die am 13. August veröffentlicht wurde, bekundeten die beiden Staaten ihre Bereitschaft, ihre wirtschaftlichen und politischen Beziehungen vollständig zu normalisieren und diplomatische Vertretungen in der jeweils anderen Hauptstadt zu eröffnen. Nordkorea sollte außerdem seine Graphitreaktoren durch Leichtwasserreaktoren, die waffenfähiges Plutonium nur in erheblich geringerem Umfang erzeugen, ersetzen und die Bestimmungen des Atomwaffensperrvertrags einhalten. Die USA verpflichteten sich, beim Bau der Leichtwasserreaktoren mitzuhelfen und bis zu deren Fertigstellung andere Energiequellen zu finanzieren. Anschließend in Genf unterzeichneten die Vertreter der Regierungen in Washington und Pjöngjang am 21. Oktober einen Vertrag, in dem Nordkorea zusichert, sein

277 Kim Dae Jung, Mein Leben, mein Weg, Frankfurt/M. 2000, S. 271-273. 278 In der internationalen Press wurde veröffentlicht, dass der Besuch angeblich offiziell nicht im Auftrag der US-Regierung erfolgte, sondern als Privatbesuch ausgewiesen war. 136 Atomprogramm einzustellen und im Zeitraum von rund zehn Jahren seine in Berieb bzw. im Bau befindlichen Nuklearanlagen zu demontieren. Diese graphitmoderierten Reaktoren Nordkoreas, die auch waffenfähiges Plutonium produzierten, sollten durch zwei moderne Leichtwasserreaktoren mit einer Leistung von insgesamt 2.000 Megawatt ersetzt werden. Die hierbei anfallenden Kosten in Höhe von rund vier Milliarden US-Dollar sollten von einem internationalen Konsortium namens KEDO (Korean Energy Development Organization), das unter südkoreanischer Leitung stehen sollte, übernommen werden. Nach dieser Vereinbarung legte Nordkorea im November seine beiden Atomanlagen still. Dies wurde am 29. November von der IAEA (Internaitional Atomic Energy Agency) in Wien bestätigt. Damit ging die Krise des nordkoreanischen Nuklearproblems zwar zunächst zu Ende, aber es blieben noch viele wichtige Fragen zu klären. Eine der wichtigsten Fragen war, ob trotz des Abkommens die nordkoreanische Atomanlage in Bezug auf die Machtfrage in Nordkorea für die Dauer von etwa fünf Jahren für internationale Inspektoren verschlossen bleiben sollte. Aus diesem Grund stieß das Abkommen, das in Washington, Pjöngjang und Peking begrüßt wurde, in Seoul und bei der IAEA auch auf deutliche Vorbehalte.

Unter diesen nationalen und internationalen Umständen sah Kim bei der schwankenden Durchführung der Wiedervereinigungspolitik von der Regierung Kim Young Sam nicht untätig zu, sondern forderte einerseits der Regierung und Opposition auf, eine nachhaltige und realisierbare Wiedervereinigungspolitik zu formen und in die Tat umzusetzen, anderseits suchte er seine Wiedervereinigungspolitik durch die Hilfe der Wissenschaftler in der „Asiatisch-Pazifischen Stiftung für den Frieden“ viel stärker im Detail auszuarbeiten. Die Folge dieser Mühe war, dass im Jahr 1995 das Buch „Die dreistufige Wiedervereinigungspolitik Kim Dae Jungs“ veröffentlicht wurde, in dem die Politik Kims als Mittelpunkt einer geplanten Konföderation zwischen Süd- und Nordkorea detailliert erörtert wurde. Vergleicht man diese Politik mit dem Plan „Republikanische Konföderation mit drei Prinzipien und drei Stufen“ vom April 1991, so kann man einen wichtigen Unterschied feststellen: Erstens sind „Souveränität“, „Frieden“ und „Demokratie“, die drei Grundprinzipien von Anfang der 80er Jahre, wiederum die drei Grundprinzipien für die Wiedervereinigung.279 Zweitens werden die alten drei Prinzipien, „friedliche Koexistenz“, „friedlicher Austausch“ und „friedliche Wiedervereinigung“, zu den drei Obliegenheiten verwandelt, die bei den süd- und nordkoreanischen Konföderationsstufen verwirklicht werden

279 Asiatisch Pazifische Friedensstiftung, Die dreistufige Wiedervereinigungspolitik Kim Dae Jungs: unter besonderer Berücksichtigung der süd- und nordkoreanischen Konföderation, 1995 Seoul, S. 34f. 137 sollen.280 Schließlich wird die süd- und nordkoreanische Konföderation im Detail ausarbeitend erklärt. Dies hängt mit der Überzeugung Kims zusammen, dass die konföderative Stufe zur Wiedervereinigung in absehbarer Zeit realisiert werden kann, wenn die gegebene Lage zwischen Süd- und Nordkorea weiter positiv entwickelt wird.

Zwar wurde die „neue“ Politik in vielen Einzelheiten sorgfältig ausgearbeitet, aber im Grunde genommen änderte sich am grundlegenden Inhalt des Dreistufenplans nichts: Im Rahmen des republikanischen Konföderationssystems besteht dieser aus dem dreistufigen Wiedervereinigungsplan mit den drei Prinzipien, so dass der Schwerpunkt des Buches darin liegt, nicht eine neue Theorie für die Wiedervereinigung zu entwickeln, sondern unter den gegebenen Umständen die Politik genauer anzuwenden. Dieser ausgearbeitete Wiedervereinigungsplan gehörte unverändert zum wichtigen Teil der späteren Sonnenscheinpolitik, die Kim Dae Jung nach dem Amtsantritt als Staatspräsident Südkoreas im Februar 1998 in die Tat umzusetzen versuchte.

280 Ebd., S. 69. 138 4. Erfolg und Enttäuschung: Umsetzung und Folge der neuen Politik 4.1 Ostpolitik (1969-1974) 4.1.1 Internationale Rahmenbedingungen Als die sozial-liberale Koalition 1969 in Bonn zustande kam und gleichzeitig ihre neue Ostpolitik in die Tat umzusetzen begann, war die internationale Ausgangslage für einen außenpolitischen Neuanfang günstig. Denn im westlichen wie im östlichen Bündnis wuchs das Bewusstsein wechselseitiger Abhängigkeit bei der Durchsetzung eigener Interessen. Die Politik der neuen Regierung Brandt konnte sich in den Entspannungskurs einfügen, den der seit einem Jahr amtierende amerikanische Präsident Richard Nixon mit der programmatischen Verkündigung umschrieb, nach einer „Ära der Konfrontation“ in eine „Ära der Verhandlung“ einzutreten: „Ich möchte unsere Meinungsverschiedenheiten nicht unterschätzen. Wir bewegen uns aber zielstrebig und bewusst aus einer Ära der Konfrontation heraus in eine Ära der Verhandlungen hinein.“281 Prinzipielle Reibungspunke waren daher zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten nicht zu erwarten. Unter anderem war die Regierung Nixon um eine Verhandlungslösung für Vietnam und Rüstungsvereinbarungen mit der Sowjetunion bestrebt.

Die Sowjetunion war an einer Normalisierung der Beziehungen in Europa interessiert, um den eigenen Machtbereich politisch wie ökonomisch konsolidieren zu können. Deshalb drängte sie auf eine Anerkennung der Nachkriegsrealitäten, nämlich der Oder-Neiße-Linie und der DDR. Während der Prager Krise 1968 verhinderte sie eine Erosion des Ostblocks mit militärischen Mitteln und behauptete ihre Führungsmacht. So lag es plausibel nahe, die gewaltsam erzwungene Geschlossenheit des sozialistischen Lagers politisch abzusichern, indem eine Festlegung des Status quo in Europa angestrebt wurde. Eine Verständigung mit dem Westen wäre auch der eigenen Wirtschaft förderlich gewesen, die aufgrund des globalen Engagements der Sowjetunion strapaziert war und dringend modernisiert werden musste. Westliche Firmen verfügten dazu über die erforderliche technische Kompetenz. Ferner erhöhte der Konflikt mit dem asiatischen Grenznachbarn VR China das Sicherheitsbedürfnis und führte zu einer beweglicheren Haltung der Führung in Moskau gegenüber der atlantischen Gemeinschaft. Aus diesem Grund war der Plan einer europäischen Sicherheitskonferenz für den Kreml-Herren attraktiv. Das Westmächte machten sich dies zunutze und knüpften das Zustandekommen einer solchen Konferenz an den Abschluss einer Berlin-Regelung und bilateraler Gewaltverzichtsvereinbarungen der Bundesrepublik mit Moskau, Warschau und Ost-Berlin.

281 Archiv der Gegenwart, XL. Jahrgang 1970, Bonn/Wien/Zürich S.15217. 139

4.2.2. Die sozial-liberale Regierung und das Anzeichen für die neue Ostpolitik

Es gibt nur wenige außenpolitische Konzepte, die in der Öffentlichkeit so sehr wie die Ostpolitik der sozialenliberalen Koalition polarisiert wurde, in der Geschichte der Bundesrepublik. Die neue Ostpolitik der sozialenliberalen Koalition ist in ihrer Bedeutung vergleichbar mit der Westintegration des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer, die ebenfalls sehr die Politik der Bundesrepublik für viele Jahre entscheidend prägte. Der „tatsächliche“ Beginn der neuen Ostpolitik war der Regierungswechsel nach den Wahlen von 1969. Denn die erste Anzeichen einer außenpolitischen Wende konnten nur unter neuen politischen Führung in Bonn erscheinen.

Zur Annäherung von Sozialdemokraten und Liberalen kam es schon in den beiden Jahren vor dem Regierungswechsel im Oktober 1969. In der FDP setzten sich zunehmend die reformorientierten, sozialliberalen Kräfte unter , der im Januar 1968 zum Parteivorsitzenden gewählt wurde, gegen den nationalliberalen Flügel der Partei durch. Bezeichnend für die Besserung des Verhältnisses zwischen beiden Parteien war die Wahl des Sozialdemokraten Gustav Heinemann zum neuen Bundespräsidenten, bei der dieser auch von der FDP unterstützt wurde, die in der Bundesversammlung über die letzten Endes entscheidenden Stimmen verfügte. Heinemann bezeichnete seinen Wahlsieg zum Staatsoberhaupt in einem Interview mit der „Stuttgarter Zeitung“ als „als ein Stück Machtwechsel“.282 Der eigentliche Machtwechsel im Sinne einer neuer Regierung folgte jedoch erst im Jahr 1969.283

Bei der Bundestagwahl vom 28. September 1969 wurde die CDU/CSU stärkste politische Kraft.284 Somit war sie in der Lage, erneut die stärkste Fraktion im neuen Bundestag zu stellen. Zunächst nach den ersten Hochrechnungen schien sogar eine absolute Mehrheit für die Christdemokraten und deren Kanzlerkandidaten Kiesinger möglich, die sich im Laufe des Wahlabends jedoch nicht bestätigte. Willy Brandt schrieb dazu später in seinem Buch „Erinnerungen“: „Im Palais Schaumburg war der Sekt zu früh eingeschenkt worden. Erste Hochrechnungen hatten ein falsches Ergebnis vorhergesagt.“285 SPD und FDP verfügten zusammen dagegen knapp über eine theoretische Mehrheit im Bundestag. Aus diesen Grund stellten sich viele Politiker in der Großpartei, CDU und SPD vor, die Große Koalition

282 Arnulf Baring, Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel, Stuttgart 1982, S. 122. 283 Vgl. Andreas Rödder, Die Bundesrepublik Deutschland 1969-1990, München 2004. S. 34f. 284 Das entgültige Wahlergebnis war 46,1 Prozent der gültigen Stimmen für die CDU/CSU, 42, 7 Prozent für die SPD, und 5,8 Prozent für FDP. 285 Willy Brand, Erinnerungen, München 2003, S. 184. 140 fortzusetzen. Jedoch vereinbarte Brandt in der Wahlnacht mit dem Vorsitzenden der FDP Scheel, eine gemeinsame Bundesregierung aus Ministern beider Parteien und unter der Führung Willy Brandts als Bundeskanzler zu bilden. Nach den Koalitionsverhandlungen wurde Brandt schließlich am 21. Oktober 1969 vom Bundestag knapp zum neunen deutschen Bundeskanzler gewählt.

In seiner ersten Regierungserklärung erkannte der Sozialdemokrat die Leistungen seiner Vorgänger an, die schon jetzt „Geschichte geworden“ seien. Weiterhin stellte er sich in seiner Rede die Tradition der Politik bis 1969, indem er konstatierte, dass die neue Bundesregierung ihren Willen zur kontinuierlichen und konsequenten Weiterführung der bisherigen Politik weiter machen werde. Er führte weiter aus, es sei, „die Einheit der Nation dadurch zu wahren, dass das Verhältnis zwischen den Teilen Deutschlands aus der gegenwärtigen Verkrampfung gelöst wird.“ Diese Diktion schloss an das Programm der Großen Koalition an: „entkrampfen und nicht verhärten, Gräben überwinden und nicht vertiefen.“

Trotzdem wurde auch die Präferenz für die neue Ostpolitik deutlich. Zwar sagte Brandt mit Nachdruck, dass keine völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesregierung in Betracht komme. Aber er äußerte als erster Regierungschef der Bundesrepublik von der Existenz zweier deutscher Staaten, was man damals noch für undenkbar hielt: „Auch wenn zwei Staaten in Deutschland existieren, sind sie doch füreinander nicht in Ausland; ihre Beziehungen zueinander können nur von besonderer Art sein.“286 Brandt kündigte zudem auch an, dem Ministerrat der DDR Verhandlungen anzubieten, die zu vertraglich vereinbarter Zusammenarbeit führen sollten. Konkrete Pläne in ostpolitischer Hinsicht wurden bereits in der Regierungserklärung des neuen Kanzlers klar und deutlich. Weiterhin sollte Brandt die Aufnahme von Gesprächen mit Polen und der Sowjetunion planen. Schließlich markierte er in bezug auf die Kontinuität in den deutsch-amerikanischen Beziehungen den außenpolitischen Standort der Bundesrepublik Deutschland: „Zusammenarbeit und Abstimmung mit dem Westen und Verständigung mit dem Osten“.

Es war auch bemerkenswert, dass der neue Kanzler in seiner Rede das Wort „Wiedervereinigung“ absichtlich nicht gebrauchte. Wie er Ende Dezember 1969 gegenüber der amerikanischen Zeitschrift „US News and World Report“ erklärte, habe er aufgehört, über Wiedervereinigung zu sprechen, denn der Begriff erwecke den Eindruck einer Restauration früherer Verhältnis. Dies aber hielt Brandt nicht für möglich, schon mit Blick auf die

286 Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenographische Berichte Bd. 71, Bonn 1967/1970, S. 21. 141 Ostgebiete. Die „Einheit der Deutschen“, war das Wort, das er bevorzugt formulierte und damit territoriale Aspekte ausklammerte.

Die erste Regierungserklärung rief scharfe Kritik der Oppositionspartei hervor. Der Vorsitzende der CDU/CSU machte heftige Vorwürfe in bezug auf die Außenpolitik und die Ausführung der zwei Staaten in Deutschland: „Der außenpolitische Teil der Regierungserklärung ist mehr durch Weglassen und die Kunst der Wortwahl als durch Präzision gekennzeichnet. Die Welt und die Opposition, Herr Bundeskanzler, werden Ihnen nicht erlauben, aus jedem Entweder-Oder ein konfliktfreies Sowohl-als-auch zu machen! (..) Wie wollen Sie Ihre Erklärung von den ‚zwei Staaten in Deutschland’ in Einklang bringen mit der Präambel des Grundgesetzes?“287 Anschließend äußerte Freiherr von Guttenberg, einer der schärfsten Gegner Brandts, seine Beurteilung: „Als ich in dieser Regierungserklärung las, dass es also zwei deutsche Staaten gebe, da habe ich dies als eine dunkle Stunde angesehen, eine dunkle Stunde für dieses Haus, für unser Volk“288

Trotz der heftigen Kritik der Oppositionspartei machte die Ostpolitik der Regierung Brandt den ersten Schritt. Allerdings stand die Ostpolitik der Regierung nicht auf unbereitetem Boden, weil die bereits unter der Großen Koalition eingeleitete Politik in verschiednen Bereichen eine gute Ausgangsbasis geschaffen hatte.

4.1.3. Der Moskauer Vertrag und der Warschauer Vertrag

Die Verhandlung des Moskauer Vertrages zwischen dem sowjetischen Außenminister Andrej Gromyko und dem deutschen Botschafter in Moskau Helmut Allardt begann bereits im Dezember 1969. In der Eröffnungssitzung vom 8. Dezember beteuerte Gromyko zwar dem deutschen Botschafter gegenüber seine Bereitschaft, „über alles zu sprechen“. Jedoch stellten sich die Fortschritte der Verhandlungen erst ein, als Brandt seinen ostpolitischen Berater Egon Bahr mit der Fortführung der prekären Gespräche betraute. Bahr, seit Oktober 1969 Staatssekretär im Bundeskanzleramt, saß am 30. Januar 1970 am Verhandlungstisch gegenüber Gromyko. Sein Vorteil bestand darin, dass er über die Realisierung eines politischen Konzepts verhandeln konnte, das seit den 60er Jahren gemeinsam mit Willy Brandt konzipiert worden war. In mehr als 50 enorm schwierigen Verhandlungsstunden erörterten Bahr und Gromyko drei große Bereiche: erstens eine Gewaltverzichtsvereinbarung

287 Archiv der Gegenwart (Hrsg.), Dokumentation zur Deutschlandfrage. Hauptband VI, Bonn/Wien/Zürich 1972, S. 3. 288 Ebd., S. 10. 142 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion, zweitens eine politische Vereinbarung zwischen Bonn und Warschau, die mit der Grenzfrage der Oder-Neiße-Linie verbunden war, und schließlich die Aufnahme der Beziehungen zwischen Bonn und Ost- Berlin.

Bei den Verhandlungen durften weder die besonderen Rechte der Vier Mächte für ganz Deutschland beeinflusst noch der deutsche Anspruch auf Selbstbestimmung und Wiedervereinigung aufgegeben werden. Im Gegensatz zur Position Bahrs forderte der sowjetische Außenminister die Anerkennung aller europäischen Grenzen sowie der DDR und verweigerte jede Äußerung der deutschen Einheit. Gegen die Ablehnung argumentierte Bahr mit Nachdruck, dass eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch Bonn schon deswegen nicht in Frage käme, weil sie die Rechte der Vier Mächte berühre. Diesem Argument Bahrs konnte sich auch Gromyko nicht verschließen. Bahr machte zudem seinem sowjetischen Verhandlungspartner klar, wie wichtig die Verhandlungen für die neue Bundesregierung waren: Brandt habe „zu einem beachtlichen Teil den Erfolg seiner Regierung vom Erfolg dieser Gespräche abhängig gemacht“.289 Bei einem Fehlschlag der Sondierungen wäre die sozial-liberale Ostpolitik in den Startblöcken hängen geblieben und zumindest Außenminister Scheel zurückgetreten.290

Am 22. Mai 1970, nach vierzehn Treffen zwischen Bahr und Gromyko, war die Vereinbarung erreicht. Beide einigten sich über einen Katalog, der aus zehn Punkten bestand. Dieser Katalog wurde im Juni 1970 durch Indiskretion als „Bahr-Papier“291 veröffentlicht. Die ersten vier Leitsätze gingen in den Moskauer Vertrag ein: Die Anerkennung des europäischen Status quo, der Verzicht auf die Drohung mit oder die Anwendung von Gewalt, die Qualifizierung aller europäischen Grenzen als „unverletzlich“ sowie die Unberührtheit früherer Verträge und Abkommen durch den deutsch-sowjetischen Vertrag. Die restlichen Punkte enthielten grundsätzliche Absichtsbekundungen.

Die Bundesregierung verabschiedetet am 7. Juni 1970 ein entsprechendes Junktim zwischen Berlin und dem Moskauer Vertrag, zusammen mit den Verhandlungsrichtlinien für Außenminister Scheel, der die von Bahr ausgehandelte Vorverständigung in einer Schlussrunde vom 27. Juli bis zum 7. August in vertragliche Form brachte und unterschriftsreif machte. Dann am 12. August 1970 unterzeichneten Bundeskanzler Willy Brandt, Ministerpräsident Alexei Kossygin und beide Außenminister Walter Scheel und

289 Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1970 Bd. 1, S. 112. 290 Helga Grebing, Gregor Schöllgen, Heinrich August Winkler (Hrsg.), Willy Brandt - Berliner Ausgabe Bd. 6, Bonn 2005, S. 48. 291 Vgl. Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1970 Bd. 2, S. 822-824. 143 Andrei Gromyko den Moskauer Vertrag. Der „Brief zur deutschen Einheit“ konnte zwar nicht zum Bestandteil des Vertrages erhoben werden, wurde aber bei Vertragsunterzeichnung in Form einer einseitigen Erklärung der Bundesregierung von der Sowjetunion entgegengenommen.

Mit dem Moskauer Vertrag292 erreichte die Sowjetunion, was sie seit den Nachkriegsjahren anstrebte: die Bundesrepublik akzeptierte den sowjetischen mittel- und osteuropäischen Machtbereich. Bonn war es gelungen, die Grenzen in Europa als „unverletzlich“ – und nicht als „unverrückbar“ wie von Moskau gewünscht – zu bezeichnen und damit die Optionen für eine friedliche Grenzkorrektur offen zu halten. Die Grenzbestätigung wurde dem Gewaltverzicht untergeordnet; eine Rangfolge, auf die die Bundesregierung beim Warschauer Vertrag verzichtet und deren Umkehrung sie im Grundlagenvertrag duldete. Wichtigstes Ergebnis aus deutscher Sicht stellte freilich dar, dass ein Modus vivendi geschaffen war, der eine dynamische Fortentwicklung der Beziehungen zur Sowjetunion, der DDR und Osteuropa ermöglichen konnte.

Parallel zu den Verhandlungen Bahrs in Moskau führte Staatsekretär Georg Ferdinand Duckwitz seit dem 5. Februar 1970 Vorverhandlungen mit Polen. Auf den deutsch-polnischen Beziehungen lastete die Bürde der Geschichte. Die polnische Regierung stellte eine zentrale Vorbedingung: die Bestätigung der Oder-Neiße-Linie durch die Bundesregierung. Der Bundeskanzler maß der Aussöhnung mit Polen denselben historischen Rang zu wie der mit Frankreich und zeigte Bereitschaft, den Warschauer Wünschen durch verträgliche Verpflichtungen Rechnung zu tragen, erwartete aber im Gegenzug humanitäre Zugeständnisse. Vor allem kam es ihm darauf an, wie er am 27. Oktober 1970 an den polnischen Ministerpräsidenten Cyrankiewicz schrieb, einen Weg zu finden, „der den Hoffnungen und Wünschen vieler in Polen lebender Menschen Rechnung trägt und ihnen die Wahl ihres ständigen Aufenthaltsortes freistellt“.293 Während die polnischen Behörden von wenigen zehntausend deutschstämmigen Ausreiswillige ausgingen, ermittelte das Rote Kreuz eine Zahl, die etwa um ein Zehnfaches höher lag. Die Hoffnung des Bundskanzlers, wer deutsch sei, solle im Prinzip auch die Möglichkeit haben, neu zu optieren, erfüllte sich nicht. Die Vergabe von Ausreisegenehmigungen wurde sogar noch verschärft. Warschau wollte die schlechte Lage nur gegen die Gewährung eines milliardenschweren Kredits verbessern.294

292 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.), Dokumentation zur Ostpolitik der Bundesregierung. Verträge und Vereinbarung, 121988 Bonn, S. 13-15. 293 Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1970 Bd. 3, S. 1847. 294 Dieser Handel wurde erst von am Rande des KSZE-Gipfels von Helsinki im August 1975 perfekt gemacht. 144 Am 7. Dezember 1970 unterzeichneten Willy Brandt und Walter Scheel den Warschauer Vertrag295, der im Grunde nichts anderes als die Anwendung des Moskauer Abkommens auf die deutsch-polnischen Beziehungen war. Im Mittelpunkt des Vertrages stand die Grenz- und die Gewaltverzichtsformel, welche die Unverletzlichkeit der „bestehenden Grenzen jetzt und in der Zukunft“ garantierten und die Oder-Neiße-Linie ausdrücklich einschlossen.

In einer Fernsehansprache aus Warschau am 7. Dezember 1970 bekannte sich Brandt klar zur deutschen Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus in Polen bekannt. Dabei erklärte er, der Vertrag solle „einen Schlussstrich setzen unter Leiden und Opfer einer bösen Vergangenheit. Er soll eine Brücke schlagen zwischen den beiden Staaten und den beiden Völkern.“ Es ging um einen Neuanfang in den Beziehungen: „Wir müssen die Kette des Unrechts durchbrechen. Indem wir dies tun, betreiben wir keine Politik des Verzichtes, sondern eine Politik der Vernunft.“296 Wie ernst es Brandt war, im vollen Bewusstsein der deutschen Vergangenheit den Neuanfang im Verhältnis mit Polen zu wagen, wurde durch seinen Kniefall, der die deutsche Öffentlichkeit stark bewegte297, vor dem Denkmal der Opfer des Warschauer Gettos symbolisiert: „Ich habe im Namen unseres Volkes Abbitte leisten wollen für ein millionenfaches Verbrechen, das im missbrauchten deutschen Namen verübt wurde. Dies gehört mit dazu, wenn wir einen neuen Anfang setzen und eine Wiederholung der Schrecken der Vergangenheit ausschließen wollen.“298

4.1.4. Das vier Mächte Abkommen über Berlin

Am 26. März 1970 trafen die Botschafter der drei Westmächte in der Bundesrepublik sowie der sowjetische Botschafter in der DDR im ehemaligen Gebäude des Alliierten Kontrollrats zu Berlin-Gesprächen zusammen. Nach über 30 offiziellen Sitzungsrunden der Botschafter, zahlreichen inoffiziellen Zusammenkünften und Beratungen unter Beteiligung der Bundesregierung in der Bonner Vierergruppe unterzeichneten die Botschafter der Siegermächte am 3. September 1971 das Vier-Mächte-Abkommen299 über Berlin. Das

295 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.), Dokumentation zur Ostpolitik der Bundesregierung. Verträge und Vereinbarung, 121988 Bonn, S. 33-35. 296 Bundeskanzler Brandt. Reden und Interviews, Hamburg 1971, S. 250f. 297 Vgl. Die Spiegel-Umfrage „Durfte Brandt knien?“ kam zu folgendem Ergebnis: 41 Prozent der Befragten hielte das Verhalten Brandts am Getto-Ehrenmal für angemessen und 48 Prozent bezeichnete es als übertrieben. In: „Der Spiegel“ (51/1970) vom 14. Dezember 1970, S. 27. 298 „Der Spiegel“ (51/1970) vom 14. Dezember 1970, S. 31. 299 Vgl. Dieter Grosser, Stephan Bierling, Beate Neuss, Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung Bd.11 Bundesrepublik und DDR 1969-1990 Stuttgart 1996. S. 67-71. und Presse- und Informationsamt der 145 Abkommen enthielt das Zugeständnis der Sowjetunion, dass die Bindungen zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin „aufrechterhalten und entwickelt“ werden sollten. Außerdem stimmte Moskau zu, den zivilen Transitverkehr ohne Behinderung zu gewährleisten. Schließlich wurde den Westmächten eingeräumt, ihr Recht auf Außenvertretung West-Berlins teilweise auf die Bundesrepublik zu übertragen. Im Gegenzug bekam die Sowjetunion die Zusage, ein Generalkonsulat in West-Berlin eröffnen zu können, damit konnte sie ihre Auffassung vom „besonderen Status“ West-Berlins unterstreichen. Auch wurde niedergelegt, dass die Westsektoren „so wie bisher kein Bestandteil der Bundesrepublik Deutschland sind und auch weiterhin nicht von ihr regiert werden“.

Insgesamt handelte es sich bei dem mit dem Moskauer Vertrag zusammenhängenden Abkommen nicht um eine völkerrechtliche Lösung des Berlin-Problems, sondern um einen politischen Kompromiss.

4.1.5. Die innerdeutschen Gipfeltreffen und der Grundlagenvertrag

In Reaktion auf die Regierungserklärung Brandts wandte sich Ulbricht am 17. Dezember 1969 mit einem deutsch-deutschen Vertragsentwurf an den Bundespräsidenten Heinemann, der die Aufnahe gleichberechtigter diplomatischer Beziehungen, die Anerkennung der innerdeutschen Grenze, den Austausch von Botschaftern, die Achtung West-Berlins als selbständige politische Einheit und den gemeinsamen Beitritt zur UNO vorsah. Bundeskanzler Brandt reagierte am 22. Januar 1970, indem er in einem Schreiben an DDR-Ministerpräsident Willi Stoph die Aufnahme von Gewaltverzichtsverhandlungen vorschlug und den Wunsch hinzufügte, dass über praktische Fragen zu Regelungen, die das Leben der Menschen im gespaltenen Deutschland erleichtern können, verhandelt werden sollte. Stoph forderte am 11. Februar erneut die völkerrechtliche Anerkennung der DDR und machte Brandt den Vorschlag, sich in Ost-Berlin zu treffen. Beides kam zunächst für Brandt nicht in Frage. Schließlich einigte man sich auf eine Begegnung der beiden deutschen Regierungschefs am 19. März 1970 in Erfurt. Für den Bundeskanzler ging es darum, die Ernsthaftigkeit seiner Politik zu beweisen.

Bundesregierung (Hrsg.), Dokumentation zur Ostpolitik der Bundesregierung. Verträge und Vereinbarung, 121988 Bonn, S. 82-99. 146 Bevor Brandt nach Erfurt zum innerdeutschen Gipfeltreffen300 gefahren ist, machte er dem Vorsitzenden des Ministerrats der DDR bereits am 14. Januar 1970 in seinem ersten Bericht zur Lage der Nation folgende Vorschläge, die er in Erfurt wiederholte:

1. Beide Staaten haben ihre Verpflichtung zur Wahrung der Einheit der deutschen Nation. Sie seien füreinander nicht Ausland

2. Im übrigen müssen die allgemein anerkannten Prinzipien des zwischenstaatlichen Rechte gelten, insbesondere der Ausschluss jeglicher Diskriminierung, die Respektierung der territorialen Integrität, die Verpflichtung zur friedlichen Lösung aller Streitfragen und zur Respektierung der beiderseitigen Grenzen.

3. Dazu gehörte auch die Verpflichtung, die gesellschaftliche Struktur im Gebiet des anderen Vertragpartners nicht gewaltsam ändern zu wollen.

4. Die beiden Regierungen und ihre Beauftragten sollten eine nachbarschaftliche Zusammenarbeit anstreben, vor allem die Regelung der fachlich-technischen Zusammenarbeit, wobei gemeinsam Erleichterungen in Regierungsvereinbarungen festgelegt werden können.

5. Die bestehenden Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in bezug auf Deutschland und Berlin sind zu respektieren.

6. Die Bemühungen der Vier Mächte, Vereinbarungen über eine Verbesserung der Lage in und um Berlin zu treffen, sind zu unterstützen.301

Außerdem formulierte er weiter, „In dieser historischen Phase muss versucht werden, zu einem geregelten Nebeneinander zwischen den beiden Staaten in Deutschland zu kommen“. Mit diesem Ziel fuhr Brandt am 19. März 1970 nach Erfurt. Die Schwierigkeiten, die auf dem ersten innerdeutschen Gipfel lasteten, waren ebenso groß wie die Erwartungen. Vieles schien möglich, die Emotionen schlugen auf beiden Seiten hoch. All dies verdichtete sich spontan in einem Augenblick abseits des offiziellen Geschehens, als DDR-Bürger vor dem „Erfurter Hof“ Brandts Namen riefen. Brandt trat ans Hotelfenster und versuchte, die Menge mit einer vagen Geste des Bedauerns zu beruhigen.

Im Gegensatz zu hohen Emotionen gab es in Erfurt keine sachlichen Fortschritte. Auf die pragmatischen, auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen im geteilten

300 Das innerdeutsche Gipfeltreffen in Erfurt war der erste Kontakt auf Regierungsebene seit der gescheiteren Konferenz der Ministerpräsidenten der Länder aller vier Besatzungszonen 1947 in München. 301 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte, 6.Wahlperiode, 22.Sitzung, Bd. 71, S. 846f. 147 Deutschland abzielenden Vorstöße Brandts mochte Stoph nicht eingehen und bestand auf der Anerkennungsfrage. So ging der erste Gipfel ohne konkrete Ergebnisse zu Ende. Unter diesen Umständen war vom zweiten Treffen, das am 21 Mai 1970 in Kassel stattfand, noch weniger zu erwarten. Es kam zu heftigen Demonstrationen für und gegen die Anerkennung Ost- Berlins. Der SED-Politiker wiederholte mit Nachdruck seine Forderung nach völkerrechtlichen Beziehungen zwischen Bonn und Ost-Berlin. Er erklärte den Gewaltverzicht für unzureichend. Dagegen machte Brandt ein 20-Punkte-Programm zur Linderung der innerdeutschen Teilung. Er präsentierte einen gleichberechtigten Vertrag unter völkerrechtlicher Anerkennung und machte Vorschläge zur Freizügigkeit im Reiseverkehr, zur Familienzusammenführung und zur Zusammenarbeit in Verkehrsfragen, beim Informationsaustausch sowie zur Kooperation in Bildung und Wissenschaft, Erziehung und Kultur, Umwelt und Sport.

Nach den ergebnislosen Gipfeltreffen in Erfurt und in Kassel gerieten die Bemühungen um die Verbesserung der deutschen Beziehungen in eine „Denkpause“, bis das Vier-Mächte- Abkommen über Berlin am 17. Mai 1972 abgeschlossen wurde. Das Vier-Mächte-Abkommen über Berlin beendete die seit dem innerdeutschen Gipfeltreffen in Kassel andauernde „Denkpause“ in den innerdeutschen Beziehungen. Um in Kraft treten zu können, bedurfte es nicht nur der Ratifizierung des Moskauer und des Warschauer Vertrages, sondern einer Reihe deutsch-deutscher Zusatzvereinbarungen, die nur zwischen Bonn und Ost-Berlin ausgehandelt werden konnten. Bahr, der bereits dem Vier-Mächte-Abkommen hinter den Kulissen den Weg bereitet hatte, führte die Gespräche, die er mit dem DDR-Unterhändler Michael Kohl am 27. November 1970 begonnen hatte, als offizielle Verhandlungen weiter. Die Ende Mai 1971 von der SED-Spitze mit Rückendeckung Moskau erzwungene Ablösung Walter Ulbrichts durch den flexibleren Erich Honecker verbesserte die Chance. Entsprechend den Vorgaben der Vier Mächte handelte Bahr gemeinsam mit Kohl die Ausfüllungsvereinbarungen zum Vier- Mächte-Abkommen aus sowie ein Transitabkommen302, das beide am 17. Dezember 1971 unterzeichneten. Am 26. Mai 1972 folgte der Verkehrsvertrag, der zugleich den ersten Staatsvertrag darstellte, den beide deutsche Staaten schlossen. DDR-Bürger unterhalb des Rentenalters durften nun in dringenden Familienangelegenheiten nach Westdeutschland reisen, Westdeutsche auch in ihren Privatfahrzeugen die Grenze passieren.

Der Verkehrsvertrag war auch nur eine Zwischenstation. Seit dem 15. Juni 1972 strengten sich Bahr und Kohl an den Kernfragen des innerdeutschen Verhältnisses an. Bei den

302 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.), Dokumentation zur Ostpolitik der Bundesregierung. Verträge und Vereinbarung, 121988 Bonn, S. 104-117. 148 Verhandlungen ging es der DDR um die sofortige und volle völkerrechtliche Anerkennung sowie die unverzügliche Beantragung des Beitritts beider deutscher Staaten zur UNO. Die Bundesregierung wollte vor allem eine Verbesserung der Kontaktmöglichkeiten für Ost- und Westdeutsche auf allen Ebenen. Indirekt an Verhandlungstisch saßen wegen ihrer deutschlandpolitischen Rechte auch die drei Westmächte. Nach 59 Gesprächsrunden einigte man sich auf einen Grundlagenvertrag.303 Der Grundlagenvertrag brachte der DDR die internationale Gleichberechtigung und den Zugang zur internationalen Organisationen. Die Bundesrepublik erreichte die Zusicherung über einen Ausbau innerdeutscher Kontakte und über ein Entgegenkommen in humanitären Fragen. Bonn verzichtete auf den Alleinvertretungsanspruch mit Hallstein-Doktrin. Beide Staaten seien gleichberechtigt, keiner könne fortan „den anderen international vertreten oder in seinem Namen handeln“. Stattdessen gelte es, auf allen Gebieten „normale gutnachbarliche Beziehungen zueinander“304 zu entwickeln. Ausland war die DDR für die Bundesrepublik Deutschland nicht, daher der Austausch von ständigen Vertretungen statt Botschaftern. Die Auffassung zur nationalen Fragen blieben unvereinbar, die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte bestanden fort, die Bundesregierung hielt, wie Außenminister Scheel formulierte, an ihrem Ziel fest, „auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt“.305 Für Brandt war der Grundlagenvertrag der Beginn einer neuen Periode: „Mit dem Vertrag brechen wir das Eis auf, in dem das Verhältnis zwischen uns und der DDR für viele Jahre eingefroren war. Auf der Basis der Gleichberechtigung werden wir umfassend die Zusammenarbeit beginnen.“

Am 22. November 1972 begannen in Helsinki die Vorgespräche zur „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE)“, an welchen die DDR teilnahm. Die DDR wurde unmittelbar nach dem Grundlagenvertrag mit der Bundesrepublik von über 20 Staaten, darunter die Schweiz, Schweden, Österreich und Belgien, diplomatisch anerkannt.

303 Vgl. Dieter Grosser, Stephan Bierling, Beate Neuss, a. a. O., S.58-63. 304 Dieter Grosser, Stephan Bierling, Beate Neuss, a. a. O., S. 59. 305 Archiv der Gegenwart, 42. Jahrgang 1972, Bonn/Wien/Zürich, S. 17452. 149 4.2. Sonnenscheinpolitik (1998-2003) Der folgende Abschnitt des vierten Kapitals handelt von der Umsetzung der Sonnenscheinpolitik und deren Folge. Dies ist die von der Regierung Kim Dae Jung kontinuierlich geführte Politik gegenüber Nordkorea. Wie bereits im zweiten und dritten Kapitel dargestellt, war Kim Dae Jung der erste und einzige Staatpräsident Koreas, der bei der Übernahme der Regierung über ein eigenes und nachhaltiges Konzept für eine Wiedervereinigungspolitik verfügte. Im Lauf der Amtszeit Kims versuchte Südkorea ständig die Nordkoreaner zu einer Öffnung zu bewegen, indem innerkoreanischer Austausch und wirtschaftliche Unterstützung gefördert wurden. Zweifellos war der durchschlagende Erfolg der südkoreanischen Bemühungen das Gipfeltreffen zwischen dem südkoreanischen Staatpräsidenten Kim Dae Jung und dem Generalsekretär der nordkoreanischen Arbeitspartei und Vorsitzende der Nationalen Verteidigungskommission Kim Jeng Il. Mit diesem Treffen schlugen Südkorea und Nordkorea ein neues Kapitel in der Wiedervereinigungsgeschichte auf. Aus diesem Grund ist es wesentlich herauszufinden, wie die Sonnenscheinpolitik angesichts der innen- und außenpolitischen Lage im Zeitraum vom Amtseintritt Kims am 25. Februar 1998 bis zum historischen Gipfeltreffen am 15. Juni 2000 angewandt wurde. Außerdem wurden das Gipfeltreffen selbst und die darauf folgenden Folgen sorgfältig dargestellt. Das Ziel dieser Untersuchung ist es, die erfolgreiche Umsetzung und die Folgen der Sonnenscheinpolitik herauszustellen, damit die wahre Bedeutung der Politik Kims in der Geschichte der südkoreanischen Wiedervereinigungspolitik herausgearbeitet wird und trotz der künftiger Regierungswechsel weiter geführt werden soll.

4.2.1. Die Sonnenscheinpolitik bis zum Gipfeltreffen Als Kim Dae Jung am 25. Februar 1998 in Seoul den Amtseid des Staatpräsidenten ablegte, war Südkorea von einer schweren Wirtschaftkrise betroffen, die zunehmende Arbeitslosigkeit, Preissteigerungen, Firmenzusammenbrüche und sinkende Einkommen auslöste. Das Land stand gerade vor dem wirtschaftlichen Bankrott. Daher setzte Kim in erster Linie auf die Überwindung der Wirtschaftkrise. Bereits vor der Übernahme der Führung des Landes appellierte der neue Präsident an das Volk, zusammenzustehen und Geschlossenheit zu zeigen, um die derzeitige Wirtschaftskrise schnell zu bewältigen. Vor allem richtete er in seiner Rede zur Amtseinführung einen Appell zur konstruktiven Zusammenarbeit an die bisherige Regierungspartei GNP (Grand National Party), die im Parlament die Mehrheit stellte: „Wir werden die schwere Krise niemals ohne Ihre Hilfe bewältigen. Es tut mir sehr

150 leid, dies auszusprechen, aber für diese Krise tragt ihr die Verantwortung. Ich werde euch in jeder Frage konsultieren, dafür müsst ihr allerdings Hilfsbereitschaft zeigen, und sei es nur für ein Jahr – dieses Jahr, in dem sich das Volk am Rande des Abgrundes befindet.“ Zwar hatte zu diesem Zeitpunkt die Krisenüberwindung für den neu gewählten Präsidenten Kim absolute Priorität vor der Umsetzung seiner Wiedervereinigungspolitik, aber bei der Amtsantrittsrede versäumte er nicht, die innerkoreanische Frage zu thematisieren; Er machte der nordkoreanischen Führung den Vorschlag, ein Gipfeltreffen abzuhalten und die Beziehungen zwischen beiden koreanischen Staaten zu verbessern, indem wechselseitig Sonderbeauftragte entsandt werden. Damit sollten die 1991 im bilateralen Grundsatzabkommen verankerten Bestimmungen realisiert werden. Er wies zuerst mit Nachdruck darauf hin, dass der Ausgangspunkt seiner Politik gegenüber Nordkorea die Verwirklichung des Grundsatzabkommens von 1991 sei. Neben der Betonung des Ausgangspunktes seiner Politik erklärte er drei Prinzipien für seine Politik gegenüber Nordkorea. Schließlich formulierte er ausdrücklich, dass die Einsatzbereitschaft einer schlagkräftigen Armee sowie die militärische Sicherheitspartnerschaft mit den USA für Südkorea von grundlegender Bedeutung seien. Zwar verfügte die Regierung Kim über das Konzept einer grundlegenden Politik gegenüber Nordkorea, aber sie besaß keinerlei Erfahrungen, wie diese Politik in der Praxis angewandt werden könnte. Diese Problematik trat bei der Gesprächsrunde von Vertretern der Regierungen beider koreanischer Staaten auf, die vom 14. bis 18. April 1998 in Peking stattfand und ohne konkretes Ergebnis abgebrochen wurde. Der Hauptgrund des Scheiterns war in erster Linie die Weigerung Nordkoreas, für die Lieferung von 200.000 Tonnen südkoreanischen Düngers einen kleinen Schritt der Entspannung zu unternehmen. Jedoch war das Verhalten der südkoreanischen Vertreter auch enorm kompromisslos. Sie wollten das Prinzip der Reziprozität gegen Nordkorea unbedingt durchsetzen. Damit war das erste innerkoreanische Gespräch unter der Regierung Kim Dae Jung fehlgeschlagen. Nach dieser Erfahrung legte das Ministerium für Wiedervereinigung im Juli 1998 die sechs konkreten Richtlinien der Politik gegenüber Nordkorea vor, die die Regierung Kim trotz der negativen Reaktion der nordkoreanischen Seite permanent durchzuführen versuchte: 306

1) Die Wiederbelebung des Grundsatzabkommens von 1991 durch innerkoreanischen Dialog

2) Die aktive wirtschaftliche Kooperation unter dem Grundsatz der Trennung von Wirtschaft und Politik

306 Wiedervereinigungsministerium, Bedeutung und Direktive der Sonnenscheinpolitik, Seoul 1998, S. 18-23. 151 3) Die sofortige Realisierung der Familienzusammenführungen

4) Die Anwendung der flexiblen Reziprozität bei der Hilfe an Nordkorea

5) Weitere Unterstützung für die Errichtung eines Leichtwasserreaktors in Nordkorea

6) Die Bildung einer friedlichen Sphäre auf der koreanischen Halbinsel Nach dem Scheitern der innerkoreanischen Gespräche unternahmen nordkoreanische Militärs statt der Entspannung mehrfach Provokationen. Im Sommer 1998 drang ein nordkoreanisches U-Boot in südkoreanische Gewässer ein. Das nordkoreanische Spionage-U-Boot verfing sich im Netz eines südkoreanischen Fischkutters. An Bord befanden sich neun Nordkoreaner, die sich umgebracht hatten. Eine Entschuldigung des Nordens blieb aus und Kim Dae Jung geriet wegen seiner versöhnlichen Haltung immer mehr in die Kritik. Dennoch kündigte er am 15. August 1998 an, trotz der nordkoreanischen Provokationen die Sonnenscheinpolitik weiter zu verfolgen.307 Daraufhin stellte Nordkorea Bedingungen für den erneuten Dialog, die früher beim innerkoreanischen Dialog ständig verlangt wurden und für die Regierung in Seoul nicht zu erfüllen waren: Südkorea sollte die Zusammenarbeit mit den US-Truppen aufkündigen und das nationale Sicherheitsgesetz aufheben. Was die Sonnenscheinpolitik in dieser Zeit auf eine harte Probe stellte, war das Seegefecht im Gelben Meer. Am 15. Juni 1999 kam es im Seegebiet vor Korea zu einem schwerwiegenden militärischen Zwischenfall. Dieser ereignete sich in einem Abschnitt des Gelben Meeres vor der Westküste der Halbinsel, den nicht nur Nordkorea, sondern auch Südkorea als ihr Hoheitsgewässer bezeichnen.308 Als die südkoreanische Marine versuchte, mehrere aus dem Norden stammende Boote, die als Geleitschutz von Fischerbooten seit dem 7. Juni mehrfach in von Südkorea beanspruchte Gewässer vorgedrungen waren, nach Norden abzudrängen, eröffnete ein nordkoreanisches Kriegsschiff das Feuer. Der südkoreanische Verband feuerte sofort zurück und versenkte zwei Boote aus dem Norden. Nach Angaben der koreanischen Marine kamen dabei mindestens 30 Nordkoreaner ums Leben. Das Ereignis im Gelben Meer überschattete zudem die für den 21. Juni in Peking stattfindenden neuen Gespräche beider koreanischer Regierungen, in die Nordkorea für den Preis von 200.000 Tonnen Düngermitteln eingewilligt hatten. Der Dialog auf der Ebene von Vizeministern konnte zwar eröffnet werden, aber das Gespräch wurde am 2. Juli ergebnislos abgebrochen, weil Nordkorea bei der Verhandlung den Vorfall im Gelben Meer als erstes Thema diskutieren wollte. Im Gegensatz zu Nordkorea bestand der Vertreter der

307 Vgl. Präsidialamt, Der Weg zur Überwindung der Staatskrise: Redensammlung der ersten 6 Monate nach dem Präsidentschaftsantritt Kims, Seoul 1998 S. 422/432. 308 In dem 1953 geschlossenen Waffenstillstandsabkommen für Korea war die Grenzziehung vor der Küste nicht eindeutig geregelt worden. 152 südkoreanischen Regierung auf dem Verhandlungsthema der Zusammenführung von seit dem Koreakrieg getrennten Familien. Mit dem Vorfall im Gelben Meer und dem Scheitern des zweiten Gespräches auf der Regierungsebene geriet Kim Dae Jung in Seoul wiederum in die Kritik, da ihm die Opposition das Festhalten an seiner Sonnenscheinpolitik vorwarf und ihn zu einer entschlossenen Reaktion auf die Provokationen des kommunistischen Nordens aufforderte: In Bezug auf die ausbleibenden positiven Signale aus Pjöngjang sollte, so die Forderung, die naive und für den Süden gefährliche Politik aufgegeben werden. Trotz der scharfen Kritik der oppositionellen Partei und der konservativen Presse plädierte Kim Dae Jung für vertrauensbildende Maßnahmen und die schrittweise Annäherung beider koreanischer Staaten und wiederholte erneut die drei Grundprinzipien der Sonnenscheinpolitik. Damit zeigte er sowohl den Willen Südkoreas, das Prinzip der Nichtduldung nordkoreanischer Provokationen durchzusetzen, als auch die Entschlossenheit der Regierung Kims, unter allen Umständen den Kurs der Sonnenscheinpolitik beizubehalten. Die obige Darstellung bedeutet keineswegs, dass es in dieser Zeit nur negative Zeichen zwischen dem Süden und dem Norden gab. Im Unterschied zu den ergebnislosen Gesprächen auf Regierungsebene gestaltete sich die Zusammenarbeit zwischen Nordkorea und südkoreanischen Unternehmern positiv. Südkoreanischer Exponent der Zusammenarbeit mit Nordkorea war an erster Stelle der Hyundai-Konzern, der plant, den in Nordkorea liegenden Gumgang-Berg in ein internationales Touristenziel zu verwandeln. Der Meilenstein für die Realisierung des Hyundai-Projektes war die Lieferung von 500 Rindern über die Grenze. Am 16. Juni 1998 lieferte der 82jährige südkoreanische Unternehmer Chung Ju Young, Gründer und Ehrenvorsitzender des Hyundai-Konzerns, zur Versorgung der hungernden Bevölkerung 500 Rinder nach Nordkorea. Als Gegenleistung Nordkoreas durfte der aus dem Norden stammende Chung, der als 17jähriger eine Kuh seiner Familie stahl, sie verkaufte und mit dem Geld allein in den Süden ging, eine Woche lang seine alte Heimat besuchen. Bei seinem Besuch sprach der Hyundai-Gründer über das Tourismusprojekt, indem er seine Idee der Entwicklung des Gumgang-Berges unweit der Grenze vorstellte. Seit seiner Reise in den Norden 1998 träumte er von Hotels und Ausflugsschiffen, Golfplätzen und Kaufhäusern für die interessierten Touristen aus dem Ausland: eine Reise nach Nordkorea als letztes exotisches Abenteuer in einer ansonsten längst erschlossenen Reisewelt.309 Außerdem äußerte Chung Ju Young vor dem Grenzübergang seinen Wunsch, dass es sich hier nicht um den Heimatbesuch einer Einzelperson, sondern um die Grundsteinlegung zum Frieden und zur

309 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Juni 1998, S. 10. 153 Versöhnung zwischen dem Norden und dem Süden handele.310 Diesen Aktionen wurde sowohl in den sowohl nationalen als auch den internationalen Medien eine ernorm hohe Aufmerksamkeit entgegengebracht. So unterzeichnete Chung Ju Young beim zweiten Besuch in Nordkorea Ende Oktober 1998 nach dem Treffen mit dem nordkoreanischen Staatschef Kim Jong Il mehrere Geschäftsverträge: Der Hyundai-Konzern erhielt gegen eine bis 2004 gestaffelte Zahlung von rund 900 Millionen US-Dollar die Genehmigung für den Aufbau und die Nutzung eines Touristenzentrums am Gumgang-Berg an der nordkoreanischen Ostküste, das Kreuzfahrt-Touristen aus Südkorea zur Verfügung stehen soll, nachdem er den Nordkoreanern als Gastgeschenk weitere 500 Rinder sowie 50.000 Tonnen Getreide geliefert hatte. Nach dem Vertrag lief das Luxus-Kreuzfahrtschiff „Hyundai Gumgang“ am 18. November 1998 vom südkoreanischen Ostküstenhafen Donghae nach Nordkorea aus. An Bord waren 889 Passagiere, 200 Begleiter und 482 Besatzungsmitglieder. Es war die erste organisierte touristische Reise von Süd nach Nord nach der Teilung der Halbinsel vor 50 Jahren.311 Die fünftägige „historische“ Fahrt des Kreuzfahrtschiffs führte von Donghae an Südkoreas Ostküste zwölf Stunden durch überwachtes Gewässer zum Hafen von Changjon an Nordkoreas Ostküste. Die unweit der hochgesicherten innerkoreanischen Grenze gelegte Hafenstadt Changjon war das Tor zu dem sagenumwobenen Gumgang-Berg, der Symbol und Quelle nostalgischer Verehrung im Norden wie im Süden war. Für die meisten der Passagiere war es der erste Besuch im Nordteil der Halbinsel. Nach dem Koreakrieg, der mehrere Millionen Familien schmerzlich auseinander riss, wurde Nordkorea hermetisch abriegelt. Viele betrachteten die Reise mit Hyundai als letzte Gelegenheit, heimischen Boden zu betreten, auch wenn sie dabei ihre Verwandten nicht treffen, nicht einmal mit Menschen in Nordkorea sprechen durften. Trotz der eisernen Besucherregel wurde die Reise zum Gumgang-Berg an der nordkoreanischen Ostküste zu einem Markstein in der innerkoreanischen Geschichte. Mittlerweiler wurde die teure Kreuzfahrt durch die See abgebrochen, und durch die kostengünstige Busfahrt auf einer neu gebauten Straße ersetzt. Die Busfahrt nach Nordkorea wurde eines der beliebtesten Reiseziele in Südkorea. Dabei dient die Reise heutzutage für viele Jugendlichen und Studenten, die den Koreakrieg nicht erlebten und vom Schmerz der Teilung keine Vorstellung haben, als gute Chance für das richtige Verständnis der heutigen Lage um die koreanische Halbinsel. Dieser sichtbare Erfolg führt in erster Linie zwar auf die finanzielle Notwendigkeit Nordkoreas zurück, aber es wäre unmöglich, wenn die südkoreanische Regierung nicht auf

310 Lee Won Sep, a. a. O., S. 63. 311 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. November 1998, S. 3. 154 der wirtschaftlichen Kooperation mit dem Grundsatz der strengen Trennung von Wirtschaft und Politik beharrte, obwohl die beiden Gespräche auf Regierungsebene in den Jahren 1998 und 1999 gescheitert waren. Jede wirtschaftliche Zusammenarbeit und Kooperation zwischen Nord und Süd wurde von der Regierung Kim Dae Jung begrüßt und unterstützt. Davon erhoffte man sich eine Verbesserung der Wirtschaftbeziehungen und ein wenig mehr Entgegenkommen der auf Distanz bedachten Nachbarn als deutliche Zeichen der südkoreanischen Sonnenscheinpolitik. In der Tat legte das südkoreanische Handelsvolumen mit dem Norden in dieser Zeit kräftig zu. Im Jahr 1999 betrug es etwa 330 Millionen Dollar. Zum Ende des Jahres 1999 waren 581 südkoreanische Unternehmen, die mit dem Norden Handel trieben, im Wiedervereinigungsministerium registriert. Rund 9.000 südkoreanische Gesandte, meist in privatwirtschaftlicher Mission, besuchten seit Februar 1998 Nordkorea. 312 Die Besucherzahl der vorangegangenen neun Jahre vervierfachte sich.313 Schließlich betrug die Zahl der südkoreanischen Touristen zum Gumgang-Berg vom Reisebeginn bis Ende 1999 ca. 160.000 Menschen.314 Im Gegensatz zum erkennbaren Erfolg auf wirtschaftlichem Gebiet hatte die Sonnenscheinpolitik Kims politisch weit weniger positive Ergebnisse aufzuweisen. Trotzdem hat die Regierung Kim Dae Jung die Politik zur Verbesserung der Beziehungen zu Nordkorea und zur Verwirklichung der Entspannung und Koexistenz auf der Halbinsel nicht aufgegeben. Bei der Ansprache an Neujahr 2000 schlug Kim Nordkorea im Rahmen der Sonnenscheinpolitik vor, nationale Forschungsinstitute beider Seiten zu beraten, um eine „Wirtschaftsgemeinschaft zwischen Süd- und Nordkorea“ zu bilden.315 Durch den Vorschlag zur Vorbereitung der innerkoreanischen Wirtschaftsgemeinschaft wies der südkoreanische Präsident ausdrücklich darauf hin, dass die Regierung Kim zuerst die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Nordkorea vorantreiben will. Außerdem war der Hintergrund des Vorschlages die Möglichkeit, dass die Zusammenarbeit im wirtschaftlichen Bereich zu Fortschritten im politischen Bereich führen könnte.316

Während eines Aufenthaltes in Deutschland vom 8. bis 10. März 2000, eine Zwischenstation während einer Europareise, strebte der südkoreanische Staatpräsident Kim Dae Jung nicht nur danach, um weitere Investitionen nach Südkorea zu werben, sondern auch, seine künftige Politik gegenüber Nordkorea zu betonen. Beim Vortrag, den er am 9. März in der FU Berlin

312 Wiedervereinigungsministerium, Weißbuch 2000, Seoul 2000, S. 31. 313 Im Zeitraum zwischen 1989 und 1997 besuchten insgesamt 2,400 Menschen aus Südkorea nach Nordkorea. 314 Wiedervereinigungsministerium, Weißbuch 2000, Seoul 2000, S/ 31. 315 Wiedervereinigungsministerium, Weißbuch 2001, Seoul 2001, S. 333. 316 Vgl. Presse- und Informationsamt, a. a. O., S. 323f. 155 hielt, stellte Kim seine Wiedervereinigungspolitik genauer vor. Kim appellierte in seiner Ansprache daran, dass es an der Zeit sei, die Phase des Kalten Krieges auf der koreanischen Halbinsel zu überwinden, um zu einer friedlichen Koexistenz zu kommen. Kim Dae Jung wiederholte dabei noch einmal nachdrücklich, dass die friedliche Koexistenz statt sofortiger Wiedervereinigung sein vorrangiges Ziel sei. Zudem verkündete er die „Berliner Deklaration“, die folgende vier Punkte beinhaltet:317

1. Die Republik Korea ist bereit, Nordkorea bei der Überwindung seiner wirtschaftlichen Probleme zu helfen. 2. Ziel der Republik Korea ist die Beendigung des Kalten Krieges und die Sicherung des Friedens auf der koreanischen Halbinsel 3. Nordkorea muss bei der Lösung des Problems der geteilten Familien helfen. 4. Nordkorea wird aufgefordert, den Austausch zwischen Sondergesandten beider Länder zuzulassen.

Dass Kim Dae Jung in Berlin, wo Nordkorea noch eine diplomatische Vertretung hat und das Hauptort der deutschen Wiedervereinigung war, über seine künftige Politik gegenüber Nordkorea sprach, hat eine symbolische Bedeutung.318 Diesmal reagierte Nordkorea auf die Berliner Deklaration mit positiven Zeichen und einen Monat später kam es überraschend am 10. April zu einer Vereinbarung319 zwischen Nord- und Südkorea über ein Gipfeltreffen im Juni. Der südkoreanische Staatpräsident Kim Dae Jung besuchte dann tatsächlich vom 12. bis 14. Juni Pjöngjang und konferierte im Rahmen der ersten Gipfelbegegnung seit dem Koreakrieg mit dem nordkoreanischen politischen Führer Kim Jeong Il. Von dieser plötzlichen Einladung aus dem Norden zeigte sich Kim Dae Jung überrascht, hielt dabei mit dieser historischen Begegnung seine Sonnenscheinpolitik für gerechtfertigt. Die Ankündigung wurde vor allem in Washington, Moskau und Tokio begrüßt und das Gipfeltreffen wurde anschließend als Element der sicherheitspolitischen Stabilisierung in Ostasien gewertet.320 Durch diese Ankündigung des Gipfeltreffens konnte der Staatpräsident Kim bisherige Vorwürfe gegen die Sonnenscheinpolitik entkräften. Die Opposition und konservative Presse warfen ihm zuvor heftig vor, dass die Sonnenscheinpolitik der langsamen Öffnung und Annäherung zu Nordkorea keine politischen Resultate brachte.

317 Wiedervereinigungsministerium, Weißbuch 2001,$Seoul 2001, S. 350f. 318 Vgl. Gottfrimd-Karl Kindermann, a. a. O., S. 325f. 319 Vgl. Wiedervereinigungsministerium, Weißbuch 2003, Seoul 2003, S. 70. 320 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. April 2000, S. 1f. und „der Spiegel“ vom 17. April 2000 (16/2000), S. 214. 156

4.2.2. Die Sonnenscheinpolitik und das innerkoreanische Gipfeltreffen

4.2.1. Die Vorgeschichte des innerkoreanischen Gipfeltreffens Um das ganze Gipfeltreffen besser zu verstehen und die historische Begegnung richtig zu beurteilen, ist erforderlich, herauszufinden, wie das Gipfeltreffen unter damaligen Umständen überhaupt zustande kam. Um diese Frage richtig beantworten zu können, muss man die Vereinbarung des Gipfeltreffens vom April 2000 aus der Nähe betrachten. Denn die Antwort auf diese Frage wurde mehr oder weniger gegeben, als der südkoreanische Minister für Kultur und Tourismus Park Jie Won am 10. April 2000 das erste Gipfeltreffen bekannt gab. Bei der Bekanntmachung plädierte Minister Park, dass zuerst zwar Nordkorea Bereitschaft für ein geheimes Gespräch auf der Regierungsebene signalisierte. Aber der Norden wollte nur mit einem Abgesandten aus dem engsten Kreis um den südkoreanischen Präsidenten Kim Dae Jung verhandeln. Aus diesem Grund wurde ihm der Auftrag gegeben, obwohl er kein Nordkorea-Experte war. Park Jie Won gehörte seit 17 Jahren zu den engsten Vertrauten Kim Dae Jungs. Park traf sich sechsmal mit seinem Verhandlungspartner Song Ho Kyong, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Asien-Pazifik-Friedenskomitees. Zur Verhandlung setzten sie sich in Shanghai und in Peking zusammen. Das Hauptthema des Gespräches bestand ausdrücklich darin, den Weg für das erste innerkoreanische Gipfeltreffen freizumachen. Die nordkoreanische Bedingung für die Aufnahme der Verhandlung war eindeutig, dass das ganze Gespräch geheim bleiben sollte und nichts an die Öffentlichkeit dringen dürfte. Daher wussten Chinesen und Amerikaner offenbar nicht, dass die Verhandlung zwischen beiden koreanischen Staaten in China verlaufen war. Im Gegensatz zur bisherigen nordkoreanischen Verhandlungsweise seien die Gespräche von Anfang an freundlich und vertrauensvoll gewesen. Daran erinnerte sich Park bei der Bekanntmachung des Treffens rückblickend. Durch solche geheimen Verhandlungen kam die historische Gipfelbegegnung zwischen Kim Dae Jung und Kim Jeong Il zustande.321

Wie oben dargestellt, kam das erste Signal zu den Gesprächen von der nordkoreanischen Seite, und die Nordkoreaner änderten bei den Gesprächen ihre bisherige Verhandlungsmethode. Dies weist offensichtlich darauf hin, dass die Nordkoreaner in Pjöngjang die südkoreanische Sonnenscheinpolitik, die bis dahin keine politischen Ergebnisse herbeiführte, auf der politischen Ebene annahmen und eventuell den außenpolitischen Kurswechsel antraten, der sicherlich aus der wirtschaftlichen und finanziellen Notlage in

321 Vgl. Wiedervereinigungsministerium, Weißbuch 2003, Seoul 2003, S. 69f. 157 Nordkorea resultierte. Das Zeichen der nordkoreanischen Kursänderung war bereits zuvor zu erkennen: Nordkorea suchte auffällig den Kontakt zu anderen Ländern. In Berlin ließ sich Nordkorea bei den Gesprächen mit Vertretern Washingtons auf das Moratorium seiner Raketentests ein. Im Januar 2000 wurden diplomatische Beziehungen mit Italien aufgenommen. Es war das erste G-8-Land, das seine Beziehungen zum kommunistischen Nordkorea normalisierte. Zudem waren auch Gespräche mit Australien im Gang, die später zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen führten. Insofern ist die Vereinbarung des innerkoreanischen Gipfeltreffens in erster Linie auf die ständigen Bemühungen der südkoreanischen Regierung um die Verbesserung der Beziehung zu Nordkorea, nämlich die Sonnenscheinpolitik, und auf die Veränderung des außenpolitischen Kurses Nordkoreas zurückzuführen.

4.2.2.2. Das innerkoreanische Gipfeltreffen Vom 13. bis 15. Juni 2000 fand in der nordkoreanischen Hauptstadt das erste Treffen der politischen Führer beider koreanischen Staaten, die sich formaljuristisch seit 1950 im Kriegszustand befinden, statt. Das Gipfeltreffen, das ursprünglich für den Zeitraum vom 12. bis 14. Juni geplant war, verschob sich auf Wunsch Nordkoreas aus technischen Gründen um einen Tag, es begann am 13. Juni in Pjöngjang. Vor dem Abflug äußerte sich der südkoreanische Präsident Kim auf dem Flughafen folgendermaßen: „Ich reise mit einem Herzen, das in Liebe zu unserem Volk brennt, und mit einer ruhigen Geisteshaltung, auf die ich die Wirklichkeit klar erfassen kann.“ Außerdem drückte er die Hoffnung aus, dass der Gipfel zum Wendepunkt für die koreanischen Staaten werde, und helfe, Kriegsgefahren zu beseitigen und den Kalten Krieg auf der Halbinsel zu beenden, so dass alle Koreaner in Süd und Nord in Frieden leben könnten. Schließlich sagte Kim zu den Inhalten seiner Gespräche mit dem nordkoreanischen Staatschef, dass es nur darum gehe, Austausch und Kooperation auf allen Gebieten, nämlich Politik, Wirtschaft, Kultur, Tourismus und Umwelt, voranzutreiben. Die Delegation, die aus 130 Personen aus Politik und Wirtschaft sowie 50 südkoreanischen Journalisten bestand, begleitete Kim Dae Jung auf der Reise nach Nordkorea.

Der Flug von Seoul nach Pjöngjang war der erste Direktflug seit der Teilung der koreanischen Halbinsel im Jahr 1948. Die beiden Hauptstädte sind nur knapp 200 Kilometer voneinander entfernt. Trotzdem dauerte die Reise etwas mehr als eine Stunde, weil die Maschine in

158 weitem Bogen um die militärisch hochgesicherte Grenzzone geleitet wurde. Auf dem Flughafen Sunhan, der von der nordkoreanischen Hauptstadt etwa 22 Kilometer entfernt ist, kam es zu einem „historischen Händedruck“322 zwischen Kim Jeong Il und Kim Dae Jung, als der nordkoreanische Parteichef unerwartet persönlich auf das Rollfeld kam, um seinen Gast zu begrüßen. Hunderttausende Menschen säumten die Straßen, als die Politiker danach in das Gästehaus der nordkoreanischen Regierung fuhren. Die Frauen trugen den Hanbok, die traditionelle Festtagskleidung, und schwenkten rosafarbene Papierazaleen, die Nationalblume Nordkoreas. Das erste Gespräch zwischen beiden Staatschefs fand bei der gemeinsamen Fahrt, die zuvor in Seoul nicht erwartet wurde, vom Flughafen zur nordkoreanischen Hauptstadt statt. Anschließend kam es im Baekhwawon-Gästehaus zu kurzen Gesprächen zwischen den politischen Führern in einer entspannten Atmosphäre. Vor den Gesprächen appellierte Kim Dae Jung in einer kurzen, vorsichtig ausgedrückten, aber ernorm emotionalen Rede an die nordkoreanischen Bürger: „Wir sind ein Volk, wir teilen dasselbe Schicksal. Lasst uns fest an Händen halten. Ich liebe euch alle.“ Zum Schluss betonte er, dass man nun gemeinsam nach Wegen suchen werde, Nord- und Südkoreanern ein friedliches und besseres Leben zu ermöglichen. Am Nachmittag traf sich der südkoreanische Gast Kim Dae Jung mit dem Vorsitzenden der Obersten Volksversammlung, Kim Young Nam, der vor allem eine repräsentative Rolle nach Außen hat und in der nordkoreanischen Machthierarchie als zweiter Mann betrachtet wurde. Am selben Abend wurde ein Bankett zu Ehren des südkoreanischen Staatspräsidenten geben.

Am folgenden Tag verhandelten die beiden Staatsoberhäupter in zwei Sitzungen bis in den Abend. Bei den Sitzungen forderte Kim Dae Jung Nordkorea auf, den Austausch und die Kooperation mit dem Ziel der Wiedervereinigung voranzutreiben, die die höchste Aufgabe der koreanischen Nation sei. Darüber hinaus unterstrich er ausdrücklich, dass es für Nordkorea ernorm wichtig sei, die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und zu Japan zu verbessern. Schließlich verwies er auf die Bedeutung der bestehenden Vereinbarungen zwischen dem Süden und Norden, die gemeinsame Erklärung vom 4. Juli 1972 und den Grundlagenvertrag von 1991, die es anzuwenden gelte. An der Verhandlung waren neben Kim Dae Jung drei weitere Südkoreaner beteiligt: Lim Dong Won, ein Staatsberater des Präsidenten, Hwang Won Tak, zuständig für die nationale Sicherheit und Diplomatie, sowie Lee Ki Ho, ein wirtschaftlicher Berater des südkoreanischen Staatsoberhaupts. Auf der nordkoreanischen Seite nahm neben Kim Jeong Il nur der Vorsitzende des Asien-Pazifik-

322 Frankfurt Allgemeine Zeitung vom 13. Juni 2000, S. 1. 159 Friedenskomitees, Kim Young Sun am Gespräch teil. Am Ende der Verhandlungen erzielten die Teilnehmer eine historische Einigung und unterzeichneten diese anschließend.

Das Ergebnis des ersten und wahrhaft historischen innerkoreanischen Gipfeltreffens war eine gemeinsame Erklärung, die am 15. Juni in Pjöngjang bekannt gegeben wurde. Diese gemeinsame Erklärung beinhaltet in erster Linie fünf Punkte. Erstens einigten sich der Norden und der Süden, die Frage der Wiedervereinigung Koreas unabhängig und mit den vereinigten Kräften des koreanischen Volkes zu lösen, das der Souverän des Landes ist. Zweitens wurde festgestellt, dass die jeweiligen Pläne für die Wiedervereinigung ein gemeinsames Element aufweisen: Der Süden verfolgt eine Konföderation, der Norden eine lockere Föderation. Drittens wurden Gespräche über eine Zusammenführung getrennter Familien und die Amnestierung politischer Gefangener in Südkorea beschlossen. Viertens wurde die Entwicklung gegenseitiger Wirtschafts- und Kulturbeziehungen vereinbart. Um die Vereinbarung in die Tat umzusetzen, sollten schließlich Gespräche zwischen den Behörden beider Seiten in naher Zeit stattfinden. Neben den fünf vereinbarten Punkten sollte der nordkoreanische Parteichef Kim Jeong Il einen Gegenbesuch im Süden zu einem geeigneten Zeitpunkt abstatten.323

Nach den erfolgreichen Gesprächen äußerte der südkoreanische Präsident Kim, der am selben Abend ein Staatsbankett für die Nordkoreaner gab, in einer kurzen Tischrede: „Jetzt können wir die Grenze beseitigen, wenn wir es nur versuchen. Wir haben eine Mission zu erfüllen. Eine Ära der Aussöhnung und Kooperation kann nun beginnen. Wie sind am Start, die Gespräche können beginnen. Wir müssen der Welt zeigen, dass wir zur Aussöhnung und Kooperation in der Lage sind. Der Grundstein ist gelegt.“ Anschließend erwiderte Kim Young Nam die Rede Kim, dass die drei Tage seines Besuches in die Geschichte eingehen würden. Außerdem äußerte er sich in emotionalem Ton: „Wir sind ein Volk, wir teilen eine gemeinsame Zukunft. Wenn wir zusammenarbeiten, können wir viel erreichen.“ Am Abendessen nahm auch der nordkoreanische Staatschef Kim Jeong Il teil, der mit Kim Dae Jung und seiner Frau an einem Tisch saß. Er zeigte der südkoreanischen Delegation, dass seine Macht in Nordkorea außerordentlich fest ist, indem er den anwesenden Generalen und hochrangigen Politikern Nordkoreas spontan kommandierte, Wein ins leeren Glas Kim Dae Jungs einzuschenken und auf sein Wohl anzustoßen.

Am Nachmittag des letzten Tages in Pjöngjang verabschiedete sich der südkoreanische Präsident Kim vom nordkoreanischen Gastgeber Kim auf dem Flughafen mit einer

323 Wiedervereinigungsministerium, Weißbuch 2001, Seoul 2001, S. 42f. 160 Umarmung. Bei der Fahrt zum Flughafen säumten wieder zehntausende Menschen die Straßen in der nordkoreanischen Hauptstadt. Nach der Landung auf dem Flughafen in Seoul, wo ihn eine große Delegation zum umjubelten Empfang erwartete, fasste Kim Dae Jung in einer knappen Rede seine Gedanken nach dem erfolgreichen Gipfeltreffen zusammen: „Ich bin heute überzeugt, dass die Wiedervereinigung möglich ist. Wir können die Einheit nicht morgen anstreben. Wir müssen zunächst auf Luft-, Land- und Wasserwegen kooperieren, den Austausch und die Zusammenarbeit vorantreiben. Wir müssen geduldig sein und uns Schritt für Schritt auf die Einheit bewegen.“ Seine Botschaft appellierte ans Gefühl: „Nordkorea ist Korea. Die Nordkoreaner sind Koreaner. Die Menschen im Norden sind die gleichen wie die im Süden. Wir sind ein Volk.“ 324

4.2.2.3. Die Bewertung des innerkoreanischen Gipfeltreffens Der südkoreanische Staatpräsident Kim Dae Jung konnte durch das innerkoreanische Gipfeltreffen und die sich daraus ergebende gemeinsame Erklärung vom 15. Juli einen großen Erfolg für seine Sonnenscheinpolitik erzielen. Nach dem Gipfeltreffen stimmten mehr als 90 Prozent der südkoreanischen Bevölkerung der Sonnenscheinpolitik zu. Im Gegensatz zu seinem Amtsvorgänger Kim Young Sam änderte Kim Dae Jung trotz der militärischen Provokation und Verweigerungshaltung Nordkoreas den im Rahmen der Sonnenscheinpolitik eingeschlagenen Kurs nicht. Jedoch war das Gipfeltreffen nicht nur für Kim Dae Jung ein großer Gewinn, sondern auch für den nordkoreanischen Staatschef Kim Jeong Il. Da er sich zuvor kaum in der Öffentlichkeit zeigte, war er eines der geheimnisvollsten Staatsoberhäupter der Erde. Er wurde sogar lange in der internationalen Öffentlichkeit als gefährlicher Halbirrer dämonisiert325 oder als kranker und gestörter Mann dargestellt, der sein Land noch nie verlassen hat.326 Er demonstriert ganz im Gegenteil durch die Live-Fernsehübertragungen, dass er sowohl menschlich, gelassen und zum Scherzen aufgelegt war, als auch, dass er ein rationaler Verhandlungspartner war. Damit konnte er sein bisheriges Image des öffentlichkeitsscheuen und tyrannischen Diktators teilweise aufbessern und der Welt zeigen, dass er trotz aller Probleme nach wie vor die unangefochtene Macht in Nordkorea ausübte.

In der Tat brachte das dreitägige Gipfeltreffen in Pjöngjang den Südkoreanern mehr als man in Südkorea erwartete hatte. Mehrere Millionen Südkoreaner setzten sich vor den Fernseher und verfolgten die vielen Bilder von Pjöngjang. Vor allem unmittelbar nach der historischen

324 Präsidialamt, Redesammlung vom Präsidenten Kim Dae Jung, Bd. 3. Seoul 2003, S. 329f. 325 Süddeutsche Zeitung vom 14. Juli 2000, S. 4. 326 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. Juli 2000, S. 16. 161 Unterzeichnung der gemeinsamen Erklärung zeigte das Fernsehen, dass der südkoreanische Präsident Kim die Hand Kim Jeong Ils in die Höhe hielt und in den Saal rief: „Ich kann berichten, dass wir eine vollständige Einigung erzielt haben.“ Dann folgten donnernder Applaus und zuckende Kamerablitze. Solche Bilder wurden in Seoul vorher für unvorstellbar gehalten. Jedoch riefen die vielen außergewöhnlichen Bilder aus Pjöngjang bei der südkoreanischen Bevölkerung gemischte Gefühle hervor: Die jubelnden Massen an der Straße in Pjöngjang und die rote Fahne am Flughafen waren einerseits offensichtlich ein Zeichen, dass für Nordkorea das Gipfeltreffen enorm wichtig war. Anderseits zeigte hier eine kommunistische Diktatur ihre Macht, während die Landsleute verhungerten oder aus Verzweiflung über die Grenze nach China flüchteten. In der Tat gab das innerkoreanische Gipfeltreffen der südkoreanischen Bevölkerung den Anlass dazu, Nordkorea anders als bisher zu beurteilen. Vor allem nach der Bekanntmachung der „gemeinsamen Erklärung vom 15. Juni“ verbreitete sich in der südkoreanischen Gesellschaft der Gedanke, dass Nordkorea einerseits durch die richtige Einschätzung der nordkoreanischen Lage wahrhaftig beurteilt werden sollte. Anderseits sollten die Nordkoreaner durch die Ablegung des Kalten-Krieg- Denkens als selbe Nation betrachten werden, und Südkorea sollte daher mit ihnen je nach den Angelegenheiten kooperieren.327 Im Grunde genommen führten diese Gedanken zu einer Selbstkritik: Neben der hauptsächlichen Problematik der abgeriegelten Gesellschaft Nordkoreas wurden auch die unter der Militärdiktatur enorm negativ manipulierten Vorstellungen über Nordkorea als nach wie vor vorhanden gesehen. Diese hätten die Bildung von nicht von antikommunistischen Vorurteilen bestimmten Meinungen in der südkoreanischen Öffentlichkeit verhindert.

Trotz der positiven Stimmung der innerkoreanischen Entspannung und der großen Hoffnungen auf die Wiedervereinigung nach dem Gipfeltreffen wurde die gemeinsame Erklärung vom 15. Juni in der in- und ausländischen Öffentlichkeit kritisiert, weil sie hinter das 1991 vereinbarte, aber niemals umgesetzte innerkoreanische Grundlagenabkommen sowie die begleitende Erklärung über eine nichtnukleare koreanische Halbinsel zurückfiel. In der Tat findet sich in der zum guten Teil recht vage gehaltenen gemeinsamen Erklärung nichts über kontroverse Themen wie die nordkoreanischen Raketen- und Atomwaffenprogramme.328 Zu diesem Kritikpunkt nahm Kim Dae Jung offenbar Abstand von früheren Vereinbarungen, die an zu hoher Zielsetzung gescheitert waren. In Seoul plädierte er dafür, es sei notwendig, von den Abkommen aus dem Jahr 1972 und 1991 abzurücken und einen praktischeren und

327 Lee Won Sep, a. a. O., S. 166. 328 Patrick Köllner, Die beiden Koreas und die Vereinigungsfrage, in: Thomas Kern, Patrick Köllner (Hrg.), Südkorea und Nordkorea, Frankfurt 2005, S. 296f. 162 konkreten Ansatz zu verfolgen: „Blumige Worte können nicht länger das Vertrauen des koreanischen Volkes und der Welt gewinnen.“329 Insofern setzten sich die beiden koreanischen Staatsführer bei den Gesprächen in Pjöngjang bei den gemeinsamen, relativ unstrittigen Fragen ein, in denen sich ein Konsens leichter erzielen lässt. Daher blieben die komplizierten Punkte, wie z.B. das Nuklear- und Raketenprogramm der Nordkoreaner und das südkoreanischen Nationale Sicherheitsgesetz, in der gemeinsamen Erklärung vom 15. Juli nicht berührt.

Eine sehr wichtige Errungenschaft des Gipfeltreffens war die nordkoreanische Stellungnahme zu der Anwesenheit amerikanischer Streitkräfte in Südkorea. Im Lauf des Gipfeltreffens zeigte der nordkoreanische Chef Kim Jeong Il Verständnis für die Argumente von Kim Dae Jung für die positive Rolle der amerikanischen Truppen. Der südkoreanische Präsident begründete, dass diese Streitkräfte nach der Wiedervereinigung erforderlich seien, um das Gleichgewicht der Kräfte in Ostasien aufrechtzuerhalten. Deren Rückzug aus Japan und Südkorea würde das Gleichgewicht der Mächte in der gesamten Region erheblich gefährden. Dieses positive Verständnis der künftigen Rolle der US-Truppen in Südkorea vergrößerte allerdings die Handlungsspielräume in der Sicherheitspolitik.

Nach der großen Begeisterung über das innerkoreanischen Treffen und die zum Teil schnelle Realisierung der gemeinsamen Erklärung vom 15. Juni folgte die große Enttäuschung auf das Gipfeltreffen, als die Staatsanwaltschaft nach einer Sonderermittlung bekannt gab, dass die Regierung Kim trotz gesetzlicher Probleme dem Hyundai-Konzern, der angesichts der engen Zusammenarbeit mit Nordkorea der Regierung nahe stand, die Genehmigung zum Transfer von 500 Millionen US-Dollar an die nordkoreanische Führung erteilt hatte. Nach den Angaben der Staatanwaltschaft wurden 400 Millionen US-Dollar von dem Hyundai-Konzern zur Belohnung für den Gewinn des umfangreichen Unternehmungsrechtes in Nordkorea und 100 Millionen US-Dollar von der südkoreanischen Regierung bezahlt.330 Vor dem Beginn der staatsanwaltschaftlichen Sonderermittlung, die von der oppositionellen Partei in der Nationalversammlung durchgesetzt wurde, konzedierte Staatspräsident Kim Dae Jung, dass er das Geld und die Zahlung als humanitäre Hilfsaktion für die unter der wirtschaftlichen Not leidenden Nordkoreaner betrachtete. Er sah diese Maßnahme als notwendigen Schritt an, der sich in absehbarer Zeit für den Frieden auf der koreanischen Halbinsel und die Zusammenarbeit mit Nordkorea enorm positiv auswirken werde. Aber durch diese geheime

329 Präsidialamt, Redesammlung vom Präsidenten Kim Dae Jung, Bd.3. Seoul 2003, S. 331. 330 Lee Won Sep, a. a. O., S. 88f. 163 Aktion der Regierung Kim Dae Jung verblich die positive Bedeutung des innerkoreanischen Gipfeltreffens und das persönlichen Ansehen Kim Dae Jungs.

Abgesehen von der illegalen Geldüberweisung an Nordkorea und der Zahlung für das vereinbarte Gipfeltreffen könnte man im Allgemeinen der Behauptung zustimmen, dass das innerkoreanische Gipfeltreffen und die daraus resultierenden gemeinsamen Vereinbarungen vom 15. Juni 2000 als der Startpunkt einer innerkoreanischen Detente im Rahmen der Sonnenscheinpolitik gelten.331 Mit anderen Worten: Das innerkoreanische Gipfeltreffen legte die Basis für einen enorm intensiven Austausch und eine Kooperation auf den Gebieten der Politik, der Wirtschaft, der Kultur und des Militärs im Verlauf der folgenden Jahre. Dies wird durch die ausführliche Darstellung der Ergebnisse der Kooperation in verschiedenen Fragen im folgenden Abschnitt überprüft.

4.2.3. Sonnenscheinpolitik nach dem Gipfeltreffen Nach der gemeinsamen Erklärung vom 15. Juni kam es zu zahlreichen innerkoreanischen Gesprächen auf verschiedenen Ebenen und zu Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen. Die südkoreanische Bevölkerung staunte sehr über die rasche Realisierung der gemeinsamen Erklärung vom 15. Juni und den unaufhaltsamen Fortschritt der innerkoreanischen Verhandlungen. Unmittelbar nach dem Gipfel stellten Südkorea und Nordkorea zuerst an der entmilitarisierten Zone die Lautsprecher ab, die gegenseitig propagandistische Schmähungen übertrugen. Am 15. August 2000 fand zudem die erste Runde der seit 1985 zum ersten Mal organisierten Familienzusammenführungen statt. Über die Zusammenführung der durch die Teilung der koreanischen Halbinsel zwangsweise getrennten Familien wurden bis zum Ende der Amtzeit Kim Dae Jungs insgesamt sechs Runden abgehalten. Schließlich konnte bereits im September 2000 die Eisenbahnverbindung zwischen Munsan und der entmilitarisierten Zone in Angriff genommen werden.

Einer der größten Erfolge des innerkoreanischen Gipfeltreffens war die regelmäßige Abhaltung der Ministergespräche. Wie in der gemeinsamen Erklärung vom 15. Juni vereinbart, wurde das erste Ministergespräch im Juli 2000 in Seoul abgehalten, und danach wurden bis Ende 2000 drei weitere Gespräche geführt.332 Diese Ministerkonferenzen spielten bei den Verhandlungen über die innerkoreanische Zusammenarbeit und den Austausch in den wirtschaftlichen, militärischen, politischen und sozialen Bereichen die entscheidende Rolle.

331 Marc Oliver Dugge, a. a. O., S. 35. 332 Die Ministerkonferenz fand in der Zeit zwischen dem Gipfeltreffen (14.-16. Juni 2000) und dem Amtsende Kim Dae Jungs (24. Februar 2003) insgesamt neun Mal statt. 164 Nach der Ministerkonferenz folgten in der Regel angeschlossene Arbeitsgespräche für die Realisierung des Verhandlungsergebnisses. Beim Ministergespräch wurden außerdem Entscheidungen für das erste Treffen der beiden koreanischen Verteidigungsminister und für die Gründung des Komitees für die Förderung des innerkoreanischen Wirtschaftsaustauschs getroffen, damit günstige Rahmenbedingungen für die Fortsetzung des innerkoreanischen Dialoges geschaffen werden konnten.

Nicht nur der innerkoreanische Dialog sondern auch das Dialog zwischen Nordkorea und den USA wurde positiv fortgesetzt. Am 8. Oktober 2000 besuchte der nordkoreanische Spitzenpolitiker Jo Myong Rok, Stellvertretender Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates und „rechte Hand“333 des nordkoreanischen Staatchefs Kim Jeong Il, die Vereinigten Staaten und führte mit Präsident Clinton ein Gespräch über die Frage nach dem nordkoreanischen Raketenprogramm. Am Ende des Gespräches verpflichteten sich beide Seiten, keine feindseligen Absichten gegen den jeweils anderen Staat zu haben. Außerdem bekam der amerikanische Präsident einen Brief des nordkoreanischen Staatsführers Kim Jeong Il, der den Wunsch nach einer Verbesserung der bilateralen Beziehungen und eine Einladung nach Nordkorea beinhaltete. In dieser Zeit wurde in Washington angekündigt, dass es möglich sei, dass der amerikanische Präsident nach Nordkorea reisen könne. Ein passender Termin könne sich im November ergeben, wenn Clinton sich zur Teilnahme an der APEC-Gipfeltagung in Brunei sowie zu einem anschließenden Besuch in Vietnam aufhalte. Der Gegenbesuch der amerikanischen Außenministerin Albright wurde am 23. und 24. Oktober 2000 abgestattet. Sie traf an beiden Tagen mit Kim Jeong Il zusammen. Das amerikanische Außenministerium in Washington nannte zwar als Hauptthema des Gespräches die Fortführung des amerikanisch-nordkoreanischen Dialoges. Aber außenpolitische Experten gingen davon aus, dass es bei den Gesprächen um die Vorbereitung auf den Besuch des amerikanischen Präsidenten in Nordkorea ging.

Trotz der positiven Annäherung zwischen Nordkorea und den USA gelang es dem amerikanischen Präsidenten nicht, Nordkorea zu besuchen. Denn wegen des unklaren Ergebnisses der am 7. November 2000 abgehaltenen Präsidentschaftswahlen und der anschließenden neuen Stimmenauszählung in Florida war der amerikanische Präsident Clinton nicht in der Lage, das Land zu verlassen. Dass der Republikaner George W. Bush nach dem Ergebnis der Stimmenauszählung zum Wahlsieger erklärt wurde, bedeutete für die koreanische Halbinsel einen Kurswechsel in der Nordkorea-Politik. Der neue Präsident Bush hatte zwar bei der Übernahme der Regierung angekündigt, dass sich der außenpolitische Kurs

333 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. Oktober 2000, S. 2. 165 nicht stark ändern werde. Aber er und seine Regierung zeigten nach der Regierungsübernahme eine aggressivere und feindseligere Nordkorea-Politik als die vorherigen Demokraten. Am 29. Januar 2002 hielt der amerikanische Staatpräsident George W. Bush vor dem Kongress eine Rede über den Kampf gegen den weltweiten Terrorismus und die Lage der Nation. Bei dieser Rede drohte er im Zusammenhang mit dem Terrorismus vor allem dem Irak und sprach von einer „Achse des Bösen“, die Nordkorea, den Iran und den Irak umfasse: „Nordkorea ist ein Regime, das sich mit Raketen und Massenvernichtungswaffen ausrüstet und gleichzeitig seine Bürger verhungern lässt.“334

Unter diesen Umständen verstärkte Nordkorea seine Blockadehaltung gegen die USA und Südkorea. Anschließend begann die nordkoreanische Führung in Pjöngjang mit militärischen Provokationen und einem erneuten Nuklearprogramm. Vor allem verschlechterten sich die innerkoreanischen Beziehungen bis zum Terroranschlag vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten ernorm. In dieser Zeit wurden fast alle Gespräche zwischen Süd und Nord unterbrochen und die Verhandlungen in allen Bereichen gerieten ins Stocken. Zwar wurde unmittelbar nach dem Terroranschlag das fünfte Ministergespräch in Seoul abgehalten, aber die sich daraus ergebenden Resultate wurden nicht gleich in die Tat umgesetzt. Damals wurden die militärischen Streitkräfte in Südkorea in hohe Alarmbereitschaft versetzt und zusätzliche Kampfflugzeuge wurden von Japan nach Südkorea verlagert. Außerdem fanden gemeinsame Militärübungen zwischen den südkoreanischen und amerikanischen Truppen statt. Diese militärischen Maßnahmen hatten zur Folge, dass Nordkorea die für Oktober 2001 geplanten Familienzusammenführungen sowie den Austausch der Taekwondo-Mannschaften und das zweite Gespräch des Komitees für die Förderung des innerkoreanischen Wirtschaftsaustauschs kurz zuvor absagte. Es war daher kein Wunder, dass das sechste Ministergespräch, das vom 9. bis 14. November 2001 auf nordkoreanischen Wunsch hin ausnahmsweise am Gumgang-Berg stattfand, ohne Ergebnis zu Ende ging.

Eine Wiederannäherung brachte erst der Besuch des südkoreanischen Sondergesandten Lim Dong Won im April 2002. Er traf in Pjöngjang mit dem nordkoreanischen Staatschef Kim Jeong Il zusammen und verhandelte mit Kim Yong Sun. Beide Seiten kamen zu einem Konsens, dass im Geist der gemeinsamen Erklärung vom 15. Juni kein Status der Spannung angestrebt werden soll. Vor diesem Hintergrund verständigten sich beide Seiten darauf, dass die innerkoreanischen Beziehungen, die temporär in Stillstand lagen, wieder zu vitalisieren sind.335 Danach folgten insgesamt bis zum Ende der Regierung Kim Dae Jung noch drei

334 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. Januar 2002, S. 2. 335 Wiedervereinigungsministerium, Weißbuch 2003, Seoul 2003, S. 42. 166 Ministergespräche, drei Familienzusammenführungen und zwei Gespräche des Komitees für die Förderung des innerkoreanischen Wirtschaftsaustauschs. Im Allgemeinen könnte man mit der Behauptung kaum fehlgehen, dass nach dem Gipfeltreffen die innerkoreanischen Beziehungen im Rahmen der Sonnenscheinpolitik deutlich verbessert und vertieft werden konnten, obwohl sie ab einem bestimmten Zeitraum aufgrund des aus dem Machtwechsel resultierenden Kurswandels der amerikanischen Nordkorea-Politik und des Terroranschlages vom 11. September unterbrochen wurden.

4.2.3.1. Folge des innerkoreanischen Gipfeltreffens 4.2.3.1.1. Wirtschaftlicher Bereich Bereits im September 2000 begann der Bau der Einsenbahnverbindung von Munsan bis zur entmilitarisierten Zone336. Zwar war die Strecke auf der südkoreanischen Seite inzwischen bereits fertig gebaut, aber der Bau des zwei Kilometer langen Teils auf beiden Seiten der entmilitarisierten Zone bis zur Demarkationslinie konnte erst im August 2002 begonnen werden, weil Nordkorea aufgrund der langwierigen Minenräumungen und der aus dem Terroranschlag in den USA resultierenden Belastung des innerkoreanischen Verhältnisses die Verhandlungen oft unterbrochen hatte. Trotzdem wurde die unterbrochene Strecke wieder gebaut und verbunden. Zudem wurden Transitabkommen zwischen dem Süden und dem Norden geschlossen, damit die rechtlichen Rahmenbedingungen für den Personen- und Warenverkehr geschaffen werden konnten.

Mittlerweile wurde im Mai 2007 sogar eine Probefahrt mit südkoreanischen Fahrgästen nach Gaesong erfolgreich durchgeführt. Der Staatpräsident Kim Dae Jung war damals beim Startschuss des Baubeginns 2000 anwesend und meinte: „Heute haben wir angefangen, unser geteiltes Vaterland wieder miteinander zu verbinden“ Darüber hinaus betrachtete er die Wiederherstellung der „alten“ Eisenbahnstrecke Seoul-Sinuiju nicht nur als Grundstein zum Vertrauen zwischen dem Süden und dem Norden, sondern auch als Kernpunkt für den Frachttransport in Nordostasien.337 Denn die Strecke könnte noch an die Transsibirische Eisenbahn angeschlossen und Seoul an die Verbindungen nach China und Russland angebunden werden. Durch die südkoreanische Anbindung an die Schienen nach Europa wären die Waren aus Südkorea in der Lage, in Europa noch konkurrenzfähiger zu werden.

336 In der japanischen Koloniezeit wurde die Einsenbahnstrecke zwischen Seoul und Sinuiju erbaut. Seit dem Koreakrieg war die Strecke durch die entmilitarisierte Zone unterbrochen. 337 Präsidialamt, Redensammlung des Präsidenten Kim Dae Jung, Bd. 3. Seoul 2003, S. 441f. 167 Die Transportzeit für die südkoreanischen Produkte nach Hamburg würde um 9 Tage kürzer dauern als per Seeweg.338 Wenn der Plan in die Tat umgesetzt wird, dann wird die „eiserne Seidenstraße des 21. Jahrhunderts“ entstehen. Von dieser eisernen Seidenstraße könnte nicht nur Südkorea, sondern auch Nordkorea stark profitieren. Experten gehen davon aus, dass Nordkorea bis zu 150 Millionen US-Dollar pro Jahr an Mauteinnahmen erreichen kann. Insofern kann dieses Projekt zu einer ausgeglichenen wirtschaftlichen Entwicklung auf der koreanischen Halbinsel beitragen, wie sie in der gemeinsamen Erklärung anvisiert worden war.339 Diese Einsenbahnverbindung kann außerdem dazu beitragen, die entmilitarisierte Zone, an deren beiden Seiten sich mehr als 2 Millionen schwerbewaffnete Soldaten gegenüberstehen, zu pazifisieren. Neben dem Beginn des Bau der Eisenbahnverbindung schloss die Regierung Kim Ende 2000 mit dem Norden bei Arbeitsgesprächen zu wirtschaftlichen Fragen vier wichtige Abkommen, die die Verhinderung von Doppelbesteuerung, den Investitionsschutz, ein Abrechnungssystem und die Schaffung einer Stelle zur Beilegung von Handelsstreitigkeiten betreffen. Diese Abkommen wurden im Februar 2001 unterzeichnet. Außerdem wurde ein Komitee für die Förderung des innerkoreanischen Wirtschaftsaustauschs gegründet.

Im wirtschaftlichen Kooperationsbereich darf man die Rolle des Hyundai-Konzerns nicht übersehen. Neben dem Projekt der Reise zum Gumgang-Berg erhielt der Hyundai-Konzern von Nordkorea das Unternehmungsrecht für den Bau einer zweiten Sonderwirtschaftszone 340 bei Gaesong an der Grenze zu Südkorea. Der Bauplan der Gaesong-Sonderwirtschaftszone war gigantisch und eindrucksvoll. Im Jahr 2008 sollen sich in dieser Zone mehr als 200 südkoreanische Firmen angesiedelt haben, bei denen über 150.000 nordkoreanische Arbeitnehmer beschäftigt werden. Das Projekt der Sonderwirtschaftzone wurde von den positiven Erfahrungen Chinas mit Sonderwirtschaftzonen animiert. Im Gegenteil zur ersten Sonderwirtschaftzone bei Rajin-Sonbong an der Grenze zu China und Russland lag die Gaesong-Sonderwirtschaftzone vor allem in einer weitaus günstigeren geographischen Lage und hatte eine gute Infrastruktur. Dieses Projekt wurde nicht nur vom Hyundai-Konzern, sondern auch von der südkoreanischen Regierung vorangetrieben. Bei den Minister- und Arbeitsgesprächen wurde erneut über die Einrichtung dieser Zone gesprochen. Für den Baubeginn verabschiedete das Präsidium der Obersten Volksversammlung Nordkoreas am 20. November 2002 das Gesetz zur Sonderwirtschaftszone Gaesong. Mittlerweiler haben sich

338 Süddeutsche Zeitung vom 18. Oktober 2002, S. 9. 339Marc Oliver Dugge, a. a. O., S. 61. 340 Es gab in Nordkorea noch eine Sonderwirtschaftszone bei Rajin-Sonbong an der Grenze zu China und Russland. 168 mehr als 10 südkoreanische Unternehmen in der Zone niedergelassen und produzieren preisgünstige Waren, die in Südkorea verkauft werden. Diese Zone bietet eine gute Chance für die kleineren und mittleren Unternehmen in Südkorea, die aufgrund des dortigen hohen Lohnes auf dem Markt nicht mehr konkurrenzfähig sind. Kapital und Technik von Südkorea und billige, gut ausgebildete Arbeitskräfte von Nordkorea treffen sich in der Gaesong- Sonderwirtschaftszone. So werden günstigere Produkte hergestellt, die leicht auf dem Markt abgesetzt werden können.

4.2.3.1.2. Sozialer Bereich Eine positive Folge des innerkoreanischen Gipfels im sozialen Bereich war die durch die enge Zusammenarbeit des Roten Kreuzes in Süd und Nord gelungene Zusammenführung der getrennten Familien in beiden Staaten. Die erste Runde der Zusammenführung erfolgte in der Zeit zwischen dem 15. und 18. August 2000 in beiden Hauptstädten. Je 100 Menschen in beiden Staaten wurden ausgetauscht und es kam zu dramatischen Treffen mit den auf der anderen Seite lebenden Familienmitgliedern. Die gleichzeitig in Seoul und Pjöngjang durchgeführte Familienbegegnung war eines der traurigsten Dramen der Gegenwart. Angesichts der verfeindeten Ideologien und politischen Systeme waren Familien zwangsweise getrennt worden. Danach wussten sie gar nicht, ob andere Familienangehörige auf der anderen Seite der Grenze noch leben. Die emotionalen Zusammenführungen wurden im Fernsehen live übertragen, sie sorgten für viele Tränen bei den Zuschauern. Nach der ersten Runde der Familienzusammenführung fanden bis zum Ende der Regierungszeit Kim Dae Jungs insgesamt sechs Runden statt, bei denen sich etwa 5.300 Menschen wiedertreffen konnten. Darüber hinaus legten die beiden Staaten nach langwierigen Verhandlungen in einem gemeinsamen Schlusswort fest, dass in absehbarer Zeit eine andauernde Begegnungsstätte für die Familienzusammenführung am Gumgang-Berg eingerichtet werden soll. Diese Stätte ist inzwischen fertig gestellt worden und dient nicht nur als Treffpunkt der getrennten Familien, sondern auch als Ort, an dem sich die Familien über den Bildschirm treffen können. Schließlich konnten jeweils 300 Menschen beider Seiten am 15. März 2001 zum ersten Mal Briefe austauschen. Allerdings fand der Briefaustausch nur einmal statt.

169 4.3.2.1.3. Kultureller Bereich Nach dem Gipfeltreffen nahm der gegenseitige Austausch im kulturellen Bereich ernorm zu. Allein im Jahr 2000 fanden zahlreiche Veranstaltungen nord- und südkoreanischer Künstler in beiden Hauptstädten statt. Eine der respektabelsten Veranstaltungen war bestimmt das gemeinsame Konzert der beiden nationalen Symphonieorchester, das am 15. August 2000 aus Anlass der gemeinsamen Erklärung vom 15. Juni und des 55. Befreiungstages Koreas stattfand. Ferner wurde im Jahr 2001 in Pjöngjang koreanische Traditionskostüme vorgeführt und zur gleichen Zeit wurden in Seoul und Pjöngjang Ausstellungen mit Landschaftsbildern von der koreanischen Halbinsel eröffnet, um den ersten Jahrestag der gemeinsamen Erklärung vom 15. Juni zu feiern. Aber auch die Massenmedien spielten bei der kulturellen Verständigung zwischen den zwei heterogenen Gesellschaften eine wichtige Rolle. In diesem Sinne war die Reise der aus 48 südkoreanischen Medienvertretern bestehenden Delegation im August 2000 nach Pjöngjang sehr bedeutend. Die südkoreanischen Vertreter trafen sich mit dem nordkoreanischen Staatschef Kim Jeong Il und besuchten die Redaktion der Zeitung „Rodongshinmun“ und den Fernsehsender „Chosunjungang“. Dabei hatten sie die gute Gelegenheit, mit ihren nordkoreanischen Arbeitskollegen zu sprechen.

Der sportliche Austauschs und die Zusammenarbeit wurden im Vergleich zur Zeit vor dem Gipfeltreffen deutlich ausgeweitet. Gute Beispiele dafür war die Sommerolympiade im September 2000 in Sydney und die Asienspiele 2002 in der südkoreanischen Hafenstadt . Die beiden Nationalmannschaften, die die gleichen Trikots trugen und hinter einer blauen Fahne einmarschierten, die die koreanischen Halbinsel darstellte, traten bei der Eröffnungszeremonie und der Abschlussfeier gemeinsam im Stadion auf. Vor allem war es für die innerkoreanische Annäherung sehr bedeutsam, nordkoreanische Sportler an den Busan-Asienspielen zu beteiligen,341 weil die nordkoreanische Führung in Pjöngjang vor dem Gipfeltreffen stets die Teilnahme an internationalen Sportveranstaltungen in Südkorea permanent verweigert hatte. Darüber hinaus gab es freundschaftliche Veranstaltungen der jeweiligen Sportdisziplinen, z. B. Basketball-, Taekwondo- und Fußballspiele. Zuerst lehnte Nordkorea ab, bei der Fußballweltmeisterschaft 2002 in Südkorea und Japan teilzunehmen und sparte die Veranstaltung zunächst auch aus der Berichterstattung in den Medien aus. Allerdings zeigte das nordkoreanische Fernsehen dann doch noch die Eröffnungszeremonie mit einem Tag Verspätung. Auch sendete das Fernsehen aus Pjöngjang fünf Tage nach dem überraschenden 2:1-Sieg von Südkorea über die italienische Mannschaft doch noch Bilder

341 Nach den langen Verhandlungen zwischen beiden Sportverbänden nahmen 696 Nordkoreaner an dem Asiensommerspiel in Pusan auf. 170 von dem Spiel.342 Zusammengefasst lässt sich doch behaupten, dass sich der kulturelle Austausch zwischen den Koreas seit dem Gipfel beachtlich verstärkte. Dies ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass diese Sphäre relativ wenig von der politischen Lage zwischen dem Süden und dem Norden beeinflusst wird.

4.3.2.1.4. Militärischer Bereich In Südkorea hielt man es vor dem Gipfeltreffen für sehr prekär, mit Nordkorea auf militärischem Gebiet zusammenzuarbeiten. Denn aufgrund des militärischen Sicherheitsbündnisses zwischen Südkorea und den USA wollte Nordkorea die Frage nach der Sicherheitspolitik auf der koreanischen Halbinsel allein mit den USA verhandeln. Außerdem zeigte Nordkorea vorher keine große Gesprächsbereitschaft beim Vier-Parteien-Gespräch in sicherheitspolitischen Fragen. Schließlich unterlag die Kooperation in militärischen Fragen einem stärkeren äußeren Einfluss als in anderen Bereichen. Aber nach dem Gipfeltreffen änderte sich langsam das Verhalten des Nordens. Das erste Treffen zwischen den beiden Verteidigungsministern am 25. September 2000 auf der Insel Cheju in Südkorea war sehr bemerkenswert, weil das Gespräch nicht nur die symbolische Bedeutung hatte, dass sich nach dem Koreakrieg zum ersten Mal die für die beiden Streitkräfte verantwortlichen Minister am Verhandlungstisch gegenübersaßen. Zudem brachten die Verhandlungen das konkrete Ergebnis, dass beide Armeen eine militärische Unterstützung für die erfolgreiche Realisierung der gemeinsamen Erklärung vom 15. Juni anstreben. Zwar fand das Gespräch der Minister nur einmal statt, aber es folgte fünf militärische Arbeitsgespräche, in denen vor allem der Bau der Eisenbahnverbindung durch die zwischen die entmilitarisierte Zone thematisiert und mit einem positiven Ergebnis abgeschlossen wurde. Die Abstimmung beider Seiten war hier unabdingbar, um den Bau und die Sicherheit der Arbeiter zu garantieren.

342 Marc Oliver Dugge, a. a. O., S. 74f. 171 5. Schlussfolgerung

Wie oben dargestellt wird, haben die Ostpolitik Brandts und die Sonnenscheinpolitik Kims einerseits Gemeinsamkeit, andererseits Unterschiede. Hier wird dann der Versuch unternommen, die koreanische mit der deutschen Politik in bezug auf die Wiedervereinigung zu vergleichen.

Die Ostpolitik Brandts und die Sonnenscheinpolitik Kims basierten auf dem Scheitern der vorherigen Politik und auf die günstige Lage der internationalen Rahmenbedingungen. Die Ostpolitik war in dem Zeitpunkt entstanden, als die Berlin-Krise ihren Höhepunkt erreichte und dadurch das Scheitern der bisherigen Politik sichtbar wurde. Die Sonnenscheinpolitik bildete sich aus der schwankenden Wiedervereinigungspolitik der Regierung Kim Young Sam aus. Ferner war die internationale Rahmenbedingung für die Politik positiv. Als die Regierung Brandt ihre Ostpolitik in die Tat umzusetzen begann, keimte die Ära der Entspannung zwischen den USA und der Sowjetunion auf. Unter der amerikanischen Regierung Clinton konnte sich Kim Dae Jung zum ersten Mal in der koreanischen Geschichte mit dem nordkoreanischen Staatspräsidenten Kim Jeong Il treffen und ergebnisreiche Gespräche führen.

Ferner offerieren die Politik beider Länder eine neue Vision für die Wiedervereinigung, die sich von der Politik des Vorgängers gravierend unterscheidet. Die Ostpolitik kennzeichnet die Politik der kleinen Schritte. Die Sonnenscheinpolitik verfügte über den dreistufigen Wiedervereinigungsplan, mit dem die Wiedervereinigung Schritt für Schritt realisiert werden soll. Auf beide Seit ist man der Auffassung, dass der Weg zur Wiedervereinigung keine Seidenstraßen sind, sondern ein steiniger Weg mit vielen Hindernissen. Die Wiedervereinigung kann daher nur durch einen langen Prozess mit vielen Zwischenstationen erreicht werden.

Schließlich ist das Ziel der Politik nicht die sofortige Überwindung der geteilten Länder, sondern je die Bildung günstigerer Umstände für eine künftige Wiedervereinigung durch die Anerkennung des Status quo und die friedliche Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten.

Allerdings bestehen Unterschiede zwischen der deutschen und der koreanischen Politik. Der erste und wichtige Unterschied, abgesehen von der zeitlichen und geographischen Differenz, ist der grundlegende Ausgangspunkt der Politik. Bundesrepublik Deutschland stand in einer friedlichen und rechtsstaatlichen Demokratie mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Ferner erlebten West- und Ostdeutsche gemeinsame Erfahrung mit Demokratie in der Weimarer Zeit. Im Gegensatz zu Deutschland führten Koreaner untereinander Krieg und daher sind die

172 Gräben zwischen dem Süden und dem Norden viel tiefer als in Deutschland. Nach dem Krieg herrschten auf der koreanischen Halbinsel diktatorische Regime im jeweiligen Land, nämlich im Süden die militärische Diktatur und im Norden die kommunistische Diktatur. Unter den Diktatoren konnte man über die Wiedervereinigungsfrage nicht richtig diskutieren.

Unter der Ostpolitik Brandts versteht man nicht nur eine Außenpolitik, sondern auch eine Deutschlandpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Die Sonnenscheinpolitik ist fast synonym die Nordkoreapolitik, die sich nur auf Nordkorea orientiert. Insofern waren die Gegenstände der Ostpolitik vielfältig. Im Gegensatz zur Ostpolitik fixierte das Ziel der Sonnenscheinpolitik: Nordkorea

Die historische Lehre, die für die Sonnenscheinpolitik aus der Ostpolitik Brandts ziehen kann, ist die Geduld und die ständige Bemühungen um die Verbesserung des Verhältnisses zwischen beiden Seiten, auch wenn sich die andere Seite ablehnend verhält. Die deutsche Wiedervereinigung wurde zwar nicht durch die Ostpolitik Brandts geschaffen. Aber die Ostpolitik Brandts trug in der deutschen Wiedervereinigungsgeschichte dazu bei, die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands zu beschleunigen und zu erleichtern.

Kim Dae Jung kannte bereits in den 70er Jahren die Ostpolitik Brandts.343 Er brachte zum Teil die positiv beurteilte deutsche Lage, z.B. den Austausch vom Briefen zwischen BRD und DDR, als gutes Beispiel an, das er beim Präsidentschaftswahlkampf 1971 vorbrachte. Außerdem stammt sein Vorschlag, dass beide Korea in die UNO beitreten sollen, bestimmt aus der deutschen Politik.

Außerdem erhielt Kim Dae Jung bei den persönlichen Begegnungen in Seoul und in Bonn guten Rat zur koreanischen Wiedervereinigung. Vor allem gab Willy Brandt Kim Dae Jung bei dem Treffen in Bonn im Jahr 1992 in bezug auf die Welt nach der Wiedervereinigung einen guten Rat, dass eine der schwierigsten Aufgaben nach der Wiedervereinigung die Überwindung der jahrzehntelang gewachsenen Entfremdung sei. Mit dem Worte „Mauer in den Köpfen“ versuchte Brandt zu erklären, dass die inneren Aspekte des deutschen Vereinigungsprozesses schwieriger als die äußeren Elemente seien. Er formulierte weiter, „Während die Ostdeutschen das Gefühl haben, dass sie die Hauptlast der deutschen Teilung zu tragen haben, empfinden viele Westdeutschen, dass die Ostdeutschen zu viel zu schnell

343 In einem persönlichen Brief Kims an Brandt in den 70er Jahren wurde folgendermaßen geschrieben: „(...) Ich bin davon überzeugt, dass Sie zu einer der wichtigsten politischen Personen seit dem 2. Weltkrieg geworden sind. Ihre großen Leistungen, z.B. Ihr Mut und Ihre Weisheit die Sie als regierender Bürgermeister von Berlin gezeigt haben, die positive Entwicklung der SPD als Volkspartei, Ihre Entscheidung zur Teilnahme am Koalitionskabinett, Ihre Bemühung für die Einheit Europas, Ihre Leistung bei der Rahmenarbeit für die Ostpolitik, die die Koexistenz der Welt symbolisiert, für alles dies haben Sie eine entscheidende Rolle gespielt.“ In: Willy-Brandt-Archiv, Parteivorsitzender Persönliche Korrespondenz, (1979/91) S. 28-30. 173 verlangen.“ Schließlich rief er zu Vereinbarungen zwischen Nord- und Südkorea auf praktischen Gebieten auf. Aus deutschen Entwicklung bekräftigte er auf eine Frage von Kim die Schlussfolgerung, dass ein schrittweises Vorgehen von Vorteil wäre im Hinblick auf die unausweichlichen Lasten des Vereinigungsprozesses.344 Damit vergaß Brandt nicht, was sein Mitarbeiter, Egon Bahr, in den 60er Jahren in Tutzing äußerte: „dass die Wiedervereinigung nicht einmaliger Akt ist, der durch einen historischen Beschluss an einem historischen Tag auf einer historischen Konferenz ins Werk gesetzt wird, sondern ein Prozess mit vielen Schritten und vielen Stationen.“

Man kann nicht kalkulieren, wann die koreanische Halbinsel wiedervereinigt wird. Der Prozess könnte wie in Deutschland unerwartet rasch in Gang kommen. Es kommt sehr auf die innere Entwicklung in Nordkorea an. Für Koreaner ist aber es sehr relevant, sich auf die Wiedervereinigung Schritt für Schritt vorzubereiten. Denn schon allein aus finanziellen Gründen könnte Südkorea nicht überleben, wenn Nordkorea zusammenbrechen würde. Aus diesem Grund soll die Sonnenscheinpolitik weitergeführt werden, auch wenn der Regierungswechsel in Südkorea vorkommt.

Zusammengefasst lässt sich sagen: Wenn Korea Lehren aus dem deutschen Wiedervereinigungsprozess ziehen könnte, dann wäre das folgende: Die Wiedervereinigung kann nicht mit militärischer Gewalt angestrebt werden. Der Wiedervereinigungsprozess muss friedlich verlaufen. Außerdem muss Korea ein Interesse daran haben, gutnachbarschaftliche Beziehungen zu China, Russland und Japan zu entwickeln. Nicht Konfrontation, sondern das Angebot zum Dialog und zur Zusammenarbeit muss die Antwort Südkoreas auf die Politik Nordkoreas sein.

344 Willy-Brandt-Archiv, Sozialistische Internationale/225, S. 328f. 174 Quellen und Literatur 1. Ostpolitik Willy Brandts I. Quellen Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland, R. Oldenbourg München, 2000 (1969 Bd. I-II, 1970 Bd. I-III) Auswärtiges Amt, Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Dokumente von 1949 bis 1994, Bonn 1995. Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (seit Ende 1969: für innerdeutsche Beziehungen, Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik, III. Reihe 1955ff., IV. Reihe 1958ff., V. Reihe, 1.12. 1966ff. Frankfurt a. M. und Berlin seit 1961. Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (seit End 1969: für innerdeutsche Beziehungen, Hrsg.), Texte zur Deutschlandpolitik. Bonn und Berlin seit 1968. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik II. Reihe/Bd. 2, München 1996. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik, VI. Reihe/Band1, München 2002. Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), Kontroverse Deutschlandpolitik – Die politische Auseinandersetzung in der Bundesrepublik Deutschland über den Grundlagenvertrag mit der DDR, Dokumente zur Deutschlandpolitik, Beihefte Bd. III., Frankfurt am Main 1977. Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), Die Bonner Deutschlandpolitik 1969-1979 in der polnischen Publizistik, Dokumente zur Deutschlandpolitik Beihefte Bd. V., Frankfurt am Main 1982. Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), Zehn Jahre Deutschlandpolitik – Die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutsch demokratischen Republik 1969-1979 Bericht und Dokumentation, Melsungen 1980. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.), Dokumentation zur Ostpolitik der Bundesregierung. Vorträge und Vereinbarungen, Bonn 10.Auflage 1985. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.), Dokumentation zur Deutschlandpolitik. Vorträge und Vereinbarungen mit der DDR, Troisdorf 10.Auflage 1984. Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen (Hrsg.), Erklärungen zur Deutschlandpolitik – Dokumentation Teil I 1949-1972, Bonn 1984. Deutsches Institut für Zeitgeschichte (Hrsg.), Dokumente zur Außenpolitik der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik Bd. 1, Berlin 1954. Boris Meißner (Hrsg.), Die deutsche Ostpolitik 1961-1970. Kontinuität und Wandel. Dokumentation. Köln 1970. Klaus A. Maier, Bruno Thoss (Hrsg.), Westintegration, Sicherheit und Deutsche Frage: Quellen zur Außenpolitik in der Ära Adenauer 1949-1963, Darmstadt 1994. Brandt Reden 1961-1965, ausgewählt und eingeleitet von Hermann Bortfeldt, Köln 1965. Bundeskanzler Brandt - Reden und Interviews, Hamburg 1971. Willy Brandt, Friedenspolitik in Europa, Frankfurt am Main, 1968.

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2. Sonnenscheinpolitik

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