Hartmut Bleumer
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Hartmut Bleumer Schemaspiele - ,Biterolf und Dietleib' zwischen Roman und Epos1 I. Vorfragen Was ist ein Schema? Diese Frage wirkt fast zu vertraut, als daß man sie in der Li- teraturwissenschaft noch grundsätzlich stellen möchte. Weil sich die Wirkung von poetischen Texten insbesondere daran festmachen läßt, daß diese ihre Rezipienten an der Suche nach den jeweils leitenden Darstellungsmustern beteiligen, gehört es gewissermaßen zum Tagesgeschäft der Interpreten, der selbstreflexiven Wirkung fraglicher Schematismen nachzuspüren. In jüngster Zeit kehrt dieser selbstver- ständliche Umgang mit den Reflexionsmöglichkeiten des Schemas durch die ver- stärkte kulturanthropologische Wendung auch in der germanistischen Mediävi- stik noch einmal besonders deutlich wieder. Denn kaum jemand wird wohl noch der These die Zustimmung verweigern, daß einzelne symbolische Handlungs-, Kommunikations- und Selbstdeutungsformen, die das kollektive oder kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft latent bestimmen, im poetischen Medium ihrer La- tenz enthoben und zur Anschauung gebracht, dann in ihren Konsequenzen er- 1 Der Titel des Beitrags ist mit dem Buch des Philosophen Hans Lenk, Schemaspiele. Uber Schemainterpretationen und Interpretationskonstrukte (Frankfurt a. M. 1995) identisch, aber nicht von Lenk übernommen. Er zielt auf das Stichwort der ,Spielregel' im mediävistischen Diskurs. Vgl. Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frie- den und Fehde (Darmstadt 1997); ders., Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter (Darmstadt 2003); Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes (Tübingen 1998). Auch wenn die Nähe zur Terminologie Lenks anfangs nicht gesucht wurde, haben sich schließlich Überschneidungen ergeben. Darum sei Lenks Position kurz angedeutet: Sie lautet, in Fortführung von Cassirers Symbolbegriff (vgl. ebd. 11—14), daß die menschliche Wahrnehmung und Deutung auf einem selbstreflexiven, sich spielerisch austarierenden Symbolisierungsprozeß beruht, in dem Objekte nur im Rahmen von Wahrnehmungsschemata zur Anschauung kommen. Die Schemagebundenheit der Wahrnehmung ist an sich unhintergehbar, sie unterliegt aber mit der durch sie konstruierten Wirklichkeit einem fortgesetzten Selbstdeutungsprozeß. Diesen beschreibt Lenk, ausgehend von neurophysiologischen elementaren Wahrnehmungsbedingungen, als eine Aufschichtung von Interpretationsebenen mit ansteigender Komplexität in einem Fünf-Stufen-Modell (bes. 103). Die Einübung der Schematismen und ihre wechselseitigen Beeinflussungen im Rahmen einer sozialen Interpretationsgemeinschaft bringt Lenk schließlich in die Nähe zu Wittgen- steins Begriff des Sprachspiels (242—255). 192 Hartmut Bleumer probt, weiterentwickelt oder verworfen werden können2. Und wenn diese Kul- turmuster im poetischen Text auf eine ausgezeichnete Weise zugänglich sind, dann liegt es gewiß nahe, den probaten literaturwissenschaftlichen Textbegriff auch auf die kulturellen Kontexte insgesamt auszudehnen. Demnach wären also auch le- bensweltliche Wahrnehmungs- und Handlungsmuster nach dem Vorbild literari- scher Zeichenprozesse zu entschlüsseln3. Ein solcher literaturwissenschaftlicher Optimismus in der Schemafrage hat frei- lich eine Kehrseite. Sie gründet in der prekären Doppelnatur des Schemas. Auch die selbstreflexive poetische Schemaverwendung tendiert nämlich dazu, den pro- blematischen Ursprung der Schemafrage zu verschleiern. Wie schon die eher tra- ditionelle literaturwissenschaftliche Betrachtung nicht übersehen sollte, daß die Frage nach dem Schema nur deshalb eine Art von reflexiver Souveränität des In- terpreten versprechen kann, weil der Frage die alltägliche Macht des Schemas schon als unhintergehbar vorausliegt, so muß die kulturanthropologisch beein- flußte Sicht vollends zugestehen, daß sie ihre Gegenstände nicht länger aus einer Art semiologischen Gewohnheitshaltung heraus als reine Zeichenensembles auf- fassen und decodieren kann. In eben jenem Maße, wie mit der Ausdehnung der Literaturwissenschaft zur Kulturwissenschaft der Begriff des Zeichens auf die kulturellen Kontexte anwendbar wird, gelangt im Gegenzug der Begriff des Sym- bols in die Analyse der Poesie4. Mit anderen Worten: Auch die Dichtung ist zuerst 2 Vgl. mit Nachdruck Jan-Dirk Müller, Der Widerspenstigen Zähmung. Anmerkungen zu einer mediävistischen Kulturwissenschaft, in: Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medien- theorie, hrsg. von Martin Huber und Gerbard Lauer (Tübingen 2000) 461—481, hier 466 f. u. 481; Ursula Peters, Neidharts Dörperwelt: Mittelalter-Philologie zwischen Gesellschaftsge- schichte und Kulturanthropologie, in: Nach der Sozialgeschichte 445^160, hier 458-460. 3 Vgl. Gerbard Neumann, Begriff und Funktion des Rituals im Feld der Literaturwissen- schaft, in: Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaft zwischen Kulturtechnik und Ethno- graphie, hrsg. von G.N. und Sigrid Weigel (München 2000) 19-52, bes. 45 f. u. 52 f. 4 Angesichts der Unschärfen und zum Teil geradezu gegensätzlichen Verwendungen des Symbol-Begriffs läßt sich seine dialektische Beziehung zum Begriff des Zeichens wohl am besten mit dem Ansatz von Cassirer erfassen. Die besagte Dialektik schlägt sich auch in Cas- sirers Terminologie nieder, die daher auf den ersten Blick schwankend wirkt, was sie indes nicht ist. Um Mißverständnisse zu vermeiden, mag es sich dennoch empfehlen, zu eindeuti- geren Bestimmungen zu greifen. Demnach sind Symbole dadurch bestimmt, daß sie eine Be- deutung repräsentieren. „Ihr Gehalt geht rein und vollständig in der Funktion des Bedeutens auf." (Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil. Die Sprache [Darm- stadt 101994] 42). Zeichen dagegen können auf die Bedeutung nur verweisen und haben durch die Nichtidentität mit dem Gemeinten einen eigenen Sinn. Das „Ziel der sprachlichen Bezeichnung liegt in der Differenz." (Ebd. 138). Freilich trifft das Differenzkriterium theo- retisch auch auf das Symbol zu, nur wird die Differenz hier nicht praktisch wahrgenommen, weil Form und Inhalt sich vollständig zu entsprechen scheinen: Diesen Effekt faßt Cassirer mit dem Begriff der symbolischen Prägnanz' (Ebd. Dritter Teil. Phänomenologie der Er- kenntnis, 235). Das heißt zusammenfassend: Wenn Symbole fragwürdig erscheinen, wird das Differenzkriterium spürbar, und sie werden zu Zeichen, wenn der arbiträre Charakter von Zeichen dagegen vergessen wird, fungieren sie als Symbole. Vgl. auch ders., Zur Logik des Symbolbegriffs, in: ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs (Darmstadt 81994) 201— 230. Zu Bedeutung und Sinn vgl. Gottlob Frege, Uber Sinn und Bedeutung, in: ders., Funk- Schemaspiele 193 auf eine symbolische Lenkung ihrer Rezipienten ausgerichtet. Das gilt eben nicht nur allgemein für die Poesie als Bestandteil einer symbolisch verfaßten Kultur, sondern auch konkret für die in den einzelnen Texten anzutreffenden Schemata. Diese lassen sich als ausgezeichnete Ausläufer einer fortgesetzten Korrelation von vorgängiger Schemawirkung und nachträglicher reflexiver Auflösung ansehen5, die schon in der Lebenswelt beginnt und sich im poetischen Text auf dem Niveau eines Wechselspiels von symbolisch vermittelter, scheinbar prägnanter Bedeutung und seiner reflexiven Auflösung in den Sinn von Zeichen fortsetzt. Die Konsequenzen dieses Korrelationsprozesses treten am Beispiel der literari- schen Schemaverwendung in einem wohlbekannten Effekt zutage: Die konkrete Suche nach dem Schema an sich führt ins Leere. So kann man für die mittelhoch- deutschen Epen auf das Brautwerbungsschema6, auf das Wechselspiel von Her- tion — Begriff — Bedeutung, hrsg. von Mark Textor (Sammlung Philosophie 4, Göttingen 2002) 23-46. 5 Wird eine Seite dieser Korrelation geleugnet oder vernachlässigt, kommt es zu Mißver- ständnissen: Vgl. dazu die zunehmenden Zuspitzungen der symbolischen Präsenzvorstel- lung im Verlauf der verschiedenen Veröffentlichungen von Peter Czerwinski. Während es sehr bedenkenswert ist, ob in mittelalterlichen Texten die Darstellung von primär affekt- gebundenen Ausdruckshandlungen und von Reflexionen, durch die Ausdruckshandlungen zu symbolischen Handlungen oder zu Zeichen werden, ,aggregativ' nebeneinander stehen (Peter Czerwinski, Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittel- alter [Frankfurt, a. M., New York 1989], bes. 192-253), wird mit dem danach gebildeten Begriff der ,Gegenwärtigkeit' die Dialektik von symbolischer Präsenz und zeichenhafter Di- stanz ausdrücklich bestritten (ders., Gegenwärtigkeit, Simultane Räume und zyklische Zei- ten, Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung II [München 1993] 7 u. passim). Die These schließlich, daß sich die Bedeu- tung von Texten und Bildern anhand ihrer Gestalt durch den mittelalterlichen Rezipienten unmittelbar und ganzheitlich erfassen läßt, ist in ihrer generalisierend vorgetragenen Form wahrnehmungspsychologisch nicht haltbar und zeichentheoretisch tautologisch. Diese Uberpointierung dürfte für das von Czerwinski selbst eingestandene Scheitern seines Pro- jektes einer Geschichte der Wahrnehmung mit verantwortlich sein (ders., Verdichtete Schrift. comprehensiva scriptum. Prolegomena zu einer Theorie der Initiale, in: IASL 22 [1997] 1—35; ders., per visibilia ad invisibilia. Texte und Bilder vor dem Zeitalter von Kunst und Literatur, in: IASL 25 [2000] 1-94, hier 2, Anm. 4). Die gleiche Einseitigkeit kehrt auf der Ebene der Fi- guren