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Jun YAMAMOTO

KONZEPTIONEN DER GESCHICHTLICHKEIT IN DER GENEALOGISCHEN VORGESCHICHTE VON *

Die Heldendichtungen, die in Vorgängen und Figuren der Vergangenheit ihren Kern haben und durch die ,erste' Literarisierung1 der historischen Faktengene­ riert wurden, galten im Bereich der oralen Kultur, besonders für die illiterate Kriegeradelsschicht, als spezifische Form historischer Überlieferung, welche die Memoria der großen Könige und Helden tradiert. Was in ihnen erzählt ist, ist nicht identisch mit der historischen Wahrheit im geschichtswissenschaftli­ chen Sinne, aber es besteht heute breiter Konsens, dass sie als das Medium an­ erkannt waren, welches den Gegenstand des kulturellen Gedächtnisses2 über• liefert. Daneben bildete auch die schriftliche Geschichtsschreibung, die zur la­ teinischen Schriftkultur der Kleriker gehört, eine lange Tradition. Es gab somit im Mittelalter zwei parallele Geschichtsüberlieferungstraditionen, die Ge­ schichtswissen bewahren. Sie enthalten unterschiedliche, von den jeweiligen Medienlogiken bedingte Geschichtlichkeitskonzeptionen. Der Unterschied der beiden Geschichtsüberlieferungen zeigt sich besonders darin, was man in den jeweiligen Geschichtskonzeptionen für „ verbürgt" gehalten hat. Während in der Geschichtsschreibung in Westeuropa dem lateinisch-schriftlich Überliefer• ten, das die heilsgeschichtliche Konstruktion oder Reichsgeschichte darstellt, Geschichtlichkeit im engeren Sinn zugeschrieben wurde, verbindet in der mündlich-volkssprachigen Geschichtsüberlieferung die Verbürgtheit des Tex­ tes mit der kollektiven Memoria der Gemeinschaften, die die Überlieferung tra­ gen: Dass man etwas gehört hat und dadurch kennt und glaubt, ist das wich-

* Diese Untersuchung wird vom JSPS-Forschungsfonds (Grant-in-Aid for Young Scientists B, No. 24720154) unterstützt. 1 Curschmann spricht von der ,zweiten' Literarisierung, ohne die ,erste' klar zu definieren (Michael Curschmann: Zu Struktur und Thematik des Buchs von Bern, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (PBB), 98 (1976), S. 357-383, hier S. 382f.); Kro­ pik bezeichnet die ,erste' als „die vorliterarische Formung des Stoffes durch Schemata und Motive". Cordula Kropik: Reflexionen des Geschichtlichen. Zur literarischen Konstituierung mittelhochdeutscher Heldenepik. Heidelberg (Winter) 2008, S. 188, Anm. 7. 2 Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 6. Auflage. München (Beck) 2007, bes. S. 52ff.

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tigste Kriterium für die Geschichtlichkeit des mündlich Erzählten. Die beiden Geschichtsüberlieferungen hatten also eine jeweils nach dem Überlieferungs• medium eigene Logik des Verbürgtseins der Geschichtlichkeit. Das Eindringen der Schriftkultur seit der Mitte des 12. Jahrhunderts in die weltlichen Höfe regte mediale Kontaminationen der geschichtlichen Diskurse an. Diese Kontaminationen bzw. Interferenzen der unterschiedlichen Ge­ schichtsüberlieferungstraditionen sind durch die in der Volkssprache ge­ schriebenen Geschichtsdichtungen des deutschen Mittelalters belegt. Die Be­ gegnung zweier Literaturtraditionen auf der gleichen Ebene übte selbstver­ ständlich einen großen Einfluss auf die Geschichtlichkeitskonzeptionen aus. Während die meisten heroischen Stoffe, die zu dieser Zeit verschriftlicht wur­ den, bis ins Mittelalter genuin mündlich überliefert sind und daher nur zu einer der beiden Geschichtsüberlieferungslinien gehören, gibt es eine histori­ sche Person, deren Memoria in beiden Geschichtsüberlieferungen verankert ist und seit dem Ende des 13. Jahrhunderts in einer Reihe von Heldendichtun­ gen literarisiert wurde: der Ostgotenkönig Theoderich der Große und seine heroisierte Figur, .

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Die Geschichte von Theoderich findet man zunächst in der gotischen Historio­ graphie und in der Schriftkultur der Spätantike, wie der byzantischen Ge­ schichtsschreibung, aufgezeichnet. Aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Reichsgeschichte kommen dann er und seine Reflexion in Sagenhelden Diet­ rich von Bern oft in der lateinischen Geschichtsschreibung vor. Wegen des ari­ anischen Glaubens der Goten und seiner Mitverantwortung für die Hinrich­ tung des römischen Konsuls Boethius und dessen Schwiegervaters Symma­ chus, des Hauptes des römischen Senats, sowie seiner Mitschuld am Tod Papst Johannes 1. wurde er in der klerikalen Geschichtsschreibung immer als Ketzer und Tyrann negativ beschrieben, wofür sein Lebensende im Vulkan­ sturz3 oder Höllenritt4 kennzeichnend ist. Neben diesen schriftlichen Geschichtsschreibungen ist seine Memoria in der Form der Fluchtsage mündlich breit überliefert, deren Inhalt völlig anders als die historischen Fakten ist. Nach der Grundfabel wird Theoderich/Dietrich in der früheren Version der Sage wegen der Feindschaft mit Odoaker und in der späte-

3 Der erste Beleg für diesen Vulkansturz findet sich in den „Dialogi" Gregors des Großen. Vgl. Elisabeth Lienert (Hrsg.): Dietrich-Testimonien des 6. bis 16. Jahrhunderts. Tübingen (Niemeyer) 2008, S. 42f. 4 Diese Variante belegen z.B. die Reliefplatten am Portal von San Zeno in Verona und die „Chronica sive Historia de duabus civitatibus" Ottos von Freising. Vgl. ebd., S. 77; 260f.

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Konzeptionen der Geschichtlichkeit in der genealogischen Vorgeschichte von ,Dietrichs Flucht'

ren mit seinem Onkel Ermrich5 aus seinem oberitalienischen Erbreich Verona vertrieben und am hunnischen Hof unter dem König /Etzel als Exilant auf­ genommen. Im Sagenbildungsprozess erfuhren die historischen Konstellatio­ nen starke Verwandlungen: aus dem Eroberer Italiens wurde ein Vertriebener. Die Sage bezieht sich auf die frühe kriegerische Phase des Lebens Theoderichs, deshalb enthält die heroische Überlieferung seine Taten als Herrscher Italiens wie seine friedliche Herrschaft, seine Heirats- und Kirchenpolitik, aber auch den Untergang des Reichs nicht. 6 Zudem stellt die Sage ihn als einen heroischen Kämpfer gegen übernatürliche Wesen dar. Die Sage erzählt also nur einen Teil der Vita eines Heros, und für sie ist die Reichsgeschichte, in deren Rahmen die Geschichtsschreibung Theoderich/Dietrich immer schildert, kein Hauptthema. Trotz dieser Unterschiede zwischen dem, was die Geschichtsschreibung über Theoderich berichtet und was die Heldensage erzählt, steht "die Identi­ fikation des Sagenhelden mit dem Ostgotenkönig, Dietrichs von Bern mit Theoderich dem Großen, [ ... ] in den Zeugnissen nie in Frage" .7 Fernerhin nimmt die lateinisch-chronistische Theoderichüberlieferung gelegentlich die mündlich-heroische Dietrichüberlieferung, die mediale Schwelle überschrei• tend, auf. Den ersten Beleg dieser Interferenz findet man in den Quedlinburger Annalen aus der Zeit der Jahrhundertwende vom 10. zum 11. Jahrhundert. Sie haben den Status der authentischen Geschichtsschreibung der Ottonen, und

in die sogenannten 11 Heldensagen-Passagen" dieser Annalen wurde die Kon­ stellation der Fluchtsage, Theoderichs Vertreibung aus Verona durch Odoaker und sein Exil bei Attila, eingeführt, und der Exilant der Fluchtsage wurde mit der tyrannischen Figur in der klerikalen Geschichtsschreibung als derselbe ,Theoderich' integriert.8 Das heißt, dass hier eine Reichsgeschichte aus der Mi­ schung der mündlichen Heldensage und der lateinischen Historiographie ge­ neriert und dadurch ein Horizont entfaltet ist, wo sich zwei unterschiedliche Geschichtlichkeitskonzeptionen begegnen.

5 Hinter dem Namen „Ermrich" verbirgt sich der gotische König Ermanarich, dessen Reich im 4. Jahrhundert von den Hunnen vernichtet wurde. 6 Vgl. Lienert (wie Anm. 3), S. 3. 7 Ebd. 8 Die Quedlinburger Annalen sind nur in einer Handschrift aus dem 16. Jahrhundert überlie• fert. Eine in den Text geratene Glosse, dass Theoderich jener Dietrich von Bern sei, von dem die Illiteraten einst gesungen hätten, belegt die Identifizierung von Theoderich mit Dietrich von Bern im 16. Jahrhundert. Als der Verfasser dieser Annalen gilt ein unbekann­ ter Kleriker, der dem liudolfingischen Kaiserhaus verbunden war. Die Heldensagen-Pas­ sagen, wo schriftliche Geschichtsüberlieferung und mündliche Heldensagen als histori­ sche Quellen behandelt werden, sind nichts anderes als der Beweis, dass deren klerikaler Verfasser wie auch die Kaiserfamilie, die mit diesen Annalen eine legitime Historie des Reichs aufschreiben lassen wollte, die Heldensagen als verbürgtes geschichtsüberliefern• des Medium anerkannten. Vgl. Joachim Heinzle: Einführung in die mittelhochdeutsche Diet­ richepik. Berlin/New York (de Gruyter) 1999, S. 18f.

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Unter den Abweichungen der Dietrichsage von der Geschichtsschreibung stößt u. a. die Zeitgenossenschaft historisch anderen Generationen zugehöri• ger Figuren,9 welche durch das Generierungsprinzip der „Koordination"10 der Heldensage entsteht, mit der Geschichtskonzeption der Historiographie zusammen, die auf die genaue Stimmigkeit der zeitlichen Reihenfolge den Schwerpunkt legt und diese zu ihrem Prinzip macht. Diese Unstimmigkeit wurde in der ,Weltchronik' Frutolfs von Michelsberg vom Ende des 11. Jahr­ hunderts zum direkten Gegenstand gemacht11 und zog Kritik von den Chro­ nisten nach sich. Der Widerspruch zwischen der Sage und der Historie über Theoderich/Dietrich wurde seit dem 11. Jahrhundert von der Seite der Chro­ nisten für problematisch gehalten und immer wieder zum Stolperstein, ge­ rade wegen der Identifikation von Theoderich mit Dietrich.12 Der Grund für dieses Problem liegt in der Tatsache, dass es im Mittelalter schwierig, sogar fast unmöglich war, das Historische im geschichtswissenschaftlichen Sinne von der erzählten Geschichte zu unterscheiden, was die Unterscheidung zwi­ schen Wahrheit und Fiktion voraussetzt. Heldendichtungen erzählen die historischen Vorgänge durch bestimmte Muster überformt, 13 deshalb stimmen sie mit den historischen Fakten nicht überein, oft auch nicht mit den schriftlichen Geschichtsschreibungen. Aber sie

9 Die in der Fluchtsage und auch hier in den „Heldensagen-Passagen" als Zeitgenossen be­ schriebenen Figuren, Odoaker, Attila, Ermanricus und Theoderich, gehören in den latei­ nischen Geschichtsschreibungen zu den anderen Generationen. 10 Der Begriff nach Heinzle. Als die Muster, mit denen die Heldensagen die historischen Fakten umerzählen, nennt er „Reduktion", „Assimilation" und „Koordination". Mit die­ ser „Koordination" ist das folgende Verfahren gemeint: „Es zielt darauf ab, die Sagen eines Kreises zyklisch zu einer Art Gesamterzählung zusammenzuschließen, in der alles mit allem zusammenhängt und jeder irgendwie mit jedem zu tun hat." Joachim Heinzle: Die Nibelungensage als europäische Heldensage, in: Die Nibelungen. Sage - Epos - Mythos. Hrsg. v. Joachim Heinzle u. a. Wiesbaden (Reichert) 2003, S. 3-27, hier S. 8. 11 Frutolf hat als Quelle für seine Chronik gleichzeitig zwei unterschiedliche Informationen über die Zeitgenossenschaft von Ermanarich, Attila und Theoderich. Auf der einen Seite hat er die Würzburger Chronik verarbeitet, welche die „Heldensagen-Passagen" der Qued­ linburger Annalen fast direkt übernahm und die oben genannten drei Figuren als Zeitge­ nossen darstellt, und auf der anderen Seite recherchierte Frutolf die Getica des Jordanes, lateinische Historiographie der Goten, wo Theoderich und Attila zu den anderen Genera­ tionen, nämlich zeitlich korrekt, eingeordnet sind. Frutolf lehnt aber die Zeitgenossen­ schaft von Attila und Theoderich nicht völlig ab und schlägt einen Kompromiss vor, dass es einen anderen Theoderich gegeben haben könnte, der Zeitgenosse von Attila gewesen wäre. Vgl. Heinzle (wie Anm. 8), S. 20f. 12 Lienert (wie Anm. 3), S. 11. Solche „Sagenschelte" von Chronisten auf die mündlich-hero• ische Dietrichüberlieferung nach Frutolf eröffnet die um 1140/50 von einem anonymen Regensburger Geistlichen verfasste Kaiserchronik, die das älteste volkssprachliche Ge­ schichtswerk im deutschsprachigen Raum ist (Heinzle (wie Anm. 8), S. 21f.). Der Verfasser dieses Werkes, welches sich „cronicä" nennt, verwirft die mündliche Dichtung als „luge" und verneint die Zeitgenossenschaft von Dietrich und Etzel. 13 Vgl. Anm. 10.

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Konzeptionen der Geschichtlichkeit in der genealogischen Vorgeschichte von ,Dietrichs Flucht'

wurden von den damaligen, den Schriftinstitutionen Zugehörigen, die für die Geschichtsschreibung zuständig und die „Verbürgtheit" der Geschichte aus der schriftliterarisch-heilsgeschichtlichen Sicht zu verifizieren verpflichtet waren, nicht einfach als Fiktion angesehen, sondern sie sahen in ihnen eine andere Art und Weise der Geschichtsüberlieferung: Sie monieren die Sagen gerade deswegen, weil sie die Sage trotz der Abweichungen von der Ge­ schichtsschreibung für etwas „irgendwie Geschichtliches" halten. Auf der anderen Seite ist die lateinische Geschichtsschreibung, welche dem Ge­ schriebenen die höchste Verbürgtheit zuschreibt, auch mit der Historie im heutigen Sinne nicht völlig äquivalent. Oft beobachtet man darin Vermi­ schungen des Sagenhaften und des Historischen.14 Für die Historiographen war es die allererste Aufgabe, durch die Erhellung der Beziehung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart die Stelle der eigenen Zeit in der Heils­ geschichte Gottes zu finden, deshalb überschreiten sie die Dichotomie zwi­ schen Realität und Fiktion. Seit der Jahrhundertwende vom 12. zum 13. Jahrhundert erfuhren die he­ roischen Stoffe im deutschsprachigen Raum Verschriftlichungen, und im Zuge dessen „richtet sich die heldenepische Selbstreflexion nicht auf die mündliche Vergangenheit, sondern auf die literarische Gegenwart. Sie fragt nicht mehr, wie Heldendichtung als mündliche Geschichtsüberlieferung funktioniert hat, sondern, wie sie als literarische Geschichtsüberlieferung funktionieren kann."15 Hier wird die Geschichtlichkeit der heroischen münd• lichen Stoffe zum Gegenstand einer neuen Fragestellung, die zu klären ver­ sucht, welche Geschichtlichkeitskonzeption man der verschriftlichten Hel­ denepik zugeschrieben hat. Dietrich von Bern ist gerade die spezifische Figur, die sozusagen transme­ dial existiert, indem sie die Schwelle zwischen diesen zwei medial unter­ schiedlichen Geschichtsüberlieferungen überschreitet. Deswegen können die Diskurse über ihn der Frage nicht entkommen, welche Geschichtlichkeitskon­ zeption der Dietrichfigur oder der Geschichte über ihn in den jeweiligen Tex­ ten zugrundeliegt ist. Und es gibt unter den mittelhochdeutschen Dietrich­ epen ein Werk, das die mediale Hybridität am deutlichsten darstellt, und an dem man daher die aktuellen Geschichtlichkeitskonzeptionen der Helden­ 16 dichtung zu finden erwarten darf: nämlich Dietrichs Flucht .

14 Treffende Beispiele dafür in Bezug auf Dietrich von Bern wären der Vulkansturz und Höl• lenritt Theoderichs/Dietrichs. Vgl. Lienert (wie Anm. 3), S. 11. 15 Kropik (wie Anm. 1), S. 197. 16 Die Textauszüge aus Dietrichs Flucht in diesem Aufsatz sind nach folgender Quelle zitiert: Elisabeth Lienert & Gertrud Beck (Hrsg.): Dietrichs Flucht. Textgeschichtliche Ausgabe. Tü• bingen (Niemeyer) 2003.

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Die im 13. Jahrhundert entstandenen Verschriftlichungen der Dietrichsage werden nach dem Inhalt zwei Untergattungen, der „historischen" und der „aventiurehaften" Dietrichepik, zugeordnet. Jene knüpft an die Fluchtsage an und macht aus den Geschichtskonstellationen, wie der Gegnerschaft Dietrichs gegen seinen Onkel Ermrich und dem Exil am hunnischen Hof, welche sich aus den historischen Vorgängen entwickelten, ihre gattungskonstitutive Be­ dingung. Zu dieser Gattung gehört Dietrichs Flucht. 17 Die Haupthandlung von Dietrichs Flucht übernimmt die mündlich überlieferte Fluchtsage und zeigt in­ haltlich eine starke Kontinuität in Bezug auf den mündlich-heroischen Stoff. Andererseits wird das Werk nicht in der Strophenform, die in der Hel­ denepik üblich ist, sondern in der Reimpaarform gedichtet, die einen höfisch• chronikalischen Charakter hat. Es hat außerdem vor der Haupthandlung eine Vorgeschichte, „genealogische Vorgeschichte"18 genannt, die von sieben Ge­ nerationen der Vorfahren Dietrichs chronologisch erzählt und quantitativ

17 Zur historischen Dietrichepik zählt man noch die Rabenschlacht, welche in der hand­ schriftlichen Überlieferung mit Dietrichs Flucht eine Einheit bildet, und den nur fragmentarisch überlieferten Dietrich und Wenezlan. Vgl. Heinzle (wie Anm. 8), s. 58-97. 18 V.1-2521. Curschmann analysiert erstmals Dietrichs Flucht als planvoll konstruierte litera­ rische Komposition. Er teilt das Werk in drei Abschnitte ein und nennt den ersten Ab­ schnitt, wo über Dietrichs Vorgänger und Ahnen erzählt wird, „dynastisch-genealogische Einleitung" (Curschmann (wie Anm. 1), S. 360). Man bezeichnet sie in der heutigen For­ schung im Allgemeinen als „genealogische Vorgeschichte" vgl. Kropik (wie Anm. 1), S. 231 sowie Elisabeth Lienert: Die ,historische' Dietrichepik. Untersuchungen zu ,Dietrichs Flucht', ,Rabenschlacht' und ,Alpharts Tod'. Berlin/New York (de Gruyter) 2010, S. 104. In dieser genealogischen Vorgeschichte wird folgende Geschichte erzählt: Dietwart be­ herrschte wie König Artus mit ganzer Tugend das Römische Reich. Er warb nach dem Rat seiner Untertanen um die Tochter König Ladiners, Minne. Auf der Werbungsfahrt tötete er einen Drachen. Dietwart bekam mit seiner Frau 44 Kinder und wurde 400 Jahre alt. Sein Sohn Sigeher, der unter den Kindern Dietwarts als Einziger überlebte, nahm die Tochter des Königs der Normandie namens Amelgart zur Frau. Er hatte 31 Kinder und wurde auch 400 Jahre alt. Seine Kinder starben alle bis auf den Sohn und die Tochter Sige­ lind, deren Sohn der starke Siegfried war. Ortnit übernahm das Reich und wollte um Lieb­ gart werben, die Tochter Königs Godian, der alle Werber zu töten pflegte. Ortnit drang mit seinem Heer ins Land Godians ein und zwang ihn, die Tochter herzugeben. Liebgart wurde seine Frau, aber der König rächte sich: Er schickte vier Drachen in Ortnits Land und sie verursachten großen Schaden. Ortnit wollte sie töten, aber auf dem Weg zur Drachen­ höhle schlief er ein und wurde von den Drachen gefressen. Diese Drachen tötete der Recke aus Griechenland und heiratete Ortnits Witwe, womit er das Reich über• nahm. Er wurde 503 Jahre alt und bekam mit seiner Frau 56 Kinder, die alle bis auf den Sohn Hugedietrich starben. Hugedietrich erkämpfte die Tochter des Königs von Frank­ reich, Sigeminne, und wurde 450 Jahre alt. Er hatte nur einen Sohn Amelung. Der heiratete eine Frau aus Frankreich und hatte 3 Söhne, Diether, Ermrich und Dietmar. Beim Tod Amelungs wurde das Reich unter die Söhne aufgeteilt. Dietmar ist der Vater Dietrichs und er wurde 340 Jahre alt.

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Konzeptionen der Geschichtlichkeit in der genealogischen Vorgeschichte von ,Dietrichs Flucht'

mehr als ein Viertel des ganzen Werkes umfasst. Durch diese Vorgeschichte weicht Dietrichs Flucht von den Gattungsmerkmalen der Dietrichepik ab, weil es kein anderes Werk unter den Dietrichepen gibt, dessen zeitliche Erstre­ ckung über das Leben der Hauptfigur hinausgeht.19 Ein Heros wird nicht als Heros geboren, sondern er wird durch seine eigenen Taten ein Heros - des­ halb ist diese Vorgeschichte nicht nur als Teil der Dietrichepik seltsam, son­ dern im Rahmen der Heldenepik an sich etwas Besonderes. Diese Singularität des Werkes wird auch durch die Narration der Vor­ geschichte betont, die die Geschichte der Könige des Römischen Reichs chronologisch erzählt. Sie nähert sich dadurch deutlich der Historiogra­ phie. Und dass die zeitgenössischen Rezipienten diese Vorgeschichte auch als eine Art Chronik angesehen haben, zeigt die Weltchronik Heinrichs von München. Zwei Handschriften dieser Mitte des 14. Jahrhunderts entstande­ nen Chronik haben die Geschichte der Vorfahren Dietrichs nach der genea­ logischen Vorgeschichte von Dietrichs Flucht erzählt, teilweise direkt über• nommen und ihre Quelle „choranik" genannt.20 Das belegt, dass dieser Vorgeschichte eine schriftlich-chronikalische Geschichtlichkeit zugeschrie­ ben wurde. Durch die stoffliche Kontinuität mit der heroischen Überlieferung in der Haupthandlung und die gleichzeitige Annäherung an die Historiographie durch die metrische Form und die Vorgeschichte stellt Dietrichs Flucht als gan­ zes Werk einen Erzählraum her, in dem sich die unterschiedlichen Geschichts­ überlieferungstraditionen mit dem jeweiligen medialen Hintergrund begeg­ nen. Den ersten Versuch im deutschsprachigen Raum, die Schwelle zur Schrift­ lichkeit zu überschreiten, hat der - Komplex geleistet und dadurch einen Typus schriftliterarischer Heldendichtung eta­ bliert. 21 Die hier beschriebene genealogische Vorgeschichte darf man für die literarische Konzeption halten, welche das „erneute Überschreiten der Schwelle zur Schriftlichkeit unter dem Einfluss der vorangegangenen Ver­ schriftlichung"22 ermöglicht. Sie bereitet eine diachronische Zeitstruktur vor der Haupthandlung vor, verleiht ihr eine heroische Überlieferung, der ur-

19 Hoffmann weist darauf hin, dass es keine deutsche Dietrichdichtung gibt, „die das ganze Leben des Helden umspannte, vielmehr sind jeweils nur einzelne Abschnitte oder gar Epi­ soden aus seinem Leben erzählt worden". Werner Hoffmann: Mittelhochdeutsche Helden­ dichtung. Berlin (Schmidt) 1974, S. 159. 20 Vgl. Gisela Kornrumpf: Heldenepik und Historie im 14. Jahrhundert. Dietrich und Etzel in der Weltchronik Heinrichs von München, in: Geschichtsbewußtsein in der deutschen Lite­ ratur des Mittelalters. Tübinger Colloquium 1983. Hrsg. v. Christoph Gerhardt, Nigel F. Pal­ mer und Burghart Wachinger. Tübingen (Niemeyer) 1985, S. 88-109, hier S. 102ff. 21 Kropik (wie Anm. 1), S. 186. 22 Ebd., S. 188.

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sprünglich ein zeitlicher Kontext fehlt,23 ordnet die Haupthandlung in die Pseudo-Reichsgeschichte ein und entfaltet die Fluchtfabel im historiographi­ schen Erzählhorizont. Von den vier vollständigen Handschriften24 enthalten aber die älteren Textzeugen Rund W, deren Entstehung man um die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert vermutet, den größten Teil dieser Vorgeschichte nicht, welcher die zeitgenössischen Rezipienten einen historiographischen Charakter zuer­ kannten und die daher für die Geschichtlichkeitskonzeption des Werkes un­ entbehrlich zu sein scheint. Das Werk beginnt „plötzlich" mit dem Tod Wolf­ dietrichs, also der vierten Generation. Hier taucht die Frage auf, warum die Vorgeschichte in den Handschriften Rund W gekürzt wurde. Als Erklärung für diesen Überlieferungsunterschied zwischen den Hand­ schriften bildet in der bisherigen Forschung die Hypothese einen gewissen Konsens, dass der in R und W fehlende Großteil der Vorgeschichte, der die Geschichte der ersten vier Generationen der Vorfahren Dietrichs enthält (Diet­ wart, Sigeher, Ortnit und Wolfdietrich), in einer Vorstufe *RW durch die Mit­ überlieferung des Ortnit/Wolfdietrich-Epos ersetzt wurde, das zwar aus ande­ ren Stoffkreisen als denen der Dietrichssage herkommt, aber vom zeitgenössi• schen Rezipienten in die Nähe der Dietrichdichtung gerückt und mit ihr bald auch verbunden wurde. Für diese Hypothese sprächen einerseits der abrupte Einsatz von Rund W mit dem Tod Wolfdietrichs, was das Vorwissen über die Geschichte Wolfdietrichs - und wahrscheinlich auch die immer damit verbun­ dene Geschichte Ortnits - voraussetzt, und andererseits die Tatsache, dass es in der Handschrift W zwischen Ortnit und Dietrichs Flucht ursprünglich elf freigelassene Seiten gab, auf denen das Wolfdietrich-Epos aufzuzeichnen ge­ plant worden sein könnte. Wegen dieser handschriftlichen Überlieferungslage wird auch die Möglichkeit aufgewiesen, dass die Vorgeschichte bis zur Gene­ ration Wolfdietrichs in *RW durch die Mitüberlieferung des Ortnit/Wolfdiet­ rich-Epos für entbehrlich gehalten wurde.25 Aber diese Hypothese erklärt doch nicht, warum nicht nur die Ortnit­ Wolfdietrich-Geschichte, sondern auch die Dietwart- und Sigeher-Geschichte weggelassen wurde, die andernorts nicht belegt ist und quantitativ mehr als vier Fünftel der Vorgeschichte ausmacht, was ihre große Bedeutung stützt.

23 11Eine /1 vorfindliche Zeitrechnung" fehlt in heroischer Überlieferung. Es gibt keine chrono­ logischen Fixierungen, keine Einordnung in chronikalische Zeitraster und Zeitabläufe, auch nicht in Heilsgeschichte oder Kirchenjahr." Lienert (wie Anm. 18), S. 126. 24 Dietrichs Flucht ist in vier vollständigen Handschriften vom späten 13. bis zum Beginn des 16. Jahrhundert (RWPA) sowie in einem Fragment (K) überliefert. Sie bilden zwei Überlie• ferungszweige, *RW und *PA. K steht näher zu A und sie dürften auf eine gemeinsame Vorlage zurückgehen. Vgl. Heinzle (wie Anm. 8), S. 58ff. sowie Lienert & Beck (wie Anm. 16), S. IXff. 25 Heinzle (wie Anm. 8), S. 60f.; Lienert (wie Anm. 18), S. 90.

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Konzeptionen der Geschichtlichkeit in der genealogischen Vorgeschichte von ,Dietrichs Flucht'

Als Grund für diese Kürzung vermutet Lienert die Reduktion der Vorge­ schichte auf die sagenkompatible Genealogie durch die Weglassung der Diet­ wart- und Sigeher-Geschichte, 26 aber das wiederum erklärt auch nicht, warum die Geschichte dieser zwei Generationen überhaupt gedichtet wurde, welche Funktionen sie ursprünglich besaß und warum die von ihr erwarteten Funk­ tionen in *RW unnötig erschienen. Es ist schwer anzunehmen, dass die Ge­ schichte der ersten zwei Generationen einfach ausgelassen werden kann. Es muss für beide Versionen, mit der Dietwart- und Sigeher-Geschichte und ohne sie, Gründe gegeben haben. Wenn man nun auf die Makrostruktur des ganzen Werkes achtet, wird klar, dass es für die Stellung der Haupthandlung in der geschichtlichen Kon­ struktion des Werkes eine entscheidende Rolle spielt, ob der Text diesen Diet­ wart/Sigeher-Teil enthält oder nicht. Im Folgenden wird zuerst die Struktur der Haupthandlung und der Vorgeschichte interpretiert, um die Bedeutung und zugeschriebenen Funktionen der Dietwart- und Sigeher-Geschichte zu erhellen.

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Die Grundstruktur der Haupthandlung besteht in der dreimaligen Wiederho­ lung der aus Dietrichs Fluchtsage herkommenden Erzählschablone, in der die Auseinandersetzung Dietrichs mit Ermrich, der fruchtlose Sieg Dietrichs und das Exil am Hunnenhof als deren Folge beschrieben sind. Darunter wird der Kampf vor Bologna nirgendwo außer in Dietrichs Flucht belegt, deshalb ist er höchstwahrscheinlich eine Erfindung des Dichters von Dietrichs Flucht, den er aber ins traditionelle Schema der Fluchtsage eingliedert und ihn nicht als seine eigene Erfindung, sondern als etwas darstellt, wovon man „noch hiute seit" (v. 9085). Mit dieser Bemerkung macht sich der Dichter die Aura der mündlich tradierten Heldensagen zunutze, um seine eigene Erfindung so dar­ zustellen, als ob man sie aus der Vorzeit durch Hörensagen überliefert hätte. Die Erwähnung der mündlichen Tradierung der Geschichte, die Einhaltung der Erzählschablone der Fluchtsage und die dadurch erreichte Verbindung mit der kulturellen Memoria inszenieren die Geschichtlichkeit und Verbürgt• heit des Erzählten nach dem mündlichen Geschichtsüberlieferungsprinzip. Diese Wiederholungsstruktur beruht doch direkt auf der Fluchtsage und gilt gleichzeitig aber als ihre weitere Bearbeitung: Als Folge der Wiederholung derselben Erzählstruktur stagniert der Zeitablauf, womit das endgültige Er­ gebnis des Kampfes und das Ende von Dietrichs Leben aus dem Kreis der

26 Lienert (wie Anm. 18), S. 90.

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Handlung herausfallen und verschwinden.27 Das bedeutet, dass die Haupt­ handlung selbst wie die mündlichen heroischen Stoffe keinen diachronischen Geschichtskontext aufweist, obwohl man sie „irgendwann in der Vergangen­ heit" ansiedelt. Dagegen beschreibt die Vorgeschichte gerade die Genealogie bis zum Pro­ tagonisten der Haupthandlung, und deren chronikale Struktur bereitet eine zeitliche Tiefe vor seiner Geschichte vor, die den historischen Kontext zur Haupthandlung konstruiert. Dabei macht diese genealogische Vorgeschichte das Brautwerbungsschema, das sich in jeder Generation wiederholt, zu ihrem Konstruktionsbaustein. 28 Dieses Schema ist der Dietrichüberlieferung völlig fremd.29 Neben der chronikalischen Struktur weist dieses Brautwerbungs­ schema darauf hin, dass der Dichter von Dietrichs Flucht diese Vorgeschichte von der Haupthandlung bewusst abzusetzen versucht. Dass die Geschichte der Generation Dietwarts für die Eigenschaft der Ge­ schichtskonstruktion der Vorgeschichte entscheidende Bedeutung hat, steht nicht in Frage, wenn man auf die Proportionen der Vorgeschichte achtet.30 Es ist auch zuerst zu bemerken, dass der Name „Dietwart" nur in Dietrichs Flucht und dessen Exzerpt in der Weltchronik Heinrichs von München belegt ist und aus den Namen Dietrich/Dietmar/Diether, die in den mündlichen Stoffen exis­ tieren, ausgedacht zu sein scheint. Deshalb ist seine Geschichte höchstwahr• scheinlich die freie Erfindung des Dichters von Dietrichs Flucht. Es wird auch seine Herkunft oder Geburt nicht beschrieben; Dietwart ist vom Anfang an Herrscher - ohne klaren Beginn wird begonnen, die Genealogie zu erzählen. Dietwart hat nämlich nicht mit der Reichsgründungsfabel zu tun; seine Ära ist vielmehr als Durchgangspunkt einer stabilen Herrschaft inszeniert und da­ durch wird der Anfang des Reichs auf ein Jenseits der Zeit verlegt. Diese Zeit­ punktbeschreibung der Generation Dietwarts erteilt seiner Geschichte eine Art Ahistorizität, gleich wie die Eigenschaft der Zeit von König Artus und seines Hofes: Sie existieren „irgendwann in der Vergangenheit".

27 Damit fällt die Todesepisode Dietrichs (Vulkansturz bzw. Höllenritt) weg, die in den kirch­ lichen Geschichtsüberlieferungen oft tradiert ist und Theoderich/Dietrich ein negatives, „teufliches" Bild verleiht. Dadurch wird es in Dietrichs Flucht möglich, Dietrich als einen idealen Herrscher darzustellen. 28 „[ ... ] in der nachnibelungischen Heldenepik spielt die Brautwerbung ebenfalls eine zent­ rale Rolle [„ .], nirgend aber bestimmt sie die Handlung so völlig wie in der genealogi­ schen Vorgeschichte von Dietrichs Flucht". Sonja Kerth: Gattungsinterferenzen in der späten Heldendichtung. Wiesbaden (Reichert) 2008, S. 133. 29 Außer dieser genealogischen Vorgeschichte gibt es keine Episode, bei der das Brautwer­ bungsschema die Erzählstruktur bildet. 30 Die genealogische Vorgeschichte umfasst ca. 2500 Verse; darunter v.1-1900 für Dietwart, v. 1901-2072 für Sigeher, v. 2073-2260 für Ortnit, v. 2261-2310 für Wolfdietrich, v. 2311- 2380 für Hugedietrich, v. 2381-2348 für Amelung, v. 2349-2536 für Dietmar.

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Konzeptionen der Geschichtlichkeit in der genealogischen Vorgeschichte von ,Dietrichs Flucht'

Solcher zeitlichen Struktur entsprechend wird im Teil Dietwarts und auch Sigehers eine rein idealhöfische Welt dargestellt. Die Beschreibung der Vor­ gänge dieser Generationen hat immer höfische, nicht-heldenepische Züge: Dietwart wird mit Artus gleichgesetzt, 31 sein Hof wird mit dem Artushof identifiziert, der das Idealbild des Hofes in der ritterlichen Gesellschaft dar­ stellt. Solche direkten Bezugnahmen auf die höfischen Romane beschränken sich nicht nur auf Dietrichs Ahnen. Bei der Vorstellung von Tibalt von Polen, einem Vasall Dietwarts, wird er mit dem Gralsritter Parzival verglichen, und in Bezug auf ihn werden die Artusritter erwähnt.32 Diese Diskurse beabsichti­ gen deutlich, Dietrichs Flucht mit den Artusromanen intertexutell zu verbin­ den. Auch der Verlauf der Brautwerbung Dietwarts bildet zur heldenepischen Welt, in der die Haupthandlung spielt, einen Kontrast. Der Empfang König Ladiners, um dessen Tochter Dietwart wirbt, ist, anders als die bei Heldensa­ gen topische verräterische Einladung, 33 eine friedlich-freundliche und hat bloß die Bedeutung einer „ungefährlichen Brautwerbungsfahrt". In der Gene­ ration Dietwarts wird eine völlig ideal-höfische Welt dargestellt, wo ein ganz anderes Prinzip als das heroische herrscht und die als allzu ideal und schon in den Augen der Rezipienten der Entstehungszeit des Werkes als anachronis­ tisch erscheinen kann. Diese höchste Idealität verleiht der Geschichte von Dietwart Irrealität, Fiktionalität sogar. In einer solchen fast problemlosen Welt stellt aber der Drachenkampf in der Mitte der ungefährlichen Brautwerbung Dietwarts eine Besonderheit dar, die an einer solchen idealen Welt einen Abstrich macht. Obwohl dieser Dra­ chenkampf eine „Gefahr" erzeugt, gibt es keine Notwendigkeit, dass er der

11ungefährlichen" Brautwerbung zugefügt wird - beinahe 11kontextlos" kommt er in der Handlung vor. Man darf natürlich dieser Drachentötung Dietwarts die Bedeutung zuschreiben, Dietwarts Legitimität und Fähigkeit als Herrscher zu beweisen.34 Aber viel mehr verweist dieser Drachenkampf auf die Existenz der im Drachen verkörperten weltbedrohenden Kraft am Rande einer idealen Welt35 - in diesem Kampf stirbt der mit einem Gralsritter vergli­ chene Tibalt - und bildet den Ausgangspunkt der groben Erzählstruktur für

31 „er lebte recht als Artaus /mit rechter ritterscheffte" (v.108-109); „Nu lassen wir die mere stan / und heben aber an, / wie Dietwart der reiche / lebet rurstleiche, / als Artus ye gele­ bete" (v. 127-131). 32 „Solt yeman bejagen den gral / alssam der kuene Partzefal, / des ist er wol als gar bewegen /als von der tavelrunden dhain degen /bei Arthuses zeiten." (v.491-495). Dieser einem Gralsritter gleiche Tibalt stirbt aber in einem Drachenkampf auf der Brautwerbungsreise (v. 1562-1577). 33 Vgl. Kerth (wie Anm. 28), S. 78. 34 Vgl. ebd., S. 134f. 35 Vgl. Lienert (wie Anm. 18), S. 139f.

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die folgenden Generationen; diese Kraft steigert sich stufenweise nach Gene­ rationen. Beachtlich ist an dieser Kraft, trotz ihrer leichten Überwindbarkeit in der Generation Dietwarts, dass sie sich zu einer absoluten Größe, nämlich Erm­ rich in der Haupthandlung, steigert - er ist trotz mehrmaliger Siege nicht zu beseitigen. Wenn man diese Genealogie anhand der Brautwerbung der jewei­ ligen Generationen von Dietwart bis Dietmar verfolgt, wird deutlich, dass die Geschichte der sieben Generationen gerade die Vergrößerung dieser Kraft be­ schreibt. In der Zeit von Sigeher, dem direkten Nachfolger von Dietwart, kommt diese Kraft nicht vor, und er vollbringt seine Brautwerbung immer noch friedlich. In seiner Zeit scheint die Welt die Spitze des höfischen Ideals erreicht zu haben, in der nächsten Generation von Ortnit taucht jene Kraft, die den Frieden der Welt bedroht, in Gestalt des Drachens wieder auf. In dieser Generation verändert sich zuerst die bisher friedlich ausgeführte Brautwerbung in einen gewalthaften Brautraub; Ortnit dringt mit seinem Heer ins Land des Königs Godian, der jeden Werber zu töten pflegt, ein, ver­ wüstet das Land und zwingt den König, die Tochter herzugeben. Der Erfolg dieser Brautwerbung bleibt aber oberflächlich: Der König Godian schickt heimlich vier Drachen ins römische Land, um den Brautraub zu rächen, und Ortnit will die Ungeheuer bezwingen, wird aber von ihnen gefressen und stirbt, ohne Kinder zu hinterlassen, was für die Kontinuität des Reichs die größte Krise hervorbringt. Die Beschreibung der gewalttätigen Art und Weise, wie Ortnit diese Werbung ausgeführt hat, 36 bildet einen klaren Kontrast zu den vorgängigen Generationen und gibt den Eindruck der Entfernung von dem ideal-höfischen Herrscherbild, das Dietwart und Sigeher verkörperten, und sein Tod durch die Drachen macht deutlich, dass die in den Drachen ver­ körperte weltbedrohende Kraft schon fast unbewältigbar groß geworden ist. Als Töter dieser Drachen tritt dann Wolfdietrich, als „ein recke mit elenthafter hant, / kuene, starch und loblich" (v. 2263f.), in der Geschichte auf. Diese Be­ schreibung Wolfdietrichs weist offensichtlich darauf hin, dass er andere Attri­ bute als die ideal-höfischen Herrscher Dietwart und Sigeher hat; er ist als ein „recke", nämlich eine heroische Figur, in die Geschichte eingeführt. Das Wort recke gehört eindeutig zum heldenepischen Wortschatz,37 was eine klare Grenze zu den vorgängigen Generationen zieht. Gemäß seiner he­ roischen Eigenschaft rächt er Ortnit an den Drachen und heiratet seine Witwe

36 Er hat das Land vom Anfang an „mit velde [in P: mit wuste] und mit prande" (v. 2175) überfallen. 37 Der paradigmatische Wechsel des Raums mit dem Wort „recke" erinnert an die Brautwer­ bungsepisode um Brünhild im Nibelungenlied, wo die Werber „in recken wis" abreisen mussten, um aus dem höfischen Raum den heroischen zu erreichen und die Fahrt erfolg­ reich zu beenden.

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Liebgart, dadurch übernimmt er das Reich. Hier wendet sich die genealogi­ sche Linie vom höfischen Herrscher zum heldenepischen Kämpfer. Gleichzei­ tig bricht hier mit dem Tod Ortnits die biologische Kontinuität seit Dietwart ab, doch wird, worauf Kellner hinweist, die bei Ortnit offenbarte Erlahmung der Idealität des Herrschers durch das neue Blut Wolfdietrichs aufgefrischt, und die kontinuierliche Linie des Römischen Reichs und der Genealogie durch die Amtssukzession geht ununterbrochen weiter. 38 Aber was bei dieser Sukzession wichtig ist, ist der Wechsel des Raumbildungsprinzips. In den Generationen von Dietwart und Sigeher entfaltet sich eine höfisch• utopische Welt mit der Erwähnung von Artus oder den Gralsrittern, und dementsprechend ist die Brautwerbung auch mit der Ausnahme des Drachenkampfes als nicht heldenepische, „ungefährliche" dargestellt. Obwohl die Drachentötung die Fähigkeit und Legitimität Dietwarts als eines Herrn demonstriert, bleibt diese Episode eine sekundäre innerhalb der Braut­ werbung - „ wie ein Versatzstück, eine Zutat, die den idealen Verlauf der Handlung nur vorübergehend stört, ohne ihn ernsthaft gefährden zu 39 können" • Dagegen gibt die Drachentötung des Recken Wolfdietrich durch seine Heldentat der Genealogie einen neuen Beginn. Hier wendet sich der Ge­ schichtsraum von einem höfisch-idealen, fast ahistorischen zu einem heroi­ schen, den die mündliche Geschichtsüberlieferung fortsetzt, und es ist bemer­ kenswert, dass dieser paradigmatische Wechsel gerade in der historiographi­ schen Struktur „historisch" durchgeführt wird: Durch diese genealogische Vorgeschichte werden der utopisch-höfischen Welt und der heldenepischen Welt in der historiographischen Geschichtsstruktur ihre Stellen angewiesen, und zwischen ihnen wird ein historischer Zusammenhang hergestellt. Mit dieser historiographischen Struktur synchronisiert ist die Art und Weise, wie die weltbedrohende Kraft an der Oberfläche der Erzählung vor­ kommt. Trotz der Drachentötung Wolfdietrichs und der Wiederherstellung der höfisch-idealen Beschreibung bei Hugedietrich40 verschwindet diese Kraft nicht mehr, und seit der Generation Wolfdietrichs kehrt das Reich nicht mehr in den idealen Zustand zurück, sondern versinkt allmählich in Unruhen: Hugedietrich hat seine Frau Sigeminne aus ihrem Heimatland Frankreich mit großer Schwierigkeit „erstreit" (v. 2362), was die gefährliche Brautwerbung

38 Beate Kellner: Kontinuität der Herrschaft. Zum mittelalterlichen Diskurs der Genealo­ gie am Beispiel des Buches von Bern, in: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent. Hrsg. v. Jan-Dirk Müller & Horst Wenzel. Stuttgart/Leipzig (Hirzel) 1999, S. 43-62, hier s. 48f. 39 Ebd., S. 48. 40 Die Beschreibung der höfischen Idealität Hugedietrichs (v. 2337-2340) stimmt mit der Be­ schreibung Heinrichs in Der arme Heinrich Hartmanns von Aue (v. 64-67) fast wörtlich überein.

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andeutet, und in der Generation Amelungs geht das Reich völlig in die Zeit des Tumults über: „Amelung leit sit grozze not/ mit manigen urliugen, / uns welle daz mcer triugen, / Idoch betwanch er manich lant, daz ist genugen wol erchant" (v. 2385-2389). Über seine Brautwerbung wird nur erzählt, dass er eine Frau aus Kerling bekam (v. 2404). Die Gefahr, die Amelung erleben soll, beschänkt sich nicht mehr auf die gefährliche Brautwerbung, sondern es wird an seiner Generation verdeutlicht, dass sich das Reich selbst in einem kriti­ schen Zustand befindet. Hier verschwindet endlich das Brautwerbungs­ schema, das als Bauprinzip der genealogischen Vorgeschichte fungiert hat. Amelung hinterläßt drei Söhne, was von der „natürlichen Auslese"41 ab­ weicht, und damit geht die Problemlosigkeit der Sukzession der Herrschaft zu Ende. Schließlich wird Ermrich als Kind Amelungs geboren, der als Erzfeind Dietrichs das größte Unheil in die Welt bringt. Mit diesem Hintergrund knüpft die Vorgeschichte an die Haupthandlung an. Diese Vergrößerung der Bedro­ hung der Welt gibt der Genealogie eine historische Dynamik von ideal-höfisch zu gewalttätig-heroisch; mit anderen Worten, von ahistorisch-idealistisch zu historisch-realistisch, und der Drachenkampf bzw. Kampf gegen die weltbedro­ hende Macht stellt auch eine Schablone der Auseinandersetzung Dietrichs von Bern mit seinem bösen Gegner, Ermrich, in der Haupthandlung her. Auch die durch das biblisch hohe Alter und die Kinderzahl angedeutete Analogie von Dietrichs Ahnen zu Patriarchen dient dazu, den Zeitraum der Haupthandlung aus der heilsgeschichtlich-historiographischen Sicht zu be­ stimmen. Neben dem Brautwerbungsschema bilden noch das biblisch hohe Alter und die starke Zeugungskraft fast aller Vorfahren Dietrichs die Eigen­ schaften der Geschichtskonstruktion der genealogischen Vorgeschichte.42 „Sie wecken Assoziationen an die ideale Vergangenheit biblischer Patriarchen" .43 Zugleich aber wird deutlich, dass das Alter sowie die Kinderzahl ebenfalls nach zwei Höhepunkten bei Dietwart und Wolfdietrich eine sinkende, „dege• nerierende"44 Tendenz zeigen. Diese Konstruktion setzt dem Goldenen Zeit­ alter des Hofes unter Dietwart/Sigeher die Haupthandlung entgegen und lässt die zeitliche Entfernung beider Zeitalter voneinander sichtbar werden. Dadurch wird die Geschichte von der sich wiederholenden Erzählstruktur be­ freit, und zwischen dem ideal-höfischen Raum und dem gewalttätig-heroi• schen entwickelt sich eine historische Dynamik.

41 Kellner (wie Anm. 38), S. 52. 42 Vgl. Anm. 18 43 Lienert & Beck (wie Anm. 16), S. 67, Kommentar zu v. 2090. 44 Vgl. Walter Haug: „Hyperbolik und Zeremonialität. Zu Struktur und Welt von ,Dietrichs Flucht' und ,Rabenschlacht"', in: Deutsche Heldenepik in Tirol. König und Dietrich von Bern in der Dichtung des Mittelalters. Beiträge der Neustifter Tagung 1977 des Südtiroler Kulturinstitutes. Bozen (Athesia) 1979, S. 116-134, hier S. 120-122.

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Die Aufnahme des Exzerptes der Vorgeschichte als „choranik" in die Welt­ chronik Heinrichs von München nun weist darauf hin, dass der Verfasser die­ ser volkssprachlichen Chronik im Geschichtskonzept dieser genealogischen Vorgeschichte eine mit seiner Chronik homogene Geschichtlichkeit aner­ 45 kannte und sie für eine „seriöse historische Quelle" , also historisch verbürgt, hielt. Das zeigt gleichzeitig, dass diese genealogische Vorgeschichte als ein li­ terarischer Apparat fungiert, der der Haupthandlung von Dietrichs Flucht eine Legitimität im historiographischen Sinne zu verleihen vermag, wo nichts an­ deres als die mündlich überlieferte Fluchtsage erzählt wird.

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Aber in *RW, wo der Dietwart- und Sigeher-Teil weggenommen ist und damit der Ausgangspunkt der oben genannten Geschichtsstruktur der Vorge­ schichte, der Drachenkampf Dietwarts und die ideal-höfische Welt Sigehers, fehlt, wird diese historiographische Struktur und die damit verbundene zeit­ liche Verschiedenheit zwischen der ideal-höfischen Vorzeit und der heroisch­ gewalttätigen Zeit der Haupthandlung nicht errichtet. Die größte Folge dieses Unterschieds liegt darin, dass die durch die Wiederholung des Brautwer­ bungsschemas entstandene historische Dynamik der Vorgeschichte verwischt wird. „Wenn in den älteren Handschriften die Vorgeschichte um den quasi­ arturischen Teil gekürzt ist, entfällt die Gegenüberstellung von prekärer Erm­ rich-Dietrich Zeit und (fast) idealer arturischer Vorvergangenheit, die die Ge­ schichtsperspektive der ,Flucht' prägt."46 Auch wenn die Hypothese, dass das Ortnit/Wolfdietrich-Epos den gekürzten Teil ersetzt habe, zutrifft, ist es für die Konstruktion der im letzten Kapitel verifizierten historischen Struktur nicht genügend. Warum wurde die Vorgeschichte in *RW gekürzt, und welche Bedeutung hat der Unterschied zwischen diesen zwei Versionen der Vorgeschichte - zwi­ schen der langen, originalen, und der gekürzten? Wenn man die beiden Ver­ sionen als Genealogie vergleicht, wird deutlich, dass der größte Unterschied im Kontinuitätsprinzip der Genealogie liegt: Die originale, lange, die Genera­ tion Dietwarts und Sigehers inkludierende Vorgeschichte bildet ihre Genealo­ gie nach dem Amtssukzessionsprinzip des Römischen Reichs. Dem entspricht die als Historiographie angenommene Vorgeschichte, und wenn man die Auf­ nahme dieser Genealogie mit einem biologischen Kontinuitätsbruch zwischen Ortnit und Wolfdietrich in die Weltchronik Heinrichs von München in Betracht

45 Heinzle (wie Anm. 8), S. 63. 46 Lienert (wie Anm. 18), S. 90.

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zieht, wird es klar, dass dieser Bruch für die Genealogie der langen Vorge­ schichte wegen des oben genannten Prinzips nicht von größerer Bedeutung ist als die amtliche Kontinuität. Dagegen beschreibt *RW die Genealogie einer direkten biologischen Linie

von Wolfdietrich bis zu Dietrich. Dieses Prinzip stützt der Satz in *PA, 11 aller erst han ich euch bracht / an das rechte märe, / wer alder des von Pem were" (v. 2321-2323), was die biologische Kontinuität als die primäre Bedingung der Genealogie ausweist. Man findet diese Diskurse gerade an der Stelle, wo in *RW die Geschichte beginnt; dieser Aussage folgend, fängt der Text bei *RW mit dem Tod Wolfdietrichs an, der der biologisch direkte Vorfahr des Protago­ nisten der Haupthandlung ist. Dieser plötzliche Beginn mit seinem Tod impli­ ziert, dass vom Rezipienten erwartet wurde, dass er, entweder durch den Er­ satz durch das Ortnit/Wolfdietrich-Epos oder durch das Hörensagen der Hel­ densage, die Geschichte von Ortnit und Wolfdietrich schon kannte. In dieser gekürzten Vorgeschichte verschwindet der dem Stoff wesentlich fremde höfische Erzählhorizont, in dem sich die Geschichte Dietwarts und Si­ gehers entfaltete. Deshalb wird von der gekürzten Vorgeschichte, die nur die Geschichte nach dem Tod Wolfdietrichs erzählt, die Bedeutung als historio­ graphisch-reichsgeschichtliche Genealogie getilgt. Während die lange Vorge­ schichte von *PA nach dem historiographischen Geschichtskonzept formu­ liert und darin historiographische Geschichtlichkeit anerkannt wurde, legt die gekürzte Version von *RW auf dieses Geschichtskonzept, das auf der amtli­ chen Kontinuität basiert, kein großes Gewicht; sie dürfte dagegen durch die Herstellung von Blutsverwandtschaft ein Heldenzeitalter inszenieren. Aber es bleibt noch die Frage, warum Rund W diese gekürzte Version aufgenommen haben. Ein Schlüssel zu dieser Frage wäre, dass die Geschichte von Dietwart und Sigeher, die gerade die Idealität des Höfischen verkörpern und die Rolle als Dietrichs Amtsvorfahren spielen, nirgendwo außer in dieser Vorgeschichte belegt ist. Das bedeutet, dass die Rezipienten des Werkes ihre

Geschichte nie 11 sagen gehört haben", ihre Geschichten können also keine Ge­ schichtlichkeit im Sinne der heroischen Überlieferung haben. Zum Zeitpunkt der Entstehung der Handschrift R und W am Ende des 13. Jahrhunderts oder Anfang des 14. Jahrhunderts durfte man annehmen, dass das volkssprachige Publikum sich noch vorwiegend an mündlicher Überlieferung orientierte. Für diejenigen, die sich unter dem Einfluss des Geschichtlichkeitskonzepts der mündlich-volkssprachigen Geschichtsüberlieferung befanden, könnte es schwer zu akzeptieren gewesen sein, solche unbekannte Geschichte für ver­ bürgt zu halten. Die Tatsache, dass der Dichter von Dietrichs Flucht innerhalb der genealo­ gischen Vorgeschichte, besonders im Teil der ersten zwei Generationen, unge­ wöhnlich oft Quellenberufungen einfügt, weist darauf hin, dass er sich des

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Mangels solcher Geschichtlichkeit der mündlichen Dichtung in der Ge­ schichte Dietwarts und Sigehers bewusst war.47 Außerdem versucht der Dich­ ter, in den Generationen Dietwarts und Sigehers intertextuelle Verbindungen zu mündlich weit verbreiteten Stoffen durch die Versippung zu etablieren; als Bruder der Prinzessin Minne, um die Dietwart wirbt, setzt der Dichter den König Rother ein (v.1318), und die Tochter Sigehers sei die Siglint (v. 2045ff.), welche die Mutter Siegfrieds im Nibelungenlied wird. Mit diesen Versippun­ gen dürfte der Dichter darauf gezielt haben, die Verbürgtheit der Geschichte zweier Generationen durch die Verbindung mit populären heroischen Stoffen zu inszenieren. Hier sind die noch wirkenden Geschichtlichkeitskonzeptio­ nen der mündlichen Erzähltradition zu finden, und man darf dieses Weiter­ wirken für den Grund der Kürzung der Vorgeschichte halten.

47 Vgl. Lienert & Beck (wie Anm. 16), S. 13, Anm. zu v. 255; S. 14, Anm. zu v. 282; vgl. Kropik (wie Anm. 1), S. 205, Anm. 62.

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