Plenarprotokoll 18/191

Deutscher

Stenografischer Bericht

191. Sitzung

Berlin, Freitag, den 23. September 2016

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- b) Erste Beratung des von den Abgeordneten neten Ulrich Petzold und Wilfried Lorenz. . . 19025 A (Köln), Özcan Mutlu, , weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Tagesordnungspunkt 38: eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung der Einbürgerung Unterrichtung durch die Bundesregierung: Be- und zur Ermöglichung der mehrfachen richt der Bundesregierung zur weltweiten Staatsangehörigkeit Lage der Religions- und Weltanschauungs- Drucksache 18/5631...... 19039 A freiheit Drucksache 18/8740...... 19025 B Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 19039 A (CDU/CSU) ...... 19025 C (Altötting) (CDU/CSU). . . . . 19040 C Dr . (DIE LINKE)...... 19027 A Sevim Dağdelen (DIE LINKE)...... 19043 B (SPD)...... 19028 C Rüdiger Veit (SPD)...... 19044 C Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 19030 A Dr . (CDU/CSU) ...... 19045 D Dr . Maria Böhmer, Staatsministerin AA. . . . . 19031 C (DIE LINKE)...... 19046 D Angelika Glöckner (SPD)...... 19032 C Detlef Müller (Chemnitz) (SPD) ...... 19047 D (CDU/CSU) ...... 19033 D Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 19049 B (DIE LINKE) ...... 19034 B (CDU/CSU)...... 19050 B (SPD)...... 19035 A Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ , Parl . Staatssekretär DIE GRÜNEN)...... 19051 B BMZ...... 19036 C Rüdiger Veit (SPD)...... 19052 C Dr . (CDU/CSU)...... 19037 C Barbara Woltmann (CDU/CSU)...... 19052 D

Tagesordnungspunkt 9: Tagesordnungspunkt 40: a) Antrag der Abgeordneten Volker Beck a) Erste Beratung des von der Bundesregie- (Köln), Özcan Mutlu, , rung eingebrachten Entwurfs eines Dritten weiterer Abgeordneter und der Fraktion Gesetzes zur Stärkung der pflegerischen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Britische Versorgung und zur Änderung weiterer Staatsangehörige rasch und unkompli- Vorschriften (Drittes Pflegestärkungsge- ziert einbürgern setz – PSG III) Drucksache 18/9669...... 19038 D Drucksache 18/9518...... 19054 C II Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 b) Antrag der Abgeordneten , Ulla Jelpke (DIE LINKE)...... 19064 B Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias (SPD)...... 19065 B W . Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Pflege teilhabe- Dr . (BÜNDNIS 90/ orientiert und wohnortnah gestalten DIE GRÜNEN)...... 19067 D Drucksache 18/8725...... 19054 C Dr . Ole Schröder, Parl . Staatssekretär c) Antrag der Abgeordneten Elisabeth BMI...... 19069 A Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche, (CDU/CSU)...... 19070 A Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Pflege vor Ort gestalten – Bessere Bedingungen für eine nutzerori- Tagesordnungspunkt 42: entierte Versorgung schaffen Antrag der Abgeordneten , Drucksache 18/9668...... 19054 D , , weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Wo- Ingrid Fischbach, Parl . Staatssekretärin chenhöchstarbeitszeit begrenzen und Ar- BMG...... 19054 D beitsstress reduzieren Pia Zimmermann (DIE LINKE)...... 19056 A Drucksache 18/8724...... 19071 B (SPD)...... 19057 B Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 19071 B Pia Zimmermann (DIE LINKE)...... 19058 B Uwe Lagosky (CDU/CSU)...... 19072 C Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 19059 A DIE GRÜNEN)...... 19074 B Erwin Rüddel (CDU/CSU)...... 19060 A (SPD) ...... 19075 B Gabriele Schmidt (Ühlingen) (CDU/CSU). . . . 19076 C (SPD) ...... 19061 B Helga Kühn-Mengel (SPD)...... 19078 B (CDU/CSU)...... 19062 A

Nächste Sitzung ...... 19079 C Tagesordnungspunkt 41: Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD und Anlage 1 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Deutsches En- gagement beim Einsatz von Polizistinnen Liste der entschuldigten Abgeordneten. . . . . 19081 A und Polizisten in internationalen Friedens- missionen stärken und ausbauen Drucksache 18/9662...... 19063 A Anlage 2 Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU). . . . . 19063 B Amtliche Mitteilungen...... 19081 D Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19025

(A) (C)

191. Sitzung

Berlin, Freitag, den 23. September 2016

Beginn: 9 .01 Uhr

Präsident Dr. : Volker Kauder (CDU/CSU): Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon vor fast 20 Jahren hat die CDU/CSU-Bundestags- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie fraktion das Erstellen eines Berichts über Religionsfrei- herzlich zur letzten Plenarsitzung in dieser Woche . heit und die Verfolgung von religiösen Minderheiten im Der Bundestag ist nicht nur, aber auch deswegen heu- Deutschen Bundestag thematisiert . Das war unter der te Morgen zusammengetreten, um dem Kollegen Ulrich Regierung Schröder . Die Regierung Schröder sah da- Petzold zu seinem heutigen 65 . Geburtstag zu gratulieren mals keine Veranlassung, feststellen zu lassen, dass es eine nennenswerte Verfolgung vor allem von Christen in (Beifall) der ganzen Welt gibt . Heute diskutieren wir erneut über und nachträglich dem Kollegen Wilfried Lorenz, der in einen Bericht der Bundesregierung . Dieser Bericht zur der vergangenen Woche seinen 74 .Geburtstag gefeiert weltweiten Lage der Religions- und Weltanschauungs- freiheit ist erstmals aufgrund eines Antrages aus diesem (B) hat . Ihnen beiden alle guten Wünsche des Hauses für das (D) neue Lebensjahr . Parlament entstanden . Zunächst einmal muss man sagen, dass wir dafür dankbar sind, dass die Bundesregierung (Beifall) diesen Bericht verfasst hat und wir heute die Möglich- keit haben, über dieses Thema, über das wohl wichtigste Wir rufen jetzt den Tagesordnungspunkt 38 auf: Menschenrecht überhaupt, das Recht auf Religionsfrei- Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- heit, miteinander zu diskutieren . gierung In diesem Bericht wird an mehreren Beispielsfällen Bericht der Bundesregierung zur weltweiten der Frage nachgegangen, was die typischen Verfolgungs- Lage der Religions- und Weltanschauungs- muster sind . Wobei in diesem Bericht auch klargestellt freiheit wird, dass es unterschiedliche Formen der Verfolgung gibt: Es gibt zum Beispiel die Ausgrenzung . Es gibt aber Drucksache 18/8740 auch schwere Strafen für Vergehen gegen die Vorgaben Überweisungsvorschlag: eines Staates, dass nur bestimmte Religionen zugelassen Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (f) werden . Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Dieser Bericht widmet ein besonderes Kapitel einem Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Thema, das zunehmend Anlass für Unterdrückung und Verteidigungsausschuss Verfolgung ist, nämlich die Frage der Konversion . In Ar- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend tikel 18 der Menschenrechtscharta der Vereinten Natio- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien nen steht nämlich nicht nur expressis verbis, dass jeder das Recht hat, seine Religion frei und öffentlich zu leben, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für sondern dort steht auch, dass jeder das Recht hat – weil die Aussprache 77 Minuten vorgesehen. – Das ist offen- dies zur Religionsfreiheit gehört –, seine Religion zu kundig einvernehmlich . Also können wir so verfahren . wechseln oder auch nichts zu glauben . Es gibt eine ganze Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- Reihe von Staaten – vor allem islamische Staaten und nächst dem Kollegen Volker Kauder für die CDU/ Staaten, in denen Muslime die Mehrheit darstellen –, in CSU-Fraktion . denen der Wechsel vor allem aus der islamischen Religi- on mit Strafen, teilweise mit harten Strafen bedroht wird . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Selbst in den Ländern, in denen die Religionsfreiheit in ordneten der SPD und des Abg . Volker Beck der Verfassung garantiert wird, gibt es in Gesetzen und [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Strafgesetzbüchern harte Sanktionen bei einem Wechsel, 19026 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016

Volker Kauder (A) immer wieder auch mit dem Hinweis darauf, dass er dann Ein Letztes . Wenn wir uns anschauen, was in dieser (C) bestraft wird, wenn er öffentliches Aufsehen erregt hat. Welt passiert, dann sehen wir, dass Angehörige von Min- Aber wer entscheidet darüber, was „öffentliches Aufse- derheiten bis hin zum Tod verfolgt werden . Ich denke da- hen“ bedeutet? Wenn jemand die Religion wechselt und bei beispielsweise auch an Muslime im Irak . Allerdings dies in einem kleinen Dorf bekannt wird, kann das natür- steht in diesem Bericht nur relativ wenig – um nicht zu lich zu Aufsehen führen, weil die Angehörigen der Re- sagen: fast nichts – darüber, dass die Christen die größte ligion, von der man gewechselt ist, dies publik machen . verfolgte Gruppe in der ganzen Welt sind – mindestens Diesem Punkt wird eine besondere Aufmerksamkeit zu- 100 Millionen Menschen –, und er enthält beispielsweise gewendet . auch keine Hinweise auf Boko Haram in Afrika . Das zeigt schon, dass wir uns in der Diskussion im Ausschuss mit Allerdings stellt der Bericht ein gewisses Problem für diesem Punkt noch einmal ausdrücklich befassen müs- uns, die wir uns schon seit vielen Jahren und Jahrzehn- sen . Hier reicht der Hinweis auf den Bericht der beiden ten mit diesem Thema befassen, dar . Es wird nämlich großen Kirchen, der evangelischen und der katholischen vom klassischen Muster der sogenannten Länderberich- Kirche – und ich füge hinzu: auch der jährliche Bericht te abgewichen . Jetzt kann man sagen: Gut, man kann ja von Open Doors zu diesem Thema wurde wahrscheinlich ein neues Darstellungsverfahren wählen .– Aber warum vergessen –, nicht . gerade hier und beispielsweise nicht in dem Bericht zur Menschenrechtslage, der auch regelmäßig vorgelegt (Beifall bei der CDU/CSU) wird und in dem Beschreibungen nach Länderkategori- Man fragt sich, ob es in dieser Frage nicht doch not- en oder zumindest nach regionalen Kategorien erfolgen? wendig wäre, dem Beispiel anderer Staaten zu folgen . Das führt dazu, dass man intensiv nachschauen muss, Die Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada und Nor- wo bzw . in welchen Kapiteln die entsprechenden Länder wegen beispielsweise haben bzw . hatten einen Sonder- aufgeführt sind, und dann zusammentragen muss, was botschafter für Religionsfreiheit . Bisher wurde dies aus die Bundesregierung dazu meint, wie schlimm, wie tra- der Bundesregierung immer mit dem Hinweis abgelehnt: gisch oder wie auffällig die Verfolgungssituation in den Wir haben ja einen Menschenrechtsbeauftragten .– Aber verschiedenen Ländern ist . Das hat zur Folge, dass – si- man sieht deutlich, dass Menschenrechte im Allgemei- cher aus Versehen – auch das eine oder andere vergessen nen und Religionsfreiheit im Besonderen unterschiedli- wird . che Ansatzpunkte haben . Gerade deshalb, weil wir jetzt erleben, dass Religion zu einem dramatischen Thema Ein Beispiel . Alle, die sich intensiv mit diesem The- politischer Auseinandersetzungen wird – bis hin zu der ma befassen, wissen, dass vor allem Pakistan mit seinen Frage von Krieg und Frieden –, würde ich mir wünschen, Blasphemiegesetzen eine besondere Sanktion im Bereich dass wir uns mit dieser Frage noch einmal ausführlich der Religionsfreiheit – in Anführungsstrichen – vorsieht . (B) beschäftigen . (D) Schaue ich mir nun in diesem Bericht die verschiedenen Stellen an, an denen Pakistan aufgeführt wird, stelle ich Wir hatten in der letzten Woche eine große internatio- fest: Dort steht, dass in Pakistan vor allem muslimische nale Parlamentarierkonferenz zum Thema Religionsfrei- Minderheiten verfolgt werden . Es steht dort kein einziges heit hier in Berlin in unserem Fraktionssitzungssaal . Alle Wort darüber, dass in Pakistan Christen verfolgt werden, Religionen waren dort vertreten, und wir haben teilweise und dies vor dem Hintergrund – das muss ich der Bundes- dramatische Berichte von Abgeordneten gehört, die Min- regierung schon sagen –, dass wir alle seit Jahren, auch derheiten angehören . Besonders dramatisch war der Be- hier in diesem Haus, mit großer Sorge das Schicksal von richt einer Kollegin aus Pakistan, die dargelegt hat, wie Asia Bibi verfolgen, die mit ihren fünf Kindern noch im- es in diesem Land aussieht . Deswegen sollten wir uns, mer im Gefängnis sitzt . Das letzte Urteil ist noch immer glaube ich, in den Beratungen des Ausschusses noch ein- nicht gesprochen . Wir müssen immer noch bangen, dass mal ausführlich mit dieser Frage befassen . das Todesurteil gegen sie nicht doch vollstreckt wird . Ich fasse zusammen: Wir sind dankbar, dass die Bun- Dass in dem Bericht im Zusammenhang mit Pakistan das desregierung diesen Bericht erstmals vorgelegt hat . Ich Thema „Christen und Asia Bibi“ nicht erwähnt wird, ist weiß aus vielen Besuchen bei deutschen Botschaften in nicht akzeptabel, liebe Kolleginnen und Kollegen . der ganzen Welt, dass sie unglaublich gute Informationen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- über die konkrete Situation im jeweiligen Land haben ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ und uns darüber auch sehr pointiert berichten . Ich würde DIE GRÜNEN) mir wünschen, dass in einem neuen Bericht darüber mehr zu lesen wäre . Wir finden in diesem Bericht auch neue Begrifflich- Vielen Dank . keiten, die im Menschenrechtsbericht nicht auftauchen, etwa „antimuslimischer Rassismus“ . Gleichzeitig wird (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- die sogenannte Christianophobie, die im Menschen- ordneten der SPD und des Abg . Volker Beck rechtsbericht noch ausdrücklich benannt wird, in diesem [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Bericht gar nicht aufgeführt . Der Hinweis auf antimus- limischen Rassismus ist außerordentlich schwierig . Bei Präsident Dr. Norbert Lammert: der Einführung dieses Begriffs hätte man zumindest ei- Der nächste Redner ist Gregor Gysi für die Fraktion nen Hinweis auf die sehr intensive Diskussion über die- Die Linke . sen Begriff – ob man so etwas überhaupt sagen kann – erwarten können . (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19027

(A) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): erleben; aber sie geschieht auf barbarische und brutale (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu- Art und Weise . nächst einmal möchte ich mich dafür entschuldigen, dass Die Welt ist aber gelegentlich verkehrt gestrickt . Wenn ich nach der Rede leider gehen muss, weil ich auf einer Sie auch mit Assad nicht reden: Er schützt die Christin- Europakonferenz meiner Fraktion zu sprechen habe . nen und Christen, während andere in Syrien sie jagen und (Volker Kauder [CDU/CSU]: Bleiben Sie verfolgen . – Und in Europa? In Europa gibt es eine im- lieber hier!) mer stärkere Diskreditierung von Menschen islamischen Glaubens . Das widerspricht klar dem Stand unserer de- Es handelt sich also nicht darum, dass mich das nicht in- mokratischen und kulturellen Zivilisation . teressiert, und ich verspreche Ihnen auch: Alle Reden zu diesem Debattenpunkt werde ich anschließend lesen . (Beifall bei der LINKEN) Wenn wir über Religions- und Glaubensfreiheit dis- Wir müssen die Religions- und Glaubensfreiheit auch für kutieren, müssen wir auch die europäische Geschichte Menschen islamischen Glaubens garantieren . Allerdings betrachten . Sie alle wissen: Im Mittelalter, vom 11 . bis wird der Islam auch von Extremisten missbraucht, um zum 13 . Jahrhundert, gab es entsetzliche Kreuzzüge . Gewalt zu rechtfertigen . Diesen Missbrauch hat es vor Gewaltsam wurde das Christentum durchgesetzt . Wenn einigen Jahrhunderten, wie dargestellt, auch im Hinblick heute über Flüchtlinge gesprochen wird, sollten wir auch auf das Christentum gegeben . Schon deshalb müssen wir an andere Teile der europäischen Geschichte denken: Es entschieden gegen diesen Missbrauch der Religion auf- waren die Europäerinnen und Europäer, die Nord-, Mit- treten . tel- und Südamerika besetzten und die indigene Bevölke- (Beifall bei der LINKEN) rung zum Teil grausam umbrachten und unterdrückten . Sie brachten ihre Sprachen – Englisch, Spanisch, Portu- Ich wünsche mir, dass gerade die Organisationen fried- giesisch – auf den amerikanischen Kontinent und setzten licher Muslime in Deutschland sich so entschieden wie ihre Sprachen, ihre Kultur und ihre Religion durch . Es möglich in Verlautbarungen, auf Demonstrationen und waren Europäerinnen und Europäer, die Australien be- Kundgebungen von diesem Missbrauch ihrer Religion setzten und ihre Sprache, Kultur und Religion gegenüber distanzieren und ihn verurteilen . den Aborigines gewaltsam durchsetzten . Und die Kolo- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) nien? Die AfD erklärt, dass der gesamte Islam nicht zu Trotz der gegenteiligen Unkenrufe von ganz rechts: Deutschland gehöre . Sie beschränkt sich nicht auf den Eine solche Gefahr besteht für Europa gegenwärtig über- politischen Islam, auf den Missbrauch der Religion, son- (B) haupt nicht . dern will eine gesamte Religion ausschließen . Sie will (D) (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg . Minarette, Schleier und Muezzinrufe verbieten .– Zu den Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Schleiern werde ich noch etwas sagen . – Außerdem will NEN]) sie Spenden aus dem Ausland zum Bau von Moscheen verbieten . Da nach dem Grundgesetz Menschen, aber Nach den demokratischen Revolutionen in Europa wur- auch Religionsgemeinschaften gleichzubehandeln sind, de die Religions- und Glaubensfreiheit zu einem wichti- bedeutete das auch das Verbot von Spenden für den übri- gen Gut – allerdings mit wesentlichen Einschränkungen, gen Kirchenbau . Wenn man allein an das Verhältnis un- wenn ich an die zahllosen Pogrome gegen Menschen serer katholischen Kirche zum Vatikan oder an das Ver- jüdischen Glaubens in vielen europäischen Ländern und hältnis der russisch- und griechisch-orthodoxen Kirchen die millionenfache Ermordung von Jüdinnen und Juden zu Russland und Griechenland denkt, wird einem die durch Nazideutschland denke . In der Allgemeinen Erklä- Absurdität und Abenteuerlichkeit dieser Idee sofort klar . rung der Menschenrechte der Vereinten Nationen wurde (Beifall bei der LINKEN) die Religions- und Glaubensfreiheit nach 1945 als allge- meines Menschenrecht weltweit gefordert . Dazu gehört Die anderen Forderungen der AfD verletzen eindeutig auch, dass Religion freiwillig ist – wie Sie es gesagt ha- und schwer den Artikel 4 Absatz 1 und 2 unseres Grund- ben, Herr Kauder –, man sich also auch entscheiden darf, gesetzes . Ich zitiere wörtlich Absatz 1: nicht religiös zu sein . Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die (Beifall bei der LINKEN) Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Be- kenntnisses sind unverletzlich . In vielen Verfassungen wird seit dieser Zeit die Reli- gions- und Glaubensfreiheit garantiert . Aber die Praxis Absatz 2: sah und sieht anders aus . Die staatssozialistischen Länder Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleis- zum Beispiel benachteiligten einen Teil der gläubigen tet . Menschen und gewährten ihnen keine Chancengleich- heit . Unvergleichlich und viel schlimmer erleben wir die Stellen Sie sich vor, die AfD käme umfassend an die Verhältnisse heute: Al-Qaida und der „Islamische Staat“ Macht . Sie müsste entweder Artikel 4 Absatz 1 und 2 verfolgen und jagen Schiiten, also andere Muslime, Je- des Grundgesetzes streichen, oder, wie die polnische sidinnen und Jesiden sowie Christinnen und Christen . Führung das polnische Verfassungsgericht, das Bundes- Ich hätte wirklich nicht geglaubt, in meinem Leben eine verfassungsgericht entmündigen – dieses Gericht würde solche Verfolgung von Christinnen und Christen noch zu Gesetze zur Einschränkung oder zum faktischen Verbot 19028 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016

Dr. Gregor Gysi (A) der Ausübung einer Religion immer als grundgesetzwid- Für Menschenrechte muss man sich immer und gegen- (C) rig aufheben –, oder sie müsste das Bundesverfassungs- über jedermann einsetzen, sonst wird man diesbezüglich gericht ganz abschaffen. Als nichtreligiöser Mensch sage unglaubwürdig . ich Ihnen heute: Gott sei Dank wird die AfD einen sol- (Beifall bei der LINKEN) chen weitgehenden Einfluss wohl nicht bekommen.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg . Präsident Dr. Norbert Lammert: Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Frank Schwabe für die SPD-Fraktion ist der nächste NEN]) Redner . Eine Bitte an die Medien: Wenn man in den Medien (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Muslime sieht und hört, dann rufen sie entweder so laut der CDU/CSU) nach Allah, dass manche Menschen bei uns Angst be- kommen, oder sie sprengen sich als Selbstmordattentä- Frank Schwabe (SPD): ter in die Luft . Wie wäre es damit, einmal die Millionen friedlich betender, arbeitender und gastfreundlicher Mus- Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Ich will lime zu zeigen, die sich um ihre Kinder, ihre Angehöri- mich beim Auswärtigen Amt ausdrücklich dafür bedan- gen, ihre Freundinnen und Freunde kümmern? ken, dass wir diesen Bericht vorliegen haben und ihn heute debattieren können . Ich will mich gerade deshalb (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- bedanken, weil er eben nicht im Detail einzelne Vor- NIS 90/DIE GRÜNEN) kommnisse in einzelnen Ländern beschreibt – es gibt nämlich ganz viele solcher Berichte –, sondern weil er Das ist keine Nachricht? Ich glaube, es wäre zurzeit eine uns – ich glaube, das gibt uns viel mehr Gelegenheit, in besonders wichtige Nachricht . der Tiefe zu diskutieren – die Systematik von Verletzun- gen des Menschenrechts auf Religionsfreiheit oder auf Noch etwas zur Kleidung . Ich denke an das Kopftuch Freiheit von Religion deutlich macht . und die Burka . Also, wenn es nicht unbedingt nötig ist, sollte sich der Staat nicht in Kleiderfragen seiner Bürge- Diese Systematik fällt nicht vom Himmel, vielmehr rinnen und Bürger einmischen . basiert sie maßgeblich auf der Arbeit von Herrn Profes- sor Heiner Bielefeldt, die er seit sechs Jahren als Son- (Beifall bei der LINKEN) derberichterstatter der Vereinten Nationen für Religions- Wenn Mädchen und Frauen ihre Kopftücher tragen wol- und Weltanschauungsfreiheit geleistet hat, im Übrigen len, dann ist das ihre Angelegenheit . Wenn sie dazu aber unterstützt und mitfinanziert durch die Bundesrepublik (B) gezwungen werden, dann müssen wir sie schützen . Deutschland . Er hat, wie gesagt, maßgeblich an diesem (D) Bericht mitgewirkt . Ich glaube, dieser Bericht gibt eine (Beifall bei der LINKEN) neue Tiefe, eine neue Schärfe und uns eine neue Mög- lichkeit, uns mit der Frage der Religionsfreiheit ausei- Dasselbe gilt für die Burka, auch wenn ich Menschen nanderzusetzen . Ich will an dieser Stelle, vielleicht im lieber ins Gesicht sehe . Allerdings muss es hier – auch Namen des ganzen Hauses, Herrn Professor Bielefeldt wenn die Burka freiwillig getragen wird – Einschränkun- für diese Arbeit ganz herzlich danken . gen geben: Erzieherinnen, Lehrerinnen, Beschäftigte im öffentlichen Dienst mit Publikumsverkehr, Richterinnen, (Beifall im ganzen Hause) Staatsanwältinnen, Notarinnen, Rechtsanwältinnen und Ich will mich aber auch bei den Fraktionen bedanken, andere müssen bei ihrer Arbeit ihr Gesicht zeigen: für die die sich in unterschiedlicher Art und Weise eingebracht Kinder, für andere Bürgerinnen und Bürger, für die Öf- haben . Dass es diesen Bericht der Bundesregierung gibt, fentlichkeit . Außerdem gibt es Kontrollen, bei denen das basiert auf einem Antrag und einem Beschluss des Bun- Gesicht gezeigt werden muss . destags . Ich will mich auch bei denjenigen bedanken, die Mit anderen Worten: Das Notwendige müssen wir in den einzelnen Fraktionen für Kirchenfragen zuständig regeln und ansonsten die Freiheit der Menschen, ein- sind: bei Herrn Dr . Jung von der Union, bei Volker Beck, schließlich der Religions- und Glaubensfreiheit sowie der gleich noch sprechen wird, aber auch bei Kerstin des Rechts auf Freiheit von der Religion, achten . Griese, die heute leider nicht hier sein kann, weil sie in Kirchenfragen unterwegs ist . Es gab einen konstruktiven (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Dialog über die Frage, wie der Bericht von denjenigen, neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die in den Fraktionen für Kirchenpolitik zuständig sind, und denjenigen, die sich hier im Bundestag auf umfas- Es gilt, diese Freiheit in Deutschland durchzusetzen sende Weise für Menschenrechtsfragen zuständig fühlen, und dafür weltweit zu streiten . Für Menschenrechte kann erstellt werden soll . man sich nicht je nach politischen Gegebenheiten einset- zen, wie es die Bundesregierung macht . Sie schweigt zu Es handelt sich um einen hochinteressanten Bericht, vielen Menschenrechtsverletzungen von Erdogan, und weil er, wie gesagt, nicht enumerativ die Situation in den in anderen Fällen nutzt sie Menschenrechtsverletzungen einzelnen Ländern aufzeigt . Vielmehr gibt er Einblick sogar als Begründung für militärische Aktionen . Das ist darin, dass Religionsfreiheit immer etwas mit der allge- höchst unglaubwürdig . meinen Lage in den einzelnen Ländern zu tun hat . In den betreffenden Ländern ist nämlich nicht nur die Religions- (Beifall bei der LINKEN) freiheit gefährdet . Vielmehr hat das auch etwas mit den Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19029

Frank Schwabe (A) Grundstrukturen der Einschränkung von Menschenrech- hinduistische Eiferer in Indien, die gegen Muslime und (C) ten zu tun; das macht dieser Bericht deutlich . Der Be- Christen hetzen . Alles das gibt es leider . richt macht im Übrigen auch deutlich – es ist spannend, sich mit dieser Frage zu befassen; das ist die Aufgabe Es ist wichtig, das zu betrachten, aber es fällt auch re- von Heiner Bielefeldt in den letzten sechs Jahren gewe- lativ leicht, nach außen zu schauen, zu gucken, was in sen –, wie unterschiedliche Grund- und Menschenrechte der Welt los ist und welche Probleme die einzelnen Län- sich überschneiden und miteinander kollidieren können . der mit der Religionsfreiheit haben . Viel schwieriger ist So werden gelegentlich im Namen der Religionsfreiheit jedoch, sich mit der Situation im eigenen Land – zum andere Rechte, zum Beispiel die Rechte von Frauen in Glück in anderer Ausprägung – auseinanderzusetzen . In den Bereichen Gleichberechtigung und Meinungsfrei- Deutschland gibt es Debatten darüber, die Religionsfrei- heit, infrage gestellt . Hier einen Ausgleich herzustellen, heit möglicherweise einzuschränken . Es ist schwierig, darüber zumindest zu reden und das zu problematisieren, sich damit auseinanderzusetzen, weil es Mechanismen, das leistet der vorliegende Bericht eben auch . bei denen die Frage der Religionsausübung für machtpo- litische Konflikte benutzt wird, in jedem Land der Welt, Noch einmal: Religionsfreiheit kann nicht isoliert be- also auch in Deutschland, gibt . Die größte Minderheit in trachtet werden . Vielmehr hängt sie mit Menschenrechts- Deutschland sind – darauf hat Herr Gysi gerade hinge- fragen und dem Menschenrechtsklima in den Ländern wiesen – die Muslime . Man muss nicht besonders da- zusammen . Deswegen wünsche ich mir für die Zukunft, rauf hinweisen, dass in Zeiten von Terrorgefahren eine dass Menschenrechtsberichte der Bundesregierung oder hochkritische Debatte über das Recht von Muslimen auf von Institutionen genau diese Abwägung vornehmen und Religionsausübung geführt wird . In Deutschland gibt es eine Frage, beispielsweise die Religionsfreiheit, nicht zum Glück das Grund- und Menschenrecht auf Religi- isoliert betrachten, sondern im Zusammenhang darstel- onsfreiheit . Das heißt – das müssen wir dann aber auch len . deutlich sagen –, dass alle Menschen in diesem Land das Recht haben, zum Beispiel Gotteshäuser zu bauen . Dazu (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gehören auch Moscheen, und das sind dann Moscheen der CDU/CSU) mit Minaretten . Christen stellen zweifellos die größte Gruppe dar und (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem sind am meisten von Verfolgung betroffen. Aber in der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Tat sind alle Religionen von Verfolgung betroffen, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise . Das hängt von Damit überhaupt nicht vereinbar – da wundere ich mich der spezifischen Situation in den jeweiligen Ländern ab. über manche aktuelle Debatte – ist die Überlegung, Quo- ten für Flüchtlinge nach religiöser Zugehörigkeit einzu- (B) Ich will ausdrücklich sagen: Es ist falsch, nur auf das (D) Christentum zu fokussieren, wie es gerade in Ungarn führen . Das sind Vorstellungen, die mit der Religionsfrei- geschieht. Dort soll eine Behörde geschaffen werden, heit in diesem Land überhaupt nicht vereinbar sind . die sich um den Schutz verfolgter Christen in der Welt (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem kümmert . Das ist richtig, ganz zweifellos richtig . Aber BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr .Karamba es hilft auch verfolgten Christen nicht so sehr, wenn man Diaby [SPD]: Verfassungsfeindlich!) nur darauf fokussiert . Es hilft auch Christen, wenn wir Verfolgung aus religiösen Gründen weltweit in den Blick Ich wünsche mir, dass dieser wirklich hervorragende nehmen . Bericht, der, glaube ich, auch für andere Länder dieser Welt wegweisend ist, Anlass gibt, über Religionsfreiheit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten in der Welt nachzudenken, und uns ermuntert, aufzuste- der LINKEN) hen und sich, wenn man in anderen Ländern der Welt unterwegs ist, zu Wort zu melden und laut dafür einzutre- Man muss zudem deutlich machen, dass es im Kern häu- ten, wie zum Beispiel Herr Kauder das tut . Ich wünsche fig gar nicht um religiöse Auseinandersetzungen geht. mir auch, dass er Anlass ist, einmal innezuhalten und Vielmehr geht es oft um machtpolitische Auseinander- darüber nachzudenken, was Religionsfreiheit gerade im setzungen. Ländern werden religiöse Konflikte geradezu Zusammenhang mit den aktuellen Fragen auch für dieses aufgedrückt . Auch das zu erwähnen, gehört zur Debatte . Land bedeutet . Es geht eben nicht nur um Kämpfe gegen- (Beifall bei der SPD) einander, sondern es geht darum, zu erkennen, dass es in manchen Ländern bestimmte Strukturen gibt, die die Re- Worum es überhaupt nicht geht – das behauptet hier ligionsfreiheit, aber auch die Menschenrechte insgesamt auch niemand, aber das wird ja gelegentlich draußen im gefährden . Das zusammen zu sehen, ist, glaube ich, die Land behauptet –, das ist die Frage, ob es einen Kampf große Stärke dieses Berichts . zwischen dem Christentum und dem Islam gibt . Wenn man sich die Lage realistisch anschaut, dann stellt man Vielen Dank . fest, dass es sich bei vielen Konflikten eher um inner­ (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU so- islamische Konflikte handelt oder es um Fragen der wie bei Abgeordneten der LINKEN) Glaubensauslegung geht . Zweifellos werden Christen in Nordkorea verfolgt . Aber ich selber habe im letzten Jahr gesehen, dass buddhistische Mönche in Myanmar Präsident Dr. Norbert Lammert: gegen die muslimische Minderheit der Rohingya hetzen; Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erhält der das hätte ich mir zuvor nicht vorstellen können . Es gibt Kollege Volker Beck das Wort . 19030 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016

(A) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Fortschreiten eines Konfliktes und das Umschlagen von (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Religi- Auseinandersetzungen in heiße kriegerische Auseinan- onsfreiheit ist immer die Freiheit der Andersgläubigen, dersetzungen, wenn die Konfliktlage religiös-ideologisch der religiösen Minderheiten, der Religionsfreien und der überwölbt wird . Ungleiche Machtverhältnisse ökonomi- Minderheiten in großen Religionsgemeinschaften und re- scher und sozialer Art werden in dem Bericht benannt . ligiösen Gruppierungen . Die Religionsfreiheit ist in Arti- Die Religion dient hier nur als Begründungszusammen- kel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, hang, um bestehende Verhältnisse aufrechtzuerhalten im UN-Zivilpakt und in Artikel 4 unseres Grundgesetzes oder Verteilungskonflikte zu legitimieren. Ich glaube, verankert . ein anders aufgestellter Religionsbericht der Bundesre- gierung könnte in Zukunft, wenn wir einen solchen Be- Oft wird vergessen, dass die Religionsfreiheit drei Di- richt regelmäßig erstellen, auch ein Seismograf für Fehl- mensionen hat, die alle gleichermaßen für die Gewähr- entwicklungen auf dieser Welt sein und uns frühzeitig leistung der Freiheit von Gesellschaften und der Freiheit alarmieren, um konfliktpräventiv auch politisch zu inter- der Individuen von großer Bedeutung sind . Das ist zum venieren, und er könnte damit vielleicht den Menschen einen die positive Religionsfreiheit des Einzelnen . Das auf dieser Welt manches Elend ersparen . ist die Religionsfreiheit von Gemeinschaften der Gläu- bigen, und es ist die negative Religionsfreiheit, von den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vorstellungen im religiösen Bereich anderer unbelästigt und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- seine freiheitliche Lebensgestaltung verwirklichen zu ten der SPD) können . Nur alle drei Dimensionen zusammen konstitu- Ich rate auch dazu, das Thema nicht für falsche Polarisie- ieren eine freiheitliche Politik für eine freiheitliche Ge- rungen zu nutzen . Der Wettbewerb um die Frage, welche sellschaft . Minderheit auf dieser Welt am stärksten religiös verfolgt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ist, bringt uns nicht weiter . Er ist zum Teil auch banal . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dies ist weltweit in Gefahr . Da, wo die Menschen- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten rechtslage schwierig ist, ist es meistens auch um die Reli- der SPD) gionsfreiheit nicht besonders gut bestellt . Deshalb glaube ich, dass die Diskussion um diesen Bericht und das The- Die Christen sind die größte religiöse Gruppe auf die- ma „Religions- und Weltanschauungsfreiheit“ auch eine ser Welt . Deshalb ist es nicht besonders verwunderlich, Chance für die Menschenrechtspolitik international und dass sie auch unter den Religionsverfolgten die größte vor allen Dingen in Genf ist . Gruppe darstellen . Eine Gruppe wie die Bahai, die welt- weit nur wenige Millionen Mitglieder hat, aber eine ei- (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN genständige Weltreligion ist, kann mit den Zahlen der (D) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Christen selbstverständlich nicht mithalten . Aber schau- der SPD) en wir uns an, wo die meisten Bahai leben, im Iran und Jede Religion weltweit ist irgendwo in der Minderheit . in Ägypten, dann sehen wir, dass diese Gruppe von den Manche sind auch irgendwo in der Mehrheit . Aber da, wo staatlichen Stellen am intensivsten verfolgt wird, weil man in der Minderheit ist, ist man immer darauf angewie- sie unter das Apostasieverbot des Islam fällt und oftmals sen, dass die religiösen Mehrheiten einem diese Freiheit sozial-bürgerrechtlich überhaupt nicht zur Kenntnis ge- gewähren und die Entfaltung der Persönlichkeitsrechte nommen wird . respektieren . Herr Kauder, Sie selber waren wegen der Kopten in Ich denke, dieser Bericht, der ein guter Ansatz ist, weil Ägypten . Sie haben sicher auch Bahai-Vertreter getrof- er die verschiedenen Dimensionen und Konfliktfelder fen . Die haben oftmals keine Geburtsurkunden, sie kön- von Religions- und Weltanschauungsfreiheit aufzeich- nen am wirtschaftlichen Leben nicht teilnehmen, weil sie net, bleibt hier ein bisschen hinter seinen Möglichkeiten formalrechtlich nicht existent sind und keine Unterlagen zurück . Der Kollege Kauder hat es schon angesprochen, über ihre Existenz bekommen . Obwohl sie gut ausgebil- und ich teile diese Auffassung. Ich denke, wenn wir die dete Leute sind, sind sie völlig ausgeschlossen und müs- Chance nutzen wollen, auf dem internationalen Parkett sen immer fürchten, Opfer von Gewalttätigkeiten randa- Entwicklungen bei der Beschränkung der Religionsfrei- lierender Banden zu werden . heit rechtzeitig zu erkennen und darauf außenpolitisch Es bringt nichts, dahin zu schauen und zu sagen: Das und entwicklungspolitisch zu reagieren, dann brauchen ist aber eine kleine Gruppe, die Christen sind eine große wir länder- und regionenscharf einen Hinweis darauf, wo Gruppe . – Wir müssen uns um jeden und jede Einzelne etwas besser ist, was wir unterstützen können, und wo kümmern, deren Religionsfreiheit in Gefahr ist, sich etwas zum Unguten entwickelt . (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU) ob das die Rohingya in Myanmar oder ob das christli- che Gruppierungen im Iran sind . Es gibt nämlich das Der Bericht zeigt zu Recht auf, dass mancher Kon- Problem, dass in manchen Ländern, gerade im Iran, wo flikt, der unter der Flagge „Kampf zwischen Religionen“ die Rechte von althergebrachten orthodoxen kirchlichen daherkommt, oftmals andere Ursachen hat: regionale, Gruppierungen durchaus respektiert werden, neue religi- lokale Verteilungskonflikte, Konflikte zwischen Regio- öse Erscheinungsformen im Christentum, insbesondere nen und Ethnien . Es ist oftmals ein Alarmsignal für das aus dem evangelikalen Bereich – das gilt auch für die Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19031

Volker Beck (Köln) (A) zentralasiatischen Staaten – oftmals brutalster Verfol- Wenn man es aber so versteht, wird ein Schuh daraus, (C) gung ausgesetzt sind . Deshalb ist da Präzision und ge- und es wird uns als Bundesrepublik Deutschland viel- naues Hinschauen erforderlich . Ich glaube, auch im leicht gelingen, in Genf eine neue Initiative für eine bes- weltweiten Dialog hört man uns nur zu, wenn wir für das sere und fundamentalere Auseinandersetzung über die Prinzip der Religionsfreiheit streiten und es verteidigen, Grundlagen der Menschenrechte zu starten . nicht wenn wir uns nur um unsere Glaubensbrüder und Glaubensschwestern in anderen Teilen der Welt bemü- Vielen Dank . hen, zumal das auch nicht besonders christlich wäre . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei der CDU/CSU und der SPD) sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Es gibt auch die negative Religionsfreiheit; das habe Für die Bundesregierung erhält nun die Staatsministe- ich vorhin angesprochen. Ich finde es sehr gut und mu- rin Maria Böhmer das Wort . tig – da ist der Bericht vergleichbaren internationalen Be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . richten deutlich voraus –, dass man erkannt hat, dass es Dr . [SPD]) bei der negativen Religionsfreiheit auch um Dinge geht, die nicht in erster Linie im Blick sind, wenn wir über Religionsfreiheit reden . Wenn religiöse Vorstellungen Dr. Maria Böhmer, Staatsministerin im Auswärtigen das Familienrecht und das Strafrecht eines Landes prä- Amt: gen, wenn es um die Rechte von Frauen geht, das Recht Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und auf Scheidung, das Recht auf Wiederverheiratung, das Kollegen! Die Bundesregierung hat diesen Bericht auf Recht auf Schutz vor sexueller Gewalt, oder wenn es um Antrag des Bundestages vorgelegt . Darin werden die die Rechte von Homosexuellen und Transsexuellen geht, weltweite Lage sowohl der Religionsfreiheit als auch der geht es auch um die Frage der negativen Religionsfrei- Weltanschauungsfreiheit erfasst . Dies geschieht in der heit bzw . darum, die Möglichkeit zu haben, nicht so sein Überzeugung, dass der Religions- und Weltanschauungs- bzw . leben zu müssen, wie die Mehrheit glaubt, dass es freiheit eine große Bedeutung als Eckpfeiler einer stabi- ihnen ihr Gott vorgeschrieben hat . len und friedlichen Ordnung zukommt . Religionsfreiheit und ein friedliches Zusammenleben bedingen einander . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Darauf zu achten und darüber zu reden, ermöglicht es Unser Grundgesetz, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen und der VN-Zi- (B) uns vielleicht auch, in Genf mit Ländern ins Gespräch zu (D) kommen, bei denen wir sonst beim Thema Frauen- und vilpakt, den 168 Staaten der Welt ratifiziert haben, schüt- LGBT-Rechte gleich abblitzen, wenn wir das auch nur zen das Grundrecht auf Gewissens- und Religionsfreiheit . erwähnen . Keine Frage: Die Religions- und Weltanschauungsfrei- heit ist ein universelles Menschenrecht, und sie wird in Wir sollten einen umfassenden Religionsdialog star- immer mehr Staaten prinzipiell rechtlich abgesichert . Die ten und sagen, dass es um die Freiheit der verschiedenen Wirklichkeit aber sieht oft dramatisch anders aus . Haltungen und Gemeinschaften geht . Wir sollten sagen: So, wie wir eure mehrheitliche Haltung respektieren wol- Millionen von Menschen werden weltweit Tag für len, so erwarten wir, dass ihr in euren Ländern unsere und Tag in ihrer Religions- und Weltanschauungsfreiheit andere Haltungen in gleicher Weise rechtlich schützt . Ich eingeschränkt . Viele werden verfolgt, gedemütigt und würde unsere Diskussion gerne in diese Richtung voran- kommen zu Tode . Religion wird missbraucht, um Un- treiben und hoffe, dass wir uns in den Fachausschüssen terdrückung, Gewalt und Unrecht zu legitimieren, wie zumindest unter den Fraktionen, die diesen Bericht mit- wir es in erschreckender Weise im Irak oder in Syrien getragen haben, darauf verständigen können, zu sagen: erleben . In diesen Urgebieten des Christentums sind es Wir wollen einen Bericht der Bundesregierung zur welt- besonders häufig Christen, die unter Repressionen, Ge- weiten Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit walt und Vertreibung leiden müssen . Aber auch Jesiden als regelmäßige Institution . Damit wir als Parlamentari- und Muslime sind Opfer des brutalen und menschenver- erinnen und Parlamentarier aber besser damit arbeiten achtenden IS-Terrors geworden . In dieser verzweifelten können, sollte er länder- und entwicklungsspezifisch auf- Situation gilt es den Menschen zur Seite zu stehen . Zu- geschlüsselt sein; denn nur dann macht ein regelmäßiger nehmend ist zu beobachten, dass schwache Staatlichkeit, Bericht Sinn . Korruption und schwierige wirtschaftliche Bedingungen den mangelnden Schutz von Religionsgemeinschaften (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit verursachen . sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Über den Stand der Religions- und Weltanschauungs- Johannes Paul II . hat gesagt: freiheit liegt uns eine Reihe von nationalen und interna- Das Recht auf Religionsfreiheit … stellt so etwas tionalen Berichten vor . Dabei handelt es sich in der Re- wie die Existenzgrundlage für die anderen funda- gel um Länderberichte . Im Auswärtigen Amt haben wir mentalen Freiheiten des Menschen dar . uns daher sehr intensiv die Frage gestellt: Was könnte der Mehrwert eines solchen Berichtes sein, den wir dem Ich weiß nicht, ob er das im Sinne des eben von mir Ge- Deutschen Bundestag vorlegen? Wir haben uns für einen sagten im Hinblick auf die drei Dimensionen meinte . neuen, strukturellen Ansatz entschieden . In diesem Be- 19032 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016

Staatsministerin Dr. Maria Böhmer (A) richt wird anhand konkreter Länderbeispiele eine Typo- selbst kommt eine zentrale Verantwortung für ein fried- (C) logie der Rechtsverletzungen entwickelt . liches Zusammenleben der Menschen unterschiedlicher Religion zu . Außenpolitik hat hier eine unterstützende Ich halte es für wichtig, dass wir über diesen Ansatz Funktion . Unser Einsatz für Religions- und Weltanschau- ebenso diskutieren wie über die Inhalte des Berichts . ungsfreiheit dient der Krisenprävention und der Stabili- Wir geben uns bei diesem Bericht nicht nur mit einer sierung . Situationsbeschreibung und einer Analyse zufrieden . Der Bericht zeigt konkrete Ansatzpunkte auf, um gegen Die Begegnung mit der Internationalen Parlamentari- die Verletzungen vorgehen zu können: erstens bei der ergruppe für Religionsfreiheit vergangene Woche und die Rechtsetzung, zweitens bei der Schaffung von Strukturen heutige Debatte empfinde ich als eine große Ermutigung und drittens in vielen Einzelfällen . Lassen Sie mich En- auf dem zugegebenermaßen oft steinigen Weg . gagement und konkretes Handeln der Bundesregierung für Religions- und Weltanschauungsfreiheit anhand die- Herzlichen Dank . ser drei Punkte zusammenfassen . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Erstens . Wo Rechtsetzung nötig ist, unterstützt die ordneten der SPD) Bundesregierung diese Prozesse . So konnten in der EU-Ratsarbeitsgruppe Menschenrechte bereits 2013 um- Präsident Dr. Norbert Lammert: fassende Leitlinien zur Förderung und zum Schutz der Angelika Glöckner erhält nun das Wort für die Religionsfreiheit beschlossen werden . Wir unterstützen SPD-Fraktion . die Arbeit des OSZE-Büros für demokratische Institu- tionen und Menschenrechte . Wir entsenden Personal und (Beifall bei der SPD) finanzieren Projekte. Zweitens . Wir wollen dauerhafte Strukturen für den Angelika Glöckner (SPD): Dialog, insbesondere für den religiösen Dialog, fördern . Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen Wenn die Kenntnisse über andere Religionen wachsen, und Kollegen! Wir beraten heute über den Bericht der wenn Menschen miteinander reden, dann entwickeln sie Bundesregierung zur Lage der Religions- und Weltan- Respekt und Verständnis füreinander . In Deutschland schauungsfreiheit weltweit. Ich finde, das ist gut so; denn haben wir Erfahrungen mit der Deutschen Islam-Konfe- gerade mit Blick auf die vielen weltweiten Krisen und renz gesammelt . Sie ist jetzt zehn Jahre alt . Sie könnte Konflikte ist dies von besonderer Bedeutung. Mein Dank ein Beispiel für andere Länder sein, wie man aufeinander geht ebenfalls an das Auswärtige Amt und allen voran an zugeht und wie man eine solche Plattform schafft. Herrn Außenminister Frank-Walter Steinmeier für diesen umfassenden Bericht . (B) Wir bringen in vielen Ländern geistliche Führer und (D) Menschen unterschiedlicher Religionen zusammen . Das In Deutschland ist die Religions- und Glaubensfrei- ist kein leichtes Unterfangen . Aber ich bin davon über- heit ein Rechtsgut von höchstem Rang . Danach steht es zeugt, dass sich solche Vorurteile und Gegensätze nur dem Individuum frei, seinen Glauben zu bilden, danach im Dialog überwinden lassen und so ein friedliches Mit- zu leben, ihn zu äußern, und ebenso steht es ihm frei, sich einander möglich ist . Die deutsche Präsidentschaft im danach zu verhalten, oder auch, sich keinem Glauben zu- VN-Menschenrechtsrat haben wir vielfach für Religi- zuwenden . Außerdem steht es dem Individuum frei, den onsfreiheit genutzt, und wir haben die Fortsetzung des Glauben zu wechseln . Das alles zeigt, wie umfassend der sogenannten Istanbul-Prozesses unterstützt . Schutzzweck dieser Norm ist und was es heißt, seine Re- ligions- und Glaubensfreiheit ausüben zu können . Drittens . In vielen Einzelfällen, etwa wenn es um grausame Strafen oder sogar um drohende Todesstrafen Der Bericht hebt deutlich hervor, dass aufgrund der geht, setzen sich das Auswärtige Amt und seine Bot- Universalität dieses Menschenrechts der Schutz in der schaften unmittelbar für die Betroffenen ein. Sie wissen: ganzen Welt gelten muss . Aber dem ist mitnichten so . In Um die Opfer nicht unnötig zu gefährden, werden solche vielen Teilen dieser Welt ist Religionsfreiheit schlicht- Demarchen oft nicht öffentlich gemacht. weg nicht existent oder im besten Fall bedroht . Daher finde ich es gut, dass wir heute darüber diskutieren, wie Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele von Ihnen Lebenssituationen betroffener Menschen verändert wer- sprechen auf ihren Auslandsreisen die Verletzungen der den können. Ich finde den Bericht in seiner Gesamtheit Religionsfreiheit gezielt an und treffen sich mit Men- sehr aufklärend . Es sind sehr viele gute Ergebnisse ent- schen, die unter religiöser Verfolgung leiden . Ihr Einsatz halten . Ich will auf zwei Punkte besonders eingehen . ist mehr als hilfreich, und ich möchte Ihnen dafür sehr herzlich danken . Erstens wird darauf hingewiesen, dass es ganz un- terschiedliche Formen von Verletzungen des Rechts auf (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Religionsfreiheit gibt . Diese können sich zeigen im er- ordneten der SPD) schwerten Zugang zu Bildung, zu öffentlichen Ämtern Religion kann wunderbare positive Kräfte und Ener- bzw . Mandaten oder in der Verweigerung, eine Natio- gien entwickeln . Sie ist eine Kraft des Guten, aber nur, nalität anzuerkennen oder Pässe auszustellen . Es kann wenn sie frei ausgeübt, ihre Ausübung geschützt und eine einen Verstoß aus Familien geben, bis hin zu Folter, Instrumentalisierung verhindert wird . Der Staat ist dazu Vertreibung und im schlimmsten Fall sogar Tod . Men- verpflichtet, einen Rahmen für diese freie Ausübung zu schenrechtsverletzungen finden in allen Systemen, in schaffen. Doch gerade den Religionsgemeinschaften allen Regionen weltweit statt . Das zeigt aber auch, wie Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19033

Angelika Glöckner (A) folgerichtig es ist, dass der Bericht dieses Thema so dif- des Artikels 4 unseres Grundgesetzes und haben das (C) ferenziert beleuchtet; denn so verschieden die Formen Recht, ihre Religion oder Weltanschauung frei zu entfal- der Menschenrechtsverletzungen ausfallen, so unter- ten . Wenn sie sich darin beeinträchtigt fühlen, können sie schiedlich muss ihnen entgegengewirkt werden . ihr Recht ohne Angst vor Repressionen einklagen . Wir müssen alles dafür tun, dass dies auch so bleibt . (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Gerade in den letzten Monaten wurden immer wieder Zweitens erfolgt der Hinweis, dass Religionen von Vorschläge in die öffentliche Diskussion eingebracht, die Regimen oft missbraucht werden, um den eigenen mich mit Blick auf die Religions- und Glaubensfreiheit Machtanspruch zu untermauern und Minderheiten zu un- betroffen machen. Wir selbst wollen in unserem Land terdrücken . Wir kennen das von den Rohingya-Muslimen frei leben . Wenn wir dies selbst wollen, dann müssen in Myanmar oder auch von der Gewalt gegen Christen wir dies aber auch für andere gelten lassen . Es gibt kein und Muslime in Indien . Es kommt auch vor, dass Staaten Gleich und Gleicher; auch das gebietet unser Grundge- ihre Bevölkerung nicht vor Menschenrechtsverletzun- setz . Forderungen wie die, Zuwanderer aus dem christ- gen schützen können oder wollen, etwa weil das Staats- lich-abendländischen Kulturkreis vorzuziehen, haben system sehr zerbrechlich ist – Syrien, Irak, Nordafrika nach den Grundsätzen, über die wir heute sprechen, hier und die Länder der Sahelzone sind gute Beispiele – oder keinen Platz . weil anstelle von Staatlichkeit Korruption und Willkür vorherrschen, so wie es in Saudi-Arabien oder Iran der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Fall ist . All diesen Gewalttaten und Einschränkungen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ist gemein, dass die Religion meist nur als Argument in­ Ich wünsche mir, dass auch der Koalitionspartner mit strumentalisiert wird und eben nicht ursächlich ist für Blick auf die heutige Diskussion noch einmal darüber Gewalt, Verfolgung und Diskriminierung . nachdenkt . Genau so, auf Basis dieser Werte und einge- Gemein ist all diesen Verbrechen aber auch, dass sie bunden in eine feste Wertegemeinschaft mit den europäi- fast immer in Staaten vorkommen, in denen auch weite- schen Partnerstaaten, ist es uns gelungen, Deutschland zu re Menschen- und Freiheitsrechte nicht garantiert sind . dem zu machen, was es heute ist: ein sehr wohlhabendes Deshalb darf Religionsfreiheit nicht losgelöst von ande- und hochangesehenes Land, ein Land, auf das man stolz ren Menschenrechten betrachtet werden . Wir müssen uns sein kann . Darüber sollte man nachdenken, bevor man dafür einsetzen, dass Staaten sich allen Menschenrechten jenen nacheifert, die ebendiese Werte infrage stellen . verpflichtet fühlen. Das gilt insbesondere für Freiheits- Herzlichen Dank . rechte wie die Meinungsfreiheit oder die Pressefreiheit und eben auch die Religions- und Weltanschauungs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) freiheit . Wie stark sich Deutschland bereits heute dafür der CDU/CSU) (D) macht, zeigt der Einsatz in vielen Gremien, etwa den Ver- einten Nationen, der EU, der OSZE oder dem Europarat . Präsident Dr. Norbert Lammert: Wir sind in vielen Ländern an Projekten zur Förderung Das Wort erhält nun die Kollegin Erika Steinbach von von Bildung und einer effektiven Justiz beteiligt sowie an der CDU/CSU-Fraktion . Projekten im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit, die Vertrauen zwischen religiösen Gruppen schaffen und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vorbehalte abbauen . Meine Damen und Herren, ich finde, das ist ein ganz Erika Steinbach (CDU/CSU): wesentlicher Punkt; denn es kommt, wenn wir über Reli- Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kol- gions- und Weltanschauungsfreiheit reden, sehr maßgeb- legen! Religion ist ein elementarer Teil der Identität von lich darauf an, dass es gelingt, unterschiedliche Religi- Gläubigen unterschiedlichster Konfessionen . Aufgrund onsgemeinschaften zusammenleben zu lassen . von Forschungen wissen wir, dass Religiosität von An- fang an Menschen in ihrer Identitätsbildung unterstützt (Beifall bei der SPD) und ihnen hilft, die Fragen der eigenen Existenz und zum Platz im Leben und in der Welt zu beantworten . Darum Ganz besonders gilt es aber auch, den Dialog mit den ist es so unverzichtbar, den eigenen Glauben artikulieren Verantwortlichen und Machthabern dieser Welt nicht ab- und leben zu dürfen . Deshalb ist es richtig, dass Religi- reißen zu lassen und immer nach politischen Lösungen onsfreiheit ein ganz zentrales Menschenrecht ist . zu suchen . Ich bin unserem Außenminister Frank-Walter Steinmeier sehr dankbar, dass er ein vehementer Ver- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) fechter des ständigen Dialogs und politischer Lösungen ist und zu jeder Zeit in allen Krisengebieten dieser Welt Leider müssen wir erkennen, dass die Unterdrückung unterwegs ist . von Religionen und damit die Unterdrückung von Men- schen in den letzten Jahren beständig zugenommen hat, Bei allem, was wir tun, um Religionsfreiheit in der wobei insbesondere Religionsgemeinschaften, die in ih- Welt voranzubringen, müssen wir aber auch die Situati- rem Land zu einer Minderheit gehören, davon betroffen on im eigenen Land und in Europa immer wieder selbst sind . Diese Einschränkungen der Religionsfreiheit sind reflektieren. Die Situation in Deutschland in Bezug auf häufig Ergebnis gezielter Politik, etwa wenn die Mehr- die Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist gut . Wir heitsreligion ihren Wahrheitsanspruch staatlich verankert haben eine exzellent funktionierende Rechtsstaatlichkeit . hat und auf jeden Fall durchsetzen will . Aber auch das Alle Menschen in unserem Land unterstehen dem Schutz Aufkommen extremistischer und terroristischer Orga- 19034 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016

Erika Steinbach (A) nisationen in Verbindung mit schwacher Staatlichkeit zu tun? Ist es nicht so, dass sich Religionsfreiheit nicht (C) führt – für uns deutlich erkennbar – zu religiös begründe- daran misst, wie die Mehrheit behandelt wird, sondern ten Gewaltexzessen . Das können wir im Nahen Osten auf inwieweit die Minderheiten gleiche Rechte haben? Ich tragische Weise beobachten . würde Sie sehr bitten, darauf einzugehen, wie es hier um die Minderheit der Muslime und andere religiöse Min- Unsere Fraktion, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, derheiten in Deutschland bestellt ist, und eher vor der setzt sich seit vielen Jahren im Rahmen ihrer wertege- eigenen Haustür zu kehren, bevor Sie den Blick in die leiteten Außenpolitik für das Menschenrecht auf Religi- große, weite Welt schweifen lassen . onsfreiheit ein: für die Christen im Nahen und Mittleren Osten genauso wie für die Jesiden im Irak, die Bahai im (Beifall der Abg . [DIE LIN- Iran, die Tibeter in China oder die bedrängten Christen KE]) und Muslime in Indien, wobei die meisten nicht wissen, dass es dort eine Bedrängung gibt . Von der Anzahl her Erika Steinbach (CDU/CSU): sind Christen weltweit besonders häufig von Unterdrü- ckung und Verfolgung betroffen. Frau Kollegin, ich nehme ja gerade die Situation vor der eigenen Haustür, nämlich Deutschland, in den Blick, Der Zustand der Religionsfreiheit ist ein deutlicher In- das ja in dem Bericht praktisch nicht vorkommt . Vor dem dikator für die allgemeine Menschenrechtslage in einem Hintergrund wissen wir: Die Würde eines jedes Men- Staat . Das kann man in allen Staaten dieser Welt verfol- schen ist nach unserer Verfassung unantastbar . gen . Wo es keine Religionsfreiheit gibt, sind in der Regel auch die anderen zentralen Freiheits- und Menschenrech- Berichte über Spannungen zwischen verschiedenen te in Gefahr oder schon nicht mehr vorhanden . religiösen Gruppen in Flüchtlingsunterkünften, selbst zwischen Angehörigen unterschiedlicher muslimischer (Beifall des Abg . Michael Grosse-Brömer Glaubensrichtungen wie Sunniten, Schiiten oder Alevi- [CDU/CSU]) ten, zeigen uns, dass das religiöse Konfliktpotenzial hier in Deutschland angekommen ist und uns vor erhebliche Der Bericht der Bundesregierung zeichnet ein glo- Herausforderungen stellt und stellen muss . Wir dürfen bales, aber durchaus noch nicht ganz vollständiges Bild diese Situation nicht ignorieren, und wir dürfen die Pro- der Herausforderungen für die Religionsfreiheit; Volker blematik auch nicht unterschätzen . Kauder hat darauf mit gutem Recht hingewiesen . (Beifall bei der CDU/CSU) Für Deutschland müssen wir darüber hinaus registrie- ren und erkennen, dass als Folge der großen Migrations- Verkennen dürfen wir auch nicht, dass es bei uns in bewegungen global zu beobachtende Defizite religiöser Deutschland inzwischen islamistische Versuche gibt – (B) Intoleranz inzwischen auch verstärkt bei uns spürbar nicht Versuche des Islam –, Religion als politisches Ve- (D) sind . So sind vor allem in den letzten Jahren Menschen hikel zu missbrauchen und zum Beispiel das Tragen aus- aus Gesellschaften nach Europa und nach Deutschland grenzender Kleidung wie Burka oder Nikab als religiös gekommen, in denen sie ohne religiöse Toleranz aufge- zu begründen, obwohl dem so nicht ist . wachsen sind und sie gar nicht kennen; sie wissen gar nicht, was religiöse Toleranz ist . Als Folge davon müssen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wir in Deutschland schon mit Sorge die Zunahme antise- Ein Mitglied des Hohen Geistlichen Rates der Al-Azhar-­ mitischer Strömungen und unverhohlener Aggressivität Universität in Kairo hat deutlich gesagt: Der Nikab scha- gegenüber Christen, Jesiden und auch gegenüber Kon- det dem Islam . – vertiten in deutschen Asylunterkünften registrieren . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Das sollten wir uns hier in Deutschland dann auch einmal vor Augen führen . Gesellschaftspolitische Vorstellungen Präsident Dr. Norbert Lammert: mithilfe von solchen extremistischen Bekleidungsvor- Frau Steinbach, darf die Kollegin Buchholz eine Zwi- schriften umzusetzen – ich glaube, wir sollten darüber schenfrage stellen? nachdenken, ob das unserem Land guttut . Insgesamt macht der Bericht der Bundesregierung Erika Steinbach (CDU/CSU): deutlich, dass die Herausforderung des Menschenrechts Aber gerne . auf Religions- und Glaubensfreiheit sehr verschiedene Facetten hat . Der Bericht ist in dieser Form eine Mo- Christine Buchholz (DIE LINKE): mentaufnahme, die durchaus noch verbesserungsfähig Frau Steinbach, Sie sprechen hier von „religiöser Into- ist, aber es ist eine gute Grundlage. Wir erhoffen uns leranz“ . Ich will das einmal zusammen mit der Aussage weitere Berichte, eine Kontinuität der Berichterstattung, von Herrn Kauder betrachten, der bezweifelt hat, dass es bei der dann auch die angeführten Lücken gefüllt wer- in Deutschland antimuslimischen Rassismus gibt, wie den . Denn eines ist uns allen deutlich – wir können es das ja im Bericht der Bundesregierung vermerkt ist . Ich weltweit beobachten –: Religiös motivierte Spannungen frage Sie: Wenn sich eine junge Frau viermal öfter be- nehmen leider zu . werben muss, um einen Job zu bekommen, wenn sie ein Danke schön . Kopftuch trägt, als wenn sie kein Kopftuch trägt, haben wir es nicht dann mit einem Rassismus gegen Muslime (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19035

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: wendung hin zum Problemkreis der verfolgten Christin- (C) Nächster Redner ist der Kollege Dietmar Nietan für nen und Christen, der ohne Zweifel der größte ist, das die SPD-Fraktion . Gegenteil erreichen, nämlich dass ihre Verfolger unsere Hinwendung als Vorwand nutzen, sie weiter zu stig- (Beifall bei der SPD) matisieren . Denn was heißt „Boko Haram“? Das heißt übersetzt: Westliche Bildung ist Sünde . Wir sollten nicht Dietmar Nietan (SPD): den Eindruck erwecken, als seien die dort Verfolgten die Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und fünfte Kolonne des Westens, weil wir aus dem Westen Kollegen! Ich bin der festen Überzeugung, dass der uns sagen: Wir kümmern uns besonders um Christen, liebe von der Bundesregierung vorgelegte Bericht zur welt- Kolleginnen und Kollegen . weiten Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit eine große Chance bietet, weil er es ermöglicht, mit einem Es geht aber auch um die Glaubwürdigkeit des Ein- anderen Blick sehr differenziert und deutlich Typologien satzes für Religionsfreiheit als ein universelles Men- und Wirkungsweisen der Verletzung des Rechts auf Re- schenrecht . Denn gerade diejenigen, die intolerant sind, ligions- und Weltanschauungsfreiheit herauszuarbeiten . die Religionsfreiheit mit Füßen treten, berufen sich oft Deshalb wäre es aus meiner Sicht nicht zielführend, in darauf und sagen, dass die Menschenrechte ein Herr- eine Diskussion über ein Entweder-oder einzusteigen: schaftsinstrument des Westens seien . So wollen sie die Muss das jetzt eine Staatenliste werden, oder kann er so Menschenrechte diskreditieren . Deshalb sollten wir bleiben, wie er ist? Sehen wir es so, wie Frau Staatsmi- immer wieder deutlich machen, dass wir keine Gruppe nisterin Böhmer es zu Recht gesagt hat: Er bringt einen bevorzugen, dass es uns wirklich darum geht, ein univer- Mehrwert, weil er uns neue Aspekte für unseren Kampf selles Menschenrecht überall auf der Welt, auch bei uns, für Religions- und Weltanschauungsfreiheit liefert . durchzusetzen . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) der CDU/CSU) Ich sage das an dieser Stelle auch als jemand, der sich Es ist hier schon öfter angesprochen worden: Wichtig als Christ in einer besonderen Weise berührt fühlt, wenn im Kampf für die Menschenrechte ist immer die eigene Schwestern und Brüder in der Welt verfolgt werden . Glaubwürdigkeit; denn diejenigen, die die Menschen- rechte mit Füßen treten, versuchen alles, um unsere Ich bin der festen Überzeugung, dass wir ein Problem Glaubwürdigkeit zu hinterfragen . Deshalb müssen wir bekommen, wenn wir Menschenrechtsverletzungen im in den Debatten, die wir jetzt im eigenen Land erleben, Bereich der Religionsfreiheit je nach Glaubensrichtung, (B) deutlich machen – daran darf kein Zweifel aufkommen –, (D) die betroffen ist, je nach Anzahl der Betroffenen, je nach- dass der Garant von Religionsfreiheit, auch bei uns, ein dem, welche handelnden Staaten mit welchem politi- säkularer, weltanschaulich neutraler Staat ist und nicht schen System es sind, unterschiedlich intensiv bewerten . ein christlicher oder ein muslimisch geprägter Staat . Nur Dann laufen wir Gefahr, direkt die Axt an den universel- der säkulare Staat, der weltanschaulich neutral ist, kann len Charakter der Menschenrechte anzulegen . Deshalb ein glaubwürdiger Verfechter des Rechtes auf Religions- muss für uns gelten: Jeder Mensch, dessen Würde mit freiheit sein . Füßen getreten wird, ist uns gleich wichtig, liebe Kolle- ginnen und Kollegen . (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich betone das auch deshalb, weil es nicht nur um den der CDU/CSU) Kampf für das individuelle Menschenrecht geht, sondern Es darf nicht der Eindruck entstehen – das will ich weil wir uns, auch im eigenen Land, in einem Kampf um hier niemandem unterstellen –, dass ein Parlament oder die offene Gesellschaft befinden. Natürlich müssen wir eine Regierung sich zum Anwalt einer bestimmten Reli- die Dinge offen ansprechen. Natürlich ist es nicht akzep- gion macht . Es darf keinen Zweifel daran geben: Wir alle tabel, wenn es immer noch Moscheen in Deutschland machen uns vielmehr zum Anwalt jedes einzelnen Men- gibt, in denen jeden Freitag der Hass gegen die offene schen, dem ein elementares Grundrecht genommen wird . Gesellschaft gepredigt wird . Darüber darf man nicht hin- Ich glaube, wir können den Menschen nur helfen, wenn wegsehen . wir diesen Ansatz konsequent weiterverfolgen . (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten CDU/CSU) der CDU/CSU) Wir dürfen aber auch in unserer Außenpolitik nicht da- Dazu gehört zum Beispiel auch, dass wir bei der Auf- rüber hinwegsehen, dass es zum Beispiel bei unserem nahme von Flüchtlingen keine Opfergruppen bevorzugen Nachbarn Russland eine unheilige Allianz von Staat und oder zumindest den Anschein erwecken, als würden wir orthodoxer Kirche gibt, die gegenüber Schwulen und eine Opfergruppe bevorzugen . Lesben mittlerweile eine Politik an den Tag legt, die po­ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gromhafte Züge hat . Auch das muss gesagt werden . der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU so- Warum betone ich diese Punkte? Ich will darauf hin- wie bei Abgeordneten der LINKEN und des weisen, dass wir möglicherweise mit einer starken Zu- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 19036 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016

Dietmar Nietan (A) Ja, wir brauchen Toleranz, und wir brauchen vor al- Partei wie die AfD den Islam als Religion diskriminiert, (C) len Dingen Respekt gegenüber glaubenden Menschen, verallgemeinernd als Gefahr darstellt und damit den Zu- auch wenn sie einen Glauben vertreten, den wir ganz sammenhalt in unserem Land gefährdet . Beides muss und gar nicht teilen können . Wir dürfen Toleranz aber gesagt werden . Wir sollten an dieser Stelle nicht selektiv nicht mit Relativismus und Gleichgültigkeit verwech- sein . Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir die Ver- seln. Zur Toleranz gehört, dass wir zu Fragen der offe- fehlungen der einen verschweigen, während wir bei den nen Gesellschaft, der Demokratie, der Meinungsfreiheit, Verfehlungen der anderen besonders laut sind . Wenn wir der Gleichberechtigung von Mann und Frau einen klaren an dieser Stelle Glaubwürdigkeit zeigen, dann, liebe Kol- Standpunkt haben, und diesen klaren Standpunkt müssen leginnen und Kollegen, ist das die beste Waffe für eine wir immer wieder deutlich machen . Es darf nicht sein, offene Gesellschaft und mehr Religionsfreiheit. dass wir aus Angst, wir würden religiöse Gefühle ande- Vielen Dank . rer verletzen, schweigen, wenn zum Beispiel unter dem Vorwand der Religion Frauenrechte mit Füßen getreten (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU so- werden . Da müssen wir dann auch klar und deutlich sein . wie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU so- wie bei Abgeordneten der LINKEN und des Präsident Dr. Norbert Lammert: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Thomas Silberhorn ist der nächste Redner für die Bun- desregierung als Parlamentarischer Staatssekretär in ei- Wir müssen uns auch darüber Gedanken machen, wie nem der beteiligten Ministerien . – Bitte schön . es in diesem Land insgesamt um die Toleranz gegenüber religiösen Minderheiten steht . Es ist nicht akzeptabel, (Beifall bei der CDU/CSU) dass jüdische Mitbürger es sich zweimal überlegen, ob sie eine Kippa in der Öffentlichkeit tragen, weil das dazu Thomas Silberhorn, Parl . Staatssekretär beim Bun- führt, dass sie sich nicht sicher fühlen können . Es kann desminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- auch nicht sein – auch das will ich an dieser Stelle sagen; wicklung: denn auch da beginnt Intoleranz gegenüber dem Reli- Vielen Dank, Herr Präsident . – Liebe Kolleginnen und giösen –, dass sich zum Beispiel eine junge Studentin, Kollegen! Drei Viertel der Menschheit lebt in Staaten, in eine Christin, die sich in einer Mensa, also im öffentli- denen die Religionsfreiheit und Weltanschauungsfreiheit chen Raum, vor dem Essen bekreuzigt, von Teilen der nicht gewährleistet wird oder erheblich eingeschränkt ist . Mehrheitsgesellschaft anhören muss, sie sei mittelalter- Die Repressalien sind vielfältig . Sie reichen von admi- lich und rückschrittlich und so etwas passe nicht . Es darf nistrativen Hindernissen, etwa kein Zugang zu öffentli- nicht sein, dass sich Menschen beim Ausüben ihrer Re- (B) chen Ämtern, über soziale Stigmatisierungen bis hin zu (D) ligion in der Öffentlichkeit verletzt fühlen und Teile der drakonischen Strafen, etwa der Todesstrafe bei Wechsel Mehrheitsgesellschaft fordern, Religion als Privatsache der Religion . zu behandeln und sie im öffentlichen Raum nicht mehr zu zeigen . Auch da müssen wir deutlich machen: Religi- Wir setzen uns in der Entwicklungspolitik dafür ein, on hat ihren Platz auch im öffentlichen Raum. Wenn das dieses Menschenrecht auf Religions- und Weltanschau- Zeigen von Religion im öffentlichen Raum nicht mehr ungsfreiheit zu schützen und die Gesellschaften zu stär- möglich sein sollte, beginnt die Religionsfeindlichkeit . ken, die für Toleranz und ein friedliches Miteinander eintreten; denn wir wollen und wir brauchen eine Welt, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU so- in der wir alle im gegenseitigen Respekt und in Achtung wie bei Abgeordneten der LINKEN und des vor Kulturen und Religionen ein friedliches Auskommen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) haben . Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Dies ist ein Der Schutz und die Gewährleistung der Religions- wichtiges Thema . Deshalb bin ich dankbar, dass wir und Weltanschauungsfreiheit haben genauso wie alle uns in einer, wie ich finde, sehr differenzierten Debatte anderen Menschenrechte einen festen Platz in unserer mit diesem Thema auseinandersetzen . Ich möchte zum Entwicklungspolitik . Dafür wollen wir die Religionsge- Schluss um eines bitten: Wir alle wissen, wie das mit der meinschaften als Partner gewinnen . Wir dürfen das Feld parteipolitischen Brille ist . Wir sind Politikerinnen und nicht den Extremisten und den Fanatikern überlassen, die Politiker . Wir alle schauen hin und wieder durch diese Terror predigen, denen es nicht um Glauben geht, son- parteipolitische Brille . Für die Religionsfreiheit und die dern die Religion für ihre politischen Zwecke missbrau- offene Gesellschaft tun wir aber am meisten, wenn wir chen . hinsichtlich unserer Empörungsbereitschaft und Kritik nicht selektiv sind . Wir müssen deshalb auch die religiösen Führer und die Gläubigen stärken, die sich in ihren Gesellschaften für Präsident Dr. Norbert Lammert: Toleranz und für Freiheit einsetzen . Ich möchte an dieser Stelle an die Worte erinnern, die vor wenigen Tagen der Herr Kollege . marokkanische König Mohammed VI . gefunden hat, als er sich in einem eindringlichen Appell an alle Muslime Dietmar Nietan (SPD): gewandt hat . Er hat ausdrücklich alle Formen des Ter- Es ist kein Widerspruch – im Gegenteil: es gehört zu- rorismus, Extremismus und Radikalismus verurteilt . Er sammen –, wenn wir uns genauso klar, wie wir gegen verurteilt die Prediger – ich zitiere –, „die junge Muslime Hassprediger in Moscheen vorgehen, äußern, wenn eine benutzen, speziell in Europa, . . um ihre Irrlehren und ab- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19037

Parl. Staatssekretär Thomas Silberhorn (A) wegigen Versprechen zu verbreiten und Gesellschaften Deutschland nennen, die wir seit vielen Jahren unterstüt- (C) anzugreifen, die Freiheit, Offenheit und Toleranz wol- zen und die vor Ort segensreich wirken . len“. Ich finde, das ist ein außerordentlich beeindrucken- des Statement des marokkanischen Königs . Stimmen wie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) diese sollten wir in unseren internationalen Beziehungen Meine Damen und Herren, wo Dialog stattfindet, kann stärker beachten und in unsere Arbeit einbeziehen . Vertrauen entstehen, und wo Vertrauen geschaffen wird, kann das Zusammenleben gelingen . Dass in vielen Län- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- dern der Weg dorthin noch weit ist, das legt der Bericht ordneten der SPD) der Bundesregierung in aller Deutlichkeit dar . Aber da- raus müssen wir die richtigen Schlüsse ziehen, und wir Wir müssen das positive Potenzial von Religionsge- sollten uns nicht entmutigen lassen . Wir müssen mit Ver- meinschaften in unsere internationale Zusammenarbeit tretern der Religionsgemeinschaften enger zusammen- einbeziehen . Deshalb haben wir im Februar dieses Jahres arbeiten . Lassen Sie uns gemeinsam dafür Sorge tragen, zum ersten Mal überhaupt für unser Ministerium eine in- dass wir der weltweiten Verfolgung und Diskriminierung ternational vielbeachtete neue Strategie zum Thema „Re- von Menschen aufgrund von Religion und Weltanschau- ligionen als Partner in der Entwicklungszusammenar- ung ein Ende setzen können . beit“ vorgestellt . Wir haben sie zusammen mit Vertretern aller Weltreligionen, der Wissenschaft, der Zivilgesell- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit . schaft aus dem In- und Ausland erarbeitet . Sie wird von (Beifall bei der CDU/CSU) vielen internationalen Akteuren als Vorbild genommen . Wir wollen damit zeigen, dass Religion ein Katalysator für Entwicklung sein kann . Präsident Dr. Norbert Lammert: Letzter Redner in der Debatte zu diesem Tagesord- Meine Damen und Herren, religiöse Gemeinschaf- nungspunkt ist der Kollege Heribert Hirte für die CDU/ ten sind in vielen Ländern oft näher an den Menschen CSU-Fraktion . dran als Politiker . In vielen Ländern wären die Gesund- heitsversorgung und das Bildungswesen überhaupt nicht (Beifall bei der CDU/CSU) funktionsfähig, wenn es nicht das breite Engagement von vielen Religionsgemeinschaften gäbe . 80 Prozent der Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU): Weltbevölkerung gehören einer Religionsgemeinschaft Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! an – 80 Prozent! Das kann Politik nicht ignorieren, wenn Werfen Sie einmal einen Blick auf die Uhr: Es ist jetzt wir die Lebenswirklichkeit einer großen Mehrheit der (B) gleich halb elf . Das ist sozusagen die Primetime in den (D) Weltbevölkerung wirklich erfassen wollen . Wir sehen Plenardebatten . Dass wir hier heute im Deutschen Bun- das in vielen unserer Partnerländer . In Gesprächen vor destag an so prominenter Stelle über die Religions- und Ort merken wir natürlich auch, dass Religionsfreiheit oft Glaubensfreiheit reden können, und das, um im Bild zu ein höchst sensibles Thema ist . Deswegen setzen wir auf bleiben, fast in voller Spielfilmlänge, das freut mich. den Dialog der Religionen und starten gezielt neue Vor- Es freut mich als Christ, es freut mich als Vorsitzender haben, die diesen interreligiösen Dialog fördern . des Stephanuskreises, und es freut mich auch als Jurist . Denn es zeigt: Wir sehen das Menschenrecht der Reli- Wir wollen dazu ausdrücklich religiöse Autoritäten gions- und Glaubensfreiheit nicht als bloße Rechtsgrund- einbeziehen; denn sie haben großen Einfluss. In vielen lage, die in zahlreichen internationalen und regionalen Regionen kennt man keine Regierungsvertreter, aber die Menschenrechtskonventionen und natürlich in unserer religiösen Führer aus der Nachbarschaft . Wenn diese in eigenen Verfassung verankert ist, nein, wir sehen die Re- ihren Gemeinden zu gegenseitigem Respekt und zu To- ligionsfreiheit als ein Freiheitsrecht jedes Einzelnen an, leranz ermutigen, dann hat das ein viel größeres Gewicht ein Freiheitsrecht, das besonders lebendig in einer Ge- als alle anderen Stimmen . Deswegen setzen wir auf die- sellschaft gelebt werden kann, wenn wir es in die Hand sen Dialog . nehmen und so wie hier heute in die Höhe halten . Ich will Ihnen gern einige Beispiele nennen: Auf den Für uns ist das selbstverständlich . Aber Religions- und Philippinen fördern wir den Dialog zwischen Christen, Glaubensfreiheit ist kein Thema, das irgendeine Region Muslimen und Vertretern indigener Gemeinschaften . In dieser Welt auf ihrer To-do-Liste abhaken könnte, selbst Ägypten bringen wir christliche und muslimische Geist- wenn wir nicht Gegenstand des vorliegenden Berichts liche mit Publizisten, Künstlern und Lehrern zusammen . sind . Angesichts einer religiös und kulturell vielfältiger Im Tschad unterstützen wir ein Kulturzentrum für christ- werdenden Gesellschaft spüren wir es deutlich: Die Re- liche und muslimische Vereinigungen . In Jordanien för- ligionsfreiheit ist ein umkämpftes Recht . Dabei ist nach dern wir die soziale Teilhabe von Flüchtlingen . Ich hatte meiner Einschätzung in unserem christlich geprägten Kontakt mit einem katholischen Bischof und einem mus- Deutschland das, was uns ernsthaft zu schaffen macht, limischen Stammeshäuptling aus Nigeria, die im Norden vor allen Dingen die religiöse Bildungslücke in unserer des Landes, wo Boko Haram wütet, ein positives Bei- eigenen Gesellschaft . Immer mehr junge Menschen kön- spiel für Toleranz und friedliches Miteinander setzen . nen auf den lieben Gott ganz gut verzichten, aber nicht auf das Internet . Doch eine Gesellschaft, die ihre eige- Ich möchte in diesem Zusammenhang auch die zahl- nen religiösen Wurzeln nicht mehr kennt, teilweise sogar reichen Aktivitäten der kirchlichen Hilfswerke aus bewusst ignoriert, kann kaum Verständnis für Menschen 19038 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016

Dr. Heribert Hirte (A) aufbringen, die offen und mit Nachdruck für ihren eige- können . Denn überall dort, wo Religionsfreiheit fehlt – (C) nen Glauben eintreten, Volker Beck hat das eben deutlich gesagt –, sind auch Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfrei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- heit beeinträchtigt und die Freiheit von Mann und Frau ordneten der SPD) in Gefahr . seien es zu uns geflüchtete Muslime, Christen oder Ange- hörige anderer Religionsgruppen . Unsere effizienteste Waffe im Kampf für die Religi- onsfreiheit – ich kann das nicht oft genug sagen – ist das Um das an dieser Stelle gleich klar zu sagen: Bei uns Wort. Der interreligiöse Dialog öffnet Türen, die einem in Deutschland und in ganz Europa ist die Religions- und durch Drohungen und Sanktionen verschlossen bleiben; Glaubensfreiheit besser umgesetzt als in vielen anderen das hat Kollege Silberhorn eben schon angesprochen . Regionen dieser Welt . Deshalb haben wir eine besondere Vorbildfunktion und Verantwortung . Wir Parlamentarier Wir sind dankbar dafür, dass die Bundeskanzlerin sind in der Lage, mit dem Finger auf Missstände in an- auf ihren vielen Reisen auch dieses Themenfeld immer deren Ländern zu zeigen – das tun wir hier jetzt gerade wieder anspricht . Auch die Entwicklungspolitik unserer auch –, aber dieser Fingerzeig sollte vor allen Dingen als Regierung besteht zu einem erheblichen Teil aus dem Handreichung dienen, damit Parlamentarier aus anderen Eintreten für die Religions- und Weltanschauungsfrei- Staaten von uns lernen können und umgekehrt wir auch heit . Aber die Frage ist: Wie soll es weitergehen? Ein von ihnen . wichtiges Signal ist, dass auf unsere Initiative der eu- ropäische Sonderbotschafter Figel bestellt wurde . Aber Ein gelungenes Beispiel für dieses gegenseitige An- ich glaube, wir müssen noch einen Schritt weitergehen – die-Hand-Nehmen ist die Parlamentarierkonferenz, die Volker Kauder hat es angesprochen –: Wir müssen über letzte Woche hier in Berlin zur Religionsfreiheit statt- eine ähnliche Institution auch bei der Bundesregierung gefunden hat . Auf Einladung der CDU/CSU-Bundes- nachdenken . tagsfraktion konnten wir hier in Berlin über 100 Par- lamentarier verschiedenster Glaubensrichtungen, aller (Beifall bei der CDU/CSU) Glaubensrichtungen, aus über 50 Ländern dieser Welt begrüßen . Wir werden und wollen uns auch in Zukunft Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben einen regelmäßig treffen. Wir werden weiter den Finger in die umfassenden Bericht der Bundesregierung vorliegen, der Wunde legen, und wir werden weiter gemeinsame Appel- deutlich macht, welche Maßnahmen unternommen wur- le an die Regierungen richten, die die Religionsfreiheit den und welche Aufgaben noch vor uns liegen . Deshalb missachten . Wir werden nicht aufhören, dieses Freiheits- müssen wir unseren Worten Taten folgen lassen, damit recht weiter einzufordern, so lange, bis es für alle gilt . Christen, Muslime, Juden, Aleviten, Jesiden, Bahai und (B) die vielen anderen unterdrückten Religionsgruppen end- (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- lich so leben können – da zitiere ich den Kölner Kardinal ordneten der SPD) Woelki –, „wie es Gott gefällt: aufrecht und frei“ . Je enger wir uns international vernetzen und je en- Vielen Dank . ger wir zusammenarbeiten, desto erfolgreicher sind wir . Denn – das muss man klar sagen – öffentlicher Druck (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- von allen Seiten hilft . Kein Staat der Welt, auch nicht wie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Nordkorea, möchte ewig am Pranger stehen . Das zweite DIE GRÜNEN – Volker Beck [Köln] [BÜND- Land, das in diesem Zusammenhang zu nennen ist, ist NIS 90/DIE GRÜNEN]: Für den Kardinal Saudi-Arabien . kriegen Sie immer Applaus!) Unsere Fraktion setzt sich mit Volker Kauder an der Spitze bereits seit vielen Jahren engagiert für die Religi- Präsident Dr. Norbert Lammert: onsfreiheit in aller Welt ein . Ich schließe die Aussprache . (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der GRÜNEN]: Und für Panzer nach Saudi-Ara- Drucksache 18/8740 an die in der Tagesordnung aufge- bien!) führten Ausschüsse vorgeschlagen .– Dazu darf ich Ihr Seit dieser Legislaturperiode leite ich den Stephanus­ Einvernehmen feststellen . Also ist die Überweisung so kreis, an dem sich ein Drittel unserer Fraktion aktiv be- beschlossen . teiligt . Hier legen wir den Fokus auf Christen, die auf- Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 9 a grund ihres Glaubens diskriminiert und verfolgt werden . und 9 b: Wir laden diese Menschen zu uns ein . Wir reisen zu ih- nen in die verschiedenen Regionen der Welt und zeigen a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker ihnen so: Wir sind für euch da . Wir hören euch und sehen Beck (Köln), Özcan Mutlu, Manuel Sarrazin, euer Leid . Wir setzen uns für euch ein . weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Wenn wir den Fokus auf die Christen richten, dann NIS 90/DIE GRÜNEN heißt das aber nicht, dass wir andere Religionsgruppen Britische Staatsangehörige rasch und unkom- benachteiligen . Wenn wir für die Rechte von Christen pliziert einbürgern kämpfen, dann kämpfen wir für alle religiösen Minder- heiten, damit alle ihren Glauben frei und offen leben Drucksache 18/9669 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19039

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Überweisungsvorschlag: wir uns vorhin bei der Religionsfreiheit so gut verstanden (C) Innenausschuss (f) haben, hoffe ich aber, dass die gesamte Große Koalition Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union diesen Schritt mit uns gemeinsam gehen wird . b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Özcan Mutlu, Luise Amtsberg, Der Bundesrat diskutiert heute über ein Einwan- weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND- derungsgesetz . Wir haben in der letzten Woche unter NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs Führung von Katrin Göring-Eckardt eine umfassende eines Gesetzes zur Erleichterung der Einbür- Anhörung zu dem Thema durchgeführt, wie ein moder- gerung und zur Ermöglichung der mehrfa- nes Einwanderungsrecht aussehen muss . Zu einem mo- chen Staatsangehörigkeit dernen Einwanderungsland gehört nicht nur die Ermög- lichung, nach Deutschland zu kommen, sondern es gilt Drucksache 18/5631 auch, gerade für die hochgebildeten und gut qualifizier- Überweisungsvorschlag: ten Menschen eine attraktive Atmosphäre auszustrahlen, Innenausschuss (f) und dazu gehört das Staatsangehörigkeitsrecht . Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Deshalb schlagen wir Ihnen heute vor, im jetzigen Auch diese Aussprache soll nach einer interfraktionel- Staatsangehörigkeitsrecht ganz wesentliche Veränderun- len Vereinbarung 77 Minuten dauern .– Auch dazu sehe gen vorzunehmen: ich keinen Widerspruch . Also verfahren wir so . Wir wollen von dem Prinzip der Vermeidung der Ich eröffne die Aussprache und erteile Volker Beck für Mehrstaatigkeit grundsätzlich abrücken . Wir halten das die antragstellende Fraktion das Wort . in einer globalisierten Welt nicht für zeitgemäß . Sprin- gen Sie über Ihren Schatten! Ein Pass bzw . eine Staats- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): angehörigkeit ist kein Religionsbekenntnis, sondern die Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wol- Ermöglichung der gleichberechtigten Teilhabe für die len heute darüber reden, wie wir beim Thema „Integra- Menschen, die hier arbeiten, leben und Steuern zahlen . tion und Einbürgerung“ besser vorankommen . Dazu haben wir zwei Initiativen vorgelegt . Zum einen geht es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN um eine umfassende Liberalisierung des Staatsangehö- sowie der Abg . Ulla Jelpke [DIE LINKE]) rigkeitsrechts unter der Überschrift „Wir wollen mehr Wir wollen die Fristen bei der Anspruchseinbürgerung Mehrstaatigkeit wagen“, zum anderen wollen wir eine herabsetzen . Wir wollen, dass fortan Menschen, die ei- Antwort auf die Auswirkungen der anstehenden Bre- nen Aufenthaltstitel oder eine Niederlassungserlaubnis xit-Verhandlungen auf die britischen Bürger geben . (B) haben, einen leichteren Zugang erhalten . (D) Der italienische Regierungschef Renzi hat hierzu Wir wollen bei jungen Menschen, die gerade ihre vorgeschlagen, dass die Briten, die in den europäischen Ausbildung beendet haben und bei uns zur Schule, zur Staaten leben, schnell eingebürgert werden sollen . Das Universität gegangen sind, vielleicht aber noch nicht so haben wir in einem Antrag aufgeschrieben . Schon das viel verdienen, Ausnahmen beim Nachweis der Lebens- gegenwärtige Recht erlaubt es, europäische Staatsbürger, unterhaltssicherung machen . Das soll kein Hinderungs- die sich kürzer als sechs Jahre hier in Deutschland aufhal- grund dafür sein, hier von Anfang an gleichberechtigt als ten, unter Hinnahme der Doppelstaatigkeit einzubürgern . Staatsbürgerinnen und Staatsbürger der Bundesrepublik Dies sollten wir hier tun, auch wenn die Anwendungs- Deutschland mitzuwirken . Ähnliches wollen wir für äl- hinweise des Bundesinnenministers etwas anderes besa- tere Menschen, die aufgrund des Eintritts ins Rentenalter gen . Wir sollten das Signal setzen: Die Briten gehören zu nicht mehr so leicht die entsprechenden Anforderungen Europa; die Briten sind uns in Deutschland willkommen . erfüllen können . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nach Auskunft der Bundesregierung betrifft das 107 000 britische Staatsbürger, die gegenwärtig in Bei den Kenntnissen der deutschen Sprache wollen Deutschland leben . Davon haben wir in den vergangenen wir grundsätzlich keine Abstriche machen . Für Men- Jahren 5 000 eingebürgert . Wir schlagen vor, auch den schen, die aufgrund von Krankheit, Behinderung oder anderen etwa 100 000 Briten dieses Angebot zu machen . Alter die erforderlichen Sprachniveaus nicht erreichen können, wollen wir aber ein Auge zudrücken und sagen: (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ist Das hindert nicht daran, dass sie als gleichberechtig- das mit dem britischen Botschafter abgespro- te Bürgerinnen und Bürger unseres Landes mitmischen chen?) können . Dann wären alle Fragen, die sich aus den Verhandlungen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – über den Austritt Großbritanniens aus der EU womöglich Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das ist ja sehr ergeben, zumindest für diese Menschen geklärt . Sie hät- großzügig!) ten dann gleiche Rechte und gleiche Möglichkeiten, und sie wären Teil unseres Landes . Der Einbürgerungstest ist umstritten . Herr Gabriel hat das ja auch gefordert, und ich rechne (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- deshalb damit, dass zumindest die SPD-Fraktion mit der NEN]: Den schaffen nicht einmal die- Bay Linken dafür sorgt, dass das hier eine Mehrheit findet. Da ern!) 19040 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016

Volker Beck (Köln) (A) Ich habe bei seiner Einführung nicht viel davon gehalten . ein deutsch-kolumbianischer Doppelstaatler die kolum- (C) Wir schlagen Ihnen vor, dass zumindest Menschen, die bianische Regierung unterstützt, wenn diese sich für den hier Abitur gemacht, zur Universität gegangen sind, nicht Ausgleich und für Friedensverhandlungen mit der FARC mit so etwas Albernem konfrontiert werden . einsetzt? (Dr .Tim Ostermann [CDU/CSU]: Werden sie auch nicht!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das ist ein schlechtes Signal, ein Misstrauenssignal . Hier Lieber Herr Beck – – wollen wir mehr Liberalität wagen . (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Volker Beck Niemand käme auf diese Idee . Dann sollten wir es Meine Damen und Herren von der Union, wir hatten in aber auch bei den Türken nicht anders diskutieren und diesem Jahr angesichts der Demonstrationen für Erdogan das als Argument für ein ewiges No-Go bei der Liberali- in meiner Heimatstadt Köln eine Diskussion darüber, ob sierung des Staatsangehörigkeitsrechtes verwenden . die deutsch-türkischen Doppelstaatler ein Loyalitätspro- blem mit unserem Land haben . Vielen Dank, meine Damen und Herren . (Marian Wendt [CDU/CSU]: Gute Frage!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich muss Ihnen sagen: Bei der Anzahl der Doppelstaat- ler liegen die Menschen aus der Russischen Föderation Präsident Dr. Norbert Lammert: vorne . Die Türken liegen an dritter oder vierter Stelle bei Stephan Mayer ist nun der nächste Redner für die der Anzahl der Personen, die von der Doppelstaatigkeit CDU/CSU-Fraktion . Gebrauch machen durften . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Wir wissen nicht, wer da demonstriert hat, ob das wel- ordneten der SPD) che mit türkischem Pass, mit deutschem Pass oder mit einem deutschen und einem türkischen Pass waren, und selbstverständlich muss es doch durchaus auch möglich Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): sein, sich zu den Verhältnissen im Herkunftsland der El- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin- tern politisch zu artikulieren . nen! Sehr geehrte Kollegen! Man könnte es sich leicht machen oder lapidar sagen: „olle Kamellen“ oder „alter Wer sich da artikuliert hat und wie sie sich artikuliert Wein in neuen Schläuchen“ . Die Grünen legen einen (B) haben: Damit habe ich auch einen Dissens . Das gehört Gesetzentwurf zur Liberalisierung des Staatsangehörig- (D) aber zu einer Auseinandersetzung in einer demokra- keitsrechts vor und sprechen sich für die generelle An- tischen Einwanderungsgesellschaft dazu . Nicht alle erkennung der Mehrstaatigkeit aus . Aber, meine sehr Migranten sind gleich . Nicht alle denken das Gleiche – verehrten Kolleginnen und Kollegen, so leicht möchte genauso wie die Leute, die schon seit Generationen hier ich es mir nicht machen, weil aus meiner Sicht insbeson- leben, auch nicht alle das Gleiche denken . dere dieser Gesetzentwurf, den Sie heute in erster Lesung Ich habe mit einem AfDler den gleichen Dissens wie vorlegen, auf eine parteipolitische, aber auch eine gesell- mit einem AKPler . Beide Formen des Nationalismus sind schaftspolitische Geisterfahrt führt . Es geht nicht nur um mir zuwider, und ich will als Demokrat auch politisch Detailregelungen, die Sie im Staatsangehörigkeitsrecht dagegen argumentieren . Das tue ich aber nicht über das ändern wollen, sondern – dieser festen Überzeugung bin Staatsangehörigkeitsrecht . ich – Ihr Ansatz hat eine gesellschaftspolitische Dimen- sion . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg . (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Ulla Jelpke [DIE LINKE]) GRÜNEN]: Ja, Integration!) Man muss sich schon einmal die Frage stellen, was Sie, die Grünen, wollen sich ein neues Staatsvolk schaf- geschähe, wenn der Satz richtig wäre, dass jemand, der fen . Wenn man in die Begründung zu Ihrem Gesetzent- von woanders herkommt, sich in politische Debatten sei- wurf blickt, erkennt man, dass Sie sehr unverblümt Ihr ner Herkunftsregion nicht mehr einmischen sollte . Wol- Ansinnen offenbaren. Sie wollen eine „größtmögliche len wir allen Ernstes, dass ein deutsch-britischer Doppel- Kongruenz“ – so schreiben Sie – zwischen dem Staats- staatler hier in Deutschland nicht dafür wirbt, dass die volk und der Bevölkerung . Entscheidung für den Brexit falsch ist und dass Groß- britannien besser in der Europäischen Union aufgeho- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE ben wäre? Wollen wir allen Ernstes einem deutsch-fran- GRÜNEN]: Ja!) zösischen Doppelstaatler sagen, es wäre falsch, dass er Ich sage Ihnen ganz offen: Dafür wird Ihnen die CDU/ seine Regierung unterstützt, wenn sie sich gegen rechts- CSU nicht die Hand reichen . Dafür sind wir nicht zu ha- radikale und antisemitische Politiker in ihrem Lande ben . wendet? Wollen wir einem deutsch-costa-ricanischen Doppelstaatler untersagen, dass er seine Regierung da- (Beifall bei der CDU/CSU – Rüdiger Veit bei unterstützt, wenn sie sich für Biodiversität und erneu- [SPD]: Leider! – Dr . Eva Högl [SPD]: Das ist erbare Energien einsetzt? Was wollen wir sagen, wenn sehr bedauerlich!) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19041

Stephan Mayer (Altötting) (A) Die Grünen wollen generell den Grundsatz der Mehr- völkerung kein Verständnis. Dies findet in der deutschen (C) staatigkeit anerkennen und sich insoweit von der bisheri- Bevölkerung auch keine Akzeptanz . gen, bewährten rechtlichen Grundlage abkehren, dass die Mehrstaatigkeit die Ausnahme ist. Sie offenbaren dies Des Weiteren wollen Sie bei einigen Personengruppen sehr verräterisch in Ihrer Begründung, indem Sie ganz auf den Nachweis von Deutschkenntnissen verzichten . dezidiert von einer Einbürgerungsoffensive sprechen. Dafür gilt das Gleiche . Auch diese Regelung wäre nicht Sie wollen in Deutschland eine Einbürgerungsoffensive integrationsfördernd, sondern integrationshindernd . Wir vornehmen . Ich bin der felsenfesten Überzeugung: Der wollen doch gerade, dass Menschen, die zu uns kom- überwiegende Teil, der Großteil der deutschen Bevölke- men, möglichst schnell Deutsch lernen . Das Erlernen rung will dies nicht . Wir brauchen keine Einwanderungs- der deutschen Sprache ist die Grundvoraussetzung, um offensive. in Deutschland Fuß zu fassen, um in Deutschland erfolg- reich zu sein, um sich einen Freundeskreis aufzubauen, Gerade in einer Zeit, in der wir ohnehin in schwie- (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rigem Fahrwasser sind, in der sich unsere Gesellschaft NEN]: Dagegen hat keiner was gesagt!) ohnehin eher auseinanderdividiert, in der wir eine Polari- sierung unserer Gesellschaft erleben, um in bestimmte soziale Schichten aufsteigen zu können, um Arbeit zu finden. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Die Sie betreiben! – Volker Beck [Köln] (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Scheuer und NEN]: Sie vermischen da die Themen, glaube AfD, das ist die Polarisierung!) ich!) in der die Zentrifugalkräfte, die Fliehkräfte in unserer Sie wollen genau das Gegenteil . Sie wollen bei bestimm- Gesellschaft zunehmen, wäre es genau kontraproduktiv, ten Personengruppen auf den Nachweis von Deutsch- wenn wir jetzt, wie von Ihnen intendiert und gefordert, kenntnissen verzichten, wenn es darum geht, ob diese eine Einwanderungsoffensive vornähmen. Person eingebürgert werden kann . (Beifall bei der CDU/CSU – Rüdiger Veit (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- [SPD]: Einbürgerungsoffensive!) NEN]: Haben Sie nicht zugehört, was er ge- sagt hat?) Der Gesetzentwurf, den Sie vorlegen, würde genau das Gegenteil dessen bewirken, was er Ihnen zufolge Damit würden Sie der Integration einen Bärendienst er- bewirken würde: Er wirkt nicht integrationsfördernd; er weisen . (B) wirkt integrationshemmend . Wenn die Regelungen so Ich möchte hier auch betonen, dass in den letzten (D) umgesetzt würden, wie Sie sie vorschlagen, würde genau Jahren gerade auf Druck der CDU/CSU die Ausgaben das Gegenteil entstehen; es würden nämlich Parallelge- für Deutsch- und Integrationskurse deutlich erhöht wur- sellschaften gefördert und in ihrer Gegensätzlichkeit in- den . Im Jahr 2015 hat der Bund 260 Millionen Euro für tensiviert werden . Deutsch- und Integrationskurse ausgegeben . Wir haben (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Mittel für die Kurse von 2015 auf 2016 mehr als ver- NEN]: Wie in Bayern, meinen Sie? – Volker doppelt, nämlich auf 570 Millionen Euro in diesem Jahr . Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Bundesregierung hat in ihrem Gesetzentwurf noch Jetzt ein Beleg! Ein Beleg, nicht nur behaup- einmal 40 Millionen Euro zusätzlich bereitgestellt . ten!) (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich darf Ihnen einige Beispiele nennen . Sie wollen NEN]: Sprechen Sie mal zum Antrag!) generell auf das Erfordernis des Nachweises der Siche- Im nächsten Jahr werden mindestens 610 Millionen Euro rung des Lebensunterhalts bei jungen Menschen, die in für Sprach- und Integrationskurse ausgegeben . Das ist Ausbildung sind, verzichten . Was bedeutet das? Dass ein richtig verstandene Integration, nicht der von Ihnen vor- junger Mensch, der gerade in der Ausbildung ist, geschlagene Weg . (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU – Ulla Jelpke [DIE NEN]: Der hier geboren, hier aufgewachsen LINKE]: Das Thema ist nicht Integration, ist, das Recht auf Staatsbürgerschaft haben sondern Einbürgerung!) sollte!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, darüber hi- im Hinblick auf die Einbürgerung nicht mehr nachwei- naus wollen Sie, dass eine Anspruchseinbürgerung be- sen muss, dass er seinen eigenen Lebensunterhalt selbst reits nach fünfjährigem Aufenthalt in Deutschland mög- generieren kann . Das wäre genau kontraproduktiv . Wir lich ist . Sie wollen also die Frist von acht auf fünf Jahre wollen doch, dass die jungen Menschen in die Lage ver- reduzieren . Was hinzukommt – das ist aus meiner Sicht setzt werden, dass sie ihren Lebensunterhalt selbst be- völlig unlogisch und nicht nachvollziehbar –: Sie würden streiten können . Wir wollen keine Einwanderung in die Flüchtlinge und ihnen gleichgestellte Personen noch ein- Sozialsysteme . Genau das würde eintreten, wenn Ihr Ge- mal dadurch privilegieren, dass bei Flüchtlingen allein setzentwurf umgesetzt würde . Sie würden der Einwan- schon ein dreijähriger Aufenthalt ausreichen würde, um derung in die Sozialsysteme Vorschub leisten . Ich sage die deutsche Staatsbürgerschaft erlangen und daneben Ihnen hier ganz offen: Dafür hat auch die deutsche Be- die bisherige Staatsbürgerschaft beibehalten zu können . 19042 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016

Stephan Mayer (Altötting) (A) Das ist aus meiner Sicht der falsche Weg . Dafür sind wir Die angesprochenen Loyalitätskonflikte gibt es natür- (C) in keiner Weise zu haben . lich .

Das Gleiche gilt für Ihren Vorschlag, auf den Ein- (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bürgerungstest zu verzichten . Sie, Herr Kollege Volker NEN]: Stimmt! Bayern meinen Sie jetzt, oder Beck, haben gesagt: Na ja, der Einbürgerungstest ist um- was?) stritten . – Der Test wird von Ihnen nicht anerkannt . Sie haben die Deutschen aus Russland angesprochen . Wir haben doch gerade in diesem Jahr erlebt, wie die (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Deutschen aus Russland vom Putin-Regime teilweise in- GRÜNEN]: Das habe ich gar nicht gesagt!) strumentalisiert werden . Es geht darum, dass sie in erster Linie Russia Today und nicht deutsches Fernsehen sehen . Aber ich sage hier ganz deutlich: Der Einbürgerungstest hat sich bewährt . Ich erinnere an den Fall Lisa, der sich hier in Berlin im Januar dieses Jahres ereignet hat . Es hat nur wenige (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Stunden gedauert, bis in über 100 Städten Deutschlands GRÜNEN]: Ich streite es ja gar nicht ab!) angeblich spontane Demonstrationen von Deutschen aus Russland stattgefunden haben . Mir macht keiner weis, Es ist gut, wenn vor der Einbürgerung ein entspre- dass die Deutschen aus Russland, losgelöst und unkoor- chender Nachweis in Form einer Prüfung erbracht wer- diniert, in über 100 Städten in wenigen Stunden von allei- den muss, um zu beweisen, dass man zumindest Grund- ne auf die Straße gegangen sind . Das war natürlich, mei- kenntnisse der deutschen Geschichte, des deutschen ne sehr verehrten Damen und Herren, von langer Hand Sozialaufbaus und des deutschen Staatsgefüges besitzt . geplant . Da sieht man doch genau an diesem konkreten Fall, wie es dann bei Anerkennung der doppelten Staats- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE bürgerschaft zu Loyalitätskonflikten kommen kann. GRÜNEN]: Von jemandem, der hier Abitur gemacht hat, von jemandem, der hier Politik Ich möchte auf einen weiteren konkreten Fall der Pra- oder Geschichte studiert hat?) xis zu sprechen kommen, bei dem sich ebenfalls Loyali- tätskonflikte zeigen könnten – wohlgemerkt: könnten –, Darauf jetzt zu verzichten, wäre aus meiner Sicht der völ- der aber noch nicht endgültig ausermittelt ist . Seit dem lig falsche Weg und wäre vollkommen kontraproduktiv . Putschversuch in der Türkei im Juli dieses Jahres befin- den sich sechs deutsche Staatsangehörige in der Türkei in (Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu Haft . Ob zu Recht oder zu Unrecht, steht mir nicht zu zu bewerten . Es ist noch nicht klar, ob diese neben der deut- (B) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie (D) mal den Test selber!) schen die türkische Staatsangehörigkeit haben . Ich neh- me an, dass es dem Erdogan-Regime ziemlich egal ist, ob Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir die Betreffenden, wenn sie die türkische Staatsangehörig- haben in dieser Legislaturperiode unser Staatsangehö- keit haben, auch die deutsche Staatsangehörigkeit besit- rigkeitsrecht bereits grundlegend geändert . Ich mache zen; denn allein das Vorhandensein der entsprechenden keinen Hehl daraus: Es war nicht der Wunsch der CDU/ Staatsangehörigkeit reicht für viele Staaten auf der Welt CSU, in Teilen auf das Optionsmodell zu verzichten . Wir aus – so auch die Türkei –, die betreffenden Personen als haben aber aus meiner Sicht einen verträglichen Kom- ihre Staatsangehörigen zu behandeln . Diesen Personen promiss dahin gehend gefunden, dass das Optionsmodell bringt es in einem Konfliktfall überhaupt nichts, auch die nur in den Fällen obsolet ist und nicht mehr angewandt deutsche Staatsangehörigkeit zu besitzen . wird, in denen konkrete Nachweise erbracht sind, dass (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE eine Person in Deutschland Fuß gefasst hat, GRÜNEN]: Diese Entscheidung können Sie diesen Bürgern schon selber überlassen! – (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: NEN]: Das war doch nur eine absolute Mogel- Das ist nicht nur das Problem der Türkei!) packung! Da hat die SPD mitgemacht!) Es gibt überhaupt keinen Grund, nun einer weiteren wenn sie sich also mindestens acht Jahre in Deutschland Liberalisierung des Staatsangehörigkeitsrechts näherzu- aufgehalten hat, wenn sie sechs Jahre in Deutschland zur treten . Wir fordern in Teilen sogar eine Verschärfung, ins- Schule gegangen ist oder wenn sie in Deutschland einen besondere wenn es darum geht, potenziellen IS-Kämp- erfolgreichen Schulabschluss oder einen erfolgreichen fern oder Kämpfern, die sich in Kampfhandlungen des Berufsschulabschluss vorweisen kann . Das sind ganz Dschihad engagieren, die deutsche Staatsangehörigkeit konkrete Indizien dafür, dass jemand in Deutschland zu entziehen, sofern sie über eine weitere Staatsangehö- angekommen ist und sich in die deutsche Gesellschaft rigkeit verfügen . erfolgreich integriert hat, sodass aus meiner Sicht unter (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Da ist die Verfas- diesen Voraussetzungen auf das Optionsmodell verzich- sung vor!) tet werden kann . Weiter gehende Wünsche im Hinblick auf eine Liberalisierung werden wir auf jeden Fall nicht Wir von der Union werden Ihnen von der SPD sehr bald mittragen . einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen . Ich bitte Sie eindringlich, diesem wichtigen und sachgerechten (Beifall bei der CDU/CSU) Anliegen näherzutreten . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19043

Stephan Mayer (Altötting) (A) Zum Schluss noch ein kurzes Wort zu Ihrem Antrag, Stimmung gegen das Thema Einbürgerung zu machen . (C) britische Staatsangehörige rasch und unkompliziert ein- Hören Sie mit solchen unfairen Sachen auf! zubürgern . Ich habe mich in meiner Funktion als Vor- sitzender der Deutsch-Britischen Parlamentariergruppe (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- nach dem Referendum vom 23 .Juni dahin gehend ge- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . äußert, dass es wünschenswert ist – demgegenüber sind Rüdiger Veit [SPD] – Stephan Mayer [Altöt- wir aufgeschlossen –, dass britische Staatsangehörige in ting] [CDU/CSU]: Nein, das ist falsch!) Deutschland auch die deutsche Staatsangehörigkeit be- Wir sprechen hier über Einbürgerung . Das Gleiche gilt für antragen . Man kann das aber derzeit mit Gelassenheit Ihre Stimmungsmache gegen Russlanddeutsche . Wahr- sehen . Zum einen sind die Verhandlungen bezüglich des scheinlich wissen Sie gar nicht, worüber wir hier reden . Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union Wir sprechen über Einbürgerung . Russlanddeutsche sind noch gar nicht angelaufen . Zum anderen besteht aus mei- doch gar nicht eingebürgert worden . Wo leben Sie über- ner Sicht überhaupt kein Grund für eine Zwangsgerma- haupt? Haben Sie überhaupt Ahnung von diesem Thema? nisierung der Briten in Deutschland . (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – NEN]: Was ist das denn für ein Argument? Zuruf von der CDU/CSU: Das ist unerträgli- Das ist doch Wahnsinn, was Sie sagen! Lesen che Arroganz!) Sie erstmal unseren Antrag, bevor Sie einen Russlanddeutsche haben die deutsche Staatsangehörig- solchen Schwachsinn erzählen!) keit bekommen . Da spielt Einbürgerung keine Rolle . Ich glaube, wir sollten das alles mit britischer Gelassen- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Fan- heit sehen . Für das in Ihrem Antrag geäußerte Ansinnen gen Sie noch mal neu an, und lassen Sie die besteht überhaupt kein Anlass . Briten in Deutschland ha- Arroganz weg! Unglaublich!) ben ohnehin aufgrund ihrer britischen Staatsangehörig- keit alle Rechte, bis auf das Wahlrecht bei Bundestags- Lernen Sie dazu, bevor Sie über dieses Thema sprechen, und Landtagswahlen . Deswegen ist Ihr Antrag völlig und machen Sie nicht einfach Stimmung gegen dieses überflüssig. Er wird dementsprechend unsere Ablehnung Thema! erfahren . Sie haben gesagt, dass die deutsche Sprache erlernt Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit . werden muss . Ich kann Sie beruhigen: Sie sind seit 2005 in der Bundesregierung, nicht wir . (Beifall bei der CDU/CSU) (B) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Gott (D) sei Dank!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Gemäß der Schlagzeile in der heutigen Ausgabe der Süd- Dağdelen das Wort. deutschen Zeitung hat nicht einmal jeder Zweite einen Platz in einem Integrationskurs . (Beifall bei der LINKEN) Das ist Ihre desaströse Bilanz in der Integrationspolitik . Sie sind es, die die Plätze nicht zur Verfügung stellen . Wir Sevim Dağdelen (DIE LINKE): haben seit 2005 die Integrationskurse, und seit 2005 gibt Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und es mehr Anfragen nach diesen Kursen, als es Plätze gibt, Kollegen! Herr Mayer, die allermeisten in Deutschland und das wissen Sie. Also schaffen Sie ausreichend Plätze, lebenden Migrantinnen und Migranten sind loyaler ge- wenn Sie von den Menschen möchten, dass sie die deut- genüber dieser Gesellschaft und dem Grundgesetz sche Sprache erlernen! Machen Sie hier keine Stimmung! (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NEN]: Als die Bayern!) NIS 90/DIE GRÜNEN) als der Nazimob, der Flüchtlinge durch die Straßen jagt Ich möchte noch etwas zum Thema Loyalität und Lo- und Unterkünfte in Brand steckt, oder CSU-Politiker, yalitätsappelle hinzufügen. Ich finde es wirklich absurd: die über ministrierende, fußballspielende Senegalesen in Während die Bundeskanzlerin von den hier lebenden unserer Gesellschaft schwadronieren . Das ist nicht loyal Deutschtürken Loyalität fordert, macht sie gemeinsame gegenüber unserer Gesellschaft, Herr Kollege Mayer . Sache mit dem türkischen Despoten Erdogan, der mithil- fe seines Netzwerks alles tut, um die Integration hier le- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- bender Deutschtürken zu hintertreiben . Fragen Sie doch NIS 90/DIE GRÜNEN – Özcan Mutlu lieber Ihre Kanzlerin, was sie dafür tut, um die Integrati- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die spalten on hier zu hintertreiben! die Gesellschaft! – Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Entschuldigen Sie sich dafür!) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Was erzählen Sie denn da? Also lieber Flüchtlinge Zur Redlichkeit gehört, zum Thema zu sprechen . Wa- im Mittelmeer sterben lassen und Flüchtlings- rum sprechen Sie, wenn mein Kollege Volker Beck von kriminalität zulassen? Das ist doch lächerlich, Einbürgerungsoffensive spricht, von Einwanderungsof- was Sie hier erzählen! Sie haben doch keine fensive? Sie bauen hier einen Pappkameraden auf, um Ahnung!) 19044 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016

Sevim Dağdelen (A) Sie sollte damit aufhören, mit Erdogan gemeinsame Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) Sache zu machen, weil es sein Netzwerk ist, das die Men- Das Wort erhält nun der Kollege Rüdiger Veit für die schen hier von der Integration abhält und dagegen Stim- SPD-Fraktion . mung macht . Das wäre ein Beitrag zur Integration statt der Zusammenarbeit mit einem Despoten . Hören Sie auf (Beifall bei der SPD) mit Appellen zur Loyalität, während Sie das Ganze da- durch hintertreiben, dass Sie gemeinsame Sache machen! Rüdiger Veit (SPD): Wir, die Linksfraktion, jedenfalls unterstützen den Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es vorliegenden Antrag der Grünen, weil die Erleichterung ist kein Versehen, dass ich mich zweimal auf die Redner- der Einbürgerung in dieser Gesellschaft längst überfällig liste habe setzen lassen, aber eigentlich braucht der Ge- ist . genstand der Debatte nicht so viele Worte, dass ich dafür eine Redezeit von 16 Minuten bräuchte. Ich hoffe, es geht (Beifall bei der LINKEN) kürzer, aber möglicherweise ergibt sich die Notwendig- keit – das hängt von den weiteren Rednern ab –, noch Wer auf Dauer in Deutschland lebt, soll auch gleichbe- einmal etwas zu dem zu sagen, was in der Zwischenzeit rechtigt am politischen Leben teilhaben können und darf von diesem Pult aus geäußert worden ist . im Berufsleben nicht benachteiligt werden . Hier lebende Migrantinnen und Migranten dürfen nicht länger Bürge- Es geht hier und heute nicht um eine Zwangsgerma- rinnen und Bürger zweiter Klasse sein, egal seit wann sie nisierung von Briten, lieber Stephan Mayer – das war, hier leben und arbeiten . Wer hier lebt und arbeitet, wer glaube ich, ein verbaler Ausrutscher –, hier zur Schule geht oder gegangen ist, eine Ausbildung gemacht oder eine Universität besucht hat, aber keinen (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: deutschen Pass hat, darf beispielsweise nicht verbeam- Nein! Das hat er ernst gemeint! – Ulla Jelpke tet werden oder ein Schöffenamt übernehmen. Das sind [DIE LINKE]: Kein Ausrutscher!) nur zwei Diskriminierungsbeispiele dafür, warum die er- sondern es gilt der Satz von Volker Beck, dass Briten uns leichterte Einbürgerung längst überfällig ist . grundsätzlich sehr willkommen sind – da macht sicher- lich auch die Union keine Ausnahme – und es damit im Die Integrationsbeauftragte Ihrer Bundesregierung, Prinzip wünschenswert wäre, wenn sich viele von ihnen, Aydan Özoğuz, schätzt, dass fast drei Viertel der 7,6 Mil- die die Voraussetzungen erfüllen, bei uns einbürgern las- lionen Ausländer einen deutschen Pass beantragen kön- sen . Ich glaube, das ist ein Ziel, das uns eint . nen . Allein, das ist nicht gewollt, und die Hürden werden (B) bewusst hoch gelegt, etwa indem unsinnigerweise gefor- Es wird Sie nicht wundern, dass wir Sozialdemokraten (D) dert wird, je nach Herkunft die Herkunftsstaatsangehö- dem grundsätzlich offen gegenüberstehen. Denn schließ- rigkeit abzugeben . lich war es unser Parteivorsitzender, der das Urheber- recht für diese Idee in Anspruch nehmen kann . Die Einbürgerungsquote in Deutschland liegt unter dem Durchschnitt der Europäischen Union . Wenn Sie ( [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ dieses Land europäisieren wollen, dann müssen Sie auch DIE GRÜNEN]: Was?) die Einbürgerung erleichtern . Im vergangenen Jahr sind gerade einmal 107 000 Menschen rechtlich gleichgestellt – In der Tat, Claudia Roth . Ich habe das Zitat in meinen worden . Schweden, Ungarn, Portugal, Spanien, Polen Unterlagen . Ich kann es gerne noch einmal heraussuchen und sogar die Niederlande: Sie alle liegen in diesem Be- und dir geben . Er hat das in der Tat vorgeschlagen, und reich punkteweit vor Deutschland . es ist richtig: grundsätzlich und für alle diejenigen, die schon in Deutschland leben . Wenn Sie einen Schritt zu mehr Europa wollen – wenn Sie schon Europa mit der Europäischen Union gleichset- Aber es bedarf hier weder einer Rechtsänderung – das zen, wie es, meiner Meinung nach fälschlicherweise, haben die Grünen richtig erkannt – noch irgendwelcher oftmals getan wird – Beschlüsse des Bundestages oder irgendwelcher Initiati- ven des Bundesinnenministers, weil nach den vorläufigen (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Verwaltungsvorschriften sehr wohl die Möglichkeit be- steht, jedenfalls im Rahmen der Ermessenseinbürgerung, und wenn Sie dieses Land europäisieren wollen, dann schon heute die Voraufenthaltszeiten von sieben bzw . müssen Sie die Einbürgerung erleichtern . Das wäre ein acht Jahren auf drei Jahre deutlich zu verkürzen . Das ist Schritt zu mehr Integration, aber nicht diese Stimmungs- ein Angebot, das jetzt schon für alle Briten auf dem Tisch mache in diesem Haus . liegt . Ich kann mir vorstellen, dass alle Einbürgerungs- behörden so vernünftig sind, auf diese besondere Situ- Vielen Dank . ation, die nach dem Brexit entstanden ist, entsprechend zu reagieren und dann auch Ermessenseinbürgerungen (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- auszusprechen . neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Barbara Woltmann [CDU/CSU]: Wer macht (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE denn hier Stimmung? Das sind ja wohl Sie! – GRÜNEN]: Wir könnten durch einen Be- Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Dazu schluss klarstellen, dass die Anwendungshin- haben Sie mächtig beigetragen!) weise so zu verstehen sind!) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19045

Rüdiger Veit (A) Die geltende Rechtslage und auch die hierzu ergange- Jetzt ist es nicht unbedingt so, dass mich schon der (C) nen Verwaltungsvorschriften, übrigens auch die vorläufi- beginnende Schmerz über die Trennung von dieser Ko- gen Anwendungshinweise aus dem letzten Jahr, müssen alition überkommt, wenn ich an das nächste Jahr denke . nicht noch einmal gesondert klargestellt werden . Aber eines muss klar sein: Wenn sich die Mehrheitsver- hältnisse hier in diesem Haus nicht ändern und wenn es (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE keine tragfähige Mehrheit gibt, die auch gegenüber ei- GRÜNEN]: Lesen Sie mal die Antwort von ner Reform des Staatsbürgerschaftsrechts offen ist, dann Herrn de Maizière auf unsere Kleine Anfra- wird sich, jedenfalls mit der Union, nichts ändern lassen . ge!) Wir haben – um das klipp und klar zu sagen – im Da reicht es im Übrigen auch völlig aus, wenn die Ein- Rahmen der Koalitionsvereinbarungen bekanntlich er- bürgerungsbehörden bei ihren gelegentlichen Zusam- reicht und hier entsprechend umgesetzt, dass das Opti- menkünften sich inhaltlich austauschen . onsrecht liberalisiert worden ist, wenigstens für die hier Ich will Ihnen aber auch sagen, wo nach meinem Da- in Deutschland geborenen Kinder und Jugendlichen . Das fürhalten ein bisschen Vorsicht angebracht ist . Ich habe betrifft roundabout, so schätze ich, 95 Prozent. Mehr war eben gesagt: Für die bereits hier lebenden Briten sollten mit der Union nicht zu machen . wir ein Angebot machen und eine flexible Lösung finden. Umgekehrt, Stephan Mayer, werden auch wir nicht Wovon ich aber nichts halte – das ist meine persönliche von Vorschlägen der Union zur Änderung des Staatsbür- Auffassung –, ist, etwa über die Dauer eines dann vollzo- gerschaftsrechts – Stichwort „Terrorbekämpfung“ –, die genen Brexits hinaus den Briten Sonderrechte gegenüber über das, was in der Koalitionsvereinbarung steht, hi- allen anderen Europäern zu gewähren . Das wäre pädago- nausgehen, begeistert sein . Auch das muss klar sein . gisch, glaube ich, der falsche Ansatz . Aber um diesen Teil meiner Rede abzuschließen: Wir (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE alle, die wir später noch im Parlament sitzen und im GRÜNEN]: Das hatte der Kollege Mayer nicht nächsten Jahr den Wahlkampf vor uns haben, müssen verstanden! – Gegenruf des Abg . Stephan dafür sorgen, dass es die parlamentarischen Mehrheiten Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Das hat der und eine darauf gestützte Regierung beim nächsten Mal schon verstanden!) gibt, um derartige Vorschläge, wie sie die Grünen jetzt Das würde einen Anreiz in die falsche Richtung bieten . gemacht haben, umsetzen zu können . In der derzeitigen Koalition geht das leider nicht . Ich betone das Wort „lei- Stattdessen wäre es wesentlich besser – Augenblick, der“, aber ich setze als bekannt voraus, dass wir dem Ko- ich komme jetzt zu eurem Antrag; hier grenze ich mich alitionsvertrag bis zum Schluss treu sein müssen . (B) deutlich von Stephan Mayer ab, der für die Union ge- (D) sprochen hat –, Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit . (Beifall bei der SPD sowie der Abg . Claudia (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- DIE GRÜNEN – Stephan Mayer [Altötting] NEN] – Heiterkeit der Abg . Claudia Roth [CDU/CSU]: Gott sei Dank!) [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) wenn wir insgesamt im Staatsbürgerschaftsrecht weite- re Erleichterungen generell vornehmen würden, so wie Präsident Dr. Norbert Lammert: es euer Gesetzentwurf, wie ich finde, richtigerweise an Tim Ostermann ist der nächste Redner für die CDU/ sehr vielen Stellen vorschlägt: genereller Verzicht auf das CSU-Fraktion . Verbot von Mehrstaatlichkeit, Verkürzung des Voraufent- haltes, Anrechnung von Voraufenthaltszeiten, Erleichte- (Beifall bei der CDU/CSU) rungen für Junge und Alte im Bereich der Notwendig- keit, den Lebensunterhalt zu bestreiten, und dergleichen Dr. Tim Ostermann (CDU/CSU): Dinge mehr . Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dem Ge- SES 90/DIE GRÜNEN) setzentwurf und in dem Antrag der Grünen werden im Wesentlichen drei Dinge gefordert: erstens eine gene- Alles, was in eurem Gesetzentwurf steht, ist aus der relle Ermöglichung der Mehrstaatlichkeit, zweitens ein Sicht von Sozialdemokraten grundsätzlich zu unterstüt- Aufweichen der Einbürgerungsregeln und drittens eine zen . besonders unkomplizierte Einbürgerung hier ansässiger Briten, weil es die ja derzeit angeblich nicht geben wür- (Beifall des Abg . Volker Beck [Köln] de . Zu diesen drei Forderungen möchte ich in meinem [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Debattenbeitrag Stellung nehmen . Wenn wir denn gekonnt hätten, hätten wir das nicht schon Zunächst zur Mehrstaatlichkeit: Es wird Sie nicht 1999, sondern vielleicht auch in der Folgezeit gemacht . überraschen – Stephan Mayer hat das auch schon zum Wenn wir denn gekonnt hätten heißt, wenn wir dafür die Ausdruck gebracht –, dass die CDU/CSU-Bundestags- entsprechenden Mehrheiten hier in diesem Haus und im fraktion nach wie vor Bundesrat gehabt hätten . Das war aber leider nicht so . Ich setze die Geschichte als bekannt voraus und muss das (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE jetzt nicht endlos wiederholen . GRÜNEN]: Im 20 . Jahrhundert ist!) 19046 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016

Dr. Tim Ostermann (A) es konsequent ablehnt, die doppelte Staatsbürgerschaft Weiteres Mitglied der Europäischen Union sein wird . Es (C) zum Regelfall zu machen . ist noch kein Austrittsgesuch eingegangen . Hier in die- sem Saal wird niemand sagen können, wann das der Fall (Beifall bei der CDU/CSU) sein wird, also wann es dieses Austrittsgesuch gibt und Ich möchte kurz auf die letzte Debatte – solche Debatten vor allem wann dieses Austrittsgesuch wirksam wird . wurden in diesem Hause ja häufiger geführt – zu spre- Das ist in keiner Weise absehbar . Darum besteht für uns chen kommen, die wir zum Thema Staatsangehörigkeits- jetzt nicht der Bedarf, hier an dieser Stelle tätig zu wer- recht geführt haben . In dieser Debatte hat die damalige den . Kollegin Christina Kampmann – sie ist mittlerweile Lan- desministerin in NRW – gesagt, zugegebenermaßen mit In meinem Wahlkreis – dem Kreis Herford und der einer anderen Intention: Für die meisten Menschen ist die Stadt Bad Oeynhausen – hat es viele britische Soldaten Staatsangehörigkeit viel mehr als ein Pass . – Genau das gegeben . Die Streitkräfte sind mittlerweile größtenteils ist der Punkt . Die Staatsangehörigkeit drückt die Loyali- abgezogen . Nicht wenige Soldaten sind trotzdem bei uns tät zur Gesellschaft und den in ihr vorhandenen Werten geblieben . Einige von ihnen interessieren sich – gerade und Regeln aus . Damit ist sie Ausdruck einer ganz be- nach dem Referendum in Großbritannien – dafür, einge- sonderen Verbundenheit . Und diese Verbundenheit ist für bürgert zu werden . Ich habe bisher von keinem einzigen uns als Union nicht teilbar . Betroffenen gehört, dass es hier Probleme – lange War- tezeiten usw .– gibt . Die Problemlage, auf die Sie ver- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE suchen hinzuweisen, gibt es einfach nicht . Darum sagen GRÜNEN]: Was machen wir mit den AfD- wir: Man muss nicht schon jetzt auf hypothetische Fol- lern? Wollen Sie die ausbürgern?) gen eines in der Zukunft liegenden ungewissen Ereignis- ses reagieren . Bloßen Aktionismus halten zumindest wir Die Folge ist, dass wir Mehrstaatlichkeit zulassen, aber in der Union selten für ein Erfolgsrezept . eben nur in eng begrenzten Ausnahmefällen, die auch jetzt schon geregelt sind . Für eine Abkehr von diesem Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie Prinzip stehen wir nicht zur Verfügung . wollen mit Ihrem Gesetzentwurf das Prinzip der Mehr- Was die Aufweichung der Einbürgerungsregeln an- staatlichkeit in unserer Rechtsordnung verankern und die geht, sind es vor allem zwei Dinge, mit denen Sie die Voraussetzungen für den Erhalt der deutschen Staatsbür- Einbürgerung erleichtern wollen . Zum einen wollen Sie gerschaft verbessern . Gleichzeitig greifen Sie mit Ihrem sämtliche Arten an Aufenthaltserlaubnissen gleichstel- Antrag ein Problem auf, das es überhaupt nicht gibt . len . Das soll zum Beispiel auch für Fälle von vollzieh- Daher wird es Sie nicht überraschen, dass wir als Uni- bar Ausreisepflichtigen gelten, nachdem es also ein Ver- on Ihren Antrag und auch Ihren Gesetzentwurf ablehnen werden . (B) waltungsverfahren gab, das BAMF festgestellt hat, dass (D) es hier keinen Aufenthaltsstatus gibt, und Gerichte das Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit . meistens auch bestätigt haben . Selbst in den Fällen, wo es nur aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaub- (Beifall bei der CDU/CSU) nis gibt, soll eine Gleichstellung erfolgen . So etwas ist mit uns nicht zu machen . Präsident Dr. Norbert Lammert: Sie sprachen die Einbürgerungstests an . Unter be- Das Wort erhält nun die Kollegin Ulla Jelpke für die stimmten Voraussetzungen soll das Erfordernis, einen Fraktion Die Linke . solchen Test durchzuführen, wegfallen, etwa wenn in (Beifall bei der LINKEN) Deutschland ein Berufs- oder Schulabschluss gemacht worden ist . Ulla Jelpke (DIE LINKE): (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielleicht GRÜNEN]: Das ist doch vernünftig, oder?) sollte man für die Öffentlichkeit noch einmal festhalten: – Das ist absolut nachvollziehbar und vernünftig . Da- Wir reden hier jetzt nicht über Geflüchtete, die im ver- rum wird das auch jetzt schon so gemacht, Herr Beck . gangenen oder im vorletzten Jahr gekommen sind, son- Es ist auch jetzt schon so geregelt, dass bei einem Schul- dern wir reden hier über Menschen, die in diesem Land abschluss – dazu gehört ebenfalls ein Berufsschulab- zum Teil viele Jahre leben und arbeiten und endlich das schluss, also eine abgeschlossene Berufsausbildung – auf Recht haben müssen, eingebürgert zu werden, damit sie den Einbürgerungstest verzichtet wird . Das ist gängige in dieser Gesellschaft wirklich gleichgestellt sind . Darum Praxis . Und darum ist Ihr Gesetzentwurf in diesem Punkt geht es . kalter Kaffee. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Man muss einfach noch einmal festhalten, dass im Ich komme zuletzt zu Ihrer Forderung nach Einbür- vergangenen Jahrzehnt gerade einmal 2 Prozent der gerung der in Deutschland lebenden Briten . Sie fordern hier in Deutschland lebenden Migranten einen Antrag ja, dass die Einbürgerung unkompliziert erfolgen müsse, auf Einbürgerung gestellt haben . Diese blamabel gerin- und erwecken damit den Anschein, dass britische Bür- ge Quote kann und darf nicht, Herr Mayer, als Zeichen ger derzeit nicht schnell und unkompliziert eingebürgert mangelnder Integrationsbereitschaft gewertet werden, würden . Das entspricht nicht den Tatsachen . Sie schrei- sondern sie ist vielmehr die Folge – das gilt auch im Ver- ben ja selbst in Ihrem Antrag, dass Großbritannien bis auf gleich mit anderen EU-Staaten – besonders restriktiver Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19047

Ulla Jelpke (A) Einbürgerungskriterien, hoher bürokratischer und vor al- der Mehrstaatlichkeit zu sträuben, sollten Sie wirklich (C) len Dingen auch finanzieller Hürden. Dass daran bisher einfach einmal ein modernes Einbürgerungsrecht schaf- nichts geändert wurde, daran sind vor allen Dingen Ihre fen . Fraktion, die Union und die Regierung schuld . Das ist (Beifall bei der LINKEN) wirklich ein Skandal . Die Grünen haben anlässlich ihres Antrags zur Einbür- (Beifall bei der LINKEN) gerung britischer Staatsbürger darauf hingewiesen, dass Ich will einfach einmal ein paar Unterschiede zu an- das geltende Recht Handlungsmöglichkeiten für eine er- deren EU-Staaten nennen . Im Unterschied zur Bundes- leichterte Einbürgerung bietet . Das ist richtig . Die Linke republik akzeptieren 12 EU-Staaten grundsätzlich die hat bereits seit 2013 hier im Bundestag immer wieder ge- Mehrstaatlichkeit . 11 verlangen keinen Nachweis auf fordert, dass solche vorhandenen Handlungsspielräume eigenständige Lebensunterhaltssicherung . In 15 Staaten konsequent umgesetzt werden . Aber auch dazu braucht beträgt die Mindestaufenthaltsdauer fünf Jahre oder we- es einfach den politischen Willen der Verantwortlichen niger . In 16 EU-Staaten gibt es keinen Einbürgerungstest . in der Bundesregierung und in den entsprechenden Frak- 7 verzichten auf Einbürgerungsgebühren oder verlangen tionen . Dafür will ich gerne noch zwei Beispiele bringen . nur einen symbolischen Beitrag . Die Kollegen von der Hier geborene Flüchtlingskinder könnten im Regel- Union sollten angesichts solcher Vergleichszahlen wirk- fall ab dem dritten Lebensjahr eingebürgert werden, lich einmal einfach in sich gehen um ihnen ein gleichberechtigtes Leben, beispielsweise an den Schulen, in den Kitas usw ,. zu ermöglichen . Das (Beifall der Abg . Claudia Roth [Augsburg] schreibt im Übrigen auch die UN-Kinderrechtskonven- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) tion vor . Aber die Bundesregierung hat sich in diesem und nicht immer auf angeblich einbürgerungsunwilli- Punkt schon immer über die UN-Kinderrechtskonventi- ge Migranten zeigen . Sie sollten sich vielmehr an ihren on hinweggesetzt, und es interessiert sie überhaupt nicht, eigenen Kopf fassen und fragen, wie so etwas zustande welche Rechte die Kinder haben . Gerade hier fordere ich kommt . Sie auf, endlich etwas zu tun . Meine Damen und Herren, von den Betroffenen wird (Beifall bei der LINKEN) immer wieder gesagt, dass für sie die Kosten für die Ein- Wichtig wäre es beispielsweise auch, Menschen, die bürgerung ein großes Hemmnis sind . Diese betragen im Sozialhilfeempfänger sind, hier aber seit vielen Jahren Schnitt 500 Euro einschließlich der Gebühren für Über- leben, großzügiger einzubürgern . Ich halte es wirklich setzungen, Urkunden usw ., die sie aus den Herkunftslän- für einen Skandal, dass man im Grunde genommen die (B) dern beschaffen müssen. Das ist zum Beispiel für eine Erlangung gleicher Rechte durch Einbürgerung vom Ein- (D) Familie nicht wenig . Die Senkung der Einbürgerungs- kommen abhängig macht und die soziale Lage nicht be- gebühren wäre wirklich ein symbolisches Zeichen; so rücksichtigt . Das kann einfach nicht gehen . könnte man Familien, die wenig Geld haben, hier die Einbürgerung ermöglichen . Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Zwei Drittel derjenigen, die keinen Einbürgerungsan- Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen . trag stellen, haben dafür zum Beispiel den Grund angege- ben, dass sie ihre alte Staatsbürgerschaft nicht verlieren Ulla Jelpke (DIE LINKE): wollen, aber auch die deutsche gerne hätten . Ja, ich komme zu meinem letzten Satz .– Ich möchte (Marian Wendt [CDU/CSU]: Ich kann auch abschließend einfach noch einmal sagen: Ein deutscher nicht zwei Frauen haben! – Widerspruch bei Pass ist weder ein Integrations- noch ein Demokratie- der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zeugnis . Es geht hier schlicht um eine demokratische NEN – Gegenruf des Abg . Marian Wendt Selbstverständlichkeit . Deswegen: Erleichtern Sie end- [CDU/CSU]: Mehrfachehen sind verboten!) lich die Einbürgerung für Menschen, die hier seit vielen Jahren leben . – Herr Wendt, ich habe Ihren Zwischenruf leider nicht Ich danke Ihnen . verstanden . (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) GRÜNEN]: Erzgebirgischer Wahnsinn!) Das hat übrigens eine Studie des BAMF ergeben . Die- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: se Entscheidung ist in der Regel eben keine Frage der Lo- Als nächster Redner hat Detlef Müller von der yalität zu diesem oder jenem Staat . Vielmehr gibt es ganz SPD-Fraktion das Wort . pragmatische Hintergründe dafür, warum Menschen ihre (Beifall bei der SPD) alte Herkunftsstaatlichkeit behalten wollen . Es geht zum Beispiel um Rentenansprüche, um Vermögensansprüche . Es handelt sich also um ganz einfache Gründe . Diese Re- Detlef Müller (Chemnitz) (SPD): alität will die Union hier einfach nicht akzeptieren . Man Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten muss wirklich sagen: Anstatt sich ständig mit Argumen- Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen der ten aus der Mottenkiste gegen die generelle Möglichkeit Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, natürlich erkennen wir 19048 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016

Detlef Müller (Chemnitz) (A) die lobenswerte Zielrichtung Ihres Antrages zur raschen Einbürgerung britischer Staatsbürger umzugehen ist, die (C) Einbürgerung britischer Staatsbürger . Sie wären nicht die schon bisher in einem anderen EU-Mitgliedstaat lebten . Grünen und wir wären keine Sozialdemokraten, hätten wir im Rahmen der Brexit-Debatte nicht gerade auch das Sie wissen genau wie ich, dass die SPD natürlich alles Los der Menschen im Auge, die von der unseligen Bre- dafür tun wird, hier menschliche, europäische Lösungen xit-Entscheidung direkt betroffen sind, nämlich derjeni- im besten Sinne zu finden, nämlich den hier lebenden gen, die darauf vertraut haben, dass sie sich auf Dauer Britinnen und Briten zu ermöglichen, auch weiter mit in Europa frei bewegen und niederlassen können, derje- weitestgehenden Rechten und Pflichten unter uns zu le- nigen, die darauf vertraut haben, dass sie ihr Leben als ben . Europäerinnen und Europäer planen und leben können . (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Von jetzt an gerechnet in etwa zwei Jahren hätten wir in diesem Hohen Haus einen Antrag von Ihnen in ähnlicher Wir würden gut daran tun, dieses Problem schon Form gerne unterstützt . Aber heute, am 23 .September gleich zu Beginn der Verhandlungen auf den Tisch zu 2016, ist Ihr Antrag, mit Verlaub, Theaterdonner und Be- legen und möglichst früh zu lösen, und zwar im Sinne schäftigungstherapie . eines fairen Deals . Wenn unsere Bürger in Großbritanni- en bleiben können, dürfen Britinnen und Briten auch bei (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ uns bleiben . DIE GRÜNEN]: Was?) Und Sie wissen genau wie ich, dass wir vor extrem Ihr Antrag ist außerdem handwerklich ungenau . Mit komplizierten Verhandlungen stehen, in denen es darum großer Geste schreiben Sie, die Bundesregierung solle gehen wird, Großbritannien möglichst eng an die EU und darauf hinwirken, den Binnenmarkt zu binden, aber Großbritannien gleich- dass in Deutschland lebende britische Staatsangehö- zeitig auch Pflichten aufzuerlegen. rige rasch und unkompliziert eingebürgert werden, Man hat den Eindruck, dass manche britischen Re- wenn sie es beantragen; … gierungsvertreter bzw . Austrittsbefürworter momentan und mit großen Kinderaugen erkennen, wie unendlich kom- pliziert dieser Austrittsprozess werden wird, und wie dass britische Staatsangehörige auch bei einer Auf- schwierig es werden wird, die hochtrabenden Verspre- enthaltsdauer von weniger als sechs Jahren einge- chen aus dem Referendumswahlkampf zu erfüllen, auch bürgert werden, wenn sie die sonstigen Vorausset- wenn das Boris Johnson, blond und blauäugig, anders zungen für die Einbürgerung erfüllen; … sieht . Theresa May hat bisher nicht erkennen lassen, dass Weiterhin solle die Bundesregierung die britische Regierung überhaupt schon eine grundsätz- (B) liche Strategie für die Austrittsverhandlungen gefunden (D) im Rahmen ihrer Informationspolitik verstärkt da- hat . Allerdings werden wir uns an dieser neuen „Eisernen rauf aufmerksam … machen, dass die Einbürgerung Lady“ möglicherweise noch die Zähne ausbeißen . britischer Staatsangehöriger unter Beibehaltung der britischen Staatsangehörigkeit erfolgt . Es ist gut und richtig, dass Deutschland und die EU sich jetzt noch nicht auf Vorverhandlungen einlassen Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbst wenn wir die- wollen . Die EU wird das Vereinigte Königreich kommen sen Antrag heute hier beschließen würden: Gut gemeint lassen; denn Großbritannien muss sich darüber klar wer- ist halt noch nicht gut gemacht . den, wie sein Verhältnis zur EU und zum Binnenmarkt sein soll . Großbritannien muss sich darüber klar werden, (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE welchen Preis es bereit ist zu zahlen, dass es sich aus GRÜNEN]: Dann machen Sie es besser!) dem Geltungsbereich der Grundfreiheiten zurückzieht . Nur hinwirken und informieren würde bei einer so kom- Die Personenfreizügigkeit als eine der vier Grundfreihei- plexen Materie eben nicht ausreichen . ten bildet eine der Säulen des Binnenmarktes der Euro- päischen Union . Nimmt man diese Säule weg, bricht das (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Gebäude Europäische Union, wie wir es kennen, zusam- GRÜNEN]: Haben Sie Ihre Rede mit der von men . Herrn Veit eben abgestimmt? Der Herr Veit hat die besseren Referenten! Peinlich, Herr Tun Sie uns also bitte den Gefallen und verschleu- Müller!) dern Sie nicht Ihre parlamentarische Energie in Anträge, von denen Sie wissen, dass sie das Problem nicht lösen . Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Grünen, Verschleudern Sie nicht Ihre Argumente, die Sie und wir noch hat Großbritannien nicht einmal nach Artikel 50 noch dringend brauchen werden . Sparen Sie sich Ihre EU-Vertrag seinen Austritt aus der Europäischen Union Energie für die schwierigen Verhandlungen und Debat- angezeigt . Wir stehen aber schon jetzt vor einem Berg ten, die noch kommen werden . Wir wollen kein kaltes von Fragen, die im kommenden Austrittsprozess geregelt Europa mit neuen Grenzen . Wir wollen kein Europa, das werden müssen . Und dabei wissen wir noch nicht einmal, sich nur über die Zollfreiheit definiert. wann dieser mindestens zweijährige Prozess denn je be- ginnen wird . (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sie wissen genau wie ich, dass erst in einem fortge- Wir wollen kein Europa aus eifersüchtigen Einzelstaaten, schrittenen Stadium der Verhandlungen endgültig ge- die sich nur deswegen regelmäßig an einen Tisch setzen, löst werden kann, wie mit der Staatsangehörigkeit und um über Handelsquoten und Fördermittel zu feilschen . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19049

Detlef Müller (Chemnitz) (A) Stichwort „Eifersucht“: Ja, der Brexit ist schon so et- packung der Großen Koalition aus dem Jahr 2014 nichts (C) was wie eine Ehescheidung . Wir sind enttäuscht, fühlen geändert, als Sie die leidige Optionspflicht leicht libera- uns unverstanden, hintergangen . Wir wissen, dass wir lisiert haben . Nach wie vor ist die doppelte Staatsbürger- uns scheiden lassen werden, dass wir uns scheiden las- schaft nur in Ausnahmefällen möglich . Deshalb verstehe sen müssen . Aber der Scheidungsantrag ist noch nicht ich auch die ganze Hysterie nicht, die Sie von der CDU/ gestellt . Trotzdem darf es nicht zu einem Rosenkrieg CSU in Sachen doppelte Staatsbürgerschaft in diesem kommen . Wir sollten also alles vermeiden, was den Sommer verbreitet haben . Ich verstehe nicht, wie die Scheidungsprozess beeinflussen, erschweren oder sogar CDU/CSU etwas abschaffen will, was de jure gar nicht vergiften könnte . existiert . Wir haben keine doppelte Staatsbürgerschaft in diesem Land . Es gibt nur Ausnahmefälle . Das sollten Sie Es waren 43 gute Ehejahre – mit Höhen und Tiefen als Abgeordnete dieses Hohen Hauses, als Gesetzgeber, und nicht ohne Konflikte; aber so ist das eben in einer bestens wissen . Ich sage Ihnen, Kolleginnen und Kolle- Ehe . Und nun geht sie zu Ende, der Partner will sich gen von der CDU/CSU: Hören Sie auf, Angst zu schüren! trennen . Aber wir haben noch immer Respekt vor dem Hören Sie auf, das Klima des Zusammenlebens in die- Partner, und, ja, wir schauen auch noch etwas wehmütig sem Land zu vergiften! auf die gemeinsamen Jahre zurück . Deswegen sollten wir uns so trennen, dass wir uns danach trotzdem noch in die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Augen schauen und sagen können: Ach komm, lass uns und bei der LINKEN) Freunde bleiben! Mit dieser Kampagne, die Sie in diesem Sommer ge- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit . fahren haben, fördern Sie nämlich nur eines: die Des- (Beifall bei der SPD) integration . Mit dieser Kampagne und Ihrem Kampf gegen die doppelte Staatsbürgerschaft verhindern Sie auch, dass Deutschland Heimat wird für Millionen von Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Migrantinnen und Migranten . Sie reden auch in diesem Vielen Dank . – Als nächste Rednerin – sorry –, als Zusammenhang ständig von den Türkinnen und Türken nächster Redner hat Özcan Mutlu von der Fraktion oder der Türkei und zeichnen ein Schreckensszenario Bündnis 90/Die Grünen das Wort . nach dem anderen an die Wand . Sie schwadronieren von (Heiterkeit – Katrin Göring-Eckardt [BÜND- Loyalität und Loyalitätskonflikten und stellen Hundert- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Der größte Macho tausende Menschen, die aus der Türkei stammen, die unserer Fraktion wird hier als Rednerin ange- unserem Land gegenüber loyal sind und das Grundge- kündigt!) setz anerkennen, unter Generalverdacht . Im Übrigen: Ich (B) stamme auch aus der Türkei und diene dem deutschen (D) Volk und allen Menschen, die in diesem Land leben . Sie

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: sollten das endlich mal akzeptieren Das wird er verkraften, wie ich ihn kenne . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und damit aufhören, diese Menschen zu denunzieren und Das werden wir noch bereden müssen . Ich habe jetzt unter Generalverdacht zu stellen . Gesprächsbedarf mit meiner Fraktionsvorsitzenden . (Barbara Woltmann [CDU/CSU]: Wer spricht denn hier von „Generalverdacht“? Quatsch!) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Nein, Sie haben einen Freibrief, mich einmal mit Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, erreichen mit „Herr“ anzureden . diesen Kampagnen genau das, was Sie eigentlich verhin- dern wollen . Sie lassen nicht zu, dass diese Menschen in Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): unserem Land ankommen . Sie treiben damit viele Tür- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und kinnen und Türken in die Hände von Erdogan, weil Sie Herren! Im Jahre 2000 haben wir unter Rot-Grün Schluss nicht zulassen, dass diese Menschen sich endlich mit un- gemacht mit dem wilhelminischen Staatsangehörigkeits- serem Land identifizieren können. Das ist schädlich, und recht, das auf dem Blutsrecht aufgebaut war . Die dama- das ist schäbig, liebe Kolleginnen und Kollegen . ligen rot-grünen Reformvorschläge zur Liberalisierung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – des Staatsangehörigkeitsrechts waren überfällig . Leider Zurufe von der CDU/CSU) wurden damals aber unsere Reformvorschläge durch die Koch’sche „Ausländer raus!“-Unterschriftenkampagne Ich schaue insbesondere in die Reihen der CDU/CSU und die schwarz-gelbe Bundesratsmehrheit in weiten und sage nochmals: Es geht hier um staatsbürgerschaft- Teilen verhindert . Seither haben wir auch die Debatte liche Rechte . um die doppelte Staatsbürgerschaft . Sie haben das im (Marian Wendt [CDU/CSU]: Genau!) Jahr 2000 verhindert . Aber das ist heute für uns immer noch wichtig . Es geht zum Beispiel um das elementare Bürgerrecht des Wahlrechts . Hier in Berlin waren vor fünf Tagen Wahlen . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mein Vater, der seit 50 Jahren in diesem Land lebt, durfte Heute, 16 Jahre danach, sehen wir alle, dass weiterhin nicht einmal mitentscheiden, wer im Bezirk Mitte, wer großer Reformbedarf besteht . Daran hat auch die Mogel- im Bezirk Kreuzberg den Bürgermeister oder die Bürger- 19050 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016

Özcan Mutlu (A) meisterin stellt . Im Übrigen sind es demnächst in beiden ne Verantwortung und die Identifikation damit nicht von (C) Fällen Grüne . Darauf sind wir stolz . Substanz . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: NEN – Marian Wendt [CDU/CSU]: Er hätte So ein Quatsch!) doch Deutscher werden können, wenn er seit 50 Jahren hier ist!) Eine Staatsangehörigkeit ist kein Bonbon, das man ein- fach mal so nebenbei mitnimmt . Sie haben mit Ihren Restriktionen verhindert, dass mein Vater, der eine besondere Identifikation auch mit (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ der Türkei hat, obwohl sein Sohn die deutsche Staatsbür- DIE GRÜNEN]: Ach, Herr Wendt! Mensch!) gerschaft besitzt und MdB ist, die deutsche Staatsbürger- schaft kriegen kann . Auch wenn der Druck bzw . die Nachfrage danach groß (Marian Wendt [CDU/CSU]: Das hat er ver- sein mag, so sollten wir dies nicht als Grund sehen, unse- hindert!) re Standards für eine Einbürgerung zu senken . Es sollte eher Bestärkung sein, hohe Standards für den Erwerb der – Sie haben verhindert, dass er Deutscher werden kann, deutschen Staatsangehörigkeit zu setzen (Marian Wendt [CDU/CSU]: Das stimmt (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE doch gar nicht!) GRÜNEN]: Keine Standards! Das sind Hür- weil Sie fordern, dass er die türkische Staatsbürgerschaft den! – [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- aufgibt . NEN]: Sie meinen Hürden, nicht Standards!) (Marian Wendt [CDU/CSU]: Ja, das ist halt und diesen wenigstens ein kleines bisschen zeremoniell so!) zu gestalten . Er will sie nicht aufgeben . Akzeptieren Sie, dass für eine Die Beantragung und die Erlangung der deutschen bestimmte Bevölkerungsgruppe die doppelte Staatsbür- Staatsbürgerschaft sind für mich schließlich ein Symbol gerschaft ein Angebot ist, und lassen Sie uns gemeinsam des finalen Ankommens in unserem Land. dieses Angebot machen . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE sowie der Abg . Dr . Eva Högl [SPD]) GRÜNEN]: Sie haben nicht mitgekriegt, dass heutzutage Wanderungsbewegungen nicht fi- Mein Appell an Sie: Hören Sie mit den Scheindebat- (B) nal sind, sondern weitergehen! Das Leben en- (D) ten auf! Hören Sie auf, mit populistischen Forderungen det nicht in Deutschland!) der AfD nachzueifern! Lassen Sie uns stattdessen ein modernes Staatsbürgerschaftsrecht für unser Land eta- Gegen die sehr pragmatische Überlegung „Ich nehme blieren, damit sich jeder hier zu Hause fühlen kann und einfach den Pass, der mir die größte Freiheit bietet“ weh- damit jeder in unserem Land, der schon eine bestimm- re ich mich . Denn das entspricht nicht dem, was eine te Zahl an Jahren in unserem Land lebt, endlich staats- Staatsbürgerschaft für mich ausmacht . Eine Staatsbür- bürgerschaftliche Rechte bekommt! Um nicht mehr und gerschaft ist ein Ausweis der Verantwortung, die man für nicht weniger geht es hierbei . ein Land – in diesem Fall für unser Land – übernimmt . Einbürgerung dient eben nicht nur der Herstellung ei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ner größtmöglichen Übereinstimmung zwischen der in sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Deutschland lebenden Bevölkerung und dem wahlbe- rechtigten Staatsvolk . Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat Marian Wendt von der CDU/ Das Argument der Grünen, Menschen wären von po- CSU-Fraktion das Wort . litischer Teilhabe ausgeschlossen, obwohl sie hier schon lange leben, ist meiner Meinung nach Unsinn . (Beifall bei der CDU/CSU – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Jetzt mal das Beispiel mit den (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zwei Frauen, bitte!) NEN]: Das ist Fakt! Haben Sie mir nicht zuge- hört? Die dürfen doch nicht wählen, Mann! – Marian Wendt (CDU/CSU): Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben nicht zugehört! Was ist Mit den zwei Ehefrauen .– Sehr geehrte Frau Präsi- denn das für ein Unsinn?) dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was nichts kostet, ist auch nichts wert . Es ist erstens auf vielen Ebenen möglich, sich direkt (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE zu beteiligen . GRÜNEN]: Im Lexikon der Binsenweishei- Zweitens ist politische Teilhabe, die eine Staatsbür- ten geblättert! – Weitere Zurufe vom BÜND- gerschaft voraussetzt, auch mit Bedacht und mit Recht NIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!) dieser Hürde unterworfen . Denn die notwendige Identi- Wenn die deutsche Staatsangehörigkeit immer leichter zu fikation mit Deutschland, die mit der deutschen Staats- haben ist, dann ist auch ihr Inhalt, die damit verbunde- bürgerschaft einhergehen muss, und die entsprechende Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19051

Marian Wendt (A) Verantwortung sind eben auch Voraussetzung für die Be- ser Erde sogenannte Doppelstaatsbürgerschaftsabkom- (C) teiligung an politischen Prozessen . men abgeschlossen hat (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN]: Das kann man sich kaum an- sowie bei Abgeordneten der SPD und der hören!) LINKEN) Denn nur wer unsere Grundwerte teilt und achtet, sollte und dass in unserem Land bereits über 4 Millionen Men- auch politisch hier teilhaben . schen eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzen, von denen keine Gefahr für unser Land ausgeht? Außer mit (Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu den 53 Partnerländern haben wir auch ein „Abkommen“ [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das gilt für mit dem Iran . Hier müssen wir die doppelte Staatsbürger- die Sachsen auch! Für Bautzen ebenso! – schaft de facto akzeptieren, weil der Iran nicht ausbür- Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE gert . Ist Ihnen all das bekannt? Wo sehen Sie in diesem GRÜNEN]: Schauen Sie nach Augsburg!) Zusammenhang die Gefahr für unser Land? Außerdem – und hier schließt sich der Kreis – besteht ja die Möglichkeit, sich um die Staatsbürgerschaft zu be- Marian Wendt (CDU/CSU): mühen . Wenn sie dann erworben wurde – ich wiederhole Herr Kollege, mir ist bekannt, dass es doppelte Staats- für die Grünen: erworben –, dann ist sie die Eintrittskar- bürgerschaften in unserem Land gibt und dass es diese te für Mitbestimmung auf größerer Ebene . Wer 20 Jah- Abkommen gibt . Wir haben aber einen Grundsatz, und re in unserem Land lebt, der hätte schon seit 12 Jahren, davon gibt es, wie es manchmal im Recht der Fall ist, wenn er möchte, deutscher Staatsbürger sein können . Wir Ausnahmen . schaffen ja die Voraussetzungen, aber er muss sich auch entscheiden und bekennen, zu welchem Land er gehört . Wir sollten aber erstens an dem Grundsatz festhalten, dass es grundsätzlich eine Staatsbürgerschaft geben soll- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE te . Das ist, glaube ich, auch für die Menschen einfacher . GRÜNEN]: Was ist denn „Land“ für ein Und der Iran – Sie haben es selber erwähnt – bürgert Bekenntnis? Gehen Sie in die Kirche, dann nicht aus, auch wenn Iraner nicht mehr Staatsbürger des wissen Sie, was ein Bekenntnis ist! – Özcan Iran sein wollen . Solche Gegebenheiten müssen wir ak- Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was zeptieren, auch wenn sie nicht unserer Rechtsauffassung ist mit Iranern?) entsprechen . Die deutsche Staatsangehörigkeit ist ein Anreiz zur Ich finde es zweitens wichtig, daran festzuhalten, dass (B) Integration gemäß unserer Philosophie des Förderns und die deutsche Staatsbürgerschaft etwas bedeutet, dass sie (D) Forderns gegenüber Menschen, die neu in unserem Land nicht nur ein Stück Papier ist, nicht nur ein Stück Reise- leben . Diesen Anreiz dürfen und wollen wir nicht aus der freiheit, sondern dass dahinter auch Werte stehen, eine Hand geben . Eine weitere Vereinfachung des Erlangens Kultur, eine Idee . Ich werde dazu noch ausführen . wäre nämlich ein Vorschuss auf Integrationsleistungen, und einen solchen Vorschuss dürfen wir nicht geben . (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn die Idee des (Abg . Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Deutschtums? Dazu wollen wir doch einmal NEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage) einen Vortrag hören!) Frau Präsidentin, der Kollege Mutlu möchte eine Zwi- – Es geht bei der Idee um unsere Grundwerte . Ich werde schenfrage stellen . Bitte . gleich darauf eingehen, Herr Beck, immer mit der Ruhe . (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: GRÜNEN]: Das deutsche Wesen!) Herr Kollege Mutlu, Sie dürfen . Der Grundsatz des Förderns und Forderns, den wir im Integrationsgesetz als Prämisse unserer Bemühungen um Marian Wendt (CDU/CSU): eine bessere Integration festgelegt haben, ist genau des- Ach so, Entschuldigung! halb so viel wert, weil sich eigene Leistung lohnt . Und Integration lohnt sich . Aktives persönliches Bemühen Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: um Integration lohnt sich für jeden Menschen, der legal Das macht nichts . Wenn Sie Ja sagen, dann kann der zu uns kommt . Für Menschen, die sich nicht integrieren, Kollege Mutlu seine Zwischenfrage stellen . muss die Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft unmöglich sein . Hier gibt es ein Abstandsgebot, schon (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE allein aus Gründen der Gerechtigkeit . GRÜNEN]: Er hat bestimmt eine Bemer- Mit dem Integrationsgesetz haben wir genau den rich- kung!) tigen Weg eingeschlagen, Anreize für Integration zu ge- ben . Eine erfolgreiche Integration kann dann auch mit Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der deutschen Staatsbürgerschaft belohnt werden . Ver- Herr Kollege Wendt, danke, dass Sie die Frage zulas- einfachungen bei der Erlangung der deutschen Staatsbür- sen . Ich habe eine ganz simple Frage: Ist Ihnen bekannt, gerschaft, wie hier gefordert – frei nach dem Motto: wir dass die Bundrepublik Deutschland mit 53 Ländern die- geben dir die Staatsbürgerschaft in der Hoffnung, dass 19052 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016

Marian Wendt (A) du dich gut integrierst –, liefen diesem Zweck zuwider zur Bewältigung der Herausforderungen, die sich aus der (C) und sind daher schlicht abzulehnen . Das kann nicht unser Vielzahl von Flüchtlingen ergeben, beschlossen haben . Weg sein; denn wir müssen ja bedenken, dass die Ein- bürgerung unumkehrbar ist . Wenn sich jemand nach Er- Für die CDU/CSU-Fraktion ist Integration der Weg langung der deutschen Staatsbürgerschaft nicht integriert und Einbürgerung das Ziel, nicht andersherum . hat, dann können wir nach zehn Jahren nicht sagen: Wir Vielen Dank . nehmen sie dir wieder weg . – Von daher wäre es fatal, so vorzugehen . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: NEN]: Ich habe schon abgeschaltet! Deshalb kommen keine Zwischenrufe mehr!) Als nächster Redner hat Rüdiger Veit von der SPD-Fraktion das Wort . – Das ist vielleicht manchmal auch gut . Wir sollten die Verleihung unserer Staatsbürgerschaft Rüdiger Veit (SPD): also nicht als Vorschuss auf Integration handhaben, son- Frau Präsidentin! Das war eine vorsorgliche Wortmel- dern genau andersherum . Denn sonst würde der Druck dung für den Fall, dass sich die Notwendigkeit aus der fehlen, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren . Und weiteren Debatte ergeben hätte . Diese Notwendigkeit Integration bedeutet für mich dabei die Anerkennung sehe ich nicht, sodass wir alle hier neun Minuten mehr unserer christlich-jüdischen Werte, die Anerkennung der von unserer Lebensarbeitszeit haben . besonderen Geschichte unseres Landes und die Annahme der Verantwortung, die wir mit ihr tragen, und selbstver- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ständlich auch die Anerkennung unserer deutschen Leit- kultur . Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das ist ungewöhnlich, aber akzeptabel . Au!) (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Noch ein paar Gedanken zu dem Antrag zur einfache- NEN]: Das gab es noch nie!) ren Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft für bri- Frau Barbara Woltmann von der CDU/CSU-Fraktion tische Staatsangehörige . Jetzt für britische Bürger eine hat dann das Wort . Sonderregelung, eine Lex Britannica, wie an verschiede- nen Stellen zu lesen war, einzuführen, halte ich für einen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) Fehler . (D) Erstens: Wie wäre diese Ungleichbehandlung gegen- Barbara Woltmann (CDU/CSU): über anderen EU-Bürgern zu rechtfertigen? Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Präsidentin hat schon gesagt, dass das sehr (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE ungewöhnlich war; aber ich fand es schon ungewöhnlich, GRÜNEN]: Sie haben schon mitgekriegt, dass dass Sie zweimal auf der Rednerliste standen, Herr Veit . wir keine Rechtsänderung vorschlagen?) Die Begründung war sehr interessant . Nun gut . Zweitens gibt es bereits heute ausreichend rechtliche Wir haben eine recht lange Debattenzeit für dieses Möglichkeiten für alle Unionsbürger, sich um die deut- Thema vorgesehen . 77 Minuten – ich bin die letzte Red- sche Staatsbürgerschaft zu bemühen . Der dritte Grund: nerin zu diesem Thema – sind schon eine lange Zeit . Wir Es kann nicht sein, dass der Wunsch, am Flughafen nicht diskutieren über das Einbürgerungsrecht hier nicht zum in der langen Schlange derer stehen zu müssen, die nicht ersten Mal . Ich glaube, es ist deutlich geworden, dass wir dem Schengen-Raum angehören, dazu führt, die deut- dabei nicht einer Meinung sind, dass die Opposition ein sche Staatsangehörigkeit zu beantragen . sehr viel offeneres Herangehen für richtig hält. Die Bürgerinnen und Bürger Großbritanniens haben (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- demokratisch darüber entschieden, dass sie nicht Teil NEN]: Die SPD auch! – Jörn Wunderlich dieser Europäischen Union bleiben möchten . Diese Ent- [DIE LINKE]: Wir sind weltoffen!) scheidung haben wir zu akzeptieren . Deswegen sind Ihre Anträge nicht zuvorderst und nicht in einfacher Weise zu – Ja, in der Tat haben wir in den Koalitionsverhandlun- behandeln . gen hart um die Optionsregelung gerungen . Wir haben dann eine Lösung gefunden und gleich zu Beginn dieser Der Antrag der Grünen und ihr Gesetzentwurf sind Legislaturperiode, 2014, das Staatsangehörigkeitsrecht abzulehnen, nicht nur, weil sie eine vernünftige Überzeu- geändert . Wir sehen – das wird Sie von der Opposition gung davon vermissen lassen, was Staatsangehörigkeit nicht wundern – keine Notwendigkeit, jetzt wieder eine bedeutet . Änderung in Angriff zu nehmen. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, wer Deut- NEN]: Das Bekenntnis zum deutschen Wald scher im Sinne des Gesetzes ist . Wir haben im Staatsan- fehlt, was?) gehörigkeitsgesetz in immerhin 42 Paragrafen sehr de- Staatsangehörigkeit ist mehr als der deutsche Pass . Ihre tailliert geregelt, wie man deutscher Staatsbürger werden Vorschläge laufen auch den Maßnahmen zuwider, die wir kann, wenn man es nicht von Geburt an ist . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19053

Barbara Woltmann (A) Das Optionsrecht hatte ich schon angesprochen . In Des Weiteren besteht auch keinerlei Notwendigkeit, (C) der Tat hätten wir das, wenn wir alleine hätten entschei- britischen Staatsangehörigen – meine Vorredner haben den können, nicht so geändert . Wir hätten das nicht ins schon auf Ihren Antrag dazu hingewiesen – eine Sonder- Gesetz geschrieben; aber wir hatten das mit der SPD so behandlung zuteilwerden zu lassen, weil sie auch jetzt ausgehandelt, und wir verhalten uns – Herr Veit hat es schon alle Rechte genießen, die jedem europäischen – schon gesagt – natürlich vertragstreu . Daher haben wir oder Schweizer – Staatsbürger in Deutschland bezüglich das Recht entsprechend geändert . einer Einbürgerung eingeräumt worden sind . Das gilt zumindest so lange, wie ihr Land Mitglied der Europä- Eine weitere Veränderung lehnen wir aber ab . Deswe- ischen Union ist . gen, liebe Kollegen von den Grünen, wird es Sie nicht wundern, dass wir Ihren Antrag und Ihren Gesetzentwurf Im Moment wissen wir auch noch gar nicht, wann der ablehnen . Wir haben einfach eine ganz andere Vorstel- Antrag gestellt wird, wie er gestellt wird . Dass er gestellt lung davon, wer wann wie deutscher Staatsbürger wer- wird, davon können wir ausgehen, weil die britische Pre- den kann, der es noch nicht ist, der aber den Wunsch hat, mierministerin das noch einmal deutlich gemacht hat . Deutscher zu werden . Wenn der Antrag gestellt wird, schließen sich noch zwei- jährige Verhandlungen an. Auch insofern finde ich: Ihr Ihre Intention scheint mehr zu sein, die Türen für eine Antrag ist überflüssig, vergebene Liebesmüh. Einbürgerung für alle weit zu öffnen, indem Sie die Min- destaufenthaltsdauer bei der Anspruchseinbürgerung auf (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fünf Jahre senken; bei anerkannten Flüchtlingen wollen NEN]: Nein, das ist die Vorbereitung! Vorbeu- Sie die Mindestaufenthaltsdauer auf drei Jahre senken . gende Gesetzgebung! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Rede (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE war weitgehend überflüssig!) GRÜNEN]: Sehr richtig!) Es ist von Vorrednern schon darauf hingewiesen Sie machen auch keinen Unterschied mehr zwischen worden, dass es auch eine Ermessensentscheidung ge- den verschiedenen Aufenthaltstiteln; Hauptsache, es gibt ben kann, um die Zeit von sechs Jahren, die ein Brite in überhaupt einen Titel . Also, Sie wollen die Tür sehr weit Deutschland leben und arbeiten muss – das ist die Vo- öffnen. raussetzung –, eventuell zu verkürzen; (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE NEN]: So schaut ein liberalisiertes modernes GRÜNEN]: Sie hätten es wie Herr Veit halten Staatsbürgerschaftsrecht aus!) sollen!) (B) Ihren Hinweis auf die globalisierte und mobile Welt, (D) der sich unser Staatsangehörigkeitsgesetz anpassen müs- er hätte dann nach § 12 Absatz 2 Staatsangehörigkeits- se, halte ich für völlig fehl am Platze . Sie scheinen sich gesetz die Möglichkeit, Deutscher zu werden . Insofern damit – so kommt mir das vor – einem Mainstream be- sehen wir gar keinen Handlungsbedarf für eine Privile- stimmter Gruppen anschließen zu wollen, ihm vielleicht gierung in Europa; das wäre nur der Einstieg für eine ge- auch nachlaufen zu wollen – nach dem Motto: Wir alle nerelle Öffnung, und das wollen wir nicht. sind Weltbürger und brauchen die Bindung an unseren (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Heimatstaat nicht mehr . – Da, glaube ich, verkennen NEN]: Wir wollen das!) Sie die Bindungswirkung einer Staatsangehörigkeit . Die meisten Menschen nennen das „Heimat“ . Wir halten das nicht für notwendig . (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Nur noch ein kleiner Einschub, wenn wir schon über NEN]: Der Pass ist keine Heimat! – Volker den Brexit sprechen . Von der Opposition wurde schon Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: vorgeschlagen, weitere direktdemokratische Elemente Meine Heimat ist Europa!) in die Verfassung einzuführen . Wir haben im Juni die entsprechende Debatte gehabt . Wir haben das seinerzeit Das ist ihnen auch sehr wichtig . Das sollte nicht der Be- abgelehnt . Wozu es führen kann, wenn man solche Ele- liebigkeit anheimgegeben werden . Von daher gesehen – mente einführt – ich kann das hier nur noch einmal wie- ich darf es wiederholen – lehnen wir das ab . derholen –, haben wir gesehen . Scharlatane versuchen, Genau das Umgekehrte ist doch der Fall . In einer glo- auch mit falschen Informationen, die Leute zu einer balisierten Welt braucht man Bindung, Zugehörigkeits- Entscheidung zu bringen, die letztendlich nicht gut für gefühl das Land – in dem Fall für Großbritannien – und für die Menschen dort ist . Insofern bin ich froh, dass wir das in (Marian Wendt [CDU/CSU]: Orientierung!) unserer Verfassung so haben, wie wir es haben . Unsere parlamentarische Demokratie ist da sehr stabil, und das und nicht in allen Lebensbereichen grenzenlose Unge- wollen wir auch so erhalten . bundenheit . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das Staatsangehörigkeitsrecht haben wir, wie gesagt, durch eine maßvolle Anpassung der Optionspflicht für Sie setzen mit der von Ihnen gewünschten Gesetzgebung in Deutschland aufgewachsene Kinder geändert . Herr ein völlig falsches Signal, gerade in der heutigen Zeit, da Mutlu, es ist auch nicht so – das möchte ich noch einmal durch Ihre Vorschläge weitere Pull-Effekte, die wir nicht deutlich sagen –, wie Sie es gerade geschildert haben, wollen, zu erwarten sind . dass Ihr Vater nicht Deutscher werden kann . Er kann na- 19054 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016

Barbara Woltmann (A) türlich Deutscher werden, aber das ist eben damit ver- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . (C) knüpft, dass er dann seine türkische Staatsangehörigkeit Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall . Dann abgeben muss . sind die Überweisungen so beschlossen . (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 40 a bis 40 c auf: NEN]: Und das wollen wir eben abschaffen! a) Erste Beratung des von der Bundesregierung Das nennt man eine Meinungsverschieden- eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes heit!) zur Stärkung der pflegerischen Versorgung Das wollen Sie nicht; das ist uns schon klar . Da haben wir und zur Änderung weiterer Vorschriften eine ganz andere Auffassung von unserem Staatsangehö- (Drittes Pflegestärkungsgesetz – PSG III) rigkeitsrecht und sagen: Wer Deutscher werden möchte, Drucksache 18/9518 sollte sich auch voll und ganz zu diesem Land bekennen . Überweisungsvorschlag: (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ausschuss für Gesundheit (f) NEN]: Das tut er doch! – Volker Beck [Köln] Innenausschuss [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was beinhal- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales tet ein Bekenntnis zu einem Land?) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ich glaube auch nicht, dass es hilft, wenn wir sagen: Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO Jeder darf eine doppelte Staatsbürgerschaft haben . – Für b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Pia eine bestimmte Anzahl von Ländern ist das möglich; da Zimmermann, Sabine Zimmermann (Zwickau), haben wir das geregelt . Aber wir wollen – akzeptieren Sie Matthias W . Birkwald, weiterer Abgeordneter es doch nun einfach einmal – nicht diese völlige Öffnung, und der Fraktion DIE LINKE sondern wir wollen bei der Einstaatlichkeit bleiben; denn die Staatsangehörigkeit ist ein besonderes Band zu dem Pflege teilhabeorientiert und wohnortnah ge- Staat, dem ich angehöre . Die lege ich nicht einfach wie stalten ein Kleidungsstück an oder auch wieder ab . Drucksache 18/8725 (Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu Überweisungsvorschlag: [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Loyalität zum Grundgesetz! Nicht mehr und Ausschuss für Arbeit und Soziales nicht weniger! Punkt!) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss (B) Es hat doch eine Bedeutung, ob ich sage, dass ich jetzt (D) Deutsche werden möchte, oder ob ich sage, dass ich c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Schweizerin werden möchte . Das unterliegt doch nicht Elisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche, der Beliebigkeit . Vielmehr geht es um ein klares Be- Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter kenntnis zu dem Staat, in dem ich leben möchte, in dem und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ich Teil der Gesellschaft sein möchte, in dem ich wählen Pflege vor Ort gestalten – Bessere Bedingun- kann . Das alles gehört zusammen . Das unterliegt doch gen für eine nutzerorientierte Versorgung nicht der Beliebigkeit . schaffen (Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu Drucksache 18/9668 [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben doch selbst etliche doppelte Staatsbürger in Überweisungsvorschlag: Ihren Reihen! Ist das ein Problem?) Ausschuss für Gesundheit (f) Innenausschuss – Ja, wir haben einige . Das dann aber auch mit gutem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Grund . Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Wir wollen eben nicht eine völlige Freigabe, sondern die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre dazu wir wollen, dass die doppelte Staatsbürgerschaft wei- keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen . terhin die Ausnahme bleibt . Die deutsche Staatsange- Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin in die- hörigkeit soll ein klares Bekenntnis zur Bundesrepublik ser Aussprache hat die Parlamentarische Staatssekretärin Deutschland beinhalten . Dadurch soll der Zusammenhalt Ingrid Fischbach für die Bundesregierung das Wort . in unserer Gesellschaft gestärkt werden . (Beifall bei der CDU/CSU) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit . (Beifall bei der CDU/CSU) Ingrid Fischbach, Parl . Staatssekretärin beim Bun- desminister für Gesundheit: Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die De- Ich glaube, ich verkünde nichts Neues, wenn ich sage: batte . Die Pflege steht in dieser Legislaturperiode prioritär ganz oben auf unserer Tagesordnung . Wir haben mit unseren Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Pflegestärkungsgesetzen schon einiges Gutes auf den den Drucksachen 18/9669 und 18/5631 an die in der Weg gebracht. Mit dem Ersten Pflegestärkungsgesetz ha- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19055

Parl. Staatssekretärin Ingrid Fischbach (A) ben wir die Pflegeleistungen erheblich ausgeweitet, die geht . Das, glaube ich, sollten wir deutlich sagen . Hier ist (C) Leistungen – das war ein besonderer Punkt; das war uns der Gesetzgeber gefordert . ganz wichtig – flexibler nutzbar gemacht und natürlich (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem die Hilfen für die pflegenden Angehörigen deutlich ver- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bessert . Bereits im Rahmen des Zweiten Pflegestärkungsge- (Beifall bei der CDU/CSU) setzes haben wir wichtige Maßnahmen zur Verhinderung und Entdeckung von Abrechnungsbetrug in der Pflege Mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz haben wir auf den Weg gebracht, insbesondere die Verpflichtung dann den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und das da- des Medizinischen Dienstes, neben der Qualität regelmä- zugehörige Begutachtungsverfahren eingeführt . Ab dem ßig auch die Abrechnungen zu prüfen . Die Vorkommnis- 1. Januar werden fünf Pflegegrade die überholten drei se im Frühjahr dieses Jahres haben aber gezeigt, dass dies Pflegestufen ablösen. Niemand wird dabei benachteiligt. nicht ausreicht . Deswegen wird es nun auch im SGB V Im Gegenteil: Für sehr viele Menschen werden sich die ein systematisches Prüfrecht geben . Künftig werden alle Leistungen ab Januar nächsten Jahres erhöhen . Pflegedienste regelmäßig geprüft, auch jene, die nur Leis- tungen der gesetzlichen Krankenversicherung erbringen . Das PSG III, das Dritte Pflegestärkungsgesetz, das wir Alle Patienten werden in die Stichproben mit einbezo- heute einbringen, ist sozusagen der letzte Baustein, um gen, also auch Menschen, die ausschließlich Leistungen das Ganze abzurunden . Das heißt, wir müssen jetzt die der häuslichen Pflege beziehen. Maßnahmen ergreifen, die vor Ort benötigt werden . Mit dem Dritten Pflegestärkungsgesetz stärken wir die Rolle Darüber hinaus können Abrechnungsprüfungen in Zu- der Kommunen in der Pflege. Die zu pflegenden Perso- kunft auch unabhängig von Qualitätsprüfungen durchge- nen und ihre Angehörigen benötigen eine gute Unterstüt- führt werden. Wir geben der Pflegeselbstverwaltung auf zung und vor allen Dingen eine, die maßgeschneidert ist . Landesebene vor, Regelungen zur Verhinderung von Ab- Die Strukturen und Rahmenbedingungen der Pflege müs- rechnungsbetrug in die Rahmenverträge aufzunehmen . sen stimmen, damit sie für die Pflegenden und Angehöri- Damit kann zum Beispiel vermieden werden, dass sich gen ein Leben gewährleisten, das in Selbstbestimmtheit betrügerische Pflegedienste unter einem anderen Namen und auch in Würde geführt werden kann . wieder neu auf den Markt begeben . Das sind die Dinge, die wir tun können . Aber es müssen weitere Schritte im Dazu müssen die Länder und die Kommunen Hand- Bereich des Strafrechts und der Kriminalitätsbekämp- lungsspielräume haben . Diese geben wir ihnen mit dem fung von den Ländern unternommen werden; auch da PSG III . Wir sorgen dafür, dass wir ein gutes Miteinan- bitten wir um große Unterstützung . (B) (D) der von Pflegekassen und kommunalen Strukturen vor Das PSG III setzt den neuen Pflegebedürftigkeitsbe- Ort haben . Das war auch die Empfehlung der Bund-Län- griff auch im Recht der Hilfe zur Pflege in der Sozialhilfe der-Arbeitsgruppe, die dazu getagt hat . Kommunen um. Denn Pflegebedürftige, die finanziell bedürftig sind, können künftig Beratungsleistungen in der Pflege selbst müssen auch nach Einführung des neuen Pflegebedürf- anbieten. Sie können die Einrichtung weiterer Pflege- tigkeitsbegriffes die Leistungen und Hilfen bekommen, stützpunkte auf den Weg bringen, damit die Menschen, die notwendig sind . Deshalb regeln wir im PSG III auch die Beratung brauchen, entsprechende Anlaufstellen ha- das Verhältnis von Eingliederungshilfe und Pflegeversi- ben . Die Kommunen haben die Möglichkeit, in 60 Mo- cherung. Dies ist notwendig, weil mit dem neuen Pfle- dellvorhaben neue Formen der Beratung zu erproben, gebedürftigkeitsbegriff die ambulanten Leistungen der und sie erhalten die Möglichkeit, die Beratung der Pfle- Pflegeversicherung erweitert werden und wie die Ein- gekassen selber zu erbringen . gliederungshilfe Aspekte der Betreuung beinhalten . Des- halb brauchen wir gute Regelungen zur Abgrenzung der Das verlangt aber auch, dass die Zusammenarbeit beiden Systeme . Das hat der Expertenbeirat bereits in der aller Beteiligten vor Ort verbessert wird . Oft gibt es in letzten Wahlperiode deutlich gemacht . den Kreisen und Kommunen bereits regionale Pflege- ausschüsse . Wir werden mit dem PSG III dafür sorgen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dass die Kassen in diesen Pflegeausschüssen verpflich- Weitere Regelungen sind notwendig, weil durch die tend mitarbeiten, weil wir zum einen wollen, dass sie ihr geplante Personenzentrierung im Rahmen des Bun- Wissen und ihre Erfahrung einbringen, und weil wir zum desteilhabegesetzes ein Anknüpfungspunkt für die Zah- anderen wollen, dass sie die Empfehlungen, die die Aus- lung der Pauschalleistungen der Pflegeversicherung für schüsse auf den Weg bringen, mittragen und umsetzen . Bewohnerinnen und Bewohner von stationären Einrich- tungen der Eingliederungshilfe entfällt . Hier brauchen Vor der Sommerpause, meine Damen und Herren, wir Anpassungen. Denn sonst würden wir die Pflegever- war der Abrechnungsbetrug in der Pflege ein wirklich sicherung mit Mehrausgaben in Milliardenhöhe belasten, ausschlaggebendes und bestimmendes Thema . Wenige ohne dass sich – das ist der ausschlaggebende Punkt – schwarze Schafe – das möchte auch ich deutlich sagen – auch nur etwas mehr an den Leistungen für die Men- haben eine ganze Branche in Misskredit gebracht . Betrug schen mit Behinderungen verbessern würde . in der Pflege ist wirklich besonders verachtungswürdig, weil er nicht nur zulasten der Pflegebedürftigen, sondern Die zu Pflegenden und ihre Angehörigen, liebe Kol- auch zulasten der Beitragszahler und vor allen Dingen leginnen und Kollegen, brauchen passgenaue Angebote, zulasten der vielen ehrlichen Anbieter, die wir haben, die gut abgestimmt sind und vor Ort von allen Beteiligten 19056 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016

Parl. Staatssekretärin Ingrid Fischbach (A) gemeinsam verantwortet werden . Sie müssen sicher sein Wer auf Hilfe zur Pflege angewiesen ist – das ist die (C) können, dass sie bei der Suche nach der richtigen und schöne Umschreibung für Menschen, die eigentlich So- wirksamen Unterstützung und Pflege nicht allein gelas- zialhilfe benötigen –, wird zukünftig noch stärker auf das sen werden . Insofern bildet das PSG III den Abschluss Wohlwollen seiner Mitmenschen angewiesen sein, als es einer, wie ich finde, wirklich guten Verbesserung für die bisher der Fall gewesen ist . Durch dieses Gesetz werden Menschen, die Pflege benötigen. Lassen Sie uns jetzt ge- Menschen, die Hilfe zur Pflege brauchen, gesetzlich ge- meinsam in die parlamentarischen Beratungen gehen und zwungen, ehrenamtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, sie zu einem vernünftigen Ergebnis bringen! weil ihnen sonst gar keine Unterstützung zusteht . Damit kommen die Angehörigen nicht nur finanziell für die Ich danke den Berichterstattern und den Sprechern der Menschen mit Pflegebedarf auf, indem sie ihr Einkom- Fraktionen sehr herzlich – wie ich sehe, sind Mechthild men und ihr Vermögen zur Verfügung stellen müssen, Rawert, Erwin Rüddel und Erich Irlstorfer da –, ich dan- sondern sie sollen auch die Pflegearbeit übernehmen, und ke dem Haus für die gute Zuarbeit, und ich wünsche uns zwar unentgeltlich, in ihrer Freizeit und ohne Anspruch allen, die wir an den Beratungen teilnehmen, dass wir zu auf irgendeine Sozialversicherung . einem guten Ergebnis kommen . Danke schön . Meine Damen und Herren, Sie können einwenden, dass es doch mehr Pflegegeld und mehr Sachleistungen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) gibt; Frau Fischbach, Sie haben es gesagt . Ich entgegne Ihnen aber, dass all das nicht gegen die Ohnmacht helfen Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: wird, wenn der 90-jährige Vater 200 Kilometer entfernt Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Pia allein in seiner Wohnung ist und dann vielleicht doch ein- Zimmermann von der Fraktion Die Linke das Wort . mal vergisst, den Gasherd abzustellen . Hier würde es hel- fen, wenn sich die Angehörigen darauf verlassen könn- (Beifall bei der LINKEN) ten, dass es Strukturen gibt, innerhalb derer man sich um ihren Vater kümmert . Es würde helfen, wenn sie wüssten, Pia Zimmermann (DIE LINKE): dass die Menschen, die sich um ihren Vater kümmern, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gut ausgebildet und anständig bezahlt werden . Werte Frau Fischbach, das, was Sie uns hier gerade vor- getragen haben, ist kein Paradigmenwechsel in der Pfle- (Beifall bei der LINKEN) ge – auf jeden Fall nicht im positiven Sinne –; Es würde helfen, zu wissen, dass ihr Vater selbst ent- (Mechthild Rawert [SPD]: Na, na, na!) scheiden kann, ob er zu Hause oder in einer Einrichtung (B) versorgt wird, und dass seine Wünsche und Würde res- (D) denn mit dem Pflegestärkungsgesetz III manifestieren pektiert werden . Sie einen weiteren Meilenstein in der Zweiklassenpfle- ge, und das ist ein weiterer Schritt zur Aushöhlung des (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der Sozialstaates . CDU/CSU: Das machen wir! Wir fragen!) ( [CDU/CSU]: Sie wissen, Dieses Gesetz verspricht solche Strukturen, aber die- dass das nicht stimmt!) se Versprechen werden nicht gehalten . Die Kommunen Ihr Pflegegesetz verdient auch nicht den Zusatz „Stär- sollen gestärkt werden . Sie sagen, dafür bekommen sie kung“, weil es niemanden in der Pflege wirklich stärkt – die Möglichkeit, mehr Beratungsangebote einzurich- ten . Aber gerade einmal 60 Modellkommunen von über (Zuruf von der CDU/CSU: Natürlich! Das ist 11 000 Kommunen kommen in den Genuss . Was für ein doch Quatsch!) Hohn! Außerdem: Eine echte Entscheidung über die Ver- nicht die Menschen mit einem Pflegebedarf, nicht die sorgungsangebote dürfen die Kommunen gar nicht tref- Pflegekräfte und nicht die pflegenden Angehörigen. fen, und Pflegesatzverhandlungen finden weiterhin hinter verschlossenen Türen statt . Die Pflege wird noch immer nicht am tatsächlichen Bedarf und an den individuellen Wünschen, sondern aus- Der neue Pflegebegriff soll für alle Menschen gelten – schließlich an den zur Verfügung gestellten Mitteln ori- sagen Sie. Aber: Alle Menschen, die auf Hilfe zur Pflege entiert. Die Pflege bleibt markt- und profitorientiert. Alle angewiesen sind, werden durch dieses Gesetz strukturell Betroffenen gemeinsam sollen das Geld einsparen, das benachteiligt, weil ihnen nicht die gleichen Leistungen Sie den Betreibern und Investoren von Pflegeheimen und zustehen . Das ist das, was ich am Anfang schon einmal den Pflegeversicherungen versprochen haben. gesagt habe: Mit diesem Gesetz verabschiedet sich die Dieses Gesetz wird auch niemandem nützen, der auf Bundesregierung vom Bedarfsdeckungsprinzip in der professionelle Unterstützung angewiesen ist und dessen Sozialhilfe . Rente nicht ausreicht, um die Eigenbeteiligung in der Pflegeversicherung, die steigenden Investitionskosten für Meine Damen und Herren, mit unserem Antrag „Pfle- die Pflegeeinrichtungen, die Miete, die Lebenshaltungs- ge teilhabeorientiert und wohnortnah gestalten“ legen kosten oder was auch immer zu bezahlen . wir realistische Handlungsoptionen vor, die für Gerech- tigkeit in der Pflege sorgen können. Wir fordern gleich- (Zuruf von der CDU/CSU: Falsche Pauschal- wertige Lebensbedingungen in der Pflege für alle Men- sätze!) schen mit Pflege-, Unterstützungs- und Assistenzbedarf Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19057

Pia Zimmermann (A) und gute Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten in ­LINKE]: Sagen Sie mal, was Sie vor der letz- (C) allen Regionen . ten Wahl versprochen haben!) (Beifall bei der LINKEN) Mit den Pflegestärkungsgesetzen I bis III stellen wir uns den demografischen Herausforderungen in unserer Wir wollen die Kommunen tatsächlich in die Lage immer älter werdenden Gesellschaft . Wir machen Ernst versetzen, für Menschen, die Pflege und Unterstützung mit der Aussage „Gute Pflege ist ein Menschenrecht“. brauchen, wohnortnah und individuell passende Angebo- Und das ist auch gut so; denn wir brauchen eine zukunfts- te bereitzustellen und auch zu finanzieren. Lassen Sie die feste Pflege im Interesse der heute schon über 2,5 Milli- Kommunen bitte nicht wieder auf den Kosten sitzen, wie onen pflegebedürftigen Menschen – mit stark steigender es so gerne gemacht wird! Tendenz –, im Interesse der pflegenden Angehörigen Wir wollen vor allen Dingen die Mitbestimmung der inklusive ihrer besseren sozialversicherungsrechtlichen Menschen mit Pflegebedarf und ihrer Angehörigen stär- Absicherung und im Interesse der Hauptamtlichen, die ken . Denn diese Menschen wissen doch am besten, was da, wo es einen Tariflohn gibt, tatsächlich den Tariflohn gewünscht wird und was nötig ist . bezahlt bekommen . All das haben wir geregelt, und das ist gut so und stärkt die Pflege. (Beifall bei der LINKEN) Beim Pflegestärkungsgesetz III werden wir auf jeden Wir wollen den Pflegemindestlohn erhöhen und die Ar- Fall in diesem Jahr noch die Zielgerade erreichen – das beitsbedingungen der Pflegekräfte verbessern, weil nur garantiere ich hier –, obwohl wir im parlamentarischen so dem Fachkräftemangel entgegengetreten werden Verfahren noch große Baustellen zu bearbeiten haben kann . Das ist absolut notwendig . und das Struck’sche Gesetz auch hier gilt, das lautet: Unser Ziel ist es auch, meine Damen und Herren, dass „Kein Gesetz kommt aus dem Parlament so heraus, wie Menschen sich vor Pflege nicht fürchten müssen, weil sie es eingebracht worden ist .“ wissen, dass sie gut versorgt werden . Sie dürfen nicht da- vor Angst haben, dass sie einmal auf die Unterstützung Frau Fischbach hat schon ganz verschiedene Bereiche von anderen Menschen angewiesen sind, sondern es und Felder dieses Gesetzes erwähnt, auf die ich an dieser muss eine gute Versorgung geben . Es ist auch unser Ziel, Stelle nicht mehr eingehen möchte . dass sich Freunde, Nachbarn und Familien gerne um ihre Neu ist – das wird also noch kommen –: Dieses Gesetz Angehörigen kümmern und füreinander da sind, weil sie dient auch als ein Omnibusgesetz . Denn wir senden mit es wollen, und nicht, weil sie es müssen . ihm berufspolitische Signale aus, indem wir vorhandene (Beifall bei der LINKEN) Modellklauseln für die Ergotherapeutinnen und Ergothe- (B) rapeuten, für die Hebammen und Entbindungspfleger, für (D) Unser Ziel ist es, dass Menschen so leben können, wie die Logopädinnen und Logopäden, für die Masseure und sie es sich wünschen, und nicht, wie es ihr Geldbeutel Physiotherapeuten verlängern. Wir treffen Regelungen erlaubt . für die Verbesserung der Qualität unter den Heilpraktike- Herzlichen Dank . rinnen und Heilpraktikern . (Beifall bei der LINKEN) An dieser Stelle eine Anmerkung von mir als sozialde- mokratische Gesundheits- und Gleichstellungspolitike- rin: Ich verstehe nicht, dass wir den Medizinerinnen und Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Medizinern rund 1 Milliarde Euro Honorar mehr geben, Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Mechthild aber für die vielen zumeist von Frauen ausgeübten Ge- Rawert von der SPD-Fraktion das Wort . sundheitsberufe keine professionelleren Strukturen von (Beifall bei der SPD) nachhaltigem Bestand schaffen. (Beifall bei der SPD) Mechthild Rawert (SPD): Wir wollen eine Stärkung der Gesundheitsfachberufe . Liebe Bürgerinnen und Bürger! Liebe Kolleginnen Das ist auf jeden Fall unser Credo . Dazu sage ich auch: und Kollegen! Unser Ziel, die Vollendung einer großen Das sich ärgerlicherweise immer noch im parlamentari- Pflegereform mit ihren zahlreichen Gesetzen, ist in Sicht- schen Verfahren befindliche Pflegeberufereformgesetz weite, und das ist auch gut so . soll dazu dienen, dass wir auch hier zu einer besseren An dieser Stelle, Frau Zimmermann, muss ich doch Qualität kommen. Hier hoffe ich doch auf professionelle auf Ihren Beitrag eingehen . Erstens ist heute noch nicht Einsicht in Teilen der Reihen unseres Koalitionspartners . die Zeit für großes Wahlkampfgetöse . Zweitens empfehle ich Ihnen, Ihr Recht als Versicherte auf Pflegeberatung – Eingehen will ich auf einige Punkte zum PSG III . Ein das haben Sie seit 2009 – auch in Anspruch zu nehmen; Thema sind die Hilfen zur Pflege. Das Ziel ist, dass die denn dann würden Sie erfahren, wie viel Gutes im PSG I, Regelungen aus dem PSG II, die wir bis jetzt beschlos- wie viel Gutes im PSG II und auch im PSG III steht . Ich sen haben, auch für die Menschen Wirklichkeit werden, kann sagen: Beratung erhöht das Wissen – und das gilt die Hilfen zur Pflege laut SGB XII, also dem Sozialhil- für uns alle . ferecht, erhalten. Das heißt, der neue Pflegebedürftig- keitsbegriff und das neue Begutachtungsverfahren gelten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- auch hier . Weiterhin soll gelten: Körperlich, kognitiv und ten der CDU/CSU – Pia Zimmermann [DIE psychisch Pflegebedürftige werden gleichgestellt, mit 19058 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016

Mechthild Rawert (A) dem Ergebnis, dass mehr Individualität und Gerechtig- das –, dass viele von diesen Beratungsstellen gar nicht (C) keit für alle, unabhängig vom Geldbeutel, gelten . mehr geöffnet haben. Da muss man sich einmal fragen, woran das liegt . (Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Das kommt dann im Pflegestärkungsgesetz IV, oder was?) Jetzt sollen 60 Modellkommunen von insgesamt über 11 000 Kommunen in unserem Land verstärkt Beratungs- Zum PSG III gehören auch die Stärkung der örtlichen angebote bereitstellen; das habe ich in meinem Redebei- Pflegeinfrastruktur und der Ausbau der Pflegeberatung; trag gesagt . Da frage ich mich: Was ist das für ein An- Fälle, in denen das notwendig ist, habe ich schon er- satz? Das ist ja Kleckern und nicht Klotzen . Wir müssen wähnt . Mit diesen Punkten setzen wir Forderungen der in der Pflege aber klotzen, um einen Paradigmenwechsel SPD aus der letzten Legislaturperiode um . Wir stärken tatsächlich zu erreichen . die kommunale Verantwortung . Wir stärken die Infra- struktur vor Ort . Zudem ist für eine Pflegekampagne, mit der wir da- rauf aufmerksam machen könnten, was wir alles haben – Auf eines möchte ich Sie hinweisen: Viele von Ihnen du hast es so schön gesagt: die Vernetzung soll wieder- mögen den Begriff „Pflegestützpunkt“ noch gar nicht ge- hergestellt werden –, im Haushalt kein Geld eingestellt . hört haben, aber auch in Ihren Kommunen gibt es diese Im Haushalt steht an dieser Stelle eine Null . Wie soll ich Pflegestützpunkte. das denn verstehen? (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der LINKEN) GRÜNEN]: Nicht unbedingt!)

Aber es gibt noch nicht genug davon . Hier muss noch Mechthild Rawert (SPD): mehr Beratung erfolgen . Daher sind auch die 60 Modell- Es täte mir leid, wenn in Niedersachsen Pflegestütz- vorhaben von so herausragender Bedeutung . Wir wollen punkte tatsächlich schließen . Ich kann nur sagen: Hier in die Vernetzung vor Ort stärken . Berlin eröffnen wir stetig welche. Ich bin erst vor kurzem (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Zum Teil bei der Eröffnung des dritten Pflegestützpunktes in mei- gab es die!) nem Bezirk gewesen . Wir wollen die individuellen Bedarfe besser abdecken . Zum Thema Wahlkampfgetöse . Ich bin mir nicht ganz Wir wollen natürlich auch dazu beitragen, dass kulturelle sicher, ob es nicht doch Wahlkampfgetöse gewesen ist . Hintergründe berücksichtigt und alle Menschen über alle (Maria Michalk [CDU/CSU]: Doch, doch!) Möglichkeiten vor Ort umfassend informiert werden . Zum Thema Beratung und Vernetzung . Ja, ich fordere Mit dem PSG III machen wir deutlich: Die Pflegebera- (B) jede Kommune auf, sich hier starkzumachen . Wie man (D) tung spielt in der Politik eine zentrale Rolle . Wir wollen, weiß, hatten wir hier in Berlin Wahlkampf und auch eine wie gesagt, mehr Pflegeschutzpunkte vor Ort, initiiert Wahl . Im Vorfeld habe ich zum Beispiel stetig versucht, von Kommunen . Wir wollen mehr Qualität durch bessere für den Begriff „Ausbau der Pflegeinfrastruktur“ in mei- Beratung. Dabei soll nicht nur über Angebote der Pflege ner Partei zu werben, weil wir – dem Ziel stimme ich beraten werden, sondern auch über Angebote der Alten- zu – eine stärkere Vernetzung brauchen . Wir brauchen hilfe, der Eingliederungshilfe und auch über die der Pfle- eine Aufhebung der Unterteilung in Bereiche; denn das geversicherung . Es soll eine „Beratung aus einer Hand“ Ziel ist eine „Beratung aus einer Hand“ . Mit den Modell- erfolgen . projekten erproben wir diese Beratung . Sie sind dazu da, qualitativ bessere Schritte zu gehen und qualitativ besse- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: re Strukturen zu etablieren . Das soll dann auf alle Kom- Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kol- munen übertragen werden . Ich wünsche mir, dass nach legin Zimmermann zu? Abschluss der Modellvorhaben jede der 11 000 Kommu- nen in Deutschland über ein, zwei Pflegestützpunkte in Mechthild Rawert (SPD): guter bis hoher Qualität verfügt . Dazu sind die Modell- vorhaben gut . Selbstverständlich, ja . (Beifall bei der SPD sowie der Abg . Maria Pia Zimmermann (DIE LINKE): Michalk [CDU/CSU]) Liebe Mechthild Rawert, ich mache kein Wahlkampf- Die SPD will eine erstklassige Pflegeinfrastruktur. Mit getöse, wenn ich Wahrheiten ausspreche . Mir hätte es ei- den neu einzurichtenden Pflegeausschüssen verzahnen gentlich schon gereicht, wenn die Sozialdemokratinnen wir die ambulante und die stationäre, die medizinische und Sozialdemokraten das umgesetzt hätten, was sie vor und die pflegerische Versorgung besser miteinander – für der letzten Wahl versprochen haben, statt sich durch die eine lückenlose, wohnortnahe und effektive Versorgung. Koalition Fußfesseln anlegen zu lassen . Das ist ein großer Fortschritt, liebe Bürgerinnen und Bür- (Beifall des Abg . Matthias W . Birkwald [DIE ger. Wir wollen eine gute und würdige Pflege für alle. LINKE]) Wir schaffen die Voraussetzungen, dass alle Verbesse- rungen auch für alle gelten; denn wir wollen in Deutsch- Aber meine Frage zielt ganz direkt auf die Beteili- land gleiche Lebensverhältnisse für alle – unabhängig gung und auf die Beratungsangebote in den Kommunen . vom Wohnort – auch in der Pflege. Wir wollen eine hohe Wir wissen doch ganz genau – Mechthild, auch du weißt Versorgungsqualität überall und für jede und jeden, und Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19059

Mechthild Rawert (A) das in allen Lebensbereichen, unabhängig davon, ob ein viduelles Case Management zu schaffen, das Pflegebe- (C) Mensch über ein eigenes Einkommen verfügt oder Hilfen dürftige und Angehörige berät und gemeinsam mit ihnen zur Pflege empfängt. Dafür setzt sich die SPD im Rah- die Angebote aussucht, die am besten zur jeweiligen Si- men dieses Dritten Pflegestärkungsgesetzes ein. Ich dan- tuation passen; denn jede Pflegesituation ist ganz indivi- ke der Koalition, dass das im Wesentlichen gelungen ist . duell . Ein individueller Beratungsanspruch ist gesetzlich Die große Pflegereform greift. Über alles andere wird im geregelt . Aber es fehlt an Verbindlichkeit . Die Länder le- weiteren parlamentarischen Verfahren entschieden . gen das dementsprechend sehr unterschiedlich aus . Das muss anders werden . Danke für Ihre Aufmerksamkeit . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der CDU/CSU) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Jeder muss die Möglichkeit haben, sich von einem un- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: abhängigen Case Manager oder einer Case Managerin, Vielen Dank . – Als nächste Rednerin hat Elisabeth die sich sehr gut mit den Angeboten vor Ort auskennen, Scharfenberg für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen umfassend beraten und begleiten zu lassen . das Wort . Mehr Kompetenzen allein bei der Beratung aber rei- chen nicht aus . Die Kommunen brauchen auch mehr Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kompetenzen bei der Pflegeplanung. Sie wissen, welche NEN): Angebote es vor Ort braucht und ob ein neues Pflege- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Staatssekretärin heim in der Gemeinde wirklich gewünscht ist . Vielleicht Fischbach! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem sind barrierefreie Wohnungen in der jeweiligen Region Dritten Pflegestärkungsgesetz wird alles geregelt, was sehr viel wichtiger . bisher noch nicht geregelt ist . Was zur Umsetzung des neuen Pflegebegriffs noch geändert werden muss, steht Kommunen sollen bestehende Angebote vernetzen im PSG III . Was zur Umsetzung des Bundesteilhabege- und da, wo sie Lücken erkennen, Angebote anstoßen setzes parallel im Bereich der Pflege geändert werden können . Das sind zusätzliche Aufgaben für die Kommu- muss, steht im PSG III . Es gibt zudem diverse Rege- nen, genau wie die im PSG III vorgesehene Übernahme lungen zur Bekämpfung des Abrechnungsbetrugs in der der Beratung . Dafür ist aber kein zusätzliches Geld vor- Pflege. Das sind viele Baustellen. Da kann man schon gesehen . So wird das nicht funktionieren . Kommunen einmal das Wesentliche aus dem Blick verlieren . brauchen eine Förderung, um etwas Neues aufzubauen . (B) Das Wesentliche, also der Kern des Gesetzes, ist näm- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) lich die Stärkung der Rolle der Kommunen in der Pflege. Das liegt natürlich nahe; denn die Kommunen sind nä- Kommunen brauchen verlässliche Finanzhilfen für Bera- her am Menschen als die Pflegeversicherungen. In den tung und Pflege sowie Leben und Wohnen im Alter. Kommunen weiß man, welche Angebote es vor Ort gibt, Es gibt viele Kommunen, die sich sehr gerne mehr welche Angebote für ambulante und stationäre Pflege, in diesem Bereich engagieren würden, aber genau da- welche Angebote für Betreuung und für ehrenamtliche für Unterstützung und Beratung bräuchten, weil sie dem Begleitung vorhanden sind, in welchen Quartieren es ganzen Pflegesetting noch relativ hilflos gegenüberste- Nachbarschaftstreffs gibt, welche Kirchengemeinde Kaf- hen . In einigen Ländern gibt es bereits Beratungsange- feenachmittage für Ältere anbietet . Man weiß aber auch, bote, beispielsweise in Nordrhein-Westfalen oder Rhein- welche Angebote fehlen . Diese Kompetenzen der Kom- land-Pfalz . So kann man Kommunen gewinnen, die sich munen werden noch viel zu wenig genutzt . bisher noch nicht engagiert haben oder sich bisher noch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht an dieses umfassende Thema herangetraut haben . Das PSG III will das ändern . Leider wurden bei diesem Bei den Modellvorhaben im PSG III ist zwar vorge- Gesetz mehrere Dinge nicht bedacht . sehen, dass die Hälfte der 60 Modellkommunen keine mehrjährige Erfahrung in der Beratung haben sollen, Die Kommunen erhalten ein befristetes Initiativrecht aber ohne Unterstützung für diese Kommunen könnte bei der Einrichtung von Pflegestützpunkten. 60 Modell- es dazu kommen, dass diese Kommunen die statistische kommunen können neben der Beratung zur Eingliede- Performance verschlechtern und damit auch das Evalua- rungshilfe und Hilfe zur Pflege und Altenpflege auch tionsergebnis verzerren werden . Dieses Ergebnis der Pflegeberatung und Pflegekurse anbieten. Beratung rund Evaluation ist doch die Grundlage für die Überführung um Alter und Pflege aus einer Hand, das sollte eigentlich der Modellprojekte in die Regelversorgung . selbstverständlich sein . Besonders absurd bei diesen Modellprojekten finde (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ich übrigens die Tatsache, dass der Spitzenverband Bund Angesichts der zahlreichen Angebote für pflegebe- der Pflegekassen über die konkreten Voraussetzungen, dürftige und ältere Menschen, die zunehmend unüber- Ziele, Inhalte und Durchführung der Modellvorhaben sichtlicher werden, gehört zur Beratung aus einer Hand beschließt . Keine Unterstützung der Kommunen, weder eine individuelle Beraterin oder ein individueller Berater . finanziell noch ideell, keine Definitionen der Ziele der Wir schlagen übrigens schon seit vielen Jahren vor, die Modellprojekte und keine Planungskompetenz: So stärkt rechtlichen Grundlagen für einen Anspruch auf ein indi- man weder die Kommunen noch die Pflegebedürftigen. 19060 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016

Elisabeth Scharfenberg (A) Mein Fazit ist: Es ist in den letzten Jahren sehr, sehr PSG III übertragen wir den Kommunen zusätzliche Bera- (C) viel im Bereich Pflege gemacht worden – das stimmt –, tungsaufgaben, indem wir die Ergebnisse der Bund-Län- aber Veränderungen bedeuten nicht gleichzeitig Verbes- der-Arbeitsgruppe zur Stärkung der Rolle der Kommunen serungen . Ich denke, wir werden am Ende des Tages die in der Pflege umsetzen. Zusammen mit den Flexibilisie- Koalition nicht an den Veränderungen, sondern an den rungen, die wir mit dem PSG I und dem PSG II bereits Verbesserungen messen . geschaffen haben, werden die zusätzlichen Angebote der Kommunen – hier denke ich an eine gute Vernetzung mit Danke schön . den Seniorenbeiräten, mit der Altenhilfe, mit den Mehr- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – generationenhäusern und den Pflegestützpunkten – eine Mechthild Rawert [SPD]: Sehr gut! Gutes Kri- aufsuchende und umfassende Beratung für Pflegebedürf- terium!) tige und deren Familien sicherstellen . Auf diese Weise kann in jedem einzelnen Fall ein in- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: dividuelles Paket geschnürt werden, das optimal auf die Vielen Dank .– Als nächster Redner hat Erwin Rüddel Bedürfnisse der Pflegebedürftigen und deren Familien von der CDU/CSU-Fraktion das Wort . zugeschnitten ist . Damit tragen wir zugleich dazu bei, (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . pflegebedürftigen Menschen so lange wie irgend mög- Mechthild Rawert [SPD]) lich ihre vertraute Umgebung zu erhalten . Ausdrücklich begrüße ich auch die zusätzlichen Anreize für niedrig- schwellige Betreuungs- und Entlastungsleistungen . Erwin Rüddel (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) und Herren! Die Rede, die Frau Zimmermann eben ge- Ein klares Wort zu Fragen der Qualitätskontrollen: Sie halten hat, hätte man, denke ich, Anfang der 90er-Jahre dürfen nicht zum Schaden der Pflegeversicherung verhin- halten können, als es die Pflegeversicherung noch nicht dert werden. Wer Leistungen aus der sozialen Pflegever- gab . Jetzt haben wir seit über 20 Jahren den großen Se- sicherung erhält, muss bereit sein, die erbrachten Leis- gen einer Pflegeversicherung. Wir haben in dieser Legis- tungen auf ihre Qualität hin überprüfen zu lassen . Wer laturperiode durch unsere bisherige Gesetzgebung die solchen Überprüfungen nicht zustimmt, hat sein Recht größte finanzielle Veränderung herbeigeführt, die es in verwirkt, Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung Deutschland jemals in der Sozialversicherung gegeben zu erhalten. Wir verschärfen die Kontrollen, damit Pfle- hat . Ich denke, das muss man auch einmal anerkennen . gebedürftige, ihre Familien und die Pflegekräfte besser (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- vor betrügerischen Pflegediensten geschützt werden. (B) (D) ordneten der SPD – Maria Klein-Schmeink Im weiteren Verfahren werden wir ferner darauf zu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben achten haben, dass sich die kommunalen Haushalte nicht auch ein großes Defizit hinterlassen! Das muss zulasten der Pflegeversicherung ihrer Aufgaben aus der man auch mal sagen! Ich sage nur: Schwarz- Eingliederungshilfe entledigen . Die Beitragsgelder der Gelb!) Versicherten sind für gute Pflege gedacht und für nichts Wir haben die Leistungen deutlich verbessert . Wir ha- anderes, sie sind nicht dazu da, die kommunalen Haus- ben sie flexibler gemacht. Wir haben Pflegebedürftigkeit halte zu entlasten . Deshalb bestehen wir auf eindeutigen neu definiert. Wir haben Demenzkranke gleichgestellt, Abgrenzungsregelungen an den Schnittstellen zwischen eine große Gerechtigkeitslücke beseitigt und all denen Pflegeversicherung und Eingliederungshilfe. Bestandsschutz zugesichert, die heute schon pflegebe- Mit Blick auf die drei Pflegestärkungsgesetze soll nicht dürftig sind, sodass also niemand schlechtergestellt wird, unerwähnt bleiben, dass wir bei allen Gesundheitsgeset- aber sehr viele deutlich bessergestellt werden . zen in dieser Legislaturperiode flankierende Regelungen Ich denke, wir sind dabei auf einem guten Weg, und getroffen haben, um die Pflegelandschaft insgesamt zu ich möchte, bevor ich in die Details des PSG III einstei- verbessern und rundzuerneuern . Ich erinnere hier an den ge, noch ein Bekenntnis zu den Gesundheitsberufen ab- Bürokratieabbau, den Pflege-TÜV, die Medikamentensi- geben . Wir stehen hinter der Modellklausel . cherheit oder an das Palliativ- und Hospizgesetz . (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU) GRÜNEN]: Aha! Zehn Jahre weiter Modell!) Durch das E‑Health-Gesetz haben gerade Senioren Wir wollen die Gesundheitsberufe stärken . Ich bin der und Pflegebedürftige ab dem 1. Oktober, also in wenigen festen Überzeugung – und meine Fraktion mit mir –, dass Tagen, einen verbrieften Anspruch auf einen einheitli- Kern einer guten Gesundheitsversorgung in der Zukunft chen Medikationsplan . eine gute Vernetzung von Kompetenzen ist . Deshalb (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE wollen wir die Gesundheitsberufe stärken, und wir ver- GRÜNEN]: Erst einmal haben die Ärzte einen trauen auch auf ihre Kompetenzen . Anspruch auf zusätzliches Honorar!) (Beifall bei der CDU/CSU – Mechthild Die Menschen in Deutschland haben Zugang zu einer Rawert [SPD]: Pflegeberufereform!) spürbar besseren Hospizarbeit und einer flächendecken- Das PSG II beinhaltet bereits Beratungsaufträge für den Palliativversorgung . Wir halten unsere Versprechen die Kassen . Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eines aus dem Koalitionsvertrag ein . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19061

Erwin Rüddel (A) Mit den gesetzlichen Neuregelungen in Sachen Heil- im Gesundheitswesen einen richtigen Schritt gegangen (C) und Hilfsmittel stellen wir sicher, dass Pflegebedürftige sind . Mit den heute vorliegenden Regelungen machen Anspruch auf eine anständige Versorgung haben und wir einen weiteren Schritt, um Missbrauch und Betrug nicht länger der schlechten Qualität von Windeln und im konkreten Fall schneller aufdecken und konsequent Rollstühlen ausgesetzt sind . verfolgen zu können . Wir haben in der Koalition zu Beginn der Legislatur- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten periode mehr Qualität, mehr Geld, mehr Betreuung und der CDU/CSU) mehr Hände für gute Pflege in unserem Land verspro- chen, und wir halten Wort . Zukünftig werden auch jene Pflegedienste regelmäßig geprüft, die ausschließlich Leistungen der häuslichen (Mechthild Rawert [SPD]: Und mehr Ver- Krankenpflege erbringen. Wir werden als SPD besonders stand!) darauf achten, ob die neuen Regelungen zielgenau die- jenigen treffen, die sich auf Kosten anderer bereichern. Ich wiederhole meine bereits früher getroffenen Fest- stellungen, dass wir in dieser Legislaturperiode mit allen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Gesetzen im Gesundheitsbereich den Versuch unternom- Die allermeisten der rund 13 000 Pflegedienste in unse- men haben – der uns auch gelungen ist –, eine Runder- rem Land leisten nämlich eine sehr gute Arbeit . Und es neuerung der Pflege sicherzustellen. Das ist eine große kann nicht sein, dass einige schwarze Schafe dafür sor- Kraftanstrengung gewesen. Ich finde, darauf können wir gen, dass allen mit Misstrauen begegnet wird . stolz sein; denn es handelt sich über 20 Jahre nach der Einführung bei dem Gesamtpaket, das wir abgeliefert (Beifall bei der SPD) haben, um nichts Geringeres als einen Quantensprung in der sozialen Pflegeversicherung. Ich danke hier auch Im Gesundheitsausschuss haben wir uns am Mittwoch dem Ministerium – und ganz besonders der Frau Staats- von Vertretern des Bundeskriminalamtes und der Staats- sekretärin Ingrid Fischbach –, dass es diesen Quanten- anwaltschaft sowie einem Berliner Sozialstadtrat berich- sprung sozusagen auf den Weg gebracht hat . ten lassen . Dabei ist klar geworden, dass weitergehende Konsequenzen zu ziehen sind . Denn wer sich an krimi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- nellen Machenschaften beteiligt, die auch zu einer Ge- ordneten der SPD) fährdung von Leib und Leben führen können, dem muss der Versorgungsvertrag mit Kranken- und Pflegekassen Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: und dauerhaft auch die Gewerbezulassung entzogen wer- Vielen Dank .– Als nächste Rednerin hat Heike den . (B) Baehrens für die SPD-Fraktion das Wort . Meine Damen und Herren, parallel zum Dritten Pfle- (D) (Beifall bei der SPD) gestärkungsgesetz beraten wir im Deutschen Bundestag auch über die große Reform der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen, also das sogenannte Bun- Heike Baehrens (SPD): desteilhabegesetz . Es ist gut, dass beide Gesetze prak- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! tisch zeitgleich beraten werden; denn mit dem neuen Seit Einführung der Pflegeversicherung hat es schon ei- Pflegebegriff, der noch mehr als bisher auf Selbstbestim- nige Gesetze zur Änderung und Weiterentwicklung gege- mung und Teilhabe zielt, entstehen neue Abgrenzungs- ben; aber eine so umfassende Reform mit drei Gesetzen fragen . So müssen Regelungen, die Menschen mit Leis- zur Stärkung der Pflege in drei Jahren auf den Weg ge- tungsansprüchen aus beiden Gesetzbüchern betreffen, bracht zu haben, ist einzigartig . gut aufeinander abgestimmt werden . Dass dieses Thema Zündstoff enthält, bekommen wir gerade durch so man- (Beifall bei der SPD) che Briefe und Stellungnahmen übermittelt . So wird in Das ist gut für diejenigen, die auf Pflege und Zuwendung unserer Fraktion längst intensiv nach Lösungen gesucht . angewiesen sind, und diejenigen, die pflegen. Und es ist Leistungen der Pflegeversicherung und teilhabeorientier- gut für alle, denen eine würdevolle Pflege und Versor- te Leistungen der Eingliederungshilfe dürfen nicht ge- gung ein Herzensanliegen ist . Es unterstreicht, dass es geneinander ausgespielt werden . dieser Koalition mit der konsequenten Verbesserung der (Beifall bei der SPD sowie des Abg . Erwin Rahmenbedingungen in der Pflege ernst ist. Rüddel [CDU/CSU]) (Beifall bei der SPD) Denn erklärtes Ziel des Bundesteilhabegesetzes ist es, Umso trauriger ist es, dass wir mit dem heutigen Ge- dass es für Menschen mit Behinderungen nicht zu Leis- setz Regelungen verschärfen müssen, um schwarzen tungseinschränkungen kommen darf . Dafür werden wir Schafen im Gesundheitswesen den Boden zu entzie- als SPD uns starkmachen . Ich bin sicher, dass wir da gute hen . Was vor einigen Monaten als Abrechnungsbetrug und tragfähige Lösungen finden werden. in der Pflege durch die Medien ging, hat sich als Form (Beifall bei der SPD – Maria Klein-Schmeink organisierter Kriminalität entpuppt, an der mehrere un- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da habt ihr lautere Partner beteiligt sind: einzelne Pflegedienste, noch viel zu tun!) intensivpflegebedürftige Patienten, Familienangehörige und sogar Ärzte . Das zeigt, dass wir mit dem kürzlich in Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal auf die Kraft getretenen Gesetz zur Bekämpfung von Korruption Unkenrufe der Opposition eingehen . Mit der umfassen- 19062 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016

Heike Baehrens (A) den Reform in drei Schritten und der noch anstehenden Zweitens . Wir sollten darüber nachdenken, ob wir (C) Pflegeberufereform setzen wir Maßstäbe für die Pflege nicht vielleicht sogar ein in gleicher Weise gestaltetes in Deutschland. Wir laden alle ein, die sich in der Pflege Recht zur Prüfung durch die Träger der Sozialhilfe er- engagieren: Lasst uns gemeinsam die Zukunft der Pflege möglichen . gestalten . Drittens . Die Zulassungsvoraussetzungen für die Vielen Dank . Gründung von Pflegediensten müssen wir hier verschär- fen . Ich möchte dem schon jetzt entgegnen, dass man (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Pia hier gleich wieder sagt, das, was wir da vorhätten, sei Zimmermann [DIE LINKE]: Das wird auch schädlich für Investitionen und Innovationen . Ich kann nötig sein!) Ihnen nur eins sagen: Es ist einfach unanständig, wenn Betreiber, denen bereits einschlägige Betrugsdelikte Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: nachgewiesen wurden, einfach unter einem anderen Na- Vielen Dank . – Als letzter Redner in dieser Ausspra- men hier wieder Dienste anbieten . Das ist ein Etiketten- che hat Erich Irlstorfer von der CDU/CSU-Fraktion das schwindel, und den bekämpfen wir . Wort . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei der CDU/CSU) ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) Erich Irlstorfer (CDU/CSU): Ein weiteres Anliegen dieses Gesetzentwurfs ist es, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! die Pflegeberatung in Deutschland noch besser verfüg- Als letzter Redner in dieser Debatte muss ich feststel- bar zu machen . Frau Scharfenberg hat ausgeführt, dass len, dass sich Opposition und Koalition in vielen Din- hierbei die Kommunen unsere Spezialisten vor Ort sind; gen einig sind . Ich glaube, wir sind uns vor allem darin das sehen wir genauso . Einen Anfang machen wir mit einig, dass es in dieser Legislaturperiode viele Verbes- 60 Modellkommunen . Das Ganze wird ordentlich eva- serungen für pflegebedürftige Menschen, für ihre An- luiert, und dann sehen wir auf jeden Fall weiter . Wichtig gehörigen, aber auch für die Pflegekräfte gegeben hat. ist, dass sich die Länder in diesen Evaluierungsprozess Ich glaube auch, dass wir uns einig sind, dass wir mit einbringen, dass man diese Möglichkeiten nutzt . Wir dem Ersten Pflegestärkungsgesetz die Leistungen der werden sehen, inwieweit echte Verbesserungen bei der Pflegeversicherung deutlich ausgeweitet und noch pass- Beratung der Betroffenen eintreten. genauer gemacht haben und dass wir mit dem Zweiten Von Betroffenen sowie von verschiedenen Organisati- Pflegestärkungsgesetz, dessen Kernstück der neue Pfle- onen und Verbänden wurde ich auch auf Befürchtungen (B) gebedürftigkeitsbegriff war, gute und richtige Dinge auf aufmerksam gemacht, der heute diskutierte Gesetzent- (D) den Weg gebracht haben . Mit dem Entwurf eines Dritten wurf führe im Verbund mit dem Bundesteilhabegesetz Pflegestärkungsgesetzes, welches wir hier diskutieren, zu Nachteilen an den Schnittstellen zwischen Pflegever- führen wir den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff nun sicherung, Hilfe zur Pflege und Eingliederungshilfe. Die- auch in die Sozialhilfe ein . Damit stellen wir sicher, dass se Hinweise nehmen wir sehr ernst . Laut Gesetzentwurf künftig auch finanziell schlechtergestellte Menschen sollen die Leistungen der Pflegeversicherung im häusli- pflegerische Leistungen nach diesen verbesserten Rege- chen Bereich den Eingliederungsleistungen vorgehen, es lungen erhalten . Diese Ausweitung ist alles andere als sei denn – das ist wichtig –, bei der Leistungserbringung trivial; vielmehr stellt sie eine weitreichende sozialpoliti- steht die Erfüllung von Aufgaben der Eingliederungshil- sche Errungenschaft dar . fe im Vordergrund . Im weiteren gesetzgeberischen Ver- Wir haben schon vom Abrechnungsbetrug gespro- fahren wird zu klären sein, ob der Blick auf das Ziel der chen; ich möchte das nicht alles wiederholen . Neu in die- pflegerischen Leistung – Eingliederung oder Pflege – ein sem Gesetzentwurf ist, dass ein Recht zur systematischen ausreichendes Unterscheidungsmerkmal darstellt . Prüfung durch die Krankenkassen auch im Bereich der Entscheidend ist für mich in diesem Zusammenhang – häuslichen Krankenpflege gegeben ist. Der Medizini- das möchte ich zum Schluss noch einmal klar zum Aus- sche Dienst der Krankenkassen kann und soll auch hier druck bringen – folgender Gedanke: Wir regeln, dass die künftig regelmäßig die Qualität und die Abrechnungen betroffenen Menschen, also die Leistungsempfänger, kei- von Leistungserbringern kontrollieren . Damit stellen wir nen eigenen Abstimmungsaufwand zu betreiben haben . sicher, dass die Beitragsgelder der Versicherten dort an- Die Abstimmungen zwischen der Pflegeversicherung kommen, wo sie hingehören . Schließlich sind wir kein und den Sozialhilfeträgern werden gewissermaßen ge- Selbstbedienungsladen . räuschlos ablaufen müssen, sozusagen hinter den Kulis- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- sen, was aber nichts mit mangelnder Transparenz zu tun ordneten der SPD) hat; das möchte ich sofort in Richtung Opposition sagen . Neben der verbesserten Beratung ist es für Pflegebedürf- Für mich sind hier noch drei weitere Punkte beden- tige und ihre Angehörigen entscheidend, dass sie bei der kenswert . Beantragung keinem übermäßigen bürokratischen Mehr- aufwand ausgesetzt sind . Erstens . Das Prüfrecht darf nicht einfach dadurch unterwandert werden können, dass Betroffene dazu ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – bracht werden, die Einwilligung zur Datenweitergabe zu Mechthild Rawert [SPD]: Genau! Beratung verweigern . aus einer Hand!) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19063

Erich Irlstorfer (A) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich denke, staatlichkeit von entscheidender Bedeutung . Dabei spielt (C) mit dem Dritten Pflegestärkungsgesetz machen wir heute insbesondere eine gut ausgebildete Polizei eine wichtige vor allem einen Schritt in die richtige Richtung . Ich freue Rolle . Dies konnte ich unter anderem als Vorsitzende der mich auf konstruktive Diskussionen mit den Pflegebe- Parlamentariergruppe Östliches Afrika bei meinen diver- dürftigen, aber auch mit den Menschen mit Behinderung sen Besuchen in afrikanischen Ländern immer wieder und mit all denjenigen, die ein Interesse daran haben, feststellen . Gerade deutsche Polizisten mit ihrem rechts- dass wir Verbesserungen schaffen. staatlichen Selbstverständnis und ihren Erfahrungen in einem föderalen Staatssystem können im Rahmen von Herzlichen Dank . EU- und UNO-Einsätzen einen wichtigen Beitrag für (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) eine Entwicklung von Staaten im Sinne eines demokrati- schen und rechtsstaatlichen Gemeinwesens leisten . Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Deutschland genießt in der internationalen Zusam- Vielen Dank .– Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich men- und Aufbauarbeit ja bereits ein hohes Ansehen . schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt . Und das haben wir nicht zuletzt unseren Polizeibeamten Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf zu verdanken, die sich über ihren Kernauftrag in der in- den Drucksachen 18/9518, 18/8725 und 18/9668 an die neren Sicherheit hinaus für internationale Einsätze ent- in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- scheiden, die nicht immer ungefährlich sind . Damit das schlagen . Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der aber den gewünschten langfristigen Erfolg hat, bedarf es Fall . Dann sind die Überweisungen so beschlossen . aus meiner Sicht nicht nur einer guten Vorbereitung im Einsatzland und der uneingeschränkten Unterstützung Ich rufe den Tagesordnungspunkt 41 auf: unserer Polizeikräfte durch die dortige Regierung, son- Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, dern ebenso wichtig sind auch Ausbildungsstrukturen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und ein positives politisches Klima für die Vorbereitung in Deutschland, damit die Polizisten guten Gewissens in Deutsches Engagement beim Einsatz von Po- den Einsatz gehen können . Damit befasst sich auch der lizistinnen und Polizisten in internationalen vorliegende Antrag . Auf einige dieser Aspekte möchte Friedensmissionen stärken und ausbauen ich gern näher eingehen . Drucksache 18/9662 Grundlage eines jeden erfolgreichen Auslandseinsat- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für zes ist eine exzellente, allumfassende Ausbildung . Dabei die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . Gibt es dazu ist das polizeiliche Handwerkszeug eine Selbstverständ- (B) Widerspruch? – Das ist nicht der Fall . Dann ist das so lichkeit . Weitaus wichtiger aber dürften sprachliche und (D) beschlossen . interkulturelle Kompetenzen sein . Dabei gilt es auch, aus den Erfahrungen von anderen Ländern, vor allem aber Wenn die Kolleginnen und Kollegen sich gesetzt ha- aus den Erfahrungen, die Beamte in vergangenen Ein- ben, können wir mit der Aussprache beginnen . sätzen gemacht haben, zu lernen und darauf aufzubau- Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat en . Daher ist es begrüßenswert, wenn es zur Einrichtung Anita Schäfer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort . eines Fachgebiets für internationale Polizeimissionen an der Deutschen Hochschule der Polizei kommt . Damit (Beifall bei der CDU/CSU) wären die Auswertung von Einsatzerfahrung, Forschung und Ausbildung zentral an einem Ort vereint . Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- wie der Abg . Dr .Franziska Brantner [BÜND- ginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Antrag wird NIS 90/DIE GRÜNEN]) eine Debatte zum Abschluss gebracht, die uns schon in der vergangenen Legislaturperiode beschäftigt hat . Aus In diesem Zusammenhang wäre es sicher nicht falsch, meiner Sicht ist es erfreulich, dass sich die CDU/CSU wenn es auch zu einem Erfahrungsaustausch mit der mit der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf den ge- Bundeswehr kommen würde . Die Universitäten und meinsamen Text einigen konnte . Gerade unter dem Ein- Fachschulen der Bundeswehr wären sicher ein guter An- druck von weltweit 65 Millionen Flüchtlingen kann uns sprechpartner . allen die Entwicklung in anderen Ländern nicht egal sein, Ein weiterer wichtiger Aspekt – gerade auch aufgrund vor allem, wenn eine Vielzahl instabiler Staaten vor un- der Erfahrungen mit Auslandseinsätzen der Bundes- serer Haustür liegt . Welche Sprengkraft die Wanderungs- wehr – ist das Thema Nachsorge . Trotz noch so guter und Fluchtbewegungen haben, mussten wir in der EU in Ausbildung können Polizisten im Einsatz körperliche den vergangenen Monaten leider erleben . Und die Zahl Verwundungen und Verletzungen davontragen oder Er- der Flüchtlinge wird sicherlich in den kommenden Jah- fahrungen im Einsatzland machen, die sie nicht so ein- ren nicht weniger werden . Mauern werden die Menschen fach wegstecken können . Als Stichwort möchte ich hier nicht von der Flucht abhalten . Wir müssen in den Hei- nur posttraumatische Belastungsstörungen nennen . Als matländern ansetzen und die Fluchtursachen bekämpfen . Mitglied des Verteidigungsausschusses weiß ich, welche Meine Damen und Herren, für die friedliche und wirt- Probleme wir gerade in diesem Bereich hatten und zum schaftlich positive Entwicklung eines Landes und damit Teil noch haben . Hier gilt es anzusetzen und ähnliche Lö- für eine Bekämpfung von Fluchtursachen ist die Rechts- sungen wie bei der Bundeswehr zu finden. 19064 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016

Anita Schäfer (Saalstadt) (A) Uns allen muss klar sein: Polizisten gehen freiwillig dass Regime, die systematisch Menschenrechte verlet- (C) in den Auslandseinsatz . Und ich kann mir nicht vorstel- zen, von deutschen Polizisten künftig keine Unterstüt- len, dass wir auf Dauer Freiwillige finden, wenn es hier zung mehr zu erwarten haben . Versorgungslücken gibt . Auch in dieser Hinsicht ist der Antrag in seiner Forderung nach einer noch besseren (Beifall bei der LINKEN) Nachsorge erfreulicherweise eindeutig . Weil Sie hier von sogenannten Friedensmissionen Aber wir sollten nicht nur mögliche Probleme besei- reden, will ich eines gleich klarstellen: Es geht in dem tigen . Vielmehr sollte ein Engagement in Auslandsein- vorliegenden Antrag um die Durchsetzung außenpoliti- sätzen aktiv gefördert werden, indem man Vorteile, etwa scher Interessen Deutschlands mithilfe von Polizistinnen bei Beförderungen, erlangt; denn die Beamten nehmen ja und Polizisten . Es geht darum, Bundeswehreinsätze im damit erhebliche Belastungen in Kauf . All das sollte auch Ausland noch umfangreicher mittels Polizeieinsätze zu im Interesse der Bundesländer sein, aus deren Polizeien ergänzen . Da verlieren Sie kein Wort über Menschen- ein großer Teil dieser Beamten kommt . rechte, schon gar nicht über die Befugnisse, die der Bun- destag in diesem Zusammenhang hat . Deswegen wird die Es wäre daher gut, wenn Bund und alle Bundesländer Linke diesen Antrag ablehnen . hier im Sinne der gemeinsamen Aufgabe an einem Strang zögen . (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Sie führen im Antrag aus, eine gut ausgebildete Poli- ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ zei sei ein wichtiger Garant für Rechtsstaatlichkeit . Aber DIE GRÜNEN) das ist nur die Hälfte der Wahrheit . Immer wieder stehen Auslandseinsätze der Polizei im Dienste von Diktatoren Zwischen beiden Seiten gibt es bereits eine intensive und tragen zum Aufbau der Festung Europa bei . Ich darf Zusammenarbeit, ohne die solche komplexen und in der Sie zum Beispiel daran erinnern: Seit 2009 sind Bundes- Vorbereitung sehr aufwendigen Missionen überhaupt polizisten in Saudi-Arabien . Während der Rüstungskon- nicht durchzuführen wären . Unser gemeinsamer Antrag zern EADS ein Milliardengeschäft mit dem Aufbau von stellt nach meiner Überzeugung eine gute Grundlage für Grenzanlagen macht, bilden Bundespolizisten den dor- die weitere Verbesserung dar . tigen Grenzschutz aus . Falls Sie es nicht mitbekommen Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem nun zur haben: Saudi-Arabien ist eine feudale Diktatur, in der Abstimmung stehenden Antrag werden wir sicherlich Regimekritiker ausgepeitscht oder sogar geköpft werden . einen großen Schritt machen, um die zivile Unterstüt- Im Krieg im Jemen werfen saudische Truppen blindlings zung von fragilen Staaten durch deutsche Polizisten auf Bomben, und einem solchen Regime helfen deutsche Po- (B) ein gutes Fundament zu stellen . Ich würde es begrüßen, lizisten; sie vermitteln den dortigen Sicherheitskräften (D) wenn ihm das gesamte Haus zustimmen könnte, damit den sicheren Umgang mit dem Sturmgewehr G3 . Das ist Bund und Länder mit der Umsetzung der angedachten doch echt ein Skandal . Maßnahmen umgehend beginnen können . (Beifall bei der LINKEN) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit . Deswegen fordert die Linke, diesen schändlichen Einsatz (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem wirklich sofort zu beenden . BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg . [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsidentin : Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion Auch in Afghanistan gibt es eine Polizeimission . Fak- Die Linke . tisch leisten dort deutsche Polizisten einen Beitrag zum (Beifall bei der LINKEN) Bürgerkrieg; denn die wichtigste Aufgabe afghanischer Polizisten ist es, als Kanonenfutter im Kampf gegen die Taliban zu dienen . Ulla Jelpke (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um hier (Thorsten Frei [CDU/CSU]: Ach, so ein gleich Missverständnisse zu vermeiden: Die Linke lehnt Blödsinn! Große Unkenntnis!) internationale Polizeimissionen und bilaterale Einsätze Unsere regelmäßigen Quartalsanfragen an die Bun- nicht per se ab . desregierung zeigen, dass es häufig um Hilfe für Grenz- (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem schützer geht, insbesondere auf dem Balkan, aber auch BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Katja Keul in Nordafrika . Dort wird der Grenzschutz ausgebildet [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wahnsinn! – und technisch aufgerüstet, um Flüchtlinge an der Flucht Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) nach Europa zu hindern . Ich muss vor diesem Hinter- grund sagen, dass ich überhaupt nicht verstehe, warum – Klatschen Sie nicht zu früh .– Natürlich wollen auch die Grünen bei diesem Antrag mitmachen. Ich finde, das wir, dass im Ausland Straftaten effektiv verfolgt werden ist wirklich ein Armutszeugnis für eine Partei, die sich können, sich Polizisten menschenrechtskonform verhal- hier eigentlich immer sehr flüchtlingsfreundlich gibt. Es ten . Aber – das sage ich an alle Fraktionen, die diesen tut mir echt leid, aber das finde ich unmöglich. Antrag im Hause mitunterzeichnet haben; es waren alle außer die Linke –: Ihrem Antrag fehlt die klare Ansage, (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19065

Ulla Jelpke (A) Ich will einen weiteren Punkt ansprechen . Sie fordern, ckelt und durchgesetzt wird . Sie setzen sich außerdem (C) dass die Polizeieinsätze noch mehr zum Mittel der Au- für bessere soziale und wirtschaftliche Bedingungen ein . ßenpolitik werden, aber Sie wollen kein Mitspracherecht Liebe Frau Jelpke, wenn Sie die Berichte dieser Men- des Bundestages . schen gehört hätten, dann hätten Sie heute etwas anderes gesagt . Ich bitte Sie, den Menschen einmal zuzuhören, (Edelgard Bulmahn [SPD]: Wir fordern doch dann wüssten Sie, dass diese Menschen unter härtesten genau das Gegenteil!) Bedingungen mit ungeheurem Mut, mit ungeheurem En- Die Linke hat hierzu schon vor Jahren den Antrag ein- gagement und mit wahnsinnig viel Geduld und Beharr- gebracht, dass der Bundestag mitentscheiden soll, wenn lichkeit ihre Arbeit leisten . bewaffnete Polizisten in die Welt geschickt werden – ge- (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das bestreitet nauso wie bei Soldaten . doch gar keiner!) Es geht hier, wie gesagt, vor allen Dingen um Bür- Darunter sind eben auch viele Polizistinnen und Polizis- gerkriegsszenarien wie in Afghanistan, aber auch um ten. Ich finde, sie alle haben unsere Anerkennung und Kumpanei mit diktatorischen Regimen . Ich will an die- unseren Dank verdient . ser Stelle nebenbei die Türkei nennen, auch wenn ich das jetzt nicht weiter ausführen kann . Wenn hier in al- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem ler Stille solche Einsätze durchgewinkt werden – wie es BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ja zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Einsatz in Sie leisten nämlich eine ungeheuer wichtige Arbeit für Saudi-Arabien geschehen ist –, dann können wir da nicht die Menschen in den Krisenregionen, für den Aufbau mitmachen . und die Entwicklung einer hoffentlich dauerhaften Zivil- (Beifall der Abg . [DIE LIN- gesellschaft . KE]) (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wie in Sau- Sie sagen in Ihrem Antrag, dass Sie einmal im Jahr di-Arabien!) eine Unterrichtung wünschen . Damit fallen Sie hinter die Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe mich bei Position der Gewerkschaft der Polizei zurück, die ganz Ihrer Rede, Frau Jelpke, wirklich gefragt: Wie wollen Sie klar und zu Recht einen Parlamentsvorbehalt für solche Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit und Schutz durchsetzen, Einsätze fordert . wenn Sie keine gut ausgebildete Polizei in den betreffen- (Beifall bei der LINKEN) den Ländern haben? Zum Schluss will ich noch einmal ganz klar die For- (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: In Saudi-Arabien? (B) derungen der Linken nennen: Es müssen bei solchen Po- Wie wollen Sie denn in Saudi-Arabien Men- (D) lizeieinsätzen ein Menschenrechtsvorbehalt, ein strikter schenrechte durchsetzen?) ziviler Charakter und eine effektive Mitsprache des Bun- In Mali, in Somalia, im Südsudan oder in Teilen der destages gewährleistet sein . Das muss die Messlatte für Ukraine zeigt sich doch überall ein vergleichbares Bild: solche Polizeieinsätze sein . Nichts anderes kann in einer Die staatlichen Strukturen sind verfallen, demokratischen Gesellschaft funktionieren . (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Und woran Danke schön . liegt das?) (Beifall bei der LINKEN) unterschiedliche Gruppierungen kämpfen wirklich mit allen Mitteln der Macht um Privilegien und Besitz, Vizepräsidentin Petra Pau: Amtsmissbrauch und organisierte Kriminalität sind an Das Wort hat die Kollegin Edelgard Bulmahn für die der Tagesordnung. In diesen Ländern ist es häufig so, SPD-Fraktion . dass mächtige Clans ihre jeweiligen Regionen im wahrs- ten Sinne des Wortes ausplündern . Um die Rechte von (Beifall bei der SPD) Menschen kümmern sie sich überhaupt nicht . Das führt dazu, dass Sicherheit zu einem Privileg für ganz wenige Edelgard Bulmahn (SPD): wird; wenn sie überhaupt noch existiert . Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Es zeigt sich immer deutlicher – auch das kann man Herren! Am 1 . Juni, also vor knapp vier Monaten, fand doch nicht verkennen –, dass die vielfältigen Konflikte im Auswärtigen Amt eine wirklich großartige Veranstal- und innerstaatlichen Auseinandersetzungen sich nicht al- tung statt . Ich hätte mir gewünscht, liebe Frau Jelpke, lein mit militärischen Mitteln lösen lassen; da werden Sie dass Sie an dieser großartigen Veranstaltung teilgenom- mir wahrscheinlich zustimmen . Das geht nicht . Soldaten men hätten . Auf dieser Veranstaltung haben wir nämlich können einen Waffenstillstand erzwingen, sie können neun Menschen, Polizistinnen und Polizisten, Entwick- manchmal auch Volksgruppen schützen – das ist wich- lungshelfer und Juristen, für ihr ganz besonderes Frie- tig –, aber sie können keinen Frieden schaffen, und das densengagement ausgezeichnet und geehrt . Wir haben wissen die Soldaten selbst am besten . sie stellvertretend für 4 500 Deutsche ausgezeichnet, die sich in den Krisenregionen dieser Welt, oft unter Gefähr- Die Wiederherstellung staatlicher Strukturen, die dung ihres eigenen Lebens, einsetzen, engagieren und Schaffung von Rechtsstaatlichkeit, gutes Regieren, das dafür arbeiten, dass Konflikte beigelegt und nicht mit Ge- ist doch das, worüber wir hier reden . Die Etablierung walt ausgetragen werden, dass Rechtsstaatlichkeit entwi- von Zivilgesellschaften, der Schutz von Frauen und Kin- 19066 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016

Edelgard Bulmahn (A) dern, die Wiederherstellung von Sicherheit und die nach- ganz besonderen Art und Weise geeignet, einen wichti- (C) haltige Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen gen Beitrag zu einer inklusiven Entwicklung in diesen Lebensbedingungen, das bedarf eben vielfältiger ziviler Krisenländern zu leisten . Anstrengungen . Auch die wirksame Bekämpfung von Korruption, or- (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Sagen Sie doch ganisierter Kriminalität und Terrorismus ist zwingend einmal, wo Sie das geschafft haben! Wo haben verbunden mit Rechtsstaatlichkeit, mit der Schaffung Sie das geschafft?) und Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit und damit einer Dazu gehört die Polizei, aber das wird sie nicht alleine gut arbeitenden Polizei und Justiz . Die Nachfrage nach leisten können . Deshalb unterstützen wir auch andere Spezialisten – das erleben wir in Gesprächen immer wie- Gruppierungen . der –, zum Beispiel nach Forensikern oder Spezialisten für Datensicherheit oder für die Bekämpfung von organi- (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Auch Dikta- sierter Kriminalität und Korruption, ist gerade in diesen toren! Das ist das Problem!) Ländern ganz besonders groß, und sie wird wahrschein- Der Polizei, und zwar einer funktionierenden, dem lich auch nicht abnehmen . Gesetz und dem Rechtsstaat verpflichteten Polizei und Wenn einige immer noch fragen – das könnte ja nicht einer einzelnen Machthabern verpflichteten Polizei, sein –: „Warum entsenden wir deutsche Polizei in diese kommt eine ganz wichtige Bedeutung zu . Die Menschen Länder?“, dann sage ich, dass organisierte Kriminalität, können nämlich nur solchen Polizeiorganen wieder ver- Waffen- und Drogenschmuggel und Menschenhandel in- trauen, und das tun sie . Nur so ist es möglich, Korrupti- zwischen nicht mehr auf einen Staat begrenzt sind . Die on und organisierte Kriminalität effektiv zu bekämpfen. Gruppen, die das tun, sind international vernetzt, und wir Dem kommt eine Schlüsselrolle zu . Es geht also nicht können sie nur international bekämpfen . Mit diesen Ein- darum, dass Polizei militärische Aufgaben übernimmt – sätzen helfen wir diesen Ländern; wir helfen auch uns das kann sie nicht, das soll sie auch nicht –, sondern es selbst – das stimmt –, aber wir helfen vor allem diesen geht darum, Sicherheit in einem umfassenden Sinne für Ländern . die Zivilbevölkerung zu schaffen und Rechtsstaatlichkeit herzustellen . (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Ausbildung am GRÜNEN) Sturmgewehr 3?) Kurz gesagt: Die Männer und Frauen, die wir gemein- Sie haben in der Debatte das Beispiel Saudi-Arabi- sam am 1 .Juni 2016 geehrt haben, leisten wirklich etwas en gebracht . Ich bitte Sie, unseren vorliegenden Antrag (B) Großartiges . Aber ich glaube, wir sind uns alle einig, dass (D) einmal zu lesen . Hätten Sie es getan, dann wüssten Sie, es nicht ausreicht, die Polizistinnen und Polizisten einmal dass wir vorschlagen, dass wir uns in Zukunft jährlich im Jahr für ihre Leistungen auszuzeichnen und deutlich umfassend über die Art der Einsätze berichten lassen und zu machen, was hier geschafft wird, sondern es kommt dass wir darüber hier an prominenter Stelle im Deutschen darauf an, dass wir die Rahmenbedingungen und Voraus- Bundestag diskutieren. Ich finde, genau das ist überfällig. setzungen für diese so wichtigen Einsätze noch weiter (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: „Berichten las- verbessern . Ich bin deshalb sehr froh – ich möchte mich sen“! Sie haben doch Beispiele genug!) an dieser Stelle bei den Kolleginnen und Kollegen aus dem Innenausschuss und dem Auswärtigen Ausschuss Wenn Sie das wollen, dann müssen Sie den Antrag unter- ausdrücklich bedanken –, dass wir gemeinsam einen An- stützen, Frau Jelpke, und hier nicht so destruktiv einfach trag erarbeitet haben, der genau das zum Ziel hat . Nein sagen . Dann müssen Sie ihn unterstützen und sa- gen: Ja, genau diese Diskussion wollen wir im Bundestag Ich will nicht alle Punkte dieses Antrags ansprechen, führen . – Genau das wollen wir . weil schon einige angesprochen worden sind . Einen Punkt, der mir ganz besonders wichtig zu sein scheint, (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und will ich aber hervorheben: In einem Land wie unserem, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jörn in einem föderalen Staat, gibt es einerseits eine klare Zu- Wunderlich [DIE LINKE]: Sie wollen sich ständigkeit des Bundes für Außenpolitik, internationale berichten lassen!) Organisationen und zwischenstaatliche Vereinbarungen Die deutsche Polizei – Frau Schäfer hat das vorhin und andererseits eine klare Zuständigkeit der Länder für gesagt – genießt international ein großes Ansehen . Das die Polizei, bis auf die Bundespolizei . Hieraus ergeben hat Gründe: Die Polizistinnen und Polizisten – das erle- sich für die Entsendung deutscher Polizeikräfte, weil ben wir immer wieder, wenn wir vor Ort sind – sind her- ein großer Teil von der Landespolizei entsendet werden vorragend ausgebildet und bestens vorbereitet . Das sind muss und soll – auch in Zukunft –, einige strukturelle Stärken, die in den Ländern, in die wir Polizistinnen und Hürden im Dienstrecht . Sie haben auf das Versorgungs- Polizisten entsenden, außerordentlich geschätzt werden . recht hingewiesen, auf die Nachsorge . Da haben wir ein Darüber hinaus ist die deutsche Polizei – das habe ich Problem . Deshalb sagen wir: Da wollen wir Angleichun- vorhin schon gesagt; ich glaube, das ist ein ganz wichti- gen . Wir wollen nicht zwei unterschiedliche Stufen ha- ger Punkt – aufgrund ihres Selbstverständnisses und ihrer ben . Wir wollen ein vergleichbares Recht herstellen, vor gesellschaftlichen Einbindung – sie versteht sich nämlich allem auch hinsichtlich der Finanzierung . Solange der als Vertreter eines demokratischen Rechtsstaats und be- vermehrte Einsatz von Polizistinnen und Polizisten im greift sich nicht als Durchsetzer von Gewalt – in einer Ausland angesichts einer unzureichenden Personalaus- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19067

Edelgard Bulmahn (A) stattung im Inland, also in den Ländern selbst, mit einer der Polizei schaffen, mit der entsprechenden personellen (C) großen zusätzlichen Belastung für die Kolleginnen und Unterstützung, damit die Wissens- und Kompetenzsi- Kollegen vor Ort verbunden ist, wird es keine zufrie- cherung auch wirklich dauerhaft stattfindet. Das ist ein denstellenden Lösungen geben . Deshalb sagen wir: Der großer Wunsch der Polizistinnen und Polizisten, und ich Bund muss bei dem Auslandseinsatz deutscher Polizei- finde, da sind wir in der Pflicht. Das werden wir machen, kräfte eine deutlich größere Verantwortung übernehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen . auch eine finanzielle Verantwortung, wenn wir unseren (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten internationalen Verpflichtungen besser gerecht werden der CDU/CSU) wollen . Wir werden bei den Haushaltsberatungen einen ent- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem sprechenden Antrag einbringen – das ist ein erster wichti- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ger Schritt –, und dann geht es in die Verhandlungen über Wir schlagen deshalb eine umfassende Bund-Län- die Bund-Länder-Arbeitsgruppe . der-Vereinbarung vor, mit der die notwendigen dauer- haften finanziellen Voraussetzungen erfüllt und die- or Vizepräsidentin Petra Pau: ganisatorischen Strukturen geschaffen werden. In dieser Frau Kollegin . Vereinbarung soll neben der Bereitstellung ausreichen- der finanzieller Mittel auch die Schaffung eines neuen Finanzierungsmodells mit einem vom Bund finanzierten Edelgard Bulmahn (SPD): virtuellen Personalpool – Planstellen aufseiten der Lan- Ich komme zum Schluss . – Liebe Kolleginnen und despolizei – geregelt werden . Wir wollen außerdem ge- Kollegen, wir können so gemeinsam dazu beitragen, den meinsame Entwicklungsformate und Inhalte erarbeiten berechtigten Wünschen und Anliegen der Polizistinnen und entsprechende Änderungen im Dienstrecht zur Ge- und Polizisten endlich gerecht zu werden . Ich weiß, dass währleistung der Vergleichbarkeit, die Sie angesprochen der Staatssekretär im Innenministerium und das Innen- haben, vornehmen . ministerium da gute Verbündete sind . Das werden wir gemeinsam machen . Ich glaube, dass wir damit auch den Ich will einmal auf das Beispiel Schweden verweisen . Ansprüchen, die wir an uns selbst haben, den Ansprü- Schweden entsendet 1 Prozent seiner Polizistinnen und chen des Parlaments, wirklich ein ganzes Stück besser Polizisten ins Ausland, nicht jedes Jahr; Schweden hält gerecht werden, und darauf kommt es an . Das wollen wir . einen solchen Pool vor . Auf Deutschland übertragen hie- Wir wollen es wirklich besser machen . ße das: 3 000 Polizistinnen und Polizisten . Die Kosten für diesen Einsatz sollte unserer Auffassung nach -ent Ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre Aufmerksam- (B) sprechend seiner Zuständigkeit – für die Außenpolitik ist keit . (D) der Bund zuständig – künftig der Bund übernehmen . Die (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Kostenübernahme darf sich nicht allein auf die sogenann- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ten Mehrkosten für den Auslandseinsatz beziehen – das ist nämlich das Hauptproblem –, sondern sie muss sich

auf die Vorhaltung dieses Personalpools insgesamt bezie- Vizepräsidentin Petra Pau: hen . Nur so kommen wir endlich aus dem Zwiespalt, aus Das Wort hat die Kollegin Dr . Franziska Brantner für der Zwickmühle heraus, die ich eben beschrieben habe . die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen .

Deshalb ist es ein ganz wichtiger Schritt, den wir hier Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- machen wollen . Wir wollen durch eine Vereinbarung ge- NEN): nau das erreichen . Wir wollen sicherstellen, dass wir gut qualifizierte, gut versorgte Polizistinnen und Polizisten Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen auf Länderebene in ausreichender Zahl haben, damit wir und Herren! Ich möchte an dieser Stelle Frau Almut das Ziel, das wir uns selbst gesetzt haben – wir wollen Wieland-Karimi begrüßen – Sie alle kennen sie –, die nämlich bis zu 910 Polizistinnen und Polizisten, round­ Vorsitzende des ZIF, des Zentrums für Internationa- about 1 000, zur Verfügung stellen –, erreichen . Wenn le Friedenseinsätze, die in diesem Bereich sehr viel für man Vorsorge und Nachsorge dazunimmt, dann ist man Deutschland leistet . Schön, dass Sie heute bei uns sind! ungefähr bei einem Personalpool von 3 000 Stellen . Das (Beifall) ist also keine fiktive Größe, sondern eine sehr realitäts- nahe Größe . Wir haben es schon gehört: Warum diskutieren wir dieses Thema heute? Uns geht es dabei um Frieden . Wir Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen darü- wollen in den Ländern der Welt, in denen es leider häufig ber hinaus sicherstellen – das ist ein zweiter wichtiger nicht friedlich zugeht, einen Beitrag dazu leisten, dass Vorschlag; ich möchte ihn nur kurz anreißen –, dass die ein staatliches Gewaltmonopol wieder aufgebaut werden Erfahrungen, das Wissen, die Kompetenzen, die die Po- kann . Das ist die Forderung, die wir damit inhaltlich hin- lizistinnen und Polizisten bei ihren Auslandseinsätzen terlegen . Es geht uns nicht darum, an sich mehr Polizis- gewinnen, nicht verloren gehen, sondern systematisch tinnen und Polizisten ins Ausland zu schicken . Aber: Es ausgewertet werden, systematisch gesichert werden und gibt keine funktionierende Staatlichkeit ohne ein Gewalt- systematisch auch für die Weiterentwicklung der Kon- monopol . Wir wollen nicht, dass dieses nur militärisch zepte genutzt werden . Deshalb wollen wir – auch da gesichert wird, sondern wir wollen, dass es zivil, durch sind wir uns einig – ein Fachgebiet bei der Hochschule Polizistinnen und Polizisten, gesichert wird . Dafür brau- 19068 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016

Dr. Franziska Brantner (A) chen wir funktionierende Polizeistrukturen in den Län- gehört . Dabei geht es um die rechtliche Absicherung, (C) dern, die vom Zerfall bedroht sind oder in denen nach ei- finanzielle Fragen, Wissenstransfer und ‑sicherung und nem Konflikt mit großen Schwierigkeiten versucht wird, eine stärkere Einbindung im Parlament . Frau Jelpke, Si- wieder eine Staatlichkeit aufzubauen . Das ist das Ziel . cherheitsbedenken und Menschenrechte – die Sorge tei- Dazu wollen wir unseren Beitrag leisten . len wir doch alle . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Lachen der Abg . Ulla Jelpke [DIE LINKE] – und bei der SPD) Zuruf von der LINKEN: Warum steht das dann nicht im Antrag drin?) Die Vereinten Nationen sind da momentan der größte Akteur . 13 200 Polizistinnen und Polizisten sind weltweit Es ist aber auch ein schwieriges Umfeld, in dem diese im Einsatz der Vereinten Nationen unterwegs . Deutsch- Polizistinnen und Polizisten unterwegs sind . land stellt von diesen 13 200 genau 24 . 24 Polizistinnen Klar ist: Wir müssen Einsätze in Zukunft auch ab- und Polizisten – für ein großes und reiches Land wie brechen . Das ist gar nicht die Frage . Es wird Einsätze Deutschland ist das blamabel . Anders kann man das nicht geben, und es gibt schon heute Einsätze, bei denen wir nennen . sagen: Da müssen wir aufhören . Dort ist es nicht mehr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der richtige Weg . Dort unterstützen wir nicht Frieden und sowie bei Abgeordneten der SPD) Rechtsstaatlichkeit, sondern Akteure, die den Menschen- rechten zuwiderhandeln . Ja, wir werden Einsätze abbre- Wir waren zusammen mit dem Unterausschuss bei chen müssen . Aber das ist doch kein Argument dagegen, den Vereinten Nationen in New York . Dort wurde uns strukturelle Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wir stark und eindeutig signalisiert, wie sehr deutsche Po- Polizistinnen und Polizisten in gute Einsätze entsenden lizistinnen und Polizisten geschätzt sind, auch weil wir können . Das kann doch kein Argument dagegen sein . einen besonderen Ansatz haben und vor Ort häufig prä- ventiv arbeiten . Unsere Polizisten gehen auch anders mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Demonstrationen um . Das unterscheidet sich manchmal sowie bei Abgeordneten der SPD) vom Vorgehen der Polizisten aus anderen Ländern . Da Falsche Einsätze können doch kein Argument gegen gute haben wir eine wichtige Rolle; darin sind wir uns alle Einsätze sein . einig . Deswegen ist es gut, dass wir heute diesen Antrag gemeinsam stellen . (Ulla Jelpke [DIE LINKE] . Klare Kriterien: Keine Polizeieinsätze im Ausland!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Das ist das, worum es uns geht . Wir sagen jetzt nicht, (B) der SPD – Zuruf der Abg . Ulla Jelpke [DIE dass wir alle schlechten Einsätze mittragen . (D) LINKE]) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Es ist gut, dass wir gemeinsame Antreiber sind, aber noch einmal: Wir alle wissen, dass eine gute Polizei auch eigentlich auch traurig, dass wir überhaupt Antreiber eine gute Justiz braucht, dass wir ein gutes Umfeld brau- sein müssen . Ich zitiere aus dem Koalitionsvertrag vom chen, in dem die Polizei agieren kann . Deswegen hatten November 2013 – dort finden sich lesenswerte Passagen wir noch einen Antrag gestellt, der diesen Bereich behan- über die Vereinten Nationen –: delt . Schade, dass er nicht aufgesetzt wurde . Vielleicht können wir bei anderer Gelegenheit trotzdem über diesen Wir wollen die rechtlichen, organisatorischen und Antrag diskutieren; denn wir wissen, dass es zusammen- finanziellen Voraussetzungen für den Einsatz von gehört . Hier geht es jetzt um einen Teil; andere gehören Polizistinnen und Polizisten in Friedensmissionen dazu . verbessern . Hierzu wird die Bundesregierung in der nächsten Legislaturperiode mit den Bundesländern (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) eine umfassende Bund-Länder-Vereinbarung ver- Wir alle wissen auch, dass das, was wir hier fordern, handeln, die der gemeinsamen Verantwortung ge- nicht für umme zu haben ist . Das kostet Geld . Wenn wir recht wird . 1 Prozent zum Ziel haben, wenn wir einen Lehrstuhl an Jetzt haben wir das Jahr 2016, es ist nicht mehr ganz der Hochschule der Polizei zum Ziel haben, dann kostet ein Jahr bis zur Wahl, und wir haben immer noch keine das Geld . Ich würde mich sehr freuen, wenn wir es in Bund-Länder-Vereinbarung . Da fragen wir uns schon: dem Haushaltsverfahren, das gerade läuft, gemeinsam Warum kommt das nicht? Die Frage richtet sich auch an schaffen, diese Forderungen nicht auf dem Papier zu be- Sie, Herr Schröder . Woran hängt es denn? Wir glauben, lassen, sondern umzusetzen und Geld für den Lehrstuhl, dass dort dringend Handlungsbedarf besteht . Kommen für das 1 Prozent zur Verfügung zu stellen . Dann haben Sie Ihren eigenen Zusagen endlich nach! Machen Sie wir wirklich etwas erreicht . Das ist der Schritt, den wir das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition! noch gehen können . Dabei brauchen wir nicht auf Sie zu Wir brauchen das . Deutschland leistet bis jetzt einfach warten . Das ist in unserer Verantwortung . Lassen Sie uns zu wenig . diesen Schritt gemeinsam gehen . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich danke Ihnen . sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN In dem Antrag werden richtige Forderungen zur struk- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und turellen Verbesserung gestellt; wir haben es gerade schon der SPD) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19069

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: sondern muss auch die konkreten Schlussfolgerungen (C) Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär berücksichtigen . Dr . Ole Schröder . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU) der LINKEN) Ich jedenfalls bedanke mich bei allen Polizeibeamtin- Dr. Ole Schröder, Parl . Staatssekretär beim Bundes- nen und Polizeibeamten für das großartige Engagement, minister des Innern: das sie in vielen Staaten zeigen . Wir wissen, was das für jeden Einzelnen bedeutet . Wir wissen, dass die Akzep- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und tanz der örtlichen Polizeidienststellen nicht immer so ist, Herren! Ich freue mich zunächst, dass der Unterausschuss wie wir sie uns vorstellen . Wir wissen, was das auch für für Zivile Krisenprävention einen fraktionsübergreifen- das gesamte Umfeld und die Familien bedeutet . Vielen den Beschlussantrag zum Einsatz von Polizeibeamtinnen Dank für diesen Einsatz! und Polizeibeamten in internationalen Friedensmissio- nen vorgelegt hat . Die zehn Punkte des Antrags greifen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) wichtige Themen auf . Deren Umsetzung wird unser Po- lizeiengagement in mandatierten Friedensmissionen und Unsere Polizeibeamten tragen dazu bei, dass die Si- bilateralen Polizeimissionen stärken . cherheitslage in den Regionen, die von Konflikten, Krisen und Chaos geprägt sind, stabilisiert wird . Damit Gerade angesichts der aktuellen Migrationslage ge- sorgen sie nicht nur für Sicherheit und Ordnung in den winnt der Antrag eine besondere Aktualität . Polizeimis- Regionen, sondern mittelbar auch für Sicherheit hier in sionen leisten in den Krisenregionen einen Beitrag zur Deutschland . Ein Blick auf die Krisenherde der Welt Bekämpfung von Fluchtursachen . Polizeiprojekte in Kri- zeigt, dass wir künftig noch mehr Friedensmissionen und senstaaten legen die Basis für den Aufbau von Sicher- bilaterale Polizeiprojekte brauchen . Wir müssen aber heitsstrukturen; dort werden rechtsstaatliche Strukturen auch Rücksicht darauf nehmen, dass wir begrenzte Res- aufgebaut . Sicherheit ist eben auch die Voraussetzung da- sourcen haben und zurzeit über eine zivile Polizei ver- für, dass sich überhaupt wirtschaftliche Prosperität entwi- fügen, die dann natürlich auch die Ausrüstung hat, die ckeln kann. Sicherheit eröffnet den Menschen somit eine gesetzlich vorgegeben ist . Bleibeperspektive, und damit werden auch die Fluchtur- sachen bekämpft . Ich bekenne mich an dieser Stelle ein- Wir müssen uns daher auf Schwerpunkte konzentrie- deutig zu einem größeren Engagement Deutschlands in ren . Im Vordergrund stehen für uns solche Gebiete, in internationalen Polizeieinsätzen . denen die Ursachen von Flucht, Vertreibung und Migra- (B) tion bekämpft werden können . Zwei Regionen genießen (D) Wir haben zurzeit – da möchte ich auf das eingehen, dabei unsere besondere Aufmerksamkeit . was Frau Brantner eben gesagt hat – 148 Beamtinnen und Beamte im Einsatz, also nicht nur 22 . Zum Ersten geht es um Nordafrika und die Sahelzone . Wir haben unsere Beteiligung an der Mission der Ver- (Dr . Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE einten Nationen in Mali bereits deutlich ausgebaut . Wir GRÜNEN]: Bei den Vereinten Nationen!) würden sie noch weiter ausbauen . Die Anforderungen, insbesondere an die Sprachkenntnisse, sind allerdings Es gibt zwischen Bund und Ländern vereinbarte Leitli- sehr, sehr hoch . Wir setzen uns dafür ein, dass sie realis- nien; das ist also geübte Praxis . Aber natürlich kann man tischer ausgelegt werden, insbesondere was die französi- sich auch über konkrete Vereinbarungen unterhalten . Ich schen Sprachkenntnisse angeht . sage nur eines: Das wird an der geübten Praxis nicht viel ändern . Wichtig ist, dass auch die Länder bereit sind, sol- Wir stellen uns auch darauf ein, Polizisten nach Libyen che Vereinbarungen einzugehen . An uns soll es jedenfalls zu entsenden, sobald die Sicherheitslage es zulässt . Die nicht scheitern . Vorbereitungen laufen bereits, und wir engagieren uns im Rahmen der Vorbereitungen . Wir legen großen Wert da- Wenn jetzt allerdings mehr Engagement gefordert rauf, dass ein Kernauftrag dieser Mission die Stärkung wird, dann müssen wir natürlich auch berücksichtigen, des libyschen Grenz- und Küstenschutzes wird, damit die dass wir eine zivile Polizei haben Tragödie auf dem Mittelmeer auch von dieser Seite her beendet werden kann, meine Damen und Herren . (Beifall der Abg . Ulla Jelpke [DIE LINKE] – Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Da kann ich aus- Zum Zweiten kommt nach wie vor Afghanistan eine nahmsweise mal klatschen!) besondere Bedeutung zu . Das bilaterale Polizeiprojekt in Afghanistan haben wir noch stärker auf die Bekämpfung und eben keine Gendarmerie oder sonstige robuste Ein- der Schleuserkriminalität und auf die Bekämpfung der heiten . Wenn die Grünen jetzt wild entschlossen sind und illegalen Migration ausgelegt . sagen: „Wir wollen viel mehr“, dann ist das eine Ansage . Dann müssen wir uns natürlich auch über die Ausrüstung Unsere Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten leis- der Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten Gedanken ten – darauf möchte ich zum Schluss eingehen – auch machen: Brauchen wir nicht robustere Einheiten, was einen wichtigen Beitrag in Europa . In der Ukraine sind bedeutet das für die Abgrenzung von Militär und Polizei wir an zwei Missionen der EU und an einer der OSZE in den Krisenregionen, und was kann unsere zivile Poli- beteiligt . Durch die Teilnahme an diesen Missionen tra- zei überhaupt leisten? Man darf also nicht nur fordern, gen wir dazu bei, dass sich die Situation in der Ukraine 19070 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016

Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder (A) stabilisiert und die Polizeibehörden bei ihren Reformen Es geht eben nicht nur um Geld – da sind wir schon (C) unterstützt werden . Das ist dringend erforderlich . sehr gut –, sondern es geht auch darum – das ist von Vorrednern einige Male erwähnt worden –, das spezielle Ich bin davon überzeugt, dass der gestellte Antrag uns Know-how und die speziellen Kenntnisse deutscher Poli- bei unseren Bemühungen unterstützen wird, und bedanke zistinnen und Polizisten mit den spezifischen Qualitäten, mich für die konstruktive Begleitung aus dem parlamen- die sie haben, zum Einsatz zu bringen . Wenn ich mir ein- tarischen Raum . Die Linke ist hier natürlich ausgenom- mal anschaue, was internationale Polizeimissionen bei men . den Vereinten Nationen heute leisten, dann, glaube ich, (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) tut dies auch wirklich not . Das, was wir von ihr erleben, ist eher destruktiv, aber ich Wie sieht es derzeit aus? Es gibt einen deutlichen Auf- denke, das sind wir auch sonst nicht anders gewohnt . wuchs an Polizisten in solchen Missionen . 1995 waren es noch 5 800, heute sind es mehr als 16 000 . Was sind Insofern freue ich mich auf die gemeinsamen Bera- das für Polizisten, und wo kommen sie her? Sie kommen tungen . aus Ruanda, Indien, Jordanien, Nepal, Burkina Faso . Das (Beifall bei der CDU/CSU) sind die Länder, die die meisten Polizisten stellen . Sie kommen überwiegend – zu mehr als der Hälfte – aus ge- schlossenen Verbänden . Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Thorsten Frei für die CDU/ Das ist im Zweifel aber nicht das, was die Vereinten CSU-Fraktion . Nationen brauchen, und das ist auch nicht das, was wir für internationale Polizeieinsätze brauchen . Wir brau- (Beifall bei der CDU/CSU) chen Spezialisten und spezielle Kenntnisse im Bereich der Beweissicherung, bei der Bekämpfung von Sexual- Thorsten Frei (CDU/CSU): straftaten und im Bereich der organisierten Kriminalität . Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Solche Kompetenzen werden verlangt, und die können Ich möchte am Ende der Debatte noch einmal zusam- und die sollten wir liefern . Das ist mehr wert als Geld . menfassend sagen, dass es aus meiner Sicht überhaupt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- nichts Verwerfliches ist, wenn wir mit der Entsendung ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ deutscher Polizisten in internationale Friedensmissionen DIE GRÜNEN) natürlich auch unsere eigenen Interessen vertreten . Es ist bereits angesprochen worden, dass wir eine Be- Es ist angesprochen worden: Es geht darum, dem schlusslage haben: Im Europäischen Rat haben wir im (B) internationalen, auch islamistischen, Terrorismus, den (D) Jahr 2000 in Santa Maria da Feira gemeinsam vereinbart, Nährboden zu entziehen und Fluchtursachen zu bekämp- EU-weit 5 000 und aus Deutschland 910 Polizisten be- fen . Natürlich ist es richtig, dass eine so internationali- reitzustellen . Das muss die Richtgröße sein, an der wir sierte Gesellschaft und Volkswirtschaft wie unsere, die uns orientieren . Wenn man sich den Entwurf des Bundes- mehr als die Hälfte ihres Wohlstandes außerhalb unseres haushalts für das kommende Jahr anschaut, kann man se- Landes erwirtschaftet, in besonderer Weise davon profi- hen, dass im Bereich des Innenministeriums zusätzliche tiert, wenn wir es schaffen, mehr Frieden, mehr Sicher- Mittel für den Einsatz von Bundespolizisten außerhalb heit und mehr Stabilität zu erreichen . Deutschlands bereitgestellt sind . Wir haben hier einen Der nächste Punkt, den ich ansprechen möchte: Wir Mittelaufwuchs . stehen hier in der Tat nicht an einem Nullpunkt, sondern wir haben in der Vergangenheit schon messbare Erfolge Und auch wenn es zwischen Bund und Ländern ver- verzeichnen können . 1989 wurden deutsche Polizisten einbarte Leitlinien gibt, ist klar, dass ein Großteil der das erste Mal in einer internationalen Friedensmission Kompetenzen, von denen ich gesprochen habe, nicht eingesetzt, nämlich in Namibia . In der Zwischenzeit ist zwingend bei der Bundespolizei vorhanden ist, sondern unheimlich viel passiert . Ein Meilenstein war hier mit Si- in besonderem Maße bei den Länderpolizeien . Deswe- cherheit auch der Aktionsplan „Zivile Krisenprävention“ gen brauchen wir eine noch bessere Auflösung des Ziel- aus dem Jahr 2004, aus dem das Zentrum für Interna- konfliktes, dass einerseits der Bund für die außenpoliti- tionale Friedenseinsätze und auch die Bundesakademie schen Belange zuständig ist, andererseits die Kompetenz für Sicherheitspolitik hervorgegangen sind . Das waren der Polizeien, die in solchen Einsätzen erforderlich ist, Meilensteine . Wir sind vorwärtsgekommen und haben bei den Ländern in sehr viel größerem Maße vorhanden messbare, nachvollziehbare Erfolge erzielen können . ist . Dafür brauchen wir vernünftige Regelungen . Es ist Heute sind wir der viertgrößte Geber für internationale zu wenig, wenn wir nur auf die Enthusiasten setzen, die Friedensmissionen der Vereinten Nationen . in solche Einsätze gehen . Wir brauchen mehr Struktur; wir brauchen mehr Unterstützung; wir brauchen mehr Trotzdem ist es richtig, dass wir noch nicht an dem rechtliche Rahmenbedingungen, die den Erfordernis- Punkt angekommen sind, an dem wir sein könnten und sen gerecht werden . Dann bin ich überzeugt, dass wir auch sein sollten . Deswegen ist richtig, diese Debatte mit es schaffen können und einen effektiven Beitrag zu zi- dem vom Auswärtigen Amt initiierten Leitlinienprozess viler Krisenprävention leisten können . Polizei, Richter, und auch diesem interfraktionellen Antrag fortzusetzen, Staatsanwälte als Rückgrat rechtsstaatlicher Verhältnisse den wir heute hier beraten und hoffentlich auch beschlie- helfen mit, dass wir Konflikte beilegen können, dass wir ßen werden . gescheiterte Staaten wiederaufbauen können, und vor al- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19071

Thorsten Frei (A) len Dingen, dass die Menschen Vertrauen zu ihren Staa- Wir als Abgeordnete können das tun, andere nicht, (C) ten und ihren Regierungen bekommen können: Das ist weil sie sehr starre Arbeitszeitverhältnisse haben, die die beste Vorsorge, um Fluchtursachen an der Wurzel zu teilweise ganz anders aussehen . Aber genau über diese bekämpfen . müssen wir reden . Herzlichen Dank . (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Wir haben in der Bundesrepublik eine Entwicklung, ordneten der SPD) die nicht in Ordnung ist . Wir haben die Bundesregierung gefragt, wie sich Arbeitszeiten entwickeln . Sie werden immer länger . 1,7 Millionen arbeiten inzwischen regel- Vizepräsidentin Petra Pau: mäßig über 48 Stunden in der Woche . Diese Zahl hat Ich schließe die Aussprache . dramatisch zugenommen . Das Institut für Arbeitsmarkt- Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der und Berufsforschung hat ausgerechnet, dass 1,8 Milliar- Fraktionen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die den Überstunden pro Jahr geleistet werden – im Übrigen Grünen auf Drucksache 18/9662 mit dem Titel „Deut- würde das mehreren Hunderttausend Beschäftigten ent- sches Engagement beim Einsatz von Polizistinnen und sprechen –, von denen aber nur etwas mehr als die Hälfte Polizisten in internationalen Friedensmissionen stärken bezahlt wurden . und ausbauen“ . Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer Immer mehr Beschäftigte müssen nachts arbeiten . 1995 stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit waren noch 2,4 Millionen Beschäftigte nachts tätig, 2015 den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion waren es 3,3 Millionen . und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stim- men der Fraktion Die Linke angenommen . Meine Damen und Herren, ich erinnere mich an eine Betriebsversammlung bei einem größeren Automobil- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des konzern . Dabei ging es um die Durchsetzung von Nacht- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) arbeit . Die Beschäftigten haben sich dagegen gewehrt . Ich rufe den Tagesordnungspunkt 42 auf: Einer von den Kollegen ging aus der Betriebsversamm- lung raus und sagte: Wenn der Herrgott gewollt hätte, Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta dass wir nachts arbeiten, dann hätte er uns mit den Augen Krellmann, Klaus Ernst, Herbert Behrens, wei- auch Glühbirnen in den Kopf gegeben, damit wir etwas terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE sehen können . Wochenhöchstarbeitszeit begrenzen und Ar- (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN) (B) beitsstress reduzieren (D) Da ist was dran, liebe Kolleginnen und Kollegen . Drucksache 18/8724 Wir wissen alle: Nachtarbeit ist gesundheitsschäd- Überweisungsvorschlag: lich, und zwar extrem . Immer mehr Beschäftigte arbei- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie ten regelmäßig am Wochenende: 8,8 Millionen 2015, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Tendenz steigend . Was auch zunimmt, ist die Sonn- und Ausschuss für Gesundheit Feiertagsarbeit . Das ist deshalb bemerkenswert, weil wir im Grundgesetz die Sonn- und Feiertage als Tage der Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Arbeitsruhe besonders geschützt haben: Sonn- und Fei- die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei- ertagsarbeit ist eigentlich ausgeschlossen . Trotzdem hat nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen . sich die Zahl derer, die regelmäßig sonntags und feier- (Unruhe) tags arbeiten, drastisch erhöht . 1995 waren es 2,9 Milli- onen, 2015 knapp 5 Millionen Menschen; ein Zuwachs – Wenn alle Kolleginnen und Kollegen, die jetzt noch von mehr als 70 Prozent . herbeigeeilt sind, ein Plätzchen gefunden haben, können wir die Debatte eröffnen. Inzwischen, meine Damen und Herren, liebe Kolle- ginnen und Kollegen, arbeitet jeder Sechste in Schichten . Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Ich möchte darauf hinweisen, was das insbesondere in Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke . Familien bedeutet, in denen beide Partner in Schichten (Beifall bei der LINKEN) arbeiten . Da spielt sich das Familienleben oft auf Zet- teln ab . Wenn man sich die Betreuung der Kinder einteilt, versucht man, dafür zu sorgen, dass einer der Partner zu Klaus Ernst (DIE LINKE): Hause ist, während der andere arbeitet . Da läuft das Fa- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und milienleben oft so ab, dass der Mann auf einen Zettel Herren! Es geht um Arbeitszeiten, um Flexibilisierung schreibt: Ich komme heute später . – Wenn er dann nach der Arbeitszeiten, auch um weniger Stress durch ver- Hause kommt, findet er einen Zettel seiner Partnerin vor, nünftige Arbeit . Wenn ich mich hier so umschaue, sehe auf dem steht: Ich habe es gelesen . – Wir müssen also ich: Es haben sich einige Kolleginnen und Kollegen si- aufpassen, was in unserem Land passiert . cher auch schon ins Wochenende verabschiedet . Viele Hunderte von Studien belegen: Arbeitszeiten ( [CDU/CSU]: In die Arbeit dieser Art machen krank . Wir haben es mit einer Zu- verabschiedet!) nahme von psychischen Erkrankungen durch Arbeit 19072 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016

Klaus Ernst (A) zu tun. Schichtarbeiter zum Beispiel sind häufiger von schaft . Nur ein kleiner Hinweis . Betriebsräte haben Kün- (C) Herz-Kreislauf-Erkrankungen betroffen; das alles wissen digungsschutz und können sich gegen ihren Arbeitgeber Sie . leichter wehren als der Einzelne ohne Kündigungsschutz . Auf jeder Zigarettenschachtel stand früher: Rauchen (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) gefährdet Ihre Gesundheit .– Inzwischen ist diese Formu- lierung schärfer geworden . Eigentlich müsste auf man- Dem Einzelnen drohen oft Nachteile, wenn er versucht, chem Arbeitsvertrag stehen: Diese Arbeit gefährdet Ihre seine von ihm gewollte Flexibilität durchzusetzen . Gesundheit . Als Parlamentarier haben wir die Pflicht, uns schüt- (Beifall bei der LINKEN) zend vor die Beschäftigten zu stellen und dem Trend, dass Arbeit zunehmend krankmacht, entgegenzuwirken . Wir wissen das. Aber wir haben momentan offen- Wir könnten damit anfangen. Ich hoffe, dass unsere De- sichtlich Hemmungen, das zu ändern . Wir erleben auf batte dazu führt, dass diese Themen tatsächlich parla- der anderen Seite, dass unter dem Deckmantel von In- mentarisch aufgegriffen werden. dustrie 4 0. nun die Arbeitgeberverbände eine weitere Flexibilisierung der Arbeitszeit wollen . Damit meinen Ich danke für die Aufmerksamkeit . sie – ich zitiere den Präsidenten des Arbeitgeberverban- (Beifall bei der LINKEN) des Gesamtmetall, Dulger –: mehr Arbeitszeitvolumen, Befristung und Zeitarbeit .– Das ist die Zukunftsvorstel- lung der Arbeitgeber in dieser Frage . Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Uwe Lagosky für die CDU/ Auch wir sind dafür, dass Arbeitnehmer flexibel arbei- CSU-Fraktion . ten dürfen, wenn sie das wollen . Das bedeutet aber, dass wir regeln müssen, welche Rechte die Arbeitnehmerin- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- nen und Arbeitnehmer haben, um diese Flexibilität an ordneten der SPD) ihrem Arbeitsplatz durchzusetzen . (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Uwe Lagosky (CDU/CSU): GRÜNEN]: Genau!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gegenwärtig haben sie diese Rechte kaum, wie wir wis- sen . Ich könnte Ihnen dazu noch viele Beispiele aus der Die Dauer der Arbeitszeit ist so zu bemessen, dass Praxis erzählen . dem Arbeitnehmer ausreichend Zeit zur Erholung (B) und zur Teilnahme am kulturellen Leben zur Verfü- (D) Meine Damen und Herren, die Realität sieht anders gung steht . Normalarbeitszeit, Pausen, Freizeit und aus . Flexible Arbeitszeit heißt für die Beschäftigten oft Urlaub bedürfen gesetzlicher und tariflicher Rege- Entgrenzung von Arbeit, Arbeit auf Abruf, übrigens auch lung nach Maßgabe neuzeitlicher wissenschaftli- keine Bezahlung mehr von Überstunden, Zunahme von cher Erkenntnisse . Sonntage und gesetzliche Feier- Stress . Deshalb: Wir brauchen gesetzliche Regelungen, tage gelten als Ruhetage . die den Arbeitnehmer in die Lage versetzen, die von ihm gewünschte Zeitsouveränität selber durchzusetzen . Ich glaube, darüber sind wir uns grundsätzlich einig . Be- merkenswert ist nur: Woher stammt das, was ich gerade Meine Damen und Herren, ein Schlüssel dafür ist das verlesen habe? Diese Zeilen stammen aus den Düsseldor- Arbeitszeitgesetz . Das Arbeitszeitgesetz beschränkt die fer Leitsätzen, die die CDU 1949 auf den Weg gebracht tägliche Arbeitszeit eigentlich auf acht Stunden . Aller- hat . dings macht das bei sechs Tagen in der Woche 48 Ar- beitsstunden . Das ist eindeutig zu viel . (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Da gab es doch auch noch das Ahlener Programm! (Beifall bei der LINKEN) Das könnten wir hier sofort beschließen!) Wir müssen über das Arbeitszeitgesetz die Dauer der Ar- Um es ganz deutlich zu sagen, meine Damen und Herren beitszeit ein Stück nach unten bekommen; deshalb unse- von der Linken: Da gab es Sie als Partei in dieser Form re Forderung . Das Arbeitszeitgesetz selber ist löchrig wie noch gar nicht . Wir sind schon weit vor Ihrer Zeit aktiv ein Schweizer Käse . Da gibt es Ausnahmeregelungen für geworden . fast alles . Die Zunahme der Sonntagsarbeit ist dafür ein Beweis . Auch deshalb müssen wir diese Frage angehen . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Um Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu schüt- Auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse – das zen, braucht es auch ein Recht auf Nichterreichbarkeit ist bis heute so geblieben – wurde das Arbeitszeitgesetz während der Freizeit . gestaltet, das als Schutzgesetz im Wesentlichen der Ge- (Beifall bei der LINKEN) sundheit der Beschäftigten dient, und zwar sowohl bei tarifgebundenen als auch bei nicht tarifgebundenen Ar- Wir brauchen eine Anti-Stress-Verordnung, mit der die beitgebern . Das Arbeitszeitgesetz begrenzt die höchstzu- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geschützt wer- lässige Arbeitszeit auf acht Stunden täglich; das haben den . Dringend erforderlich ist auch die Ausweitung des Sie ebenfalls gerade ausgeführt . In Ausnahmen dürfen es Mitbestimmungsrechts der Betriebsräte bei Fragen der auch zehn Stunden sein, aber nur dann, wenn – das haben Zeitsouveränität und des Arbeitsvolumens der Beleg- Sie nicht gesagt – innerhalb von sechs Kalendermonaten Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19073

Uwe Lagosky (A) oder innerhalb von 24 Kalenderwochen im Durchschnitt wir erst einmal beantworten, bevor wir solche Anträge (C) acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden . einbringen . Als weitere wesentliche Punkte werden die Ruhepau- (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE sen und die Ruhezeiten geregelt . Arbeitnehmer müssen LINKE]: Wir können ja beides machen!) nach Beendigung der täglichen Arbeitszeit eine Ruhezeit von mindestens elf Stunden haben . Darüber hinaus er- Bedacht werden muss zudem, dass es für die Beschäftig- öffnet das Arbeitszeitgesetz die Möglichkeit für abwei- ten manchmal auch persönlich wichtig ist, eine Aufgabe chende Regelungen in Tarifverträgen – darauf haben Sie zu erledigen . Das ist in einer Arbeitswoche mit 40 Stun- schon hingewiesen –, allerdings nur dann, wenn es um den nicht immer möglich . Jedenfalls ist es mir in meinem Arbeitsbereitschaft bzw . Bereitschaftsdienste geht . Es Berufsleben so gegangen . gibt eine Begrenzung der täglichen Arbeitszeit auf acht Sich seine Arbeitszeit selbst einzuteilen und Aufga- bis zehn Stunden, unter anderem deswegen, weil nach ben abzuschließen, kann durchaus motivierend wirken . wissenschaftlichen Erkenntnissen die Unfallgefahr nach Jedoch sollte das nicht über die Schutzvorschriften des acht Stunden deutlich ansteigt . Deshalb werden Tages- Arbeitszeitgesetzes hinausgehen . Dafür Sorge zu tragen, grenzwerte entsprechend festgelegt . Angesichts der Re- ist insbesondere eine Frage der Betriebskultur . gelung, wonach die tägliche Arbeit auf acht bis zehn Stunden begrenzt wird, und dem genannten Ausgleichs- Weiterhin behaupten Sie von der Linksfraktion – das zeitraum ist es möglich, auf acht Stunden pro Tag zu haben Sie eben wieder getan –, der Arbeitstag kenne für kommen . Das ist das Ziel der Ausgleichsregelung . viele kein Ende mehr . Das mag für den einen oder ande- ren tatsächlich so sein – darin gebe ich Ihnen, wie schon Man wird damit sowohl den Belangen der Gesundheit gesagt, durchaus recht –; doch das ist schon eine sehr der Arbeitnehmer als auch den Ansprüchen der Betriebe dramatische Interpretation dessen, was in Deutschland gerecht, die bei wechselnden Auftrags- und Aufgabenla- Realität ist . gen flexibel reagieren müssen. Das haben Sie in Ihrem Antrag völlig vergessen . Wenn Sie die Höchstarbeitszeit (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Genau! in der Woche von 48 auf 40 Stunden senken, sind die Die können nicht anders! Die können nur dra- Betriebe nicht mehr flexibel. Wenn die Betriebe nicht matisch!) mehr flexibel sind, gehen möglicherweise Arbeitsplätze Die Ergebnisse des Statistischen Bundesamts wurden in Deutschland verloren . Allein aus diesem Grund kann schon angesprochen; ich möchte das auch tun, nur aus man das in der Form nicht machen . einem anderen Kontext heraus . 1996 hat ein Vollzeitbe- (Beifall bei der CDU/CSU) schäftigter durchschnittlich 40 Stunden pro Woche gear- (B) beitet . 2011 waren es 40,7 Stunden und 2015 40,5 Stun- (D) Es geht erstens darum, den Beschäftigten bestmöglich den . Damit liegen die deutschen Vollzeitbeschäftigten vor gesundheitlichen Gefahren zu schützen, und zwei- durchaus im europäischen Durchschnitt, der laut Euro- tens darum, wirtschaftlich arbeitende Betriebe zu haben . stat 2015 bei 40,3 Wochenstunden lag . Damit liegen wir Wenn die Höchstarbeitszeit in der Woche tatsächlich von bezogen auf die Beschäftigten in Europa durchaus im 48 auf 40 Stunden gesenkt wird, dann sehe ich für unse- Mittel . re Wirtschaft in Deutschland im Vergleich zum Rest der Welt schwarz . Zwischenfazit: Wir haben schon ein sehr ausgewoge- nes Gesetz . Es schützt die Gesundheit der Beschäftigten Nun basiert Ihr Antrag auf einer Antwort der Bundes- durch kluge Leitplanken, trägt in einem ausgewogenen regierung auf eine Anfrage, in der es darum geht, wie Maß zur Wirtschaftlichkeit unserer Betriebe bei und viele abhängig Beschäftigte von überlangen Arbeits- eröffnet Möglichkeiten für sozialpartnerschaftliches zeiten betroffen sind, also 49 Stunden und mehr in der Handeln . Letzteres führt zu vielen Arbeitszeitmodel- Woche arbeiten . Darauf antwortete die Bundesregie- len in den Betrieben, die auch die Zeitsouveränität der rung, dass das rund 2 Millionen abhängig Beschäftigte Beschäftigten verbessern . Im Bereich der Schichtarbeit sind . Das entspricht einem Anteil von 5,6 Prozent . Die werden ebenfalls längst Betriebsvereinbarungen abge- Daten stammen aus dem vom Statistischen Bundesamt schlossen, die die Bedürfnisse der Mitarbeiter berück- durchgeführten Mikrozensus und beziehen sich auf das sichtigen . Das ergab unter anderem eine Kurzauswertung Jahr 2012 . Damals gab es 35 Millionen Beschäftigte in der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2010 . Kurzum: Deutschland . Die Linksfraktion läuft nach unserer Auffassung mit ihrer Man muss sich aber die Frage stellen, warum es bei Forderung dem Trend hinterher . Die Sozialpartnerschaf- den Regelungen im Arbeitszeitgesetz, die auf eine durch- ten sorgen längst für mehr Zeitsouveränität der Beschäf- schnittliche Arbeitszeit von acht Stunden pro Tag abzie- tigten . len, zu solchen Ergebnissen kommt . Diese Frage stellen Nebenbei: Auch der Gesetzgeber leistet seinen Bei- wir uns auch . Dabei geht es aber um Fragen, auf die der trag . Stichworte dazu sind das Gesetz zur besseren Ver- Mikrozensus keine Antworten liefert: Welche Berufs- einbarkeit von Familie, Pflege und Beruf, das Teilzeit- gruppen sind im Wesentlichen betroffen? Wird in Betrie- und Befristungsgesetz oder die Regelung im Vierten ben von Arbeitgebern und Beschäftigten genügend auf Buch Sozialgesetzbuch zu Wertguthaben . die Arbeitszeitgesetze geachtet? Achten die Aufsichtsbe- hörden der Länder ausreichend auf die Einhaltung des Eine Anti-Stress-Verordnung, wie sie in Ihrem Antrag Arbeitszeitgesetzes? Welche Ausnahmeregelungen tra- gefordert wird, ist dagegen kein sinnvoller Beitrag . Sie gen zu diesem Ergebnis bei? – All diese Fragen sollten mag öffentlichkeitswirksam sein und macht etwas her; 19074 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016

Uwe Lagosky (A) das ist keine Frage . Aber bringt sie uns weiter, wenn es Beschäftigten an die Arbeitswelt ernst nehmen und poli- (C) um die Gesundheit der Arbeitnehmer geht? Meine Erfah- tische Antworten darauf finden. rung ist durchaus eine andere . Es geht in den Betrieben in erster Linie darum, Mitarbeitergespräche zu führen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und gleichzeitig eine Gefährdungsbeurteilung auf den und bei der LINKEN) Weg zu bringen . Das bringt den besten Erfolg bei der Ein paar Aspekte, auch zum Antrag der Linken: Vermeidung von psychologischen Belastungen, die mög- Enorm wichtig gerade für Frauen ist natürlich das Rück- licherweise am Arbeitsplatz entstehen . Berufsbedingte kehrrecht auf Vollzeit, um befristete Teilzeitphasen zu Belastungen können so frühzeitig erkannt und abgebaut ermöglichen . Da sind wir uns einig . Eigentlich steht das werden . Gesundes Arbeiten hat viel mit der Betriebskul- auch im Koalitionsvertrag . Da müssen Sie, die Regie- tur zu tun . Entscheidend also sind keine neuen Regelun- rungsfraktionen, endlich liefern . gen . Entscheidend ist, dass wir die bisherigen Regelun- gen umsetzen, und wir arbeiten daran, das zu tun . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Uns ist das aber zu wenig . Viele Beschäftigte wollen und Letzter Werbeblock: Die ehemalige Bundesarbeitsmi- können nicht vorübergehend ihre Arbeitszeit reduzieren . nisterin Dr . gab bei der Bundes- Aber auch sie brauchen Zeitsouveränität, und zwar in ih- anstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin ein Projekt rem täglichen Arbeitsalltag – für die Kinder, für die al- in Auftrag, das Anfang 2014 unter dem Titel „Psychi- ten Eltern . Vielleicht wollen sie einfach auch nur einmal sche Gesundheit in der Arbeitswelt – Wissenschaftliche einen Tag im Homeoffice arbeiten. Deshalb fordern wir, Standortbestimmung“ startete . Seit Juli dieses Jahres lie- wie die Linke auch, Betriebsvereinbarungen zu Fragen gen erste Zwischenberichte vor, die den jeweiligen Stand der Vereinbarkeit und mehr Zeitsouveränität . Aber auch der Erkenntnis in vier Themenfeldern darlegen . Mit dem das reicht uns nicht aus . Wir wollen, dass auch die Be- Abschlussbericht und den Handlungsempfehlungen für schäftigten ohne Betriebsrat gestärkt werden . Auch sie betriebliches Gesundheitsmanagement und den Arbeits- sollen mehr Einfluss darauf nehmen können, wann sie schutz ist für Mitte 2017 zu rechnen . arbeiten und wo sie arbeiten . Flexibilität ist keine Ein- bahnstraße . Deshalb wollen wir die Arbeitszeit für die Wir sind für eine wissenschaftliche Begleitung der Menschen beweglicher gestalten . Arbeitsschutzgesetze . Dazu zählt auch das Arbeitszeitge- setz . Hierfür treten wir als CDU/CSU-Fraktion entschie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den ein . sowie bei Abgeordneten der SPD) (B) Geht es um die Arbeitszeit, dann müssen wir natür- (D) Herzlichen Dank . lich auch die ganz schwierigen Arbeitsformen in den (Beifall bei der CDU/CSU) Blick nehmen . Da ist mir die Arbeit auf Abruf ein ganz besonderes Anliegen . Bei den Linken wird Arbeit auf Abruf zwar im Feststellungsteil erwähnt, aber im For- Vizepräsidentin Petra Pau: derungsteil kommt sie nicht mehr vor . Das hat mich ein bisschen irritiert, zumal der Punkt ganz fehlt . Wir Grüne Das Wort hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke für stellen in unserem Antrag ganz konkrete Forderungen . die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen . Auch Beschäftigte, die auf Abruf arbeiten, brauchen Zeitsouveränität . Ihre Arbeitszeit muss deshalb bere- Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- chenbarer werden . NEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- sowie des Abg . Dr . [SPD]) nen und Kollegen! Die Arbeitswelt verändert sich, die Wünsche der Beschäftigten aber auch. Arbeit wird fle- Der Wunsch der Beschäftigten nach mehr Zeit wächst xibler, die Arbeitsintensität steigt . Es wurden schon viele natürlich auch, weil das Arbeitsleben insgesamt Tempo Zahlen genannt . Gleichzeitig wünschen sich die Beschäf- macht . Notwendig sind Lösungen gegen den steigenden tigten mehr Zeit für sich und für ihre Familie, um nicht Stress am Arbeitsplatz . Hier sind wir uns einig . Spannend ständig hetzen zu müssen . Die Beschäftigten brauchen in diesem Zusammenhang sind auch die Auswirkungen mehr Zeitsouveränität; denn Arbeitszeit ist Lebenszeit . der Digitalisierung . Hier wird es sehr ambivalent . In der digitalen Arbeitswelt erhalten die Menschen natürlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Freiheit; denn sie können arbeiten, wann und wo sie wol- len. Aber so entsteht natürlich auch Mehrarbeit, häufig Etwa in dieser Art habe ich im April meine Rede zu unbezahlt, und so verschwimmen noch mehr die Grenzen unserem Antrag „Mehr Zeitsouveränität – Damit Arbeit zwischen Freizeit und Arbeitszeit . Wir fordern deshalb gut ins Leben passt“ begonnen . Es freut mich, dass die ein Mitbestimmungsrecht über die Menge der Arbeit, Fraktion Die Linke diesen Antrag aufmerksam gelesen aber nur bei der Vertrauensarbeitszeit . Sie, die Linken, hat und nun einen eigenen Antrag auf den Weg bringt . haben das jetzt übernommen, fordern dies aber ganz pau- Das ist gut . Ich würde mir das auch von den Regierungs- schal . Ich bin gespannt, zu erfahren, warum die bisherige fraktionen wünschen; denn wir müssen die Entwick- Mitbestimmung da nicht mehr ausreichen soll . Das wer- lungen in der Arbeitswelt und auch die Wünsche der den wir, glaube ich, im Ausschuss diskutieren müssen . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19075

Beate Müller-Gemmeke (A) Zudem fordern Sie das Recht auf Nichterreichbarkeit Wir als SPD-Fraktion befürworten einen gesetzlichen (C) und verbindliche Ausgleichsregelungen bei Mehrarbeit . Anspruch auf befristete Teilzeitarbeit zur Erleichterung Sie schreiben aber nicht, wie das gehen soll . Wir setzen der Rückkehr in Vollzeit . da vor allem auf betriebliche Lösungen . Im Ziel sind wir uns aber wohl einig . Wir wollen zwar Flexibilität ermög- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lichen, aber nicht grenzenlose Arbeit; denn Zeitsouverä- der LINKEN) nität soll natürlich auch zu mehr Lebensqualität führen . Dazu wollen wir ein Teilzeitrecht entwickeln . Das wäre (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ein erster Schritt in Richtung Zeitsouveränität . Ich komme zum Schluss zu der Forderung, die Wo- Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Arbeitsschutz chenhöchstarbeitszeit auf 40 Stunden zu senken . Das leh- hat in Deutschland eine lange und gute Tradition . Unsere nen wir ab . Mehr Zeitsouveränität und Flexibilität für die technischen Standards sind hoch . Technische Hilfsmit- Beschäftigten würden in einem ganz engen und starren tel am Arbeitsplatz verringern die körperliche Belastung Rahmen nicht funktionieren . Die Beschäftigten brauchen stetig . Es gelingt immer mehr, Unfälle in den Betrieben die Freiheit, in der einen Woche einmal mehr zu arbeiten, zu vermeiden . Sorgen muss uns dagegen die mentale um in der nächsten Woche mehr frei zu haben . Natürlich Gesundheit der Erwerbstätigen machen . Seit Mitte der brauchen die Beschäftigten den Schutz einer verlässli- chen Rahmengesetzgebung . Wir wollen die Menschen 90er-Jahre sind die psychischen Arbeitsanforderungen aber nicht einschränken, sondern ihnen individuelle Lö- angestiegen . Sie haben sich auf hohem Niveau stabili- sungen bei der Arbeitszeit ermöglichen; denn Arbeitszeit siert . Gleichzeitig ist eine Zunahme des frühzeitigen muss in das eigene Leben passen – und nicht umgekehrt . Erwerbsausstiegs und der Arbeitsunfähigkeit aufgrund psychischer Störungen und Erkrankungen zu beobach- Vielen Dank . ten . Stress entsteht zum Beispiel durch das Erledigen verschiedener Arbeiten zur gleichen Zeit, durch Termin- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN druck, häufige Unterbrechungen bei der Arbeit, monoto- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) ne Tätigkeiten, fehlende Erholungsmöglichkeiten, stän- dige Erreichbarkeit oder Informationsfluten auch in der Vizepräsidentin Petra Pau: Freizeit . Letzteres kennen wir als Abgeordnete auch sehr Das Wort hat der Kollege Michael Gerdes für die gut; lieber Klaus Ernst, du hast das ja schon angespro- SPD-Fraktion . chen . Eine gute mentale Gesundheit wird immer mehr zur Voraussetzung einer dauerhaften sowie erfolgreichen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Teilhabe am Erwerbsleben . Auch bei der Flexirente spielt (B) der CDU/CSU) die Gesundheit eine große Rolle . Deshalb stärken wir (D) Präventions- und Rehaleistungen . Michael Gerdes (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe (Beifall bei der SPD) Zuschauerinnen und Zuschauer! Erwerbsbiografien ver- laufen heutzutage auf allen Qualifikationsebenen dyna- Wir als Parlament können gesunde Arbeitsprozesse mischer und vielfältiger, als wir es gewohnt waren . Die nicht bis ins kleinste Detail regeln . Es bedarf praxistaug- Anforderungen an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer licher Ansätze direkt im Betrieb . Das Zusammenspiel ändern sich immer schneller . Die Digitalisierung – Sie zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie unter sprachen es gerade an, Frau Müller-Gemmeke – sprengt Kolleginnen und Kollegen ist gefragt . Trotzdem ist die klassische Arbeitszeitmodelle . Ob das allerdings mehr Forderung nach einer Anti-Stress-Verordnung nicht vom Freizeit bedeutet? Ich glaube das nicht . Unsicherheit Tisch . Die SPD-Fraktion ist nach wie vor von dieser Idee und Dauerstress drohen . Darauf müssen Unternehmen, überzeugt, lieber Kollege Uwe Lagosky . der Gesetzgeber und die Gesellschaft als Ganzes reagie- (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie ren . Vor diesem Hintergrund bin ich unserer Ministerin der Abg . Beate Müller-Gemmeke [BÜND- sehr dankbar für den Dialogprozess Ar- NIS 90/DIE GRÜNEN]) beiten 4 0. . Die Abschlusskonferenz im Dezember wird sicherlich spannend werden . Unsere Arbeitswelt braucht Grundregeln zum Der Antrag der Fraktion Die Linke zum Thema Ar- Umgang mit mentalen Belastungen . Die vielzitierte beitsstress enthält gute Analysen, Kollege Klaus Ernst . Work-Life-Balance darf kein Modewort ohne Inhalt sein . Es braucht unterschiedliche, gut durchdachte Ansätze, Wir müssen anerkennen, dass Menschen unterschiedlich um Arbeit und sich wandelnde Lebensmodelle zu ver- stark belastet sind und Herausforderungen unterschied- einen . Neben der zeitlichen Komponente wie Wochen- lich bewältigt werden . Beruf, Privatleben und auch das arbeitszeit und Schichtarbeit – ich weiß im Übrigen aus Ehrenamt sollen unter einen Hut passen, und dafür brau- eigener Erfahrung, was Schicht- sowie Sonn- und Feier- chen wir unterschiedliche Modelle der Arbeitsorganisa- tagsarbeit an Belastungen bringt – sollten wir aber auch tion . auf die Arbeitsprozesse schauen . Arbeitsaufträge müssen angemessen und in der Arbeitszeit zu schaffen sein. Es ist Gutes Personalmanagement heißt auch betriebliches nicht gut, wenn Anforderungen ständig steigen . Gesundheitsmanagement . (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Genau!) (Beifall der Abg . Mechthild Rawert [SPD]) 19076 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016

Michael Gerdes (A) Hierbei ist es wichtig, dass Gesundheitsmanagement Vizepräsidentin Petra Pau: (C) nicht nachgelagert repariert, sondern vorausschauend Das Wort hat die Kollegin Gabriele Schmidt für die Probleme erkennt . CDU/CSU-Fraktion . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- der LINKEN) ordneten der SPD) So wie wir wissen, dass sitzende Tätigkeiten Probleme für Nacken und Rücken mit sich bringen, so muss in den Gabriele Schmidt (Ühlingen) (CDU/CSU): Betrieben thematisiert werden, an welcher Stelle Mitar- Frau Präsidentin! Liebes Präsidium! Liebe Kollegin- beiter psychischem Druck ausgesetzt sind . Dabei sind nen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir reden Personal- und Betriebsräte als Sozialpartner gefordert . heute wieder einmal über Arbeitszeit, Arbeitsschutz, Ar- Mit ihrer Kompetenz spielen sie eine wichtige Rolle auch beitnehmerrechte . Es scheint überhaupt die Woche des bei der Überwachung der Einhaltung des Arbeitszeitge- unterdrückten, geknechteten Proletariats zu sein: setzes . (Lachen bei Abgeordneten der SPD und der Unterm Strich geht es beim zeitgemäßen Personal- LINKEN – Dr .André Hahn [DIE LINKE]: und Gesundheitsmanagement um systematische Fürsor- Was soll denn das?) ge . Psychische Belastungen im Erwerbsleben müssen gestern die Leiharbeiter und die Menschen mit Behinde- raus aus der Tabuzone . Vielerorts werden stressbeding- rung, heute die Vielarbeiter und die Gestressten . te Arbeitsausfälle unterschätzt . Deshalb wäre eine An- ti-Stress-Verordnung auf jeden Fall das richtige Signal, (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sehr sachlich! um in den Betrieben und aufseiten der Erwerbstätigen ei- Sie belasten den Stil der Debatte!) nen professionellen, wertschätzenden Umgang mit Zeit- – Sachlich, gerne .– Wir haben zum Glück die Opposi- und Leistungsdruck anzustoßen . Dabei haben Großbe- tion, triebe in puncto Prävention und Gefährdungsbeurteilung logischerweise andere Ressourcen zur Verfügung als (Beifall des Abg . Matthias W . Birkwald [DIE kleine und mittlere Unternehmen . Deshalb müssen wir LINKE]) verstärkt überlegen, welche Hilfestellung wir Arbeitge- die sich um kürzere Arbeitszeiten für alle kümmert . bern und Arbeitnehmern in kleinen Betrieben anbieten können . (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Ge- nau!) Mit Blick auf Digitalisierung und Flexibilisierung (B) kommt der allgemeinen Gesundheitskompetenz jedes So, jetzt schalte ich den Ironiemodus einmal aus . (D) Einzelnen eine höhere Bedeutung zu . Aufklärung und Der vorliegende Antrag ist einseitig und blendet die Sensibilisierung über mentale Gesundheitsgefährdun- Realität der Arbeitswelt aus . gen machen Sinn . Einmal im Jahr für fünf Minuten vom Beauftragten für Arbeitsschutz Besuch zu bekommen, (Dr .André Hahn [DIE LINKE]: Quatsch!) reicht sicherlich nicht aus . Arbeit ist keine Einbahnstraße – das versteht die Oppo- (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Stimmt!) sition eben nicht –; Arbeitnehmer und Arbeitgeber haben naturgemäß unterschiedliche Wünsche und Vorstellun- Wir müssen Erwerbstätige zu gesunder Arbeit befähigen; gen . Um diese auszuhandeln, gibt es aus gutem Grund die auch das sollte Teil unserer Strategie sein . Tarifpartner . Sie kommen ihrer Aufgabe seit fast 70 Jah- ren nach, mit dem Ergebnis einer florierenden Wirtschaft, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten eines partnerschaftlichen Verhältnisses der Akteure und der LINKEN) weitestgehend zufriedener Arbeitnehmer . Ein Letztes . Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE überzeugt, dass beruflicher Stress anders wahrgenommen GRÜNEN]: Vielleicht gibt es nebenbei noch und überwunden wird, wenn der Arbeitsalltag gewisse ein bisschen Arbeitsrecht? Der Gesetzgeber ist Sicherheiten und Chancen mit sich bringt . Damit mei- dafür zuständig!) ne ich zum Beispiel ein unbefristetes Arbeitsverhältnis . Wer sicher ist, dass sein Job Perspektiven bietet, und sich Die Aufgabe der Politik ist es, Leitplanken zu schaf- eben nicht im Jahresrhythmus nach einer neuen Arbeits- fen, die für beide Seiten passen und den Bedürfnissen der stelle umschauen oder sich in immer neuen Probephasen Arbeitnehmer und Arbeitgeber gerecht werden . beweisen muss, hat weniger Stress . (Uwe Lagosky [CDU/CSU]: So ist das!) (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Beide gehören untrennbar zusammen; aber das scheint die Opposition gerne zu ignorieren . Auch deshalb sind neue Regeln bei Leiharbeit und Werk- verträgen eine gute Sache . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herzlichen Dank und Glück auf! Der Gesetzgeber muss nur dort Schutzgesetze erlassen, wo Arbeitnehmerrechte verletzt werden . Schutzgesetze (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie gibt es eine ganze Menge; davon haben wir durch den bei Abgeordneten der CDU/CSU) Kollegen Lagosky schon gehört . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19077

Gabriele Schmidt (Ühlingen) (A) Eine zwangsweise Umverteilung der Arbeit und die und der im Koalitionsvertrag vereinbarte Rechtsanspruch (C) Forderung nach kürzeren Arbeitszeiten gehen an der auf Rückkehr aus Teilzeit in die frühere Arbeitszeit wird Realität vorbei . Auch ich erinnere an die Debatte vom folgen . 28 .April dieses Jahres, bei der wir den Antrag der Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen zu mehr Zeitsouveränität In Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen, diskutiert haben . Dort wurde zum Beispiel kritisiert, dass ist die Rede davon, dass insbesondere Frauen „sich oft 1,35 Milliarden Stunden nicht geleistet werden, weil die unfreiwillig mit einer Teilzeitstelle begnügen“ müssen . Wünsche der Beschäftigten nach mehr Arbeit nicht be- Es scheint einfach nicht in Ihr Weltbild zu passen, dass rücksichtigt werden . Ja was denn nun? Was stimmt denn sich ganz viele Arbeitnehmer und besonders viele Frauen nun? Es gibt Leute, die mehr arbeiten wollen, und es gibt freiwillig für Teilzeit entscheiden . Menschen, die weniger arbeiten wollen . Wir brauchen (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Ge- also keine gesetzlichen Vorschriften, wie im Antrag der nau!) Fraktion Die Linke gefordert, sondern größtmögliche Flexibilität und eine gesunde Balance zwischen Arbeits- Sie reden von der Teilzeitfalle . Das wird durch ständiges gestaltung und Lebensführung der Arbeitnehmer auf der Wiederholen nicht richtiger . einen Seite und den Arbeitgeberinteressen auf der ande- (Dr .André Hahn [DIE LINKE]: Sie müssen ren Seite . wieder zurückkönnen!) (Dr .Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Was ist denn so schlecht daran, wenn sich Frauen und NIS 90/DIE GRÜNEN]: Offenbar gibt es Männer auf freiwilliger Basis und in Absprache mit den Hürden für diese Flexibilität! Die muss man Arbeitgebern für Teilzeitarbeit entscheiden, um mehr gesetzlich abbauen!) Zeit für die Familienarbeit zu haben? Die Opposition unterschlägt – nicht nur heute – die In Ihrem Antrag fordern Sie weiter ein definiertes bereits ergriffenen Maßnahmen, Recht auf Nichterreichbarkeit außerhalb der Arbeitszei- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE ten . Sehr gut! Laut § 5 des Arbeitszeitgesetzes müssen GRÜNEN]: Die Opposition? Das ist halt das Arbeitnehmer nach Beendigung der täglichen Arbeitszeit Problem, wenn man erst eine Rede schreibt eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens elf Stun- und dann zuhört!) den haben; das haben wir heute schon gehört . Das ist gut und richtig . Deswegen braucht es keinen neuen Antrag . die die Arbeitsbedingungen und damit die Lebenssitua- Vielleicht müssen wir uns auch einmal selbstkritisch an tion von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und die die eigene Nase fassen: Wer von uns packt das Smart- (B) Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Freizeitgestaltung phone am Wochenende weg oder checkt am Sonntag (D) verbessern . Ich werde deshalb nicht müde, Sie an diese keine E-Mails? Diese Frage betrifft nicht nur MdBs, son- zu erinnern: an den Ausbau der Kindertagesstätten für die dern auch Arbeitnehmer, vielleicht auch unsere eigenen Versorgung der Kinder während der Arbeitszeiten, an die Mitarbeiter . Milliarden Euro für Kitas und andere Familieninfrastruk- turmaßnahmen, an das Elterngeld Plus, an die Familien- (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Selbstbestimmtes pflegezeit. Das sind die richtigen Antworten. Arbeiten! Das ist ein Unterschied, Kollegin!) (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Was machen wir Der Arbeitnehmer ist nicht verpflichtet, in seiner Frei- gegen die Sonntagsarbeit, Kollegin? Sagen Sie zeit erreichbar zu sein, von ganz wenigen begründeten mal irgendwas Konkretes, nicht nur Blabla!) Ausnahmen abgesehen . Und es gibt etliche Firmen, die ihren Angestellten geradezu verbieten, in der Freizeit zu – Warten Sie einmal, bis Sie ins Krankenhaus kommen, arbeiten . Herr Ernst . Dann sind Sie froh, wenn am Sonntag einer arbeitet . Was mir an diesem Antrag zuwiderläuft, ist erneut diese Gleichmacherei . Man kann nicht alle über einen (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Warum brauchen Kamm scheren . wir den Deiwel am Sonntag? Warum? – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Mach einfach (Beifall bei der CDU/CSU) weiter, Gabriele! Das macht keinen Sinn!) Es gibt nicht die Wirtschaft und die Unternehmen . Viel- – Ja, ich mache einfach weiter . Man kann nur warten, bis mehr gibt es einige Millionen Familienbetriebe und es vorbei ist . Kleinunternehmen . Der Mittelstand ist das Rückgrat unserer Wirtschaft und stellt den größten Teil der Ar- (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ihnen fehlt es ja beitsplätze . Er behandelt seine Arbeitnehmer gut . Jeder schon an Flexibilität bei Ihrer Rede!) Arbeitgeber hat ein Interesse daran, dass es seinen Ar- beitnehmern gut geht . Die zwangsweise Umverteilung Wir haben die richtigen Antworten auf die Herausfor- der Arbeit wäre ein Rückschritt . derungen, und wir haben die richtigen Maßnahmen, um auf individuelle Bedürfnisse der Arbeitnehmer zu reagie- Über Stress haben wir heute auch schon sehr viel ge- ren. Wir schaffen den sozialen Ausgleich, hört . Stress lässt sich aber nicht verallgemeinern . (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Was wir machen, (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ihre Rede ist ist Blabla!) eigentlich nur peinlich!) 19078 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016

Gabriele Schmidt (Ühlingen) (A) Hier wollen die Linken Ungleiches gleich behandeln . Wir wissen aufgrund der guten Daten, wie es den Ar- (C) Stress ist extrem subjektiv . Sie zum Beispiel, Herr Ernst, beitnehmerinnen und Arbeitnehmern geht und dass der scheinen Stress zu haben, wenn ich rede . Markt an vielen Stellen in Unordnung geraten ist . Wenn man eines dieser Koalition nicht vorwerfen kann, dann (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – das, dass sie nicht viel auf den Weg gebracht hat, was für Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das ist eher lustig, mehr Sicherheit sorgt . Kollegin!) – Ich freue mich, wenn ich Sie erfreuen kann . – Stress (Beifall der Abg . [SPD]) machen wir uns oft auch selbst. Einer empfindet schon Stress, wenn der Kollege noch locker weiterläuft . Stress Die Verkürzung der Arbeitszeit alleine macht nicht ist übrigens nicht nur durch die Arbeit begründet . gute Arbeit und gutes Leben aus . Ich halte eine Anti-Stress-Verordnung für wenig prak- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tikabel . Sie löst das Problem nicht, sorgt aber für mehr der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Bürokratie und Belastung der Arbeitgeber . Damit wäre Da sind wir uns einig!) keinem geholfen . Schon das geltende Arbeitsschutzge- setz enthält Maßnahmen zum Schutz der psychischen Insofern ist mit dem Antrag ein wenig monokausal ge- Gesundheit der Mitarbeiter: Arbeitgeber sind verpflich- dacht . Gesundheit setzt sich aus vielen Faktoren zusam- tet, solche Maßnahmen zu treffen; das entspricht § 3 des men: dem Status der Bildung, dem Erholungsverhalten, Arbeitsschutzgesetzes . Psychische Gesundheitsbeurtei- den Lebensverhältnissen . Deswegen bleibt Verhältnisprä- lung ist auch geltendes Recht, geregelt in § 5 des Arbeits- vention eine Aufgabe . schutzgesetzes . Behörden sind in der Lage, gegenüber (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Arbeitgebern Anordnungen zu treffen und Bußgelder zu verhängen; das steht in den §§ 22 und 25 des Arbeits- Hier haben wir von der Bildung bis zum Thema „gute schutzgesetzes . Außerdem gibt es bereits Mitbestim- Arbeit“ eine Menge auf den Weg gebracht; die Kollegen mungsrechte des Betriebsrats .– Ich belasse es einmal haben das bereits erwähnt . dabei . Das Beste aber habe ich mir für den Schluss aufgeho- Wir müssen uns immer wieder Gedanken darüber ma- ben – Zitat aus dem Antrag –: chen, warum das untere Fünftel der Einkommensbezie- her nicht nur eine kürzere Lebenserwartung hat, sondern Initiativen für mehr Zeitsouveränität und kollektive sich bei ihnen auch eine Reihe chronischer Erkrankungen Arbeitszeitverkürzungen einstellen, die die Lebensqualität beeinträchtigen . Es sind (B) verlorene Jahre, über die wir hier reden . Das erwähne ich (D) – das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen – immer wieder, weil es wichtig ist, einen Blick auf diese müssen die Arbeitgeber bei der Finanzierung des Gruppe zu werfen . Hier setzt nicht zuletzt das Präventi- Lohnausfalls in die Pflicht nehmen. onsgesetz im Setting an . Ich komme nur kurz darauf zu sprechen . Ich habe nur schlappe fünf Minuten Redezeit; Super, ehrlich! Was kommt als Nächstes? Null Arbeits- deswegen kann ich nicht alles kommentieren . zeit bei vollem Lohnausgleich? (Zuruf von der LINKEN: Gute Idee! – Klaus Bezogen auf die Arbeitsdauer erleben wir natürlich Ernst [DIE LINKE]: Null Inhalt bei zehn Mi- beides, Mehrarbeit, die viele machen, auch unbezahlt, nuten Redezeit, Kollegin!) aber auch Teilzeitarbeit . Es gibt natürlich mehr Schicht- arbeit, mehr Nachtarbeit, auch Frauen betreffend, bei de- Vor Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen Ar- nen durch die Rollenvielfalt ein gesundheitsgefährdender beitgeber und Arbeitnehmer geschützt werden . Mit Ihrer Faktor hinzukommt . Insofern: Wir haben schon viel ge- Politik zerstören Sie den Mittelstand, und damit ist nie- macht; aber es ist auch noch viel zu tun . mandem geholfen . Durch den Mindestlohn zum Beispiel, der bei 3,6 Mil- Ich wünsche allen ein stress- und arbeitsfreies Wo- lionen Arbeitnehmern zu einer Verdoppelung ihres Ein- chenende . Vielen Dank . kommens geführt hat – das war nur der Anfang –, wird (Beifall bei der CDU/CSU) aufgrund der Dokumentationspflichten vieles aufgedeckt. Auch das sind Daten, mit denen wir zu arbeiten haben .

Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der SPD) Das Wort hat die Kollegin Helga Kühn-Mengel für die SPD-Fraktion . Wenn Sie die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen fragen, was für sie gute Arbeit ausmacht – das ist vom (Beifall bei der SPD) Bundesamt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin abge- fragt worden –, dann steht für sie an oberster Stelle die Helga Kühn-Mengel (SPD): Sicherheit: der sichere Arbeitsplatz, das sichere, verläss- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! liche Einkommen . Arbeit soll abwechslungsreich und Die Vorredner und Vorrednerinnen haben natürlich an sinnvoll sein . Es geht um die gegenseitige Förderung, vielen Stellen recht – Kollege Ernst, natürlich, an man- das Miteinander, auch um den Gesundheitsschutz am Ar- chen –; Herr Gerdes hat auch schon viel Richtiges gesagt . beitsplatz; darauf komme ich noch zu sprechen . Insofern Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19079

Helga Kühn-Mengel (A) ist es wichtig, dass wir uns im Moment zum Beispiel mit Die Kosten für die Rentenversicherung liegen bei über (C) der Leiharbeit und den Werkverträgen beschäftigen . 15 Milliarden Euro . Das ist eine hohe Summe . Damit es Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern besser geht, (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/ müssen wir den Betrieb als Setting – so sagt es das Prä- DIE GRÜNEN]: Bitte nicht ansprechen! Bitte ventionsgesetz – jetzt mit allen Möglichkeiten nutzen . Es nicht! Das ist zu schlecht, das Gesetz!) gibt dafür mehr Geld . Diesen Bereich können wir stär- Gestern wurde ein Gesetz eingebracht, das den Betriebs- ken, und damit auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeit- räten hier mehr Verantwortung und mehr Mitsprache- nehmer . recht einräumt . All die anderen Gesetze – zur Zeitsouve- Vielen Dank . ränität, zur Flexirente – wurden schon erwähnt . Schade ist, dass wir die Abschaffung der sachgrundlo- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) sen Befristung von Arbeitsverhältnissen nicht im Koaliti- onsvertrag verankern konnten . Das bleibt eine Aufgabe – Vizepräsidentin Petra Pau: ein ganz wichtiger Punkt –, und es deckt sich mit dem, Ich schließe die Aussprache . was Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fordern . Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf (Beifall bei der SPD und der LINKEN – Drucksache 18/8724 an die in der Tagesordnung aufge- Klaus Ernst [DIE LINKE]: Genau!) führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein- – Ja, das sei Ihnen zugestanden . verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung so beschlossen . Ich will aber auch sagen, dass wir vieles schon haben . Dazu gehört nicht nur die Gemeinsame Deutsche Arbeits- Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- schutzstrategie von Bund, Ländern und der gesetzlichen ordnung . Unfallversicherung, sondern auch das Präventionsgesetz, Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- mit dem wir die Betriebsräte und die Betriebsärzte ge- tages auf Mittwoch, den 28 . September 2016, 13 Uhr, ein . stärkt haben . Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen ein Wir müssen uns natürlich mit den Ursachen von Früh- schönes Wochenende . verrentung befassen . Erwerbsunfähigkeitsrentner treten heute im Durchschnitt mit gut 50 Jahren in die Rente ein . (Schluss: 14 .02 Uhr)

(B) (D)

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016 19081

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Bär, Dorothee CDU/CSU 23 .09 .2016 Rachel, Thomas CDU/CSU 23 .09 .2016

Beck (Bremen), BÜNDNIS 90/ 23 .09 .2016 Ramsauer, Dr . Peter CDU/CSU 23 .09 .2016 Marieluise DIE GRÜNEN Rix, Sönke SPD 23 .09 .2016 Bluhm, Heidrun DIE LINKE 23 .09 .2016 Rützel, Bernd SPD 23 .09 .2016 Dobrindt, Alexander CDU/CSU 23 .09 .2016 Ryglewski, Sarah SPD 23 .09 .2016 Fischer (Karlsruhe-­ CDU/CSU 23 .09 .2016 Land), Axel E . Schlecht, Michael DIE LINKE 23 .09 .2016

Gabriel, Sigmar SPD 23 .09 .2016 Schmelzle, Heiko CDU/CSU 23 .09 .2016

Gohlke, Nicole DIE LINKE 23 .09 .2016 Schmidt (Aachen), Ulla SPD 23 .09 .2016

Heiderich, Helmut CDU/CSU 23 .09 .2016 Schmidt (Fürth), CDU/CSU 23 .09 .2016 Christian Held, Marcus SPD 23 .09 .2016 Steinbrück, Peer SPD 23 .09 .2016 Hellmich, Wolfgang SPD 23 .09 .2016 (B) Steinmeier, Dr . Frank- SPD 23 .09 .2016 (D) Hendricks, Dr . Barbara SPD 23 .09 .2016 Walter

Hintze, Peter CDU/CSU 23 .09 .2016 Tank, Azize DIE LINKE 23 .09 .2016

Junge, Frank SPD 23 .09 .2016 Walter-Rosenheimer, BÜNDNIS 90/ 23 .09 .2016 Beate DIE GRÜNEN Karawanskij, Susanna DIE LINKE 23 .09 .2016 Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 23 .09 .2016 Krellmann, Jutta DIE LINKE 23 .09 .2016 Widmann-Mauz, CDU/CSU 23 .09 .2016 Kudla, Bettina CDU/CSU 23 .09 .2016 Annette

Lach, Günter CDU/CSU 23 .09 .2016 Willsch, Klaus-Peter CDU/CSU 23 .09 .2016

Launert, Dr . Silke CDU/CSU 23 .09 .2016 Anlage 2 Lemke, Steffi BÜNDNIS 90/ 23 .09 .2016 DIE GRÜNEN Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung

Lerchenfeld, Philipp CDU/CSU 23 .09 .2016 Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat mitge- Graf teilt, dass sie den Antrag Beteiligung des Bundestages im Vorfeld der Genehmigung der vorläufigen Anwen- Leyen, Dr . Ursula von CDU/CSU 23 .09 .2016 der dung des Handelsabkommens mit Kanada (Compre- hensive Economic and Trade Agreement – CETA) auf Lips, Patricia CDU/CSU 23 .09 .2016 Drucksache 18/9038 zurückzieht . Mast, Katja SPD 23 .09 .2016 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Uni- Obermeier, Julia CDU/CSU 23 .09 .2016 onsdokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Özoğuz, Aydan SPD 23 .09 .2016 Beratung abgesehen hat . 19082 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 191 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 23 . September 2016

(A) Haushaltsausschuss Ratsdokument 9966/16 (C) Drucksache 18/9141 Nr . A .14 Drucksache 18/8936 Nr . A .15 Ratsdokument 9303/16 Ratsdokument 9969/16 Drucksache 18/8936 Nr . A .16 Ratsdokument 9307/16 Drucksache 18/8936 Nr . A .17 Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ratsdokument 9310/16 Drucksache 18/9141 Nr . A .17 Drucksache 18/9141 Nr . A .7 EP P8_TA-PROV(2016)0271 Ratsdokument 10383/16 Drucksache 18/9141 Nr . A .18 EP P8_TA-PROV(2016)0272 Drucksache 18/9141 Nr . A .20 Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ratsdokument 10133/16 Drucksache 18/7934 Nr . A .13 EP P8_TA-PROV(2016)0041 Drucksache 18/7934 Nr . A .18 Verteidigungsausschuss Ratsdokument 6227/16 Drucksache 18/9141 Nr . A .22 Drucksache 18/8771 Nr . A .4 EP P8_TA-PROV(2016)0267 EP P8_TA-PROV(2016)0223 Drucksache 18/8936 Nr . A .18 EP P8_TA-PROV(2016)0236 Ausschuss für Gesundheit Drucksache 18/9141 Nr . A .10 EP P8_TA-PROV(2016)0250 Drucksache 18/419 Nr . C .41 Drucksache 18/9141 Nr . A .11 Ratsdokument 14493/12 Ratsdokument 9911/16 Drucksache 18/419 Nr . C .42 Drucksache 18/9141 Nr . A .13 Ratsdokument 14499/12

(B) (D)

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