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Der Einzelhandel auf dem Sprung in die Moderne 8 9 I. Kapitel: Der Einzelhandel auf dem Sprung in die Moderne Die Weimarer Republik beschert dem von Weltkrieg und Wirtschaftskrisen erschöpften Deutschland einen Moder- nisierungsschub. Die soziale Dynamik jener Jahre spiegelt sich nicht zuletzt in veränderten Konsummustern wider. Traditionelle Strukturen werden allmählich von neuen Vertriebsformen abgelöst; im Zuge von Verstädterung, Industrialisierung und Massenproduktion verändern sich GREIFEN auch die Ansprüche und Bedürfnisse der Kundschaft. Der tief greifende gesellschaftliche und wirtschaftliche Wandel in Deutschland erfasst auch den Einzelhandel. Weimarer Republik Weimarer SIE ZU! Der Einzelhandel und die neue Zeit von Manuel Schramm ie Modernisierung des Einzelhandels setz- bezahlen als ein anderer Käufer, garantiert die te lange vor 1919 ein. Insbesondere die neuartige Preisauszeichnung einen festen Preis. Doch Zeit um 1900 gilt als Geburtsstunde einer der muss nun allerdings auch sofort in bar bezahlt neuen Konsumkultur und damit auch werden. In den Warenhäusern können die Kunden, Deiner neuen Art des Einkaufens. Neuartig war vor anders als beim Händler um die Ecke, nicht länger allem die Abschaffung des Kaufzwangs, die bewusst anschreiben lassen. angenehm gestaltete Umgebung, die Fülle der Waren Das Warenhaus um 1900 mit seiner grandiosen und ihre ansprechende Präsentation. Selbst der Architektur, den großen Schaufenstern und solchen Politiker Gustav Stresemann kann sich dem Neuen modernen Einrichtungen wie Fahrstühlen und nicht ganz entziehen, wenn er notiert: „so macht elektrischem Licht verkörpert wie kaum eine andere man wohl oft gleichzeitig die Wahrnehmung, dass Institution den modernen Handel. Doch die Kritik man anstatt der einen Cravattenschleife, die man lässt nicht lange auf sich warten. Nicht wenige anfänglich kaufen wollte, mit einem ganzen Bündel Zeitgenossen befürchten das Ende des traditionellen der verschiedenartigsten Sachen beladen ist“. Ladens, die Verelendung der kleinen Kaufleute und Es sind nicht unbedingt die niedrigen Preise, die Verführung der Massen durch den Glanz der sondern es ist vielmehr die ansprechende Atmosphä- Kaufhäuser. Doch diese Befürchtungen erweisen sich re, die zum Flanieren oder Kaufen einlädt, aus der schon bald als übertrieben. Die Warenhäuser können sich die Attraktivität von Warenhäusern speist. Auch den traditionellen Laden nicht verdrängen, und ihr die Auszeichnung der Preise schafft Vertrauen. Marktanteil bleibt allein schon deswegen begrenzt, Während der Kunde in den traditionellen Läden nie weil die meisten von ihnen in den Zentren der sicher sein kann, nicht übervorteilt zu werden und großen Städte angesiedelt sind. Nicht zuletzt für denselben Artikel möglicherweise mehr zu verharrt auch der übrige Handel nicht in 10 11 I. Kapitel: Der Einzelhandel auf dem Sprung in die Moderne Allerorten gleichmäßig dagegen übt das Warenhaus seine Anziehungskraft aus durch das in ihm stets herrschende Leben und Treiben. Es mag auch unter den Frauen solche geben, die lieber in einem kleinen Laden kaufen, dessen Besitzer oder Personal sie mit der Zeit persönlich kennengelernt haben [...], aber die überwiegende Mehrzahl der Frauen teilt diese Anschauungen nicht. besteht darin, dass sich Konsumenten gleichberech- » Ihnen bietet der Besuch des Warenhauses Anregungen der verschiedensten Art und deshalb machen sie in ihm lieber Besorgungen tigt zusammenschließen und den Einkauf gemein- als anderswo. Schon das ist so interessant, dass man den ganzen Bazar ruhig durchwandern kann, ohne von vornherein die schaftlich tätigen. Durch die Ausschaltung eines Absicht zu haben, etwas zu kaufen [...] Inzwischen haben es die Warenhäuser sich angelegen sein lassen, immer mehr zur Bequem- profitablen Zwischenhandels kann das gesparte Geld lichkeit ihrer Kunden zu tun, Wertheim hat in Berlin bereits eine Art Ausschank innerhalb seines Etablissements errichtet [...] entweder durch niedrige Preise oder in Form einer Wenn man heute in der Familie hört: Wir gehen zu Wertheim, so heißt das nicht in erster Linie, wir brauchen etwas besonders Dividende an die Mitglieder weitergegeben werden. notwendig für unsere Wirtschaft, sondern man spricht wie von einem Ausfluge, den man etwa nach irgendeinem schönen Orte der Ein weiterer Beweggrund ist die Vermeidung der Umgebung macht [...] Und zwar spüren die Frauen der verschiedensten Gesellschaftsklassen gleichmäßig die Anziehungskraft, damals verbreiteten Lebensmittelverfälschungen, welche das Warenhaus gerade in dieser Hinsicht ausübt; die vornehmen Beamtenfrauen aus dem Westen Berlins oder aus Charlot- insbesondere Verunreinigungen von Lebensmitteln tenburg geben sich dem Trubel ebenso willig hin wie die Handwerker- oder Arbeiterfrauen des Ostens und Nordens, die stets ihr durch Händler. Denn das „Strecken“ von Kaffee oder sonst für Festtage aufgespartes „gutes Kleid“ anziehen, wenn sie zu Wertheim gehen. Bier oder die Beimischung von billigen Ersatzstoffen in Mehl oder anderen Nahrungsmitteln ist in einer Gustav Stresemann Zeit, in der Lebensmittel noch lose und nicht abge- Weimarer Republik Weimarer packt verkauft werden, tatsächlich ein ernst zu nehmendes Problem. Schon um die Jahrhundertwende entwickeln sich die Konsumgenossenschaften zu einer mächtigen Bewegung, die 1903 in der Gründung des „Zentral- größten und umsatzstärksten Unternehmen in neue, exotische Waren, wie beispielsweise Tomaten, verbands der deutschen Konsumvereine“ aufgeht. diesem Bereich. Ihre Wettbewerbsvorteile beziehen auf den Einkaufszettel, und Markenartikelproduzen- Bereits seit 1894 gibt es eine eigene Großhandelsge- diese Handelsformate aus dem zentralen Einkauf, ten erfinden gänzlich neue Produkte und wecken sellschaft, die „Großeinkaufs-Gesellschaft deutscher einem hohen Wiedererkennungswert der Läden und durch geschickt platzierte Werbung neue Bedürfnis- Consumvereine“ (GEG), die 1920 bereits über 1 000 der einheitlichen Werbung. Die Ausstattung der se. Sie reagieren damit auf veränderte Lebensge- Genossenschaften beliefert. Sowohl die GEG als auch Läden variiert – je nachdem, an welchen Kundenkreis wohnheiten, in denen das Bedürfnis nach bequemer die einzelnen Konsumgenossenschaften hatten noch sie sich richten. Während manche eher schlicht Haushaltsführung oder Körperpflege eine andere in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg begonnen, gehalten sind und ihr Angebot auf einige wenige Rolle spielt. eigene Produktionsbetriebe zu gründen. So betreibt Güter zu niedrigen Preisen reduzieren, richten sich Moderne Produktkommunikation: der Konsumverein Leipzig-Plagwitz seit 1907 eine andere mit einem gehobenen Sortiment und attrakti- Die Macht der Marke Mit der Durchsetzung von industriell eigene Bäckerei, eine Müllerei, eine Fleischerei, eine ver Innenausstattung an eine wohlhabendere Das Aufkommen der Markenartikel stellt den Einzel- gefertigten, verpackten Produkten Käserei, eine Wäscherei und eine Mineralwasserfab- Käuferschaft. Eine spezielle Form der Massenfilialbe- handel jedoch vor neue Herausforderungen. Diese (links und oben) gerät das Selbstver- rik. Allerdings sind die Genossenschaftsläden nicht triebe stellen die Einheitspreisgeschäfte dar, die nach intensiv beworbenen und standardisiert verpackten ständnis des Händlers unter Druck. unbedingt für eine attraktive Verkaufskultur be- dem amerikanischen Vorbild Woolworths seit Mitte Waren treten mit dem Kunden quasi direkt in Verbin- Sah er sich vordem als Experte für Schockstarre, sondern entwickelt sich durchaus kannt. Um Kosten zu sparen, ist ihre Einrichtung der 1920er-Jahre expandieren. dung. Der Rat des Einzelhändlers, der sich als Experte seine Ware, ist er durch die selbster- dynamisch weiter. Etwa gleichzeitig mit dem Waren- sparsam gehalten, die Werbung auf ein Minimum Trotz dieser zahlreichen neuen Entwicklungen seines Sortiments versteht, ist damit weniger gefragt. klärende Funktion des Markenpro- haus verbreiten sich Massenfilialbetriebe und reduziert oder als Appell an die Solidarität der droht dem traditionellen Laden kein Ausverkauf. Seit Diese Entwicklung begünstigt diejenigen Händler, die dukts nur noch als Verkäufer gefragt. Konsumgenossenschaften. Auch der traditionelle Konsumenten moralisch aufgeladen. der Mitte des 19. Jahrhunderts war die Anzahl der auf schnellen Umsatz und niedrige Gewinnspannen Laden verändert sich: Die Händler sind nun gezwun- Läden stärker als die Bevölkerung insgesamt gewach- ausgerichtet sind, wie die Massenfilialbetriebe oder gen, ihr Sortiment zu erweitern, mehr Werbung zu Filialen und Einheitspreisläden sen. Um 1900 kommt in Großstädten wie Hamburg Konsumgenossenschaften. Trotzdem bleibt die betreiben und, wenn möglich, ein attraktives Eine stärker kommerziell ausgerichtete Form des Ein- ein Laden auf etwa 50 Einwohner. Die rasante Indust- Selbstbedienung noch die Ausnahme. Sie wird sich Schaufenster zu gestalten. zelhandels bilden die Massenfilialbetriebe und rialisierung zieht immer mehr Menschen in die Stadt, im deutschen Lebensmitteleinzelhandel erst in den Eine Alternative zum traditionellen Handel Ladenketten, die sich seit dem späten 19. Jahrhun- wo sie als Arbeiter oder Angestellte ihr Auskommen 1950er-Jahren durchsetzen, während sie in den USA bieten in jener Zeit die Konsumgenossenschaften, dert verbreitet hatten und in der Mitte der finden, aber weder Zeit noch Platz, um selbst Nah- schon in den 1930er-Jahren aufkommt. die sich parallel zum Aufstieg der Warenhäuser 1920er-Jahre eine Renaissance erleben. Sie konzent- rungsmittel zu erzeugen. Die Städter sind für ihre