Mehr als ein Weiberfeind:

Arthur Schopenhauer (1788-1860)

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Offensichtlich leben wir heute in einer Erinnerungskultur. So war 2009 ein Schillerjahr (250. Geburtstag), 2005 ebenfalls ein Schillerjahr (200. Todestag), 1999 ein Goethejahr (250. Geburtstag), 2000 ein Bach-Jahr (250. Todestag). 2011 wird ein Kleist-Jahr werden (200. Todestag). Etwas weniger ist aufgefallen, dass 2010 auch ein Königin-Luise-Jahr gewesen ist (200. Todestag); Feiern und Ausstellungen beschränkten sich dabei auf und Umgebung. Viel geringer noch ist die Resonanz auf den 15O. Todestag des Philosophen gewesen. Dabei hat ihn sein Biograph und Herausgeber Arthur Hübscher als den „größten Denker des 19. Jahrhunderts“ bezeichnet und er selbst war überzeugt, dass von seinen philosophischen Schriften noch eine ungeheure Wirkung ausgehen würde. Kurz vor seinem Tode verfügte Schopenhauer für seine Grabstätte „auf ewige Zeit“, dass auf einem „granitenen 4 bis 5 Fuß langem Stein“ (1,20 -1,50 m) nur der Name Arthur Schopenhauer stehen solle, „schlechterdings nichts weiter, kein Datum noch Jahreszahl, gar nichts, keine Silbe“. Auf die Frage seines bevollmächtigten Freundes Wilhelm Gwinner, wo er denn ruhen wolle, erwiderte Schopenhauer: „Es ist einerlei, sie werden mich finden.“ Schon der dreißigjährige Schopenhauer, der sein eben vollendetes Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ dem Verleger Brockhaus zum Druck anbietet, leidet nicht an Minderwertigkeits- gefühlen. „Mein Werk“, erklärt er, „ist ein neues philosophisches System: aber neu im ganzen Sinn des Wortes: nicht neue Darstellung des schon Vorhandenen: sondern eine im höchsten Grad zusammenhängende Gedankenreihe, die bisher noch nie in irgend eines Menschen Kopf gekommen.“ Und er fährt dann fort: „Wollte ich ... gemäß dem Werte, welchen ich auf mein Werk lege, meine Forderungen an Sie abmessen, so würden diese außerordentlich, ja unerschwingbar ausfallen.“ Wir werden noch hören, wie es mit dem Erfolg dieser Erstauflage bestellt war. Heute scheint der Name Arthur Schopenhauer – wenn er überhaupt erwähnt wird – dann vor allem im Zusammenhang mit dem Begriff „Weiberfeind“ genannt zu werden. So geschieht es auch in einem Beitrag des „Südkurier“ zu seinem 150. Todestag am 21. September 2010, den ich an jenem Morgen lese. Die Überschrift lautet: „Von der Frau auf den Hund gekommen.“ Ich bin derart aufgebracht, dass ich mir spontan vornehme, im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten, nämlich der Vorträge für das Bildungswerk, mehr zu Schopenhauer zu sagen, als in diesem kläglichen Artikel unserer Regionalzeitung steht. Der Schluss des „Südkurier“-Beitrags lautet: „Schopenhauer ist über sein gescheitertes Liebesleben nie hinweggekommen, es dominiert sein geistiges Erbe und vermindert es.“ Über seine Philosophie, die ja wohl die Hauptsache sein sollte, enthält der Artikel kein einziges Wort. Damit wir den Blick freibekommen für das eigentliche Werk Schopenhauers, möchte ich mich also zuerst dem Kapitel „Schopenhauer und das weibliche Geschlecht“ zuwenden. Reißerisch sollte man vielleicht auch gleich sagen: Schopenhauer und der Sex, denn dieser Aspekt scheint doch heutzutage alle Beschäftigung mit unseren Geistesgrößen zu dominieren. Ich erinnere nur an die Fernsehserie über die Familie Mann vor einigen Jahren und welche Rolle darin homo-erotische Neigungen gespielt haben. Um es kurz zu sagen: Wie die meisten Menschen (und eigentlich alle Lebewesen) ist auch Schopenhauer kein Neutrum gewesen, sondern ein triebhaftes Geschöpf. Dies hat aber sein „geistiges Erbe“ nicht gemindert, sondern es ist zum Zentrum seiner Philosophie geworden, die als Kern alles Seienden, als „Ding an sich“, den W i l l e n erkennt und diesen zum Dreh- und Angelpunkt alles

2 Nachdenkens über die Welt und das Leben macht. Darüber ausführlich etwas später! Nun also erst einmal das Thema „Schopenhauer und die Frauen“. Da ist zunächst zu nennen die Beziehung zu seiner Mutter, Johanna Schopenhauer. Fast zwanzig Jahre jünger als ihr Gatte, der 1747 geborene reiche Danziger Kaufmann Heinrich Floris Schopenhauer, ist Johanna gerade 21 Jahre jung, als ihr Sohn Arthur 1788 zur Welt kommt. Sie wird geschildert als eine geistreiche, temperamentvolle Frau, die voller Phantasie ist und Vergnügen‚ Geselligkeit sowie Abwechslung auf Reisen liebt. Der Gegensatz zum ernsthaften, pflichtbewussten, redlichen, gesetzten und zur Schwermut neigenden Ehemann ist krass. Ein besonders mütterlicher Typ ist sie offensichtlich nicht und der frühe Tod des Mannes, der nach dem Umzug in die Hansestadt Hamburg aus dem Fenster eines Speichers in ein Fleet stürzt, wobei man nicht wissen kann, ob es ein Unglück oder Selbstmord ist, dieser Tod scheint sie weniger zu bedrücken als vielmehr zu befreien. Heinrich Floris Schopenhauer hatte sich zum Umzug nach Hamburg entschlossen, weil Danzig unter die Herrschaft Preußens gekommen war (1799) und er ein freier Bürger bleiben wollte. In Hamburg aber kann er nicht recht heimisch werden; die Geschäfte leiden; er kränkelt und hat Depressionen. Arthur schreibt: „Meine Frau Mutter gab Gesellschaften, während e r in Einsamkeit verging, und amüsierte sich, während e r bittere Qualen litt. Das ist Weiberliebe“. Schon ein Jahr später (1806) zieht Johanna Schopenhauer nach Auflösung der Firma zusammen mit der Tochter Adele (neun Jahre jünger als Arthur) nach . Dort findet sie sofort Zugang zu den tonangebenden Kreisen und gewinnt sogar Goethes Zuneigung. Dies geschieht vor allem auch deshalb, weil sie sich Christiane (Goethes Lebensgefährtin) gegenüber unverkrampft verhält. Mit der Vulpius, wie Christiane überall genannt wird, hat Goethe sozusagen in wilder Ehe gelebt; erst kürzlich hat er sie zu seiner legitimen Frau erklärt, was jedoch ihr Ansehen in der Weimarer Gesellschaft kaum gehoben hat. Johanna Schopenhauer lädt Christiane einfach ein und erklärt: „Wenn Goethe ihr seinen Namen gibt, können wir ihr wohl eine Tasse Tee reichen“.

3 Der 18jährige Arthur ist in Hamburg zurückgeblieben, um seine Kaufmannslehre zu beenden. Es ist für ihn eine Epoche qualvoller innerer Zerrissenheit und einer ungewöhnlich kräftig erwachenden Sinnlichkeit. Ein Gedicht Arthurs entsteht in dieser Zeit. Es beginnt mit den Worten: „O Wollust, o Hölle, o Sinne, o Liebe nicht zu befried’gen und nicht zu besiegen!“ 1807 gibt Schopenhauer die ihm verhasste Kaufmannslehre auf. Er hat sie nur fortgesetzt, weil er es dem Vater einst versprochen hat. Nun zieht er nach Gotha, also in die Nähe von Weimar. Dass er nicht direkt nach Weimar geht, liegt an dem schwierigen Verhältnis zu seiner Mutter. Diese nämlich möchte den ungeselligen Sohn nicht in ihrer unmittelbaren Umgebung und schon gar nicht bei ihr wohnen haben. In Gotha besucht Arthur, der inzwischen bereits 19 Jahre alt ist, das Gymnasium, denn er hat beschlossen, ein Gelehrter zu werden. Nach kurzer Zeit überwirft er sich aber mit seinen Lehrern und kommt nun doch nach Weimar, um sich dort am Gymnasium auf ein Universitätsstudium vorzubereiten. Seine Mutter lehnt es aber nach wie vor ab, mit ihm unter einem Dach zu leben. Sie schreibt ihm noch nach Gotha: „Ich habe dir immer gesagt, es wäre sehr schwer, mit dir zu leben und je näher ich dich betrachte, desto mehr scheint diese Schwierigkeit, für mich wenigstens, zuzunehmen. ... Du bist nur auf Tage bei mir zum Besuch gewesen und jedesmal gab es heftige Szenen um nichts und wieder nichts und jedesmal atmete ich erst frei, wenn du weg warst, weil deine Gegenwart, deine Klagen über unvermeidliche Dinge,

4 deine finstern Gesichter mich drückten. Höre also, auf welchem Fuß ich mit dir sein will: Du bist in deinem Logis zu Hause, in meinem bist du ein Gast. ... An meinen Gesellschaftsabenden kannst du abends bei mir essen, wenn du dich dabei des leidigen Disputierens ... wie auch alles Lamentierens über die dumme Welt und das menschliche Elend enthalten willst, weil mir das immer eine schlechte Nacht und üble Träume macht und ich gern gut schlafe.“ In seiner Weimarer Zeit verguckt sich der junge Schopenhauer in die Schauspielerin Karoline Jagemann. Er ist 20, sie bereits 31, aber er will sie unbedingt haben und schreibt: „Dieses Weib würde ich heimführen, und wenn ich sie Steine klopfend an der Landstraße fände“. Sogar ein Gedicht entsteht; das einzige gereimte Liebesgedicht, das wir von ihm kennen:

„Der Chor zieht durch die Gassen. Wir stehn vor deinem Haus; mein Leid würd’ mir zu Freuden, sähst du zum Fenster raus. Der Chor singt auf der Gasse. Im Wasser und im Schnee: Gehüllt im blauen Mantel zum Fenster auf ich seh’. Die Sonne hüllen Wolken, doch deiner Augen Schein, er flößt am kalten Morgen mir Himmelswärme ein. Dein Fenster hüllt der Vorhang: Du träumst auf seidnem Pfühl vom Glücke künft’ger Liebe. Kennst du des Schicksals Spiel? Der Chor zieht durch die Gassen, vergebens weilt mein Blick. Die Sonne hüllt der Vorhang. Bewölkt ist mein Geschick.“

Das ist natürlich tief empfundener Kitsch in Reinkultur. Aus verschiedenen Gründen muss Schopenhauers Liebe zu seiner Angebeteten platonisch bleiben. Arthur hat keine Chance, vor allem deshalb, weil die umschwärmte Schauspielerin bereits die Geliebte des Herzogs Karl August ist und mit ihm in morganatischer Ehe lebt. Zehn Jahre später kommt es aber in zu einer echten Beziehung mit einer unbekannt gebliebenen Frau, und dieses Verhältnis hat Folgen. Ein uneheliches Kind wird geboren; Schopenhauer aber, der gerade sein Werk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ beendet hat, in dessen letztem Abschnitt er Askese und Entsagung preist, lässt Mutter und Kind im Stich und reist zur

5 Erholung nach Italien. In Venedig verliebt er sich aufs Neue. Er berichtet darüber seiner Schwester Adele. Diese antwortet: „Das Mädchen, das du nennst, jammert mich sehr. Ich hoffe zu Gott, du hast es nicht betrogen.“ Theresa heißt sie; mehr ist nicht bekannt. Auch weiß man nicht, woran die Beziehung gescheitert ist. Adele jedenfalls ist eingeweiht und spürt, wie sehr ihr Bruder entflammt ist. „Nie habe ich eine solche Leidenschaft in Dir für möglich gehalten“, heißt es in einem Brief an Arthur. Auch in Berlin, wo Schopenhauer von 1820 bis 1831 lebt, also von seinem 32. bis zum 43. Lebensjahr, gibt es Beziehungen mit Frauen. Ende 1820 lernt er die 14 Jahre jüngere Chorsängerin, Schauspielerin und Tänzerin Caroline Richter kennen, mit der er jahrelang ein Liebesverhältnis hat. Er nennt es eine „liaison secrette“ und gesteht in einem Brief, sie sei „une fille que j’aimois beaucoup. ...Elle était le seul ètre qui m’était vraiment attaché.“ (Eine geheime Beziehung; ein Mädchen, das ich sehr liebte, das einzige Wesen, das wirklich an mir hing). Offensichtlich der letzte Versuch Schopenhauers, sich dem weiblichen Geschlecht zu nähern, erfolgt 1831. Er ist inzwischen 43, das begehrte Mädchen 17; Schopenhauer, gerade in am Main ansässig geworden, wirbt um sie, weil er sich allein fühlt - und wird abgewiesen. Von nun an wird er außer der Haushälterin nur noch einen Pudel bei sich haben und später das Alleinsein als die wahre einem Philosophen angemessene Existenzform preisen. Vom weiblichen Geschlecht aber, mit dem er eine dauerhafte Beziehung nicht hat aufbauen können, wird er wenig schmeichelhaft, um nicht zu sagen, verächtlich sprechen. Psychologen nennen ein solches Verhalten Rationalisierung.

1851 veröffentlicht Schopenhauer eine Abhandlung mit dem Titel „Über die Weiber“. Unter zehn Paragraphen ist wahrhaft Boshaftes zu lesen. Diese Ausführungen Schopenhauers sind heute so berühmt, dass man sie aus dem Internet ausdrucken kann. Einige Zitate daraus mögen hier genügen: „Schon der Anblick der weiblichen Gestalt lehrt, dass das Weib weder zu großen geistigen noch körperlichen Arbeiten bestimmt ist.

6 ... Zu Pflegerinnen und Erzieherinnen unserer ersten Kindheit eignen die Weiber sich gerade dadurch, dass sie selbst kindisch, läppisch und kurzsichtig, mit einem Worte, Zeit Lebens große Kinder sind. ... Mit den Mädchen hat es die Natur auf das, was man im dramaturgischen Sinne einen Knalleffekt nennt, abgesehen, indem sie dieselben auf wenige Jahre mit überreichlicher Schönheit, Reiz und Fülle ausstattete, auf Kosten ihrer ganzen übrigen Lebenszeit, damit sie nämlich, während jener Jahre der Phantasie eines Mannes sich in dem Maße bemächtigen können, dass er hingerissen wird, die Sorge für sie auf Zeit des Lebens ... zu übernehmen. ... Wie nämlich die weibliche Ameise nach der Begattung die fortan überflüssigen .. Flügel verliert, so meistens nach einem oder zwei Kindbetten das Weib seine Schönheit, wahrscheinlich sogar aus demselben Grunde. ... Dem entsprechend halten die jungen Mädchen ... als ihren alleinigen Beruf ... die Liebe, die Eroberungen und was damit in Verbindung steht wie Toilette, Tanz usw. ... Je edler und vollkommener eine Sache ist, desto später und langsamer gelangt sie zur Reife. Der Mann erlangt die Reife seiner Vernunft und Geisteskräfte kaum vor dem achtundzwanzigsten Jahre, das Weib mit dem achtzehnten. Aber es ist auch eine Vernunft danach: eine gar knapp gemessene. Daher bleiben die Weiber ihr Leben lang Kinder, sehn immer nur das Nächste, kleben an der Gegenwart, nehmen den Schein der Dinge für die Sache und ziehen Kleinigkeiten den wichtigsten Angelegenheiten vor. ... Ein Grundfehler des weiblichen Charakters ist, ... dass sie als die Schwächeren von der Natur nicht auf die Kraft, sondern auf die List angewiesen sind: daher ihre instinktartige Verschlagenheit und ihr unvertilgbarer Hang zum Lügen. ... In unserem monogamischen Weltteile heißt heiraten seine Rechte halbieren und seine Pflichten verdoppeln. ...Wenigstens sollten Weiber niemals über ererbtes ...Vermögen, also Kapitalien, Häuser und Landgüter, freie Disposition haben. ... Dass das Weib seiner Natur nach zum Gehorchen bestimmt sei, gibt sich daran zu erkennen, dass eine jede, welche in die ihr naturwidrige Lage gänzlicher Unabhängigkeit versetzt wird, alsbald sich irgendeinem Manne anschließt, von dem sie sich lenken

7 und beherrschen lässt, weil sie eines Herrn bedarf. Ist sie jung, so ist es ein Liebhaber; ist sie alt, ein Beichtvater.“

Damit wollen das Kapitel „Schopenhauer und das weibliche Geschlecht“ abschließen. Ich hoffe, Ihnen ist Schopenhauer jetzt nicht derart verleidet, dass Sie kein Interesse für seine eigentliche Philosophie mehr aufbringen. Lassen Sie Ihren Zorn verrauchen, denn um ein philosophisches Ideengebäude aufnehmen zu können, muss man „sine ira“ sein, also ohne Zorn. Vieles erklärt sich ja aus Schopenhauers Erfahrungen, dem Zerwürfnis mit der Mutter, später auch mit der Schwester Adele, überhaupt aus den im Ganzen enttäuschenden Beziehungen mit Frauen.

8 Bevor wir uns aber Schopenhauers Werk zuwenden, sollten wir noch einmal auf seine Kindheit, Jugend und Reifejahre blicken, weil darin vieles steckt, was wichtig für das Verständnis ist. Niemand hat diese Zeit besser geschildert als Schopenhauer selbst und zwar in seinem Lebenslauf für die Bewerbung als Privatdozent an der Berliner Universität im Jahre 1819. Schopenhauer schildert seine Kindheit und Jugend, zuerst in Danzig, dann in Hamburg und lobt überschwänglich seinen Vater. „Wie viel ich ihm verdanke, vermag ich kaum in Worten auszudrücken, ... nämlich freie Zeit und eine vollkommen sorglose Existenz, kraft deren es mir gestattet war, ... Studien, die in Hinsicht auf Gelderwerb die unfruchtbarsten sind, Untersuchungen und Meditationen der allerschwierigsten Gattung ausschließlich nachzuhängen und zuletzt, was ich erforscht und durchdacht, niederzuschreiben.“ Und dann berichtet er über die ausgedehnten Reisen, die er mit den Eltern nach England, Frankreich, in die Schweiz, nach Dresden und Danzig unternommen hat und dass er lange Zeit in England und Frankreich verbracht hat, genug, um Sprache und Eigenart der Bewohner kennenzulernen. Schopenhauer schreibt: „Gerade in den Jahren der erwachenden Mannbarkeit, in welchen die menschliche Seele sowohl Eindrücken jeder Art am meisten offen steht, ... wurde mein Geist nicht – wie gewöhnlich geschieht - mit leeren Worten und Berichten von Dingen ... angefüllt und auf diese Weise die ursprüngliche Schärfe des Verstandes abgestumpft und ermüdet, sondern statt dessen durch die Anschauung der Dinge genährt und wahrhaft unterrichtet, ... weshalb ich später nie Gefahr lief, Worte für Dinge zu nehmen.“ Schopenhauer berichtet, dass er als Student sich bemüht habe, einen weiten Umkreis der Wissenschaften zu erfassen, und nennt außer der Philosophie die Botanik, Mineralogie, Astronomie und Medizin, die Psychologie, dann Mathematik, Physik, Chemie, Magnetismus und Elektrizität. Seine Dissertation, mit der er das Studium beendet, lautet: „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“. Besonders freut es Schopenhauer, dass sich Goethe dafür interessiert und es zu einem regem Gedankenaustausch kommt, bald auch über die Farbenlehre, an der Goethe in jenen Jahren

9 arbeitet. Allerdings ist Goethe am Ende verstimmt, als der junge Schopenhauer ihn korrigieren will und Kritik an der Farbenlehre übt. Überliefert ist Goethes Vers dazu: „Trüge gern noch länger des Lehrers Bürden, wenn Schüler nicht gleich Lehrer würden.“

Als Schopenhauer den hier zitierten Lebenslauf beendet hat und im Jahr 1819 nach Berlin aufbricht, um dort als angehender Professor ganz groß herauszukommen und den seiner Meinung nach zu Unrecht bewunderten Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) in den Schatten zu stellen, da kann er noch nicht wissen, dass zwei riesige Enttäuschungen auf ihn warten. Selbstbewusst setzt er den Termin seiner Vorlesungen zeitgleich mit Hegels Lehrveranstaltungen; die Studenten kommen aber nicht zu ihm, sondern strömen in Hegels Saal. Schopenhauer muss seine Lehrtätigkeit mangels Zuhörern bereits nach einem Semester einstellen. Zwar kündigt er seine Veranstaltungen noch vier weitere Semester an, aber es kommen keine mehr zustande. Später wird er auf die Zunft der Philosophieprofessoren schimpfen, sie als Brotgelehrte bezeichnen, die v o n der Philosophie leben, während er als freier Mann ausschließlich f ü r die Philosophie arbeite. Auch hier ist Schopenhauer wieder – ebenso wie nach den Enttäuschungen durch die Frauen – ein Meister der Verdrängung. Als Schopenhauer 1818 sein Hauptwerk “Die Welt als Wille und Vorstellung“ seiner Mutter zu lesen gegeben hat, soll sie es ihm bald darauf mit der Bemerkung zurückgegeben haben, das sei wohl „ein Buch für Apotheker“. Sie selbst ist zu dieser Zeit mit ihren Novellen, Romanen und Reisebeschreibungen bereits eine anerkannte Schriftstellerin. Es kommt mal wieder zum Streit . Die Mutter prophezeit, die ganze Auflage, zu der Brockhaus inzwischen bereit ist, werde unverkäuflich sein und schließlich zu Makulatur verarbeitet werden. Darauf entgegnet der Sohn, man werde seine

10 Schriften noch nach 100 Jahren lesen, wenn ihre längst in Vergessenheit geraten sein würden. - Beide sollten Recht behalten. Bei Amazon entdecke ich Biographien über und Bücher von Johanna Schopenhauer. Und Arthur Schopenhauers Wirkung ist zwar nicht immer gleich gewesen, aber seine Bekanntheit ist groß, auch heute noch. Rüdiger Safranski hat geschrieben: „Es scheint sein Schicksal zu sein, ignoriert und dann wieder entdeckt zu werden.“ Auf viele Menschen hat er unbestritten einen ungeheuren Einfluss ausgeübt. Darüber später mehr. Bis 1831 bleibt Schopenhauer in Berlin, dann flieht er vor der Cholera-Epidemie nach Frankfurt am Main. Er lässt sich dort am Mainufer (Schöne Aussicht) mit dem Blick auf Sachsenhausen nieder, während Hegel in Berlin bleibt und an der Cholera stirbt. Als Privatgelehrter, der vom ererbten Vermögen lebt, hat Schopenhauer nur noch e i n Ziel: Seine Lehre zu vervollständigen, von deren Ausbreitung er trotz aller Enttäuschungen überzeugt bleibt. Erst 18 Jahre nach der „Welt als Wille und Vorstellung“ veröffentlicht er wieder ein Buch mit dem Titel: „Über den Willen in der Natur“, fünf Jahre später eines „Über die Grundprobleme der Ethik“ und 1843 erscheint – trotz der Unverkäuflichkeit des Hauptwerks von 1818 ein zweiter Band der „Welt als Wille und Vorstellung“. Erst ab 1851 beginnt sich ein Erfolg einzustellen und zwar mit den „Aphorismen zur Lebensweisheit“ und nicht zuletzt auch mit seiner Schrift „Über die Weiber“. In Frankfurt lebt Schopenhauer – ähnlich wie der von ihm hochverehrte Immanuel Kant seinerzeit in Königsberg - nach genau geregeltem Tagesablauf. Rechtzeitiges Aufstehen, Schreibtischarbeit in den besten Vormittagsstunden, Flötespielen, dann Mittagessen im immer gleichen Gasthaus, kurze Mittagsruhe, Lektüre, ausgedehnter Spaziergang im Geschwindschritt, begleitet von seinem Pudel, wieder Lektüre, rechtzeitiges Schlafengehen. Schopenhauer rechnet damit, sehr alt zu werden, achtet peinlich auf seine Gesundheit, die er für das höchste Gut im Leben hält- und stirbt doch bereits mit 72 Jahren nach kurzer Erkrankung an einer Lungenentzündung. Es ist der 21. September 1860. Drei Tage zuvor hat er zu seinem Freund Gwinner gesagt, es wäre doch erbärmlich,

11 wenn er jetzt sterben sollte, er habe seinen letzten Schriften noch wichtige Zusätze zu geben. Es freue ihn aber, dass seine Lehren den leergewordenen Platz des verlorenen religiösen Glaubens ausfüllten und zur Quelle innerster Beruhigung und Befriedigung würden. Es wird nun Zeit, dass wir uns diesen Lehren zuwenden. Bekanntlich und wie bereits erwähnt, lautet der Titel von Schopenhauers philosophischem Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“. In seiner Vorrede zur ersten Auflage schreibt er 1818, „wie das Buch zu lesen sei, um möglicherweise verstanden werden zu können“ und fährt fort: „Was durch dasselbe mitgeteilt werden soll, ist ein einziger Gedanke. Dennoch konnte ich, aller Bemühungen ungeachtet, keinen kürzeren Weg, ihn mitzuteilen, finden als dieses ganze Buch. (Der 1818 erschienene 1. Band umfasst 520 Seiten, der 1843 veröffentlichte 2. Band 700 Seiten). Sodann erklärt Schopenhauer Folgendes: „Ein System von Gedanken muss allemal einen architektonischen Zusammenhang haben, das heißt, einen solchen Zusammenhang, ... wo jeder Teil ebensosehr das Ganze enthält, als er vom Ganzen gehalten wird, ... der ganze Gedanke durch jeden Teil an Deutlichkeit gewinnt und auch der kleinste Teil nicht völlig verstanden werden kann, ohne dass schon das Ganze vorher verstanden sei.“ Und nun kommen einige Forderungen Schopenhauers an seine Leser: „Es ergibt sich von selbst, dass unter solchen Umständen zum Eindringen in den dargelegten Gedanken kein anderer Rat ist, als das Buch zweimal zu lesen.“ Dabei erfordere die erste Lektüre „Geduld, aus der Zuversicht geschöpft, bei der zweiten vieles oder alles in ganz anderem Lichte erblicken zu werden.“ Schopenhauer belässt es aber nicht bei dem Verlangen nach zweimaligem Lesen. Um sein Buch wirklich zu verstehen, müsse man auch seine Doktorarbeit „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“ sowie seine Abhandlung „Über das Sehen und die Farben“ studiert haben. Zudem sei es erforderlich, die

12 Hauptschriften Immanuel Kants zu kennen, denn Kant sei „die wichtigste Erscheinung, welche seit zwei Jahrtausenden in der Philosophie hervorgetreten ist.“... „Wenn aber überdies noch der Leser in der Schule des göttlichen Platon geweilt hat, so wird er um so besser vorbereitet und empfänglicher sein, mich zu hören. Ist er aber gar noch der Wohltat der Vedas teilhaftig geworden, ... und hat er die Weihen uralter indischer Weisheit empfangen, dann ist er auf das Allerbeste bereitet, zu hören, was ich ihm vorzutragen habe.“ Um es kurz zu sagen: Schopenhauer fordert von seinem Leser eigentlich alles das, was er selbst geleistet hat – nur nicht, das Buch noch einmal zu schreiben. Dass er vermutlich überzogen hat, ist ihm offenbar selbst bewusst, denn gegen Ende seiner Vorrede schreibt er: „Wer möchte alles dies ertragen? Daher mein Rat, das Buch nur wieder wegzulegen.“ Allein er fürchte, selbst so nicht loszukommen. Der Leser habe das Buch für teures Geld gekauft und frage nun, was ihn schadlos halte. Nun, er könne ja damit eine Lücke in seiner Bibliothek füllen, sauber gebunden werde es sich gewiss gut ausnehmen. Oder auch er könne es seiner gelehrten Freundin auf die Toilette (den Schminktisch) oder den Teetisch legen. „Oder endlich, er kann ja, was gewiss das Beste von allem ist und ich besonders rate, es rezensieren“ (ohne es gelesen zu haben!).

Es mag sein, dass inzwischen auch viele von Ihnen, liebe Zuhörer, den Gedanken verworfen haben, sich näher mit Arthur Schopenhauer zu befassen: erstens, weil Sie seine frauenverachtenden Äußerungen nicht verzeihen können und zweitens, weil seine Forderungen an die Leser eine Zumutung sind. Dieser Schopenhauer scheint reichlich überzeugt von sich selbst gewesen zu sein. Und das war er ja auch wirklich. Seinen philosophischen Hauptgedanken hat Schopenhauer allen Ernstes für das angesehen, „was man unter dem Namen der Philosophie ... gesucht hat und dessen Auffindung ... für unmöglich gehalten“ wurde, nämlich für den Stein der Weisen. „Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält“, ist das Bestreben Fausts. Kant spricht vom „Ding an sich“ und lehrt,

13 dass es uns auf ewig verborgen bleiben wird, weil wir sozusagen nur die Außenseite alles Seienden erkennen können mit Hilfe der uns a priori, das heißt vor aller Erfahrung, gegebenen Vorstellungskategorien. Die wichtigsten sind Raum und Zeit, in denen wir alles uns Begegnende (die Objekte) erfassen, sowie Kausalität (Ursache und Wirkung), womit wir sie in Beziehung setzen. Kant (1724-1804), auf dem Schopenhauers Erkenntnislehre aufbaut, schreibt: „Alle unsere Erkenntnis hebt an bei den Sinnen, geht von da an zum Verstand und endet bei der Vernunft“. Bekanntlich verfügen wir über fünf Sinne: Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken. Da das Sehvermögen wohl am wichtigsten ist (ein Bild wird immer Vorrang vor Gehörtem, Ertastetem, Gerochenem oder Geschmecktem haben) nennt Kant den bloßen Sinneseindruck Anschauung. Damit ist aber noch keine Erkenntnis gegeben. Die bloßen Sinneswahrnehmungen müssen auch verarbeitet werden. Das geschieht durch das Denken des Verstandes, dem bestimmte Denkkategorien innewohnen. Die wichtigste ist das Prinzip von Ursache und Wirkung, das logische Folgern bzw. Schließen. Andere sind die Vorstellung von Möglichkeit und Wirklichkeit, der Beziehungen (Vergleiche), der Qualität, Quantität, der Verhältnisse (Relationen) und der Wechselwirkung (Dialektik). Kant stellt zwölf solcher Kategorien zusammen, von denen Schopenhauer nur Ursache und Wirkung, also die Kausalität , gelten lassen wird. Denken heißt für ihn also logisches Folgern und schließt alles Übrige ein. Über dem Verstand steht die Vernunft. Kant nennt sie auch die Urteilskraft. Sie befähigt den Menschen, das Gedachte zu ordnen und Werte für sein Handeln zu entwickeln. Nach Kant sind auch der Vernunft Ideen a priori „eingegeben“, so zum Beispiel die Idee Gott als dem absolut Guten, die Unsterblichkeit der Seele und die Idee der Freiheit. Dabei fußt Kant auf der Ideenlehre Platons (427-347 v. Chr.), dem auch Schopenhauer noch weitgehend folgen wird. Kant betont aber, es sei wichtig, dass der Mensch seine Vernunft entwickelt, indem er zunächst einmal seinen eigenen Verstand benutzt, um schließlich zu wagen, weise zu werden: „Sapere aude“ (wage es, weise zu werden) ist der Wahlspruch der Aufklärung, so 14 hat es Kant formuliert. Platon, der ebenso wie Kant Vordenker für Schopenhauer ist, hat in seinem berühmten Höhlengleichnis (um 370 v. Chr.) veranschaulicht, dass wir wie die Gefesselten in einer Höhle sitzen, und zwar mit dem Rücken zum Höhleneingang, und nur die Höhlenwand anschauen können, nichts anderes sehen als die Schatten der im Licht Vorübergehenden. Die gefesselten Höhlenbewohner halten aber diese Schatten für die Wirklichkeit, weil sie deren wahres Sein nicht wahrnehmen können. So meinen auch wir, unsere Vorstellungen seien die Wahrheit; die Dinge an sich bleiben uns aber verborgen. Schopenhauer hat dies genauso gesehen. Sein Hauptwerk „Die Welt als Wille und V o r s t e l l u n g“ beginnt mit den Worten: „Die Welt ist meine Vorstellung“. Und er fährt fort: „Dies ist die Wahrheit, welche in Beziehung auf jedes lebende und erkennende Wesen gilt; wiewohl der Mensch allein sie in das reflektierte abstrakte Bewusstsein bringen kann: und tut er dies wirklich, so ist die philosophische Besonnenheit bei ihm eingetreten. Es wird ihm dann deutlich und gewiss, dass er keine Sonne kennt und keine Erde, sondern immer nur ein Auge, das eine Sonne sieht, eine Hand, die eine Erde fühlt, dass die Welt, welche ihn umgibt, nur als Vorstellung da ist, d.h. nur in Beziehung auf ein anderes, das Vorstellende, welches er selbst ist. Keine Wahrheit ist also gewisser, von allen andern unabhängiger und eines Beweises weniger bedürftig, als diese, dass alles, was für die Erkenntnis da ist, also die ganze Welt, nur Objekt in Beziehung auf das Subjekt ist, Anschauung des Anschauenden, mit einem Wort, Vorstellung“. Wo das Objekt anfängt, hört das Subjekt auf. So ist bereits der eigene Leib Objekt, insofern ich ihn betrachte oder fühle. Schopenhauer nennt ihn unmittelbares Objekt; sogar das Auge, das doch die Objekte wahrnimmt, kann zum Objekt werden, wenn ich vor dem Spiegel den Blick darauf richte. Vielleicht haben auch Sie sich schon gefragt, ob denn die Welt, von Schopenhauer als unsere Vorstellung bezeichnet, für ihn keine Realität unabhängig vom Menschen habe. Schließlich hat doch die Welt schon Urzeiten vor dem Menschen existiert und ist der Mensch

15 nach Meinung der Wissenschaft quasi eine Minute vor zwölf erschienen. Zwar hat Schopenhauer die Evolutionstheorie Charles Darwins nicht mehr erfahren, aber auch er geht davon aus, dass es zuerst unbelebte, also anorganische Materie gab, dass danach das Organische entstand, Pflanzen, Tiere und zuletzt der Mensch, durch den sich nach dem Instinkt der Tiere reflektierendes Bewusstsein, Intellekt, herausgebildet hat. Dass es auch für Schopenhauer eine Welt v o r dem Auftreten des Menschen gegeben hat, beweist schon der eine Satz von ihm: „Nicht ein Intellekt hat die Natur hervorgebracht, sondern die Natur den Intellekt.“ Trotzdem bleibt es dabei: Für jeden gilt der erste Satz seines Hauptwerkes: „Die Welt ist meine Vorstellung“. Sie liegt für Sinne und Verstand offen da als anschauliche Vorstellung in Raum und Zeit und ist das Ergebnis gesetzmäßiger Entwicklung am Bande der Kausalität. Da Raum und Zeit messbar sind und Kausalität das Wesen der Logik ist, ist die vorgestellte (mit den Sinnen aufgenommene und vom Verstand zu Begriffen geordnete) Welt wissenschaftlich erforschbar und zu beschreiben. Schopenhauer, der sechs Fremdsprachen wirklich beherrschte (Griechisch, Latein, Französisch, Italienisch, Spanisch, Englisch) und wohl das beste Deutsch unter allen Philosophen geschrieben hat (man kann ihn nämlich mit Genuss lesen!), derselbe Schopenhauer interessierte sich lebenslänglich für die Naturwissenschaften und arbeitete deren Forschungsergebnisse in sein philosophisches System ein. Auch das unterscheidet ihn von seinen philosophischen „Zunftkollegen“, auf die er allerdings auch reichlich verächtlich herabgesehen hat. Infolge der ausgedehnten Reisen, die er als Kind und Jugendlicher hat erleben dürfen, hat er für die damalige Zeit einen außergewöhnlich weiten Horizont gehabt, gefördert durch seine hervorragende Beobachtungsgabe. Und doch muss auch Schopenhauer – was bereits gesagt wurde – Platon und Kant zustimmen, dass uns die vorgestellte Welt ihr eigentliches Sein, ihr Wesen, das Reich der Ideen (Platon) bzw. das Ding an sich (Kant) nicht offenbart. Solche Einsicht hat niemand besser formuliert als Goethe in seinem „Faust“: „Geheimnisvoll am lichten Tag lässt sich Natur des Schleiers nicht berauben, 16 und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag, das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.“ Obwohl Immanuel Kant deutlich gesagt hat, das „Ding an sich“, also das innerste Wesen des Seins, lasse sich nicht erkennen, bemühen sich die Philosophen nach ihm, genau dies zu leisten. Es ist so, als habe Kant eine Preisaufgabe gestellt. Man kann auch an den Baum der Erkenntnis im Paradies denken. Das Verbot macht es erst richtig verlockend, vom Apfel zu kosten und „zu sein wie Gott“. So meint Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) das „Ding an sich“ im Ich zu erkennen, Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) im Weltgeist und Friedrich Wilhelm Schelling (1775-1854) in der Weltseele. Sie alle betreiben spekulative Philosophie; am Schreibtisch sitzend denken sie nach über das Denken. Schopenhauer hat nur Verachtung, Hohn und Spott für sie übrig, spricht von Windbeuteln und Philosophastern. Denn – wie wir schon gehört haben – er ist überzeugt, den Stein der Weisen wirklich gefunden zu haben und glaubt, wie in der Farbenlehre den großen Goethe, so in der Philosophie Immanuel Kant noch zu übertreffen. Bevor Schopenhauer mitteilt, wie er zum „Ding an sich“ vorgedrungen ist, betont er noch einmal, „dass man von a u ß e n dem Wesen der Dinge nimmermehr beikommen“ kann. „Wie immer man auch forschen mag, so gewinnt man nichts als Bilder und Namen. Man gleicht einem, der um ein Schloss herumgeht, vergeblich einen Eingang suchend und einstweilen die Fassaden skizzierend. Und doch ist dies der Weg, den alle Philosophen vor mir gegangen sind.“ Wenn man also von a u ß e n dem Wesen des Seins, dem Ding an sich, nicht beikommen kann, dann muss man, wie Schopenhauer sagt, „einmal den Standpunkt verlegen.“ Man muss den vorstellenden Intellekt verlassen und „statt wie bisher immer nur von dem auszugehen, was v o r s t e l l t , ...von dem, was v o r g e s t e l l t w i r d . Dies ist aber jedem nur bei einem einzigen Dinge möglich, welches ihm auch von i n n e n zugänglich und dadurch ihm auf zweifache Weise gegeben ist: es ist sein eigener L e i b , der in der objektiven Welt eben auch als Vorstellung im Raume dasteht, zugleich aber sich dem eigenen S e l b s t -

17 b e w u s s t s e i n als W i l l e kundgibt. Diese unmittelbare Erkenntnis, welche jeder vom Wesen seiner eigenen ... Erscheinung hat, muss nachher auf die übrigen Erscheinungen analogisch übertragen werden und wird alsdann der Schlüssel zur Erkenntnis des inneren Wesens der Dinge, d.h. der Dinge an sich selbst.“ Schopenhauer verdeutlicht sein Vorgehen noch einmal; er schreibt: „Indem man ... das Selbstbewusstsein ... zum Ausleger des Bewusstseins anderer Dinge macht“, findet man den allein rechten Weg, „die enge Pforte zur Wahrheit“. An anderer Stelle heißt es: „Die letzten Grundgeheimnisse trägt der Mensch in seinem Innern, und dieses ist ihm am unmittelbarsten zugänglich. Daher er nur hier den Schlüssel zum Rätsel der Welt zu finden und das Wesen aller Dinge an e i n e m Faden zu erfassen hoffen darf.“ Und schließlich folgt die fast triumphierende Feststellung: „Alle Philosophen haben darin geirrt, dass sie das Metaphysische, das Unzerstörbare, das Ewige im Menschen in den Intellekt setzten; es liegt ausschließlich im Willen.“ Schon Friedrich von Hardenberg, als romantischer Dichter Novalis genannt (1772-1801) hat gesagt: „Nach innen geht der geheimnisvolle Weg.“ Mit ihm und mit den beiden wichtigen Philosophen Fichte und Schelling, wohl den bedeutendsten der Romantik, hat sich Schopenhauer als Student intensiv beschäftigt und er hat ihnen Anregungen zu seiner Philosophie des Willens zu verdanken. Das wird ihn nicht hindern, später nur verächtlich von ihnen zu reden. Aber nun zu der Frage: Was versteht Schopenhauer denn unter dem Willen, den er zum Wesenskern alles Seins erklärt hat? Wille ist für Schopenhauer – ebenso wie Vorstellung – nicht einfach das, was wir im landläufigen Sinne damit meinen, wenn wir z.B. sagen, jemand habe einen starken Willen, denn er wisse, was er wolle und verstehe es, das auch durchzusetzen. Hören wir Schopenhauer selbst zu, wie er den zentralen Begriff seiner Philosophie erklärt: Der Wille, sagt er, ist das, was „jedem Ding, was immer es auch sein mag, die Kraft verleiht, vermöge derer es dasein und wirken kann.“ Der Wille wirke bereits im unorganischen Bereich als „ursprüngliche Kraft“, die sich in chemischen und physischen Erscheinungen manifestiert“, etwas als Kristallisation oder als 18 Gravitation und Schwerkraft, ferner als Vegetation der Pflanzen, als Instinkt der Tiere. Rein an sich betrachtet ist für Schopenhauer der Wille „nur ein blinder, unaufhaltsamer Drang. ... Der Wille will immer das Leben ... und so ist es einerlei und nur ein Pleonasmus, wenn wir statt der Wille“ sagen: der Wille zum Leben.“ „Was nämlich so ungestüm das Dasein verlangt, ... ist der Wille zum Leben überhaupt, welcher in allen einer und derselbe ist.“ Und weil derselbe Wille als Triebkraft in allem und in allen wirkt, „sehen wir in der Natur überall Streit, Kampf und Wechsel des Sieges.“ ...“Jede Stufe der Objektivation des Willens macht der andern die Materie, den Raum, die Zeit streitig. Durch die gesamte Natur lässt sich dieser Streit verfolgen, ja, sie besteht eben wieder nur durch ihn.“ ... „Die deutlichste Sichtbarkeit erreicht dieser allgemeine Kampf in der Tierwelt, welche die Pflanzenwelt zu ihrer Nahrung hat und in welcher selbst wieder jedes Tier die Beute und Nahrung eines andern wird, ... so dass der Wille zum Leben durchgängig an sich selber zehrt und in verschiedenen Gestalten seine eigene Nahrung ist, bis zuletzt das Menschengeschlecht, weil es alle andern überwältigt, die Natur für ein Fabrikat zu seinem Gebrauch ansieht.“ Aber auch unter den Menschen geht dieser Kampf ums Dasein weiter. Charles Darwin wird ihn „the struggle for life“ nennen. Schopenhauer erklärt, erst hier könne er die furchtbarsten Ausmaße annehmen; dann werde der Mensch dem Menschen zum Wolfe (homo homini lupus). Es fällt heute nicht schwer, solche Sätze zu bestätigen. Die Weltkriege des 20. Jahrhunderts und der Völkermord an den Juden, begründet als Schicksalskampf der Rassen um Lebensraum und mit dem Existenzrecht der „höheren“ Rasse, das sind wohl die bisher krassesten Erscheinungsformen. Aber auch im alltäglichen Leben zeigt sich dieser Lebenskampf, z.B. in der entfesselten kapitalistischen Wirtschaftswelt, wo es um Rohstoffe und Absatzmärkte geht, wo Profitgier und Spekulation die Arbeitnehmer schädigen, wo die Sorge um den Arbeitsplatz zum Mobbing führt und wo überall Schwächere auf der Strecke bleiben – als Folge eines rücksichtslosen Verdrängungswettbewerbs. Die Situation des Menschen hat vielleicht keiner besser definiert als

19 der Ehrenbürger Königsfelds, Albert Schweitzer. Er hat sich intensiv mit Schopenhauer auseinandergesetzt und unter der „Zerrissenheit der Welt“ gelitten. Er schreibt: „Die Notwendigkeit, Leben zu vernichten und Leben zu schädigen, ist mir auferlegt. ... Meine Nahrung gewinne ich durch Vernichtung von Pflanzen und Tieren. Mein Glück erbaut sich aus der Schädigung von Nebenmenschen. ... Warum gehen Naturgesetz und Sittengesetz so auseinander? ... Warum müssen wir diesen Widerstreit erleben, ohne Hoffnung, ihn jemals ausgleichen zu können? Warum statt der Harmonie die Zerrissenheit?“ Denn sowie der Mensch über sich selbst und die Welt um sich herum nachdenke, erfasse er sich als „Wille zum Leben inmitten von Willen zum Leben“. Am prägnantesten hat Schweitzer dies in dem berühmten Satz formuliert: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“. Zurück zu Schopenhauer: Wie schon ausgeführt, ist für ihn der Wille das Ding an sich, der Wesenskern, die Triebkraft alles Seienden; er ist e i n – u n d d e r s e l b e in allem. Und so ist es derselbe Wille, der in demjenigen wirkt, welcher auf Kosten des anderen lebt und dem er damit Leid zufügt, und wiederum ist derselbe Wille in demjenigen, der das ihm angetane Leid ertragen muss. Der Wille „schlägt die Zähne in sein eigenes Fleisch. ... Der Quäler und der Gequälte sind Eines. Gingen ihnen beiden die Augen auf, so würden sie erkennen, dass sie im Wesen gleich sind und dass ihr Leben aus Leid zufügen und Leid empfangen besteht, im Kern also eine unendliche Kette von Leiden ist.“ „Die Welt ist das Weltgericht“, sagt Schopenhauer. Und weiter: „Könnte man allen Jammer der Welt in eine Waagschale legen und alle Schuld der Welt in die andere; so würde gewiss die Zunge einstehen.“ Dass Quäler und Gequälter im Grunde eines sind, sieht der „normale“ Mensch allerdings nicht. Sein Blick ist getrübt durch den „Schleier der Maja“, wie die Inder sagen, der das Wesentliche verhüllt. „Er sieht das Böse in der Welt, aber weit entfernt zu erkennen, dass beide nur verschiedene Seiten der Erscheinung des e i n e n Willens zum Leben sind, hält er sie für sehr verschieden, ja ganz entgegengesetzt, und so sucht er durch Verursachung des fremden Leidens dem eigenen Leiden zu entgehen.“ 20 Aber es sei gleich gesagt: Glücklich wird auch der vom Schleier der Maja umfangene und somit an Erkenntnis gehinderte Mensch nicht werden. Denn, so Schopenhauer, sobald es kein Leiden mehr gibt, stellt sich nicht Glück ein, sondern Langeweile. Er sagt: „Zwischen Schmerz und Langeweile wird jedes Menschenleben hin- und hergeworfen.“ Das Glück nämlich empfinden die Menschen in der Regel gar nicht, solange es währt; sie müssten es sich vielmehr extra ins Bewusstsein sozusagen hineinholen, was fast niemals geschieht. So gibt es auch in der Literatur ganz selten ein Innehalten beim Glück. Mir fallen nur zwei Stellen auf Anhieb ein. Zunächst Goethe ( „Faust II “): „ Sag mir, Vater, wo wir wallen, sag mir Guter, wer wir sind. Glücklich sind wir. Allen, allen ist das Dasein so gelind.“ Und in Max Frischs „Andorra“ sagt Andri, als er Tischler werden darf: „Später werde ich immer denken, dass ich jetzt gejauchzt habe. ... Dabei ziehe ich bloß meine Schürze ab. ...So ist Glück. Nie werde ich vergessen, wie ich jetzt hier stehe.“ Während bei Goethe das Glücklichsein fast im Zustand der Bewusstlosigkeit empfunden wird, wirkt Andris Äußerung eigentlich schon nicht mehr natürlich. Denn wer wirklich glücklich ist, wird es nicht aussprechen und sagen: So ist Glück! Schopenhauer erklärt dies folgendermaßen: „Was man gemeinhin Glück nennt, ist eigentlich immer nur negativ und durchaus nie positiv. Unmittelbar gegeben ist nur immer der Mangel, d.h. der Schmerz. Die Befriedigung und den Genuss können wir nur mittelbar erkennen, durch Erinnerung an das verloren gegangene Leiden und Entbehren. ...Daher kommt es, dass wir der Güter und Vorteile, die wir wirklich besitzen, gar nicht recht innewerden noch sie schätzen, sondern nicht anders meinen als eben, es müsse so sein, denn sie beglücken immer nur negativ, Leiden abhaltend.“ Und er fährt fort: „Hingegen, alles, was unserm Willen sich entgegenstellt, ihn durchkreuzt, ihm widerstrebt, also alles Unangenehme und Schmerzliche, empfinden wir unmittelbar, sogleich und sehr deutlich.“ Da das Leiden notwendig zum Leben gehört, wird ihm auch niemand ganz entgehen können. Trotzdem hat Schopenhauer auch

21 darüber nachgedacht, wie man einigermaßen unangefochten leben kann. Er hat seine Gedanken dazu veröffentlicht in den „Aphorismen zur Lebensweisheit“ (1851), und dieses Büchlein verschaffte ihm zum ersten Mal größere Aufmerksamkeit. Das Kapitel „Über die Weiber“ gehört übrigens auch zu diesem Buch. Aphorismen sind prägnant formulierte Aussprüche; man hat sie auch die Sprichwörter der Gebildeten genannt. Sie eignen sich hervorragend zum Zitieren. Hier einige Kostproben aus der Feder Schopenhauers: „Um nicht sehr unglücklich zu werden, ist das sicherste Mittel, dass man nicht verlangt, sehr glücklich zu sein.“ „Der Tor läuft den Genüssen des Lebens nach und sieht sich betrogen; der Weise vermeidet die Übel.“ „Der Reichtum gleicht dem Seewasser; je mehr man davon trinkt, desto durstiger wird man.“ „Was einer in sich ist und an sich selber hat, kurz die Persönlichkeit und deren Wert, ist das alleinige Unmittelbare zu seinem Glück und Wohlsein.“ „Was nun aber uns am unmittelbarsten beglückt, ist die Heiterkeit des Sinnes.“ „Nun ist aber gewiss, dass zur Heiterkeit nichts weniger beiträgt als Reichtum und nichts mehr als Gesundheit.“ „Kommt zu einem schmerzlosen Zustand noch die Abwesenheit der Langeweile, so ist das irdische Glück im wesentlichen erreicht, denn das übrige ist Schimäre.“ Wir sehen, im Kern läuft Schopenhauers Ratschlag für einen vernünftigen Lebenswandel auf das hinaus, was die stoische Philosophie des Altertums bereits propagiert hat mit ihrem Leitspruch des „nihilo nimis“, der „Vermeidung aller Exzesse und Ausschweifungen“, wie es auch Schopenhauer formuliert hat. Dazu gehört – wie schon gesagt – auch der Rückzug auf die eigene Persönlichkeit. Denn, so Schopenhauer, „die Sucht nach Gesellschaft, Zerstreuung, Vergnügen und Luxus jeder Art“ entspringe hauptsächlich der inneren Leere. Er schreibt: „Von außen überhaupt darf man in keiner Hinsicht viel erwarten. Was einer dem andern sein kann, hat sehr enge Grenzen; am Ende bleibt jeder allein, und da kommt es darauf an, w e r jetzt allein bleibt.“ Aus der Literatur fällt einem dazu sofort Hermann Hesses Gedicht „Im Nebel“ ein, wo es in der letzten Strophe heißt: 22 „Seltsam im Nebel zu wandern! Leben ist Einsamsein. Kein Mensch kennt den andern, jeder ist allein.“

Als Schopenhauer seine Aphorismen zur Lebensweisheit veröffentlicht, ist er bereits im 64.Lebensjahr, also in einem Alter, in dem Sinnlichkeit, Triebhaftigkeit und Leidenschaftlichkeit allmählich nachlassen und den Menschen immer weniger beherrschen. Wie schon zu Beginn gesagt, ist Schopenhauer ein ganz besonders leidenschaftlicher Mensch gewesen. Wohl auch deshalb hat er im Willen, der im Kern Wille zum Leben ist, das Ding an sich, das Wesen aller Erscheinungen, gesehen. Wir haben es schon gehört: Als Wille zum Leben ist der Wille „ein blinder, unaufhaltsamer Drang“. „Selbsterhaltung ist sein erstes Streben und sobald er für dies gesorgt hat, strebt er nach Fortpflanzung. ... Mehr kann er als bloß natürliches Wesen nicht anstreben.“ So erweist sich „als die entschiedene, stärkste Bejahung des Lebens ... der Geschlechtstrieb dadurch, dass er dem natürlichen Menschen wie dem Tiere der letzte Zweck, das höchste Ziel seines Lebens ist.“ Darauf wird später Sigmund Freud aufbauen. Nach einem Blick in das Reich der Dichtung, in dem die Liebe zwischen den Geschlechtern seit jeher das Hauptthema ist, man denke nur an Shakespeares „Romeo und Julia“ oder an Goethes „Werther", kann sich Schopenhauer nur wundern, „dass eine Sache, welche im Menschenleben durchweg eine so bedeutende Rolle spielt, von den Philosophen bisher so gut wie gar nicht in Betrachtung genommen worden ist.“ Wie schon einmal gesagt, sieht ja Schopenhauer den entscheidenden Fehler aller Philosophen vor ihm darin, dass sie das Metaphysische, das Unzerstörbare, das Ewige im Menschen in den Intellekt setzten; es liegt, so betont er, „ausschließlich im Willen“. Mit Blick auf die unendlich vielen Liebesgedichte, Liebesdramen und Liebesromane meint nun Schopenhauer: „Wozu das Drängen, Toben, die Angst und die Not? Es handelt sich ja bloß darum, dass jeder Hans seine Grete finde; weshalb sollte eine solche Kleinigkeit

23 eine so wichtige Rolle spielen und unaufhörlich Störung und Verwirrung in das so wohlgeordnete Menschenleben bringen? Nun, es sei eben kleine Kleinigkeit, worum es gehe, „vielmehr ist die Wichtigkeit der Sache dem Ernst und Eifer des Treibens vollkommen angemessen. ... Der Endzweck aller Liebeshändel und was dadurch entschieden wird, ist nichts Geringeres als die Zusammensetzung der nächsten Generation. ... Die wachsende Zuneigung zweier Liebenden ist eigentlich schon der Lebenswille des neuen Individuums, welches sie zeugen können und möchten; ja schon im Zusammentreffen ihrer sehnsuchtsvollen Blicke entzündet sich neues Leben.“ Die Verliebtheit sei nur ein Wahn, durch den die Natur ihren Zweck erreiche. So erscheint dem Liebenden „als ein Gut für sich selbst, was in Wahrheit bloß eines für die Gattung ist.“ Sehr nüchtern führt dann Schopenhauer aus, dass „nach dem endlich erlangten Genuss jeder Verliebte eine wundersame Enttäuschung erfahren ... und nach endlicher Vollbringung des großen Werkes sich angeführt fühlen wird. Denn der Wahn ist verschwunden; das Individuum erfährt sich als der Betrogene der Gattung.“ Mit der Befriedigung des Geschlechtstriebes wird das Leben über die eigene Existenz hinaus bejaht und zwar für eine letzthin unendliche Zeit. Damit werden „auch Leiden und Tod, als zur Erscheinung des Lebens gehörig, aufs Neue mitbejaht“ und eine Erlösung daraus vereitelt. Für Schopenhauer liegt übrigens darin „der tiefe Grund der Scham über das Zeugungsgeschäft“. Denn, um es einmal ganz deutlich zu sagen: Schopenhauer ist davon überzeugt, dass Leben und Leiden geradezu austauschbare Begriffe sind. Jede Lebensgeschichte, schreibt er, sei eine Leidensgeschichte und „vielleicht wird nie ein Mensch am Ende seines Lebens, wenn er aufrichtig ist, wünschen, es nochmals durchzumachen, sondern eher als das viel lieber gänzliches Nichtsein wählen.“

Liebe Zuhörer: Wir gelangen nun immer mehr zu einem Schopenhauer, der ganz vom Pessimismus geprägt gewesen ist und für den das Leid in der Welt zum Ausgangspunkt und seine Überwindung zum Ziel seines Philosophierens wurde. Als Sechzehnjähriger hat Schopenhauer ein Erlebnis gehabt, das ihn 24 zutiefst berührte und das für ihn zum Sinnbild des Lebens geworden ist. Es war der Anblick der Galeerensklaven in der südfranzösischen Hafenstadt Toulon. Einmal fragt Schopenhauer: „Woher denn ... hat Dante den Stoff zu seiner Hölle genommen als aus dieser unserer wirklichen Welt? Und doch ist es eine recht ordentliche Hölle geworden. Hingegen als er an die Aufgabe kam, den Himmel und seine Freuden zu schildern, da hatte er eine unüberwindliche Schwierigkeit, weil eben unsere Welt gar keine Materialien zu so etwas darbietet.“ Den Optimismus hat Schopenhauer „nicht bloß als eine absurde, sondern auch als eine wahrhaft ruchlose Denkungsart“ bezeichnet. Er sei ein „bitterer Hohn über die namenlosen Leiden der Menschheit“. Und für Leibniz’ Erklärung unserer Welt als der besten aller möglichen Welten hat er nur Spott übrig gehabt. Die christliche Glaubenslehre sieht er dagegen mit Sympathie, weil „in den Evangelien Welt und Übel beinahe als anonyme Ausdrücke gebraucht werden“ und es darum gehe, die Welt zu überwinden.

Damit kommen wir zu Schopenhauers Hauptanliegen: Wie können wir aus dem Teufelskreis des Egoismus erlöst werden, der als Wille zum Leben sich auf Kosten anderer verwirklichen will und damit Ursache unendlicher Leiden und des ewigen Kampfes ums Dasein ist? Wie können wir die unendliche Kette von Wunsch – Erfüllung und erneutem Begehren durchbrechen, dem Los der Danaiden entkommen, so dass es nicht mehr gilt, was Goethe seinen Faust beklagen lässt: „So taum’l ich von Begierde zu Genuss und im Genuss verschmacht’ ich vor Begierde.“ Bekanntlich ist Faust zu Beginn des Dramas derart verzweifelt, das er sich das Leben nehmen möchte. Osterglocken und Ostergesang halten ihn davon zurück. Müsste man nun nicht meinen, für den total pessimistischen und, was den christlichen Glauben betrifft, skeptischen Schopenhauer bliebe nur noch der Selbstmord übrig als Ausweg und Verkürzung des Lebensleidens? Natürlich hat er diesen Gedanken erwogen, dann aber ihn entschieden verworfen. Denn, so schreibt er, der Selbstmord sei „weit entfernt, Verneinung des Willens zu sein“, vielmehr sei er „ein

25 Phänomen starker Bejahung des Willens.“ Der Selbstmörder wolle sich ja töten, weil ihm die Genüsse des Lebens versagt bleiben; er sei nicht dem Leben an sich abgeneigt, sondern nur die Bedingungen seines persönlichen Daseins könne er nicht mehr ertragen. So paradox es klingt: Im Selbstmörder erscheint der Wille zum Leben ebenso wie im Wohlbehagen der Selbsterhaltung und in der Wollust der Zeugung. Zudem, so Schopenhauer, verneint der Selbstmörder ja nur das eigene Individuum, nicht die Spezies, die Gattung Mensch. „So ist der Selbstmord zwar die willkürliche Zerstörung einer einzelnen Erscheinung; dabei bleibt jedoch das Ding an sich ... ungestört stehen, ... wie der Regenbogen feststeht, so schnell auch die Tropfen, welche auf Augenblicke seine Träger sind, wechseln.“ Der Selbstmord sei damit „das Meisterstück der Maja als der schreiendste Ausdruck des Widerspruchs des Willens zum Leben mit sich selbst. ... Eben weil der Selbstmörder nicht aufhören kann zu wollen, hört er auf zu leben und der Wille bejaht sich hier eben durch die Aufhebung seiner Erscheinung, weil er sich anders nicht mehr bejahen kann.“ Wie schon gesagt, kommt es darauf an, den Teufelskreis des Egoismus zu durchbrechen, wenn die Kette von Leiden zu verursachen und Leiden erdulden zu müssen zerbrochen werden soll. „Bloßes Moralisieren kann nicht wirken“, schreibt Schopenhauer. Man könne „so wenig durch ethische Vorträge oder Predigten einen Tugendhaften zustande bringen, als alle Ästhetiken, von der des Aristoteles an, je einen Dichter gemacht haben.“ Der Wille selbst wird nämlich durch Tugendlehren überhaupt nicht berührt. Es kommt darauf an, auf die Beweggründe, die Motive, einzuwirken. So kann ich zum Beispiel einen durch und durch egoistischen Menschen dazu veranlassen, eine große Schenkung an Hilfsbedürftige zu machen, wenn ich ihn davon überzeuge, in einem künftigen Leben werde ihm alles zehnfach wieder zu Gute kommen. Er ist damit laut Schopenhauer kein besserer Mensch als wenn er dieselbe Summe zur Verbesserung seines Landgutes verwendet hätte. Nüchtern stellt Schopenhauer fest, dass man Einfluss ausüben könne allein durch Einwirkung auf die Eigenliebe, da jeder nur für sich das Beste wolle. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, heißt es im Markus-Evangelium (12,31). Da von Natur aus jeder sich selbst am meisten liebt, wird hier also ganz realistisch das Maß der 26 Eigenliebe zum Maß der Nächstenliebe erklärt. Wenn ich aber den Nächsten so lieben soll wie mich selbst, dann muss ich zumindest versuchen, mich ganz in ihn hineinzuversetzen, statt egozentrisch zu bleiben, also nur auf mich selbst bezogen. Ich muss mich darum bemühen, mich in den Nächsten einzufühlen. Mitgefühl kann dann sogar zum Mitleid werden und schließlich zum Bestreben, das Leiden des anderen zu verringern. Um Schopenhauer zu begreifen, wie das gerade nach allem von ihm bisher Gehörten möglich werden soll, müssen wir wieder einmal etwas weiter ausholen. Trotz allem Egoismus, trotz des beständigen Lebenskampfes – oder gerade deswegen? – gibt es nämlich für Schopenhauer ein metaphysisches Bedürfnis des Menschen. Im 17. Kapitel des 2. Bandes der „Welt als Wille und Vorstellung“ schreibt er darüber das Folgende: „Den Menschen ausgenommen, wundert sich kein Wesen über sein eigenes Dasein; sondern ihnen allen versteht dasselbe sich so sehr von selbst, dass sie es nicht bemerken. Aus der Ruhe des Blickes der Tiere spricht noch die Weisheit der Natur, weil in ihnen der Wille und der Intellekt noch nicht weit genug auseinandergetreten sind, um bei ihrem Wiederbegegnen sich über einander verwundern zu können. So hängt hier die ganze Erscheinung noch fest am Stamme der Natur, dem sie entsprossen, und ist der unbewussten Allwissenheit der großen Mutter teilhaft. Erst nachdem das innere Wesen der Natur (der Wille zum Leben in seiner Objektivation) sich durch die beiden Reiche der bewusstlosen Wesen und dann durch die lange Reihe der Tiere, rüstig und wohlgemut, gesteigert hat, gelangt es endlich, beim Eintritt der Vernunft, also im Menschen, zum ersten Male zur Besinnung: dann wundert es sich über seine eigenen Werke und fragt sich, was es selbst sei. Seine Verwunderung ist aber um so ernstlicher, als es hier zum ersten Male mit Bewusstsein dem Tode gegenübersteht und neben der Endlichkeit alles Daseins auch die Vergeblichkeit alles Strebens sich ihm mehr oder minder aufdringt. Mit dieser Besinnung und dieser Verwunderung entsteht daher das dem Menschen allein eigene Bedürfnis einer Metaphysik: er ist sonach ein animal metaphysicum.“

27 Schon Aristoteles setzt ja an den Beginn aller Philosophie die Verwunderung, das Staunen. Schopenhauer bezieht sich darauf, fügt dann aber hinzu, dass es neben dem Wissen um den Tod die Betrachtung des Leidens und der Not des Lebens sei, was den stärksten Anstoß zum philosophischen Besinnen und zu metaphysischen Auslegungen der Welt gebe. Für die allermeisten Menschen, so Schopenhauer, beantworten die Religionen die metaphysischen Fragen, „indem sie ... den Menschen über sich selbst und das zeitliche Dasein hinausheben.“ Hierin zeige sich glänzend der große Wert derselben, ja ihre Unentbehrlichkeit. Schon Platon habe gesagt, es sei unmöglich, dass die Menge philosophisch gebildet würde. Bei allem Respekt gegenüber den großen Menschheitsreligionen und ganz besonders gegenüber der christlichen, wird deutlich, dass Schopenhauer eine philosophisch fundierte Metaphysik wesentlich höher einstuft als eine „nur“ religiöse. Und da ist es eben die „nähere Beschaffenheit des Erstaunens, welche zum Philosophieren treibt“, nämlich der „Anblick des Übels und des Bösen in der Welt, welche, selbst wenn sie ... vom Guten weit überwogen würden, dennoch etwas sind, was ganz und gar und überhaupt nicht sein sollte.“ Aus der Erkenntnis, dass das Böse vor allem eine Folge des egoistischen Verhaltens ist und aus der Einsicht, dass die Kluft zwischen den Menschen im Grunde auf Täuschung beruht, weil in allen derselbe Wille wirkt, erwächst schließlich das Mitleid. Das Leid des andern geht mich direkt an, denn im Wesen ist er ja eins mit mir. Aus dem Buddhismus, den Schopenhauer ethisch noch höher bewertet als das Christentum, zitiert er wiederholt die Formel „Tat twam asi!“, das heißt: „Dieses bist Du!“ So kann aus der Selbstliebe Nächstenliebe werden und aus dieser, da das Leid des Nächsten durch die Wesensgleichheit zum eigenen Leid wird, das Mitleid erwachsen. Für Schopenhauer ist es die höchste und reinste Form der Liebe und er kann sagen: „Alle Liebe (gemeint sind agape und caritas ) ist Mitleid.“ Und diese „wissende Liebe“ wird den Weg zur Erlösung bahnen. Es ist wie in Wagners „Parsifal“: „Durch Mitleid wissend“ erlöst Parzival den leidenden König Amfortas. Richard Wagner war übrigens ganz durchdrungen von Schopenhauers Philosophie. Schopenhauer aber, der Wagner noch erlebt hat, brachte kein Verständnis für dessen Musik mehr 28 auf.

Das Mitleid erstreckt sich bei Schopenhauer auch auf die Tiere. Denn der nachdenkliche Mensch erkennt ja, „dass das Ansich seiner eigenen Erscheinung auch das der fremden ist, nämlich jener Wille zum Leben, welcher das Wesen ausmacht und in allem lebt.“ Weil das so ist, wird kein verständiger Mensch ein Tier quälen. Wohltuend unterscheidet sich Schopenhauer hier von Descartes, der Tieren die Seele abgesprochen hat. Schopenhauer hat bekanntlich seinen Pudel Atma, Weltseele, genannt, um die Verbundenheit mit allem zum Ausdruck zu bringen. Ganz besonders bewundert er die Ethik der Hindus, welche den Verzicht auf tierische Nahrung vorschreibt, dazu Nächstenliebe unter Verleugnung aller Selbstliebe, Vergeltung von Bösem mit Gutem, asketisch-einfaches Leben, weitgehende Überwindung des eigenen Willens, Furchtlosigkeit gegenüber dem Tod, Bereitschaft und sogar Sehnsucht, ins Nirwana, also ins Nichts, einzugehen. Es sei das Ideal „ein unerschütterlicher Friede, eine tiefe Ruhe und innige Heiterkeit, ein Zustand, zu dem wir, wenn er uns vor die Augen oder die Einbildungskraft gebracht wird, nicht ohne die größte Sehnsucht blicken können.“ Schopenhauer selbst hat diesen Weg nicht wirklich eingeschlagen. Er hat täglich gut gespeist, auch Fleisch, und einen edlen Wein nicht verachtet, hat sein ererbtes Vermögen nicht verschenkt, sondern zusammengehalten und beträchtlich vermehrt, war durchaus ehrgeizig und darauf aus, sich einen Namen unter den Menschen zu machen und als Denker Unsterblichkeit zu erlangen. Einmal danach befragt, warum er selbst nicht gemäß seiner Lehre lebe, soll er geantwortet haben: Ich bin nur der Wegweiser. Dieser zeigt zwar die Richtung für den Wanderer, geht aber nicht mit. Doch für alle, die wie er, den Weg gänzlicher Entsagung nicht gehen können oder wollen, hat Schopenhauer, der täglich Querflöte spielte, eine Vorstufe zur Befreiung von der Herrschaft des Willens bereit: Die aktive oder zumindest die passive Hingabe an die Künste, von denen die Musik die höchste, weil abstrakteste, ist. Während des reinen Kunstgenusses schweigt das sonst so quälende Wollen; wir

29 werden zum „willenlosen Subjekt des Erkennens“, der ästhetischen Betrachtung hingegeben und fähig zu vertiefter Kontemplation, zum Aufgehen in der Anschauung und Verlieren im Objekt, Vergessen aller Individualität und schließlich zum Erkennen der allen Erscheinungen zugrunde liegenden Ideen. Als höchste aller Künste ist aber die Musik „keineswegs gleich den anderen Künsten nur das Abbild der Ideen, sondern Abbild des Willens selbst. Von den tiefsten bis zu den höchsten Tönen meint Schopenhauer die gesamte Stufenfolge der Ideen wiederzuerkennen, in denen der Wille sich objektiviert, d.h. Gestalt annimmt. Allerdings kann die Kunst nicht für immer erlösen, sondern nur auf Augenblicke, doch ist sie bereits ein Trost, der für die Zeit ihrer Wirkung die Mühen des Lebens vergessen lässt. Erst der zu gänzlicher Enthaltsamkeit und Resignation gelangte asketische Heilige vom Typus eines Franz von Assisi, eines frommen Hindu oder buddhistischen Mönches, dem es gelungen ist, seinen Willen zu zu verneinen und zu überwinden, hat den Weg zur dauerhaften Erlösung beschritten.

Obwohl zu Lebzeiten kaum beachtet, hat Schopenhauer – so wie er es stets erwartet hat – eine enorme Wirkung erzielt. Er wurde und wird gelesen, seine Werke werden immer wieder neu aufgelegt. Schauen Sie einmal in eine gute Buchhandlung hinein. Dort finden Sie neben der „Welt als Wille und Vorstellung“ auch die „Aphorismen zur Lebensweisheit“ und von Rüdiger Safranski „Schopenhauer – die wilden Jahre der Philosophie“ oder das Fischer- Taschenbuch mit einer Auswahl der Schopenhauer-Texte, das Reinhold Schneider schon vor einem halben Jahrhundert herausgegeben hat. Dem Internet entnehme ich die folgenden Namen von Persönlichkeiten, auf die Schopenhauer größten Einfluss ausgeübt hat: Richard Wagner, Friedrich Nietzsche, Thomas Mann, Leo Tolstoi, Hermann Hesse, Albert Schweitzer, Kurt Tucholski, Wilhelm Busch, Albert Einstein, Thomas Bernhard. Es gibt noch viele weitere, die ich nicht alle nenne. Leider hat Friedrich Nietzsche (1844-1900) Schopenhauers Lehre

30 ins Gegenteil verkehrt und den Egoismus nicht als böses Prinzip und Ursache des Leidens gelten lassen, sondern zum gesunden Lebensprinzip erklärt. Für Nietzsche ist Nächstenliebe ein Zeichen von Dekadenz, Mitleid, eine unverzeihliche Schwäche. Als Idealbild sieht er nicht den entsagenden Asketen, sondern die “blonde Bestie“, den Übermenschen, der stark, grausam, rücksichtslos ist und so zum Herrenmenschen wird, der die christliche “Sklavenmoral“ der Nächstenliebe hinter sich gelassen hat und nur noch e i n Recht gelten lässt: das Recht des Stärkeren. Auch der junge Thomas Mann (1875-1955) ist zunächst fasziniert von Schopenhauer. Nie wieder, so berichtet er, habe er dermaßen selbstvergessen gelesen wie in Schopenhauers Schriften. In den „Buddenbrooks“ hat er Schopenhauer ein literarisches Denkmal gesetzt, indem er den alternden Senator Thomas Buddenbrook, dem sein Leben zunehmend zur Last geworden ist, im zweiten Band der Welt als Wille und Vorstellung“ das Kapitel „Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich“ lesen lässt.

So trostreich die Lektüre für Thomas Buddenbrook ist, was er daraus folgert, ist nicht die asketische Entsagung, sondern die Sehnsucht nach dem gesunden, starken Leben, das sich immer wieder erneuern wird. Es ist also bereits eine Kombination von Schopenhauer und Nietzsche. Im „Tonio Kröger“ (1903) werden ja dann die Blonden und Blauäugigen vom Typus eines Hans Hansen und einer Ingeborg Holm dem dekadenten Künstlertum Tonio Krögers, der Schopenhauer verinnerlicht hat, entgegengestellt. Natürlich hat Siegmund Freud (1856-1939), der Analytiker des Unbewussten und Triebhaften, Schopenhauer viel zu verdanken. Schopenhauers Wille wird bei ihm zum alles beherrschenden „Es“. Das Liebesgebot Schopenhauers aber kritisiert er als Überforderung des Menschen. Wir kommen zum Schluss: Arthur Hübscher, langjähriger Vorsitzender der Deutschen Schopenhauer-Gesellschaft und Herausgeber seiner Werke, hat 1976 anlässlich einer Ausstellungseröffnung im Schopenhauer – Archiv Frankfurt am Main gesagt: „Schopenhauer schreibt keine Utopien. Er verspricht nichts, er zeigt 31 nur, wie es zugeht in dieser Welt. Er sagt, was geändert werden soll, aber er verschweigt nicht das, was nie zu ändern ist. ... Der Nächstenliebe und dem Mitleiden traut er auch in einer heillosen Welt die Kraft zu, wenigstens das physische Schicksal der Kreatur zu wenden, nämlich Leid und Schmerz von Mensch und Tier nach Kräften zu lindern.“ Vielleicht hat aber doch Goethe angesichts des allzu ausgeprägten Pessimismus Arthur Schopenhauers wie so oft das Richtige getroffen, wenn er dem noch jungen Freund 1814 ins Stammbuch die folgenden beiden Zeilen schrieb: „Willst du dich deines Wertes freuen, so musst der Welt du Wert verleihen.“

Der Mensch kann das Gute tun, so haben wir von Schopenhauer gehört. Er hat den Weg dahin gezeigt: Erkennen der Wesenheit alles Lebendigen, Sich-Einfühlen, M i t l e i d e n und dadurch Zuwendung zum Nächsten. Dabei müssen wir aber - so meine ich – Welt und Leben nicht derart verneinen, wie es Schopenhauer immer wieder getan hat. Wir brauchen auch keine Asketen zu werden. Dem Willen ist das Leben gewiss. Auch wenn im Tode unsere Individualität erlischt, so bleibt doch unser wahres Wesen unzerstörbar. Denn über den Willen hat der Tod keine Gewalt. Wir sollten Goethes Rat für den jungen Schopenhauer befolgen, nämlich „der Welt Wert zu verleihen“. So möchte ich abschließen mit der ersten Strophe aus Goethes Gedicht „Vermächtnis“: „Kein Wesen kann zu nichts zerfallen! Das Ew’ge regt sich fort in allen, am Sein erhalte dich beglückt! Das Sein ist ewig: denn Gesetze bewahren die lebend’gen Schätze, aus welchen sich das All geschmückt.“

Dr. Albrecht Moritz 2010

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