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Von Mischkultur und Mehrsprachigkeit: Deutsch in der Literatur Luxemburgs

Ernst, T. DOI 10.1080/00787191.2019.1583444 Publication date 2019 Document Version Final published version Published in Oxford German Studies License CC BY-NC-ND Link to publication

Citation for published version (APA): Ernst, T. (2019). Von Mischkultur und Mehrsprachigkeit: Deutsch in der Literatur Luxemburgs. Oxford German Studies, 48(1), 91-112. https://doi.org/10.1080/00787191.2019.1583444

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VON MISCHKULTUR UND MEHRSPRACHIGKEIT: DEUTSCH IN DER LITERATUR LUXEMBURGS

THOMAS ERNST University of Amsterdam

Die Literatur Luxemburgs wird als solche erst seit den 1980er Jahren anerkannt und ihre fundamentale Mehrsprachigkeit und kulturelle Hybridität werden seit den 2000er Jahren als ihre zentralen Merkmale bestimmt. Eine quantitative Analyse der Datenbank autorenlexikon.lu zeigt, dass das Feld der luxemburgischen Literatur tatsächlich ein mehrsprachiges ist, auf dem Deutsch und Französisch die wichtigsten Literatursprachen sind, dicht gefolgt von Luxemburgisch. Dabei ist die Prosa Lux- emburgs zumeist in deutscher Sprache verfasst, Lyrik auf Französisch und Theater- stücke auf Luxemburgisch. Eine qualitative Analyse der Theatertexte penalty (2009) von Roger Manderscheid und now here & nowhere oder den här io ming pei hätt mueres gär krewetten (2007) von Nico Helminger zeigt, dass die deutsche Sprache hier keine positiven oder negativen Konnotationen erhält, sondern vielmehr Teil einer Sprachmischung aus Deutsch und Luxemburgisch bzw. Deutsch, Englisch, Französisch und Luxemburgisch wird. Diese Sprachmischung unterstützt die Kon- struktion hybrider Identitäten bzw. die Differenzierung der sozialen Milieus in Luxemburg.

KEYWORDS: Multilingual literature, , German studies, Transculturality

WAS IST ‘DEUTSCH’?DEBATTEN UM DIE GERMANISTIK ALS NATIONALPHILOLOGIE DER EINSPRACHIGKEIT Die politisch-kulturelle Entwicklung der letzten Jahre in Deutschland ist auch eine Herausforderung für die Germanistik: Während sich die deutsche Kultur, Politik und Ökonomie zunehmend europäisiert und globalisiert hat, betonen politische Bewegungen wie die Identitäre Bewegung oder PEGIDA die Notwendigkeit, sich positiv auf eine ‘deutsche Identität’ bzw. einen ‘deutschen Patriotismus’ zu bezie- hen. Mit der Alternative für Deutschland ist 2017 eine rechtsnationale Partei mit über 90 Abgeordneten in den Bundestag eingezogen. Die Frage, was eigentlich ‘das Deutsche’ und wie ein ‘aufgeklärter Patriotismus’ gegen eine rechtsnationalis- tische Vereinnahmung zu schützen sei, rückt damit (wieder) in den Fokus deutscher Germanisten und Autorinnen — hiervon zeugen u.a. die materialreichen

© 2019 The Author(s). Published by Informa UK Limited, trading as Taylor & Francis Group This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution- NonCommercial-NoDerivatives License (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/), which permits non-commercial re-use, distribution, and reproduction in any medium, provided the original work is properly cited, and is not altered, transformed, or built upon in any way. DOI 10.1080/00787191.2019.1583444 92 T. ERNST

Veröffentlichungen von Dieter Borchmeyer und Thea Dorn aus den Jahren 2017 bzw. 2018.1 Diese Verschiebungen im politischen und medialen Diskurs finden ihren Widerhall in einer autoreflexiven Debatte der Germanistik, die 2017 durch den kritischen Spiegel-Artikel Schiller war Komponist ausgelöst wird.2 In deren Folge wird eine Bandbreite von Positionen zum Selbstverständnis, zur gesellschaf- tlichen Funktion und zur Zukunft der Germanistik formuliert — von Plädoyers für die notwendige (inter-)kulturelle, mediale und digitale Erweiterung der Ger- manistik bis zur programmatischen Restauration ihres fachlichen Kerns, der mit ihrer Qualität als Nationalphilologie und der Konzentration auf die Einzel- sprachlichkeit verbunden wird. Für letztere Position tritt dezidiert Eva Geulen ein, die als Besonderheit des Mediums Literatur ‘unverzichtbar ihre jeweilige Ein- zelsprachlichkeit’ hervorhebt, die wesentlich stärker als beispielsweise ein Natio- nalbezug die nationalphilologische Forschung als spezifischen disziplinären Zusammenhang legitimiere. Zwar zeige sich die Sprachenvielfalt auch in intertex- tuellen Verweisen und einer innertextuellen Mehrsprachigkeit, deren Analyse setze jedoch gerade ein Bewusstsein um die Sprachdifferenzen und eine entspre- chende einzelsprachliche Kanonbildung voraus. Geulen konstatiert somit, dass es keine ‘Existenzberechtigung der Literaturwissenschaften jenseits der jeweiligen Einzelsprachlichkeit’ geben könne und dass es daher ‘weiterhin deutsche und andere Philologien geben’ müsse.3 In Opposition zu Geulens Modell einer nationalphilologisch ausgerichteten Ger- manistik stehen Ansätze, die die Germanistik für Modelle der Transkulturalität öffnen, die Fixierung auf die Einzelsprachlichkeit der Literatur problematisieren und die deutsche Sprache selbst als plurizentrale und interkulturelle Sprache beschreiben. Als Vertreter der sog. ‘Auslandsgermanistik’, die Geulen mit ihrem Beitrag gerade zu stärken versucht, plädiert Arvi Sepp für das Modell der Transkul- turalität, das unter anderem die Dichotomie von ‘eigener’ und ‘fremder Kultur’ (und somit auch die hierarchisierende Gegenüberstellung von ‘Inlands-’ vs. ‘Auslandsger- manistik’) überwinden will: ‘Während Interkulturalität auf hermeneutischer Grund- lage auf die bipolaren Wechselbeziehungen zwischen Kulturen hinweist, [überschreitet] das Modell der Transkulturalität […] binäre Grenzziehungen zwischen Kulturen.’4 Konkret zeige sich die Transkulturalität in Phänomenen wie der Mehrsprachigkeit, Mehrfach-Identitäten oder peripheren deutschen

1 Vgl. Dieter Borchmeyer, Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst (: Rowohlt, 2017). Sowie: Thea Dorn, deutsch, nicht dumpf. Ein Leitfaden für einen aufgeklärten Patriotismus (München: Knaus, 2018). 2 Vgl. Martin Doerry, ‘Schiller war Komponist. 80 000 junge Menschen studieren Germanis- tik, das beliebteste geisteswissenschaftliche Fach an den deutschen Hochschulen. Ihre Berufsaus- sichten sind jedoch ungewiss, ihre Professoren spielen in der Öffentlichkeit keine Rolle’, Der Spiegel, 04.02.2017, https://magazin.spiegel.de/SP/2017/6/149411893/index.html [letzter Zugriff 01.12.2018]. 3 Alle Zitate: Eva Geulen, ‘Für die Einzelsprachlichkeit der Literatur. Nebenbemerkung zum jüngsten Streit um die Germanistik’, ZfL Blog. Blog des Zentrums für Literatur- und Kultur- forschung, Berlin, 17.02.2017 [letzter Zugriff 01.12.2018]. 4 Arvi Sepp, ‘Einführung. Überlegungen zur literarischen “Transkultur”’, Germanistische Mit- teilungen. Zeitschrift für deutsche Sprache, Literatur und Kultur, 44:1 (2018), 5–22 (S. 6). VON MISCHKULTUR UND MEHRSPRACHIGKEIT 93

Minderheitenliteraturen wie jenen aus Südtirol oder Ostbelgien. Kulturtheorien wie jene des dritten Raums (Bhabha), die Kulturtransferforschung (Espagne/Werner), das Rhizom-Konzept (Deleuze/Guattari) oder die postkoloniale Theorie (Said) könnten helfen, in diesem Sinne transkulturelle literarische Werke von Autor*innen wie Terézia Mora, Emine Sevgi Özdamar, Zafer Şenoczak, Yoko Tawada, Galsan Tschinag oder Feridun Zaimoğlu zu analysieren.5 Auf dieser Liste könnte man auch Autoren wie Zé do Rock oder Tomer Gardi ergänzen, die ihre literarischen Sprachen kauderdeutsch bzw. broken german gerade in Abgrenzung zum Standarddeutsch entwickelt haben.6 Man muss allerdings noch einen Schritt weiter gehen, denn dieses Standarddeutsch kann natür- lich sprachhistorisch als ein interkulturelles Konstrukt beschrieben werden, das sich aus dem Indogermanischen entwickelt und vielfältige Entlehnungen aus dem Latei- nischen, Englischen, Französischen und Italienischen aufgenommen hat.7 Diese lit- erarischen Hybridsprachen oder die interkulturellen Fundamente der Standardsprache lassen die Vorstellung einer kohärenten Standardsprache und einer Nationalphilologie der Einsprachigkeit selbst als diskursive Konstrukte einsprachiger Nationen erscheinen. Für die Literaturwissenschaft leitet sich aus diesen Annahmen die Notwendigkeit ab, das Verhältnis von Literatur und Vielsprachigkeit zu beschreiben. Hierzu zählt Monika Schmitz-Emans unter anderem Formen wie die ‘Vielsprachigkeit inmitten der Sprachen’ oder auch die ‘Literaturen vielsprachiger Nationen, Staaten, Regionen und Kulturen’.8 Gerade in den letzten Jahren lässt sich eine — noch immer vor allem nationalphilologisch verortbare — Forschungsbewegung beobachten, die sich dem Verhältnis von Literatur und Mehrsprachigkeit in Handbüchern oder unter program- matischen Titeln wie Beyond the Mother Tongue oder Challenging the Myth of Mono- lingualism annähert und somit den Mythos der konstitutiven Einsprachigkeit in Frage stellt.9 Esther Kilchmann hat darauf hingewiesen, dass innerhalb der Germanistik — die im 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle bei der Konstruktion einer sprachlichen und kulturellen Einheit spielte — eine solche Perspektivierung der ‘Mehr- und Mis- chsprachigkeit’ als ‘‘unrein’ und minderwertig’ erscheine und folglich ‘nicht ohne eine reflektierende Distanznahme zur Fachtradition untersucht werden’ könne.10

5 Vgl. Sepp, ‘Transkultur’,S.5–19. 6 Vgl. Zé do Rock, deutsch gutt sonst geld zuruck. a siegfriedische und kauderdeutsche ler- und textbuk (München: Kunstmann 2002). Sowie: Tomer Gardi, Broken German. Roman (Graz: Droschl, 2016). 7 Vgl. Heinz Sieburg, ‘Die deutsche Sprache als interkulturelles Konstrukt’,inZwischen Pro- vokation und Usurpation. Interkulturalität als (un)vollendetes Projekt der Literatur- und Sprach- wissenschaften, hg. von Dieter Heimböckel, Irmgard Honnef-Becker, Georg Mein und Heinz Sieburg (München: Fink, 2010), S. 349–58. 8 Vgl. Monika Schmitz-Emans, ‘Literatur und Vielsprachigkeit: Aspekte, Themen, Vorausset- zungen’,inLiteratur und Vielsprachigkeit, hg. von Monika Schmitz-Emans (: Synchron, 2004), S. 11–16 (S. 11–12, 15–16). 9 Vgl. Literatur und Mehrsprachigkeit. Ein Handbuch, hg. von Rolf Parr und Till Dembeck (Tübingen: Narr Francke Attempto, 2017); Yasemin Yildiz, Beyond the Mother Tongue. The Post- monolingual Condition (New York: Fordham UP, 2012); Challenging the Myth of Monolingual- ism, hg. von Liesbeth Minnaard und Till Dembeck (Amsterdam: Rodopi, 2014). 10 Esther Kilchmann, ‘Mehrsprachigkeit und deutsche Literatur. Eine Einführung’, ZiG — Zeitschrift für interkulturelle Germanistik, 3:2 (2012), 11–17 (S. 14). 94 T. ERNST

Ganz in diesem Sinne geht der vorliegende Beitrag von einer Beobachtung Herbert Uerlings‘ aus, der konstatiert, dass zwar der Bereich der Interkulturellen bzw. Postko- lonialen Studien (bzw. der Transkulturellen Studien) ‘in den Geistes- und Kulturwis- senschaften weltweit zu den zentralen interdisziplinären Paradigmen’11 zähle, in der Germanistik jedoch nur ‘sehr partiell[] und zögerlich[]’ in den Kanon des Faches auf- genommen worden sei. Aus einer Analyse von Stellenausschreibungen, Einführungs- büchern, Fachlexika und Literaturgeschichten leitet Uerlings die Feststellung ab, dass es sich noch immer von ‘einem strukturellen Konservativismus des Faches’ sprechen lasse, weshalb es notwendig sei, eine neue (transkulturelle) Perspektive auf literarische Texte einzunehmen und den Kanon entsprechend zu erweitern.12 Dieser Aufgabe will der Beitrag sich stellen, indem er der Bedeutung der deutschen Sprache in Luxemburg, dem literatur-, sprach-, geschichts- und kulturwissenschaftli- chen Forschungsdiskurs über luxemburgische Selbstbilder vor dem Hintergrund der konstitutiven Mehrsprachigkeit und der Bedeutung der deutschen Sprache im lux- emburgischen Literatursystem sowie in mehrsprachigen Theatertexten Luxemburgs nachgeht. Dabei bezieht er sich zwar auch auf Erkenntnisse der Luxemburgistik, vor allem jedoch fragt er aus einer germanistischen Sicht danach, wie ‘das Deutsche’ im Kontext der luxemburgischen Literatur zu fassen sei — und welche Fragen die spe- zifische Mehrsprachigkeit Luxemburgs und die Rolle des Deutschen in diesem Kontext an das Selbstverständnis der Germanistik stellt.13

LUXEMBURG:STAAT,MEHRSPRACHIGKEIT UND LITERATUR

MEHRSPRACHIGKEIT UND ARBEITSMIGRATION IN LUXEMBURG Das Großherzogtum Luxemburg ist ein besonderes europäisches Land, weil es einerseits mit seinen ca. 600.000 Einwohner*innen — neben etwa Island und Malta — zu den kleinsten Ländern Europas zählt, zugleich jedoch mit knapp 100.000 US-$ pro Einwoh- ner*in das mit Abstand höchste Bruttoinlandsprodukt aller europäischen Länder erwirtschaftet. Luxemburg ist geografisch klein, aber ökonomisch sehr reich, daraus resultiert ein zentrales Kennzeichen Luxemburgs, das sich als Teil der Großregion Saar- LorLux als ein transitorischer Raum der kontinuierlichen Arbeitsmigration beschreiben lässt. Nur etwas mehr als die Hälfte aller Einwohner*innen besitzt die luxemburgische Staatsangehörigkeit, daneben leben vor allem portugiesische (16.9%), französische (7.6%), italienische (3.6%), belgische (3.3%) und deutsche (2.2%) Staatsangehörige in Luxemburg; zusätzlich kommen täglich über 150.000 Grenzpendler*innen nach Lux- emburg — auch dies ist der höchste Wert in der Europäischen Union. Eine Untersuchung dieses ‘Grenzgängerwesens’ hat gezeigt, dass die spezifischen Luxemburger Arbeitswelten ‘vielfältige sprachliche und kulturelle Konstellationen der Zusammenarbeit’ hervorbringen, in denen sich ‘ein Kontinuum minimaler bis maximaler Praxis der Mehrsprachigkeit’ beschreiben lässt. Dies ist vor dem

11 Herbert Uerlings, ‘Interkulturelle Germanistik/Postkoloniale Studien in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft. Eine Zwischenmeldung zum Grad ihrer Etablierung’, ZiG — Zeitschrift für interkulturelle Germanistik, 2:1 (2011), 27–38 (S. 27). 12 Uerlings, ‘Interkulturelle Germanistik/Postkoloniale Studien’, S. 36. 13 Ich danke Claude D. Conter, Jeanne E. Glesener, Thomas Lenz und Heinz Sieburg für wich- tige Hinweise und Isabell Eva Baumann und Fabienne Scheer für Unterstützung bei der Literaturrecherche. VON MISCHKULTUR UND MEHRSPRACHIGKEIT 95

Hintergrund der luxemburgischen Triglossie mit den Sprachen Luxemburgisch, Deutsch und Französisch nicht überraschend: Das Gesetz vom 24. Februar 1984 über die Sprachordnung regelt, dass Luxemburgisch die Nationalsprache und neben Deutsch und Französisch auch eine der drei von der Verwaltung und Politik genutzten Sprachen ist. In der Praxis wird Französisch von der Verwaltung als Schrift- und Luxemburgisch als gesprochene Sprache genutzt, die parlamentar- ischen Debatten werden zumeist in luxemburgischer Sprache gehalten und Fragen auf Französisch gestellt, die Gesetzestexte werden auf Französisch verfasst, während Polizeiberichte meist in deutscher Sprache gehalten sind (das Gesetz selbst, das Luxemburgisch zur Nationalsprache erklärt, ist somit in französischer Sprache verfasst).14 Wenn die Grenzgänger*innen aus einem vor allem einsprachi- gen Land wie Deutschland oder Frankreich kommen, wird die eigene Einsprachig- keit als fundamentaler Mangel empfunden, denn ‘[d]eutschsprachige Grenzgänger unterstreichen, dass man besonders Französischkenntnisse mitbringen sollte; fran- kophone Grenzgänger betrachten Luxemburgischkenntnisse als vorteilhaft.’15 Tat- sächlich können sich die Einwohner*innen wie auch die Arbeitsmigrant*innen Luxemburgs kaum dem mehrsprachigen Alltag Luxemburgs entziehen. Während in anderen mehrsprachigen Ländern Europas wie Belgien und der Schweiz unterschiedliche Sprachgemeinschaften koexistieren, besitzt eine große Mehrheit der Luxemburger*innen eine mehrsprachige Kompetenz, die aus dem lux- emburgischen Schulsystem resultiert. Hier wird vorausgesetzt, dass die Kinder in ihren Familien bereits Luxemburgisch sprechen, im ersten Schuljahr erfolgt dann der Erwerb der Schriftsprache im Deutschen, ab dem zweiten Schuljahr kommt Französisch als Schriftsprache hinzu, große Teile des Unterrichts dienen dem Erwerb dieser beiden ‘Fremdsprachen’, die mit Schulabschluss nahezu perfekt beherrscht werden sollen. Zunehmend erweist sich diese Struktur jedoch als proble- matisch, da dieses Ideal der traditionellen Dreisprachigkeit ‘angesichts einer hetero- genen Schülerpopulation mit hohem Ausländeranteil in der Realität [unmöglich] umzusetzen’16 ist. Die letzte Volkszählung in Luxemburg hat gezeigt, dass Luxem- burgisch nur noch für 55.8% aller Einwohner*innen die Hauptsprache ist (bei lux- emburgischen Ausländern sind dies nur 8%), während dies bei Portugiesisch für 15.7% und bei Französisch für 12.1% aller Einwohner*innen gilt (und 43 weitere Sprachen, darunter Deutsch, werden von mehr als hundert Sprecher*innen als Hauptsprache gesprochen, erreichen aber anteilig nur Werte von unter 4%).17

14 Vgl. Le gouvernement du Grand-Duché de Luxembourg, ‘Die Sprachen des Staates’, 30. Novem- ber 2010, [letzter Zugriff 01.12.2018]. Sowie: Le gouvernement du Grand-Duché de Luxembourg, ‘Loi du 24 février 1984 sur le régime des langues’, 14. Februar 1984, [letzter Zugriff 01.12.2018]. 15 Christian Wille, Julia de Bres und Anne Franziskus, ‘Interkulturelle Arbeitswelten in Luxem- burg. Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt am Arbeitsplatz von Grenzgängern / Intercultural Work Environments in Luxembourg. Multilingualism and Cultural Diversity among Cross-Border Workers at the Work-Place’, Interculture Journal, 11:17 (2012), 73–91 (S. 87). 16 Fernand Fehlen, ‘Multilingualismus und Sprachenpolitik’,inDas politische System Luxem- burgs. Eine Einführung, hg. von Wolfgang H. Lorig und Mario Hirsch (Wiesbaden: VS, 2008), S. 45–61 (S. 46). 17 Fernand Fehlen und Andreas Heinz, Die Luxemburger Mehrsprachigkeit. Ergebnisse einer Volkszählung (Bielefeld: transcript, 2016), S. 175. 96 T. ERNST

Trotz dieser Verschiebungen in der luxemburgischen Sprachpraxis bleibt die Tri- glossie im Alltagsleben vorherrschend und unterstützt sie das Selbstverständnis Lux- emburgs als eines globalisierten und europäischen Wirtschaftsraums. Zwar glaubt eine deutliche Mehrheit aller Bürger*innen der Europäischen Union, dass das Erler- nen mindestens einer Fremdsprache sehr wichtig ist, aber in nur acht Mitgliedsstaa- ten der EU spricht mehr als die Hälfte aller Bürger*innen mindestens zwei Fremdsprachen. Unter diesen acht Ländern ist Luxemburg mit 84% vor den Nieder- landen (77%) und Slowenien (67%) das Land, dessen Bewohner*innen den höch- sten Grad einer mindestens dreisprachigen Kompetenz besitzen.18 Zugleich sind in Luxemburg vor diesen Hintergründen — im Gegensatz zu Deutschland, wo die Bewegung zur Nation immer auch die Bewegung zur sprachlichen Einheit war — soziale Auseinandersetzungen häufig ‘über die Umgewichtung des Prestiges zwischen Französisch, Deutsch und Luxemburgisch ausgetragen’19 worden.

DIE DEUTSCHE SPRACHE IN LUXEMBURG Pit Péporté et al. beschreiben die historische Etablierung des luxemburgischen Nationalstaats als eine der Durchsetzung von spezifischen Narrativen und der geo- grafischen Grenzziehungen und Regionenbildung. Eine wichtige Rolle spielt auch die luxemburgische Sprache, die dem Moselfränkischen zuzurechnen ist und zunächst von 1820–1918 relativierend als ‘unser Deutsch’ (‘onst Däitsch’) galt, ab dem Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend als eigenständige Sprache aner- kannt wurde: ‘By the beginning of the twenty-first century, the language had become central to representations of Luxembourgian identity.’20 Während die französische Sprache noch im 19. Jahrhundert eher von der Bourgeoisie zur sozia- len Exklusion genutzt wurde, half die luxemburgische Sprache beim Aufbau einer luxemburgischen Gemeinschaft. Zugleich diente sie jedoch zunehmend der Abgrenzung gegen den deutschen Sprachimperialismus, insbesondere während des Zweiten Weltkriegs und der Besetzung Luxemburgs ab 1940 sowie im Anschluss daran. Kulminationspunkt dieser Entwicklungen war die sogenannte Personenstands- aufnahme vom 10. Oktober 1941, die der NS-Gauleiter Gustav Simon angeordnet hatte, und bei der alle Luxemburger*innen u.a. Angaben zu den Punkten ‘Jetzige Staatsangehörigkeit’, ‘Muttersprache’ und ‘Volkszugehörigkeit’ machen sollten. In den Erläuterungen wurde erstens eine Eindeutigkeit verlangt (‘Ein Bekenntnis zu zwei Völkern ist nicht möglich.’) und zweitens die Option ‘Luxemburgisch’ sowohl bei ‘Muttersprache’ als auch bei ‘Volkszugehörigkeit’ verboten, da es sich nur um einen ‘Dialekt[]’ bzw. eine ‘Stammeszugehörigkeit’ handele.21 Fast

18 European Commission, ‘Special Eurobarometer 386: Europeans and their Languages. Summary’ 2012 [letzter Zugriff 01.12.2018], S. 3f., 8. 19 Fehlen, ‘Multilingualismus und Sprachenpolitik’, S. 46. 20 Pit Péporté, Sonja Kmec, Benoît Majerus und Michel Margue, Inventing Luxembourg. Re- presentations of the Past, Space and Language from the Nineteenth to the Twenty-First Century (Leiden: Brill, 2010), S. 332. Vgl. zu diesem Absatz auch generell ebd., S. 229–335. 21 Wikipedia, ‘De Questionnaire’, 31.8.2005 [letzter Zugriff 01.12.2018]. VON MISCHKULTUR UND MEHRSPRACHIGKEIT 97 alle Luxemburger*innen folgten jedoch nicht diesem Versuch der Nationalsozialis- ten, ein offizielles Bekenntnis zum ‘Deutschtum’ zu erzwingen, sondern dem Aufruf des Widerstands, ‘dräimol Lëtzebuergesch’ zu schreiben. Dieser Wider- standsakt gegen die Germanisierung Luxemburgs trug zur Emanzipation der lux- emburgischen Sprache und Kultur bei.22 Péporté et al. leiten aus der weiteren Etablierung der luxemburgischen Sprache sogar die These ab, dass Luxemburg dadurch selbst eine ‘Kulturnation’ sei, wobei sie zugleich wieder relativieren, dass diese Konstruktion durch die Nähe des Luxemburgischen zum Deutschen sehr problematisch sei.23 Kulturell kommt der deutschen Sprache heute der Stellenwert zu, dass sie als Einschulungssprache, als vorherrschende Sprache der luxemburgischen Presse- landschaft und als bevorzugte Fernsehsprache genutzt wird, während sie in ihrer Relevanz für den Arbeitsmarkt leicht hinter der französischen Sprache steht. Es deutet sich zudem an, dass sich der Stellenwert der deutschen Sprache in der luxemburgischen Gesellschaft in dem Maße verbessert, in der der histor- ische Abstand zur Zeit der nationalsozialistischen Besetzung größer wird: Während Französisch unter den Über-60-Jährigen weitaus höhere Sympathie- punkte erhält als die deutsche Sprache, hat sich dieses Verhältnis bei den 16– 20-Jährigen umgekehrt (wobei die Differenz hier nicht so groß ist wie bei den Über-60-Jährigen).24 Das in Luxemburg genutzte Deutsch weicht vom Standard des deutschlän- dischen Deutsch ab, weshalb Heinz Sieburg vorschlägt, ein Luxemburger Stan- darddeutsch als eigene Varietät zu bestimmen: Zwar sei noch keine entsprechende Normenkodifikation erfolgt, das luxemburgische Deutsch weise jedoch eine Reihe von Besonderheiten auf, die ‘mehrheitlich aus sprachlichem Transfer aus dem Luxemburgischen und dem Französischen’ stammten und ‘als Resultat sprachlicher Hybridisierung’25 zu bewerten seien. Dazu zählen u.a. Begriffe wie ‘Ambiance’, ‘zensurieren’ oder ‘sich basieren auf’.Einsolcher Ansatz differenziert das Modell einer ‘deutschen Einsprachigkeit’ in ein plurizen- trisches Modell, in dem nicht eine deutsche Standardsprache mit verschiedenen Abweichungen gedacht wird, sondern vielmehr gleichberechtigt nebeneinander stehende Standardvarietäten des Deutschen. Diese ließen sich differenzieren in drei Vollzentren in Deutschland, Österreich und der Schweiz, vier Halbzentren in Liechtenstein, Ostbelgien, Südtirol und Luxemburg sowie Viertelzentren wie jene Staaten, in denen die deutsche Sprache zwar nicht den Status einer Amts- sprache besitzt, aber als Sprache spezifischer Nationalitäten oder Minderheiten gilt, wie in Namibia und Rumänien. Während das Modell der plurizentralen

22 Vgl. Fehlen, ‘Multilingualismus und Sprachenpolitik’,S.47–49. 23 Péporté et al., Inventing Luxembourg, S. 335. 24 Vgl. zu diesem Absatz: Heinz Sieburg, ‘Die Stellung der deutschen Sprache in Luxemburg. Geschichte und Gegenwart’ in Vielfalt der Sprachen — Varianz der Perspektiven. Zur Geschichte und Gegenwart der Luxemburger Mehrsprachigkeit, hg. von Heinz Sieburg (Bielefeld: transcript, 2013), S. 81–106 (S. 86–94, 102). 25 Heinz Sieburg, ‘Funktionen, Wertungen und Perspektiven der deutschen Sprache in Luxem- burg. Mit Beobachtungen zur Rolle als Wissenschaftssprache’, Muttersprache. Vierteljahresschrift für deutsche Sprache. Themenheft “Deutsch als Fremd- und Wissenschaftssprache im Kontext der Mehrsprachigkeit am Beispiel der Grande Région/Großregion”, 127: 1–2 (2017), 22–29 (S. 25). 98 T. ERNST

Sprachen in der Sprachwissenschaft anerkannt ist, löst seine Applikation auf kon- krete nationale Zusammenhänge politische Kontroversen aus.26

DIE LITERATUR LUXEMBURGS Eine zentrale Aufgabe der literaturwissenschaftlichen Arbeit ist die dauerhafte Reflexion über die Qualität und Abgrenzung ihres Gegenstands: Was ist überhaupt ‘Literatur’? Für die Luxemburgistik ist diese fundamentale Frage in einer spezi- fischen Form zu beantworten: Welche Werke zählen überhaupt zur ‘Literatur Lux- emburgs’? Und wie wäre diese zu bestimmen in einem Land, das so klein ist, dass viele Autor*innen mit luxemburgischer Staatsbürgerschaft außerhalb von Luxem- burg geschrieben und publiziert haben und deren Literaturen in sehr verschiedenen Sprachen veröffentlicht werden? Claude D. Conter, der heutige Direktor des 1995 gegründeten Centre national de littérature (CNL) in Mersch, hat dieses Problem grundsätzlich reflektiert und dabei drei Problemhorizonte skizziert: Erstens sei die luxemburgische Literatur lange nicht als eigenständige Literatur betrachtet worden, sondern als Teil der deutsch- oder der französischsprachigen Tradition, weshalb ‘die bisherigen literaturwissenschaftlichen Bemühungen vor allem Über- blicke und Literaturgeschichten zu jeweils einer Sprache hervorgebracht’27 hätten. Wenn jedoch zweitens tatsächlich die Existenz einer genuin luxemburgischen Litera- tur konstatiert werden kann, wäre diese entweder auf die Literatur in luxembur- gischer Sprache zu konzentrieren oder aber als eine Literatur im Wechselspiel der luxemburgischen Triglossie zu fassen. Conter zeigt für beide Optionen, dass histo- risch oft das Verdikt der fehlenden ästhetischen Komplexität im Wege stand, bevor man eine solche Literatur als eigenständige Nationalliteratur beschreiben konnte. Wenn man jedoch auch diese Abwertung hinter sich lässt und eine mehr- sprachige luxemburgische Literatur erforschen möchte, muss man drittens institutio- nelle Schwierigkeiten überwinden: Nachdem lange Zeit nur vereinzelte Studien von Autor*innen oder Lehrer*innen zur luxemburgischen Literatur entstanden, haben in den letzten beiden Dekaden die Forschungsarbeiten des CNL und der Luxembur- gistik an der 2003 gegründeten Universität Luxemburg rasant den Forschungsstand verbessert.28 Ein zentrales Ergebnis dieser Arbeit ist das Luxemburger Autorenlexikon,29 an dem eine siebenköpfige Forscher*innengruppe von 1999 bis 2007 gearbeitet hat, die aus einer Fülle von über 3.000 Namen insgesamt 978 ausgewählt und somit das Feld der luxemburgischen Literatur abgesteckt hat. Die Leistung einer solchen

26 Vgl. Sieburg, ‘Funktionen, Wertungen und Perspektiven der deutschen Sprache in Luxem- burg’, 24. Sowie: Heinz Sieburg und Hans-Joachim Solms, ‘Das Deutsche als plurizentrische Sprache. Vorwort’, Zeitschrift für deutsche Philologie, 136 (2017), 1–4 (S. 1). 27 Claude D. Conter, ‘Die Emergenz der Luxemburger Philologie aus dem Geiste des 19. Jahr- hunderts’,inIdentitäts(de)konstruktionen. Neue Studien zur Luxemburgistik, hg. von Claude D. Conter und Germaine Goetzinger (Differdange: Phi, 2008), S. 11–30 (S. 22). 28 Daneben gibt es bereits seit 1995 das Centre for Luxembourg Studies an der University of Sheffield und einige weitere Forschungsaktivitäten der Luxemburgistik, u.a. an belgischen, deutschen und russischen Universitäten. 29 Vgl. Luxemburger Autorenlexikon, hg. von Germaine Goetzinger und Claude D. Conter, zusammen mit Gast Mannes, Pierre Marson, Roger Muller, Nicole Sahl, Sandra Schmit und Frank Wilhelm (Mersch: Centre national de littérature, 2007). VON MISCHKULTUR UND MEHRSPRACHIGKEIT 99 akademischen Begründung eines literarischen Feldes, das in vielen Bereichen noch relativ unerforscht ist, kann einerseits nur als beeindruckend bezeichnet werden. Andererseits sind die Auswahlkriterien durchaus heterogen und problematisch, worauf das Vorwort des Autorenlexikons selbst hinweist. Die erste zentrale Aus- wahlkategorie bezieht sich auf die Luxemburger Mehrsprachigkeit, denn: ‘Die Kenntnis dreier Sprachen gehört zum kulturellen Kompetenzhorizont der Autoren, wobei der Streit, ob ein Autor in einer oder in mehreren Sprachen schreiben kann und soll, konstitutiv für den Diskurs über das Schreiben in Luxemburg ist.’30 Selbstverständlich können aber auch Autor*innen zur luxemburgischen Literatur gezählt werden, die nur in einer der drei Sprachen literarische Veröffentlichungen vorzuweisen haben. Neben die Mehrsprachigkeit tritt eine ganze Reihe von Auswahlkriterien, die sich auf die luxemburgische Staatsangehörigkeit, den geografischen Aufenthalt in Lux- emburg oder die Wirkung auf die literarischen Institutionen in Luxemburg beziehen. Luxemburgische Literatur kann daher von einem Autor wie Guy Helminger verfasst werden, der zwar 1963 in Esch/Alzette geboren wurde, aber seit 1985 und somit seit der Zeit seines literarischen Debüts vor allem in Köln lebt, oder von einem eng- lischen und englischsprachigen Schriftsteller wie James Leader, der seit 2000 an der Europaschule in Luxemburg lehrt und der seither seine Romane und Gedichte in Luxemburg produziert. Der/die Herausgeber*in fassen zusammen: ‘Letztlich sind also jene Autorinnen und Autoren zurückbehalten worden, die unabhängig von der Staatsbürgerschaft in Luxemburg veröffentlicht oder auf das literarische Leben gewirkt haben, und mindestens eine selbstständige in Luxemburg veröffent- lichte Monografie aufweisen oder aktiv am Literaturbetrieb in Luxemburg teilge- nommen haben.’31 Jenseits dieser wichtigen Kanonisierung von Autor*innen der luxemburgischen Literatur fragt die Literaturwissenschaft darüber hinaus, welche verbindenden Eigenschaften diese Literatur aufweist. Aus einer interdiskursanalytischen Perspek- tive macht der Germanist Rolf Parr Vorschläge, wie die Forschung ‘zu einer abge- stuften Matrix von Graden der “Luxemburghaftigkeit” der Luxemburger Literatur’32 gelangen könnte. Neben der integrativen Mehrsprachigkeit der Texte sieht er das Gemeinsame der Texte in ihrem Rückgriff auf mehrere Kollektivsymbol- systeme, die Literatur Luxemburgs eigne sich in besonderer Weise dazu, ‘mehrere kulturelle Interdiskurse […] zu etwas Neuem’ zu verbinden. Als Beispiele nennt er Kollektivsymbole wie ‘Weltluft’ (Roger Manderscheid), ‘Festung’ (Roger Mander- scheid), ‘Mischkultur’ (Batty Weber) oder ‘Zwischenland’ (Robert Gliedner).33 Kollektivsymbole wie Mischkultur oder Zwischenland spielen eine große Rolle im Forschungsdiskurs der Luxemburgistik, die in den letzten Dekaden die Literatur Luxemburgs als ein ästhetisches Zukunftsmodell für eine globalisierte,

30 Germaine Goetzinger und Claude D. Conter, ‘Vorwort’,inLuxemburger Autorenlexikon, S. 5–13 (S. 6). 31 Goetzinger/Conter, ‘Vorwort’,S.7. 32 Rolf Parr, ‘Was ist eigentlich Luxemburger Literatur und was ist ihre Spezifik? Ein interdis- kurstheoretischer Diskussionsbeitrag’ in Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. 2008/2009 (Heidelberg: Synchron, 2010), S. 93–110 (S. 94). 33 Parr, ‘Luxemburger Literatur’, S. 95, 107. 100 T. ERNST transkulturelle und mehrsprachige Welt beschreibt. Ein wichtiger Beitrag zur Durch- setzung dieses Forschungsparadigmas ist der 2004 von Irmgard Honnef-Becker und Peter Kühn herausgegebene Sammelband Über Grenzen. Literaturen in Luxemburg, der schon in den Aufsatztiteln verdeutlicht, dass ‘Interkulturalität und Hybridität’, die ‘Referenz auf das Fremde’, die ‘Tri-Literalität’, die ‘Relativierung des Eigenen’, ‘Grenzgänge’ bzw. der ‘Grenzübergang als Form’ die zentralen Themen, Strategien und Eigenheiten der Literatur Luxemburgs seien.34 Im Vorwort bezeichnen der/die Herausgeber*in die ‘Inter- und Multikulturalität’ als ‘wichtigstes Merkmal der Literatur in Luxemburg‘.35 Germaine Goetzinger, die damalige Leiterin des CNL, hebt in ihrem programmatischen Beitrag den ‘Modellcharakter’ dieser mehrsprachi- gen (Rand-)Literatur für eine ‘zunehmend sich öffnende[] und nomadisierende[] Welt’ hervor. Für sie ist die luxemburgische Literatur eine ‘komplexe Orientierungs-, Differenzierungs- und Selbstfindungsarbeit vor einem multilingualen und multikul- turellen Horizont’.36 Auch in späteren Forschungsarbeiten werden die Mehrspra- chigkeit und die kulturelle Hybridität der luxemburgischen Literatur als besonders und zukunftsweisend gepriesen.37 Claude D. Conter und Jeanne E. Glesener kommt das Verdienst zu, diese jüngeren Nobilitierungen der luxemburgischen Literatur relativiert und den geschichtlichen Wandel der luxemburgischen kulturellen Selbstbilder beschrieben zu haben. Beide verweisen darauf, dass mit Batty Webers 1909 formuliertem Modell der ‘Mischkul- tur’38 ein zentraler Bezugspunkt formuliert wurde, der die Vorstellung einer gemein- samen Sprache um die Relevanz der Grenznähe und ihrer Überschreitung in andere kulturelle Räume erweiterte. Conter beschreibt für die Zeit seit den 1960er Jahren bis heute auf dem literarischen Feld in Luxemburg starke Kulturtransfer- Bewegungen, die Interkulturalität nicht als eine Aktivität von Migrant*innen voll- ziehen, sondern davon ausgehen, ‘dass die sprachlichen und kulturellen Vernetzun- gen im literarischen Feld so eng sind, dass Unterscheidungen zwischen ‘Eigenem’ und ‘Fremdem’ wie selbstverständlich unterlaufen werden.’39 Daraus resultiert, dass auf dem literarischen Feld Luxemburgs ‘das Verhältnis des Eigenen zum Fremden […] in einem fortwährenden Prozess neu definiert und reflektiert wird.’40 Während Conter selbst hierfür den Begriff der ‘Interkulturalität’ vorschlägt,

34 Vgl. Irmgard Honnef-Becker und Peter Kühn (Hg.), Über Grenzen. Literaturen in Luxem- burg (Esch: Phi, 2004). 35 Irmgard Honnef-Becker und Peter Kühn, ‘Interkulturalität und Hybridität in der Literatur in Luxemburg’, in Honnef-Becker und Kühn (Hg.), Über Grenzen. Literaturen in Luxemburg,S.7– 14 (S. 7). 36 Germaine Goetzinger, ‘Die Referenz auf das Fremde. Ein ambivalentes Begründungsmo- ment im Entstehungsprozess der luxemburgischen Nationalliteratur’, in Honnef-Becker und Kühn, Über Grenzen. Literaturen in Luxemburg,S.15–26 (S. 23). 37 Vgl. Jeanne E. Glesener, ‘La littérature de l’(im)migration au Luxembourg’, in Conter und Goetzinger, Identitäts(de)konstruktionen, S. 111–29 (S. 129). Sowie: Irmgard Honnef-Becker, ‘Schreiben in mehr als einer Sprache. Mehrsprachigkeit in der Luxemburger Literatur’,in Sieburg (Hg.), Vielfalt der Sprachen, S. 143–65 (S. 162). 38 Vgl. Batty Weber, ‘Ueber Mischkultur in Luxemburg’, Beilage der Münchner Neuesten Nachrichten 20.01.1909, 15 (1909), S. 121–24. 39 Claude D. Conter, ‘Aspekte der Interkulturalität des literarischen Feldes in Luxemburg’, ZiG — Zeitschrift für interkulturelle Germanistik, 1:2 (2010), 119–33 (S. 126–27). 40 Conter, ‘Aspekte der Interkulturalität’, S. 131. VON MISCHKULTUR UND MEHRSPRACHIGKEIT 101 wäre dieses Verfahren im Sinne der Einleitung zu diesem Beitrag mit Arvi Sepp besser als ‘Transkulturalität’ zu fassen. Glesener diskutiert die luxemburgische Literatur und ihre Forschungsdiskurse vor dem Hintergrund komparatistischer Theorien zur Mehrsprachigkeit und zur Inter- kulturalität. Intensiv arbeitet sie Versuche zur luxemburgischen Literatur- geschichtsschreibung auf, die erst in den 1980er Jahren die Differenzierung von drei(sprachigen) Literaturen Luxemburgs zu überwinden versuchte. Unter dem Titel Triglossie, Mischkultur und thematische Taxonomie zeigt sie eine differenzier- tere Perspektive auf, um schließlich eine komparatistisch ausgerichtete ‘Roadmap’ für eine luxemburgische Literaturgeschichtsschreibung zu entwerfen, die thematisch (Heimatdiskurs, Migrationsthematik) und formal (Intertextualität) ausgerichtet wäre. Schließlich zeigt sie, wie stark sich auch der literaturwissenschaftliche Diskurs über die luxemburgische Literaturgeschichte selbst geändert hat und in welchem Maße er durch nationale und kulturelle Diskurse beeinflusst wird.41

DEUTSCH IN DER LITERATUR LUXEMBURGS

AUTORENLEXIKON.LU: QUANTITATIVE ANALYSEN Das komplexe und spezifische Feld der luxemburgischen Literatur wäre somit vor allem aus Perspektive der Luxemburgistik beschrieben. Doch welche Bedeutung hat nun die deutsche Sprache auf diesem Feld — sowohl quantitativ als auch quali- tativ? Heinz Sieburg konstatiert 2013 in seinem Überblicksaufsatz über Die Stellung der deutschen Sprache in Luxemburg unter Verweis auf den bisherigen Forschungs- stand, dass die deutsche Sprache ‘einen hohen Stellenwert’ bei literarischen Produk- tionen in Luxemburg habe und auch für die Inszenierungen an Luxemburger Theatern ‘wichtig’ sei. Zudem sei die deutsche Sprache die ‘wichtigste Lektüre- sprache auf dem Presse- und Buchmarkt’.42 Fabienne Scheer hat 2017 in ihrer Dis- sertationsschrift über Deutsch in Luxemburg auf der Basis von qualitativen Interviews mit Luxemburger*innen, Äußerungen von luxemburgischen Autor*in- nen und Statistiken zum Leseverhalten in Luxemburg einige interessante Thesen auf- gestellt. Sie geht davon aus, dass sich die Sprachnutzung je nach literarischem Genre unterscheidet, und beispielsweise die meisten luxemburgischen Krimis in deutscher, die meisten Kinderbücher in luxemburgischer Sprache verfasst sind. Zudem be- schreibt sie, wie luxemburgische Autoren wie Roger Manderscheid und Guy Rewenig, die zunächst in deutscher Sprache schreiben und veröffentlichen, in den 1980er Jahren Luxemburgisch als literarische Sprache entdecken und zur Literatur- sprache nobilitieren.43 Insgesamt kommt sie zu der folgenden Einschätzung:

Sowohl internationale als auch nationale Publikationen werden, statistisch gesehen, bevorzugt auf Deutsch gelesen. […] Die sprachliche Ausrichtung

41 Vgl. Jeanne E. Glesener, ‘Komparatistische Ansätze für eine interkulturelle Literatur- geschichte Luxemburgs’,inDas Paradigma der Interkulturalität. Themen und Positionen in euro- päischen Literaturwissenschaften, hg. von Jeanne Glesener, Nathalie Roelens und Heinz Sieburg (Bielefeld: transcript, 2017), S. 41–68. 42 Vgl. Sieburg, ‘Die Stellung der deutschen Sprache in Luxemburg’,S.88–89, 90. 43 Vgl. Fabienne Scheer, Deutsch in Luxemburg. Positionen, Funktionen und Bewertungen der deutschen Sprache (Tübingen: Narr, 2017), S. 321–47. 102 T. ERNST

der Verlage führt dazu, dass Autoren sich nach der Sprachwahl ihres Manu- skripts die dazu passenden Verlage aussuchen. Außerdem wechseln manche ihre Schreibsprache je nach Themenwahl. Es besteht ein Trend hin zur Litera- tursprache Luxemburgisch, die in experimenteller Hinsicht viel Gestaltungs- raum bietet. Während die Offenheit gegenüber dem Potenzial mehrsprachiger Literatur bei den Lesern erst zögerlich entsteht, begreifen die Verleger mehrsprachige Literatur bereits als Dokumentationen der Spra- chensituation im Land und die Transferenzen, die diese auszeichnet, nicht von vornherein als Fehler, sondern als Eigenart.44

Während Scheer eher vom Leseverhalten und von Selbstbeschreibungen der Au- tor*innen ausgeht, wäre es allerdings wichtig, die literarischen Werke und ihre (Mehr-)Sprachigkeit selbst zu analysieren. Hierfür bietet das CNL ein geeignetes Tool, denn das Online-autorenlexikon.lu hält genaue Zahlen bereit, die für die Kom- plexität und Mehrsprachigkeit der luxemburgischen Literatur sehr aufschlussreich sein können. Insgesamt werden aktuell 3.261 Autor*innen in dieser Datenbank geführt. Wenn man sich die Datenbestände mit Bezug auf die Zeit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, also seit 1945 bis heute, ansieht sowie auf die wichtigsten literarischen Gattungen Prosa, Drama und Lyrik konzentriert,45 kommt man u.a. zu den folgenden Erkenntnissen:

• Insgesamt sind in die Datenbank 12.782 Werke eingetragen, die zur luxembur- gischen Literatur gezählt werden. Darunter sind für die Zeit von 1945 bis heute vor allem die wichtigsten literarischen Gattungen Prosa (2.528 Werke), Lyrik (1.333 Werke) und Drama (472 Werke) vertreten. Die literarische Produktion war in Luxemburg in den Nachkriegsjahren besonders stark und hat dann nach einem Rückgang in den 1960er Jahren bis heute konstant zugenommen (die Zahlen seit den 1960er Jahren lauten pro Dekade: 177 — 302 — 531 — 653 — 1001 — 1222). • Die 4.333 Gedichtbände, Dramen und Prosabücher der luxemburgischen Litera- tur seit 1945 wurden vor allem in den Sprachen Deutsch (1.687 Werke = 38,9%), Französisch (1.349 = 31,1%) und Luxemburgisch (1.218 = 28,1%) verfasst, es kann also von einem mehrsprachigen literarischen System gesprochen werden, in dem die deutsche Sprache als Literatursprache eher leicht herausragt. Signifi- kant ist allerdings eine Verschiebung und eine Differenzierung dieser Sprachver- hältnisse: Während in der Zeit von 1945–1959 die Literatursprachen Deutsch (211 von 444 Werken = 47,5%) und Luxemburgisch (181 von 444 = 40,8%) vor- herrschend waren und Französisch (65 von 444 = 14,6%), Englisch (2 von 444 = 0,5%) sowie Portugiesisch (0 von 444) nur in geringem Maße oder gar nicht als

44 Scheer, Deutsch in Luxemburg, S. 346–47. 45 Vgl. Centre national de literature Mersch, Luxemburger Autorenlexikon 2011, < https:// www.autorenlexikon.lu> [aufgerufen im November und Dezember 2018]. Im Autorenlexikon sind bislang Daten bis 2017 verbucht. Die Datenanalyse konzentriert sich auf Werke seit 1945 und auf die Genres Drama, Lyrik und Prosa (es wurde jeweils die Kategorie ‘alles’ genutzt). Bei der Datierung von Werken, die sich als mehrbändige Ausgaben über zwei Dekaden erstrecken, wurde nur der erste (frühere) Zahlenwert berücksichtigt. Das Data Mining und die Visualisierung der Daten wurde von Miloš Gavrićunterstützt. VON MISCHKULTUR UND MEHRSPRACHIGKEIT 103

Literatursprachen genutzt wurden, hat sich seither eine deutliche Veränderung ergeben. Von 2010 bis 2017 wurden als Literatursprachen in Luxemburg vor allem Deutsch (446 von 1.222 = 36,5%), Französisch (437 von 1.222 = 35,8%) und Luxemburgisch (340 von 1.222 = 27,8%) genutzt, die französische Sprache hat sich also als dritte zentrale Literatursprache etabliert, hinzu sind inzwischen Englisch (104 von 1.222 = 8,5%) und Portugiesisch (20 von 1.222 = 2,4%) getre- ten. Auch die mehrsprachigen Verbindungen von Werken, die u.a. die deutsche Sprache nutzen, haben sich mehr als vervierfacht: Lagen diese von 1945–1959 nur bei 5,2% (11 von 211 Werken), so liegen diese im jüngsten Zeitraum schon bei 23,1% (103 von 446 Werken). • Wenn man sich ansieht, in welchem Ausmaß die Sprachen Luxemburgisch, Fran- zösisch, Deutsch, Englisch und Portugiesisch in diesen drei literarischen Hauptgat- tungen genutzt worden sind, kommt man zu unterschiedlichen Ergebnissen: Bei der luxemburgischen Prosa ist die deutsche Sprache deutlich vorherrschend (1.118 Werke); Französisch (687) und Luxemburgisch (636) folgen hier mit deut- lichem Abstand, Englisch (114) und Portugiesisch (46) kommen erst seit den 2000er Jahren wirklich auf. Bei der Lyrik ist Französisch (610) die meistgenutzte Sprache; Deutsch (430), Luxemburgisch (217) und Englisch (148) folgen hier auf den Plätzen. Beim Drama wiederum ist Luxemburgisch (365 Werke) mit deutli- chem Vorsprung die meistgenutzte Sprache; Deutsch (69) und Französisch (52) sind weitaus weniger relevant, ebenso wie Englisch (13). Portugiesisch hat bei der Lyrik (9) und beim Drama (0) eine sehr geringe bzw. keine Relevanz. • Das autorenlexikon.lu differenziert zwischen ein- und mehrsprachigen Werken, wobei es sich jeweils um mehrsprachige Werke oder um Werke in einem Überset- zungszusammenhang handeln kann. Wenn man sich diese Daten für die deutsch- sprachigen Werke und ihre Bezugnahmen zu anderen Sprachen ansieht, kann man festhalten, dass im Bereich des Dramas (22 von 69 = 31,9%) und der Lyrik (129 von 430 = 30,0%) etwa ein Drittel der (auch) deutschsprachigen Texte in einem Verhältnis zu mindestens einer anderen Sprache stehen, bei der Prosa ist dies in einem signifikant geringerem Maße der Fall (133 von 1.188 = 11,2%). • Unter diesen auch deutschsprachigen Texten der luxemburgischen Literatur lassen sich unterschiedliche Verbindungen zu anderen Sprachen für die verschiedenen Gattungen festhalten: Bei den Dramen ist die Kombination Deutsch/Luxembur- gisch sehr ausgeprägt (10 von 22 = 45,5% aller mehrsprachigen Dramen mit deutschen Elementen); auch die Kombinationen Deutsch/Französisch und Deutsch/Französisch/Luxemburgisch (4 von 22 = 18,2%) sind auffällig.46 Bei der Lyrik ist wiederum die Kombination Deutsch/Französisch (55 von 129 = 42,6%) besonders stark; während die Kombinationen Deutsch/Luxemburgisch (19 von 129 = 14,7%), Deutsch/Französisch/Luxemburgisch (14 von 129 = 10,8%) sowie Deutsch/Englisch/Französisch (9 von 129 = 7,0%) nur schwach sig- nifikant sind.47 Bei der Prosa, bei der die mehrsprachigen Texte mit

46 Daneben gibt es bei den Dramen noch die Kombinationen Deutsch/Englisch/Französisch/ Luxemburgisch (2 von 22 = 9,1%) und Deutsch/Englisch sowie Deutsch/Luxemburgisch/Latein (jew. 1 von 22 = 4,5%). 47 Daneben treten in der Lyrik die Kombinationen Deutsch/Englisch und Deutsch/Italienisch (jew. 7 von 129 = 5,4%), Deutsch/Französisch/Luxemburgisch/Englisch (6 von 129 = 4,6%), Deutsch/Latein (3 von 129 = 2,3%), Deutsch/Französisch/Arabisch, Deutsch/Französisch/ 104 T. ERNST

deutschsprachiger Beteiligung zwar relativ den geringsten Anteil ausmachen, in absoluten Zahlen jedoch mit 133 Werken im Verhältnis zu Lyrik (129) und Drama (22) den größten Wert bilden, ist ebenfalls die Kombination Deutsch/Fran- zösisch die stärkste (53 von 133 = 39,8%); stark vertreten sind hier auch die Kom- binationen Deutsch/Französisch/Luxemburg (33 von 133 = 24,8%) sowie Deutsch/Luxemburgisch (23 von 133 = 17,3%), wobei es hier noch vierzehn weitere Sprachkombinationen gibt, die allerdings allesamt nicht signifikant sind.48

Italienisch (jew. 2 von 129 = 1,5%) sowie Deutsch/Luxemburgisch/Latein, Deutsch/Luxembur- gisch/Portugiesisch, Deutsch/Französisch/Rumänisch, Deutsch/Englisch/Italienisch und Deutsch/ Französisch/Englisch/Rumänisch (jew. 1 von 129 = 0,8%) auf. 48 In der Prosa finden sich zudem in kaum signifikanter Weise noch die Kombinationen Deutsch/Englisch (5 von 133 = 3,8%), Deutsch/Englisch/Französisch (4 von 133 = 3,0%), Deutsch/Englisch/Französisch/Luxemburgisch (3 von 133 = 2,3%), Deutsch/Portugiesisch, Deutsch/Französisch/Luxemburgisch/Portugiesisch und Deutsch/Französisch/Luxemburgisch/Eng- lisch/Chinesisch (2 von 133 = 1,5%) sowie Deutsch/Französisch/Spanisch, Deutsch/Luxembur- gisch/multiple languages, Deutsch/Französisch/Luxemburgisch mit Englisch, Ungarisch, VON MISCHKULTUR UND MEHRSPRACHIGKEIT 105

Abbildungen 1–4: Die Grafiken zeigen die Entwicklung der deutsch-, luxemburgisch- und französischsprachigen Werke für die Gattungen Drama, Lyrik und Prosa in der luxemburgischen Literatur von 1945–2017 (die Zahlen wurden im November 2018 über die Datenbank autorenlexikon.lu gewonnen).

THEATERTEXTE VON ROGER MANDERSCHEID UND NICO HELMINGER: QUALITATIVE ANALYSEN Neben diesen den bisherigen Forschungsstand präzisierenden quantitativen Analy- sen können natürlich auch qualitative Analysen helfen, die Bedeutung der deutschen Sprache in der Literatur Luxemburgs genauer zu beschreiben. Eine solche Analyse sollte an kanonisierten Texten durchgeführt werden, bevorzugt am Beispiel vor allem deutschsprachiger Autor*innen, deren Werk und deren Werke in einem mehr- sprachigen Verhältnis zu anderen Sprachen stehen, insbesondere — es geht um die Literatur Luxemburgs — zur luxemburgischen Sprache. Ein besonders gutes

Italienisch sowie den Kombinationen Italienisch/Portugiesisch/Spanisch/Rumänisch/Schwedisch bzw. Chinesisch/Englisch/Serbisch (Montenegro) (jew. 1 von 133 = 0,7%). 106 T. ERNST

Kriterium zur Kanonisierung ist der Prix Batty Weber (Prix national de littérature), der im dreijährigen Rhythmus seit 1987 insgesamt erst elfmal vergeben worden ist.49 Die elf Preisträger*innen fallen dann in fünf Gruppen auseinander: Edmond Dune (Preisträger 1987/1914–1988), Jean Portante (2011/*1950) und Lambert Schlechter (2014/*1941) haben vor allem in französischer Sprache veröffentlicht, Pol Greisch (2002/*1930) und Guy Rewenig (2005/*1947) auf Luxemburgisch und Léopold Hoffmann (1993/1915–2008), Nic Weber (1999/1926–2013) sowie Georges Hau- semer (2017/1953–2018) auf Deutsch. Anise Koltz (1996/*1928) schrieb erst vor allem auf Deutsch, seit den 1980er Jahren auf Französisch. Für diesen Aufsatz besonders interessant sind die Preisträger Roger Manderscheid (1990/1933–2010) und Nico Helminger (2008/*1953), die sowohl in deutscher als auch in luxembur- gischer Sprache ihre Werke veröffentlicht haben. Das autorenlexikon.lu listet im Werk von Roger Manderscheid (1933–2010) für die Zeit von 1963 bis 1983 neun deutschsprachige Werke, ab dann differenziert sich sein Œuvre in vor allem deutsch- sowie luxemburgischsprachige Werke. Besonders interessant erscheinen darunter das deutsch- und luxemburgischsprachige Theater- stück penalty (2009), das deshalb später genauer betrachtet werden soll, sowie die Selbstübersetzungen seiner Romane Schacko Klack (1997), Der Papagei aus dem Kastanienbaum (1999), Der sechste Himmel (2006)50 und Herkules Kasch (2008) aus dem Luxemburgischen ins Deutsche. Auf dem Feld der luxemburgischen Literatur nimmt Manderscheid sowohl eine zentrale als auch ambivalente Position ein: Einerseits wird er in der Forschung als Protagonist der mehrsprachigen und hybriden Literatur Luxemburgs wahrgenom- men,51 andererseits ist er einer jener Luxemburger Autoren, die in den 1980er Jahren die luxemburgische gegenüber der deutschen Sprache als Literatursprache für Prosa emanzipieren und dies gerade durch die schlechte Konnotation des Deutschen begründen. In einem Interview zur Entstehung seines ersten luxembur- gischsprachigen Romans schacko klak. biller aus der kandheet (1988) führt er aus, dass dieser Sprachwechsel für ihn alternativlos gewesen sei:

Ich habe gemerkt, dass die ganze Stärke des Romans erst zur Geltung kam, als ich mich entschied, Lëtzebuergesch zu schreiben, und im Grunde genommen ist der Schacko klak zweisprachig, Lëtzebuergesch und Deutsch. Es geht eine Struktur durch das ganze Schreiben. Ich habe auf Deutsch angefangen und bin ins Stocken geraten, weil mir auf einmal klar wurde, dass ich in derselben Sprache der Unterdrücker eine Situation beschrieben habe, die im Grunde

49 Die folgenden Daten sind ebenfalls der Datenbank autorenlexikon.lu entnommen worden. 50 Vgl. Irmgard Honnef-Becker, ‘Identität in der Referenz auf das Fremde. Roger Mander- scheids Übersetzung seines luxemburgischen Romans feier a flam ins Deutsche’, in Heimböckel et al. (Hg.), Zwischen Provokation und Usurpation, S. 325–48. 51 Vgl. u.a. Irmgard Honnef-Becker, ‘“Also, was sind Sie denn jetzt?” Die Suche nach Identität bei Roger Manderscheid’, in Honnef-Becker und Kühn, Über Grenzen. Literaturen in Luxemburg, S. 168–204 (S. 202). Sowie: Thomas Ernst, ‘Hybride Identitäten und liminale Räume in der luxem- burgischen Gegenwartsliteratur’,in‘Luxemburgistik im Spannungsfeld von Mehrsprachigkeit, Regionalität, Nationalität und Internationalität’, hg. von Claude D. Conter, Peter Gilles und Ger- maine Goetzinger, in Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit. Akten des XII. internationalen Germanistenkongresses Warschau 2010. Band 3, hg. von Franciszek Grucza (Frankfurt a.M.: Lang, 2012), S. 89–93 (S. 92). VON MISCHKULTUR UND MEHRSPRACHIGKEIT 107

genommen von meiner Sprache, vom Lëtzebuergeschen, her gesehen ganz antagonistisch war. Im Grunde genommen habe ich in der Sprache der Täter geschrieben und ich war ein Opfer. […] Und als ich mich entschlossen hatte, aus der Froschperspektive, also aus der Opferperspektive mit meinem kleinen Lëtzebuergeschen zu schreiben, da sind auf einmal Dämme aufgebro- chen, und diese ganze Zeit ist lebendiger geworden. Da habe ich gemerkt, dass das Deutsche eine Fremdsprache ist. Das Deutsche hat das Ganze wie hinter einer Glasscheibe aussehen lassen, aber als ich Lëtzebuergesch geschrieben habe, war die Glasscheibe weg. Dann war ich direkt am Duft der Blumen, wenn man so sagen darf […].52

Die Autor-Selbstauskunft verweist somit auf die Konnotation der deutschen Sprache (‘Sprache der Unterdrücker’) als auslösendes Moment des Sprachwechsels, die das Deutsche wieder als Fremdsprache kenntlich macht und die luxemburgische Sprache zugleich als kleine und widerständige Sprache nobilitiert. Der luxembur- gischen Mehrsprachigkeit gemäß hat Manderscheid den Roman 1997 auch als eigene Übersetzung (gemeinsam mit Georges Hausemer) ins Deutsche vorgelegt. 2009 hat er den Dialog penalty veröffentlicht, der exemplarisch für den wichtig- sten Typus der Sprachmischung in der luxemburgischen Dramatik in (auch) deutscher Sprache steht, die Kombination von Deutsch und Luxemburgisch. Der spielerische Charakter des Dialogs wird bereits in der ersten Regieanweisung deut- lich, in der die beiden Figuren als ‘stimme alex’ und ‘stimme zapp’ bezeichnet werden (sie nennen sich selbst ‘Fausto Wilwerwiltz’ und ‘Piotr Rostropowitz’), also als Sprechrollen, deren Dialogsprache sich ändert: ‘sie beginnen auf deutsch um nach und nach ins luxemburgische zu verfallen.’53 Nachdem sie zunächst aus- führlich in deutscher Sprache einige besondere Orte in Luxemburg und in der Eifel gepriesen haben, als seien sie Lokalpatrioten, wobei die Lobpreisung durch ihre Übertreibung und Wiederholung ins Komische kippt, vollzieht sich ab etwa S. 18 der Sprachwechsel zum Luxemburgischen und in diesem Zusammenhang kommen die beiden Sprecher auch auf ihre Migrationsgeschichten zu sprechen. Zapp beschreibt seine Bewegung nach Westen: ‘wir wohnten erst in russland, dann in polen, später in der ddr, noch später in köln, dann in bitburg, immer wieder vertrieben und auf der flucht’.54 Nachdem sich beide darüber verständigt haben, dass sie auch Luxemburgisch verstehen (‘ALEX: du gees mer schwéier op de wecker mat dengem gehouschs / ZAPP: ech verstinn och lëtzebuergesch, wann et muss sinn’),55 beschreibt auch Alex seine Migrationsgeschichte:

meine mutter kommt aus rimini, mein vater aus esch, ein grossvater kommt aus poggio alla malva, eine grossmutter aus bari, ein anderer grossvater aus

52 Manderscheid, zit. nach: Johannes Kramer, ‘“Tri-Literalität” in der Literatur in Luxem- burg’, in Honnef-Becker und Kühn, Über Grenzen. Literaturen in Luxemburg,S.27–55 (S. 36). Kramer wiederum zitiert die folgende Quelle: ‘Interview vom 31. Juli 2001, Anhang 1 bei Kerstin Bastian’. 53 Roger Manderscheid, ‘penalty. dialog’,inpenalty (Sandweiler: ultimomondo, 2009), S. 7–52 (S. 7). 54 Manderscheid, ‘penalty’, S. 20. 55 Manderscheid, ‘penalty’, S. 22. Übersetzung: „Du gehst mir schwer auf den Geist mit Deinem Gelaber / Ich verstehe auch Luxemburgisch, wenn es sein muss“. 108 T. ERNST

contern, eine zweite grossmutter aus fentingen, mein urgrossvater kommt aus den abruzzen, meine urgrossmutter aus kalabrien […].56

Im Folgenden erweitern sie ihr Sprachrepertoire noch um Englisch, Französisch und Italienisch (‘ALEX: vier-fünfsprachig: europa’)57 um sich dann über ihre schwierige Lebenssituation auszutauschen: Sie sind beide arbeitslos, von ihren Frauen verlassen worden, stehen dem Alkohol nahe und beginnen, sich zu beschimpfen, bevor sie beide feststellen, dass sie Fußballer sind. Sie fallen zurück von der luxemburgischen in die deutsche und wieder in die luxemburgische Sprache, um schließlich ein Fußballspiel zu simulieren, das in einer Elfmetersituation kulminiert, in deren Verlauf Zapps ‘körper […] wie ein schwerer sack auf den boden’58 fällt. Alex beendet den Dialog als Monolog in Luxemburgisch und das Stück endet mit dem Hinweis: ‘er beginnt fürchterlich zu husten’.59 Claude D. Conter liest penalty als einen Dialog zweier ‘hybride[r] Identitäten’, deren Sprachwechsel ein ‘Ausdruck ihres Unbehaustseins’60 sei. In der Tat spielen die beiden Stimmen zu Beginn des Textes in einer übertriebenen Weise mit Heimat- zuschreibungen, um sich anschließend ebenso übertrieben migrantisch und in Teilen auch mehrsprachig zu geben. Die deutsche Sprache bietet beiden anfangs eine dialo- gische Stabilität, im Wechsel von Deutsch und Luxemburgisch sind keine Konnota- tionen der Sprachen zu erkennen, eher relativiert der sprachlich mäandernde Dialog die Festigkeit der Identitäten, dies geht auch mit ihrer inhaltlichen Hybridisierung einher, die sich schließlich im ‘finalen Schuss’ entlädt. Nico Helminger veröffentlicht seit 1978 lyrische, prosaische und dramatische Werke, vor allem in der deutschen und der luxemburgischen Sprache. Aus seinem Werk fällt der 2007 veröffentlichte Theatertext now here & nowhere oder den här io ming pei hätt mueres gär krewetten heraus, der die Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch und Luxemburgisch verknüpft und sich als ‘eine polyphone Textur mit vielfältigen (trans-) kulturellen Verflechtungen, Überschneidungen und Übergängen’61 bzw. ein ‘bon exemple […] de métissage linguistique’62 bezeichnen lässt. Helminger, der als der Ver- treter des kritischen Volksstücks gelten kann, lässt hier unterschiedlichste Figuren aus verschiedenen sozialen Schichten Luxemburgs (von Flüchtlingen bis zum Kulturminis- ter) sowie Popidole (Robbie Williams) oder Zeichenfiguren (Tintin = Tim aus ‘Tim und Struppi’) aufeinander prallen. Einen kleinen Eindruck von den schnellen Sprach- wechseln, die das Stück prägen, erhält man in einer kurzen Rede des Kulturministers:

kulturminister : merci beaucoup pour ces mots chaleureux. ech mengen, besser hätt keen eis dëse projet virstelle kënnen, da sind sie sicher einverstan- den, meine damen und herren, et bien, permettez-moi […] bäifall. buffet.

56 Manderscheid, ‘penalty’, S. 23. 57 Manderscheid, ‘penalty’, S. 25. 58 Manderscheid, ‘penalty’, S. 50. 59 Manderscheid, ‘penalty’, S. 52. 60 Conter, ‘Aspekte der Interkulturalität’, S. 129. 61 Honnef-Becker, ‘Identität in der Referenz’, S. 326. 62 Jeanne E. Glesener, ‘Le multilinguisme comme caractéristique et défi de la littérature au Lux- embourg’, in Sieburg (Hg.), Vielfalt der Sprachen, S. 107–42 (S. 120). VON MISCHKULTUR UND MEHRSPRACHIGKEIT 109

felicitatiounen ! glückwunsch ! mister williams, look here, please ! mister williams !63

Während der Kulturminister hier in einer Rede souverän zwischen Deutsch, Eng- lisch, Französisch und Luxemburgisch wechselt und seine Mehrsprachigkeit präsen- tiert, wechseln die Sprachen ansonsten oft zwischen verschiedenen Sprecher*innen. In den genutzten Sprachen spiegelt sich das soziale Tableau Luxemburgs, die Spra- chen reichen vom migrantischen Französisch zweier Frauen über das luxembur- gische Französisch eines Polizisten und das wallonische Französisch zum gebildeten Französisch eines Kulturfunktionärs, daneben stehen noch die deutsche, die englische und die luxemburgische Sprache, die einander regelmäßig ablösen.64 So endet der Theatertext mit einem englischsprachigen Gesang von Robbie Wil- liams, den er anschließend in deutscher und französischer Sprache reflektiert, während die Regieanweisungen hier in Luxemburgisch stehen: ‘robbie : (um piano, séngt) come and hold my hand […] dann steht plötzlich diese frau im raum und fängt an zu singen […] cette chanson, je la connais. je ne l’ai jamais entendue, mais je la connais.’65 Die deutsche Sprache spielt auf 15 der 77 Seiten des Theater- texts eine Rolle, teilweise stehen im Text nur wenige Satzeinsprengsel. Die Bedeutung ist hier ebenfalls relativ neutral, wesentlich entscheidender ist allerdings die intensive Sprachmischung an sich als Akt der Hybridisierung.

MEHRSPRACHIGE ŒUVRES UND THEATERTEXTE IN LUXEMBURG: DEUTSCH IN DER LITERATUR LUXEMBURGS Luxemburg ist ein ebenso kleines wie reiches Land, das von einer alltäglichen Arbeitsmigration und seiner deutschen, französischen und luxemburgischen Mehr- sprachigkeit geprägt ist. Kulturelle Konflikte werden in Luxemburg auch über die Nutzung und Konnotationen der Sprachen verhandelt; der Versuch der nationalso- zialistischen Besatzer, ein klares Bekenntnis der Luxemburger*innen zum ‘Deutsch- tum’ zu erzwingen, verstärkte die Emanzipation des Luxemburgisch gegenüber dem Deutschen. Heute hat die deutsche Sprache in Luxemburg bei den Jüngeren höhere Sympathiewerte als die französische Sprache, zudem wird sie vor allem als Einschulungs- und Mediensprache genutzt. Dabei nimmt sie allerdings einen eigen- ständigen Charakter an, weshalb ein ‘Luxemburger Standarddeutsch’ als eigenstän- dige Varietät im Sinne eines plurizentrischen Sprachmodells bestimmt werden könnte. Die Literatur Luxemburgs ist insbesondere in den letzten beiden Dekaden intensiv erforscht worden. Während zwar schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Topos der luxemburgischen ‘Mischkultur’ wirksam wurde, konzentrierte sich die Litera- turgeschichtsschreibung lange auf die Zuordnung der Werke zur deutschen oder französischen Tradition. Erst seit den 1980er Jahren wird eine eigenständige

63 Nico Helminger, now here & nowhere oder den här io ming pei hätt mueres gär krewetten (Esch: Phi, 2007), S. 80. 64 Andreas Wagner, ‘friem ass een nëmme viru sech selwer. Über Nico Helmingers now here & nowhere’, in Nico Helminger, now here & nowhere,S.83–86. 65 Helminger, now here & nowhere, S. 82. 110 T. ERNST luxemburgische Literatur in der Forschung beschrieben, seit den 2000er Jahren werden vor allem ihre Mehrsprachigkeit und ihre kulturelle Hybridität als zentrale Eigenschaften definiert. Zuletzt wird der Begriff der ‘Interkulturalität’ verstärkt auf- gerufen, mit Arvi Sepp ließe sich hier jedoch besser der Begriff der ‘Transkulturalität’ für die luxemburgischen Phänomene nutzen, da die Luxemburgische Literatur in der Forschung nicht mehr entweder der deutschen oder der französischen Tradition zugeordnet wird, sondern als ein ‘dritter Raum’ jenseits dieser Dichotomie beschrie- ben wird. Die bisherige Forschung der germanistischen Linguistik hat konstatiert, dass Deutsch als wichtigste Literatursprache Luxemburgs gilt, sich unterschiedliche Sprachpräferenzen in unterschiedlichen Genres ergeben und dass sich die Nutzung der Sprachen im literarischen Kontext historisch wandelt. Quantitative Analysen auf Basis der Datenbank autorenlexikon.lu haben diese Forschungsergebnisse auswei- ten und differenzieren können: Tatsächlich besitzt Luxemburg ein im Wesentlichen mehrsprachiges literarisches Feld, in dem Deutsch als Literatursprache leicht heraus- ragt, allerdings dicht gefolgt von Französisch, das hier seit dem Zweiten Weltkrieg einen Aufstieg zur Literatursprache durchlaufen hat. Inzwischen etablieren sich auch Englisch und sehr vorsichtig Portugiesisch als luxemburgische Literatursprachen. Die Sprachpräferenzen unterscheiden sich in der Tat je nach Gattung: Die luxembur- gische Prosa wird zumeist in deutscher Sprache, die Lyrik in Französisch und die Dramen mit deutlichem Abstand in luxemburgischer Sprache veröffentlicht. Der Output an luxemburgischer Literatur hat sich seit den 1960er Jahren veracht- facht, zugleich hat sich der Anteil der mehrsprachigen Texte an den deutschsprachi- gen Werken der Luxemburger Literatur vervierfacht: Es gibt somit immer mehr Sprachen und zunehmend mehrsprachige Werke auf dem Feld der luxemburgischen Literatur. Die Intensität der Mehrsprachigkeit und die Sprachkombinationen der (auch) deutschsprachigen Werke unterscheiden sich ebenfalls nach Gattungen: Bei Lyrik und Drama sind ein Drittel der deutschsprachigen Texte mehrsprachig, bei der Prosa nur etwa ein Zehntel; während bei Dramen Deutsch und Luxemburgisch die stärkste Sprachmischung ist, ist dies bei Lyrik Deutsch und Französisch, bei der Prosa sind beide Kombinationen stark vertreten, zudem auch die Dreierkombination Deutsch, Französisch und Luxemburgisch. Diese quantitativen Analysen mögen einen Überblick geben über die Taxonomien der literarischen Mehrsprachigkeit in Luxemburg, die sich nur in Teilen noch in einer Nationalphilologie der Einsprachigkeit angemessen analysieren ließen. Wichtiger erscheint jedoch, einen angemessenen philologischen Zugriff auf die mehrsprachigen Werke zu entwickeln, der differenziert die spezifischen Formen der Sprachmischung und der kulturellen Hybridität herausarbeitet. Am Beispiel der beiden für die Luxem- burgistik wichtigsten luxemburgischen Autoren für die Zeit seit 1990, die vor allem in deutscher Sprache geschrieben haben, wurden dazu die Theatertexte penalty (2009) von Roger Manderscheid und now here & nowhere oder den här io ming pei hätt mueres gär krewetten (2007) von Nico Helminger analysiert. Während in penalty die beiden Protagonisten eine fast schon übertrieben hybride Migrationsgeschichte besitzen und einander als transkulturelle Stimmen begegnen, bringt now here & nowhere sowohl Figuren aus unterschiedlichen sozialen Schich- ten Luxemburgs als auch Figuren aus der Populärkultur zusammen. In penalty mäandert das Gespräch zwischen Deutsch und Luxemburgisch, Elemente aus dem Englischen, Französischen und Italienischen spielen ebenfalls eine Rolle. In now VON MISCHKULTUR UND MEHRSPRACHIGKEIT 111 here & nowhere werden Deutsch, Englisch, Französisch und Luxemburgisch in einem ständigen Wechselspiel kombiniert, wobei insbesondere Französisch genutzt wird, um die soziale Position der Sprecher*innen zu markieren. In beiden Texten erhält Deutsch keine negative oder positive Konnotation, sondern geht als eine von mehreren Kommunikationssprachen in einem hybriden Sprachgemisch auf. Weite Teile der luxemburgischen Literatur zeugen von einem zentralen Merkmal der Transkulturalität, die ‘die Idee des ‘Sprachbesitzes’ einer dekonstruktiven Kritik’ unterzieht und den ‘Unterschied zwischen Mutter- und Fremdsprache […] relati- viert’.66 Auch François Jullien bezieht sich in seinem Plädoyer gegen die Vorstellung einer kulturellen Identität auf die ‘Verschiedenheit der Sprachen’ und schlägt vor, wir sollten uns von der ‘hoffnungslos mythologischen Vorstellung lösen, es habe irgen- dwann einmal eine kulturelle Einheit-Identität gegeben’.67 Für die Germanistik bleibt dieser Gedanke eine wichtige Herausforderung, gerade in Zeiten einer Identi- tären Bewegung. Dass es auf diesem Wege helfen kann, auf das Feld der luxembur- gischen Literatur zu schauen, wollte dieser Forschungsbeitrag zeigen. Die Ergebnisse des quantitativen Überblicks über die Stellung des Deutschen als Li- teratursprache weisen jedoch auch auf eine für die Luxemburgistik interessante Frage hin: Während es in den letzten beiden Dekaden gelungen ist, sowohl das Feld der luxemburgischen Literatur nachhaltig abzustecken als auch seine fundamentale Multilingualität und kulturelle Hybridität herauszuarbeiten, kann ein folgender Schritt sein, die Verschiebungen der Literatursprachen, ihrer Konnotationen und (Abgrenzungs-)Verhältnisse zueinander zu beschreiben und in einer entsprechend dif- ferenzierten Literaturgeschichte den Wandel des literarischen Feldes Luxemburgs sowie Epochenbrüche differenziert darzustellen. Die Ergebnisse dieses Aufsatzes weisen sowohl darauf hin, dass sich die genutzten Literatursprachen in der Zeit seit 1945 differenzieren und wandeln, als auch dass die Sprachverhältnisse nach Gattun- gen und die Intensität der Mehrsprachigkeit in den verschiedenen Gattungen differen- ziert werden müssten. Aus dieser Beobachtung lassen sich einige forschungsrelevante Fragen ableiten: Warum war eigentlich Deutsch nach dem Zweiten Weltkrieg — trotz seiner schlechten Konnotation nach der Besatzungszeit — die vorherrschende Literatursprache in Lux- emburg und verlor diesen Nimbus erst in den 1970er Jahren für eine kurze Zeit, während Französisch erst ab den 1960er Jahren zu einer der drei wichtigsten Literatur- sprachen Luxemburgs aufstieg? Spiegeln die — mit weitem Abstand in luxembur- gischer Sprache verfassten — Dramen der luxemburgischen Literatur tatsächlich allesamt das mehrsprachige und kulturell hybride Leben in Luxemburg oder gibt es in dieser Gattung auch andere Tendenzen? In welcher Form lassen sich unterschiedliche Typen mehrsprachiger Gattungen der luxemburgischen Literatur differenzieren und wie werden jeweils die unterschiedlichen Sprachen konnotiert und kulturelle Identitä- ten bzw. Hybriditäten konstruiert — und inwiefern wandeln sich diese Konnotationen und Konstruktionen? Da sich für die Zeit seit 1945 eine Differenzierung der Literatur- sprachen Luxemburgs und eine Zunahme mehrsprachiger Texte beobachten lässt, wird dieses sehr spezifische literarische Feld für die Germanistik, die Luxemburgistik, die Romanistik und in zunehmendem Maße auch für die Anglistik interessant bleiben.

66 Sepp, ‘Überlegungen zur Transkultur’, S. 13. 67 François Jullien, Es gibt keine kulturelle Identität. Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur. Aus dem Französischen von Erwin Landrichter (Berlin: Suhrkamp, 2018), S. 46. 112 T. ERNST

NOTES ON CONTRIBUTOR Thomas Ernst lehrt Germanistik, Medientheorie und Digitale Kulturwissenschaften an der University of Amsterdam. Zu seinen Forschungsgebieten zählen deutschsprachige Literaturen und Kulturen, mehrsprachige und transkulturelle Literaturen in Deutschland und den BeNeLux-Ländern sowie die Netzliteratur. Er ist der Autor von Literatur und Subversion (Bie- lefeld: transcript, 2013). Mehr Informationen: www.thomasernst.net.