Plenarprotokoll 12/45

Deutscher

Stenographischer Bericht

45. Sitzung

Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Inhalt:

Erweiterung der Tagesordnung 3765 A Zusatztagesordnungspunkt 5: Zweite und dritte Beratung des von dem Überweisung von Vorlagen an Ausschüsse in Abgeordneten Hermann Wimmer (Neu- Abweichung vom Überweisungsvorschlag in ötting), weiterer Abgeordneter und der der Tagesordnung 3819B Fraktion der SPD eingebrachten Ent- wurfs eines zweiten Gesetzes zur Ände- rung des Forstschäden-Ausgleichsgeset- Tagesordnungspunkt 7: zes (Drucksache 12/422) Beratungen ohne Aussprache Beschlußempfehlung und Be richt des Beratung der Beschlußempfehlung und Ausschusses für Ernährung, Landwirt- des Berichts des Rechtsausschusses schaft und Forsten (10. Ausschuß) (Druck- (6. Ausschuß) zu der dem Deutschen sachen 12/1195, 12/1206) 3766A Bundestag zugeleiteten Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvH Tagesordnungspunkt 8: 3/91 (Drucksache 12/1166) Beratung der Unterrichtung durch die Beratung der Beschlußempfehlung und Bundesregierung: Fortschreibung des des Berichts des Rechtsausschusses Berichtes der Bundesregierung über die (6. Ausschuß) zu der dem Deutschen Lage der Freien Berufe in der Bundesre- Bundestag zugeleiteten Streitsache vor publik Deutschland (Drucksache 12/21) dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 5/91 (Drucksache 12/1167) Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär BMWi 3766 C Beratung der Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses (2. Ausschuß) Albert Pfuhl SPD 3768 D Sammelübersichten 25 bis 28 zu Petitio- Hansjürgen Doss CDU/CSU 3771 D nen (Drucksachen 12/1114, 12/1115, 12/1116, 12/1170) 3765D Josef Grünbeck FDP 3774 C Hans Georg Wagner SPD 3776 A Zusatztagesordnungspunkt 4: Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) CDU/ Zweite und dritte Beratung des vom Bun- CSU 3779 A desrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes Albert Pfuhl SPD 3780 A zum Ausgleich von Auswirkungen be- sonderer Schadensereignisse in der Angela Stachowa PDS/Linke Liste . . . . 3781 D Forstwirtschaft (Forstschäden-Ausgleichs- gesetz) (Drucksache 12/1056) Tagesordnungspunkt 9: Beschlußempfehlung und Bericht des a) Beratung der Unterrichtung durch das Ausschusses für Ernährung, Landwirt- Europäische Parlament: Entschließung schaft und Forsten (10. Ausschuß) (Druck- zu Energie und Umwelt (Drucksache sachen 12/1195, 12/1206) 3765 D 12/944) II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

b) Beratung der Unterrichtung durch das in Verbindung mit Europäische Parlament: Entschließung zu Energie und Umwelt (Drucksache Zusatztagesordnungspunkt 6: 12/945) Beratung des Antrags des Abgeordneten c) Beratung der Beschlußempfehlung und , weiterer Abgeordneter des Berichts des Ausschusses für Umwelt, und der Fraktion der SPD: Die Beziehun- Naturschutz und Reaktorsicherheit gen der Bundesrepublik Deutschland zu (17. Ausschuß) zu dem Dritten Bericht den deutschen Minderheiten in Osteu- der Enquete-Kommission „Vorsorge ropa und östlich des Urals (Drucksache zum Schutz der Erdatmosphäre" 12/1188) Schutz der Erde (Drucksachen 11/533, Dr. Roswitha Wisniewski CDU/CSU . . 3810D 11/787, 11/971, 11/1351, 11/3479, Freimut Duve SPD 3812 C 11/8030, 12/210 Nr. 193, 12/1136) Dr. Roswitha Wisniewski CDU/CSU 3813A, 3818 D Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/ CSU 3783 A Wolfgang Lüder FDP 3814 A Michael Müller (Düsseldorf) SPD . . . 3785 C Dr. PDS/Linke Liste . . 3815 D Dr. Klaus-Dieter Feige Bündnis 90/ Helmut Schäfer, Staatsminister AA . . . 3816 C GRÜNE 3786 D Freimut Duve SPD 3817 A Marita Sehn FDP 3787 D Horst Sielaff SPD 3817 D Dr. Klaus-Dieter Feige Bündnis 90/GRÜNE 3788C Tagesordnungspunkt 12: Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär Beratung des Antrags der Abgeordneten BMWi 3789 D Dr. Barbara Höll und der Gruppe der Monika Ganseforth SPD 3790 D PDS/Linke Liste: Einrichtung einer Stif- Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär tung zum Schutz und zur Bewahrung der BMU 3792 C Stätten des antifaschistischen Wider- stands (Drucksache 12/1117) Tagesordnungspunkt 10: in Verbindung mit Beratung des Antrags des Abgeordneten Harald B. Schäfer (Offenburg), weiterer Zusatztagesordnungspunkt 7: Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Beratung des Antrags des Abgeordneten Mehr Umweltschutz, Verkehrssicherheit Freimut Duve, weiterer Abgeordneter und Lebensqualität durch Geschwindig- und der Fraktion der SPD: Mahn- und keitsbegrenzungen (Drucksache 12/616) Gedenkstätten in der Bundesrepublik Klaus Lennartz SPD 3794 D Deutschland (Drucksache 12/1189) Dirk Fischer (Hamburg) CDU/CSU . . . 3796D Dr. Dietmar Keller PDS/Linke Liste 3819C, 3823 C Dietmar Schütz SPD 3796 C Michael Stübgen CDU/CSU 3820 A Klaus Lennartz SPD 3796 D Marianne Klappert SPD 3821 C Dr. PDS/Linke Liste 3799 C Wolfgang Lüder FDP 3822 C FDP 3800 C Stefan Schwarz CDU/CSU 3823 D Detlev von Larcher SPD 3800 D Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär BMI 3823 D Dr. Klaus-Dieter Feige Bündnis 90/GRÜNE 3802C, Nächste Sitzung 3824 C 3809 C Steffen Kampeter CDU/CSU 3803 D Berichtigung 3824 D Elke Ferner SPD 3804 C Anlage 1 Dr. Günther Krause, Bundesminister BMV 3807D Dr. SPD 3807 C Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 3825* A

Tagesordnungspunkt 11: Anlage 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Roswitha Wisniewski, weiterer Abge- Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesord- ordneter und der Fraktion der CDU/CSU nungspunkt 9a bis 9 c (Entschließungen zu sowie des Abgeordneten Wolfgang Lü- Energie und Umwelt; Be richt betr. Schutz der, weiterer Abgeordneter und der Frak- der Erde) tion der FDP: Förderung der Deutschen PDS/Linke Liste 3826* A und ihrer Kultur im östlichen Europa und jenseits des Urals sowie des ostdeut- Anlage 3 schen Kulturerbes in der Bundesrepu- blik Deutschland (Drucksache 12/844) Amtliche Mitteilungen 3827* C Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3765

45. Sitzung

Bonn, den 27. September 1991

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsidentin : Guten Morgen, zu der dem Deutschen Bundestag zugelei- liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! teten Streitsache vor dem Bundesverfas- sungsgericht 2 BvE 5/91 Die Sitzung des heutigen Tages ist eröffnet. — Drucksache 12/1167 — Es ist interfraktionell vereinbart worden, die ver- Berichterstattung: bundene Tagesordnung zu erweitern. Dazu liegt Ih- Abgeordneter Herbe rt Helmrich nen eine Liste mit den Zusatzpunkten vor: 4. Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrach- c) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zum tionsausschusses (2. Ausschuß) Ausgleich von Auswirkungen besonderer Schadensereig- nisse in der Forstwirtschaft (Forstschäden-Ausgleichsgesetz) Sammelübersicht 25 zu Petitionen — Drucksachen 12/1056, 12/1195, 12/1206 — — Drucksache 12/1114 — 5. Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Her- mann Wimmer (Neuötting), B rigitte Adler, Horst Kubatschka, d) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD einge- tionsausschusses (2. Ausschuß) brachten Entwurfs eines zweiten Gesetzes zur Änderung des Forstschäden-Ausgleichsgesetzes — Drucksachen 12/422, Sammelübersicht 26 zu Petitionen 12/1195,12/1206 — — Drucksache 12/1115 — 6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Freimut Duve, Dr. Willfried Penner, , weiteren Abgeord- e) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- neten und der Fraktion der SPD: Die Beziehungen der Bun- desrepublik Deutschland zu den deutschen Minderheiten in tionsausschusses (2. Ausschuß) Osteuropa und östlich des Urals — Drucksache 12/1188 — Sammelübersicht 27 zu Petitionen 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Freimut Duve, — Drucksache 12/1116 — Dr. Wilfried Penner, Wolfgang Thierse, weiteren Abge- ordneten und der Fraktion der SPD: Mahn- und Gedenk- f) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- stätten in der Bundesrepublik Deutschland — Drucksache 12/1189 — tionsausschusses (2. Ausschuß) Sammelübersicht 28 zu Petitionen Sind Sie damit einverstanden? — Dies ist der Fall. Es — Drucksache 12/1170 — ist so beschlossen. ZP4 Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- Ich rufe den Punkt 7 a bis f der Tagesordnung und derung des Gesetzes zum Ausgleich von Aus- die Zusatzpunkte 4 und 5 auf: wirkungen besonderer Schadensereignisse in 7. Beratungen ohne Aussprache der Forstwirtschaft (Forstschäden-Ausgleichs- gesetz) a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Aus- — Drucksache 12/1056 — schuß) zu der dem Deutschen Bundestag zugelei- Beschlußempfehlung und Be richt des Aus- teten Streitsache vor dem Bundesverfas- schusses für Ernährung, Landwirtschaft und sungsgericht 2 BvH 3/91 Forsten (10. Ausschuß) — Drucksache 12/1166 — — Drucksachen 12/1195, 12/1206 — Berichterstattung: Abgeordneter Herbert Helmrich Berichterstattung: b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Abgeordneter Siegfried Hornung Berichts des Rechtsausschusses (6. Aus- schuß) (Erste Beratung 41. Sitzung) 3766 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Vizepräsidentin Renate Schmidt ZP5 Zweite und dritte Beratung des von den Abge- Fortschreibung des Berichtes der Bundesre- ordneten Hermann Wimmer (Neuötting), B ri gierung über die Lage der Freien Berufe in der -gitte Adler, Horst Kubatschka, weiteren Abge- Bundesrepublik Deutschland ordneten und der Fraktion der SPD einge- — Drucksache 12/21 — brachten Entwurfs eines zweiten Gesetzes zur Änderung des Forstschäden-Ausgleichsgeset- Überweisungsvorschlag: zes Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Finanzausschuß — Drucksache 12/422 — Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Gesundheit Beschlußempfehlung und Be richt des Aus- Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Forsten (10. Ausschuß) Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. — Ich — Drucksachen 12/1195, 12/1206 — sehe auch dazu keinen Widerspruch. Es ist so be- schlossen. Berichterstattung: Abgeordneter Siegf ried Hornung Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla- mentarische Staatssekretär Beckmann. (Erste Beratung 31. Sitzung) Wir stimmen zuerst über die Punkte 7 a und 7 b der Tagesordnung ab. Wer stimmt für diese Beschlußemp- Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär beim Bun- fehlungen? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? desminister für Wirtschaft: Frau Präsidentin! Meine — Die Beschlußempfehlungen sind damit angenom- sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir segeln men. bei den freien Berufen weiter auf ordnungspoliti- Wir kommen nun zu den Punkten 7 c bis f der Ta- schem Kurs. Unter Beibehaltung bewährter Regelun- gesordnung und dabei zur Abstimmung über die in gen, insbesondere der Selbstverwaltungsstrukturen, der Tagesordnung aufgeführten Beschlußempfehlun- gilt es den unternehmerischen Handlungsspielraum gen des Petitionsausschusses zu diesen Punkten. Wer für den Freiberufler nicht nur zu erhalten; er muß stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Wer vergrößert werden. stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschluß- (Beifall bei der FDP) empfehlungen sind bei Nichtbeteiligung einiger Mit- glieder des Hohen Hauses angenommen. Hierzu hat die Deregulierungskommission beige- tragen. Sie hat im März dieses Jahres ihren zweiten Wir kommen nun zu den Zusatzpunkten 4 und 5. Bericht vorgelegt. Auch die freien Berufe und ihre Zunächst kommen wir zur Einzelberatung und zur zumindest potentiellen Konkurrenten im Bereich der Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundes- technischen Überwachung werden darin eingehend rates in der Ausschußfassung auf Drucksache auf Deregulierungsbedarf untersucht. 12/1195. Zur Ordnungspolitik gehört nach der Zielsetzung Ich rufe die Art. 1 und 2, Einleitung und Überschrift des Berichtes die Privatisierung öffentlicher Dienstlei- in der Ausschußfassung auf. Ich bitte diejenigen, die stungen. Wünschenswert wäre aber auch eine stär- den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wün- kere Berücksichtigung freiberuflicher Dienstleistun- schen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? gen bei der öffentlichen Auftragsvergabe. — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften Die wirtschaftliche Lage der freien Berufe und ihre sind damit einstimmig angenommen. Damit ist die Stellung im Gefüge des mittelständischen Unterneh- zweite Beratung abgeschlossen. mertums ist, gemessen an der zahlenmäßigen Ent- Wir treten in die wicklung, gut. Die Tendenz ist steigend. dritte Beratung Wir gehen heute von einer Gesamtzahl von rund 450 000 Freiberuflern aus; davon ist ein Zehntel in den ein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte die- neuen Bundesländern. Diese Zahl wird, insbesondere jenigen, die dem Gesetzentwurf zuzustimmen wün- durch die Zuwachsraten im Beitrittsgebiet, steigen. schen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Für das Jahr 1995 rechnen wir mit einer halben Mil- Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit ein- lion Freiberuflern in Deutschland, die Arbeitgeber für stimmig angenommen. ca. 1,5 Millionen Beschäftigte sein werden. Der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Die Bundesregierung hat die freien Berufe vollstän- Forsten empfiehlt weiter unter Ziffer 2 seiner Be- dig in die Existenzgründungsförderung in den neuen schlußempfehlung auf Drucksache 12/1195, den Ge- Bundesländern einbezogen. Bei der Eigenkapitalhilfe setzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/ liegen die freien Berufe an erster Stelle. Diese Bun- 422 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Be- desregierung hat ihre Zusage erfüllt, die freien Berufe schlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? innerhalb der Mittelstandsförderung möglichst — Die Beschlußempfehlung ist damit angenommen. gleichzustellen. Künftig werden die wirtschaftsnahen freien Berufe auch in den alten Bundesländern, sofern sie nicht selbst überwiegend wirtschaftsberatend tätig sind, in die Unternehmensberatung einbezogen. Bei Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf: der Förderung von Informa tions- und Schulungsver- Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- anstaltungen werden sie ebenfalls mit kleinen und regierung mittleren Unternehmen gleichgestellt, indem auch die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3767

Parl. Staatssekretär Klaus Beckmann Existenzsicherung im alten Bundesgebiet gefördert werden, namentlich für freiberufliche Sachverständi- werden kann. genorganisationen. Ganz neu für die freien Berufe, ob in Ost oder West, (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: ist die Möglichkeit der Ansparförderung für Existenz- Auch sehr gut!) gründer. Durch die Begrenzung der Förderung im In der Mehrzahl der neuen Länder und auch in Ber- Westen auf dieses Jahr wird ein deutliches Zeichen lin ist die freiberufliche Gesellschaft für technische gesetzt, sich möglichst in Mittel- und Ostdeutschland Überwachung, kurz GTÜ, jetzt zugelassen. In Thürin- niederzulassen. Auf derselben Linie liegt eine Ände- gen steht sie vor der Tür. Nur Brandenburg — das rung der Eigenkapitalhilfe. muß ich leider anmerken — tut sich diesbezüglich ein Eine interministerielle Arbeitsgruppe unter Feder- wenig schwer. führung des Wirtschaftsministe riums prüft die Förde- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Sehr rung des Mittelstands darauf, wie ihre Effektivität für bedauerlich!) den Mittelstand, für freischaffende Künstler, für Publi- zisten gesteigert werden kann. Denn mit ihrer Wert- Öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige schöpfung sind diese Berufe der Kulturwirtschaft vor- können nach der Aufzugsverordnung Aufzuganlagen gelagert. Ein Ergebnis dieser Arbeitsgruppe ist, daß in Wohngebäuden überprüfen. Hier sollte eine Erwei- sie diese Berufe zu wirtschaftsnahen Berufen erklärt. terung auf Aufzuganlagen im gewerblichen oder zu- Dies erleichtert ihre Einbeziehung in verschiedene mindest teilgewerblichen Sektor überlegt werden. wirtschaftliche Förderprogramme. (Beifall bei der FDP) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, positive Reso- Gleiches gilt übrigens für die Druckbehälterverord- nanz hat das Partnerschaftsvorhaben bei den freien nung. Berufen gefunden. An einer speziellen Rechtsform für die freien Berufe und deren interprofessioneller und Verehrte Kolleginnen und Kollegen, bei der Prü- überörtlicher Zusammenarbeit besteht sehr großes In- fung medizinisch-technischer Geräte, bei Getränke- teresse. Allerdings ist noch Abstimmungsarbeit zu lei- schankanlagen und der Trinkwasseruntersuchung sten. Schließlich soll die Pa rtnerschaft ein Höchstmaß sind auf Grund entsprechender Verordnungen quali- an Harmonie mit anderen Rechts- und Gesellschafts- fizierte freiberufliche Sachverständige bereits zuge- formen und mit dem Berufsrecht der Rechtsanwälte lassen. Diese ganz ansehnliche Palette von Prüf- und aufweisen, dessen Novellierung vom Bundesjustizmi- Überwachungsaufgaben für qualifizierte freiberuf- nisterium gerade vorbereitet wird. liche Sachverständige ist angemessen weiterzuent- wickeln und in den neuen Bundesländern entspre- Zur grundlegenden Novellierung des anwaltlichen chend einzuführen. Berufsrechts im Anschluß an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 1987 haben Wir können auch gewisse Erfolge im Bereich des die beiden großen Anwaltsorganisationen im Sommer Vermessungs- und Katasterwesens vermelden; aller- gemeinsame Vorschläge eingebracht. Diese zeigen dings besteht auch hier weiterhin Handlungsbedarf. Gott sei Dank nur noch wenig Dissens. Für den Ent- Die aufgelösten Kombinate für Kartographie und wurf des Bundesjustizministers wird selbstverständ- Geodäsie hinterließen ein Vakuum. Einerseits fehlt es lich die Arbeit der Deregulierungskommission und an Vermessungs- und Katastergesetzen, andererseits der Koalitionsarbeitsgruppe eine wichtige Rolle spie- fehlen da und dort Mut und Einsicht, freiberufliche len. Ich denke, daß im nächsten Jahr mit der Verab- Vermessungsingenieure einstweilen auch ohne ent- schiedung des neuen anwaltlichen Berufsrechts ge- sprechende Gesetze zuzulassen. rechnet werden kann. Die Bundesregierung hat immer wieder auf die tra- Es war auch Zielsetzung des Berichtes, die Tätigkeit gende Bedeutung des Vermessungswesens für einen der Freiberufler im technischen Sachverständigenwe- wirtschaftlichen Aufschwung in den neuen Bundes- sen zu stärken. Auch hier geht es um die Privatisie- ländern mit Erfolg hingewiesen. Nach der Schaffung rung und gleiche Wettbewerbschancen als Basis für von Vermessungs- und Katastergesetzen für Teilge- neue Tätigkeitsfelder selbständiger Freiberufler. Im biete verlagert sich das Problem jetzt allerdings auf Sachverständigenbereich können bei Vorliegen be- den Gesetzesvollzug. Zumindest für eine Übergangs- stimmter Voraussetzungen bereits zahlreiche freibe- zeit sollten öffentlich bestellte Vermessungsinge- rufliche Dienstleistungen bei Prüfungen, Überwa- nieure in den Katasterämtern tätig werden. chung, Beratung, Vermessung und Planung erbracht werden. (Hans Georg Wagner [SPD]: Sehr richtig!) (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Sehr Funktionierende Katasterämter, Herr Kollege, sind für gut!) den Aufschwung in den neuen Bundesländern uner- läßlich; denn ohne Landvermessung gibt es keine Ka- Im Kraftfahrzeugprüfwesen soll, nachdem durch tastervermessung, und ohne Katastervermessung gibt die Verordnung vom 24. Mai 1989 das weite Feld der es keine Grundstücksteilung und damit keine neuen Prüfungen nach § 29 Straßenverkehrszulassungsord- Grundstücke. nung für Prüfungsorganisationen beruflicher Sach- Die Beleihung von Grundstücken wird behindert. verständiger einschließlich der Abgassonderuntersu- Ohne Immobiliarsicherheit gibt es aber keine Bau- chung eröffnet worden ist, demnächst auch das wich- tätigkeit, die wiede rum Grundlage für jeden wirt- tige Feld der Begutachtung und Abnahme bei nach- schaftlichen Aufschwung ist. träglichen technischen Änderungen an Fahrzeugen für amtlich anerkannte Prüforganisationen geöffnet ( [CDU/CSU]: Das ist richtig!) 3768 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Parl. Staatssekretär Klaus Beckmann Lassen Sie mich noch einige wenige Wort zur Al- schaltet wird. Ich denke, das ist ein guter Erfolg unse- terssicherung und zur Steuerpolitik für die freien Be- rer Verhandlungen in Brüssel. rufe sagen. Das vom Institut für freie Berufe in Nürn- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten berg vorgelegte Gutachten zur Situation der Alterssi- der CDU/CSU) cherung in den freien Berufen hat eine differenzierte Struktur der Sicherung von freien Berufen für das Die Bundesregierung und die Verbände werden Alter und das Invaliditätsrisiko gezeigt. Das haben ja weiterhin Argumente und Bedenken gegen den auch Sie, Herr Kollege Doss, mit großer Aufmerksam- Richtlinienvorschlag vortragen. Er würde die Erbrin- keit zur Kenntnis genommen. gung von Dienstleistungen erschweren und sie über höhere Versicherungsprämien verteuern. Das Inter- Für den größten Teil der freien Berufe mit beruf- esse der Verbraucherschutzorganisationen an der licher Selbstverwaltung in Kammern stehen derzeit Richtlinie ist für die meisten einsichtig, zumal da wir in mehr als 50 berufsständische Versorgungswerke zur Deutschland ein hochentwickeltes Haftungs- und Ge- Verfügung. Weitere sind in den neuen Bundesländern währleistungsrecht haben. im Aufbau. Daneben ist die gesetzliche Rentenversi- Von besonderem Interesse sind hier die aktuellen cherung vor allem für jene Freiberufler von Bedeu- Beratungen im Europäischen Parlament, dem — wie tung, für die keine eigenen berufsständischen Versor- ich glaube: Gott sei Dank — ein zunehmend stärkeres gungswerke bestehen. Gewicht zukommt. Bei den Künstlern — das merke ich mit Nachdruck Lassen Sie mich zum Schluß einen Blick auf Mittel- an — ist die Künstlersozialversicherung die wichtigste und Osteuropa und auf die Situation der freien Berufe Grundlage der Altersversicherung. dort werfen. Die Zusammenarbeit mit den mittel- und osteuropäischen Staaten erfordert vielfältige Bera- Mit dem vorliegenden Entwurf eines Steuerände- tungs- und Unterstützungsmaßnahmen, gerade zum rungsgesetzes 1992 soll ein erster Schritt der Unter- Aufbau eines lebensfähigen Mittelstandes und freier nehmensteuerreform verwirklicht werden. Für die Berufe. Dabei, Herr Kollege Weng, müssen wir vor freien Berufe ergeben sich Entlastungen und Verein- allem bei Maßnahmen zur Verbesserung von Informa- fachungen vor allem bei der Vermögensteuer sowie tion, Qualifikation, Beratung, Technologietransfer, der Erbschaft- und der Schenkungsteuer. Unternehmensfinanzierung, Unterstützung beim Auf- Mit einem zweiten Schritt der Unternehmensteuer- bau von Verbands- und Kammerstrukturen und der reform zum Ende der Legislaturperiode müssen wei- Privatisierung ansetzen. tere Tarifentlastungen erfolgen. Diese steuerlichen (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Sehr Entlastungen zusammen mit dem halben Steuersatz richtig, Herr Staatssekretär, und mit Recht!) bei Praxis- oder Büroverkauf verringern die Benach- — Das ist ja Ihr Thema, Herr Abgeordneter Weng. — teiligung der Selbständigen beim steuerlichen Vor-- Das alles ist aber nur durch enge Zusammenarbeit mit wegabzug für Vorsorgeaufwendungen für Alter und der Europäischen Gemeinschaft zu verwirklichen. für Krankheit. Im Rahmen der deutsch-französischen Zusammen- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten arbeit in der Politik für freie Berufe — das hebe ich der CDU/CSU) hervor — wurde das nächste Treffen in Dresden vor- gesehen, um auch angesichts der Lage Sachsens im Lassen Sie mich noch kurz auf einige europäische Dreiländereck bei der Entwicklung freiberuflicher Aspekte und Vorhaben eingehen. Die freien Berufe Strukturen zunächst in Polen und in der Tschechoslo- — ich sage das hier ganz nachdrücklich — sind durch wakei helfend zusammenzuarbeiten. Das zeigt, daß zwei Richtlinienvorschläge der Europäischen Kom- wir in unserem Denken, in unserem politischen Ge- mission beunruhigt. staltungswillen nicht auf die Interessen der freien Be- Bei der Dienstleistungsrichtlinie für das öffentliche rufe in der Bundesrepublik Deutschland verengt sind, Auftragswesen konnten zwar mehrere freiberufliche sondern daß wir in das gesamteuropäische Interesse Spezifika erreicht werden. Problematisch sind für ei- im Auge haben. nige freie Berufe aber die Zulassung von Kapitalge- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. sellschaften, die es im europäischen Ausland gibt, und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der zu niedrige Schwellenwert, also der Auftragswert, ab dem die Regelungen der Richtlinie greifen. Sinn- voll wäre z. B. bei Planungsleistungen eine Orientie- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat das Wort rung am Bauwerk entsprechend der Baukoordinie- der Kollege Albert Pfuhl. rungsrichtlinie. Die Verhandlungen zur Richtlinie lau- fen zur Zeit. Die Bundesregierung und die Verbände versuchen, weitere Verbesserungen herbeizuführen. Albert Pfuhl (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen Der Dienstleistungshaftungsrichtlinie konnte die und Herren! Keine Frage, die freien Berufe haben Bundesregierung bereits einen Giftzahn ziehen, in- Konjunktur, nicht nur im wirtschaftlichen und gesell- dem die Kommission auf die verschuldensunabhän- schaftlichen Leben, sondern offensichtlich auch hier gige Haftung verzichtete. Nun wurde bekannt, daß im Bundestag, wenn auch die Frequenz heute mor- die Kommission die Heilberufe und die Bauberufe gen, am Freitag um 9 Uhr, nicht allzu stark ist. vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausdrücklich (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Es kommt ausschließen will, womit eine weitere, von der Bun- auf das Gewicht und die Qualität der Argu desregierung stets monierte Unerträglichkeit ausge- mente an!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3769

Albert Pfuhl Aber von denen, die hier sind, weiß ich, daß sie wirk- Betrachtet man die zahlenmäßige Entwicklung der lich ein Interesse am Mittelstand haben. freien Berufe über einen Zeitraum von zwei Jahrzehn- ten, so zeigt sich, daß ihre Zahl auch wesentlich stär- (Hansjürgen Doss [CDU/CSU]: Ein Ausdruck ker als die der übrigen Erwerbstätigen zugenommen von Qualität!) hat. Das dürfte im einzelnen daran liegen, daß die — Sehr verehrter Herr Kollege Doss, ich danke Ihnen, eigenverantwortliche Tätigkeit, verbunden mit einem denn Sie haben mich bei der Qualität eingeschlos- vergleichsweise guten Einkommen, vor allem in eini- sen. gen Branchen, ein starker Anreiz für die Aufnahme einer selbständigen freiberuflichen Tätigkeit gewe- (Hansjürgen Doss [CDU/CSU]: Selbstver- sen sein dürfte. ständlich! ) Zum anderen müssen wir erkennen, daß viele Aka- Wir diskutieren zum zweiten Mal innerhalb eines demiker, die im öffentlichen Dienst oder in der Privat- Jahres über die Lage der freien Berufe. Anlaß ist die wirtschaft keine Beschäftigung finden konnten, ver- Fortschreibung des Berichts der Bundesregierung stärkt in die freien Berufe gedrängt haben. Dies gilt über die Lage der freien Berufe in der Bundesrepu- vor allem für den Juristenberuf. Die Infla ti blik, auf die wir und die freien Berufe fast zwölf Jahre on an An- wälten bemerken wir alle jeden Tag, wenn wir die haben warten müssen. neuen Schilder an den Häusern sehen, wo eine Praxis Angesichts der langen Bedenkzeit ist der Bundesre- aufgemacht wurde. gierung nach meiner Meinung nicht viel Neues bei dieser Formulierung von Grundsatzpositionen einge- Dieser Sachverhalt hat mit Sicherheit auch die Ent- fallen. Das zeigt auch, wie gut der Be richt war, den die wicklung der Einkommen beeinflußt. Die durch- sozialliberale Koalition im Jahre 1979 vorgelegt hat schnittlichen Einkünfte der Freiberufler sind aber von und von dem anscheinend diese Koalition bis heute 1983 bis 1986 — die neueren Zahlen liegen uns leider gezehrt hat. nicht vor — sogar gefallen. 1983 betrug das durch- schnittliche Einkommen 108 000 DM, in 1986 leider Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat nur 107 000 DM. Die Hälfte der Freiberufler erzielte immer wieder darauf hingewiesen — auch in unserer 1986 Einkünfte aus selbständiger Arbeit in Höhe von Diskussion das letzte Mal hatte ich diese Ehre — , daß maximal 58 000 DM. Jeder, der also glaubt, in freien die Bedeutung der freien Berufe für unsere Wirtschaft Berufen könne man goldene Nasen verdienen, muß und unsere Gesellschaft hier von niemandem bestrit- wissen, daß dieses nur in einzelnen Branchen gesche- ten werden sollte. Freie Berufe erfüllen in unserem hen ist. hochtechnisierten, arbeitsteiligen Wirtschaftssystem wichtige Aufgaben. Die Leistungs- und Wettbewerbs- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Also ist der fähigkeit unserer Volkswirtschaft erfordert eine stän- oft zitierte Futterneid falsch!) dige Anpassung an den wirtschaftlichen und techni- — Verehrter Herr Kollege, wer den Futterneid schürt, schen Wandel. Hierfür ist ein herausragendes Beispiel sollten gerade Sie als Vertreter der Landwirtschaft der ökologische Umbau der Volkswirtschaft. Gerade sich fragen. die freien Berufe tragen zu diesem Anpassungsprozeß mit ihren Beratungsleistungen, besonders für kleine (Heiterkeit bei der SPD) und mittlere Unternehmen, entscheidend bei. Hinter diesen Einkommensdurchschnittszahlen ste- Auf die Bedeutung der freien Berufe für die Funk- hen auch diese enormen Einkommensunterschiede. tionsfähigkeit unseres Gesundheitswesens, der Archi- Einkommen von Laborärzten, die in der Statistik mit tektur, der Technik, der Kultur hinzuweisen, hieße im knapp 700 000 DM angegeben sind, gemessen an Grund Eulen nach Athen tragen. dem eines selbständigen Architekten, der manchmal weniger als ein Zehntel verdient, oder eines Künstlers, (Josef Grünbeck [FDP]: Sehr wahr!) der noch nicht einmal ein Zwanzigstel dieses Einkom- Vor allem — das sollten wir hier nicht vergessen — mens hat, beweisen, wie unterschiedlich die Einkom- ermöglichen die freien Berufe immer auch ein Stück- men hier sind. chen Individualität in der Massengesellschaft. Die Zukunftsaussichten der freien Berufe werden Betrachtet man den statistischen Teil des Berichtes im Bericht der Bundesregierung positiv bewertet. Ich — der Herr Staatssekretär hat hier schon einige Zah- teile diese Einschätzung. Die freien Berufe haben in len vorgetragen —, so zeigt sich, daß die freien Berufe den zurückliegenden Jahren besonders vom starken in den zurückliegenden Jahren an Bedeutung gewon- Anstieg des Dienstleistungssektors profitiert. Dieser nen haben und sich die Zahl ihrer Angehörigen im für eine reife Volkswirtschaft kennzeichnende Trend Zeitraum von elf Jahren, von 1978 bis 1989, um über zu dieser Dienstleistungsgesellschaft verlangt in ver- 120 000 erhöht hat. stärktem Maß auch individuelle, personenbezogene und unternehmensorientierte Dienstleistungen, die Die Attraktivität der freien Berufe ist auch für die besonders von freien Berufen, beispielsweise in den Frauen gewachsen. In einzelnen Berufsgruppen stieg Bereichen Bildung, Freizeit und Unterhaltung, aber der Anteil im Berichtszeitraum um bis zu 14 %. auch durch Rechts- und Unternehmensberatung er- (Hansjürgen Doss [CDU/CSU]: Sehr gut!) bracht werden. Ich bin davon überzeugt, daß bei die- sem Trend gerade diese Bereiche und Tätigkeitsfelder Die Zahl der bei den Freiberuflern Beschäftigten in der Zukunft zunehmend besetzt werden müssen. — das wurde auch schon gesagt — ist auf 1,1 bis 1,2 Millionen gestiegen, die Zahl der Auszubildenden Verstärkt werden die Entfaltungsmöglichkeiten gleichzeitig um über 30 % auf 150 000. freier Berufe besonders mit der Verwirklichung des 3770 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Albert Pfuhl EG-Binnenmarktes, der vor allem im wirtschafts- und Wir sollten beim Aufbau dieser Dienstleistungsbe- steuerberatenden Bereich große Chancen bietet. reiche in den neuen Ländern und ihrer Kommunen dafür sorgen, daß die freien Berufe angemessen und Mit dem Zusammenwachsen Europas gibt es selbst- dort, wo es möglich ist, eingebunden werden und die verständlich auch Anpassungsprobleme. Hier — Herr öffentlichen Dienstleistungen auf das erforderliche Staatssekretär hat es erwähnt — denke ich an die Dienstleistungshaftungsrichtlinie, die bei den freien Maß zurückgeschraubt werden. Der Herr Staatssekre- tär hat einige Beispiele genannt. Berufen auf starke Kritik gestoßen ist. Im Kern geht es dabei um die Umkehrung der Beweislast zugunsten Zum Vermessungswesen etwa muß ich Ihnen sa- des Geschädigten. gen: Ich halte es für falsch, daß von dem Katasteramt Ich will Ihnen nichts vormachen: Für uns gilt der aus meinem Wahlkreis die Leute abgezogen werden, Grundgedanke des Verbraucherschutzes, der auch nicht um das Katasteramt aufzubauen, sondern um die bei der Produzentenhaftung zum Ausdruck kommt, Vermessung durchzuführen. Dies könnten freie Ver- als ein wichtiges Anliegen. Insofern stehen wir dem messungsingenieure nach meiner Meinung besser. Ziel der Richtlinie im Grundsatz nicht ablehnend ge- Die anderen sollen sich um den Bürokram in dem genüber. Ich kann Ihnen jedoch versichern, daß wir Laden kümmern. vor einer abschließenden Meinungsbildung die ernst (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der zu nehmenden Einwände der Betroffenen zu prüfen FDP) haben, um eine für beide Teile akzeptable ausgegli- chene Lösung zu finden. Wir Sozialdemokraten unterstützen die Gründung selbständiger Existenzen in den neuen Bundeslän- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Vernünf- dern mit Nachdruck. Jeder, der im Wirtschaftsaus- tig!) schuß und im Unterausschuß, der sich mit den ERP- Eines darf bei uns nicht geschehen: daß amerikani- Sondervermögen beschäftigte, dabei war, Herr sche Verhältnisse einreißen, wobei Millionen Scha- Dr. Schwörer, weiß, daß wir darauf gedrängt haben, denersatzbeträge angemeldet werden, und dann in die Mittel für die Existenzgründungen in den neuen einem Vergleichsverfahren der einzelne in einer Grö- Bundesländern aufzustocken und dafür zu sorgen, ßenordnung zur Kasse gebeten wird, daß er von der daß die Menschen drüben die Chance haben, ihrem Versicherung die Beträge nicht mehr leisten kann. Wunsch, selbständig zu werden, nachkommen zu Auch dies ist in Amerika leider Gottes eingerissen. So können. weit dürfte es bei uns nicht kommen. Aber die Bundesregierung ist dem einerseits immer (Beifall bei der SPD — Siegf ried Hornung etwas zögerlich gefolgt [CDU/CSU]: Gute Einsicht seitens der (Zuruf von der SPD: Das will er nicht hören, SPD!) der Herr Beckmann!) — Ich denke jetzt nicht nur an Schadenersatzklagen von jungen Damen gegenüber Boxern über 100 Mil- und hat andererseits zum sogenannten Ausgleich lionen, Herr Kollege. Die habe ich nicht gemeint. wichtige Maßnahmen zur Förderung freier Berufe und kleiner und mittlerer Unternehmen in den alten Bun- Große Aufgaben und Betätigungsfelder für freie desländern eingestellt bzw. drastisch gekürzt. Berufe ergeben sich auch im Zusammenhang mit der deutschen Einigung. In der ehemaligen DDR, das Ich will hier in einer Debatte über die Lage der wissen wir alle, waren freie Berufe aus ideologischen freien Berufe nicht das Thema der praktisch ein- Gründen zurückgedrängt. gestellten mittelstandsorientierten Forschungsförde- rung anschneiden, sondern auf zwei Programme hin- (Zuruf des Abg. Michael Glos [CDU/CSU]) weisen, die auch für die freien Berufe von Bedeutung waren und sind, zum einen auf das — Ja, verehrter Herr Kollege, ich lese Zeitung, im Eigenkapital- hilfeprogramm zur Förderung selbständiger Exi- Gegensatz zu Ihnen, und zwar die richtige. stenzen, das 1991 eingestellt wird. (Heiterkeit im ganzen Hause) (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: In den 80er Jahren gab es in der DDR nur etwa Planmäßig ausläuft, Herr Kollege!) 10 000 freiberuflich Tätige. Sie machten zuletzt ledig- lich 0,1 % aller Erwerbstätigen aus. Nach der deut- — Was heißt „planmäßig ausläuft"? In jedem Falle schen Einheit entfielen die restriktiven Zulassungsbe- haben Sie das Ding totgemacht. Das heißt, ab 1992 schränkungen mit dem erfreulichen Ergebnis, daß wir gibt es kein Geld mehr. Das ist doch die Konse- zur Zeit — auch dies wurde schon einmal gesagt — ca. quenz. 50 000 Freiberufler haben. Diese beschäftigen bereits (Beifall bei der SPD) mindestens ebenso viele Mitarbeiter. Dann lese ich in einer CDU-Mitteilung, daß sich der (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Da ist es Kollege Doss dazu bekennt, daß das Eigenkapital- wichtig, daß man das nicht wieder verstaat- hilfeprogramm Standbein der mittelständischen Wi rt licht!) -schaft sei. — Genau das. Für die Zukunft wird mit 100 000 Frei- (Hansjürgen Doss [CDU/CSU]: So ist es!) berufler in den neuen Ländern gerechnet. Daraus ent- wickelt sich auch eine Anzahl von Mitarbeitern, die Und wie haben Sie im Wirtschaftsausschuß gestimmt, dazu beitragen, den Arbeitslosenberg abzubauen. Herr Kollege? Wie hat sich die CDU/CSU gegenüber Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3771

Albert Pfuhl den Forderungen der FDP verhalten? Sie haben den Ähnliches gilt bei der Vermögensteuer. Von der I Schwanz eingekniffen! Das ist die Situation. Vermögensteuer werden noch weniger Selbständige als von der Gewerbekapitalsteuer erfaßt, (Zustimmung bei der SPD — Zurufe von der FDP) (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aber des wegen ist die Steuersenkung nicht falsch!) Herr Kollege Doss, man sollte nicht in der Öffentlich- keit den Mund spitzen und hinterher im Ausschuß so daß die ganz überwiegende Zahl der Selbständi- nicht pfeifen wollen. Das darf man nicht. Das nehmen gen, also auch der Freiberufler, von dieser Steuer be- uns die Mittelständler nicht ab. freit ist und demzufolge auch nicht entlastet werden kann. (Beifall bei der SPD — Hansjürgen Doss (Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist eine ver [CDU/CSU]: Und Sie waren mir so sympa- blüffende Logik!) thisch!) — Herr Kollege, Sie sind doch im Finanzausschuß. Sie —Nun gut, ich weiß, aber wem tut es schon gut, wenn hätten dafür sorgen müssen, daß hier bessere Verhält- man ihn rügt? nisse für den Mittelstand erzeugt werden. Das Eigenkapitalhilfeprogramm war die eine Seite. Statt dieser Steuerregelung, die überwiegend Groß- Gleiches gilt auch für die Ansparförderung zur Grün- unternehmen begünstigt, hätte die Bundesregierung dung selbständiger Existenzen, die für die alten Bun- vernünftigerweise besser die steuerfreie Investitions- desländer ebenfalls Ende 1991 abgeschafft wird. rücklage für kleine und mittlere Unternehmen einge- (Zuruf von der SPD: So ist es!) führt und sich Gedanken darüber gemacht, wie die Vorsorgeaufwendungen auch der Selbständigen Hier hätten wir den Unterschied zwischen alten und steuerlich angemessener hätten berücksichtigt wer- neuen Ländern nicht machen sollen. Auch bei uns in den können. Es ist dringend erforderlich, daß hier den alten Ländern gibt es genügend Möglichkeiten, etwas geschieht; darüber müssen wir nachdenken. diese Existenzförderung durchzuführen. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Dem letz Es ergibt sich die groteske Situation, daß dieses Pro- ten Punkt ist zuzustimmen!) gramm auf Drängen der SPD erst im letzten Haushalt Wir sollten auch darüber nachdenken, ob eine Erhö- für freie Berufe geöffnet wurde, praktisch aber schon hung der Sonderausgabenhöchstbeträge vorgenom- wieder abgeschafft wird, bevor es überhaupt von den men werden sollte. freien Berufen angenommen werden kann, weil es jetzt schon wieder ausläuft. Der Bundesverband der Freien Berufe hat den vor- gelegten Be richt folgendermaßen kommentiert (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Das — meine Redezeit geht zu Ende, aber das wi ll ich doch ist unwahr!) noch kurz vorlesen — : — Sie können ja nachher darauf antworten, Herr Kol-- Er ist ein ebenso sorgfältiges wie vorsichtiges Be- lege Weng. amtenwerk ohne politische Handschrift. Meine Fraktion hat in den Haushaltsplanberatun- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: So ist es!) gen Anträge gestellt. Beide Programme haben keine In diesen Grenzen verdient er Dank und Aner- Zustimmung gefunden. Ich lobe hier den Kollegen kennung. Hinsken, der einmal über seinen Schatten gesprun- gen ist und gesagt hat: Das ist im Grunde eine richtige Ich habe dem nichts hinzuzufügen. Sache. — Hätten Sie das nur auch getan! (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Sie sollten das Ganze lesen!) (Zuruf von der SPD: Er ist ja auch ein ordent- licher Handwerksmeister!) — Ja, man merkt, was ein anständiger Handwerks- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat meister ist. der Kollege Hansjürgen Doss das Wort. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: We (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP) nigstens ein Freiberufler!) Ähnlich enttäuschend ist auch die Steuerpolitik für Selbständige. Die von der Bundesregierung geplante Hansjürgen Doss (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Senkung der Vermögensteuer und die Abschaffung Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine ver- der Gewerbekapitalsteuer ist mittelstandspolitisch ehrten Kollegen! Daß ich Klaus Beckmann ein Danke- völlig verfehlt. schön für die Rede heute morgen und für die Arbeit des Wirtschaftsministe riums sagen kann, habe ich ge- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das stimmt ahnt, weil ich ihn gut kenne und weil ich seine Kom- nicht!) petenz und die Kompetenz des Hauses, Herr Bieber- Die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer bringt stein, die in diesem Be richt zum Ausdruck kommt, z. B. für die freien Berufe nichts; schätze. (Zuruf von der SPD: Gar nichts!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) denn die zahlen diese Steuer ja gar nicht. Ebenso geht Ich war positiv motiviert und hatte die Absicht, hier es den meisten kleinen und mittleren Unternehmen, auch den verehrten Kollegen Pfuhl zu loben, die zu über 80 % von der Gewerbekapitalsteuer be- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Mit Abstri freit sind. chen!) 3772 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Hansjürgen Doss nachdem er sich so positiv geäußert hatte. Dann aller- Da sieht man, daß der Staat nicht alles regeln sollte. dings, so muß ich sagen, hat er sich verirrt und hat ein Die betroffenen Bürger können das viel besser. Gesicht gezeigt, von dem ich nicht weiß, ob es das wahre oder das nicht wahre gewesen ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die freiberufliche Gründungswelle in den neuen (Dr. Uwe Jens [SPD]: Welches zeigen Sie zur Bundesländern wird dazu beitragen, daß die Zahl der Zeit?) Freiberufler in Deutschland von knapp 300 000 im Nach dem, was er gesagt hat, kann ich ihn nur zum Jahre 1980 über 400 000 im Jahre 1990 noch einmal Teil loben. um 50 % auf 600 000 im Jahre 2000 steigen wird. Ein zweiter Wachstumsimpuls wird der Zu der Frage, die Sie hier mehr rheto risch vorgetra- europäi- sche Binnenmarkt sein. Um die Chancen eines erwei- gen haben: Sie wissen genausogut wie ich, daß bei terten Betätigungsfeldes zu nutzen, bedarf es aber einer soliden Regierungspolitik die Finanzierbarkeit einiger Korrekturen an den politischen Rahmenbedin- von Maßnahmen entscheidend sein muß. Das ist doch gungen, auf die auch im Be ri der Punkt! cht der Bundesregierung ansatzweise hingewiesen wurde. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) So wird etwa die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Der Kollege Jens hat ja im Wirtschaftsausschuß die der europäischen Konkurrenz dadurch erheblich ein- Solidität angemahnt. Da wir uns botsam verhalten geschränkt, daß berufsrechtliche Grenzen der Spe- haben, haben wir dem entsprochen und nur das ge- zialisierung und der interdisziplinären Kooperation im macht, was wir am Ende auch finanzieren konnten. Wege stehen. Der Be richt der Bundesregierung weist Allerdings beklage ich den Sachverhalt; ich komme deutlich darauf hin. gleich noch einmal darauf zurück. Wir brauchen daher dringend ein Partnerschaftsge- setz — Staatssekretär Beckmann hat darauf hingewie- Meine sehr verehrten Damen und Herren, die freien sen — für die Gruppen der freien Berufe, die von den Berufe sind in der Zwischenzeit — das ist ja wohl Kon- geltenden Berufsgesetzen an einer Zusammenarbeit sens — eine der bedeutendsten Gruppierungen inner- gehindert werden. Das gilt vor allem für die techni- halb unserer Gesellschaft. Der Dienstleistungssektor schen sowie die rechts- und wirtschaftsberatenden ist einer der größten Wirtschaftsfaktoren der Bundes- freien Berufe. republik Deutschland und wird dies auch im europäi- schen Markt sein. Freie Berufe spielen eine immer Auch die Berufsgesetze müssen zeitgemäßer sein. wichtigere Rolle, weil die Nachfrage nach Dienstlei- Wir müssen den durch das EG-Recht veränderten stungen weiter steigen wird. Die entscheidenden Voraussetzungen Rechnung tragen. Das bedeutet Wachstumsimpulse kommen aus den neuen Bundes- nicht, daß alles, was aus Brüssel kommt, unk ritisch zu ländern, aber auch aus dem europäischen Binnen- übernehmen ist und daß die Harmonisierung um je- markt. den Preis zu betreiben ist. In der ehemaligen DDR war für freie Berufe kein (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Platz. Freie Berufe sind Kennzeichen einer freien Ge- bei Abgeordneten der SPD) sellschaft, waren also in dem damaligen Staat sozusa- — Vielen Dank! gen kontraproduktiv. Die freien Berufe mußten infol- gedessen in den neuen Bundesländern bei Null an- Hier ist große Wachsamkeit geboten, weil die Eu- fangen. Das sieht in der Realität so aus, daß der Zahn- rokraten uns gelegentlich Produkte präsentieren, die arzt, der bisher in der staatlichen Kieferklinik beschäf- jegliche Kenntnis der Praxis vermissen lassen. Die et- tigt war und keine Rücklagen bilden konnte, weil er was zu positive Einschätzung über den Stand der Ent- dort soviel verdiente wie ein Hilfsarbeiter, sich mit 50 wicklung, Herr Staatssekretär Beckmann, teile ich selbständig macht und 200 000 Mark in eine Praxis nicht ganz. Wir waren vorgestern in Brüssel. investiert, Miete und Mitarbeiter bezahlen muß und Die EG-Kommission hat in diesem Jahr den Entwurf nun darauf hoffen kann, daß er bis zum Rentenalter einer neuen Haftungsrichtlinie für Dienstleistun- schuldenfrei ist. — Das sind die Probleme, die in den gen vorgelegt, dessen Verwirklichung die gesamte fünf neuen Bundesländern anstehen. Wer weiß das Dienstleistungswirtschaft in ihrer Existenz massiv be- besser als Dietrich Rollmann, den ich hier auf der Tri drohen wird. Danach soll die Haftung für Dienstlei- -büne sehe? Der Bundesverband der Freien Berufe hilft stungen auf 20 Jahre ausgeweitet werden. Im Scha- auch in dieser Richtung maßgeblich; dafür herzlichen densfall sollen z. B. der Architekt, der Ingenieur, der Dank. Bauhandwerker oder der Arzt verpflichtet werden, ihr Nichtverschulden nachzuweisen, und das bei einem Ähnlich wie den Heilberufen geht es den Architek- erheblich ausgeweiteten ten und dem gesamten Spektrum der freien techni- Schadensbegriff. schen Berufe. In den freien rechts- und wirtschaftsbe- Jeder, der nur einen Funken Sachverstand hat, ratenden Berufen wird in den neuen Bundesländern weiß, daß z. B. herstellungsbedingte Mängel am Bau gänzlich Neuland betreten. Der Bedarf ist immens, die zu 90 % bereits nach drei Jahren bekannt sind und daß Nachfrage ist riesig. Die Unternehmensberater, nach 20 Jahren kein Mensch mehr zwischen den her- Rechtsanwälte und Steuerberater sind noch nicht an- stellungs-, nutzungs-, erhaltungs- oder umweltbe - nähernd in der nötigen Zahl vorhanden. Dank und dingten Schäden unterscheiden kann. Oder ein ande- Anerkennung verdienen hier jene Freiberufler, die als res Beispiel: Eine gesundheitliche Beeinträchtigung „elder statesmen" in den neuen Bundesländern eine könnte ohne weiteres mit einer viele Jahre zurücklie- ganze Menge an Fort- und Weiterbildung machen. genden ärztlichen Maßnahme in Zusammenhang ge- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3773

Hansjürgen Doss bracht werden. Der Unschuldsbeweis ist dann prak- ministerium außerstande sah, das Auslaufen des Ei- tisch unmöglich, und der Erbringer der Dienstleistung genkapitalhilfeprogramms zu verhindern, ist auf jeden Fall der Dumme. (Dr. Uwe Jens [SPD]: Das paßt ja gar nicht zu Die Dummen sind bei diesem unsinnigen Vorschlag der Eingangsbemerkung! Sie widersprechen aber auch die Verbraucher, die eigentlich davon pro- sich ja!) fitieren sollen. Die Verbraucher müssen nämlich als das auch freiberuflichen Existenzen in der schwieri- Bauherren, Haus- oder Wohnungseigentümer und als gen Phase der Gründung und Etablierung am Markt Mieter die Zeche zahlen, wenn die Versicherungs- erhebliche Hilfestellung leistete. prämien ins Unermeßliche steigen und über den Bau- preis an die Auftraggeber weitergegeben werden. (Zustimmung bei der CDU/CSU — Zuruf des Fachleute prophezeien eine Verteuerung des Bauens Abg. Albert Pfuhl [SPD]) um rund 30 % mit entsprechend katastrophalen Fol- —Da ich keinen Gegenfinanzierungsvorschlag hatte, gen für den Wohnungsbau und die Mietpreisentwick- verehrter Herr Pfuhl, habe ich mich der Stimme ent- lung. Diesem Erzeugnis der EG-Bürokratie muß unser halten. entschiedener Widerstand entgegengesetzt werden. (Albert Pfuhl [SPD]: Sie tacuisses!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Das ist mein Bekenntnis; ich weiß das. Sie würden das sicher alles viel besser machen. Ich hoffe hier auf die Unterstützung aller Fraktio- nen. (Zuruf von der SPD: Das sowieso!) Die Freiberufler in der Bundesrepublik Deutschland Das Einsparvolumen von 150 Millionen DM, das bei haben die im dritten Kapitel formulierten Grundsätze einer Streichung des Programms jetzt anfällt, steht in einer Politik für die freien Berufe mit Befriedigung zur keinem Verhältnis zu den negativen Folgewirkungen. Kenntnis genommen, wenngleich man sich bei den Mit jeder Neugründung war im Schnitt die Schaffung Ausführungen zur Privatisierungspolitik auch kon- von drei Arbeitsplätzen verbunden. Diese Arbeits- krete Angaben zur Übertragung öffentlicher Dienst- plätze werden dann nicht geschaffen, wenn die Grün- leistungen auf freie Berufe gewünscht hätte, Herr dung infolge Eigenkapitalmangels unterbleibt oder Staatssekretär. wenn zur Existenzsicherung notwendige Investitio- nen nicht vorgenommen werden können. Im Baubereich etwa sollte sich der Staat grundsätz- lich auf die Bauherrnfunktion beschränken und alles Der Kollege Möllemann, Herr Staatssekretär, hätte andere den Freiberuflern übertragen, die Steuern in dieser Frage auf seinen und Ihren Parteifreund Rai- zahlen und Arbeitsplätze schaffen. Auch wenn die ner Brüderle hören sollen, der das Fortführen dieses Schwerpunkte der Privatisierungsmöglichkeiten bei Programms empfohlen hatte. den Ländern und Gemeinden liegen, hat der Bund (Albert Pfuhl [SPD]: Er ist ja auch in einer hier eine Vorbildfunktion. sozialliberalen Koalition!) Im Grunde stehen daher alle nicht hoheitlichen — Ich hoffe, daß er dabei nicht Schaden nimmt. Dienstleistungen, die heute noch in öffentlicher Regie erbracht werden, zur Disposition. Wenn es für eine (Dr. Uwe Jens [SPD]: Bei uns nicht! — Albert staatliche Dienstleistung keine hoheitliche Begrün- Pfuhl [SPD]: Bei euch vielleicht!) dung und keine ordnungspolitisch vertretbare Recht- Ich kenne ihn persönlich und schätze ihn. fertigung gibt, muß sie privatisiert werden. Hier er- warten wir vom Bundeswirtschaftsminister ein ver- Wir haben auch bei intensiver Beratung im Einzel- stärktes Engagement, um das im Bericht vorgenom- plan 09 keine alternativen Einsparmöglichkeiten ge- mene Bekenntnis zur Privatisierung in konkrete Pro- sehen. Das ist der Grund, warum es am Ende nicht jekte fließen zu lassen. ging. Abweichend von der vorliegenden Unterrichtung (Günter Rixe [SPD]: Das kann doch wirklich sehen die Freiberufler dringenden Handlungsbedarf nicht wahr sein!) in der Steuerpolitik. Zu Recht heißt es in dem Bericht, — Sie müßten von der Sache schon etwas verstehen, daß die Erhöhung des Vorwegabzugs für Vorsorge- bevor Sie sich so äußern. aufwendungen der Selbständigen für Alter, Krankheit und Existenzsicherung auf 4 000 DM eine Verbesse- Höchst problematisch wäre die generelle Aufhe- rung darstellt. Eine wirksame Erhöhung des Vorweg- bung der Steuerfreiheit von Erträgen aus Kapital- abzugs auf 8 000 DM für Ledige und 16 000 DM für lebensversicherungen. Subventionsabbau ist sicher Verheiratete würde die Benachteiligung beseitigen richtig und notwendig. Wenn dabei aber ein wichtiges und den Freiberuflern und allen anderen Selbständi- Instrument zur Finanzierung von Investitionen abge- gen die persönliche Absicherung erleichtern. würgt wird, ist darüber zumindest noch einmal nach- zudenken. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es macht durchaus Sinn, den Gewinn aus einer zum Der Bundesfinanzminister hat in dankenswerter Zweck der Kapitalvermehrung abgeschlossenen Le- Weise erkennen lassen, daß er die Belange des selb- bensversicherung zu besteuern. Durch die steuerliche ständigen Mittelstands in den aktuellen steuerpoliti- Absetzbarkeit der Prämien besteht hier ja eine dop- schen Vorhaben angemessen berücksichtigen wird. pelte Begünstigung, für die es keine Begründung gibt. In diesem Zusammenhang halten wir es für außeror- Sinnvoll ist aber die Begünstigung, wenn die Lebens- dentlich bedauerlich, daß sich das Bundeswirtschafts- versicherung als Finanzierungshilfe im selbstgenutz- 3774 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Hansjürgen Doss ten Wohnungsbau, im Mietwohnungsbau sowie für Der freie Beruf braucht, meine sehr verehrten Da- Existenzgründungen und Investitionen genutzt men und Herren, weder Schutzzäune noch Privile- wird. gien. Er braucht vergleichbare Wettbewerbsbedin- gungen. Dann wird er die Herausforderungen der Zu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kunft bestehen. Nach dem Eigenkapitalhilfeprogramm würden wir Ich bedanke mich sehr für die Aufmerksamkeit. den kapitalschwachen jungen Betrieben, den Freibe- ruflern, die gerade von der Uni kommen und sich ein (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Atelier, eine Kanzlei oder eine Praxis einrichten und einen Kundenstamm aufbauen müssen, eine zweite Überbrückungshilfe wegnehmen. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat Die Folgeschäden für die Unternehmensstruktur, der Kollege Josef Grünbeck das Wort. den Wettbewerb und den Arbeitsmarkt stehen in kei- nem Verhältnis zum Einspareffekt. Während die gro- ßen Blöcke der Erhaltungssubventionen als heilige Josef Grünbeck (FDP): Frau Präsidentin! Meine Kühe auf Dauer Schonzeit haben, würden wir eine sehr verehrten Damen und Herren! Wer die Debatte reine Investitionshilfe, die sich in absehbarer Zeit be- um die Eigenkapitalhilfe und die existenzgründungs- zahlt macht, zum Abschuß freigeben. begleitenden Maßnahmen im Wirtschaftsausschuß (Beifall bei der CDU/CSU) und in der heutigen Plenarsitzung verfolgt hat, der meint eigentlich, es müßte mit den Existenzgründun- Gerade in Zeiten eines hohen Zinsniveaus brau- gen alles zu Ende sein. Ich darf Sie trösten: Das Stati- chen die jungen Unternehmer diese Finanzierungshil- stische Bundesamt hat ausgewiesen, daß noch nie- fen, weil eine Investition ohne Eigenkapital bei 15 % mals so viele Existenzen gegründet wurden wie im Kreditzinsen schlicht und einfach nicht finanzierbar ersten Halbjahr 1991. Der Existenzgründer braucht ist. Vertrauen in eine Regierung. Die Zahlen beweisen, Wenn der Be richt der Bundesregierung dazu rät, daß die Existenzgründer Vertrauen in diese Regie- mit steuerpolitischen Maßnahmen die Investitions- rung haben. Dafür danken wir dieser Regierung. tätigkeit anzuregen, kann damit nicht gemeint sein, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) daß Investitionshilfen in Form von Steuervergünsti- Meine sehr verehrten Damen und Herren, die gungen für den Mittelstand und die freien Berufe ab- „Freien Berufe" werden bei uns großgeschrieben — gebaut werden. Das Bundesfinanzministerium hat im wörtlichen und im übertragenen Sinn. Das zeigt auch die Bereitschaft signalisiert, die bisherigen Kom- dieser Be richt der Bundesregierung. Der Be richt gibt ponenten des Steuerreformpakets einer neuerlichen einen guten Überblick über die wichtige Rolle und die Prüfung zu unterziehen. große Verantwortung der freien Berufe in unserer Die freien Berufe sind heute Arbeitsplatz für rund Wirtschaft und Gesellschaft. Er zeigt die Vielzahl von 1,5 Millionen Menschen. Die Zahl wird in den näch- Bereichen, in denen die freien Berufe Dienstleistun- sten zehn Jahren auf über 2 Millionen steigen. Die gen erbringen. Er macht aber auch einige strukturelle Expansion des Dienstleistungssektors und die Erwei- Besonderheiten deutlich, auf die ich hier einmal hin- terung des Betätigungsfeldes durch die Verwirkli- weisen will. chung des europäischen Binnenmarkts sind für die Freiberufler gehen nicht mit 60 Jahren auf das Al- freien Berufe Herausforderung und Chance zu- tenteil. Sie sind oft bis weit über das 70. Lebensjahr gleich. hinaus tätig. Sie haben die längste Tagesarbeitszeit. Die freien Berufe haben mit Zustimmung zur Kennt- Sie kennen auch keine 35-Stunden-Woche. Sie arbei- nis genommen, daß sich die Bundesregierung im Prin- ten und übernehmen ihre Verantwortung. zip für die Beibehaltung der verschiedenen Honorar- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) und Gebührenordnungen der freien Berufe aus- spricht. Auch unter den Bedingungen des gemeinsa- — Ja, da darf man applaudieren. men europäischen Markts haben die Honorar- und Bemerkenswert ist auch, daß immer mehr qualifi- Gebührenordnungen Berechtigung und Zukunft: Der zierte Frauen in den freien Berufen tätig sind. Preiswettbewerb für Freiberufler wird verhindert; für (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der Patienten, Klienten, Mandanten oder Bauherren blei- SPD) ben Transparenz und Berechenbarkeit erhalten. In einigen Berufen liegt der Frauenanteil ganz erheb- Der Wettbewerb der Anbieter freiberuflicher lich über dem Durchschnitt. Freiberufler werden aber Dienstleistungen ist demnach ein Qualitäts- und Lei- auch als Arbeitgeber immer wichtiger. Bei ihnen liegt stungswettbewerb, was nicht zuletzt dazu geführt hat, der Anteil der weiblichen Arbeitgeber höher als in daß der Dienstleistungssektor in der Bundesrepublik allen anderen Wirtschaftsbereichen. Deutschland durchweg auf hohem Niveau arbeitet. Das wird auch der Verbraucher in Europa honorieren. Schon bei der Debatte des ersten Berichtes über die Billigstangebote von medizinischen, juristischen oder freien Berufe, 1980, hat der Bundestag auf die Proble- sonstigen freiberuflichen Dienstleistungen wird sich matik der steuerlichen Gleichbehandlung der Vorsor- niemand leisten können und wollen. Sie wären in der geaufwendungen von Selbständigen und Arbeitneh- Konsequenz auch viel zu teuer. Die freien Berufe soll- mern hingewiesen. ten in dieser Hinsicht mit etwas mehr Gelassenheit in (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: den europäischen Wettbewerb gehen. Dazu schweigt die SPD!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3775

Josef Grünbeck Es ist eine alte Forderung der Liberalen, die steuerli- Die Steuerpolitik ist die eine wichtige Seite. Ein che Berücksichtigung der Vorsorgeaufwendungen zweiter wichtiger Punkt ist, die Tätigkeitsfelder zu öff- der Selbständigen zu verbessern. nen, nicht nur zu erhalten. Viele Aufgaben hat bisher der Staat an sich gezogen. Wir halten es für zwingend (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) erforderlich, öffentliche Dienstleistungen in sehr viel Wir sind dem Finanzausschuß des Deutschen Bun- größerem Maße als bisher auf Freiberufler zu verla- destages dafür dankbar, daß er jetzt einen gemeinsa- gern. Planungsleistungen und vieles andere sind men Antrag an die Bundesregierung gerichtet und — das wurde heute schon erwähnt — notwendiger- einen Bericht angefordert hat, der Klarheit darüber weise auf die privaten Hände zu übertragen. schaffen soll, wie sich die Vorsorgeaufwendungen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) von Arbeitnehmern einerseits und von Selbständigen andererseits entwickelt haben und wie es um die steu- Die Bundesregierung hat recht, wenn sie erklärt, die erliche Absetzbarkeit dieser Aufwendungen steht. öffentliche Hand solle im Dienstleistungsbereich von der widerlegbaren Vermutung ausgehen, daß Dienst- Meine Damen und Herren, wenn einer für sich leistungen von selbständigen Gewerbetreibenden selbst, für seine alten Tage sorgt, dann sollte er min- und freien Berufen effizienter erbracht werden und destens in die Lage versetzt werden, daß seine Auf- schon aus ordnungspolitischen Gründen von ihnen wendungen dafür steuerlich geltend gemacht werden erbracht werden sollten. können. Meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist die (Dr. Uwe Jens [SPD]: Da hinten sitzt die Re Privatisierung mit der umgekehrten Beweislast. Prü- -gierung!) fen wir doch erst einmal, ob eine Leistung durch Pri — Wir nehmen diese Regierung und die freien Berufe -vate nicht besser, günstiger und effizienter erbracht ausdrücklich in Schutz, weil die Finanzierbarkeit bei werden kann, und vergeben wir sie dann erst an die Ihnen keine Rolle spielt, aber bei uns eine entschei- staatlichen Stellen. Das ist für die neuen Bundeslän- dende Bedeutung hat. Das hat der Kollege Doss schon der von großer Bedeutung. erwähnt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — (Widerspruch bei der SPD — Dr. Uwe Jens Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Da ist [SPD]: Haben Sie eben nicht die Rede von der Städtetag wenig nützlich!) Herrn Pfuhl gehört?) Es wurde der Beginn des europäischen Binnen- Wichtigstes Element unserer Politik — darauf markts angesprochen. Wir liegen da bei der steuer- komme ich jetzt — ist das beharrliche Bemühen, die lichen Belastung an der Spitze der Bewegung. Ich steuerliche Belastung der Wirtschaft und damit auch warne davor, dies zu bagatellisieren. Wir haben die der Freiberufler nicht nur in Grenzen zu halten, son- höchste Qualifikation — das ist unser Plus — , aber wir dern zu senken. Das ist eine Zielrichtung der bisheri- haben auch die höchsten steuerlichen Belastungen, gen Steuerreform gewesen. Manches ist in den letzten die höchsten Lohnnebenkosten und die niedrigsten Jahren schon erreicht worden. Der Bericht, über den Arbeitszeiten. wir hier debattieren, weist auch darauf hin. Wir wer- (Zuruf von der SPD: Und das a lles möchtet den hartnäckig auf eine Unternehmensteuerreform ihr ändern?) drängen, in die die Belange der freien Berufe inte- griert sind. Wenn man das als Eröffnungsbilanz in den europäi- schen Binnenmarkt einbringt, dann wird man sich in Hier liegt allerdings die SPD auf einer ganz anderen dem dort entstehenden Leistungswettbewerb Welle. Es war ungeheuer interessant, Herr Pfuhl, was schwertun. Sie hier vorgetragen haben, nämlich daß die Gewer- besteuer auf die mittelständische Wirtschaft über- Es wird nirgendwo so deutlich wie in den neuen haupt keinen Einfluß hat. Bundesländern, daß die freien Berufe als Bindeglied zwischen Wirtschaft, Staat und Gesellschaft unver- (Widerspruch bei der SPD — Zurufe von der zichtbar sind. Dort waren die freien Berufe im Ge- SPD: Er hat nicht von der Gewerbesteuer sundheitswesen, in der Bauverwaltung und in vielen gesprochen! — Von der Gewerbekapital- anderen Bereichen fast völlig zerschlagen worden. steuer!) Die Aufbauleistung in den neuen Bundesländern — Ja, warum wollen Sie sie denn dann auch für die kann nur gelingen, wenn selbständige Planungen und freien Berufe einführen? Sie widersprechen sich doch Beratungen und die Hilfe der freien Berufe gewährlei- selbst, indem Sie die Gewerbesteuer für die freien stet sind. Berufe wieder einführen. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich eines vortragen: Die freien Berufe haben ein Maß an Eigen- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Sehr verantwortung übernommen, das mich hinsichtlich richtig!) dessen, was in den letzten Monaten geschehen ist, nachdenklich gemacht hat. Die kommunistische Phi- Wir wollen die Gewerbesteuer für die freien Berufe losophie ist zusammengebrochen, die marxistische überhaupt nicht zur Diskussion stellen; denn Freibe- Ideologie auch und die sozialistische Praxis ebenfalls. rufler sind keine Gewerbetreibenden im Sinne des Also müßte man bei uns jetzt eigentlich mehr als je Gesetzes. Deshalb hat die Gewerbesteuer dort gar zuvor darüber nachdenken, was es mit der sogenann- nichts zu suchen. ten kollektiven Verantwortung auf sich hat. Die kol- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) lektive Verantwortung ist zusammengebrochen. Wir 3776 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Josef Grünbeck brauchen jetzt die individuelle Verantwortung des Lassen Sie mich aber noch einen Augenblick dar- einzelnen für die Gemeinschaft, und die ist nirgends über nachdenken, welch hohe Verantwortung die so stark wie bei den freien Berufen. freien Berufe in unserer Gesellschaft übernehmen. Ich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) erinnere — es ist soeben angesprochen worden — etwa an die hohe Verantwortung der Ärzte in unserem Über diese für die Zukunft wichtige Frage haben wir Gesundheitswesen, an die hohe Verantwortung unse- zu entscheiden. rer Architekten und Ingenieure für eine menschenge- Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ab- rechte bauliche Umwelt, wobei nicht die Höhe der schließend noch einen Satz sagen: Der Be richt über Honorare, sondern die gesellschaftliche Gesamtver- die Lage der freien Berufe gibt Anlaß, ein klares Ja zu antwortung dieser Berufsgruppen im Vordergrund den freien Berufen zu sagen und ihnen für ihre groß- stehen sollte. Ich erinnere weiter an die Verantwor- artigen Leistungen zu danken. Wir Liberalen verbin- tung der Rechtsanwälte, der Steuerberater, der Han- den damit die Hoffnung, daß die freien Berufe in Ge- delsvertreter sowie an die ungeheure Verantwortung samtdeutschland, im europäischen Binnenmarkt und freiberuflich tätiger Journalisten, die ich als sehr hoch auch im östlichen Europa zum Nutzen aller ihren gro- einschätze; sie kann angesichts der aktuellen Ereig- ßen Sachverstand, ihre intelligente Phantasie und ihre nisse in Europa übermenschliches Engagement erfor- Verantwortung einbringen. Dafür danken wir ihnen dern. Ohne die Journalisten wären Gorbatschows im voraus. Perestroika und nicht möglich geworden, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) und ohne Journalisten wäre der grenzenlose kultu- relle Austausch vor allem im westlichen Europa gar nicht erst möglich gewesen.

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächstes hat Oder denken wir an die Schriftsteller, an die Kom- der Kollege Hans Georg Wagner das Wort. ponisten, an die Künstler: Es ist für uns selbstver- ständlich, daß wir der Musik des Polen Chopin oder der Musik der Brüder Strauß aus Österreich, daß wir der Musik Vivaldis, Mozarts und vieler anderer lau- (SPD): Frau Präsidentin! Hans Georg Wagner schen und uns daran erfreuen. Ich denke an Salvador Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst Dali, den großen Maler, oder an den Schriftsteller einmal möchte ich Herrn Staatssekretär Beckmann Heinrich Böll. Ich erinnere auch daran — damit will und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sehr ich diesen Teil abschließen — , welch ungeheuren kul- herzlich für diesen Be richt danken. Ich meine aller- turellen Geist Ludwig van Beethoven aus dieser Stadt dings, daß es notwendig wäre, daß wir allesamt ein- heraus in die Welt hineingebracht hat. mal darüber nachdenken, wie es bei solchen Berich- ten eigentlich mit der ökonomischen Erfolgskontrolle Das alles sind freiberuflich Tätige gewesen. Das aussieht. Denn es ist mittlerweile eingerissen — nicht sollte auch einmal angesprochen werden. Es sollte nur hier im Bund, sondern auch bei den Ländern —, nicht immer nur von Architekten, Ingenieuren oder daß bei Vorlage des Berichtes die Abteilung bereits Handwerkern gesprochen werden, sondern es sollte wieder beginnt, den nächsten zu schreiben, so daß für auch von denen die Rede sein, die einen großen Teil die eigentliche Arbeit gar keine Zeit bleibt. Das der freien Berufe ausmachen und die große Dinge für schlägt sich wiederum in der Qualität der Berichte das kulturelle Europa geleistet haben. nieder. (Beifall bei der SPD sowie der PDS/Linke Ich meine also, daß es den freien Berufen und dem Liste) selbständigen Mittelstand sicherlich dienlicher wäre, Gerade die freien Berufe haben nie Nationalitäten wenn wir uns hier über konkrete Hilfsmaßnahmen als gehuldigt, sondern sie haben uns in Europa eine ganz Hilfe zur Selbsthilfe auseinandersetzen würden, statt große europäische Identität verschafft, die im wirt- über Berichte und das Schreibenlassen von Berichten schaftlichen Bereich leider erst 1993 zu einem ge- zu diskutieren. — Das vielleicht einmal als Anregung meinsamen Markt führen wird. Gerade die grenz- an uns alle, nicht nur an die jetzige Bundesregierung überschreitenden kulturellen Ereignisse machen die gerichtet. Ich jedenfalls meine, daß das wohl besser Lächerlichkeit der nationalen Ausländerfeindlichkeit wäre. der letzten Wochen auch bei uns erst recht deutlich. Es (Zustimmung bei der SPD) bekümmert mich persönlich, daß beispielsweise Gali- Es ist keineswegs so, daß alles, was im Be richt steht, lei, daß Chopin, daß Leonardo da Vinci, daß Cicero, ja von uns politisch gebilligt wird. Nein, wir sind der daß letztlich auch der Zimmermann Jesus Ch ristus bei Auffassung, daß es in vielen Bereichen hätte besser uns keinen Raum in der Herberge hätte behalten dür- gemacht werden können und daß vieles besser wer- fen. Hier liegt eine große Herausforderung, der sich den könnte, wenn bestimmte Vorstellungen, die ent- vor allem die freien Berufe zu stellen haben: diese wickelt worden sind — auch von Albert Pfuhl und von europäische Dimension des Denkens wiederherzu- stellen und daran zu erinnern, daß alle hier in mir jetzt — , entsprechend berücksichtigt würden. Deutschland mitverantwortlich sind für die Entwick- Ich meine, daß es hilfreich wäre, wenn sich Regie- lung des Verhältnisses zu den ausländischen Mitbür- rung und Opposition darüber verständigen könnten, gerinnen und Mitbürgern. daß nicht ständige Berichte, sondern ein dauernder offener Informationsfluß und -austausch beiden eine (Beifall bei der SPD) Menge Arbeit ersparen und beiden auch mehr Zeit Vor diesem Hintergrund muß man die künftigen zum Nachdenken und zu zukunftsträchtiger Informa- europäischen und auch deutschen Entwicklungen tion geben könnte. einordnen. Europa war immer — und das wird es auch Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3777

Hans Georg Wagner wieder werden — ein Tummelplatz vor allem für freie Wettbewerb werden auch sie künftig dem europäi- Berufe. Ich appelliere deshalb an die Betroffenen: schen Wettbewerb unterworfen sein, und zwar Seien Sie sich Ihrer hohen Verantwortung für das schneller, als das den Wessis lieb und den Ossis recht künftige Europa und für das menschliche Zusammen- sein kann. sein darin bewußt! Etwas zu der Chance der freien Berufe in den neuen Nun zum Bericht. Mit der heutigen Debatte — es ist Bundesländern — beispielhaft ist vorhin schon einmal schon gesagt worden — wird die Debatte vom das Vermessungs- und Katasterwesen genannt wor- 13. September 1990 fortgesetzt. Damals hieß die den; ich möchte das jetzt nicht wiederholen — : Wir Überschrift: „Die Lage der Freien Berufe im Zuge der sind uns offenbar völlig einig darüber, daß es ange- Schaffung des europäischen Binnenmarktes". — Das sichts der Situation in den neuen Bundesländern zur war notwendig. Vieles von dem, was damals gesagt Zeit nicht darum gehen kann, neue Bürokratien sehr worden ist, könnte man heute nahtlos wiederholen, schnell aufzubauen. Vielmehr müssen Kataster herge- aber das würde nur zu einer Verlängerung der De- stellt werden, damit die Eigentumsverhältnisse ge- batte beitragen. klärt sind und Investitionen entsprechend durchge- führt werden können. Ich meine, es ist wichtig, Europa in die Betrachtung einzubeziehen, denn erstens dürfen unsere bundes- (Beifall bei der SPD) deutschen Probleme und die Dringlichkeit ihrer Lö- Dies kann nur über die freien Berufe geschehen. sung nicht zu Verzögerungen in der europäischen Entwicklung führen. Die Einbeziehung Europas ist Das gilt für andere Bereiche genauso. Ich denke an zweitens aber auch deshalb geboten, weil unsere verstärkte städtebauliche Gestaltungsmöglichkeiten, deutschen Lösungsmöglichkeiten in die europäische wo Architekten, Landschaftsplaner, Städtebauer — Entscheidungsfindung eingebracht werden müssen, fußend auf unseren Erkenntnissen der letzten Jahre, und drittens, weil Europa eine Chance für freie Berufe daß man statt der früheren autogerechten Stadt nun- werden wird, sofern keine anderen Regelungen ge- mehr wieder eine menschengerechte Stadt zu entwik- troffen werden als die, die wir national in mühevoller keln hat — bereits sehr schnell dazu beitragen kön- Kleinarbeit ausgehandelt haben. nen, daß sich die Fehler des westlichen Teils Deutsch- lands nicht im östlichen Teil wiederholen werden. Es ist bereits gesagt worden, wie hoch der Anteil der Freiberufler an der Gesamtzahl der Selbständigen ist; (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Angela ich möchte die Zahlen nicht wiederholen. Ich möchte Stachowa [PDS/Linke Liste]) zitieren, nur einmal das Bundesverfassungsgericht Ich begrüße in diesem Zusammenhang ausdrück- das zum freien Beruf folgendes gesagt hat — ich zi- lich die Forderung des Bundes Deutscher Baumeister, tiere — : „Das Berufsbild des freiberuflich Tätigen ist Architekten und Ingenieure, des BDB, des größten im wesentlichen geprägt durch den unternehmeri- bauschaffenden Verbandes Deutschlands, von vor schen Zug, der auf Selbstverantwortung, individuelle wenigen Tagen, wonach die künftige städtebauliche Unabhängigkeit und eigenes wirtschaftliches Risiko Entwicklung der Bundeshauptstadt Berlin einem in- gegründet ist. " — Das, so finde ich, umschreibt sehr ternationalen städtebaulichen Gestaltungswettbe- gut den freien Beruf. werb unterworfen werden sollte. Dies reduzierte zum Im Hinblick auf den künftigen europäischen Bin- ersten das Mißtrauen im Ausland und wäre Ausdruck nenmarkt muß man sich verdeutlichen, wie hoch das einer Internationalität, die uns nur guttun kann. Inter- Potential der Betroffenen einschließlich der kleinen nationale Kreativität und Innovation könnten zu ei- und mittleren Betriebe in Europa ist. Mehr als 95 To nem echten deutschen Merkmal werden. aller Unternehmen in Europa sind kleine und mittlere Selbstverständlich müssen die deutschen Freiberuf- Betriebe. 60% aller Erwerbstätigen arbeiten in Unter- ler — natürlich mit spezifischer beruflicher Ausbil- nehmen mit weniger als 500 Beschäftigten; mehr als dung — dem europäischen Wettbewerb unterworfen zwei Drittel aller Auszubildenden werden in Europa sein, und dies nicht nur in Europa, sondern mittler- in mittelständischen Unternehmen ausgebildet. weile auf dem weltweiten Markt. Denn ich bin sicher, Es gibt Schätzungen, daß über 50 To der Investitio- daß es im internationalen Wettbewerb in zunehmen- nen, über 50 To der Umsätze und über 40 % des Sozi- dem Maße zu einer erheblichen Verschärfung kom- alprodukts in kleinen und mittleren Betrieben erwirt- men wird. Dem gilt es, auch aus verbraucherpoliti- schaftet werden. schen Gründen, erhebliche Aufmerksamkeit zu schenken. Ich füge zusammen: Mittelstand und freie Berufe sind daher — das sollte diesen Teil der Volkswirt- Wenn z. B. für deutsche Architekten und Inge- schaften Europas mit Stolz erfüllen — Europas Wirt- nieure keine Werbung zugelassen wird und durch schafts- und Sozialfaktor Nummer eins. Deshalb ist es Kammergesetze bundesweit ausdrücklich verboten Aufgabe der deutschen Politik, möglichst schnell freie ist, dann muß sichergestellt werden, daß ihnen in Eu- Berufe sowie kleine und mittlere Unternehmen aus ropa keine Wettbewerbsnachteile entstehen. dem Stand heraus für das Europa 1993 fit zu machen. Die zwischen Bund und Ländern und den Betroffe- Dazu gehören insbesondere intensive Aufklärung der nen ausgehandelten Honorarordnungen dürfen kei- Betroffenen und Hilfe zur Selbsthilfe. neswegs unterlaufen werden. Dies kann andererseits Laut des Instituts für Mittelstandsforschung in Bonn nicht bedeuten, daß kein Wettbewerb stattfindet. Dies ist in den neuen Bundesländern, bezogen auf die darf nur kein finanzieller oder möglicherweise ruinö- Quote in den alten Bundesländern, mit etwa 100 000 ser Wettbewerb sein, sondern muß ein Wettbewerb Freiberuflern zu rechnen. Neben dem nationalen der besseren Ideen sein. Ich fände es faszinierend, 3778 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Hans Georg Wagner wenn ein Leipziger Architekt einen europaweit aus- sein werden. Deshalb sollte man überlegen, ob man es geschriebenen Architektenwettbewerb in Lyon ge- nicht gänzlich ablehnen sollte. winnen könnte und andererseits beispielsweise ein Das große Problem, das zunächst nur indirekt mit Architekt aus Barcelona einen städtebaulichen Wett- den Freiberuflern zu tun hat, ist die Frage der Ausbil- bewerb in Cottbus siegreich für sich entscheiden dungsstandards. Dies gilt sowohl im freiberuflichen würde oder wenn ein Bauingenieur aus Hamburg Sie- als auch im handwerklichen Bereich, wo auch die ger eines europaweiten Wettbewerbs bei einem Brük- gegenseitige Anerkennung der Ausbildung europa- kenbauwerk in Italien werden könnte. weit nicht zu vernachlässigen ist. Die anwendungs- Wir Sozialdemokraten haben 1925 in Heidelberg orientierten forschenden deutschen Fachhochschulen die Vereinigten Staaten von Europa gefordert. In die- dürfen ebensowenig diskriminiert werden wie die ser Verpflichtung stehen wir auch noch heute, und wir Handwerksordnungen. Ich bin zwar keineswegs ein sind stolz, daß wir diese Erkenntnisse bereits 1925 hat- Anhänger des Ständewesens, eher im Gegenteil, aber ten. ich finde es absurd, daß z. B. 1993 ein belgischer F ri -seurgeselle ohne jegliche Prüfung bei uns ein Friseur- (Beifall bei der SPD) geschäft aufmachen darf, nicht aber eine bei uns aus- Die Realisierung steht jetzt bevor. Der Herausforde- gebildete hochqualifizierte Friseurgehilfin. Das sind rung müssen sich auch unsere Freiberufler stellen. Widersprüchlichkeiten, die geklärt werden müssen. Und sie sollten sich, nein, wir alle sollten uns an das Europa darf nicht nur zu einem Wirtschaftsunterneh- europäische kulturelle Erbe erinnern. Es waren immer men werden, sondern es braucht die soziale Sicher- freie Berufe, die zu seinen tragenden Säulen gehör- heit. Dazu gehören die freien Berufe genauso wie die ten. Arbeitnehmer. Meine Damen und Herren, zweifellos ist es ein Pro- Ein interessanter Nebeneffekt des vorliegenden Be- blem, daß dem, wie es heißt, Aufnahmestaat geboten richtes sind die Aussagen über den Frauenanteil in ist, auch für Inländer unterschiedslos geltende Vor- den freien Berufen. Ihr Anteil, wurde gesagt, steigt schriften nur insoweit auf die EG-Anbieter anzuwen- gleichmäßig an, was wohl auch damit zusammen- den, als dies aus Gründen des Allgemeininteresses hängt, daß Gott sei Dank immer mehr Frauen eine gerechtfertigt ist — ein sehr schwerwiegender Satz, hochqualifizierte Ausbildung anstreben und die der auch schwer zu verstehen ist. Deshalb fordern wir Chancen eines freien Berufes wahrnehmen, weil eine die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, daß diese eigenverantwortliche selbständige Tätigkeit mit fle- Festlegung nicht einseitig bleibt, d. h. daß nur wir xibler Arbeitszeit, Teilzeittätigkeit oder Phasener- Bundesdeutsche uns an diese Regelung halten, son- werbstätigkeit von hohem Interesse ist. Trotzdem sind dern daß sie in allen Teilen der Europäischen Gemein- die Frauen etwa bei den rechts-, wirtschafts- und steu- schaft gleichermaßen gilt. erberatenden sowie den technischen und naturwis- senschaftlichen freien Berufen noch selten anzutref- Dies gilt auch für die geplante Haftungsrichtlinie fen. Hier sehe ich in der Bundesrepublik Deutschland für fehlerhafte Dienstleistungen. Davon war schon noch einen hohen Nachholbedarf. Eine Aufklärung mehrfach die Rede. Wir haben bisher in der Bundes- durch die Verbände der freien Berufe über Chancen republik Deutschland eine im allgemeinen funktio- und Möglichkeiten in den genannten Bereichen, ins- nierende Haftungsregelung, die nicht ausgedehnt besondere für Frauen, scheint dringend geboten und werden dürfte. Aber auch vor dem Hintergrund des darf dort an der mehrheitlichen Dominanz der Männer erwünschten und auszubauenden Verbraucherschut- nicht scheitern. zes ist hier eine inhaltlich zu vertretende Neuregelung Meine Damen und Herren, die SPD war von Ferdi- zu finden. nand Lassalle über Friedrich Ebert bis hin zu Hans- (Josef Grünbeck [FDP]: Auch für die Staats- Jochen Vogel immer auch eine Partei der Selbständi- haftung!) gen. Auf dem Bremer Parteitag hat unser Bundesvor- sitzender Björn Engholm folgendes zu Recht gesagt — Natürlich, bei allen Dingen soll man eine vernünf- — ich zitiere — : tige Regelung finden, Herr Kollege Grünbeck. Also ist meine Bitte: Laßt uns den Versuch unter- Was die Dienstleistungsrichtlinie angeht, so wissen nehmen, mit all jenen ins Gespräch zu kommen, wir — der Herr Staatssekretär hat es angesprochen —, die selbstbewußt und selbständig arbeiten, den daß das Europäische Parlament — das ist das Bedenk- Weg zur Partei aber noch nicht gefunden haben, liche dabei — die Grenze bei der öffentlichen Ver- die Sympathie für die Ziele der deutschen Sozial- gabe heruntergesetzt hat. Wir sehen deshalb eine demokratie haben, die uns nicht in allem folgen doppelte Aufgabe: Zunächst einmal müssen wir die können oder folgen wollen, die aber bereit sind, Kommission überzeugen, dann müssen wir aber auch ihre Kraft und ihre Phantasie einzelnen Projek- das Europäische Parlament wieder dazu bringen, eine ten, die wir vorhaben, zur Verfügung zu stellen. andere Regelung — als Kompromiß meinetwegen wieder die alte Regelung — zu finden. Meine Damen und Herren, wir nehmen — abschlie- ßend — den Be richt der Bundesregierung zur Kennt- Wir wissen, daß bei der Dienstleistungshaftung das nis. Obwohl die Daten schon älter sind, sollten wir die Problem des Baubereichs und der Heilberufe besteht. Folgerungen gemeinsam erörtern und Auswege su- Dort werden wir dann über Ho rizontal- und Vertikal- chen. Die deutsche und europäische Wirklichkeit ist haftung reden. Ich bin nur sicher, daß die Richtlinien im wesentlichen den freien Berufen zu verdanken. für den Baubereich und die Heilberufe von der ur- Unsere Aufgabe ist es, dies zu reaktivieren, um ein sprünglichen Mutterrichtlinie nicht allzuweit entfernt neues, soziales und f riedvolles Europa zu schaffen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3779

Hans Georg Wagner Schönen Dank. Dieses kritische Gesamtbild wirkt sich natürlich auch auf die Attraktivität des Berufs für Auszubil- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten aus. Zwar können die freien Berufe zur Zeit mit der FDP) dende Stolz feststellen, daß sie ihren Platz als drittgrößter Ausbildungsbereich in der Bundesrepublik — nach Herr Kollege Hansgeorg Industrie und Handel sowie Handwerk — gefestigt Vizepräsident Hans Klein: haben. So heißt es im Bericht, derzeit erhalten „min- Hauser, ich erteile Ihnen das Wort. destens rund 150 000 Auszubildende in anerkannten Ausbildungsberufen" eine Berufsausbildung. Das „sind rund 9 % aller registrierten Auszubilden- Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Eine frei- den...". berufliche Tätigkeit ist einem Gesellschaftssystem, Der Bundesverband der Freien Berufe hat aber be- das die Vergesellschaftung des Menschen anstrebt, reits in seinem Jahresbericht 1989 geschrieben, daß wesensfremd." Diese Formulierung steht in dem 1985 — ich zitiere — herausgegebenen DDR-Handbuch des damaligen ... die Ausbildungszahlen nicht darüber hinweg- Bundesministeriums für Innerdeutsche Beziehungen. täuschen dürfen, daß sich in einigen freiberufli- Im Umkehrschluß können wir feststellen, daß die freie chen Bereichen — zumindest regional und in Bal- und unabhängige Berufsausübung ein wesentlicher lungsräumen — ein deutlicher Arbeitskräfteman- Bestandteil eines freiheitlichen Rechtsstaates und ei- gel abzuzeichnen beginnt. ner freien Gesellschaftsordnung ist. Die Tätigkeit in freien Berufen ist für Staat, Gesellschaft und Wirt- Diese Situation ist auch durch eine nicht zu überse- schaft von herausragender Bedeutung und stellt einen hende Abwanderungstendenz von ausgebildeten Ar- immer stärker werdenden Wirtschaftsfaktor dar. Das beitskräften in andere Wirtschaftsbereiche bedingt, eigenverantwortliche Handeln, das den freien Beru- die somit von der Ausbildungsleistung der freien Be- fen zugrundeliegt, ist auch ein herausragendes Merk- rufe profitieren. In der Sch rift der Bundessteuerbera- mal der freien und sozialen Marktwirtschaft. terkammer „Der Steuerberater auf dem Weg ins 21. Jahrhundert" heißt es: Die Bundesregierung hat mit ihrer vorgelegten Fortschreibung des Berichts über die Lage der freien Die Attraktivität der Arbeitsbedingungen und Berufe mehr oder weniger eine Neufassung, Herr Kol- auch die Karriereaussichten der Schulabgänger lege Pfuhl, des bereits zehn Jahre alten ursprüngli- werden immer mehr zu einem wichtigen Wettbe- chen Berichts erstellt, wofür auch ich meinen Dank an werbsfaktor. Sie, Herr Staatssekretär, und Ihre Mitarbeiter ausspre- Je ausgeprägter der Dienstleistungscharakter ist, um che. In diesem Be richt wird die Entwicklung der freien so schwieriger ist es, die Arbeitsbedingungen attrak- Berufe im vergangenen Jahrzehnt deutlich. Es ist an- tiv zu gestalten. Auf diese Erkenntnis werden die gesprochen worden: der Anteil der freien Berufe an freien Berufe in Zukunft immer stärker achten müs- den Selbständigen ist von knapp 13 % auf über 16 % sen. gestiegen mit anhaltender Tendenz. Die Einkom- Einen wachsenden Anteil — darüber sind wir uns mensentwicklung — da stimme ich Ihnen zu — hielt einig — in den freien Berufen stellen die Frauen dar. mit dem Zuwachs der Anzahl der Selbständigen nicht Im Bericht heißt es dazu: „Die Entwicklung zeigt eine Schritt. Nach einem kontinuierlichen Anstieg bis 1980 steigende Attraktivität der freien Berufe für Frauen." blieben die durchschnittlichen Einkünfte aus freibe- Auch das Ausbildungsplatzangebot bei den freien Be- ruflicher Tätigkeit — das sind hier die steuerlich er- rufen wird vor allem von den weiblichen Jugendli- mittelten sogenannten Katalogberufe — konstant chen genutzt. 18 % aller weiblichen Auszubildenden bzw. gingen sogar leicht zurück. hatten ihren Ausbildungsplatz im Bereich der freien Problematisch ist dabei die sich stetig verschlech- Berufe. ternde Kostenstruktur bei den meisten freien Berufen. Im Anhang zum vorgelegten Be richt befindet sich Insbesondere der stark ansteigende Personalkosten- ein Kurzgutachten zur Situation der freien Berufe in anteil hat seinen Beitrag dazu geleistet. Auch der der DDR, das im September 1990 abgeschlossen Zwang zur Modernisierung und die fortschreitende wurde. Das kann natürlich nur eine in die Vergangen- Technisierung bewirken einen immer weiter steigen- heit gerichtete Betrachtung sein, da die Bedeutung den Kapitaleinsatz. Setzt man die immer stärker an- und die Lage der freien Berufe in der ehemaligen DDR steigende zeitliche und persönliche Beanspruchung für uns aus heutiger Sicht nicht mehr interessant sind. des Selbständigen in Relation dazu, dann ergibt sich Ich hätte mir für die heutige Debatte einen Be richt der daraus insgesamt kein positives Bild. Für viele der Bundesregierung gewünscht, in dem bereits die Ent- Selbständigen und Freiberufler, die allesamt im Mit- wicklung der freien Berufe in den neuen Bundeslän- telstand angesiedelt sind, gilt in unserer zunehmen- dern dargestellt wird. Einige Passagen des Kurzgut- den Freizeitgesellschaft — ebenso wie für viele Füh- achtens sind absolut überholt, so beispielsweise die rungskräfte — der Spruch: Je weniger Arbeitszeit den auf etwas mehr als einer Seite beschriebenen sich Mitarbeitern vorgeschrieben wird, um so länger muß abzeichnenden Entwicklungstendenzen bei den der Chef arbeiten. Auf die meisten der freiberuflich freien Berufen im Rahmen des gesellschafts- und wirt- und selbständig Tätigen wirken gewerkschaftliche schaftspolitischen Wandlungsprozesses in der DDR. Forderungen, z. B. die nach der 35-Stunden-Woche, wie Hohn, weil sie für diese Gruppe persönlich nie- mals realisierbar sind. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Hauser, ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pfuhl? 3780 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) (CDU/CSU): für freie Berufe. So bekräftigt die Bundesregierung Bitte sehr. ihren Grundsatz aus dem ersten Bericht, daß — ich zitiere — „der durch die Kräfte des Marktes gesteu- Albert Pfuhl (SPD): Herr Kollege Hauser, sind nicht erte Austausch von Gütern und Dienstleistungen auch Sie mit mir einer Meinung, daß die Sicherung grundsätzlich am besten zur Bef riedigung der ge- des gewerblichen Mieterschutzes der auch für die samtwirtschaftlichen Nachfrage geeignet ist. Staatli- freien Berufe gilt, gerade im Hinblick auf die neuen che Eingriffe mit dem Ziel einer Einschränkung oder Berufsentwicklungen in den neuen Ländern von Be- Beseitigung der wettbewerblichen Steuerung müssen deutung ist und daß die Kostenexplosion, gerade in deshalb Ausnahmen bleiben und bedürfen in jedem den Städten der neuen Länder, die Ansiedlung von Fall einer besonderen Rechtfertigung". neuen Berufen sehr schwer macht? Die Bundesregierung ermuntert die Bestrebungen der freien Berufe, „sich durch mehr unternehmeri- Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) (CDU/CSU): schen Handlungsspielraum für den Wettbewerb der Herr Kollege Pfuhl, ich stimme Ihnen in diesem Punkt Zukunft zu rüsten". Folgerichtig spricht sich die Bun- sicherlich zu. Wir müssen hier eine wirklich detail- desregierung für eine verstärkte Privatisierungspoli- lierte Untersuchung durchführen. Deswegen wäre es tik aus. Seit 1979 wurden in einer Reihe von Gesetzes- wünschenswert gewesen, wenn in diesem Bericht, in und Verordnungsvorhaben Privatisierungsvorschläge dem Kurzgutachten bereits eine weiterführende Stel- in die Tat umgesetzt. Den Kernsatz der künftigen Pri- lungnahme erfolgt wäre. vatisierungspolitik sollte man in jede Amtsstube hän- gen. (Albert Pfuhl [SPD]: Danke!) Aus der geschilderten Situation der geringen Zahl (Josef Grünbeck [FDP]: Auch bei der bayeri der Freiberufler in der früheren DDR ergibt sich für schen Staatsregierung!) viele ein außerordentlich positives Zukunftsbild. Das — Auch bei der bayerischen Staatsregierung, da gebe Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hält in den ich Ihnen vollkommen recht. Ich kann das nur wieder- neuen Bundesländern eine Selbständigenquote von holen. Dieser Kernsatz lautet: „Die Bundesregierung 6.5 %, im Vergleich dazu 9 % in der alten Bundesre- ist der Auffassung, daß sich der Staat zurückhalten publik, in Bälde für erreichbar. Inzwischen dürfte sich muß, wenn er eigene wirtschaftliche Leistungen er- die Zahl der selbständigen Freiberufler — wir haben bringen will. Staatliches Handeln darf grundsätzlich das gehört — auf etwa 50 000 zubewegen. Darunter nur subsidiär sein. Die öffentliche Hand soll im Dienst- sind 12 000 Ärzte — 15 000 könnten wir brauchen, um leistungsbereich von der widerlegbaren Vermutung in den neuen Bundesländern eine kassenärztliche ausgehen, daß Dienstleistungen von Selbständigen, Versorgung nach westdeutschen Maßstäben zu ge- Gewerbetreibenden und freien Berufen effizienter er- währleisten — 6 000 Zahnärzte, 2 000 Rechtsanwälte bracht werden oder schon aus ordnungspolitischen — 14 000 könnten es nach unseren westlichen Maß-- Gründen von ihnen erbracht werden sollten." Daß stäben sein — , 2 500 wenigstens vorläufig bestellte dies eine Daueraufgabe sei, kann nur doppelt unter- Angehörige der steuerberatenden Berufe — hier strichen werden. könnte man 10 000 gebrauchen — , 300 Architekten, (Lothar Fischer [Homburg] [SPD]: Ab und zu 3 000 beratende Ingenieure und zahlreiche Unterneh- macht der auch mal etwas Richtiges!) mens- und Wirtschaftsberater, allerdings von zum Teil recht unterschiedlicher Qualität. Aus gegebenem An- Erfreulich ist auch die Feststellung, daß mit der zum laß möchte ich hier einen Appell an die Bundesregie- 1. Januar 1988 wirksam gewordenen Bundesneben- rung richten, daß man im Bereich der Unternehmens- tätigkeitsverordnung eine wesentliche Einschrän- berater nicht unbedingt den Marktführer noch mehr kung der Nebentätigkeiten von Angehörigen des öf- fördert und ihn unterstützt. fentlichen Dienstes in den Tätigkeitsbereichen der (Beifall bei der CDU/CSU) freien Berufe erreicht wurde. In diesem Zusammen- hang soll auch darauf hingewiesen werden, daß die Die Bundesregierung fördert das Selbständigwer- AB - Maßnahmen in den neuen Bundesländern nicht den und die Existenzgründungen mit zahlreichen Pro- zu Wettbewerbsverzerrungen führen dürfen. grammen und gibt Investitionszulagen in beträchtli- cher Höhe. Auch die im Steueränderungsgesetz 1991 (Beifall bei der CDU/CSU) beschlossenen steuerlichen Maßnahmen tragen ihren Ein ganz besonderes Problem stellt das Gebiet des Teil dazu bei. Haftungsrechtes für die freien Berufe dar. Erfreuli- Die Chance zum Sich-selbständig-Machen ist in cherweise ist die von der EG-Kommission vorgelegte den neuen Bundesländern außerordentlich hoch, so Dienstleistungshaftungsrichtlinie — Sie haben darauf daß es nicht verwunderlich ist, daß auch aus den alten hingewiesen, Herr Staatssekretär — im Augenblick Bundesländern, aus Bereichen, in denen eine Akade- etwas abgeschwächt worden. mikerschwemme herrscht, die Devise „Go East" kur- Die Einführung des Grundsatzes der Beweislastum- siert. Je schneller ein gesunder Mittelstand, ein aus- kehr würde bei dem Freiberufler eine außerordentli- reichender Bestand an freiberuflich Tätigen und an che Steigerung der Versicherungsaufwendungen zur attraktiven Dienstleistungsbetrieb en entsteht, um so Folge haben, sofern eine solche Haftung überhaupt schneller wird der Umstrukturierungsprozeß von der versicherbar wäre. sozialistischen Kommandowirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft gelingen. (Josef Grünbeck [FDP]: Die Rechtsanwälte Im vorgelegten Be richt der Bundesregierung finden hätten ein neues Tätigkeitsfeld!) sich einige herausragende Grundsätze einer Politik — Kein Kommentar, Herr Kollege. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3781

Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) Auch die vorgesehenen Gewährleistungsfristen „Die freien Berufe in der DDR" aus der Zeit vor der sind nicht akzeptabel. Vereinigung — diese Materialien sind, ungeachtet ih- Im Bereich des Steuerrechts sind positive und nega- rer Seriosität, zum heutigen Zeitpunkt nur sehr wenig tive Anmerkungen für den Zeitraum der Fortschrei- brauchbar. bung des Berichtes zu machen. Positiv herauszuheben Ich bin der Auffassung, der Deutsche Bundestag sind insbesondere die Auswirkungen der Steuer- sollte die Bundesregierung auffordern, diesen Be richt reform 1990. Kernstück sind dabei die Einführung des in möglichst kurzer Zeit zu aktualisieren und vor allem gradlinig progressiven Einkommensteuertarifes — der Lage der freien Berufe in den neuen Bundeslän- Stichwort: Abschaffung des „Mittelstandsbau- dern die notwendige Aufmerksamkeit widmen. ches" —, Erhöhung des Grundfreibetrages, Senkung des Eingangssatzes usw. Mit der Vereinigung ist eine neue Situation entstan- den, die vielleicht von der Statistik her noch nicht Daß die dadurch gewonnenen deutlichen Steuer- erfaßbar war, im täglichen Leben der Betroffenen aber entlastungen für die p rivate Vorsorge für Krankheit eine oft schicksalsschwere Rolle spielt. Die freien Be- und Alter verwendet werden können, wie es in dem rufe waren auch in der ehemaligen DDR nicht gänz- Bericht heißt, ist, so meine ich, der etwas schamhafte lich verschwunden, obgleich sie do rt aus einem ande- Versuch einer Rechtfertigung der immer noch zu ren Blickwinkel gesehen und auch anders behandelt niedrigen steuerlichen Berücksichtigung von Vorsor- wurden. Auch ein Jahr nach der Vereinigung dürften geaufwendungen. im Bewußtsein der Menschen sehr unterschiedliche (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) Auffassungen darüber vorherrschen, was denn ei- Der Sonderausgabenvorwegabzug ist zwar zuletzt gentlich Freiberufler sind. Während in der alten BRD durch das Steuerreformgesetz 1990 angehoben wor- darunter der Stand der Ärzte, Zahnärzte, Rechtsan- den, doch sind damit die Nachteile noch nicht ausge- wälte, Wirtschaftsprüfer usw. gemeint ist, so verstand glichen. Wir meinen, daß hier schon demnächst eine und versteht man darunter bei uns unverände rt die Verbesserung erreicht werden sollte. Schriftsteller, Musiker, Komponisten, darstellende Die Freiheit hat auf die Menschen zu allen Zeiten und bildende Künstler, überhaupt die Künstler. Viel- und in allen Situationen eine besondere Faszination leicht war es für manchen beim Lesen der Drucksache ausgeübt. Unabhängigkeit und Eigenverantwortlich- verwunderlich, zu erfahren, daß die so marode DDR keit sind immer wieder Motive für das Selbständig- nicht wenig für diese Freiberufler getan hat, ja, daß werden. So kann erfreulicherweise festgestellt wer- ein soziales Netz vorhanden war, das sicherlich nicht den, daß das Durchschnittsalter der Angehörigen der perfekt und nach heutigen Kriterien nicht immer ef- freien Berufe sinkt. Im Be richt der Bundesregierung fektiv war, aber dennoch vielen die Räume bot, um heißt es: schöpferisch wirken zu können. Die bereits 1979 beobachtete Verjüngung in den Wir sind der Überzeugung, daß eine erfolgreiche Freien Berufen hat sich in den 80er Jahren fortge- Entwicklung dieses geeinten Landes auch der Ent- setzt ... Jünger als 50 Jahre waren zweidrittel bis wicklung der freien Berufe bedarf. Zu ihnen gehören dreiviertel der Berufsangehörigen der Ärzte, unbedingt die künstlerischen Berufe, die in der Auf- Rechtsanwälte und Steuerberater. zählung meist zuletzt genannt und, wie mir scheint, auch zuletzt behandelt werden. Auf jeden Fall trifft Bundeskanzler Kohl hat kürzlich ausgeführt: dies auf eine Vielzahl der freiberuflichen Kultur- und Selbständigkeit ist zu einem Schlüsselbegriff für Kunstschaffenden der ehemaligen DDR zu. Ich die Zukunft geworden. möchte mich deshalb im weiteren vor allem mit deren Und er meinte: Lage beschäftigen. Was vor hundert Jahren als Kampf für die Gewer- Meiner Meinung nach berührt diese Problematik befreiheit begonnen hat, ist heute das engagierte die kulturelle Dimension der deutschen Einheit. Der Eintreten für die soziale Marktwirtschaft, auf Art. 35 Abs. 2 des Einigungsvertrages legt fest: „Die nationaler, europäischer und internationaler kulturelle Substanz in dem in Artikel 3 genannten Ebene. Gebiet darf keinen Schaden nehmen. " Die freien Berufe werden dazu ihren Beitrag lei- Schon allein diese Festlegung hat die Bewährung in sten. der Praxis nicht bestanden. Vieles Erhaltenswerte der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Kultur in der ehemaligen DDR ist bereits den Bach der der FDP) Vereinigung hinuntergeflossen und unwiderruflich verloren. Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Abge- Wenn man die heute deklarierte Freiheit der künst- ordnete Angela Stachowa. lerischen Berufe so auffaßt, daß sie frei von Aufträgen ist, dann ist das keine Freiheit mehr. Wenn Kultur und Kunst in schweren Zeiten hintenangestellt werden, (PDS/Linke Liste): Sehr geehrter Angela Stachowa dann droht ein Land geistig zu verarmen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der uns vorliegende Bericht der Bundesregierung über die Gerade unter den Künstlern, den Schriftstellern, Lage der freien Berufe in der Bundesrepublik den bildenden Künstlern und anderen gab es auch in Deutschland ist, was das statistische Mate rial und zum der Vergangenheit Querdenker und Vordenker, die Teil auch die Ausführungen betrifft, leider ziemlich unser Leben hätten bereichern können und die es zum überholt. Statistiken von 1986 — maximal 1988 — , ein Teil auch taten. Ein Kollege von mir sprach es un- Kurzgutachten des Instituts für Mittelstandsforschung längst deutlich aus, als er darauf verwies, daß es 3782 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Angela Stachowa Schriftsteller gab, „die vorwegschreiben, als andere, sind für eine geregelte soziale Sicherung, besonders die dies lasen, noch nicht wußten, was sie da lasen" . auch für eine gerechte Altersversorgung der Künstler. Wo sind diese alle geblieben? Was hört man heute Wir sind für die Unterstützung der Freiberufler der noch von den Künstlern der ehemaligen DDR? Mit neuen Bundesländer durch Förderprogramme und wenigen Ausnahmen nichts. dafür, daß diese in die Arbeit gesellschaftlicher Gre- mien ihrer Bedeutung entsprechend einbezogen wer- Viele Künstler kämpfen um ihre Existenz. Sie wis- den. sen keinen Weg zur weiteren Berufsausbildung. Ih- nen fehlen Aufträge, da die Kommunen zum großen Ich danke. Teil kein Geld haben. Mäzene sind selten. Auch die (Beifall bei der PDS/Linke Liste) gesetzlichen Festlegungen zu baugebundener Kunst lösen bisher kaum Aufträge im Wohnungs- und Ge- sellschaftsbau aus. Wo gebaut wird, dort sind es meist Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her- westdeutsche Firmen, die ihre eigenen Künstler mit- ren, ich schließe die Aussprache. Interfraktionell ist bringen. Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/21 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse Die Probleme, die aus einer sehr rigorosen Mietpo- vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Es litik für Ateliers entstanden, möchte ich durch fol- erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist die Überwei- gende Fakten verdeutlichen. Auch von Wohnungs- sung so beschlossen. baugenossenschaften werden in Berlin und in ande- ren Städten Ateliermieten verlangt, die bei 20 DM und mehr pro Quadratmeter liegen. Steigerungen Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf: zwischen 500 und 2 000 % machen die Runde — und a) Beratung der Unterrichtung durch das Europäi- das, obwohl einige Großstädte beschlossen haben, sche Parlament daß Ateliermieten nur im Verhältnis zu den allgemei- Entschließung zu Energie und Umwelt nen Mietsteigerungen wachsen dürfen. Diese Sum- men für Mieten sind in der gegenwärtigen Situa tion — Drucksache 12/944 — kaum noch von jemandem aufzubringen. Gleichzeitig Überweisungsvorschlag: registriert der Berufsverband Bildender Künstler zwei Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (fe- bis vier Atelierkündigungen pro Woche allein in Ber- derführend) Finanzausschuß lin. Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Verkehr Ein weiteres Beispiel: Wenn sich Schriftsteller und Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau andere Künstler bis Jahresende entscheiden müssen, Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenab- ob sie ihre freiberufliche Tätigkeit beibehalten wollen schätzung oder ob sie diese aufgeben wollen und dafür in die EG-Ausschuß Arbeitslosigkeit entlassen werden, dann ist das schon b) Beratung der Unterrichtung durch das Europäi- eine etwas seltsam anmutende Freiheit. sche Parlament Hinzu kommt, daß durch den schleppenden Aufbau Entschließung zu Energie und Umwelt der Verwaltung im Osten Deutschlands der von der — Drucksache 12/945 — Bundesregierung initiierte Katalog von Maßnahmen Überweisungsvorschlag: zur Kulturförderung nur ungenügend greift. Bei- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (fe- spielsweise sind viele betroffene freiberufliche Künst- derführend) ler gar nicht darüber informiert, daß es finanzielle Mit- Finanzausschuß tel gibt, die ihnen eine minimale soziale Existenz si- Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Verkehr chern könnten. Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenab- Bücher schreiben ist eine gute Sache, Bücher verle- schätzung gen auch, aber Bücher verlegen lassen, das ist heute EG-Ausschuß ein riesiges Problem für viele Schriftsteller in den fünf c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Be- neuen Bundesländern. Bücher bleiben bloße Makula- richts des Ausschusses für Umwelt, Natur- tur, wenn sie nicht in die Hände der Leser gelangen. schutz und Reaktorsicherheit (17. Ausschuß) zu Aber viele Verlage sind nicht mehr voll funktionsfä- dem Dritten Bericht der Enquete-Kommission hig. Rund 60 der einstigen 78 partei-, staats- und „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" volkseigenen Verlage unterstehen der Treuhand. Erst ein Drittel davon wurde verkauft, zum Teil an renom- Schutz der Erde mierte Verlagshäuser, was prinzipiell erfreulich ist. — Drucksachen 11/533, 11/787, 11/971, Aber rund 60 % der ehemaligen Mitarbeiter der Ver- 11/1351, 11/3479, 11/8030, 12/210 Nr. 193, lage, die nichts anderes gelernt haben, als Bücher zu 12/1136 — schreiben oder Bücher zu machen, sitzen heute auf Berichterstattung: der Straße und vergrößern das Heer der freien Schrift- Abgeordnete Dr. Klaus W. Lippold (Offen- steller. bach) Meine Damen und Herren, wir halten es für unbe- Michael Müller (Düsseldorf) dingt erforderlich, gerade die freien Berufe zu fördern. Marita Sehn Ihre Ausgangsbasis besonders in den neuen fünf Bun- Zum Bericht der Enquete-Kommission liegt je ein desländern ist äußerst kompliziert. Sie brauchen die Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und der Gesellschaft, und die Gesellschaft braucht sie. Wir Gruppe Bündnis 90/GRÜNE vor. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3783

Vizepräsident Hans Klein Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Der Fortgang der internationalen Verhandlungen Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Auch dazu gibt Anlaß zu ernsthafter Sorge. Beim derzeitigen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so be- Stand der Vorbereitungen muß befürchtet werden, schlossen. daß das Ziel der Verabschiedung eines effizienten Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Vertragswerks zum Schutz des Klimas im Jahre 1992 Abgeordneten Dr. Klaus Lippold. nicht erreicht wird. Anliegen der deutschen Klimapo- litik muß es bleiben, auf eine Konvention hinzuwir- ken, die in glaubhafter Weise den politischen Willen zum raschen Handeln dokumentiert und verbindliche Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): Herr Verpflichtungen — ich sage das ganz deutlich: ver- Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! bindliche Verpflichtungen — vorsieht. Abzulehnen Die Enquete-Kommission hat mit ihrem Be richt deut- sind Kompromisse, welche mit dieser Zielsetzung lich gemacht, daß die Gefahren, die von Treibhausef- nicht vereinbart werden können. fekt und Klimakatastrophe drohen, sofortiges Han- Damit Rio 1992 ein Erfolg wird, glaube ich, daß die deln erforderlich machen. Ich möchte mich vor dem folgenden sechs Punkte auf jeden Fall berücksichtigt Hintergrund der internationalen Verhandlungen, die sein müssen. hierzu laufen und globales Handeln beschleunigen sollen, nicht rückwärtsorientiert mit dem auseinan- Erstens. Unverzichtbar sind verbindliche, allseits dersetzen, was wir im Be richt selbst in allen Details verläßliche, zielbezogene Vereinbarungen für die in- hinreichend begründet vorgelegt haben, sondern ternationale Klimapolitik der Zukunft. Diese Verein- deutlich machen, wohin die internationale Entwick- barungen sind auch zeitlich auf die Stabilisierung bis lung und wohin insbesondere auch die internationale zum Jahre 2000 auf der Grundlage von 1987 und die Umweltkonferenz in Rio 1992 gehen muß, damit wir in Reduktion um 5 % bis zum Jahre 2005 zu beziehen. dieser Frage zu Lösungen kommen, damit wir zur Zweitens. Die Aufteilung der damit geforderten weltweiten Problemlösung beitragen. enormen Anstrengungen auf die einzelnen Staaten Ich glaube, daß wir hier ganz deutlich machen müs- muß international dem Prinzip der allseitigen, aber sen, daß die Bundesrepublik mit einem Anteil von differenzierten Verantwortung für die bisherigen und 5,3 % der globalen treibhausrelevanten anthropoge- künftigen Emissionen entsprechen. nen Spurengase im Vergleich zu anderen Staaten mit Drittens. Die Industrieländer sind derzeit für 80 an der Spitze liegt und sich deshalb die Diskussion der der bestehenden Emissionen verantwortlich. Eine deutschen Klimapolitik diesem Tatbestand stellen langfristig angelegte Klimapolitik verspricht aber nur muß. Dabei ist einerseits klar, daß einseitige Anstren- Erfolg, wenn auch die Entwicklungsländer in die gungen der Bundesrepublik alleine zu keiner wesent- internationalen S trategien eingebunden werden. Da lichen Änderung der Bedrohung durch Klimawechsel viele Entwicklungsländer durch den drohenden Kli- führen können. Andererseits ist zu fordern, daß die mawechsel in besonderer Weise bedroht sind, ent- Bundesrepublik im Rahmen ihrer politischen und fi- spricht eine solche Politik auch den vitalen nationalen nanziellen Möglichkeiten alle denkbaren Anstren- Interessen dieser Länder. gungen unternimmt, um die internationale Klimapoli- tik im Sinne des Vorsorgeprinzips am klaren Ziel der Viertens. Die künftigen Vereinbarungen müssen ökologischen Verträglichkeit auszurichten. den Weg dafür weisen, daß die Entwicklungsländer ebenso wie die Staaten im Osten Europas imstande Die Forderung nach zusätzlicher Erforschung der sein werden, klimagerechte Technologien einzuset- Ursachen des Klimawechsels und seiner möglichen zen und zu entwickeln. Über die notwendigen Hilfe- verheerenden Folgen darf die Notwendigkeit soforti- leistungen ist sowohl im technologischen Bereich als gen Handelns — ich unterstreiche das — nicht in auch im Hinblick auf sonst notwendige Änderungen Frage stellen. Auf internationaler wie auf nationaler im Einzelfall auf der Grundlage sorgfältiger Studien Ebene sind Mechanismen und Normen zu entwickeln, gemeinsam zwischen Geber- und Nehmerländern zu die die Kosten der Klimapolitik so gering wie möglich entscheiden. Das Prinzip der Kosteneffizienz muß da- halten. Die wirtschaftlichen Konsequenzen des jetzi- bei streng beachtet werden. gen Handelns müssen dabei allerdings auch im Lichte der möglicherweise später entstehenden Kosten des Fünftens. Die Vereinbarungen müssen so ausge- Nichthandelns gewertet werden. staltet werden, daß die Einhaltung der Verpflichtun- gen international hinreichend genau überwacht wer- Die seit Februar des Jahres laufenden internationa- den kann. Dabei sind auch wirksame Verfahren zur len Verhandlungen über eine künftige Klimakonven- Streitbeilegung vorzusehen. tion sind von der Bundesrepublik in vollem Umfang zu unterstützen. Leitlinie der deutschen Verhand- Sechstens. Es ist daran festzuhalten, daß auf der lungsposition müssen die Forderungen sein, die von Konferenz für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 der Enquete-Kommission entwickelt worden sind, in Rio nicht nur eine Dachkonvention zum Schutz des und zwar auf der Basis umfassender wirtschaftlicher Klimas, sondern auch verbindliche Protokolle für die Arbeit. Das heißt Stabilisierung der globalen Emissio- Reduktion der CO2-Emissionen und für den klimapo- nen bis zum Jahre 2000 und Reduktion um 5 % global litisch notwendigen Schutz der Wälder, insbesondere bis zum Jahre 2005. Das impliziert, daß wir innerhalb der Tropenwälder, vereinbart werden. Sollte dies aus der Bundesrepublik selbst eine 25- bis 30 %ige Re- zeitlichen Gründen nicht mehr gelingen, so ist es un- duktion ins Auge fassen und daß wir diese Reduk- verzichtbar, daß die Dachkonvention sachlich und tionsnorm auch für die führenden Industriestaaten zeitlich klare Leitlinien für die weiteren Verhandlun- verbindlich machen wollen. gen zur Ausarbeitung der Protokolle enthält. Dieser 3784 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) letzte Satz gibt nur eine Ausweichmöglichkeit an, die Unser Ziel muß sein, auf diese Vorstellungen — wie ich nicht einmal als Second-best-Strategie verstanden sie bei der EG entwickelt werden — im Sinne unseres wissen möchte; denn es hat keinen Zweck, bereits im nationalen Konzepts Einfluß zu nehmen und deutlich Vorfeld zu resignieren. zu machen, daß die Ansatzpunkte so, wie sie hier ent- wickelt werden, auch bei der Ausgestaltung der Vor- Ich glaube, daß die Verhandlungen zum Montreal- stellungen der EG-Kommission von ganz entschei- Protokoll deutlich gemacht haben — und ich spiele dender Bedeutung sein und dort mit eingebracht wer- hier insbesondere auf die zurückhaltende Haltung den müssen. Ich glaube, dabei ist es wichtig, insbe- der USA, um nicht besser zu sagen, die widerstre- sondere darauf hinzuarbeiten, daß das, was durch bende Haltung der USA an —, daß auch bei den da- diese Kombination von Steuer und Abgabe an Auf- maligen Verhandlungen die USA erst in letzter Mi- kommen erzielt wird, aufkommensneutral verwendet nute auf den fahrenden Zug aufgesprungen sind. Das wird. heißt, die Zurückhaltung der USA im derzeitigen Mo- ment muß für uns kein Anlaß sein, bereits jetzt auf Das heißt, daß das, was über CO2-Abgabe und die Kompromisse einzuschwenken, sondern wir müssen Steuer an Belastungen auf Unternehmen, Verbrau- weiterhin unsere konkrete Linie beibehalten. cher und Bürger zukommt, auch im Sinne einer grup- pennützigen Verwendung wieder an sie zurückfließt, Wie Tolba jetzt in den letzten Tagen hier in der in Form von Anreizen, in Form von Förderung für die Bundesrepublik mehrfach deutlich gesagt hat, ist da- Maßnahmen, die zur CO2-Reduktion, zur CO2-Ver- bei konkretes Handeln erforderlich. Das heißt, wenn meidung ganz nachhaltig beitragen. Durch diese wir Einfluß nehmen wollen, dürfen wir dies nicht nur Doppelstrategie — zusätzliche Belastung auf der ei- auf dem Verhandlungswege tun, sondern wir müssen nen Seite und eine umfassende Förderung mit all den über eine klare Politik der Reduktion von Emissionen Mitteln, die durch die Belastung eingehen, auf der durch klares Handeln hier in der Bundesrepublik zei- anderen Seite für die, die vermeiden und reduzie- gen, daß wir diesen Weg auch beschreiten und daß ren — können wir die nötigen Anreize schaffen. wir von anderen nicht etwas erwarten, was wir nicht Die CO2-Abgabe, wie sie von der Bundesregierung selbst zu tun bereit sind. Ich glaube, nur auf diesem diskutiert wird, geht in diese Richtung. Ich hoffe, daß Weg können wir die internationale Bereitschaft her- die Bundesregierung sehr bald deutlich machen wird, beiführen. wie die Eckpunkte dieser CO2-Abgabe aussehen wer- Die gemeinsame Verhandlungsposition der EG ist den, damit wir die EG-Diskussion über eine Festle- im Rahmen der internationalen Verhandlungen zu gung im nationalen Bereich nachhaltig beeinflussen stärken. Innerhalb dieser Position muß die Bundesre- können. gierung den gegebenen Verhandlungsspielraum al- Wir werden uns darüber hinaus — unabhängig von lerdings im gleichen Umfang wie die Partner der EG diesem Bereich der internationalen Maßnahmen und nutzen, um ihre eigenständigen Zielsetzungen über der internationalen Verhandlungen — im Rahmen der die gemeinsamen Ziele der EG hinaus deutlich zu Enquete-Kommission nachhaltig mit der Problematik machen. der Minderung der Emissionen im Energiebereich auseinandersetzen müssen. Dies gilt insbesondere für Ich sage dies ganz ausdrücklich deshalb, weil ich Einsparungsmaßnahmen innerhalb des Bereichs der glaube, daß es nicht gut wäre, wenn die Engländer Bundesrepublik selbst und hier insbesondere inner- ihre retardierende Position — parallel zur EG-Posi- halb des Bereichs der fünf neuen Bundesländer. tion — immer wieder in die Verhandlungen einbrin- gen, wir aber nur die EG-Position vertreten und dabei Ich hoffe, daß wir alles tun, damit wir die Chance, unsere wesentlich weiterführenden Vorstellungen die sich bei der Neugestaltung des Energiekomplexes nicht in genügendem Umfang verdeutlichen. in den fünf neuen Bundesländern ergibt, auch voll genutzt wird, Ich glaube, daß wir Ansatzpunkte haben, um wei- terzukommen. Die Europäische Kommission denkt (Monika Ganseforth [SPD]: Die ist ja schon — anders als früher — darüber nach, entsprechende vertan!) Beiträge zur Klimapolitik zu leisten. Dies ist dadurch um alle Reduktionsmöglichkeiten auszuschöpfen. Ich deutlich geworden, daß man jetzt ernsthaft darüber sehe durchaus Ansatzpunkte dafür, daß hier noch nachdenkt, wie man über marktwirtschaftliche An- stärker und schneller gehandelt wird. Darüber müs- reize, sprich über eine Kohlendioxidabgabe oder über sen wir möglichst bald nicht nur diskutieren, sondern eine Steuer, zur Reduktion der CO2-Emissionen bei- auch eine rasche Umsetzung der Maßnahmen anstre- tragen kann. ben. Ich bleibe dabei: Wir werden international nur erfolgreich sein, wenn wir deutlich machen, daß wir Die Kommission hat jetzt die Eckpunkte eines Richt- selbst handeln. Hier ist ein ganz entscheidendes Feld linienvorschlags vorgelegt, mit dem sie die CO2-Bela- für eigene Handlungen. stung erstens über einen Anteil energetischer Bela- stung grundsätzlich, zweitens über einen besonderen Wir werden auch zusätzlich überlegen müssen, wel- Anteil der CO2-Emissionen speziell erfassen will. Das che Auswirkungen die Veränderungen in der Sowjet- würde bedeuten, daß wir bei der vorgesehenen Bela- union auf die Klimapolitik haben. Wir sind bislang stung von bis zu maximal 10 Dollar pro Barrel 01 davon ausgegangen, daß die Ostblockstaaten insge- — um das einmal auf eine Verrechnungseinheit zu samt zur Gruppe der Industriestaaten gerechnet wer- bringen — davon ausgehen könnten, daß sich eine den können, bei denen wir erwarten könnten, daß sie zusätzliche Belastung von 40 DM pro Tonne CO2- selber CO2-vermeidende Maßnahmen ergreifen, also Emissionen bis zum Jahr 2000 ergeben würde. selber auf Reduktion hinarbeiten. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3785

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) Der katastrophale Zustand, der sich ja auch im Zer- Vizepräsident Hans Klein: Entschuldigung, aber fall der Sowjetunion dokumentiert, macht deutlich, Redezeitüberschreitung ist Redezeitüberschreitung, daß sich diese Erwartungen so nicht umsetzen werden auch wenn sie mit dem Satz „Ich bitte, Herr Präsident, und daß wir zusätzliche Reibungsverluste aus diesen zum Schluß sagen zu können" eingeleitet wird. inneren Prozessen erwarten müssen, die eine vernünf- Als nächster hat der Abgeordnete Michael Müller tige Klimapolitik von diesen Staaten zumindest wäh- das Wort. rend des Übergangszeitraumes in keiner Weise er- warten lassen. Ich glaube, daß dies Anlaß dafür ist, noch einmal zu Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Herr Präsident! überlegen, welchen Einfluß dies auf unsere Politik Meine Damen und Herren! Ich teile die Einschätzung selbst und auf Vermeidungsstrategien hat, wie wir von Kollegen Lippold, daß wir nicht mehr über die Kompensationsmöglichkeiten im Abgabenbereich wissenschaftlichen Erkenntnisse über mögliche zu- gestalten und wie wir darauf hinwirken können, daß künftige Klimaveränderungen streiten müssen. Die hier, wo große Potentiale zur CO2-Minderung und zur Fakten haben sich auf der Basis der wissenschaftli- Vermeidung gegeben sind, diese Potentiale zur Ver- chen Untersuchungen und Modelle derartig verdich- minderung und Vermeidung, die wir zum Teil we- tet. Die Plausibilität der Gefahren ist sehr groß, daß sentlich kosteneffizienter nutzen könnten, als das bei eine derartige Diskussion meines Erachtens eine Ab- uns der Fall ist, genutzt werden. lenkung von dem wäre, was wir tun müßten. Insofern sollte sich der Bundestag daran nicht mehr beteiligen. Wir werden uns im Rahmen der Enquete-Kommis- Dies wäre nach der Diskussion der letzten drei Jahre sion, also insbesondere auch im nationalen Bereich, eine Scheindiskussion und politisch nicht ange- damit auseinandersetzen müssen — wir haben gerade bracht. damit begonnen — , intensiv vorzubereiten, wie wir im Die Diskussionen der nächsten Zeit sollten sich viel- Verkehrsbereich zu einer Minderung der CO2-Emis- mehr auf die entscheidenden Ursachen der Klimaver- sionen kommen können, und dies an Hand konkreter schiebungen und wirklich wirksame Gegenstrategien Vorstellungen und nicht an Hand abstrakter Pro- konzentrieren. Ich stelle die zentrale These auf, daß grammaussagen, wie z. B. Verlagerung von Verkehr die im Ke auf die Schiene. Wir müssen deutlich machen, wie die Debatte über Klimaverschiebungen rn die eine dies denn gestaltet werden soll, wie dies möglich ist Debatte über Zukunftsverträglichkeit der und wo Ansatzpunkte dafür sind. Industriegesellschaften ist. Anders gesprochen heißt das: Die Verschiebung der Klimazonen und die Zu- (Zuruf von der SPD: Sehr gut!) kunftsgefahren sind nicht naturgesetzlich, sondern sie — Ich richte das an alle Parteien, die diesen Pro- sind das Resultat dessen, daß wir die Naturgesetze grammsatz haben. Aber wenn ich konkret diskutiere, mißachten. Weil die Organisation von Wirtschaft und welchen Spielraum wir bei der Bundesbahn denn Leben so ist, wie sie ist, reagiert die Natur mit ihren überhaupt hab en, um Kapazität hereinzunehmen, Gesetzen unbarmherzig darauf — zu Lasten zukünfti- wird doch deutlich, daß hier Differenzen bestehen. ger Generationen, was die Gefahr der ökologischen Selbstzerstörung einschließt. Aber ich sage natürlich auch, Herr Feige: Ich er- warte von allen Initiativlern, daß, wenn neue Bundes- Das ist der Kern, über den wir diskutieren müssen: bahntrassen ausgewiesen werden, Bürgerinitiativ- Wie sieht eine Gesellschaft aus, die in einem Gleich- gruppen die Ausweisung dieser notwendigen neuen klang mit der Natur steht? Wie kriegen wir es hin, daß Trassen nicht behindern und verhindern und mithin die Natur nicht länger aus den Bezügen der Gesell- eine Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die schaft ausgegrenzt wird? Wie erreichen wir es, tat- Schiene unmöglich machen. Wir müssen hier dann sächlich seßhaft zu werden? Wir sind zwar seßhaft, natürlich, Herr Kollege Feige, Butter bei die Fische aber tatsächlich sind wir es doch nicht, weil wir nicht tun und sagen: Wenn wir Schienenverkehr für not- im Einklang mit den dauerhaften Bedingungen von wendig halten, müssen wir auch Trassen bauen. Seßhaftigkeit handeln. (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der Aus meiner Sicht bedeutet das zweierlei: SPD) Erstens. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Mechanismen, die sich vor allem in den letzten 500 Jahren mit der ungeheuren Sucht nach Gold und Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, Ihre Rede- Geld, mit der Herausbildung der Manufaktur und der zeit ist abgelaufen. Industriegesellschaft und ihrem inneren Zwang zur Expansion, Erweiterung, Veränderung, Wachstum und Beschleunigung herausgebildet haben, im Inter- esse der Sicherung zukünftiger Lebensverhältnisse (Offenbach) (CDU/CSU): Herr Dr. Klaus W. Lippold verändern können. Präsident, ich bitte um die Gelegenheit, zum Schluß nur noch sagen zu können, daß wir besser weiterkom- Der zweite zentrale Punkt ist, daß wir auf Dauer men, wenn wir im Sinne der bisherigen Arbeiten der politisch nur erfolgreich sein können, wenn wir einen Enquete-Kommission gemeinschaftliche Handlungs- globalen Ansatz verfolgen. Die Industriegesellschaft strategien über alle Bereiche dieses Hauses hinweg wird mit einem nationalen Politikansatz die Probleme, entwickeln, damit wir sie mit um so größerem Nach- die sich in einer gewaltigen Front vor uns auftun, nicht druck durchsetzen können. mehr in den Griff bekommen. Die Menschheit gerät immer mehr in eine Abwärtsspirale aus Armut, Unter- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. entwicklung, Bevölkerungsvermehrung und Natur- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zerstörung. 3786 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Michael Miller (Düsseldorf) Die Daten sind bei diesen vier Faktoren drama- Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Ich bewerte es tisch: genauso, wie ich es hier gesagt habe: Wir müssen Erster Faktor: Armut. Nach dem neuen Be richt von endlich begreifen, daß die ökologische Problematik „World-Watch" lebt fast jeder vie rte Mensch auf die- eine gesellschaftspolitische Problematik ist. Das heißt, ser Erde unterhalb der Existenzgrenze: 1,25 Milliar- Ansätze werden scheitern, die die Umweltprobleme den Menschen sind in der Situation, daß sie umge- beispielsweise nur als ein Problem der Reduktion ir- rechnet mit weniger als 300 Dollar pro Jahr auskom- gendwelcher Schadstoffe begreifen. Wir müssen die men müssen. Umweltpolitik vielmehr z. B. auch in die Weiterent- wicklung von Demokratie, von Sozialstaat etc. einord- Zweiter Faktor: Unterentwicklung. Drei Viertel der nen. Wir werden sonst immer in Zielkonflikte geraten, Menschheit leben heute in Unterentwicklung, wobei bei denen im Zweifelsfall die Natur verliert. ich jetzt zugegebenermaßen den europäischen Beg riff von „Entwicklung" gebrauche. Diese Menschen ha- Ich sage also umgekehrt: Die Gesellschaft muß die ben aber, nur um die drängendsten sozialen Probleme Natur wiederentdecken. Daß sie heute ausgegrenzt zu lösen, einen größeren Bedarf an Energie und Roh- wird, ist exakt das Problem. Wir diskutieren über Teil- stoffen — und das in einer Situation, in der wir schon aspekte, aber wir diskutieren nicht über den Umbau an der Grenze der ökologischen Belastbarkeit der der Gesellschaft insgesamt. Das ist meines Erachtens, Erde angekommen sind, hervorgerufen durch nur ein wenn ich Ihnen das sagen darf, das Dilemma, wo- Viertel der Bevölkerung der Erde in den Industriestaa- durch auch die GRÜNEN nicht mehr in den Bundes- ten. tag gekommen sind; sie sind nämlich bei einer ver- Dritter Faktor: Bevölkerungsvermehrung. Ich will engten Debatte stehengeblieben. — Dies vielleicht nur darauf hinweisen, daß selbst wenn es gelingen nur als konstruktiver Hinweis. würde, bis etwa zum Jahre 2010 im Durchschnitt zu Die Globalität ist eine andere Dimension von ökolo- der Zwei-Kinder-Familie zu kommen, wovon wir gischer Zerstörung als nur eine regionale Umweltver- heute weit entfernt sind — was kaum zu erreichen nichtung. ist —, es immer noch mindestens 40 bis 50 Jahre dau- Drittens fordert uns der zeitliche Widerspruch zwi- erte, um das Bevölkerungswachstum zum Stillstand schen Verursachung von Umweltzerstörungen und zu bringen. deren Sichtbarwerden heraus. So haben beispiels Vierter Faktor: Naturzerstörung. Bei der Naturzer- weise Klimaänderungen durch die Umwälzungspro- störung haben wir es mit folgenden fünf qualitativ zesse der Ozeane einen zeitlichen Vorlauf von 30 bis neuen Erkenntnissen seit den 80er Jahren zu tun: 40 Jahren. Das heißt, wir haben schon heute 30 bis Erstens: die Geschwindigkeitskrise in der Natur- 40 Jahre Zukunft gespeichert, die wir nicht mehr ver- zerstörung. Die Naturzerstörung erfolgt nicht linear, hindern können. Nur wenn wir die mögliche Zukunft sondern exponentiell. Wir müssen feststellen, daß sich heute beachten, können wir in der Zukunft noch han- - Prozesse der technischen und ökonomischen Expan- deln. Wir können nicht mehr, wie bisher, erst reagie- sion immer mehr beschleunigen, die Prozesse der Na- ren, wenn Schäden bereits eintreten. Auch das ist eine tur aber gleichbleibend sind. Die biosphärischen Evo- qualitativ neue Herausforderung. lutionsbedingungen ergeben sich aus weitgehend Viertens: Widerspruch zwischen Tätern und Op- gleichbleibenden Mechanismen. Dadurch entstehen fern. Die Täter sind die Industrieländer, die in den Widersprüche, die nicht kompatibel sind und eindeu- gemäßigten Breiten liegen. Die ersten Opfer sind aber tig zu Lasten der Natur gehen. die Entwicklungsländer, die in den tropischen und Zweitens: Wir haben mit der Naturzerstörung die subtropischen Zonen liegen, die sehr viel empfindli- globale Ebene erreicht. Wir müssen begreifen, daß cher auf Veränderungen reagieren. Eine der Konse- zwischen dem, was heute passiert, und dem, was z. B. quenzen daraus wird sein, daß in den nächsten Jahr- im Mittelalter passierte, als beispielsweise in Küsten- zehnten der Umweltflüchtling der klassische Flücht- regionen die Wälder abgesägt wurden, ein deutlicher lingstyp der Welt zu werden droht. Unterschied besteht. Fünftens: Wir müssen endlich begreifen, daß wir auch mit Nichtwissen umgehen müssen. Wir müssen erkennen, daß wir in vielen Bereichen gar nicht alles Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Müller, ge- wissen können, zumal nicht in bezug auf belastete statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Feige. Ökosysteme, und daß wir vorsorgend auch mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Ja natürlich, er Aus dieser Situation heraus besteht die Gefahr einer muß es nur anmelden. unfriedlichen Zukunft in einer unfriedlichen Welt. Ich glaube, daß wir in einem Schlüsseljahrzehnt sind, da- mit die Friedensdividende, die wir möglicherweise — Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE): Lie- sicher ist es ja nicht — aus dem Wegfall der Ost-West- ber Herr Kollege Müller, wir stimmen diesbezüglich Konfrontation gewonnen haben, nicht wieder verspie- überein. Das, was Sie gesagt haben, berührt mich len. Dieses bedeutet nach dem Ende der Ost-West- genauso. Wie aber bewe rten Sie dann die Tatsache, Konfrontation auch eine erhöhte Verantwortung der daß gerade im sozialdemokratisch regierten Nord- westlichen Industrieländer. Sie dominieren heute die rhein-Westfalen in der vergangenen Woche ein Kli- Weltwirtschaft einseitig und damit die Weltentwick- mainstitut eröffnet wurde, das nun weiterforschen lung; sie sind das Wachstumsvorbild für Entwicklung, wird, gleichzeitig aber auch der naturzerstörende freiwillig oder unter Zwang. Wenn in den westlichen Braunkohlenabbau für längere Jahre begrüßt wird? Industrieländern nicht die Vereinbarkeit von sozialer Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3787

Michael Müller (Düsseldorf) Gerechtigkeit und ökologischer Verträglichkeit er- nur durch eine konsequente Reduktion aller klimare- reicht wird, ist dies in den anderen Teilen der Welt erst levanten Spurengasemissionen insbesondere der recht nicht möglich. Das heißt, nach dem Ende der CO2-Emissionen, verhindern. Erfolgsversprechende Ost-West-Konfrontation hat sich die Verantwortung Strategien zur CO2-Emissionsminderung, insbeson- der westlichen Industrieländer für die Globalität und dere in den Energiesektoren, sind von der Enquete- damit auch für die langfristige Sicherung des Friedens Kommission erarbeitet worden, meine Damen und noch erhöht. Herren. Dazu im Widerspruch steht ganz eindeutig das Eine Industriegesellschaft kann ohne die Nutzung Tempo, mit dem wir diese Probleme angehen. Es be- größerer Energiemengen nicht existieren. Die Abhän- steht ein eklatanter Widerspruch zwischen den Er- gigkeit der Wirtschaftsentwicklung von einer gesi- kenntnissen und den Handlungen. Deshalb müssen cherten Energieversorgung und die daraus resultie- wir in der Konsequenz aus den ökologischen Gefah- rende Verwundbarkeit der Industrieländer haben sich ren nicht nur über den Umbau der Gesellschaft, son- während der Ölkrise deutlich gezeigt. dern auch über die Veränderung der Politik reden. Die heutigen Formen der Politik sind den Problemen Die zahlreichen Umwälzungen im nationalen und nicht adäquat. Wir müssen uns erweiterte politische internationalen Bereich erfordern ein Umdenken in Strategien überlegen, die nicht nur auf aktuelle Ereig- der Energiepolitik. Auch wenn wir seit Mitte der 70er nisse reagieren, sondern die in der Lage sind, Zu- Jahre als eine der ersten die Thema tik „Energie und kunftsverantwortung wahrzunehmen. Dazu sind wir Umwelt" aufgegriffen haben und wesentliches zur derzeit nur unzureichend in der Lage. Gestaltung einer umweltfreundlichen Energiever- Unser Angebot als SPD: Wir sind, ohne Unter- wendung beigetragen haben, brauchen wir heute dringender denn je ein neues Energiekonzept. schiede zu verkleistern, bereit, auch unbequeme Schritte im Interesse des Klimaschutzes mitzumachen. (Zustimmung des Abg. Dr. Wolfgang Weng Aber wir werden nicht bei dem mitmachen, was wir [Gerlingen] [FDP]) seit jetzt einem Jahr erleben, nämlich daß in der Bun- desregierung über den notwendigen Klimaschutz nur Seine wichtigsten Aspekte sind die zunehmende Be- gequatscht wird, wobei dies aber tatsächlich ein fol- deutung des europäischen Binnenmarktes, die Lö- genloses Geschwätz ist. sung des CO2-Problems, die energiepoli tische Inte- gration der neuen Bundesländer und die Neubewer- (Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/ tung der Energie träger. GRÜNE und der PDS/Linke Liste) Wir brauchen einen breit angelegten Energiemix, bei dem der Stellenwert der einzelnen Energie träger Frau Kollegin Marita Vizepräsident Hans Klein: neu bewertet werden muß. Die Braunkohle in den Sehn, ich erteile Ihnen das Wort. neuen Bundesländern, die unter dem Regime der ehe- maligen Deutschen Demokratischen Republik zu ei- Marita Sehn (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! nem Umweltschädiger ersten Ranges verkommen ist, Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Zuge der muß in Zukunft zu einem Energieträger heranreifen, Industrialisierung hat der Mensch in zunehmendem der zu einem wichtigen Eckpfeiler für die Energiever- Maße in das über Jahrmillionen entstandene kom- sorgung wird. plexe Ökosystem Erde eingegriffen. Durch den exten- siv betriebenen Raubbau an der Ressource Umwelt Meine Damen und Herren, wir müssen uns darüber zerstören wir unsere eigene Lebensgrundlage. Seit im klaren sein, daß die Verminderung der CO2-Emis- nunmehr fast zehn Jahren kennen wir Beg riffe wie sionen nur durch drastische Energiesparmaßnahmen sowohl im Bereich der Wi Treibhauseffekt und Abbau der stratosphärischen rtschaft als auch im Bereich Ozonschicht und hören die Warnungen bedeutender der Haushalte und Kleinverbraucher erreicht werden Wissenschaftler vor der globalen Klimaveränderung kann. Energie darf nicht länger eine billige Ware sein. mit ihren dramatischen Folgen für alle Regionen der Jeder einzelne muß die Notwendigkeit des sparsamen Erde. Umgangs mit dem Wirtschaftsgut Energie begreifen und dementsprechend handeln. Zur Unterstützung Meine Damen und Herren, diese Warnungen und dieses Umdenkprozesses müssen ökonomische In- Mahnungen sind nicht ohne Wirkung geblieben. Der strumente wie die CO2-Abgabe (Klimaschutzsteuer) Klimaschutz ist heute national und interna tional eines oder auch die Kombination dieser Abgabe mit einer der wichtigsten umweltpolitischen Themen. Von ei- Energiesteuer eingesetzt werden. ner internationalen Klimaschutzstrategie, die eine sachgerechte Antwort auf das Klimaproblem darstellt, Die alleinige Verteuerung fossiler Energieträger sind wir aber noch weit entfernt. durch eine CO2-Abgabe ist meines Erachtens nicht Auf nationaler Ebene hat die Enquete-Kommission ausreichend, meine Damen und Herren. „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre " einen (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Der maßgeblichen Beitrag zur Erarbeitung von Lösungs- Lenkungseffekt ist nicht richtig!) strategien geleistet. Die enge Verflechtung der K lima- schutzthematik mit anderen politischen Bereichen Die Energiesteuer verhindert die einseitige Begünsti- wie Energie, Verkehr, Landwirtschaft und Bauwesen gung der Atomindustrie und schafft bessere markt- erfordert zukünftig entscheidende Impulse aus dieser wirtschaftliche Voraussetzungen zu einer weitest- Kommission. möglichen Ausschöpfung aller Potentiale der Energie- effizienz und der erneuerbaren Energien. Die Klimaveränderung mit ihren Folgen für das ge- samte Wirtschafts- und Sozialsystem der Erde läßt sich (Monika Ganseforth [SPD]: Das ist wahr!) 3788 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Marita Sehn Sicher ist schon jetzt, daß entsprechende Abgaben den werden können. Dieses wichtige Thema muß des- international oder zumindest EG-weit abgestimmt halb bei der UN-Konferenz Umwelt und Entwicklung werden müssen. Anderenfalls wären Wettbewerbs- in Brasilien 1992 unbedingt auf der Tagesordnung ste- verzerrungen zu erwarten, und das Ziel des EG-Bin- hen. nenmarkts wäre gefährdet. Die Sicherheit dieser Welt ist durch irreversible Um- Einen akuten Handlungsbedarf, meine Damen und weltschäden massiv bedroht. Wir müssen endlich er- Herren, sehe ich zur Zeit besonders in den neuen Bun- kennen, wie eng die wechselseitige Abhängigkeit al- desländern im Bereich der Altbausanierung gegeben. ler Nationen angesichts der globalen Herausforde- Hier haben wir die Chance, flächendeckend Gebäude rung geworden ist. Hier sehe ich große Chancen in der mit den neuesten Wärmeschutzmaßnahmen auszu- Umweltkonferenz 1992 in Brasilien. statten und somit wirksam zu einer Minderung der Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. CO2-Emissionen beizutragen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Der Verkehrsbereich trägt mit ca. 17 % maßgeblich zum jährlichen CO2-Ausstoß bei. Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- (Zuruf von der SPD: Deswegen Tempoli- ordnete Dr. Klaus-Dieter Feige. mit!) Die Vollendung des europäischen Binnenmarktes und Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE): Herr die Öffnung der östlichen Länder machen die Bundes- Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! republik Deutschland auf Grund der geographischen Zunächst ein paar Worte zu den vorhergehenden Bei- Lage zu einem Transitland. Wo immer möglich, muß trägen. der Güterverkehr auf Schiene und Wasserstraße ver- legt werden. Es ist natürlich klar: Die GRÜNEN sind im Bundes- tag nicht mehr in der großen Zahl. Ich muß aber irgend (Zustimmung des Abg. Dr. Wolfgang Weng etwas falsch gemacht haben, Herr Müller, daß Sie [Gerlingen] [FDP]) mich nicht mehr als Grünen akzeptieren. Auch über den Bedarf an energieeffektiveren und (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Ich habe emissionsärmeren Verkehrsmitteln brauchen wir nicht Sie gemeint!) nicht zu debattieren, meine Damen und Herren. Zum Aber ich denke, ich kann das mit den folgenden Wor- Thema Berufsverkehr und Stau möchte ich auf die ten sehr deutlich unterstreichen. In vier Jahren spre- vielen Pendler aufmerksam machen, die tagtäglich chen wir uns dann wieder. aus den ländlichen Regionen in die Ballungsgebiete fahren müssen, um überhaupt einen ihrer Qualifika- (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Sie stek tion entsprechenden Arbeitsplatz zu finden. Wenn -es ken ja auch dazwischen!) uns gelingt, wieder die Arbeit zu den Menschen zu Nun zum Vortrag des Vorsitzenden der Enquete bringen und nicht umgekehrt, leisten wir damit einen Kommission, Dr. Lippold. Die Bürgerinitiativen sind guten Beitrag zur Erhaltung der Umwelt und geben schon eine wichtige Sache. Wir können sie nicht ver- den Menschen in den ländlichen Regionen eine bieten. Ich glaube, gerade das Nachdenken über Poli- Chance für die Zukunft. tik und auch über die Form der Politik, das Herr Mül- ler gefordert hat, sind in der Auseinandersetzung in Auch der Weltluftverkehr darf bei unseren Überle- gungen nicht außen vor bleiben. Niedrige Schätzun- der Demokratie und für das Erlernen von Demokratie gen gehen von einer Verdopplung der heutigen Kapa- notwendig. Wenn das in den fünf neuen Ländern pas- zität bis zum Jahre 2000 aus. Die Wirkungen der siert, ist das gut. Ich denke, wir haben, wenn wir von Schadstoffemissionen aus der Luftfahrt auf das Welt- diesen Projekten überzeugt sind, die Chance, gemein- klima sind heute noch unklar und müssen zügig un- sam mit den Bürgerinitiativen unsere Meinung einzu- tersucht werden. bringen. Ich würde, wenn wir eine solche Bürgerin- itiative finden, Sie einladen, das gemeinsam zu tun. Auch der Themenkomplex Landwirtschaft und Zum vorliegenden Bericht. Dramatische Ankündi- seine Auswirkungen auf das Weltklima werden uns gungen haben wir im Bundestag schon eine ganze sehr bald beschäftigen. Ein Schwerpunkt werden die Menge gehört. So scheinen die drei großen, volumi- Emissionen von Methan aus Reisfeldern und Rinder- nösen Ergebnisbände der Enquete-Kommission der verdauung sein. Die Dringlichkeit von Konzepten zur letzten Legislaturperiode zur Vorsorge zum Schutz Methanemissionsreduktion erklärt sich aus dem ho- der Erdatmosphäre heute kaum jemanden so richtig hen Treibhauspotential des Spurengases Methan, das zu erregen. Dabei liest sich gerade der dritte Band um den Faktor 32 höher ist als das von CO2. dieser Serie wie das Szenarium zu einem Horrorfilm; Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum denn dort haben in mühseliger Kleinarbeit Sachver- Ende meiner Ausführungen kommen. Das größte Pro- ständige und Abgeordnete des Bundestages in er- blem jedoch ist das schnelle Wachstum der Weltbe- staunlicher Übereinstimmung viele Fakten über den völkerung. Mehr Menschen auf dieser Erde bedeu- ökologischen Zustand unserer Erde zusammengetra- ten: höherer Energieverbrauch, größerer Nahrungs- gen. Diese sind jedoch keine Phantasieprodukte, son- mittelbedarf, stärkere Inanspruchnahme der natürli- dern grausame Realität. Die übereinstimmende Ana- chen Ressourcen Boden und Wasser und gesteigerter lyse ist: Es bleibt nur noch wenig Zeit, die Erde vor Rohstoffbedarf. Wirkungsvolle globale Maßnahmen dem Sturz in die Unbewohnbarkeit zu retten. Wenn es zum Schutz der Erdatmosphäre werden nur unter Be- jetzt nicht 11.14 Uhr wäre, hätte ich gesagt: Es ist fünf rücksichtigung des Bevölkerungswachstums gefun vor zwölf. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3789

Dr. Klaus-Dieter Feige So kommt es nicht von ungefähr, daß in dieser Wer regenerative Energien einführen wi ll, wer auf Wahlperiode die Arbeit der Enquete-Kommission Energiesparen setzt, der kann nicht gleichzeitig auf fortgesetzt wird. Aber wie so oft in diesem Land, ge- eine verstärkte Auslastung der Atomenergie setzen, rade wenn es um die praktischen Konsequenzen geht, wie dies in der Beschlußempfehlung festgehalten wird speziell im Umweltbereich die besondere Träg- ist. heit der Parteien deutlich. Ich glaube, auch die Bun- Dies gilt gleichermaßen für die vorgesehene CO2- desregierung gibt dabei nicht gerade ein rühmliches Abgabe, so gut sie sein mag. Aber allein diese wird Beispiel ab. Wir sind von der Opposi tion immer ge- kaum etwas in die richtige Richtung bewegen. Wer neigt, zu übertreiben, wie die Koalition sagt. Aber ich lediglich auf eine solche Abgabe setzt — auch die habe auch in den Worten von Dr. Lippold einiges ge- Debatte in der EG-Kommission geht bedauerlicher- hört, was als Anregung an die Regierung geht, endlich weise in diese Richtung — , fördert die Atomenergie loszulegen. und straft alle sonstigen Beschlüsse Lügen. Dabei soll nicht in Abrede gestellt werden, daß die Nein, meine Damen und Herren, wer durchsetzen Beschlüsse des Bundeskabinetts vom vergangenen will, daß die Preise die Wahrheit sagen, der muß die November in die richtige Richtung zeigen. Aber wenn Subventionen für die Atomenergie streichen. Dann darüber hinaus nichts geschieht, sondern solche Be- wird man schnell sehen, daß diese A rt der Energie- schlüsse in der Praxis sogar konterkariert werden, erzeugung marktwirtschaftlich nicht tragbar ist. Oder dann verwundert es mich nicht, wenn Vertreter aller ist es der britischen Regierung gelungen, auch nur Fraktionen schon in der ersten Sitzung der Enquete- eine Atomanlage zu privatisieren? Kommission die mangelhafte bzw. fehlende Umset- zung der vorliegenden Vorschläge oder Beschlüsse Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Feige, Ihre durch die Regierung kritisieren. Redezeit ist abgelaufen. Als Abgeordneter aus Mecklenburg-Vorpommern habe ich mich besonders stark dafür gemacht, daß die Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE) : Er- Situation in den neuen Ländern in der Arbeit der lauben Sie noch einen Abschlußsatz: Ich glaube, daß Enquete-Kommission angemessen berücksichtigt wir endlich die eingefahrenen Gleise verlassen und wird. Ich habe mich gefreut, daß dieser Vorstoß breites die Weichen neu stellen müssen. Ich denke, daß wir in Verständnis gefunden hat. — So habe ich auch Ihre diesem Sinne gemeinsam — auch in der neuen En- Worte verstanden, Herr Dr. Lippold. quete-Kommission — einen neuen Geist der Politik Wie wenig die deutsche Einheit allerdings Eingang praktizieren müssen. Es reicht nicht aus, mit aller Kraft in die Köpfe gefunden hat, zeigt sich daran, daß weder die Notbremse des auf den ökologischen Abgrund in der heutigen zur Abstimmung stehenden Beschluß- zurasenden Schnellzuges zu ziehen. Vielmehr müs- empfehlung noch im Entschließungsantrag der sozial- sen wir den Zug gemeinsam in völlig neue Bahnen demokratischen Fraktion die neuen Länder auch nur lenken. annähernd erwähnt werden. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Meine Skepsis wird noch durch eine andere Tatsa- (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der che bestärkt: Sieht man sich nämlich die Herkunft der SPD und der PDS/Linke Liste) Abgeordneten in der Enquete-Kommission an, stellt man fest, daß es dort nur einen Abgeordneten aus den Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her- fünf neuen Ländern gibt. Und der ist auch noch Abge- ren, die Kollegin Jutta Braband möchte ihre Rede zu ordneter zweiter Wahl: Er hat nicht eimmal Stimm- Protokoll geben. Dazu bedarf es des Einverständnis- recht und darf auch keinen Sachverständigen benen- ses des Hauses. Darf ich das unterstellen? — Es erhebt nen. sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich glaube, dabei böte gerade die desolate wirt- Nun erteile ich das Wo rt dem Parlamentarischen schaftliche Situation in den neuen Ländern, die die Staatssekretär beim Bundesminister für Wi rtschaft, Rekonstruktion ganzer Branchen erforderlich macht, Herrn Abgeordneten Klaus Beckmann. die besondere Chance, die Erkenntnisse der Klima- Enquete großflächig umzusetzen. Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär beim Bun- Nicht nur aus umweltpolitischen Gründen wäre ein desminister für Wirtschaft: Herr Präsident! Meine sehr solcher Neuanfang begrüßenswert, sondern auch zur verehrten Kolleginnen! Liebe Kollegen! Auch der für dauerhaften Förderung eines wi rtschaftlichen Auf- die Energiepolitik federführende Bundesminister für schwungs mit der Schaffung unzähliger sinnvoller Ar- Wirtschaft hat im Oktober 1990 den Dritten Be richt beitsplätze. Dazu bedarf es aber auch mutiger zügiger der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Entscheidungen auf der Bundesebene. Da muß man Erdatmosphäre " begrüßt. Wichtige Vorschläge sind auch einmal bereit sein, Fehler einzugestehen und zu zwischenzeitlich vom Bundeswirtschaftsministerium korrigieren. umgesetzt worden Wenn tatsächlich — wie in der Beschlußempfehlung (Monika Ganseforth [SPD]: Welche denn?) nachzulesen — beispielsweise die Kraft-Wärme- — z. B. das Stromeinspeisungsgesetz, Frau Kollegin Kopplung oder die Fernwärme besonders gefördert Ganseforth, zugunsten der erneuerbaren Energien —, werden sollen, dann muß endlich auch der unselige (Monika Ganseforth [SPD]: Das kommt aus Stromvertrag vom Tisch gewischt werden. dem Forschungsausschuß!) (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei oder ihre Umsetzung steht unmittelbar bevor, wie im der SPD) Fall des Fernwärmesanierungsprogramms für die 3790 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Parl. Staatssekretär Klaus Beckmann neuen Bundesländer, wo jetzt die Bundesländer die frei ist, stellt sie eine Option für den Klimaschutz Form ihrer Beteiligung klären müssen. dar. Der Wirtschaftsminister wird mit seinem energie- (Zustimmung bei der CDU/CSU) politischen Gesamtkonzept weitere Überlegungen Die vieldiskutierte ungenügende Akzeptanz verdeut- der Enquete-Kommission aufgreifen. Damit wird ein licht hier den Zielkonflikt. wesentlicher Beitrag der Energiepolitik für die Har- Darüber hinaus — das will ich betonen — ist der monisierung von Ökonomie und Ökologie geleistet. notwendige internationale Abstimmungsprozeß für Für die Energiepolitik ist der Beschluß, bis zum den Klimaschutz ein Feld, das vorrangig bestellt wer- Jahre 2005 eine 25- bis 30 %ige Reduktion der CO2- den muß. Emissionen anzustreben, gemessen am internationa- Meine Damen und Herren, wir alle wissen, daß na- len Umfeld ein sehr ehrgeiziges Ziel. Da das vereinte tionales Vorgehen für eine effektive Klimaschutzstra- Deutschland zu etwa 90 % seinen Energiebedarf tegie nicht ausreicht. Ein globales Problem erfordert durch fossile Energieträger deckt, bedeutet dies not- auch globale Lösungen. Es sei daran erinnert, daß wendigerweise die Einsparung oder die Substitu tion eine 25 %ige CO2-Senkung bei uns nur zu einer ein- von ca. 110 Millionen t SKE an Braunkohle, Stein- prozentigen Senkung weltweit führen wird. Dies wird kohle, Mineralöl oder Gas. Es müssen erhebliche zu- bereits durch den steigenden globalen Energiever- sätzliche Anstrengungen bei der Energieeinsparung brauch innerhalb eines halben Jahres aufgezehrt. und der rationellen Energieverwendung unternom- Internationale Abstimmung und gemeinsames Vor- men werden. gehen sind aus ökonomischen wie auch aus ökologi- Die Enquete-Kommission hat darüber hinaus Vor- schen Gründen dringend erforderlich. Hierbei wer- stellungen zur weiteren CO2-Verminderung nach den wir uns mit unseren Partnern in der Europäischen 2005 entwickelt. In der Tat muß die Klimaschutzpoli- Gemeinschaft, mit den führenden Wirtschaftsnatio- tik langfristig angelegt sein. Dies mahnt uns aber nen und darüber hinaus mit unseren Wettbewerbern gleichzeitig zur Besonnenheit, denn diese Ziele sind im Welthandel abstimmen müssen. nur dann realisierbar, wenn Störungen des politischen Ich denke, daß verbindliche Beschlüsse in näherer und wirtschaftlichen Gleichgewichts vermieden wer- Zukunft allerdings am ehesten in der Europäischen den. Auch insoweit muß eine Versöhnung von Ökono- Gemeinschaft zu erreichen sind. Die Beschlüsse des mie und Ökologie stattfinden. Europäischen Parlaments zeigen dies ganz deutlich. Sie zeigen aber auch — Herr Präsident, wenn ich zum Die Bundesregierung hat in ihrem Kabinettsbe- Schluß kommen darf — die Zielkonflikte, die in der schluß vom 13. Juni 1990 festgelegt, daß sie bei der Förderung auf umfassenden Klimaschutz angelegt Realisierung der CO2-Reduktion die Auswirkungen sind, ohne bisher Lösungsansätze zu präsentieren. auf volkswirtschaftliche Ziele wie z. B. Beschäftigung, Wir sind auf einem Weg, auf dem wir noch Suchende wirtschaftliches Wachstum und die Sicherheit der sind. Energieversorgung beachten wird. 25 bis 30 % erfor- Vielen Dank. dern einen gravierenden Anpassungsprozeß in unse- rer Wirtschaft und beim Energieverbraucher. Zielkon- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — flikte sind dabei unvermeidbar und müssen politisch Franz Müntefering [SPD]: Möllemann als gelöst werden. Um sie zu begrenzen, ist es rational, Suchender!) Energieeinsparung prioritär dort durchzuführen, wo andere vorrangige politische Ziele gleichzeitig abge- deckt werden. Vizepräsident Hans Klein: Nun kann ich ja der Re- gierung nicht die Redezeit beschneiden, Herr Parla- Ich sehe dies besonders in den neuen Bundeslän- mentarischer Staatssekretär, aber ich will nur sagen, dern, wo die wirtschaftliche Entwicklung gefördert die Wendung: „Wenn ich zum Schluß kommen darf" werden muß und wo gleichzeitig die Energieeinspar- ist heute die dritte Va riante der Redezeitverlänge- potentiale groß sind. Eine positive wirtschaftliche Ent- rung. wicklung in den neuen Bundesländern durch die Mo- Frau Abgeordnete Monika Ganseforth, Sie haben dernisierung des Anlagen- und Gerätebestandes so- das Wort. wie durch Umstrukturierung auf eine umweltscho- nende Energieversorgung gehen Hand in Hand mit der Reduktion von CO2-Emissionen. Monika Ganseforth (SPD): Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Wieder einmal diskutieren wir im Auch in den alten Bundesländern wird sich trotz des Bundestag die Probleme des Klimas, der Gefährdung erreichten hohen Standards an Energieeffizienz ein unseres Planeten. Seit der letzten Debatte ist die Lage zusätzliches Poten tial erschließen lassen. Dies ist aber nicht besser geworden. Die Zeit verstreicht; die Treib- ungleich teurer als in den neuen Ländern. Wir müssen hausemissionen nehmen zu, und wir reden und tun deswegen darauf achten, daß gesamtwirtschaftlich nichts. Die notwendigen Maßnahmen werden nicht tragbare Lösungen gefunden werden. ergriffen. Zielkonflikte, meine Damen und Herren, entstehen Die wenigen Ansätze, die es noch aus der Regie- auch innerhalb der Energiepolitik, denn Steinkohle rungszeit Schmidt gab, um Energiesparmaßnahmen in den alten Bundesländern und Braunkohle in den oder regenerative Energien zu fördern, sind ausgelau- neuen Bundesländern müssen aus energie-, sozial- fen. Der Staatssekretär Beckmann hat hier das Ener- und regionalpolitischen Gründen in Zukunft einen gieeinspeisungsgesetz als eine Ini tiative des Wirt angemessenen Platz behalten. Da Kernenergie CO2- -schaftsministeriums gepriesen. Aber das ist nur die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3791

Monika Ganseforth halbe Wahrheit. Dieses Gesetz beruht auf einer müh- mit Unterstützung der Regierung die neuen Länder samen Zusammenarbeit des CDU/CSU-Abgeordne- aufgeteilt. Es gibt ja noch Prozesse; vielleicht läßt sich ten Engelsberger, der dem Parlament nicht mehr an- noch etwas retten. Aber da sind wichtige Möglichkei- gehört, des GRÜNEN-Abgeordneten Dr. Daniels und ten verspielt worden. Jedenfalls ist in bezug auf die mir, die ich auch beteiligt war. Wir haben uns im For- Gefährdung des Klimas seit der letzten Diskussion schungsausschuß — über Parteigrenzen hinweg — nichts besser geworden. zusammengesetzt und diese Kleinigkeit mühsam rea- Die naheliegenden Bedürfnisse der Menschen in lisiert. Und jetzt schmücken Sie sich mit diesen Fe den neuen Ländern werden mißbraucht, z. B. um das -dern. Das sind wirklich Mitnahmeeffekte. Maßnahmengesetz oder das Beschleunigungsgesetz Sie sprechen davon, daß es Zielkonflikte zu bewäl- durchzusetzen. tigen gibt. Das ist richtig. In diesem Zusammenhang (Zuruf von der SPD: Unerhört!) erwähnen Sie die Kernenergie. Auch da haben Sie recht. Das ist ein Zielkonflikt, aber es ist kein Zielkon- Damit wird genau das Gegenteil von dem erreicht, flikt der CO2-freien Kernenergie und des Klimaschut- was nötig wäre, nämlich Energiesparmaßnahmen, zes, sondern es ist ein Zielkonflikt zwischen den Inter- CO2-Reduktion und Aufbau anderer Strukturen. essen der Atomlobby und den Interessen des K lima- Nur eines hat sich seit der letzten Diskussion geän- schutzes. dert: Diesmal haben wir auch die Entschließung des (Beifall bei der SPD) Europäischen Parlaments vorliegen. Die Entschlie- Bung „Energie und Umwelt", im Juli 1991 von dem Da wird der Klimaschutz benutzt. Natürlich ist das ein Europäischen Parlament verabschiedet, umfaßt im Zielkonflikt. Wir haben aber in der Enquete-Kommis- großen und ganzen ähnliche Maßnahmen wie die, die sion in umfangreichem Maße nachgewiesen, daß Kli- wir in der Enquete-Kommission „Schutz der Erdat- maschutz möglich ist, ohne auf die Kernenergie zu mosphäre" angesprochen haben. Zum Beispiel: eine setzen. Im Gegenteil: Die Lösung der Probleme von grundlegende Änderung des Forschungs- und Ent- morgen ist nicht mit den Maßnahmen und den Instru- wicklungshaushalts dahingehend, daß die Ausgaben menten von gestern — dazu gehört die falsch struktu- im Energiebereich vorrangig für Techniken zur För- rierte Kernenergie — möglich. derung regenerativer Energien verwendet werden. (Beifall bei der SPD) (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Sehr Was von der Regierung inzwischen gemacht wird, richtig!) sind „Peanuts" ; ich nenne nur das 1 000-Dächer-Pho- Ich hoffe, das wird Wirklichkeit, und es passiert nicht, tovoltaik-Programm. Das ist natürlich ein Schritt in daß die Fusions- und Kernenergie, so wie bei uns, den die richtige Richtung, aber in fünf Jahren für die ganze größten Anteil ausmacht. Bundesrepublik 1 000 Dächer bereitzustellen, ist- wirklich lachhaft. Das lohnt nicht das Papier, mit dem (Beifall bei der SPD — Michael Müller [Düs der Forschungsminister da an die Öffentlichkeit geht. seldorf] [SPD]: Der neue Irrweg!) Es muß geklotzt und nicht gekleckert werden. Oder es wird gefordert, Investitionshilfen zu tätigen, Seit der letzten Debatte ist die Lage auch deswegen wenn das Kriterium des rationellen Umgangs mit nicht besser geworden, weil der Prozeß der Vereini- Energie berücksichtigt wird. Es werden z. B. die Kennzeichnung stromsparender Geräte und Anlagen gung unsere Aufmerksamkeit und die finanziellen Ressourcen fordert. Dabei würde es die Gestaltung und verständliche Informationen gefordert. Das ist der Einheit möglich machen, die Weichen neu zu stel- eine Forderung, die wir auch in der Enquete-Kommis- len und die neuen Strukturen so aufzubauen, wie sie sion gestellt haben und deren Erfüllung nicht viel ko- den Empfehlungen der Klima-Enquete entsprechen. sten würde und durchgesetzt werden müßte. Dies wäre nicht so teuer, als wenn funktionierende Das Parlament schlägt den Einsatz ökonomischer Strukturen umgebaut werden müssen, z. B. in der Instrumente zur Energie- und CO2-Einsparung vor. Es Energieversorgung, im Verkehr, in der Abfallpolitik, werden Anreize zum Bau von Kraft-Wärme-Kopplung in der Landwirtschaft. — das ist jetzt ein wörtliches Zitat — auf der Grund- lage der Nähe von Stromerzeugung und Verbrauch In allen diesen Bereichen wäre es möglich, die nöti- von Energie und Wärme gefordert, also zur Dezentra- gen Investitionen so zu tätigen, daß Fehlentwicklun- lisierung. Ich habe soeben den Stromvertrag in den gen, die wir hier erlebt haben, vermieden werden und neuen Ländern angesprochen; er ist ein Schritt genau z. B. die Empfehlung zur CO2-Reduktion durchgesetzt in die falsche Richtung. werden könnte. Hier findet man eine merkwürdige Mischung aus Unwissenheit der Menschen in den Das Parlament fordert eine Abgabe, durch die eine neuen Ländern, knallharten Interessen bei uns und übermäßige Stromerzeugung zu Heizzwecken verrin der mangelnden Bereitschaft der Regierung, den Pro- gert werden soll. Wie richtig! zeß der Einheit zu gestalten — nach dem Motto: es Das Europäische Parlament — jetzt bringe ich ein wird sich alles von selber richten. Damit wird diese wörtliches Zitat — „ist der Ansicht, daß die Senkung Möglichkeit verspielt. des Energieverbrauchs im Verkehrssektor vorrangig Ein wichtiges Beispiel sind die Stromverträge. Wir erscheint und eine bewußte Politik einerseits der För- haben es hier heute schon angesprochen. Da werden derung des öffentlichen Transports, insbesondere des die Möglichkeiten wirklich verspielt, dezentrale, städtischen Transports, und andererseits der Förde- energiesparende Stromstrukturen aufzubauen. Statt rung des Güterfernverkehrs auf der Schiene an Stelle dessen haben sich die drei großen Energieanbieter des Straßentransports erfordert. " Das sagt das Euro- 3792 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Monika Ganseforth päische Parlament. Angesichts dieser Forderungen Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Parla- kommt allerdings Skepsis auf. Ebenso wie bei den mentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Bundestagsbeschlüssen entsteht auch hier der Ein- Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Dr. Ber- druck, daß der Ministerrat bzw. die Regierung nicht tram Wieczorek. umsetzt, was das Parlament oder der Bundestag be- schließt. Wir haben ja auch tolle Beschlüsse gefaßt. Nach den Erfahrungen hier im Bundestag bin ich sehr skeptisch, inwieweit diese Beschlüsse in die Tat um- Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär beim gesetzt werden. Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reak- torsicherheit: Herr Präsident! Meine Damen und Her- (Zurufe von der SPD: Sehr richtig! — Lei- ren! Ich denke, wir sind uns alle darüber einig — — der!) (Zuruf von der SPD: Heißen auch Sie Befragungen der Bürgerinnen und Bürger zeigen, Wieczorek?) daß in der Bevölkerung sowohl der Teil der Zyniker als auch der Teil derer zunimmt, die nach den Erfah- —Ja, auch ich heiße Wieczorek. Wir sind vier im Bun- rungen, die sie mit Politik machen, resignieren. Dazu destag. Das ist doch sehr schön. kommt die Gruppe derer, die die Probleme verdrän- (Detlev von Larcher [SPD]: Sind Sie denn alle gen. verwandt?) Das Thema Umweltschutz ist aus den Schlagzeilen — Vom Namen her wären wir mehrheitsfähig; aber, verschwunden, ohne daß es für die Menschen an Be- bitte, ich habe nur acht Minuten. deutung verloren hat. Umfragen zeigen, daß die Er- Meine Damen und Herren, wir sind uns alle darüber wartung wächst, daß die Regierung endlich handelt, einig, daß der Mensch durch sein Eingreifen in den daß sie Grenzen setzt und Einschränkungen verlangt. Naturhaushalt, insbesondere durch die heute welt- Die Bereitschaft der Menschen, Einschränkungen zu weit dominierende Art der Energieversorgung, die akzeptieren, wächst. Allerdings nimmt die Bereit- Abholzung der tropischen Regenwälder, das Klima schaft ab, weiterhin individuelle Vorleistungen zu er- der Erde dauerhaft verändert und damit Auswirkun- bringen. Es werden endlich Maßnahmen verlangt. Ich gen dramatischen Ausmaßes auslösen kann. Es muß kann das verstehen. Es wird zunehmen, wenn unsere einfach noch einmal daran erinnert werden, daß nach Regierung und der Ministerrat in Brüssel nur reden wie vor — ich sage das ganz bewußt auch als Ostdeut- und nicht handeln, wenn weiter nichts passiert. scher — 20 % der Menschheit 80 % der Energieres- Das peinliche Lavieren bei der Geschwindigkeits- sourcen verbrauchen. Sie haben auf die Entwicklung begrenzung ist ein unglaubliches Beispiel dafür, wie hingewiesen. man sich blamieren kann. Diese globale Frage hat im politischen Raum auf allen Ebenen zunehmend außerordentliche Akualität (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Li- erlangt. Das zeigt sich nicht zuletzt in den uns hier ste) heute vorliegenden Entschließungen. Es geht dabei nicht nur um die Maßnahme der Ge- Die Veränderung der Erdatmosphäre, der zusätzli- schwindigkeitsbegrenzung. Begreifen Sie doch, daß che Treibhauseffekt, die daraus resultierenden Klima- das inzwischen auch symptomatisch für das Durchset- änderungen und deren Folgewirkungen, die Bedeu- zen von Maßnahmen der Regierung geworden ist. Die tung der klimarelevanten Emissionen aus dem Ener- Bevölkerung kann dieses Thema nicht mehr hören giebereich, der Abbau der Ozonschicht in der Stra- und erwartet, daß endlich etwas getan wird. Der Zy- tosphäre, die Vernichtung der tropischen Regenwäl- nismus, die Resignation und die Verzweiflung der der sowie das großflächige Waldsterben in den mittle- Menschen werden wachsen, das Vertrauen in die Po- ren und nördlichen Breiten stellen eine Gefährdung litik wird untergraben, wenn nicht endlich durchgrei- für die gesamte Menschheit und die Biosphäre der fende Strukturveränderungen eingeleitet werden. Erde dar. Denken Sie nur an das Erzgebirge und die Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir arbeiten in der gewaltige Herausforderung, die uns hier bevorsteht. Enquete-Kommission weiter. Aber ich bin und wir Im Unterschied zu den bisherigen Umweltgefahren, sind nur dann bereit, da wirklich mitzumachen, wenn die sich lokal, regional oder schlimmstenfalls grenz- es nicht zu einer Alibi-Veranstaltung wird und die überschreitend bemerkbar machten, handelt es sich gravierenden Themen von der Landwirtschafts- über nunmehr um eine weltweite Bedrohung. Werden die Verkehrspolitik wirklich so angefaßt werden, daß keine wirksamen Gegenmaßnahmen ergriffen, ist mit wir nicht nur reden und reden und Papiere und Bücher dramatischen Folgen zu rechnen. Langfristig gesehen verfassen, sondern daß etwas dabei herauskommt, wird es in diesem Spiel keine Gewinner geben. Lang- was man sehen kann, was getan wird, daß die Emis- fristig werden sowohl die Menschen in den Industrie- sionen abnehmen, daß gehandelt wird; sonst sind wir ländern als auch erst recht die Menschen in der Drit- nicht bereit, da mitzumachen. Das sind wir der Bevöl- ten Welt auf der Verliererseite stehen. kerung, das sind wir unserem Planeten schuldig. Meine Damen und Herren, durch die Freisetzung Schönen Dank. anthropogener Spurengase hat sich die Zusammen- setzung der Erdatmosphäre bereits deutlich geän- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste dert. Hier besteht ein weitgehender wissenschaftli- sowie des Abg. Dr. cher Konsens über die hiervon ausgehenden Bedro- [Bündnis 90/GRÜNE]) hungen. Der Schutz der Erdatmosphäre gehört damit Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3793

Parl. Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek zu den größten umweltpolitischen Herausforderun- — also nicht Spekulation — im großen und ganzen gen unserer Zeit. zusammenfassen. (Zuruf von der SPD: Richtig!) Parallel zu den Arbeiten der Enquete-Kommission Wir werden dieser Herausforderung nur dann ent- hat die Bundesregierung ihr CO2-Minderungskon- sprechen können, wenn wir national wie international zept entwickelt und zwei auch auf internationaler eine Politik der Vorsorge betreiben und Umweltpolitik Ebene außerordentlich beachtete Beschlüsse gefaßt, mehr und mehr als Gesellschaftspolitik begreifen. die Ihnen allen bekannt sind. Wenn wir dieses ehrgei- zige Ziel im Jahre 2005 erreichen wollen, dann spre- (Dr. Klaus-Dieter Feige [Bündnis 90/ chen wir von einer Minderung von immerhin 300 Mil- GRÜNE]: Dazu ist ein Kurswechsel erf order lionen t CO2-Emissionen bei einem Stand von 1 Milli- -lich! ) arde t im Jahre 1987. bedeutet demnach, globalen Be- Aktive Klimapolitik Gleichzeitig mit der Entschließung vom 7. Novem- drohungen frühzeitig wirksam zu begegnen. Hierbei ber ist ein umfangreiches Maßnahmenbündel verab- müssen sich nationales und internationales Handeln schiedet worden. Aus Zeitgründen möchte ich das wechselseitig verstärken. jetzt nicht im einzelnen ausführen. Aber ich möchte Die vor uns liegenden Entschließungen des Euro- angesichts der Äußerung, lieber Herr Müller, es päischen Parlaments sowie die Beschlußempfehlung werde nur gequatscht, doch noch auf die heftige Dis- und der Be richt des Umweltausschusses des Deut- kussion über das Abfallabgabengesetz, die zur Zeit schen Bundestages zeigen, daß sowohl national als entbrannt ist, hinweisen. Denn das Abfallabgabenge- auch innerhalb der Europäischen Gemeinschaft eini- setz steht in engem Zusammenhang z. B. mit der ges in Bewegung gekommen ist. Emissionsproblematik. (Zuruf von der SPD: Zuwenig!) Ich möchte zum Schluß nur noch darauf hinweisen, — Ich komme noch darauf zu sprechen. — Unter Beto- was alles in dieser Legislaturperiode weiterhin ge- nung der großen Verantwortung der Industrieländer plant ist. Wie Sie wissen, sind dies: Novellierung des für eine lebenswerte Umwelt auf unsrem Planeten Energiewirtschaftsgesetzes, Überprüfung des Ener- enthalten die Entschließungen durchaus ehrgeizige gieeinsparungsgesetzes, Wärmeschutzverordnung, Zielsetzungen, die deutliche Parallelen zur Einschät- Heizanlagenverordnung, 1. BImschV, Vorlage einer zung dieses Problems durch die Bundesregierung Wärmenutzungsverordnung auf der Grundlage des oder auch zu den Zielformulierungen aufweisen, die Bundes-Immissionsschutzgesetzes. die Enquete-Kommission in ihrem Dritten Be richt Ich halte die vor uns liegende Beschlußempfehlung „Schutz der Erde " empfiehlt. für ein weiteres Beispiel dafür, wie sich Parlament und Betrachtet man den vom Europäischen Parlament Regierung in einer für uns alle wichtigen Frage die aufgelisteten Maßnahmenkatalog, so wird man deut-- Bälle zuspielen können. Ich denke, daß die vergange- liche Überschneidungen mit dem von der Bundesre- nen Jahre hier cum grano salis ein interessantes Mo- gierung am 7. November 1990 beschlossenen CO2- dell für ein solches Miteinander darstellen. In diesem Minderungskonzept feststellen. Ferner sind Überein- Sinne wünsche ich mir, daß die vor uns liegende Be- stimmungen mit den Maßnahmenempfehlungen im schlußempfehlung heute mit einer großen Mehrheit in Dritten Bericht der Enquete-Kommission nicht zu ver- diesem Hohen Haus verabschiedet wird. kennen. Als Ostdeutscher möchte ich noch etwas sagen Im übrigen beziehen sich die Schlußfolgerungen — da stimmen wir überein, Herr Feige — : Wir haben des Europäischen Parlaments auch auf einen, wie ich in den neuen Bundesländern die einzigartige Chance, meine, außerordentlich wichtigen Beschluß, den der unsere umweltpolitischen Vorstellungen umzusetzen gemeinsame Rat der EG-Umwelt- und -Energiemini- durch einzigartige Innovationen und den modellhaf- ster am 29. Oktober 1990 gefaßt hat. Dieser Beschluß ten Ausbau z. B. auch im Bereich der Energieversor- ist Ihnen bekannt. Er weist darauf hin, daß wir die gung. Wir sollten diese Vorstellungen gemeinsam CO2-Emissionen stabilisieren und nach dem Jahr umsetzen. Sie wissen ganz genau, welche Situa tion 2000 deutlich spürbar verringern wollen. wir im Energiesektor haben, um auf den Stromvertrag Hiermit möchte ich mich dann der Beschlußempfeh- einzugehen, den wir im Jahre 1990 hatten. Lassen Sie lung und dem Be richt des Umweltausschusses zuwen- doch bitte die Klage der Thüringer Bürgermeister vor den. Ich denke, hier ist die Gelegenheit, um auf die dem Bundesverfassungsgericht erst einmal durchlau- geradezu beispielhafte Zusammenarbeit und gegen- fen. Dann werden wir uns darüber neu unterhalten. seitige Ergänzung — das möchte ich hier noch einmal ausdrücklich sagen — von Parlament und Regierung (Zuruf von der SPD: Das Bundesverfassungs einzugehen. Dieses Hohe Haus hat in der zurücklie- gericht!) genden Legislaturperiode bereits sehr früh die natio- — Das ziemt die Achtung vor diesem Gericht. Ich nal und international zunehmenden Hinweise auf die denke, daß ich das als neuer Bundesbürger richtig bedrohlichen Veränderungen in der Erdatmosphäre sehe. aufgegriffen und die Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" ins Leben gerufen. Liebe Frau Ganseforth, ganz zum Schluß noch ein Dieses Gremium hat Beachtliches geleistet. Heute lie- Hinweis: Die Situation in den neuen Bundesländern gen uns drei Berichte vor, die nicht nur national, son- hat sich zunächst einmal dramatisch verbessert. Wir dern vor allem auch international große Beachtung wissen natürlich, daß das etwas mit Arbeitslosigkeit gefunden haben und den heutigen Stand des Wissens zu tun hat. Die Sensibilität unserer Bürger für Umwelt- 3794 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Parl. Staatssekretär Dr. Ber tram Wieczorek probleme ist größer, als manch einer hier in der Alt- schaft. Wettbewerbsvorteile durch Geschwindigkeit bundesrepublik denkt. sind nur im Bereich der elektronischen Kommunika- Vielen Dank. tion auf der Schiene und in der Luft zu erzielen. Auf der Straße und im Individualverkehr ist der Zeitge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) winn verschwindend gering, wird durch erhöhten Streß des Fahrers wieder zunichte gemacht und steht Vizepräsident Helmuth Becker: Weitere Wortmel- in keinem aktzeptablen Verhältnis zum Risiko für Leib dungen liegen nicht vor. Ich schließe die Ausspra- und Leben. che. Die menschliche, energetische, ökologische und Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf wirtschaftliche Bilanz des Schnellfahrens ist misera- den Drucksachen 12/944 und 12/945, Entschließun- bel. Sie rechtfertigt in keiner Weise den hohen Auf- gen des Europäischen Parlaments, an die in der Ta- wand und die volkswirtschaftlichen Schäden, die bei gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Hochgeschwindigkeitsfahrten in Kauf genommen Sind Sie damit einverstanden? — Gibt es andere Vor- werden müssen: höheres Sicherheitsrisiko mit mehr schläge? — Nein. Dann sind die Überweisungen so Verkehrstoten und -verletzten, mehr Streß für die be- beschlossen. teiligten Menschen, höherer Energieaufwand, mehr Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Be- Emissionen. schlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Na- (Zuruf von der SPD: Der Minister sollte zu turschutz und Reaktorsicherheit auf der Drucksache hören!) 12/1136. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Sehr geehrter Herr Minister, es geht hier um ein — Wer stimmt gegen diese Empfehlung? — Stimment- Thema, das insbesondere von Ihnen immer wieder haltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit angesprochen wird. den Stimmen der Koalitionsparteien gegen die Stim- men der SPD, des Bündnisses 90/GRÜNE und der (Zuruf von der SPD: Der Minister steht da PDS/Linke Liste angenommen. hinten!) Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag — Herr Minister Krause, ich habe Verständnis dafür, der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1190 ab. Wer daß Sie auf Grund bestimmter tagespolitischer Ereig- stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Wer nisse jetzt nicht zuhören können. Doch bitte ich Sie, da stimmt gegen diesen Entschließungsantrag? — Dann es jetzt um Ihr Thema geht, ein Thema, das die Men- ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen dieser schen in diesem Land berührt, nach vorn zu kom- Entschließungsantrag abgelehnt. men. Wir stimmen jetzt noch über den Entschließungsan- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und trag der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE auf Drucksache dem Bündnis 90/GRÜNE) 12/1209 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-- Herr Minister, wir warten immer noch auf Sie. Es ist trag? — Wer stimmt gegen diesen Entschließungsan- auch ein Gebot der Höflichkeit und der Fairneß, daß trag? Die Mehrheitsverhältnisse sind die gleichen. Der Sie hier erscheinen. Entschließungsantrag ist abgelehnt. (Zuruf von der SPD: Flegel!) Meine Damen und Herren, die abenteuerlichen ar- Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 10 auf: gumentativen Verrenkungen der „No-Limit-Lobby" Beratung des Antrags der Abgeordneten Ha- zeigen, daß angesichts der drückenden Flut von Fak- rald B. Schäfer (Offenburg), Klaus Dauberts- ten für ein Tempolimit nach dem letzten, dem wirk- häuser, Klaus Lennartz, weiterer Abgeordneter lich letzten Strohhalm gegriffen wird. So ist angeblich und der Fraktion der SPD der Exporterfolg der deutschen Automobilindustrie in Mehr Umweltschutz, Verkehrssicherheit und Gefahr, wenn deren Rennmodelle nicht mehr den Härtetest auf limitlosen deutschen Autobahnen nach- Lebensqualität durch Geschwindigkeitsbe- weisen können. grenzungen — Drucksache 12/616 — (Unruhe) Überweisungsvorschlag: —Ich hätte nichts dagegen, wenn die Kommunikation Ausschuß für Verkehr (federführend) zwischen Präsidium und Abgeordneten aufhörte, da- Innenausschuß mit ich meine Rede ungestört fortsetzen kann. Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Zuruf von der CDU/CSU: Es wäre besser, wenn Sie Präsident wären!) Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Ich höre und — Nein, der Präsident ist nicht gemeint. sehe keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlos- sen. Vizepräsident Helmuth Becker: Die notwendige Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Ruhe wird hergestellt. zunächst unserem Kollegen Klaus Lennartz.

Klaus Lennartz (SPD): Herr Präsident! Meine sehr Klaus Lennartz (SPD): Ich bedanke mich bei Ih- verehrten Damen und Herren! Hochgeschwindig- nen. keitsfahrten mit Kraftfahrzeugen sind ein Anachro- Wer hindert eigentlich unsere Automobilbauer nismus unserer modernen Kommunikationsgesell- daran, ihr hohes technologisches Wissen und ihre Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3795

Klaus Lennartz Kreativität in komfortable, hochsichere und ver- Das wird auch mit der Zeit jene Bleifußdynamiker brauchsarme Kraftfahrzeuge zu stecken, die auf dem überzeugen, die heute noch glauben, sie hätten einen Weltmarkt ihresgleichen suchen und zum Export- Vorteil, wenn sie zwischen Frankfu rt und München schlager deutscher Wertarbeit werden können? Das mit viel Gas und Lichthupe eine halbe Stunde Fahrzeit ist doch die Aufgabe der Zukunft! einsparen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Statt dessen wird daran getüftelt, wie sich die Motor- Warum, meine Damen und Herren, fällt es uns leistung ab 240 km/h drosseln läßt. Es ist schon er- Deutschen so schwer, in dieser Frage Vernunft zu zei- staunlich, wie selbstverständlich ein ganzer Indu- gen. Entschuldigung, ich muß mich korrigieren. Ich striezweig über den öffentlichen Straßenraum und die meine nicht die deutsche Bevölkerung; denn da wis- Gesundheit der betroffenen Menschen verfügt, abge- sen wir ja bereits durch Umfragen, daß die Mehrheit schirmt von einer Bundesregierung, die in Sachen für ein Tempolimit ist. Man muß diese Frage an die Tempolimit weltweit den Saurier spielt. Bundesregierung richten. Wo politische Vorgaben fehlen, fällt gewöhnlich die Die Kraftwerksemissionen haben wir im europäi- Orientierung schwer. Die letzte IAA in Frankfurt hat schen Vergleich — auch mit Ihrer Hilfe — beispielge- dies sehr deutlich gezeigt: Die Automobilindustrie bend reduziert; auch bei der Abwasserreinigung sind treibt mangels politischer Ziele seltsame Blüten und wir federführend. torkelt konzeptionslos zwischen Öko-Auto-Schnick- Aber, meine Damen und Herren: Ohne Tempolimit schnack und neuen „SSS"-Mode llen: schneller, behindern wir EG-weite Einigungen auch in anderen schwerer, Spritfresser. Umweltfragen. Dabei ist doch jedem Kind klar, daß der Automobil- Meine Damen und Herren, man muß sich folgendes verkehr der Zukunft der individuellen Entfaltung mit- vorstellen: Der Bundeskanzler richtet einen soge- tels Geschwindigkeit immer weniger Raum bieten nannten Nationalen Rat ein, wir bereiten die Weltkli- wird — selbst wenn man das bedauert. Immer mehr makonferenz 1992 vor, sind aber nicht bereit, am heu- Kraftfahrzeuge in unserem dichtestbesiedelten Land tigen Tage auch mit eigener Kraft etwas zu tun, um schaffen Fakten, zwischen denen die Träume eines Schadstoffe zu begrenzen. Schauen Sie sich einmal Asphaltcowboys keinen Platz mehr haben. die heutige Tagesordnung in den Punkten 9 und 10 Meine Damen und Herren, die Automobilindustrie an. Man muß schon fast einen Glückwunsch ausspre- fiebert förmlich nach verläßlichen politischen Vorga- chen, wenn jemand versucht, darzustellen, wie un- ben, nach verkehrs- und umweltpolitischen Rahmen- glaubwürdig die Mehrheit dieses Parlaments ist. Sie bedingungen für ihre zukünftige Modellpolitik. Die fordert von Dritten und Vierten etwas, ist aber nicht Hintergrundgespräche der SPD-Fraktion mit Vertre- bereit, mit eigener Kraft, mit Mehrheit hier zu be- tern der deutschen Automobilindustrie haben es ge- schließen, daß es zu einem Tempolimit kommt. Durch zeigt: Die Automobilindustrie wartet auf Hilfestellun- ein Tempolimit könnten von sofort an erhebliche gen, auf Fakten, die von der Politik vorgegeben wer- Emissionen weggewischt werden. den sollen. Sie hofft auf die Hilfe der Politik, um wirt- Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen einige schaftlichere und umweltgerechtere Fahrzeuge im Zahlen nennen: Bei Tempo 120 auf unseren Autobah- Markt durchsetzen zu können. Das ist die Frage; nen würden jährlich 410 000 Tonnen Kraftstoff ge- darum geht es hier! spart, 30 000 Stickoxide und 1,3 Millionen Tonnen Trotz alledem scheint es, als wollte die Bundesre- Kohlendioxid weniger in die Luft geblasen; bei gierung die Tempofrage am liebsten wie das Tabak- Tempo 90 auf Landstraßen würden ca. 250 000 Ton- rauchen behandeln: Unter dem doppelten Heckspoi- nen Kraftstoff und 1 Million Kohlendioxid gespart; bei ler eines auf 220 km/h getrimmten Kleinwagens wird Tempo 30 in allen Wohngebieten würden 140 000 ein kleiner Aufkleber mit dem Aufdruck „Autofahren Tonnen Kraftstoff und 400 000 Tonnen Kohlendioxid kann Ihre Gesundheit gefährden — der Bundesver- gespart. kehrsminister und der Bundesumweltminister" an- Summa summarum könnten mit einem Federstrich gebracht. in der Bundesrepublik pro Jahr mehr als 1 Million (Heiterkeit und Beifall bei der SPD — Zuruf Tonnen Kraftstoff und 3 Millionen Tonnen Kohlendio- von der SPD: Da hört der Minister zu!) xid entfallen, wenn man unseren Vorschlag, die Lkw- Höchstgeschwindigkeit mit Geschwindigkeitsreglern Meine Damen und Herren, wer einmal bei unseren und elektronischen Fahrtenschreibern wirksam europäischen Nachbarn oder in den Vereinigten Staa- durchzusetzen, noch hinzurechnet. Dies könnte mit ten von Amerika längere Strecken mit dem Auto ge- einem Federstrich geschehen, meine Damen und Her- fahren ist, muß den Segen eines Tempolimits förmlich ren. gespürt haben. Man kann im doppelten Sinne des Wortes „beruhigt" fahren. Weil es keine hohen Ge- (Beifall bei der SPD sowie beim Bündnis 90/ schwindigkeitsdifferenzen zwischen den einzelnen GRÜNE) Fahrzeugen gibt, fährt man in einer entspannten At- Aber, meine Damen und Herren, wir geben die Hoff- mosphäre und kann sich selbst bei dichteren Ver- nung — das prägt die Menschen — ja nicht auf. kehrslagen jederzeit leicht und sicher auf Verände- Während unser Verkehrsminister bei den Promil- rungen einstellen. legrenzen dogmatisch bleibt und ihm die Höchstge- (Zuruf von der CDU/CSU: Traumhaft ist schwindigkeit auf den Autobahnen schnurzegal ist, das!) während sich unser Umweltminister nach wie vor 3796 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Klaus Lennartz nicht so recht an die Sache herantraut und nur gele- Geschwindigkeitsbeschränkungen erhöhen die gentlich in großformatigen Zeitungen andeutet, man Verkehrssicherheit nicht, senken den Schadstoff- könnte mit der SPD darüber reden — es gibt ein ausstoß nur minimal und tragen kaum dazu bei, „Zeit" -Interview, das jedoch nächste Woche wieder Energie zu sparen. widerrufen wird —, heute morgen im Rundfunk (Lachen bei der SPD) wurde das gleiche wieder formuliert, weiß man nicht, Wieviel kann bei uns auf den wer sich da durchsetzt: der amtierende Verkehrsmini- Straßen überhaupt in sogenannter freier Fahrt gefahren werden? Das ster oder der redende Umweltminister? Diese Frage ist Ge- hat eine Länge von 626 000 km, davon ein bißchen offen. Aber heute besteht ja die Möglich- samtnetz 10 700 km Autobahn. Das ist ein Anteil von 1,7 %. Für keit, daß wir hier eine Entscheidung treffen. 5 500 km gilt kein Tempolimit. Das heißt, wir unter- Meine Damen und Herren, ich sagte, es zeichnet halten uns hier über ganze 0,8 % des gesamten öffent- sich eine — wohlgemerkt — Koalition der Vernunft lichen Straßennetzes in Deutschland, das nicht ge- ab. Hier sehe ich, Herr Kollege Müller, die Möglich- schwindigkeitsbeschränkt ist. keit eines Zusammenarbeitens mit der CSU. Man höre (Zuruf von der SPD: Dann könnten wir es ja und staune: Dort gibt es einen Umweltarbeitskreis. machen!) Dieser Umweltarbeitskreis der CSU formuliert nicht nur deutlich, sondern schreibt sogar nieder, er sei der Auffassung, ein Tempolimit müsse her. Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Fi- scher, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen (Zuruf von der SPD: Sehr vernünftig!) Schütz? So bröckelt langsam die Front derjenigen, die un- verdrossen der Fiktion der freien Fahrt in einer Zeit Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Gerne. nachhängen, meine Damen und Herren, in der die Freiheit des fahrenden Bürgers oft nur noch darin be- Dietmar Schütz (SPD): Herr Kollege Fischer, stim- steht, sich aussuchen zu können, auf welcher Radio- men Sie mit mir überein, daß es nicht auf den Umfang welle er den Stau, in dem er gerade festsitzt, angesagt des Netzes ankommt, sondern auf den prozentualen bekommen möchte. Anteil des Verkehrs darauf? Und hier liegt es anders. Gottlob sind die Tage gezählt, die die Bundesrepu- Da haben wir 30 % zu 70 %. blik als einziger Industriestaat der Welt ohne Tempo- limit zubringen muß. Denn die Vernunft, meine Da- Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Das ist nicht men und Herren, wird sich durchsetzen. dargelegt. Die Zahlen, die ich angeführt habe, ma- Es bleibt nur noch die Frage an die Kollegen und chen deutlich, über welchen Netzanteil und welches Kolleginnen der Koalition, wann und wie sie den Ab- Problem in welcher Dimension wir überhaupt reden, sprung schaffen und von der Parole „Freie Fahrt für während Sie den Eindruck erwecken, daß wir es hier freie Bürger" zu der Devise „Reisen statt rasen" kom-- mit einem umfassenden Problem der Bundesrepublik men. Deutschland zu tun haben. Das Gegenteil ist richtig. Ich bedanke mich bei Ihnen. Vizepräsident Helmuth Becker: Gestatten Sie noch (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und eine Zwischenfrage des Kollegen Lennartz? — Bitte. dem Bündnis 90/GRÜNE) Klaus Lennartz (SPD): Herr Kollege, ist Ihnen be- kannt, daß von 100 km, die insgesamt gefahren wer- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt dem Abgeordneten Dirk Fi- den, 27 km auf Autobahnen gefahren werden, daß scher das Wort. von 10 Litern pro 100 Kilometer, die verbraucht wer- den, 3 Liter auf Autobahnen verbraucht werden? Ist Ihnen bekannt, daß auf den von Ihnen angesproche- nen 5 500 km Autobahn der CO2-Ausstoß überpropor- Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU) : Herr Präsi- dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Re- tional hoch ist, und ist Ihnen bekannt, daß es dort den höchsten Stickoxidausstoß gibt? Sind das Zahlen, die striktive Regelungen des Staates bedürfen einer ra tio- nalen Begründung, damit Bürgerinnen und Bürger sie Ihnen bekannt sind? akzeptieren. Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Herr Kollege, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU wenn Sie aufmerksam zuhören würden, würden all — Zuruf von der SPD: Die haben Sie gerade diese Fragen von mir in meinem weiteren Beitrag be- gehört!) antwortet werden. Aber Ihre Frage ist ein gutes Bei- Sie dürfen, wenn man die Dinge überprüft, in Wahr- spiel für eine rein eindimensionale und sektorale Be- heit nicht mehr Schaden als Nutzen stiften, und die trachtung. Denn ich sage: Gott sei Dank werden fast Probleme müssen im Verbund und dürfen nicht nur 29 % aller Fahrleistungen auf ganzen 1,7 % des Net- sektoral betrachtet werden. Das sind die Vorgaben, zes abgewickelt. Dabei sind die Autobahnen die si- sich diesem Thema in einer vernünftigen Weise zu chersten Straßen. Wenn wir die nicht hätten, hätten nähern. wir eine Unfallbilanz wie zu Zeiten einer SPD-Regie- Wenn ich das Ergebnis vorwegnehme, würde ich rung im Jahre 1970, das Zitat aus dem ersten Satz der Begründung des (Detlev von Larcher [SPD]: Wie schön! — SPD-Antrags, wenn es auf den richtigen Stand ge- Susanne Kastner [SPD]: Damit sind wir wie bracht würde, wie folgt formulieren: der beim Thema!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3797

Dirk Fischer (Hamburg) als wir bei viel weniger Straßenkilometern, bei einem nehmer Tempo 100 überhaupt akzeptiert und beach- viel geringeren Kfz-Bestand und, Herr Kollege Len- tet haben. nartz, bei viel geringeren Fahrleistungen fast 20 000 (Zuruf von der SPD: Aber jetzt akzeptieren Verkehrsunfalltote hatten; heute sind wir bei einem sie es!) Drittel dieser Zahl. Deswegen kann ich nur nachhaltig davor warnen, dieses Thema eindimensional zu be- Tempo 100 auf dem Kölner Autobahnring brachte trachten, wie das die SPD tut. ähnliche Erfahrungen. Trotz intensivster Radarkon- trollen wurde das Tempolimit von mehr als der Hälfte (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der der Autofahrer überschritten. SPD: Steigerung: 20 % auf Autobahnen!) (Klaus Lennartz [SPD]: Anfangs!) Meine Damen und Herren, unser Problem ist, daß Ich kann nur sagen: Ich bin es mittlerweile leid, sich die jährliche Fahrleistung nicht gleichmäßig auf alle Strecken verteilt. Wenn bei geschätzten 25 % Au- (Zuruf von der SPD: Macht nichts!) tobahnfahrleistung weitgehend freie Fahrt möglich die von Herrn Dr. Antwerpes, dem Regierungspräsi- ist, sind das knapp 1 000 km. Nicht alle wollen schnel- denten von Köln, ler fahren. (Klaus Lennartz [SPD]: Sehr guter Mann!) (Dietmar Schütz [SPD]: Dann machen Sie es immer wieder in der Öffentlichkeit behaupteten f al- doch, wenn es nicht darauf ankommt!) schen Zahlen durch Briefe zu widerlegen. Ich schreibe Nach Einschätzung der BASt nutzen 60 % diese Mög- ihm keinen Brief mehr. Ich nehme nur zur Kenntnis, lichkeit. Das heißt, es werden durchschnittlich 600 Ki- daß es Methode bei ihm hat, mit Horrorzahlen, die in lometer, also 4 % bis 5 % der Jahresfahrleistung eines der Regel 100 % höher als die wirk lichen Zahlen sind, Pkw, schneller als mit der Richtgeschwindigkeit 130 zu hantieren. Ich lehne es ab, mich damit überhaupt gefahren. Aus anderen Quellen ergibt sich einschließ- nur auseinanderzusetzen. lich kurzzeitig schnellerer Fahrt ein Gesamtanteil von Der Abgasgroßversuch 1984/85 lieferte ähnliche 700 bis 800 Kilometer. Aber auch das sind nur 6 % der Erkenntnisse. Untersuchungen belegen, daß ein Zu- Jahresfahrleistung. viel an Regeln und nicht einsehbare Vorschriften so- Ein Pkw wird im Jahr durchschnittlich zwischen 250 gar Verstöße provozieren. und 300 Stunden betrieben. Rund fünf Stunden davon Ziel der Verkehrsvorschriften muß es sein, den um- wird er mit Geschwindigkeiten über 130 km pro sichtigen, mitdenkenden Autofahrer zu unterstützen. Stunde gefahren. Das sind ganze 2 % der Jahresnut- Daß sich die Autofahrer zunehmend korrekter und zungsdauer. Das ist die Dimension, über die wir re- verkehrsgerechter verhalten, belegt die Statistik; den. denn obwohl immer mehr gefahren wird, ist die Zahl der Verurteilungen wegen Vergehen im Straßenver- (Detlev von Larcher [SPD]: Stimmen denn - kehr seit 1980 um rund ein Viertel zurückgegangen. die Ausstoßzahlen oder nicht?) Ich möchte an der Stelle — das könnten wir einmal Dort wird Ihr umfassender Beitrag, den Sie behaup- an anderem Orte diskutieren — fragen: Wer sitzt ei- ten, zu erbringen sein. gentlich in den Autos drin? Die erste Folgerung, die ich ziehe, ist: Es geht hier (Klaus Lennartz [SPD]: Darum geht es nicht um wirkungsvolle Politik, sondern um einen nicht!) Popanz, der bei der SPD besonders stark ausgeprägt Sie tun so, Herr Lennartz, als ob in den Autos, die auf ist. unseren Straßen fahren, keine SPD-Wähler drin sit- (Susanne Kastner [SPD]: Sagen Sie das dem zen; denn die möchten Sie mit den Formulierungen, Herrn Töpfer!) die Sie hier gebraucht haben, doch wohl nicht bele- gen. Der Präsident des Kraftfahrt-Bundesamts in Flens- burg, Herr Barth, hat gesagt: „In der Regel wird nicht (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: so schnell gefahren, wie weithin angenommen wird. Alles Radfahrer!) Wenn es die Straßen- und Verkehrsverhältnisse zulas- Dies ist doch ein Ammenmärchen. sen, daß man ohne Gefahr auch einmal schneller fah- Meine Damen und Herren, der vernünftige Auto- ren kann, dann sollte das nicht durch Reglementie- fahrer, einschließlich der SPD-Wähler als Autofahrer, rung unterbunden werden." ist also keine Utopie, sondern Realität. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Klaus Lennartz [SPD]: Eine absolute Ni Verkehrsregeln werden — die Nachbarn haben es veaulosigkeit! — Detlev von Larcher [SPD]: ja vorgemacht; Herr Lennartz, Sie wohnen viel zu Stammtisch!) dicht an den Niederlanden, um das zu ignorieren — nur dann dauerhaft befolgt, wenn sie auch einsehbar sind. Ohne Akzeptanz durch die Autofahrer sind sie Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Fi- kaum durchzusetzen. scher, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord- neten von Larcher? (Zuruf von der CDU/CSU: Ganz genau!) Die Niederlande haben die Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h wieder auf 120 km/h angehoben, weil Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Ich möchte trotz intensiver Kontrollen nur 20 % der Verkehrsteil- jetzt im Zusammenhang sprechen. 3798 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Dirk Fischer (Hamburg) Die Frage der Überwachung ist angesprochen wor- Anderslautende Angaben, die überall behauptet wer- den. Die Überwachung muß sicherlich verstärkt wer- den, sind durch Messungen nicht belegt. den. Wir wollen keinen Überwachungsstaat. Dies ist (Detlev von Larcher [SPD]: Ich denke, das ist weder politisch gewollt noch personell oder finanziell nicht akzeptiert?!) machbar. Aber die Länder müssen wissen, daß ihr Vollzugsdefizit nicht durch den Ruf nach schärferen Die mit Abstand günstigste Verkehrsunfallentwick- Gesetzen aus Bonn ausgeglichen werden kann. Ver- lung haben wir auf unseren Autobahnen. Auf 1,7 kehrsverhältnisse, Witterung, Tag oder Nacht sowie des Netzes, mit fast 29 % der gesamten Fahrleistung Topographie lassen für den — — — eine sensationelle Bündelung — (Detlev von Larcher [SPD]: Stamm tisch und (Zuruf von der SPD: Und 20 % Steigerung der Ideologie!) Unfallzahlen!) — Herr Präsident, vielleicht kann man mal klären, ob haben wir nur 6 % der Unfälle mit Personenschä- ich das Wort habe oder der Kollege, der do rt Dauer- den. berieselung macht. (Zuruf von der SPD: Augen zu und durch!) Das heißt, wir haben auf den Autobahnen eine um Vizepräsident Helmuth Becker: Wir wollen uns dar- vieles günstigere Unfallbilanz als im anderen System. auf verständigen, liebe Kolleginnen und Kollegen, Die Autobahnen sind siebenmal sicherer als die übri- daß überwiegend der Kollege Fischer das Wo rt hat. gen Außerortsstraßen, vierzehnmal sicherer als die Innerortsstraßen. Unser Verkehrsunfallproblem ist (Heiterkeit) der Innerortsverkehr. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Ich bin gern Deswegen sage ich: Laßt Ortsumgehungen bauen, bereit, den Kollegen, wenn er unter Hochdruck steht, damit der Durchgangsverkehr aus den Ortschaften zunächst reden zu lassen, und würde mich dann an- herauskommt, weil dieses den größten Effekt hätte. schließen. Höflichkeit ist bei uns in der Fraktion sehr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ausgeprägt, meine Damen und Herren. Meine Damen und Herren, punktuelle Geschwin- Diese unterschiedlichen Verhältnisse lassen für den digkeitsbegrenzungen zu örtlichen Gefahrenlagen verantwortungsbewußten Fahrer ein Ausfahren sei- bringen etwas: die Aufmerksamkeit wird durch eine nes Wagens bis zur technischen Höchstgeschwindig- differenzierende Regelung erhöht. Im übrigen keit immer seltener zu. schauen Sie sich einmal die deutschen Autobahnen an (Dietmar Schütz [SPD]: Soll er das?) - — wie Sie gesagt haben, das einzige Land ohne gene- relles Tempolimit — und dann die Zahl der Getöteten Die Unfälle auf unseren Autobahnen sind weniger von Frankreich, Italien, Niederlande, Österreich, USA eine Frage der ausgefahrenen Höchstgeschwindig- und Japan. Wir liegen an der Spitze — an der keit als vielmehr eine Frage der der Situa tion nicht Spitze — : 6,5; USA 15,9, Österreich 15,7 je Milliarde angepaßten Geschwindigkeit. Fahrzeugkilometer. (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) (Zuruf von der SPD: Es geht doch darum, ob Fälschlicherweise werden Unfälle durch nicht ange- man die Zahl nicht herabsetzen kann!) paßte Geschwindigkeit oftmals mit Hochgeschwin- digkeitsunfällen verwechselt und gleichgesetzt. Zwar Auch dieses macht deutlich, daß Sie hier einen Popanz sind fast 30 % sämtlicher Außerortsunfälle mit Perso- aufbauen, der durch Zahlen nicht belegt ist. nenschäden einer nicht angepaßten Geschwindigkeit (Zuruf von der SPD: Was sagt die amerikani zuzuschreiben, aber nur in 8,2 % der Fälle wurde auch sche Bilanz?) die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten. Das heißt, bestenfalls 2,3 % sämtlicher Außerortsun- Wenn Sie die Bündelung kaputt machen würden, fälle fallen in einen Geschwindigkeitsbereich, der dann würden Sie dazu beitragen, daß die Gleichung durch Tempolimit beeinflußt werden könnte. Ich sage längerer Weg — schneller gefahren — kürzere An- hier ausdrücklich: Es gibt Verkehrssituationen, vor kunftszeit zerstört würde. Die Leute würden den kür- allem bei Nebel, bei denen 30 km/h als Geschwindig- zeren Weg nehmen. Sie würden also in die Außerorts- keit schon zuviel sind. straßen gehen, sie würden durch die Ortschaften ge- hen. Ich kann nur sagen: Ersparen Sie uns dies bitte, Ein generelles Tempolimit — zweite Folgerung, weil wir in der Verkehrsunfallbilanz deutlich zurück- meine Damen und Herren — wird Fahrer, die nicht fallen würden! Eine Verlagerung des Verkehrs in das verantwortungsbewußt handeln, ohnehin nicht zur nachgeordnete System wäre eine einzige Katastro- Verhaltensänderung bringen. Da müssen wir andere phe. Maßnahmen überlegen. Vierte Folgerung. Durch Verkehrsverlagerungen (Zurufe von der SPD: Welche?) auf das nachgeordnete Straßensystem würde der Ver- Der mehrjährige Großversuch hat bei uns dazu ge- kehrssicherheit ein völliger Bärendienst erwiesen führt, daß es seit dem 1. Dezember 1978 eine Richtge- werden. Gleichzeitig würden Abgasemission und schwindigkeitsempfehlung von 130 km/h gibt, und Kraftstoffverbrauch bei einem geringeren Tempolimit wir haben in Wahrheit eine Durchschnittsgeschwin- nur marginal verringert. Ich habe hier Ausrechnun- digkeit auf den deutschen Autobahnen von 112 km/h. gen — die ich Ihnen gerne überreichen kann, die ich Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3799

Dirk Fischer (Hamburg) aber wegen der Kürze der Zeit nicht alle vortragen Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- kann — , die dieses eindeutig belegen. ten Damen und Herren, ich erteile nunmehr das Wo rt der Frau Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann. Fünfte Folgerung. Es zeigt sich eindeutig, daß die Einführung eines Tempolimits weder für die gesetz- Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste) : Herr lich limitierten Emissionskomponenten CO, HC, NO X Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie noch für die diskutierte Klimaproblematik bzw. zur mir eine Vorbemerkung, die etwas weniger mit dem Energieeinsparung einen signifikanten Beitrag liefern Thema zu tun hat. Hakenkreuze, „Sieg Heil" und würde. andere eindeutig profaschistische Losungen an der U- (Zurufe von der SPD: Der Herr Töpfer sieht Bahn-Station des Bundeshauses zeigen einmal mehr, das aber ganz anders, der sieht das ganz an daß eine Verharmlosung rechtsradikaler, faschisti- ders! Sie müssen sich erst einmal in Ihrer scher und ausländerfeindlicher Tendenzen in diesem Fraktion einig werden! — Gipfel der Igno Land, wie das z. B. leider in den Beiträgen des Abge- ranz!) ordneten Klinkert und des Bundesinnenministers Schäuble am Mittwoch zum Ausdruck gekommen ist, Zur Lärmbelastung würde dieses auch nicht beitra- nicht zugelassen werden darf. Ich fordere die Bundes- gen. Auf Autobahnen ist dieses fast ausschließlich auf regierung auf, endlich zu handeln. Es gilt noch immer: den starken LKW-Verkehr zurückzuführen. Wehret den Anfängen!

(Zuruf von der SPD: Absolut uneinsichtig!) Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Dr. Dagmar Der Pkw-Verkehr spielt hierbei eine völlig unterge- Enkelmann, dies gehört nicht zum Thema. Sie müssen ordnete, unbedeutende Rolle. Wir setzen auf moderne zum Thema sprechen. — Bitte! Technik. Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): U-Bah- (Zuruf von der SPD: Haben Sie schon mal nen haben auch irgendwie mit Verkehr zu tun. neben einer Autobahn gestanden?) (Lachen bei der SPD) Umweltschutzgründe bieten keinen Anlaß, das Aber ich komme zum Thema: Natürlich haben die Tempolimit einzuführen. Das ist das eindeutige Er- Gegner der Einführung eines Tempolimits recht: Die gebnis des Abgasgroßversuches. Die Bundesregie- bestehenden Probleme werden damit nicht gelöst. Die rung hat auf moderne Technik gesetzt. Sie hat 1983 Lösung der Probleme setzt eine generelle, eine funda- richtig entschieden. Wir werden die Technik fortent- mentale Änderung der Verkehrspolitik und kom- wickeln und dadurch weniger Emissionen und einen plexe gesamtgesellschaftliche Veränderungen vor- geringeren Kraftstoffverbrauch ermöglichen. Für ein aus. Die Einführung der vorgeschlagenen Geschwin- Tempolimit auf Autobahnen oder eine Absenkung digkeitsbeschränkungen sind aber ein möglicher Bei- des bestehenden Tempolimits auf anderen Außerorts-- trag, die bestehenden vielschichtigen Probleme zu straßen besteht weder aus Gründen der Verkehrssi- entschärfen und eine weitere Zuspitzung zu verhin- cherheit noch aus Gründen des Umweltschutzes eine dern. zwingende Notwendigkeit. Erstens zur Verkehrspolitik. Herr Minister Krause, Meine Damen und Herren, ich schließe mit einem verkehrspolitisch ist dringend ein neuer Ansatz erfor- Zitat, dessen Auffindung ich Sebastian Haffner ver- derlich. Als Stichpunkte dafür seien genannt: wirk- danke: same Maßnahmen zur Dämpfung der Verkehrsnach- frage, u. a. durch Senkung der Mobilitätsanforderun- Ihr Arbeiter werdet einst im eigenen Wagen fah- gen; konsequente Verlagerung des Güterfernver- ren, auf eigenen Schiffen touristisch die Meere kehrs von der Straße auf Schienen und Wasserwege; durchkreuzen, in Alpenregionen klettern und Begünstigung des öffentlichen Personennah- und schönheitstrunken durch die Gelände des Sü- -fernverkehrs gegenüber dem Auto. Das aber heißt dens, der Tropen streifen, auch nördliche Zonen eben Abkehr von einer Politik der Bevorteilung der bereisen. Oder Ihr saust mit Eurem Luftgespann Automobillobby, wozu konservativliberale Kräfte in über die Erde im Wettflug mit den Wolken, Win- diesem Lande aber offenkundig nicht bereit sind. den und Stürmen dahin. Nichts wird Euch man- Diese argumentieren mit Umsatzzahlen und lob- geln, keine irdische Pracht der Erde gibt es, die preisen das schnelle — natürlich am besten deut- Euer Auge nicht schaut. Was je nur Euer Herz sche — Automobil und schlagen zur Bewäl tigung der ersehnt, was Euer Mund erwartungsschauernd in immer häufigeren Staus logistische Verbesserungen stammelnde Worte gekleidet, da habt Ihr das vor. Abgesehen von der Realitätsferne eines solchen leibhaftige Evangelium des Menschenglücks auf Vorschlages — wie viele Schilder, Ampeln oder son- Erden! — Und fragt Ihr, wer Euch solches bringen stige Signale wollen Sie denn auf Bundesautobahnen wird? Nun einzig und allein der sozialdemokrati- anbringen, Herr Kollege Fischer? —, berücksichtigt sche Zukunftsstaat! dieser Modus in keiner Weise andere damit in Zusam- menhang stehende Probleme, wie Unfallgeschehen, l seiner Zeit ein Flugblatt, das Dieses im blumigen Sti Umwelt- und Energieverbrauch und die, die sich aus die SPD am 1. Mai 1904 in Hannover zirkulieren dem europäischen Einigungsprozeß ergeben. ließ. Auch wird unterstellt, daß die freie Wahl der Ge- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und schwindigkeiten eine höhere Verstetigung des Ver- der FDP — Zuruf von der SPD: Aber es klang kehrsflusses zur Folge habe. Das aber ist einer der intelligenter als Ihre Rede!) vielen Denkfehler des Bundesministers für Verkehr 3800 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Dr. Dagmar Enkelmann und anderer. Verstetigigung ergibt sich viel eher aus Horst Friedrich (FDP): Herr Präsident! Meine sehr der Senkung der Differenzen der Geschwindigkeiten verehrten Damen und Herren! der Verkehrsteilnehmer. (Dietmar Schütz [SPD]: Nun aber richtige Das Unfallgeschehen ist auch so ein Streitpunkt. Zahlen!) Natürlich sind sichere Autos eine Maßnahme, Unf all- Wir debattieren heute über einen Antrag der SPD, folgen zu mindern. Noch besser allerdings ist es, die (Franz Müntefering [SPD]: Der ist gut!) Unfallhäufigkeit überhaupt zu senken, insbesondere die mit Personenschaden bzw. mit Todesfolge. Allein durch Geschwindigkeitsbegrenzungen — man sollte auf brandenburgischen Straßen starben in den ersten vielleicht genauer sagen: durch eine Verschärfung sieben Monaten dieses Jahres 503 Menschen, fast 200 der bestehenden Geschwindigkeitsbegrenzungen — mehr als im gleichen Vorjahreszeitraum. mehr Umweltschutz, mehr Verkehrssicherheit und mehr Lebensqualität zu erreichen. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Mit Ganz abgesehen davon, daß eine Globallösung all Tempo 100!) dieser Probleme mit einer Maßnahme ungefähr die Das relativiert wohl einiges, was Sie vorhin über das gleiche Wirkung hat wie die Pille, die vom Fußpilz bis Unfallgeschehen gesagt haben, Herr Kollege Fi- zum Haarausfall so ziemlich gegen alles wirkt, sollte scher. man sich erst noch einmal den momentan gültigen Sachstand zum Thema „Geschwindigkeitsbegren- Experten sind sich einig, daß ein Tempolimit, insbe- zungen" bei uns vor Augen führen, bevor man mit sondere in den Wohngebieten, die Schwere der Un- plakativen Forderungen um sich schlägt. fälle senken wird. Wer es mit dem Schutz des mensch- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — lichen Lebens ernst meint, sollte also etwas tun, damit Freimut Duve [SPD]: Das ist die Sprache des auf bundesdeutschen Straßen weniger abgetrieben Lobbyisten!) wird. Vom gesamten Straßennetz der alten Bundesländer Zweitens zur Umweltpolitik: Der Verkehrsbereich — meine Damen und Herren, das sind ca. 500 000 gehört zu den größten Umweltverschmutzern. Ihm al- Kilometer — unterliegen bereits 98,6 % , man höre und lein werden etwa 20 % des Kohlendioxidausstosses staune, zugerechnet. Berechnungen des Bundesumweltamtes (Freimut Duve [SPD]: Herr Kollege, es sich sagen aus, daß bei Tempo 120 gegenüber der Richt- 98,7 %!) geschwindigkeit von 130 Kilometer pro Stunde auf bundesdeutschen Autobahnen Schadstoffminderun- einer Geschwindigkeitsbeschränkung. gen bei Kohlenmonoxid von 21 %, Stickoxiden von (Dietmar Schütz [SPD]: Es kommt nicht auf 12 % und bei Kohlendioxid von 10 % zu erreichen die Strecke an!) sind. Herr Kollege Fischer, auch diese Zahlen spre- —Ich habe gesagt: alte Bundesländer. Das ist die Ein- chen für sich. schränkung, die der Kollege Fischer nicht gemacht Aber selbst geringere Senkungsraten würden schon hat. Ich bitte doch zuzuhören. für die Einführung des Tempolimits sprechen. Wem Die Geschwindigkeitsbeschränkung liegt bei der Wald tatsächlich am Herzen liegt, sollte unter den 50 km/h innerorts, 100 km/h auf Landstraßen; in vie- Fürsprechern eines Wandels des Temporausches auf len Städten haben wir bereits die unselige 30-Kilome- unseren Autobahnen zu finden sein. ter-Zone. Ich sage „unselig", weil ich in einer solchen wohne, die ohne Rückbau läuft, mit dem Ergebnis, Drittens noch einige wenige Bemerkungen zum eu- daß sich niemand daran hält. Dazu können wir später ropäischen Einigungsprozeß. Immer wieder sind fast noch kommen. euphorische Töne in bezug auf den europäischen Ei- nigungsprozeß zu hören, besonders dann, wenn sich Ich füge hinzu: In den alten Bundesländern sind bundesdeutsche Unternehmer und Politiker dabei lediglich 8 700 Kilometer Autobahn grundsätzlich Vorteile ausrechnen. Wieviel Ignoranz und altbe- ohne Tempolimit, wobei auch auf diesen Strecken kannte Überheblichkeit werden aber deutlich, wenn ungefähr ein Fünftel durch örtliche Gegebenheiten, Empfehlungen und Erfahrungen der europäischen durch Baustellen mit einem Tempolimit versehen Nachbarn gerade in bezug auf die Tempolimitierung sind. Die rund 2 000 Kilometer Autobahn in den neuen in den Wind geschlagen werden? — Die Bundesrepu- Ländern sind sowieso von einem Tempolimit belegt, blik ist weltweit das einzige Land, in dem es keine nämlich mit 100 Stundenkilometern, so daß gut ein Beschränkung der Geschwindigkeit auf Autobahnen Drittel der Autobahnen ebenfalls mit Geschwindig- gibt. Das sollte doch, so will ich meinen, zu denken keitsbeschränkungen belegt ist. geben. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Fried- rich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Larcher?

Horst Friedrich (FDP): Normalerweise bei meiner ersten Rede nicht, aber bitte.

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, der nächste Redner ist der Herr Abgeordnete Detlev von Larcher (SPD): Es tut mir leid, ich wußte Horst Friedrich. nicht, daß es Ihre erste Rede ist. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3801

Detlev von Larcher Ich möchte Sie fragen, ob Sie etwas zu den Zahlen würde. Ich glaube, allein aus diesen Zahlen ergibt sagen können, die unser Kollege zu den Emissionen sich, daß das Tempolimit in bezug auf die Reduzie- genannt hat. Stimmen sie, oder können Sie die wider- rung der CO2-Emissionen des Straßenverkehrs nicht legen? die große alleinseligmachende Wirkung erreichen wird. Das Ergebnis des Abgasgroßversuches hat darüber Horst Friedrich (FDP): Warten Sie ab, ich bin ja noch nicht am Ende meiner Rede. Ich habe noch einige hinaus ergeben, daß bezogen auf NOx selbst beim Minuten Zeit; das kommt schon noch. Tempo 100 auf Autobahnen für die Gesamtbela- stungslage nur marginale 1 % als Erfolg bei der Redu- Darüber hinaus gilt nach mehrjährigem Großver- zierung der Autoschadstoffe zu erzielen sind. Bei such, Richtgeschwindigkeit 130 im Vergleich zur Tempo 120 wären die Ergebnisse kaum meßbar ge- Höchstgeschwindigkeit 130, seit dem 1. Dezember wesen. Im Hinblick auf die Fortentwicklung der Tech- 1978 — das hat der Kollege Fischer schon erwähnt — nik — sparsamere Motoren und bessere Aerodyna- auf Autobahnen und autobahnähnlichen Straßen die mik — wären sie heute kaum feststellbar. Empfehlung, auch bei ansonstigen günstigeren Ver- hältnissen nicht schneller als 130 km/h zu fahren. Hinzu kommt die steigende Anzahl von Fahrzeugen mit gereinigten Abgasen. Der Pkw-Bestand besteht Untersuchungen, z. B. von Prognos, haben ergeben, heute bereits zu rund 46 % aus schadstoffreduzierten daß bei einer Richtgeschwindigkeit von 130 km/h im Zirka 20 % des Pkw-Gesamtbestandes der alten Fall des realen Verkehrsablaufes auf Bundesauto- Pkw. Bundesländer hat einen geregelten Drei-Wege-Kata- bahnen eine Durchschnittsgeschwindigkeit von lysator. Von den im November 1990 neu zugelassenen 114,6 km/h fahrleistungsgewichtet erzielt wird. Eine Kraftfahrzeugen mit Ottomotor sind rund 97 % mit versuchsweise Einführung eines Geschwindigkeits- einem geregelten Dreiwegekatalysator ausgerüstet. limits von 120 km/h im gesamten Autobahnnetz Für Otto- und Dieselmotoren zusammen ergibt sich würde eine Reduzierung der durchschnittlichen Ge- ein Anteil der schadstoffreduzierten neu zugelasse- schwindigkeit auf sagenhafte 112 km/h hervorrufen. nen Pkw von ca. 98 %. Wir unterhalten uns also über eine Senkung von 2,6 km/h. Ich füge hinzu: Wenn wir vor einigen Jahren nicht (Zurufe von der SPD: Weil der Verkehr flüs- die unselige Krebsgefahrdebatte bei den Dieselfahr- siger ist! — Es geht doch nicht um die durch- zeugen gehabt hätten — es zeichnet sich inzwischen schnittliche Geschwindigkeit!) ja ab, daß dieses Gutachten zurückgenommen wer- den muß — , dann wäre die Bilanz in dieser Hinsicht — Also wissen Sie, ich habe zufälligerweise das wahrscheinlich noch besser. Glück, an der A 9 zu wohnen, und habe die Gelegen- heit, sowohl die Richtgeschwindigkeit als auch die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) festen Tempobegrenzungen zu sehen. Dreimal dürfen Nun lassen Sie mich noch zur Verkehrssicherheit Sie raten, wo mehr Stauungen und Unfälle passie- kommen. Es ist sicher unbest ritten, daß die Zahl der ren. Unfälle 1990 eine steigende Tendenz aufweist. Das Dabei betrug der Grad der Befolgung der Ge- Jahr 1990 hat ein Anwachsen der Zahl der Unfalltoten schwindigkeitsbeschränkung — das ist wichtig, auf Bundesautobahnen in den alten Bundesländern meine Damen und Herren — ca. 63 %, bei einer wei- um ein Viertel und insofern eine stärkere Zunahme als teren Reduzierung auf 100 km/h würden sich nur auf Außerortsstraßen erbracht. noch 26 % der Autofahrer an diese Tempolimits hal- ten. Ich glaube, das steht im krassen Gegensatz zu den Die Steigerung der Zahl der Unfälle im Jahre 1990 Forderungen, die hier seit einigen Tagen gestellt wer- ist allerdings auch auf die besondere Situation der den. Wenn sich drei Viertel der Bevölkerung ein Tem- deutschen Einheit, auf deutlich gestiegene Fahrlei- polimit wünschen, frage ich mich: Wer fährt dann stungen und insbesondere auf die Anpassungspro- Auto? bleme der Autofahrer aus den neuen Bundesländern auf den Autobahnen der alten Länder zurückzufüh- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ren. Ich verweise da auf die Untermotorisierung durch Der Grad der Befolgung der Geschwindigkeitsge- Trabant oder Wartburg, und ich verweise auch darauf, bote ist ein wesentliches Kriterium für die Beurtei- daß die Ausrüstung mit Wagen westdeutschen Fabri- lung, ob die Maßnahme Sinn macht, z. B. was den kats am Anfang nicht die beste war. Ich komme aus Ausstoß von CO2 angeht. Man müßte also, wenn man dem Grenzland, aus Oberfranken. Dort sind alle La- sie wirklich zum Erfolg bringen möchte, flächendek- denhüter, die seit vielen Jahren da standen, nach der kend Geschwindigkeitskontrollen einführen. Ich un- Währungsunion blitzschnell aus den neuen Ländern terstelle, daß selbst die SPD dies nicht will. Sie fügt aufgekauft worden. Das hat zweifellos nicht zur Ver- allerdings in ihrem Antrag hinzu, daß die Länder dafür kehrssicherheit beigetragen. Wenn man aus diesem sorgen sollen, daß das Tempolimit eingehalten wird. Sonderereignis allerdings jetzt bereits Schlüsse zie- In der von mir bereits zitierten Prognos-Untersu- hen wollte, bedeutete dies mit Sicherheit auch, der chung wurde ermittelt, daß ein normaler Grad der Gefahr von Fehlschlüssen zu unterliegen. Befolgung der Geschwindigkeitsbeschränkungen (Beifall bei der FDP) eine Reduzierung des CO2-Ausstoßes durch den Stra- ßenverkehr im Jahre 1987 um eine Million Tonnen Auch der Vergleich in bezug auf Höchstgeschwin- — das entspricht 0,8 % — und im Jahre 2005 um digkeiten und der Hinweis auf stärkere Geschwindig- 1,9 Millionen Tonnen, was 1,4 % entspricht, jeweils keitsregulierungen im Ausland sind nicht ganz stich- gegenüber dem Nullfall der beiden Jahre ergeben haltig. Die bei der europäischen Konferenz der Ver- 3802 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Horst Friedrich kehrsminister vorgelegte Statistik für 1989 für die Un- Nun kommt als nächster Redner unser Kollege falltoten, gerechnet auf je 1 000 Unfälle mit Personen- Dr. Klaus-Dieter Feige zu Wo rt. schäden auf Autobahnen, weist folgende interessante Zahlen auf. Deutschland mit einer Richtgeschwindig- Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE) : Herr keit von 130 km/h hat 37 Tote zu verzeichnen. In Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Großbritannien mit einer Höchstgeschwindigkeit von Es ist nicht meine erste Rede. Herr Präsident, heißt 112 km/h sind es 43. In den Niederlanden mit einer das, daß ich meine Redezeit nicht einhalten muß? Höchstgeschwindigkeit von damals noch 100 km/h sind es 92. (Heiterkeit) (Franz Müntefering [SPD]: Das ist für die 37 sehr tröstlich! — Dietmar Schütz [SPD]: Wäre Vizepräsident Helmuth Becker: Bei der ersten Rede es nicht besser, bei uns noch weniger zu ha ist es immer besonders schwierig. ben?) In Frankreich mit einer Höchstgeschwindigkeit von Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE) : Rich- 130 km/h sind es 110 Tote. Ich glaube, diese Zahlen tig. sind ein eindeutiger Beweis dafür, daß die bundes- „Viele Gründe für ein Tempolimit" — unter dieser deutschen Autobahnen nach wie vor zu den sicher- Überschrift erschien am 6. September — Herr Len- sten Straßen nicht nur in Deutschland, sondern auch nartz hat es schon gesagt — in der Wochenzeitung in Europa zählen. „Die Zeit" eines der eindrucksvollsten Interviews die- ses Jahres. Dort hat der Bundesumweltminister mit Ein anderes Problem — das wird im Antrag der SPD beispielhafter Konsequenz die Begründung für den nicht angesprochen — ist die sogenannte nicht ange- heute erstaunlicherweise von der SPD eingebrachten Es passieren mehr Unfälle paßte Geschwindigkeit. Antrag, der also nicht von der Koalition kommt, gege- wegen nicht angepaßter Geschwindigkeit als wegen ben. Das ist für mich erstaunlich, aber ich freue mich Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit. darüber, daß er das so gut konnte. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Sehr (Zuruf von der SPD: Wieso erstaunlich? richtig!) — Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Es Fazit: Die FDP kann dem Antrag der SPD so nicht ist wirklich erstaunlich, wie man einen sol zustimmen. Wir fordern allerdings eine ideologiefreie chen Unfug beantragen kann!) Diskussion, die einen anderen Verkehrsträger, näm- — Sagen Sie das vielleicht dann, wenn ich zitiert lich die Bahn, nicht nur plakativ fordert, sondern auch habe, was Herr Töpfer dazu meint. tatsächlich unterstützt und einrichtet. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Der (Detlev von Larcher [SPD]: Das wäre schön, lehnt den auch ab!) - das wäre wirklich schön!) Um so verblüffender ist Ihre brüskierende Ablehnung Dabei, meine Damen und Herren von der SPD, kön- gegenüber dem Begehren der Sozialdemokraten wi- nen Sie uns helfen, wenn Sie uns den A rt. 87 ändern der die Raserei. lassen, und zwar noch in dieser Legislaturperiode. Ich habe mir in der letzten Zeit den Vorwurf zuge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) zogen, immer die grünen Gebetsmühlen in Gang zu setzen. Ich werde heute den Bundesumweltminister Wir brauchen außerdem den Einsatz moderner Ver- pur zitieren. kehrsleitsysteme und einen ÖPNV, der wettbewerbs- fähig ist und der, vernetzt und vertaktet, sowohl in den (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Dann Ballungsräumen als auch in der Fläche den Zubrin- aber auch beim nächsten Mal!) gerverkehr übernimmt, und wir brauchen den Einsatz Herr Töpfer hat in diesem Interview gesagt: modernster Technik sowohl für Verkehrsleitsysteme Ich glaube, daß wir auch auf den Teilen der Auto- als auch für Verkehrsträger selbst, um das gesteckte bahn, auf denen heute noch freie Fahrt gewährt Ziel der CO2-Reduzierung tatsächlich zu erreichen. wird, zu einer weiter reichenden Geschwindig- Schaudiskussionen helfen dabei nicht weiter. keitsregelung und -begrenzung kommen müs- Ich danke für die Aufmerksamkeit. sen. Es gibt dafür viele Begründungen. Vor allem: Durch den deutschen und gesamteuropäischen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU Integrationsprozeß steigt das Verkehrsvolumen — Zuruf von der SPD: Das war jetzt an die drastisch an. Deutschland ist zum Transitland CSU gerichtet! — Detlev von Larcher [SPD]: Nummer eins weltweit geworden. Aber es gibt Die Ideologen sitzen in Ihren eigenen Rei auch umweltpolitische Gründe. Die deutsche Au- hen!) tomobilflotte verbraucht bei Tempo 160 die Hälfte mehr Benzin als bei Tempo 120. (Zurufe von der SPD: Sehr gut!) Meine Damen und Vizepräsident Helmuth Becker: Besser hätten wir das auch nicht formulieren kön- Herren, der Kollege Friedrich hat bei seiner ersten nen. Ich glaube, Herr Töpfer hätte, wenn er bei seiner Rede erstens die Redezeit eingehalten und zweitens Meinung geblieben ist — vielleicht ist das ja der auch noch Zwischenfragen und Zwischenrufe über- Fall —, das Zeug zu einem wirklich brauchbaren Ver- standen. kehrsminister. Ich habe nur die Sorge, daß ihn ein (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der Lob vom Bündnis 90/DIE GRÜNEN beim Kanzler in SPD) Ungnade fallen läßt — das ist ja jetzt so Mode — und Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3803

Dr. Klaus-Dieter Feige sich dann in Sachen Verkehr gar nichts mehr be- Sollte die Umsetzung dieses Gesetzes wirklich zu- wegt. sätzliche Kosten oder überhaupt Kosten bereiten, Die Abgeordneten der Gruppe Bündnis 90/DIE hätte ich eine Idee, wie wir das Geld kurzfristig be- GRÜNEN unterstützen den Antrag der SPD-Fraktion. kommen könnten. Zwei Wochen konsequente Ge- Einigen Kollegen von uns ist das vielleicht noch nicht schwindigkeitskontrollen in den neuen Ländern, und ganz genug. Aber ich denke, das ist ein Schritt in die Sie hätten die Kosten spielend eingefangen. Zwei Wo- richtige Richtung, in Richtung Vernunft und Umwelt- chen konsequente Geschwindigkeitskontrollen in schutz. den alten Ländern, und Sie hätten das Geld für den Umzug des Bundestages nach Berlin dazu. Meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, (Heiterkeit — Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/ ich hoffe aber auch, daß Sie für die Annahme dieses CSU]: Nicht alles, was hinkt, ist ein Ver Gesetzes noch die Bundesratsmehrheit zusammenbe- gleich!) kommen. Vielleicht ist die Ablehnung aus Rheinland- Pfalz und Brandenburg, die mir zu Ohren gekommen Wenn diesem Antrag jetzt nicht schon das gesamte ist, nur eine vorläufige. Koalitionskollegium zustimmen kann, so erwarte ich doch von den Mitgliedern des Umweltausschusses Von den Damen und Herren der Koalitionfraktio- und der Enquete-Kommission, daß sie so ehrlich sind, nen wurde in der letzten Zeit die angeblich fehlende hier in diesem Moment als Pioniere für interfraktionel- Akzeptanz der Tempolimitierung bei der Bevölke- len Umweltschutz ein Zeichen zu setzen. Ich glaube, rung ins Feld geführt. Wieder schlägt die Wahrheit bei sie sind moralisch dazu verpflichtet. einer Zeitschrift durch. „Auto-Bild" veröffentlichte im September die bisher vom Bundesminister Krause un- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ter Verschluß gehaltenen Umfrageergebnisse. Zumin- (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der dest nach deren Aussage sind über 60 % der Deut- SPD und der PDS/Linke Liste) schen für die Geschwindigkeitsbegrenzung, und zwar 56 % im Westen und 89 % im Osten. Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Bei der Diskussion über die Begrenzung der Ge- Dr. Feige, nur für das Protokoll und damit wir das klar- schwindigkeit wird von den Befürwortern des Ge- stellen: Wir beraten den Antrag der SPD-Bundestags- schwindigkeitsrausches immer das große Gefühl von fraktion auf Drucksache 12/616. Ich sage dies, weil Sie Mobilität und Freiheit beschworen. Ich erlaube mir zwischendurch von „Gesetzesvorlage" sprachen. wieder zu zitieren, an dieser Stelle Hermann Lutz, den Das Wort hat Herr Kollege Steffen Kampeter. Vorsitzenden der Polizeigewerkschaft:

Die Sensibilität für den Wert eines Menschen- Steffen Kampeter (CDU/CSU) : Herr Präsident! lebens geht zunehmend verloren. Wenn etwa ge- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vom Auto- sagt wird, mit einem Tempolimit würde nicht viel- verkehr — das sehen wir Umweltpolitiker sehr, sehr erreicht, allenfalls ein paar hundert Verkehrs- deutlich — gehen gravierende Belastungen für unsere opfer weniger, dann frage ich mich schon, was in Umwelt aus: für Luft, Boden und das Grundwasser. den Köpfen dieser Geschwindigkeitsfanatiker Der Verkehr trägt wesentlich zum Treibhauseffekt vorgeht. Nach terroristischen Mordanschlägen bei. Es besteht kein Zweifel, daß beim Schutz der wird diskutiert, ob wir die halbe Republik durch natürlichen Lebensgrundlagen der Verkehr eine au- Gesetze verändern müssen. Die Verkehrstoten ßerordentliche Belastung darstellt. werden dagegen als Tribut an die Mobilität der Gesellschaft einfach hingenommen. Trotzdem — dies sage ich als Umweltpolitiker ge- nauso bewußt — ist Mobilität in einer arbeitsteiligen (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der Industriegesellschaft eine unverzichtbare Vorausset- SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke zung. Verkehr ist Voraussetzung für Wohlstand, und Liste — Zuruf von der CDU/CSU: Wohlstand ist eine wichtige Voraussetzung für die Quatsch!) Durchführung eines technisch hochqualifizierten und Sie sollten einfach nur einmal darüber nachdenken, damit wirksamen Umweltschutzes. was Herr Lutz damit gemeint haben könnte, und nicht Der Bundesumweltminister Klaus Töpfer hat die einfach „Quatsch! " sagen. klare Vorgabe gemacht, daß in den nächsten Jahren (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Dann trotz eines weiteren Verkehrsanstieges eine Minde- müßten Sie auch den Alkohol im Land gene- rung der Kohlendioxid- und sonstigen Kfz-Emissionen rell verbieten!) erreicht werden soll. Die klimarelevanten Emissionen betrugen bei CO2 im Jahre 1989 123 Millionen t. Diese Daran habe ich auch am Mittwoch während der De- sollen bis zum Jahre 2005 im Rahmen des nationalen batte über die Ausländerfeindlichkeit bei manchen Reduktionskonzeptes der Bundesregierung um insge- Beiträgen denken müssen. samt 25 % gesenkt werden. Dies ist angesichts der Alles in allem bleibt aber noch das Gegenargument, zunehmenden Motorisierung in den jungen Bundes- daß sich ja sowieso keiner an dieses Gesetz halten ländern eine außerordentlich ehrgeizige Aufgabe, der wird. Diesen Eindruck bekommt man tatsächlich. wir von seiten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Wenn man auf Ostautobahnen mit Tempo 100 fährt, volle Unterstützung zusichern. wird man dauernd von Lkws und Pkws überholt. Man Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist der Meinung, kommt sich wie ein Hindernis vor. Doch wenn wir daß die Reduzierung des Zusammenhangs zwischen Gesetze nicht verabschieden sollen, weil sich keiner Umwelt und Verkehr in dem hier vorgelegten Antrag daran hält, dann werden wir hier sowieso arbeitslos. auf die Geschwindigkeitsbegrenzung viel zu kurz 3804 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Steffen Kampeter greift und auf Grund eindimensionaler Sicht das Pro- Ich komme zum Schluß. Wer die Diskussion über blem überhaupt nicht löst. die Umweltbelastung des Verkehrs auf das Tempoli- mit beschränkt, greift in der Umwelt- und Verkehrs- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) politik zu kurz. Er nimmt Konzepte von gestern, um Lassen Sie mich einiges aufzählen, was wir für die die Fragen von morgen zu beantworten. ökologisierung des Verkehrs erreicht haben. Der Ka- Die Umweltpolitiker der CDU/CSU-Bundestags- talysator ist die einschneidendste und für die Umwelt fraktion begrüßen alle Maßnahmen zur Emissionsver- positivste Änderung. Wir werden auf der Umweltmi- minderung im Straßenverkehr. Die Enquete-Kommis- nisterratstagung im Oktober schärfere Abgasnormen sion zum Schutz der Erdatmosphäre hat dazu sachge- für Pkw und Lkw durchsetzen. Die Kraftstoffe werden rechte Vorschläge erarbeitet. Ein generelles Tempoli- schrittweise, aber entschlossen immer schadstoffär- mit gehört aus guten Gründen nicht dazu. mer gestaltet. Heute findet im Deutschen Bundesrat Herzlichen Dank. eine Debatte über die Gaspendel- und Saugrüsselver- ordnungen statt, mit der wir dem Benzol an den Kra- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen gehen wollen. Ebenfalls wichtig ist die politische Zielvorgabe, daß es zu Beginn des nächsten Jahrtau- sends zu einer deutlichen Senkung des Flottenver- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und brauches der Automobile kommen soll. Herren, ich erteile jetzt das Wort der Frau Abgeordne- ten Elke Ferner. (Susanne Kastner [SPD]: In welchem Jahr tausend? — Weitere Zurufe von der SPD) Elke Ferner (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegen, — Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn Sie liebe Kolleginnen! „Freie Fahrt für freie Bürger" ist mich ausreden ließen, würden Sie auch noch weitere uns noch im Ohr. Die Industrie heult auf und be- Elemente unseres erfolgreichen Verkehrs- und Um- schreibt den Verlust von Hunderttausenden von Ar- weltkonzepts hören. Aber das scheint von seiten der beitsplätzen. Im BMV wird ein Abteilungsleiter ent- Opposition nicht gewünscht zu sein. lassen, weil er schreibt, was man nicht schreiben darf, (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Die nämlich daß es keine ernst zu nehmenden Argumente SPD weigert sich, klüger zu werden!) gegen ein allgemeines Tempolimit gibt. Der Bundes- anstalt für das Straßenwesen wird dann noch ein Ich sehe unsere Möglichkeiten noch lange nicht Maulkorb umgehängt. ausgeschöpft. Ich nenne nur als Stichwort § 40 Satz 2 Die Frage entzweit sogar diese Bundesregierung. des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Wir wollen Der Beschleunigungsminister Krause tritt weiter für diese Verordnung, die unsere Innenstädte schadstoff- die freie Raserei ein. ärmer macht und zu drastischen Einschränkungen -des innerstädtischen Pkw- und Lkw-Verkehrs führen (Beifall bei der SPD — Steffen Kampeter kann, als ein scharfes Schwert gegen die Umweltver- [CDU/CSU]: Unerhört! — Dirk Fischer schmutzung aus dem Verkehr benutzen. [Hamburg] [CDU/CSU]: Böse Unterstellun gen und Verdrehungen!) Es sind schon mehrfach Untersuchungen des Um- Der Ankündigungsminister Töpfer tritt erst für Ge- weltbundesamts angesprochen worden. In der aktuel- schwindigkeitsbegrenzungen ein und wird dann von len Untersuchung wird festgestellt, daß der Katalysa- Krause zurückgepfiffen. tor heute noch immer die beste technische Lösung zur Verringerung von Schadstoffemissionen ist. Aber (Weitere Zurufe von der CDU/CSU) seine Vorteile sinken mit steigender Geschwindigkeit — Es scheint Sie ja sehr zu treffen, da Sie sich so auf- deutlich. So ergaben erste Auswertungen von Mes- regen. Aber ich wäre dankbar, wenn Sie mir auch sungen des TÜV beim Anstieg der Geschwindigkeit zuhören würden. von 120 auf 145 km/h eine deutliche Zunahme bei (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wenn Sie Kohlendioxid, Stickoxiden, Kohlenwasserstoff und vor allen Dingen beim Kohlenmonoxid. mir diese Freiheit auch bei meiner Rede ge geben hätten, wäre ich dankbar gewesen!) Diese Untersuchungsergebnisse werden von uns Die CSU bzw. der Arbeitskreis Umwelt der CSU öff- sehr ernst genommen. Wir müssen sie aber vor allen net sich allmählich einer Wende in der Verkehrspoli- Dingen hinsichtlich ihrer Repräsentativität prüfen, um tik und fordert ein Tempolimit. Ministerpräsident so Maßnahmen zu diskutieren, die den Kraftfahrer zu Teufel — auch er gehört Ihrer Partei an — einer umweltschonenden Fahrweise bewegen. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Danke für Dazu gehört unserer Auffassung nach auf den Auto- diesen Hinweis!) bahnen vor allen Dingen eine weiterreichende intelli- sagt in einer Regierungserklärung — ich zitiere — : gente Form der Geschwindigkeits- und Verkehrsre- gelung. Hierzu haben wir im Bundeshaushalt Mittel Die neue Landesregierung wird in eine ernste bereitgestellt. Die Länder rufen diese Mittel allerdings und offene Diskussion über die Einführung einer nicht ab. Ich kann auch bei denjenigen, die heute im Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen eintre- Bundesrat genau das gleiche Thema, nämlich Ge- ten. — Leitlinie: Freie Fahrt für die Vernunft. schwindigkeitsbegrenzung, diskutieren, keinen hin- Stopp der rücksichtslosen Raserei. reichenden politischen Willen erkennen, das mit den (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hier hat Mitteln, die wir bereitstellen, tatsächlich umzuset- doch keiner rücksichtlose Raserei gefor zen. dert!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3805

Elke Ferner Wir dürfen gespannt sein, ob sich in der Koalition die weltweit bestehenden Tempolimits, und das ist der Drang nach Raserei oder die Vernunft durchset- auch der Grund für die in der Bundesrepublik zen kann. Deutschland bestehenden Geschwindigkeitsbegren- zungen in geschlossenen Ortschaften, auf Landstra (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Frau Kolle en und Teilen des Autobahnnetzes. gin, bleiben Sie aber bitte seriös!) Unser Antrag gibt Ihnen Gelegenheit, end lich Farbe (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: zu bekennen. Warum haben die viel mehr und schwerere Unfälle? Die Statistik ist genau umgekehrt! Neueste Unfallzahlen zeigen in dramatischer Weise — Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Es ist über die Notwendigkeit, ein Tempolimit einzuführen. Für haupt nicht schlüssig, was Sie hier vortra die Autobahnen — sie machen, wie Sie sagten, ledig- gen!) lich 1,7 % des Straßennetzes aus — ist folgendes fest- zuhalten: Das, Herr Professor Krause, sollten Sie als Informati- ker doch wohl nachvollziehen können. Logischer geht Obwohl im Jahre 1990 in den alten Ländern die es nämlich fast nicht mehr. Gesamtzahl der Verkehrstoten die niedrigste seit Be- stehen der Statistik war, ist auf den westlichen Auto- Alle vorliegenden Untersuchungen kommen zu bahnen die Zahl der Verkehrstoten um 20,3 To gegen- dem Ergebnis, daß eine Dämpfung der Geschwindig- über 1989 gestiegen. Dieser Trend scheint sich fortzu- keit und eine Verminderung der Differenzgeschwin- setzen. Das wäre doch wirk lich Grund genug, ein digkeit nur zu einem führen kann, nämlich zu Sicher- Tempolimit einzuführen. heitsgewinnen. (Beifall bei der SPD — Steffen Kampeter (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: [CDU/CSU]: Das hängt doch nicht mit dem Falsch! — Gegenruf der Abg. Susanne Kast Tempolimit zusammen! Da besteht doch kein ner [SPD]: Richtig!) kausaler Zusammenhang zum Antrag!) Worauf Minister Krause seine Vermutungen über die Aber es kann doch niemand ernsthaft bestreiten, Wirkungen von Geschwindigkeitsbegrenzungen daß mit steigender Geschwindigkeit die Unfallgefahr gründet, bleibt sein Geheimnis. Die Behauptung, ein mit Verletzungs- und Todesfolge drastisch ansteigt. Tempolimit führe zum sprunghaften Ansteigen der Das gilt auf der Autobahn und der Landstraße, das gilt Zahl der Linksfahrer und zu mehr Aggressivität auf natürlich auch in der Stadt. den Autobahnen, ist von einem geradezu abenteuer- (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Über lich niedrigen Stammtischniveau. wiegend in der Stadt!) (Zustimmung bei der SPD — Steffen Kampe Deshalb fordern wir nicht nur: 120 auf Autobahnen--ß ter [CDU/CSU]: Zur Verdrängung in das und 90 außerorts, sondern auch: in der Regel 30 in nachgeordnete Netz!) geschlossen Ortschaften. — Herr Kollege Fischer, ich hätte mir gewünscht, daß Sie als Hamburger Abge- Herr Krause, Sie sagen, es sei nicht vermittelbar, ordneter zu diesem Thema der Geschwindigkeit und wenn der Bürger nicht die Möglichkeit habe, sonn- Geschwindigkeitsübertretung innerorts ein paar abends nachmittags etwas schneller zu fahren, um zu Takte gesagt hätten. seiner Familie zu kommen. Ich will Ihr Bürger- bzw. Bürgerinnen- und Familienbild hier ja nicht kommen- (Beifall bei der SPD — Steffen Kampeter tieren, [CDU/CSU]: Ich mußte meine Rede kürzen, weil Sie ununterbrochen dazwischengerufen (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist posi haben!) tiv, zweifelsfrei!) Wenn für das existierende Leben ebenso konse- aber wir wollen doch, daß er oder sie am Samstag quent gestritten würde wie gestern für das ungebo- sicher ankommt und nicht etwa erst am Dienstag im rene Leben, hätten wir schon lange ein Tempolimit. Sarg. Sie, liebe Kollegen und Kolleginnen von der Koalition, können doch nicht ignorieren, daß 25 % aller Todes- (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Des fälle bei Kindern auf Verkehrsunfälle zurückzufüh- halb muß er Autobahn fahren!) ren sind. Herr Krause, Ihre starre Haltung steht im Gegensatz (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wer bestrei zu allen verkehrspsychologischen Erkenntnissen. tet das?) Auch auf das Fahrverhalten hat das Tempolimit po- Schützen Sie existierendes Leben, indem Sie der un- sitive Auswirkungen. Eine Beschränkung der Spit- gebremsten Raserei auch und gerade in den Wohnge- zengeschwindigkeiten und die Verringerung der Ge- bieten endlich ein Ende bereiten! schwindigkeitsunterschiede führen zu einem homo- Auf den Autobahnen ist entscheidend, daß das Maß generen Verkehrsfluß, der Geschwindigkeitsunterschiede die Schwere der (Zustimmung bei der SPD — Albrecht Müller Unfälle und ihrer Folgen bestimmt. Es ergibt sich aus [Pleisweiler] [SPD]: Das haben die alle nicht den Gesetzen der Physik und der Physiologie: Bei kapiert!) niedrigeren Durchschnittsspitzen und Geschwindig- keitsdifferenzen sinkt die Zahl der Unfälle, und die zu einer ruhigeren Fahrweise und in kritischen Situa Schwere der Unfälle nimmt ab. Das ist der Grund für tionen zu mehr Reaktionszeit. Das gilt insbesondere 3806 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Elke Ferner im Hinblick auf die Gefahr von Nebel- und Massen- kehrsleitsysteme mit Kosten in Millionenhöhe instal- unfällen. lieren. (Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Endlich (Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: Milliar sagt das mal jemand!) den! — Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Aber die wirken dann ja auch, Frau Kollegin! — Darüber hinaus entlastet ein Tempolimit die aner- Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Sie kannt vorsichtiger fahrenden Frauen und älteren müssen ein situationsangemessenes Tempo Menschen. haben!) (Zustimmung bei der SPD — Albrecht Müller — Ein Tempolimit wirkt sofort. Wenn Sie unserem [Pleisweiler] [SPD]: Endlich mal eine diffe- Antrag zustimmen und das Gesetz in Kraft ist, wirkt renzierte Argumenta tion!) es. Damit trägt es auch dazu bei, daß ein möglichst hoher (Zustimmung bei der SPD) Anteil der Bevölkerung Autobahnen angstfrei benut- Fahrzeitgewinne von wenigen Minuten auf meh- zen kann. Umfragen zeigen außerdem, daß es für Ge- rere hundert Kilometer können die erschreckend hohe schwindigkeitsbegrenzungen eine hohe Akzeptanz Zahl an Unfalltoten doch nicht rechtfertigen. — Hören in der Bevölkerung gibt. Das wissen auch Ihre Beam- Sie doch einmal zu! — Durch diese Unfälle entsteht ten, Herr Krause; nur Sie wollen dies nicht wahrha- auch wirtschaftlicher Schaden, von dem Verlust an ben. Menschenleben gar nicht zu reden. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Unbe- Als einziges EG-Land ohne vollständige Tempo- wiesene Behauptung!) beschränkung ist die Bundesrepublik Deutschland in der EG unter großem Druck. Die vom Bundesverkehrsministerium in Auftrag ge- gebene Umfrage halten Sie sorgsam unter Verschluß. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Nein, In dieser Umfrage sprachen sich 56 % der Westdeut- sie hat deswegen doch die besten Zahlen auf schen und 89 % der Ostdeutschen für Geschwindig- den Autobahnen!) keitsbegrenzungen auf Autobahnen aus. Sollen Deutschlands Autobahnen das letzte Reservat der freien Raserei in der EG bleiben? Ich denke, das (Hört! Hört! bei der SPD) sollten sie nicht. Bleibt die Frage, warum diese Umfrage geheimgehal- Die Erfahrungen z. B. in Italien zeigen — entgegen ten wird. Die Antwort scheint zu sein: Es paßt nicht in dem, was Sie gerade gesagt haben —, Ihre Beschleunigungsideologie. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Ganz schlechte Zahlen! — Steffen Kampeter Wollen Sie etwa ernsthaft, daß aus vordergründigen- ideologischen Gründen das Sterben von Männern und [CDU/CSU]: Fahren Sie bitte mal in Italien! Frauen, von Vätern und Müttern und von Kindern auf Das wünsche ich Ihnen nicht!) den deutschen Autobahnen und besonders in unseren daß nach Einführung des Tempolimits auf Autobah- Städten und Gemeinden so weitergehen soll, nur weil nen im Sommer 1988 die Zahl der tödlichen Unfä lle unsere Automobillobby angeblich keine Autos mehr um 37,5 % zurückgegangen ist. verkaufen kann, weil nicht mehr ungehemmt auf die- (Zurufe von der CDU/CSU) sen Straßen gerast werden kann? Was die Autoher- steller anbetrifft, so halte ich sie für fähig, und ich Wenn die Verkehrsunfallstatistik bei uns auf Grund halte sie auch für verpflichtet, sich auf neue Gegeben- eines Tempolimits auch nur um einen einzigen Ver- heiten einzustellen. kehrstoten zurückgehen würde, dann wäre das allein schon die Sache wert. (Zuruf von der CDU/CSU: Das machen sie auch!) (Beifall bei der SPD) Das sehen mittlerweile auch führende Manager der Automobilindustrie so. Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin Fer- (Beifall bei der SPD — Steffen Kampeter ner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordne- [CDU/CSU]: Wer hat denn das Auto sauber ten Fischer? gemacht? Das haben doch wir getan! Lärm- schutz ! Emissionsverringerung!) Elke Ferner (SPD): Nein, ich möchte die Gedanken Das Panikgeschrei von BMW, die Wettbewerbsfähig- in meiner ersten Rede zu Ende führen. keit sei gefährdet, könnte kaum dümmer sein. Es Es führt für das europäische Transitland Bundesre- müßte doch wohl heißen: Gleiche Wettbewerbschan- publik kein Weg an einem Tempolimit vorbei. cen für alle Autohersteller in Europa! Das müßte dann in der Konsequenz auch heißen: Tempolimit überall in Ich fasse zusammen: Es gibt kein ernstzunehmen- Europa! des Argument gegen ein allgemeines Tempolimit. Aber auch wirtschaftliche Argumente sprechen (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Es gibt nicht gegen ein Tempolimit, sondern — im Gegen- nicht eins, es gibt viele! Das stimmt!) teil — dafür. Ein Tempolimit erhöht die Leistungsfä- Wir haben den Streit innerhalb der Bundesregie- higkeit der Autobahnen, spart Sp rit, schont die Um- rung zwischen Töpfer und Krause zur Kenntnis ge- welt und kostet nichts. Statt dessen wollen Sie Ver- nommen. Ich hoffe sehr, daß aus dem Ankündigungs- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3807

Elke Ferner minister Töpfer endlich ein Beschleunigungsminister Dr. Günther Krause, Bundesminister für Verkehr: in Sachen Umwelt und Verkehrssicherheit wird Ich gestatte immer eine Zwischenfrage, wenn die Zeit (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Keine Sorge, nicht angerechnet wird. der Mann ist Spitze!) Dr. Margrit Wetzel (SPD): Herr Minister, könnten und daß der jetzige Beschleunigungsminister Krause Sie uns vielleicht den Grund dafür erklären, warum mit seiner Aussage, wir bräuchten kein Tempolimit, Sie sich — offensichtlich abweichend von den Vorla- als Ankündigungsminister enttarnt wird. Das fordert gen aus Ihrem Haus — über die folgenden Äußerun- die Verkehrssicherheit, die Wirtschaft lichkeit, die gen Ihres Hauses hinweggesetzt haben? Zum Tempo- Einigung in der EG, das Energiesparen und der Um- limit heißt es dort unter dem Punkt „Zusammenfas- weltschutz. sung" : Ich hoffe nicht, daß Sie, Herr Krause, in die Annalen Nach allen nationalen und internationalen Unter- der Geschichte als derjenige eingehen werden, den suchungen und Erfahrungen führt ein akzeptier- man für weiter steigende Zahlen von Verkehrstoten tes (120/130 km) und überwachtes Tempolimit zu auf bundesdeutschen Straßen verantwortlich machen niedrigeren Durchschnitts-, Spitzen- und Diffe- wird. renzgeschwindigkeiten und vermindert damit (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Da deutlich die Zahl der Unfälle und in noch größe- steht schon Herr Lau ritzen an der Spitze!) rem Maße die Schwere der Unfallfolgen. Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Es wird dann im folgenden darauf hingewiesen, daß der Koalition, deshalb: Ersparen Sie Ihrem Minister bei „dem Stellenwert, den diese Frage hat, und der eine solche Geschichtsschreibung, und stimmen Sie Sensibilität einer evtl. Abwägung zwischen Sicher- unserem Antrag zu! Seien Sie vernünftig! heit, Umweltschutz und wirtschaftlichen Auswirkun- gen " es besserer Entscheidungsgrundlagen bedarf, (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste als sie derzeit im BMV aufbereitet sind. — Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir über- weisen doch heute nur!) Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin Dr. Wetzel, Sie sollen fragen, keinen Vortrag halten. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, was ich eben zum Kollegen Friedrich gesagt Dr. Margrit Wetzel (SPD): Ich habe nur zitiert, kei- habe, gilt jetzt natürlich auch für die Kollegin Ferner. nen Vortrag gehalten. — Würden Sie uns bitte den Es ist nicht ganz einfach, bei einer großen Zahl von Grund dafür erklären, warum Sie sich über diese Au- Zwischenrufen hier die erste Rede zu halten. Viele ßerungen Ihres Hauses hinweggesetzt haben und of- wissen das aus Erfahrung. fensichtlich zu einer anderen Meinung gekommen sind? Nun hat der Herr Bundesverkehrsminister, Dr. Günther Krause, das Wort. (Beifall bei der SPD) (Detlev von Larcher [SPD]: Bei dem dürfen Dr. Günther Krause, Bundesminister für Verkehr: wir wieder Zwischenrufe machen! — Freimut Vielleicht können wir — das auch nur nebenbei — Duve [SPD]: Aufpassen! Sonst entläßt er uns darauf verständigen, daß der Minister eine eigene uns!) Meinung haben darf. Aber ich werde in meinem Ge- spräch mit Ihnen beweisen, daß sich die Differenzge- schwindigkeiten in akuten Verkehrssituationen nicht Dr. Günther Krause, Bundesminister für Verkehr: nur von der Höchstgeschwindigkeit her, sondern na- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und türlich auch von der angemessenen Geschwindigkeit Herren! Für die Erreichung der mit dem Antrag ver- her berechnen lassen. Ich weiß nicht, ob Sie in die folgten Ziele — mehr Umweltschutz, mehr Verkehrs- Annalen eingehen wollen mit der Behauptung, Un- sicherheit und Lebensqualität — sind die geforderten fälle bei Nebel würden bei einem Tempolimit von allgemeinen Geschwindigkeitsbegrenzungen nach 130 km/h beseitigt. einheitlicher Auffassung der Bundesregierung (Klaus Lennartz [SPD]: Das ist doch (Horst Sielaff [SPD]: Das ist etwas Besonde- Schwachsinn! — Freimut Duve [SPD]: Die res!) Antwort hat ein tolles Niveau!) ungeeignet, unverhältnismäßig und zum Teil kon- Dort sind Geschwindigkeiten von 30 bis 50 km/h er- traproduktiv. forderlich. Das zum Thema Differenzgeschwindig- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) keit. Ich werde das abhandeln. Das gilt zunächst für die insbesondere für die Auto- Richtig ist, daß die Zahl der Unfälle und die Anzahl bahnen geforderte allgemeine Geschwindigkeits- der tödlich Verletzten auf den Autobahnen im Jahr begrenzung. Sie ist nach Auffassung der Bundesre- 1990 gestiegen ist. Dabei müssen aber zwei wesentli- gierung weder aus Gründen der Verkehrssicherheit che Gesichtspunkte zur Kenntnis genommen werden, noch aus Gründen des Umweltschutzes erforderlich. bevor man Schlußfolgerungen zieht: Auch auf den Ich will das begründen. Autobahnen sind nicht die höheren und zum Teil über der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h liegenden Geschwindigkeiten Ursache für die meisten Unfälle. Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Bundesmini- Unfallursache ist vielmehr die im Einzelfall, also z. B. ster, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin bei schlechter Witterung oder bei dichtem Verkehr, Wetzel? nicht situationsangepaßte Geschwindigkeit. 3808 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Bundesminister Dr. Günther Krause Normalerweise sollte man nach der Ursache auch men können und seine Argumente vortragen können. die Wirkung definieren. Hierzu kann ich — im Gegen- Ich bitte, das zu beachten. satz zu Ihnen — aus einer Vielzahl von Ursachen und (Klaus Lennartz [SPD]: Wenn er Argumente Erkenntnissen eine für die Antragsteller sicherlich hätte, hätte ich nichts dagegen!) völlig unverdächtige Quelle zitieren.

(Klaus Lennartz [SPD]: Sie verfügen über un- Dr. Günther Krause, Bundesminister für Verkehr: verdächtige Quellen, Herr Krause?) Damit wird konkrete Sicherheitsvorsorge bet rieben. Der Bericht einer vom hessischen Minister für Wirt- Gleichzeitig können so der Verkehrsstrom flüssig ge- schaft und Technik eingesetzten Expertenkommis- halten und damit Staus und Umweltbelastungen ver- sion über die Perspektiven zur Sicherheit im Straßen- mieden und schnell abgebaut werden, denn wenn die verkehr aus dem Jahre 1990 sagt dazu — ich zitiere — : Nebelbank erreicht ist — mit 120 km/h Höchstge- schwindigkeit erreicht ist — , ist es zu spät. Es muß im Wir sind grundsätzlich der Auffassung, der Kraft- Vorfeld der im Volksmund so genannten Nebelbank fahrer soll seine Geschwindigkeit regeln, d. h. sie eine Geschwindigkeitsreduzierung durch entspre- anpassen, statt sich die Geschwindigkeit vom chende Verkehrsleiteinrichtungen bereits eingesetzt Staat regeln zu lassen. Geschwindigkeitsverhal- sein, ten fängt zuallererst im Kopf an. (Freimut Duve [SPD]: Sie werden der Nebel (Susanne Kastner [SPD]: Bei manchen fehlt bänker der Nation! — Weitere Zurufe von der er!) SPD) — Das kann ja ein Thema der Zwischenfrage wer- um eine Geschwindigkeit von 30, 40 oder 50 km/h, die den. dann der Situation angemessen ist, zu realisieren. Das Zweitens. Ein wichtiger Umstand wird von den Be- ist der Sachzusammenhang. So halte ich mich an die fürwortern eines allgemeinen Tempolimits auf Auto- Grundgesetze über Differenzgeschwindigkeiten. Das bahnen aus meiner Sicht völlig übersehen. Wie sich ist richtige Politik aus unserer Sicht. bei entsprechenden Untersuchungen abzeichnet, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) konzentrieren sich die Unfälle auf Autobahnen im Ich halte deshalb an dem Programm fest, das für die wesentlichen auf einige Schwerpunkte im Autobahn- Verkehrsbeeinflussungsanlagen auf Autobahnen bis netz. Es handelt sich also nicht um eine streckenunab- 1995 Mittel in Höhe von 550 Millionen DM vorsieht, hängige generelle Steigerung der Unfallzahlen. Hier wobei wir etwa 100 Millionen Mark in den neuen ist entsprechend anzusetzen. Dazu liegen entspre- Bundesländern einsetzen. Ich möchte nochmals ver- chende Untersuchungen vor. Ich kann sie Ihnen auch stärkt betonen, daß der Mittelabfluß für solche die zustellen. Verkehrssicherheit beeinflussenden Systeme von den Es ist also keine Lösung des Verkehrssicherheits-- Ländern in den letzten Haushalten nicht ausreichend problems, den Autofahrer mit dem Konzept der An- genutzt worden ist. tragsteller in der falschen Sicherheit eines allgemei- nen Tempolimits zu wiegen, denn, zugespitzt formu- Gestatten Sie eine liert — ich möchte das hier noch einmal deutlich sa- Vizepräsident Helmuth Becker: Zwischenfrage des Kollegen Lennartz? gen —, mit 120 km/h in die Nebelbank löst dieses Pro- blem, diesen entscheidenden Schwerpunkt, über- haupt nicht. Dr. Günther Krause, Bundesminister für Verkehr: Ich würde vorschlagen, daß wir vielleicht am Ende der (Detlev von Larcher [SPD]: Ein bißchen mehr Argumentation die Zwischenfragen stellen. Qualität! — Klaus Lennartz [SPD]: Sie haben sich schon oft im politischen Nebel verrast! — (Lachen und Zurufe von der SPD) Freimut Duwe [SPD]: Seien Sie vorsichtig mit Die mit diesen Anlagen mögliche Verkehrsfluß- dem Begriff „Nebelbank" ! ) steuerung wird von der überwiegenden Mehrzahl der Die Bundesregierung ist vielmehr der Auffassung, daß Kraftfahrer als notwendig akzeptiert und deshalb es erfolgversprechender und sinnvoller als starre auch beachtet werden. Tempolimits ist, dort, wo besondere Gefahren liegen Ein weiterer Gesichtspunkt spricht gegen ein gene- oder die Verkehrsdichte es erfordert, mit rechnerge- relles Tempolimit auf den Autobahnen. Die Befürwor- stützten Verkehrsbeeinflussungsanlagen flexibel auf ter des Tempolimits zitieren regelmäßig eine statisti- die Faktoren zu reagieren, die die Verkehrssicherheit sche mittlere Pkw-Geschwindigkeit von 134,3 km pro beeinflussen Stunde. Nicht erwähnt wird dabei jedoch, daß dieser statistische Wert nur für diejenigen Meßstrecken gilt, (Anhaltende Zurufe von der SPD) auf denen die Autobahnbenutzer freie Geschwindig- wie z. B. in den genannten Witterungsverhältnissen, keit durch freie Sicht, günstige Wetterlage, fehlende im — — Verkehrsstausituationen usw. haben. (Freimut Duve [SPD]: Wenn also mal keine Nebelbank da ist!) Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- Demgegenüber schätzt die Bundesanstalt für Straßen- ten Damen und Herren — einen Moment bitte, Herr wesen, daß bei Berücksichtigung der alltagstypischen Minister —, ich meine, Zwischenrufe sind gestattet, Bedingungen auf unseren Autobahnen, also ein- das wissen wir alle, und sie beleben auch die Debatte; schließlich Wetterlagen und Verkehrsbehinderungen, aber der Redner muß wenigstens noch zu Wort kom- die mittlere Pkw-Geschwindigkeit im gesamten Auto- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3809

Bundesminister Dr. Günther Krause Bahnnetz wesentlich niedriger ist, nämlich zur Zeit bei Ich denke, etwas mehr Intelligenz im gemeinsamen 119 km pro Stunde. Diese Tatsache muß man, meine täglichen Umgang, unterstützt von technischer Intelli- Damen und Herren, erst einmal zur Kenntnis nehmen, genz auf den Straßen, wird dieses Problem in den bevor man politische Schlußfolgerungen ziehen will. nächsten Jahren lösen helfen. Im übrigen werden Gespräche mit der Polizei Ihnen (Detlev von Larcher [SPD]: Das, was wir von bestätigen, daß ein generelles Tempolimit auf Auto- der CDU heute gehört haben, war nicht sehr bahnen — das ist zur Zeit nämlich das Problem in den intelligent!) neuen Bundesländern — nur durch verstärkte Über- Ich würde Sie bitten, daß Sie die Länderregierungen, wachung seiner Einhaltung zu einem nennenswerten in denen Sie vertreten sind, auffordern, die Mittel für Absinken der Durchschnittsgeschwindigkeiten füh- Systeme der Verkehrsbeeinflussung von der Bundes- ren würde. Eine verstärkte Überwachung durch die regierung besser abzurufen. Polizei würde aber an finanzielle und personelle Vielen Dank. Grenzen der Länder stoßen, wie schon die Praxis bei (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der Überwachung der heutigen Lkw-Geschwindig- keitsbegrenzung auf Autobahnen zeigt. Vizepräsident Helmuth Becker: Das Wort zu einer (Freimut Duve [SPD]: Alles Federfuch- Zwischenbemerkung nach § 27 der Geschäftsord- serei!) nung hat unser Kollege Dr. Klaus-Dieter Feige. Diese wird schon heute durch die Polizei nicht gelei- stet werden können. Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE): Ange- sichts der Diskussion in den letzten Tagen hatte ich (Susanne Kastner [SPD]: Die Autobahnen die Hoffnung, daß diese Frage, die heute in dieser werden doch nicht durch die Länderpolizei Runde diskutiert wurde, eine ganz andere Auseinan- überwacht!) dersetzung, auch in der Qualität, erfährt. Insbeson- — Ich denke, ich brauche auf den Zuruf nicht zu ant- dere erscheint es mir so, als ob es in den Ausschüssen worten. — im Umweltausschuß, in der Enquete-Kommission, aber auch im Verkehrsausschuß — jeweils eine unter- Ich fasse zusammen: Verkehrssicherheitsgründe schiedliche Logik der Behandlung gibt. Diese unter- rechtfertigen ein generelles Tempolimit auf Autobah- schiedliche Logik sehe ich auch zwischen den Frak- nen nicht, sondern sprechen eher dagegen. Differen- tionen. zierte Maßnahmen gegen Unfallschwerpunkte — das ist der richtige Weg. Vor allen Dingen muß Unfallvor- Es tut mir leid, daß im Verkehrsausschuß ein — si- cherlich im Rahmen eines größeren Gesamtkon- sorge getrieben und eine der Verkehrssituation ange- messene Geschwindigkeit dem Kraftfahrer in Form zepts — von der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE einge- brachter Antrag auf Einrichtung einer von Geboten vorgeschlagen werden, beispielsweise Enquete-Kom- von 50 km/h im Nebelbereich. mission für ein integriertes Verkehrskonzept, für mehr Verkehrssicherheit und Umweltschutz abge- (Lachen bei der SPD — Klaus Lennartz lehnt wurde. Es mag sein, daß es an dem etwas großen [SPD]: Das ist ein psychisches Trauma für Paket lag, das vielleicht nicht alle mittragen konnten. Sie! Das muß tief sitzen, mein lieber Wir werden prüfen, inwieweit wir diesen Antrag her- Schwan! — Zuruf von der CDU/CSU: Der auslösen können. Ich denke, dieser Antrag ist — im Lennartz ist heute unerträglich! — Freimut Sinne eines Aufeinanderzugehens oder, wie der Bun- Duve [SPD]: Der Mann, der aus dem Nebel desminister gefordert hat, im Sinne von mehr Intelli- kam! — Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD]: genz im gemeinsamen Umgang — notwendig, um da- Minister für Verkehr im Nebel! — Weitere mit wenigstens zu erreichen, daß wir überhaupt be- Zurufe von der SPD) greifen, welche Argumente wir gegenseitig anbie- ten. Meine Damen und Herren, auch aus Umweltschutz- gründen ist ein allgemeines Tempolimit wenig sinn- voll. Das Ergebnis des unter den Bedingungen des Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Minister, wol- Alltags durchgeführten Abgasgroßversuchs hat ge- len Sie noch antworten? — Das ist nicht der Fall. zeigt, daß selbst eine Begrenzung der Höchstge- Dann sind wir damit am Ende dieses Tagesord- schwindigkeit auf 100 km/h nur eine Reduzierung nungspunktes. von 1 % der Schadstoffe bringt. In diesem Zusammen- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf hang ist es günstiger, nicht die absolute Zahl von Drucksache 12/616 an die in der Tagesordnung auf- 30 000 t, sondern die Reduzierung der Schadstoffe um geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit 1 % anzuführen. Die Versuche haben bewiesen, daß einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Wider- zuallererst die Verhinderung der Staus selbst, nämlich spruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. in der konkreten Verkehrssituation den Verkehrsfluß vernünftig zu regeln, Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 11 und (Klaus Lennartz [SPD]: Mehr Straßen!) den Zusatztagesordnungspunkt 6 auf: einen wesentlich höheren Anteil an der Reduzierung 11. Beratung des Antrags der Abgeordneten beispielsweise auch der CO2-Emission bringen wird. Dr. Roswitha Wisniewski, Johannes Gerster (Mainz), Hartmut Koschyk, weiterer Abgeord- (Klaus Lennartz [SPD]: Wo bleibt die logische neter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Fortsetzung Ihres Satzes?) Abgeordneten Wolfgang Lüder, Gerhard Ru- 3810 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Vizepräsident Helmuth Becker dolf Baum, Dr. , weiterer Abge- stehen Gemeinschaftsprojekte, und sie bieten viel Er- ordneter und der Fraktion der FDP mutigendes. So haben z. B. deutsche und polnische Förderung der Deutschen und ihrer Kultur im Wissenschaftler beschlossen, die Ereignisse im Stet tin östlichen Europa und jenseits des Urals sowie der Jahre 1945 und 1946 gemeinsam aufzuarbeiten. In des ostdeutschen Kulturerbes in der Bundesre- diesen Tagen findet in Königsberg, also Kaliningrad, publik Deutschland eine Ausstellung ostpreußischer Künstler statt. Sie wird dort, in Kaliningrad, vom Ostpreußischen Lan- — Drucksache 12/844 — desmuseum Lüneburg mitveranstaltet. Überweisungsvorschlag: Eine Begegnung deutscher und polnischer Studen- Innenausschuß (federführend) Auswärtiger Ausschuß ten und Schüler wurde vor kurzem in Krakau durch- Ausschuß für Bildung und Wissenschaft geführt. Vor zwei Wochen nahmen die Repräsentan- ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Frei- ten der heute polnischen Stadt Graudenz am Bundes- mut Duve, Dr. Willfried Penner, Wolfgang treffen der heimatvertriebenen Graudenzer in Köln Thierse, weiterer Abgeordneter und der Frak- teil. Zuvor hatten sie im Juni gemeinsam in Graudenz tion der SPD der 700jährigen Geschichte dieser Stadt gedacht. Der Vertreter des polnischen Botschafters sprach in Köln Die Beziehungen der Bundesrepublik davon, daß die Vertriebenen auf Grund ihrer emotio- Deutschland zu den deutschen Minderheiten nalen Verbundenheit mit ihrer Heimat Mittler der in Osteuropa und östlich des Urals Verständigung von Polen und Deutschen seien. Ih- — Drucksache 12/1188 — nen komme eine Brückenfunktion zu. Das genau ist Überweisungsvorschlag: der Wunsch, die Absicht, sogar auch die Diktion, die Auswärtiger Ausschuß (federführend) wir hier verwenden. Wir können diesem Petitum und Innenausschuß diesem Wort nur nachhaltig zustimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für Viele ähnliche Beispiele wachsender Verständi- die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. gungsbereitschaft und damit auch des Zusammen- — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so be- wachsens Europas im europäischen Osten wären zu schlossen. nennen. Dies und die seit Jahren andauernden inten- Zunächst erteile ich das Wort Frau Kollegin Dr. Ros- siven Bemühungen der Bundesregierung und der sie witha Wisniewski. tragenden Fraktionen um die Bewahrung des kultu- rellen ostdeutschen Erbes, das geistig fortleben soll, mögen Trost sein für die vielen Heimatvertriebenen und ihre Familien, die in diesen Monaten über den Dr. Roswitha Wisniewski (CDU/CSU) : Herr Präsi- dent! Meine Damen und Herren! Der vorliegende An- endgültigen Verzicht der staatlichen Zugehörigkeit trag der Koalitionsfraktionen erhält eine ungeahnte ihrer Heimat zu Deutschland von tiefer Trauer erfüllt Aktualität, denn er dient vor allem der Förderung der sind. deutschen Minderheiten im östlichen Europa und Trotz aller ermutigender Beispiele für die künftige klingt damit wie eine Antwort auf die Erklärung des Entwicklung sind die jetzigen Schwierigkeiten der russischen Minderheitenministers Leonid Prokopjew. noch in den Staaten des ehemaligen Ostblocks leben- Er versprach vor wenigen Tagen — das ging durch die den und ausharrenden Deutschen groß. Presse — , daß noch in diesem Jahr wahrscheinlich anläßlich des Kongresses der Rußland-Deutschen im Das wurde in einer Anhörung deutlich, die im Au- gust dieses Jahres von der CDU/CSU-Bundestags- Oktober die verbindliche Grundsatzerklärung zur Er- fraktion durchgeführt wurde. Ich freue mich, daß der richtung einer deutschen Wolgarepublik erfolgen Antrag der SPD jetzt zu einer weiteren großen öffent- wird. lichen Anhörung führen wird. Ich halte das für sehr Damit ist eine umfassende Konzeption einer Min- sinnvoll. derheitenpolitik Deutschlands und Europas noch not- wendiger geworden, als es bisher schon war. Einen An der Anhörung im August nahmen Vertreter der Beitrag dazu soll der vorliegende Antrag leisten. Deutschen aus den Siedlungsgebieten in Osteuropa und den ehemaligen deutschen Ostprovinzen teil. Die Das besonders eindrucksvolle, ja man muß wohl Schilderungen waren zum großen Teil bedrückend, sagen, spektakuläre Ereignis der Wiedererrichtung stimmten aber doch auch ein wenig zuversichtlich. der deutschen Wolgarepublik nach Jahrzehnten grausamster Vertreibung und Unterdrückung der Materielle, vor allem aber auch geistige Hilfe ist RußlandDeutschen wird von anderen Zeichen neu dringend notwendig — das kann man als Fazit aus erwachter Verständigungs- und Versöhnungsbereit- dieser Anhörung ziehen. So bat z. B. der Vertreter der schaft begleitet. Die Möglichkeiten, die die umwäl- ungefähr 22 000 Ungarn-Deutschen dringend um ein zenden Veränderungen ist Ost-, Mittel-, Ost- und überall vernehmbares Wort aus der Bundesrepublik, Südosteuropa und die diesbezüglichen Verträge bie- daß diese Deutschen vom Mutterland nicht vergessen ten, werden von den do rt lebenden Deutschen wie sind. Die menschliche Verbundenheit sei letztlich aus- von den hier in der Bundesrepublik ansässigen, na- schlaggebend dafür, daß Hoffnung statt Resigna tion mentlich den aus jenen Gebieten stammenden, immer und damit auch der Wille, zu bleiben statt auszusie- stärker genutzt. deln, wachsen. Die wissenschaftliche, kulturelle und künstlerische Beeindruckend war denn auch, daß nicht die Bitte Zusammenarbeit blüht in einem Maße auf, wie wir es um materielle Hilfen die Diskussion bestimmte, son- uns noch vor kurzem kaum vorstellen konnten. Es ent- dern der dringende Wunsch nach Deutschlehrern, da- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3811

Dr. Roswitha Wisniewski mit die Sprache, die Grundlage der geistigen Identi- Die wichtigsten kulturellen Maßnahmen, die also tät, aber auch die Grundlage der Verbundenheit mit sozusagen zum Wiederaufforsten der deutschen Spra- dem Mutterland, erhalten bleibt bzw. nach den Jah- che führen, sind: Einrichtung von Begegnungsstätten ren des Verbots wiederbelebt wird. und deren Ausstattung mit Büchern, Zeitungen, Ton- band- und Video-Einrichtungen, Durchführung von Die Bundesregierung sollte gerade diesen Wunsch Seminaren, Begegnungsreisen, beruflichen Fortbil- sehr ernst nehmen und alle zur Verfügung stehenden dungsveranstaltungen, Ausstattung von Internaten, Mittel — auch solche unkonven tioneller Art, z. B. die Kindergärten, Kinderheimen, Förderung des außer- Entsendung pensionierter Lehrer — zu dessen Erfül- schulischen Deutschunterrichts, Bereitstellung lung einsetzen. deutschsprachiger Liederbücher, Lehrbücher, Zeitun- Angesichts eben dieses Wunsches und der ermuti- gen, auch von Büromaterial, die Unterstützung genden Zeichen beginnender Versöhnungsbereit- deutschsprachiger Medien wie Zeitungen und Ver- schaft, die ich eingangs erwähnte, hebe ich gem her- lage, die Ausstattung kirchlicher Einrichtungen zur vor, wie wichtig es ist, daß es in den Jahren 1988 bis Durchführung deutschsprachiger Gottesdienste, die 1993 das Aktionsprogramm der Bundesregierung zur karitative Jugend- und Altenarbeit. Förderung der ostdeutschen Kulturarbeit gibt. Als es Dies alles verstehen wir unter dem Beg riff kulturelle verabschiedet wurde, ahnten wir alle nicht, welche Breitenarbeit. Sie wird vom Bundesinnenministerium Veränderungen eintreten würden, die die Durchfüh- durchgeführt. Das Auswärtige Amt leistet die grund- rung dieses Aktionsprogramms nun auf eine völlig sätzliche kulturelle Arbeit. Diese kulturelle Breiten- neue Grundlage stellen. arbeit ist — ich sagte es schon — zur Unterstützung Aber es ist wahrlich zur rechten Zeit gekommen. des Wiederaufbaus der kulturellen Identität unver- Vieles von dem, was darin steht, konnte natürlich zichtbar. Sie bedarf dringend des weiteren Ausbaus noch nicht umgesetzt werden. Aber wenn wir dieses und verdient die volle Anerkennung und Unterstüt- nicht immer freudig begrüßte Programm nicht hätten zung des Deutschen Bundestags. und wenn wir jetzt erst mit der Konzeption und der (Freimut Duve [SPD]: „Wiederaufbau der Durchführung sozusagen von vorn beginnen müßten, kulturellen Identität" !) dann wären die Schwierigkeiten ungleich größer, als sie es ohnehin sind. — Meinetwegen können wir auch gern sagen: Mut schaffen zum Bekenntnis zu der vorhandenen Identi- Durch die Existenz dieses Programms war es mög- tät. lich, eine ganze Reihe kultureller und wissenschaftli- cher Einrichtungen aufzubauen oder deren Arbeit auf ( [CDU/CSU]: Man muß aber stabileren Grundlagen fortzuführen und professionel- nicht auf jedes Röhren von Herrn Duve ein ler zu gestalten. Dadurch konnten sie nun die jetzt gehen!) immens wachsenden Anforderungen und Aufgaben- Denn wir haben gerade in dieser Anhörung hören unverzüglich in Angriff nehmen. Die Nachfrage, auch müssen, daß die Zahl derer, die sich jetzt wieder zu aus den neuen Bundesländern, steigt weiter. Das Ak- ihrer deutschen Abstammung bekennen, sprunghaft tionsprogramm zur Förderung der ostdeutschen Kul- gestiegen ist. Diese Zahl ist gegenüber der Zahl derer, turarbeit ist somit ein wichtiger Baustein für das Werk die das früher wagten, enorm. der Verständigung, das sich nun vor uns entfaltet. Dies alles leistet, wie mir scheint, einen sehr wich- Die jetzt vom Innenministerium und vom Auswärti- tigen Beitrag für die Inhalte der im Entstehen begrif- gen Amt eingeleiteten grenzüberschreitenden Hilfs- fenen europäischen Minderheitenpolitik, die ja ei- maßnahmen — von denen berichtet wird und die übri- gentlich erst in Umrissen greifbar wird. gens auch spürbar sind, was Betroffene oder Mitarbei- terinnen und Mitarbeiter bestätigen, wenn man mit Das gilt natürlich auch für die wirtschaftsbezoge- ihnen spricht — , werden in guter Zusammenarbeit nen Hilfen. Allein sie werden auf Dauer Perspektiven zum Bleiben in den deutschen Siedlungsgebieten na- durchgeführt. Dieses Werk bet rifft die traditionelle Kulturpolitik, die im verstärkten Maß für die vielfach mentlich für die jungen Menschen bieten. Deswegen erst jetzt erreichbaren deutschen Minderheiten in den müssen investive Hilfen etwa beim Aufbau von Pro- Aussiedlungsgebieten durchgeführt werden muß. Es duktionseinrichtungen und von beruflicher Bildung umfaßt auch soziale und gemeinschaftsfördernde und Fortbildung im Vordergrund der Bemühungen Maßnahmen. Sie werden vor allem vom Bundesin- stehen. Hilfe zur Selbsthilfe, dieses erprobte und be- nenministerium getragen. währte Prinzip, wird auch hier seine Wirkung nicht verfehlen und allmählich zum Abbau der konsumti- Neben den sozialen Hilfen, z. B. zur Sicherstellung ven Hilfen führen. des Lebensunterhalts durch Lebensmittel und son- Die Arbeit des Bundes und der zahlreichen sie stige soziale Leistungen, medizinische Hilfen, Medi- durchführenden Personen, Gruppen und Verbände kamente und Einzelfallversorgung, Ausstattung von wird bisweilen mit Mißtrauen verfolgt oder gar diffa- Krankenhäusern mit medizinischen Geräten und miert. Krankenwagen, Altenbetreuung durch Ausstattung von Altenheimen und „Essen auf Rädern", sind ge- (Freimut Duve [SPD]: Welchen Bund meinen meinschaftsfördernde Maßnahmen für die deutschen Sie?) Minderheiten von größter Bedeutung. Jahrzehnte — Kommt gleich. lang mußten diese Menschen in der Vereinzelung le- ben, ohne daß sie ihre Muttersprache in der Öffent- (Freimut Duve [SPD]: Weil Sie sagen „des lichkeit gebrauchen durften. Bundes" !) 3812 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Dr. Roswitha Wisniewski — Des Bundes, unserer Bundesregierung, unterstützt die Länder notwendig, die durch den real existieren- durch das Parlament. — Das geschieht meines Erach- den Sozialismus in vielfacher Hinsicht zugrunde ge- tens vor allem aus Unkenntnis und durch Hochspielen richtet wurden. vereinzelter Entgleisungen, die natürlich gelegentlich (Freimut Duve [SPD]: Der hat immer den erfolgen. Marschall-Stab im Tornister!) Lassen Sie mich daher feststellen: Es muß eine — Nein, nicht Marschall-Stab, sondern Marshall-Plan, Selbstverständlichkeit sein, daß die Verträge der Bun- der sicher auch bei Ihnen, lieber Herr Duve, in bester desregierung mit den Regierungen der betroffenen Erinnerung sein wird. Staaten, insbesondere mit Polen, respektiert werden (Freimut Duve [SPD]: Bei Dregger weiß man und die Grundlage der Arbeit bilden. Es muß anderer- das nie!) seits ebenso selbstverständlich von allen gesellschaft- lichen Kräften in Deutschland erwartet werden, daß Darüber wird in den Ausschüssen zu verhandeln sie diese Arbeit mittragen. sein. Lassen Sie mich daher die Gelegenheit ergreifen, Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmt der den wichtigsten Einrichtungen, die sich ganz beson- Überweisung der vorliegenden Anträge gern zu. ders der mühevollen sozialen Betreuungsarbeit unter- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ziehen, hier öffentlich zu danken, so wie es auch in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dem vorliegenden Antrag zum Ausdruck kommt. Ich danke also der Arbeiterwohlfahrt, dem Bund der Vertriebenen, dem Deutschen Akademischen Aus- Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile dem Ab- tauschdienst und den universitären Einrichtungen, geordneten Freimut Duve das Wort. der Caritas, dem Diakonischen Werk der EKD, dem Deutschen Roten Kreuz, dem Goethe-Institut, den So- Freimut Duve (SPD): Herr Präsident! Meine Damen zialwerken der Landsmannschaften, dem Verein für und Herren! Ich dachte, wir seien in dieser Sache das Deutschtum im Ausland, dem Institut für Aus- schon näher beieinander. Aber sowohl der Antrag als landsbeziehungen, der Zentralstelle für das Auslands- auch Ihre Rede zeigen, daß wir doch noch sehr viel schulwesen, Inter Nationes, dem Auswärtigen Amt, miteinander diskutieren und auch leisten müssen. dem Bundesministerium des Innern und allen ande- ren betroffenen Ministerien und staatlichen Stellen. Der wesentliche Unterschied zu der Art, wie wir vor vier, fünf oder sechs Jahren darüber diskutiert haben, (Beifall bei der FDP) ist doch, daß wir jetzt überall in Osteuropa Demokra- Zu danken ist aber auch den zahllosen Privatperso- tien haben. Die deutschen Bürger dort müssen sich an nen und Vereinen, die z. B. durch Päckchenaktionen der Demokratie erfreuen können, d. h. sie müssen — ich habe das in meinem Wahlkreis mehrmals er- eine Möglichkeit haben, an dieser Demokratie mitzu- lebt — unendlich viel zur Verständigung und zum wirken. Der demokratische Prozeß ist doch der ent- Aufbau grenzüberschreitender menschlicher Verbin- scheidende Unterschied zu all dem, was vorher war. dungen beitragen. (Beifall bei der SPD) Schließlich danke ich auch den wissenschaftlichen Ich vermisse, daß Sie in dem Antrag, in der Benen- Einrichtungen und den einzelnen Wissenschaftlern, nung, auch in dem Begleittext zum Haushalt erken- die gerade durch ihre sachliche Auseinandersetzung nen lassen, daß hier eine fundamentale Veränderung mit den historischen und kulturellen Gegebenheiten vorliegt. Die Menschen do rt leben nicht mehr in Dik- zu einer Gesamtschau in einer imponierenden euro- taturen. Das, was in den 70er und 80er Jahren, auch päischen Weite und damit zur geistigen Bewahrung schon in den 60er Jahren, an ostdeutscher Kulturpoli- und Bewältigung der Vergangenheit und zur Grund- tik gemacht worden ist, war sehr dadurch bestimmt, legung künftiger Fortentwicklung von so etwas wie daß wir es mit Diktaturen zu tun hatten. Geschichte ist gutnachbarlicher Verbundenheit beitragen. sozusagen enteist worden. Sie ist jetzt wieder leben- dig. In dieser Geschichte spielt auch die Geschichte Ich nenne als Beispiele neben den bekannten und der verschiedenen Völker und Minderheiten im jetzi- bewährten Einrichtungen die soeben neu entstan- gen demokratischen Prozeß eine neue, andere Rolle dene Stiftungsprofessur in Leipzig mit einer ange- als in jener Zeit, als sich das nicht artikulieren schlossenen Forschungsstelle zur deutschen Literatur konnte. im östlichen Europa und die in Greifswald entste- hende Stiftungsprofessur zur pommerschen Sprache Daher müssen wir die Grundsatzfrage klären, wel- und Geschichte. chen Begriff wir von der vielhundertjährigen Gegen- wart der Deutschen in Osteuropa haben, die niemals Am Beispiel dieser beiden Einrichtungen wird deut- singularisiert und vereinzelt waren und die keine In- lich, daß auch die neuen Länder zur Mitwirkung be- sellage hatten, sondern im Gespräch, im Disput, im reit sind, die ihnen von ihrer Geschichte und von ihrer Streit auch mit anderen, mit vielen anderen — mit geographischen Lage her natürlich besonders aufge- Litauern, mit Polen — gelebt und ihre Kultur auch so tragen ist. Machen wir uns also ans Werk, damit sich entwickelt haben. dieses große Friedens- und Versöhnungswerk ent- Ich freue mich, daß die Frau Kollegin der Anhörung wickeln kann und die Folgen verhängnisvoller Politik jetzt zustimmt. Ich versuche schon seit drei bis vier und auch zweier Kriege überwinden hilft! Jahren, diese Anhörung durchzubringen. Das war we- Wir brauchen vor allem das, was der im Innenausschuß noch im Außenausschuß leicht. einen geistigen Marshall-Plan genannt hat. Er ist für Die FDP, Herr Lüder, war dafür. Aber es ist nicht Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3813

Freimut Duve gelaufen. Allerdings ist jetzt eine neue Lage vorhan- Wenn wir uns jetzt tatsächlich zu einer Anhörung den. Ich finde es gut, wenn wir ein grundsätzliches und Neudefinition bereitfinden könnten, wäre ich Gespräch haben. sehr froh. Sie haben eine Anhörung gemacht, wir haben eine Darum finde ich, verehrte Kollegin, es sehr proble- gemacht. An dieser Anhörung war sehr bemerkens- matisch, daß Sie in Ihrem Antrag von Hilfe in den wert — wir haben ja auch Herrn Dr. Czaja und Herrn „Aussiedlungsgebieten" sprechen. Koschyk eingeladen —, daß der ehemalige General- sekretär des Bundesverbands der Vertriebenen an (Horst Sielaff [SPD]: Entlarvend!) dieser Debatte in gar keiner Weise, nicht einmal durch Was heißt eigentlich Aussiedlungsgebiet? Wieso sa- Zuhören, teilnimmt, obwohl die enge Verbundenheit gen Sie, es gebe Aussiedlungsgebiete? Aussiedlung mit solchen Verbänden sozusagen eine Herzensange- heißt, daß jemand aktiv etwas betreibt. Gleichzeitig legenheit der CDU-Fraktion ist. Vielleicht kann er aus steht dann im Antrag, man solle möglichst vermeiden, irgendwelchen Gründen nicht. Sie werden mir das daß die Leute kommen. jetzt erklären. Aber ich bin etwas erstaunt. Die Autoren sollten sehr sorgsam mit der Sprache umgehen. Daß wir uns schon hier im Parlament ge- Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Duve, genüber der Sprache, von der hier so viel geredet gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Dr. Wis- wird, so verhalten, daß wir plötzlich den Beg riff „Aus- niewski? siedlungsgebiete " auf einer amtlichen Drucksache haben und gleichzeitig sagen, sie sollen nicht kom- men, finde ich skandalös. Nehmen Sie diesen Begriff Freimut Duve (SPD): Ja, bitte. zurück! Im Hinblick auf die Gefahr, die darin liegt, daß man Dr. Roswitha Wisniewski (CDU/CSU): Herr Kollege eine Kultur in einer großen kulturellen Mischland- Duve, wissen Sie vielleicht, daß Herr Koschyk gern schaft nur so vereinzelt sieht, wie wir es oft getan hier gesprochen hätte? Er war ja auch als Redner ein- haben und wie es oft auch in der Arbeit der Verbände geteilt. Er muß aber leider — oder erfreulicher- angelegt war — das kann man aus vielen Texten erse- weise — bei einer großen Veranstaltung für Heimat- hen — , zitiere ich zum Schluß Siegfried Lenz. Sieg- vertriebene anwesend sein. fried Lenz ist in seinem Roman „Heimatmuseum" die- sem Thema sehr nachgegangen. Er hat den Mu- seumsdirektor in Lucknow sagen lassen, wie er, Sieg- Freimut Duve (SPD): Gut; aber meines Erachtens wäre sein Platz bei einer solchen Debatte hier im mund Rogalla — manchmal hat ihn Siegf ried Lenz mit Hause. „Zy" und machmal mit „Si" geschrieben, um auszu- drücken, daß er sozusagen beides sei — gezwungen (Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Hören Sie doch worden sei, aus den Belegen der Geschichte im Auf- auf, Herr Duve!) trag des Deutschen Reiches wie ein Erbsenzähler die — Herr Bohl, Sie werden mich niemals dazu bringen, brauchbaren Belege hierhin und die unbrauchbaren aufzuhören, nur weil Sie meinen, daß ich aufhören dorthin zu legen. soll; dazu haben Sie nicht die Figur und nicht die Ich zitiere aus den Anweisungen aus Berlin, wie sie Gestalt. Lenz in seinem Roman bringt: (Horst Sielaff [SPD]: Das war deutlich!) Zuerst kam auf dem Postweg eine Verfügung aus —Das ist genau die Größenordnung, die man ihm Königsberg; darin wurden wir aufgefordert, das zumessen sollte. Inventar unseres Museums neu zu katalogisieren. Bei dieser Anhörung, die wir veranstaltet haben, hat (...) Was sie vor allem verlangten: die Aussonde- Klaus von Bismarck einen interessanten Gedanken rung jeglichen Inventars, das slawischen Ur- gebracht, der uns in der Diskussion weiter beschäftigt sprungs war oder dessen Herkunft nicht exakt hat. Ich denke, das sollte ein bißchen der Leitgedanke bestimmt werden konnte. Wo Zweifel bestanden, bei einer Neuformulierung sein — ich habe es soeben sollten wir uns dazu entschließen, den Gegen- schon gesagt — : Die Deutschen in Osteuropa, im heu- stand einzuziehen. tigen Polen, die Schlesier, sind nur zu begreifen in Er berichtet hier von einer realen Praxis in den 40er ihrer Nachbarschaft durch viele Jahrhunderte mit an- Jahren. Die Germanisierung ganz Osteuropas fing deren, und die anderen sind nur in ihrer Nachbar- auch im Museum an und lief mit der Geschichte. schaft zu den Deutschen zu begreifen. Er geht hier auf eine Kulturvorstellung ein, die Ich habe z. B. bis vor kurzem nicht gewußt, daß es meint: Laßt uns einen Scheinwerfer auf die Vergan- schon immer 200 000 bis 300 000 preußische Litauer genheit werfen, der in einer sehr gemischten sozialen gab, die Litauisch sprachen, aber gern zu Preußen und kulturellen Landschaft jeweils nur eine Gruppe gehören wollten. Das sind lauter kleine Vorgänge, um beleuchtet, so daß die anderen vergessen werden. die wir uns intensiver kümmern müssen. Die Deutschen sind aus ihrer Nachbarschaftsver- Wie viele Leute haben mir in meiner Kindheit im- flechtung zu begreifen. Daran hat uns Klaus von Bis- mer erzählt, daß Baltikum war so etwas wie deutsch? marck, der wußte und weiß, wovon er spricht, erin- Auch hier ist der Richtstrahler immer nur auf die Deut- nert. Ich denke, daß alle Konzepte, die bisher zur schen im Baltikum gezielt worden. sogenannten ostdeutschen Kulturpolitik vorhanden Heute sprechen auch die Polen davon, wie sie nach waren, diesem Anspruch nicht Genüge getan ha- der Vertreibung der Deutschen, die sie heute Gott sei ben. Dank als eine schimpfliche Tat anerkennen, die 3814 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Freimut Duve Scheinwerfer der Geschichte sehr selektiv auf nur ei- ihre alte Heimat in der Sowjetunion, in Rußland, zu- nen Teil der Vergangenheit der Region geworfen ha- rückzubringen. Aber wir wollen, daß sie do rt bleiben ben, nämlich auf den polnischen Teil. Auch das wird können. Wir wollen, daß die Möglichkeiten verbessert heute in Polen neu diskutiert, weil die Demokratie sol- werden, mit denen wir schon bisher geholfen ha- che Diskussionen jetzt erlaubt. ben. Alle Historiker Osteuropas belegen, daß es in Wahr- heit überall eine Geschichte des Miteinanders war, Herr Duve, da Sie den Ausdruck Aussiedlungsge- die viel länger friedlich als kriegerisch verlief. Wir biete" kritisieren, sage ich: Er ist vielleicht ein biß- erinnern aber im wesentlichen nur an die gewaltsa- chen zu sehr regierungspragmatisch oder -dogma- men Auseinandersetzungen. tisch gewählt, mit Termini, nach denen Abrechnun- gen laufen. Ich bin gerne bereit, mit Ihnen darüber Aus begreiflichen Gründen hat diesen Aspekt die nachzudenken, ob wir hier einen politisch greifenden bisherige Arbeit der ostdeutschen Kulturpolitik sehr Ausdruck finden, der auch der heutigen und morgi- wenig beachtet. Ich denke, es wäre gut, wenn wir uns gen Situation gerecht wird und sich nicht nur am Ge- gemeinsam nach einer solchen Anhörung verständi- stern orientiert. Das wird eine der Aufgaben sein, mit gen könnten, auch in der Sprache, in der Wortwahl denen wir uns im Ausschuß auseinanderzusetzen ha- der ganzen Sache eine neue Philosophie zu geben, ben. eine Philosophie, die diesem Versöhnungsauftrag, der vor uns liegt, und den Demokratiechancen, die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wir in Osteuropa nutzen müssen, gerecht wird. der SPD und der Abg. Dr. Roswitha Ich danke für die Aufmerksamkeit. Wisniewski [CDU/CSUJ) (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Bei diesem Antrag geht es uns insbesondere darum, GRÜNE) daß die kulturellen Belange — Erhaltung der Spra- che, kulturelle Veranstaltungen, Publikationen, Aus- Vizepräsident Helmuth Becker: Das Wort hat der tausch von Wissenschaftlern und anderen Multiplika- Herr Abgeordnete Wolfgang Lüder. toren — der deutschen Minderheiten in diesen Staa- ten stärker als bisher gefördert werden. Dies ist ein wichtiger Beitrag der deutschen auswärtigen Kultur- Wolfgang Lüder (FDP): Herr Präsident! Meine sehr politik. Es ist Kulturpolitik im Ausland. geehrten Damen und Herren! Vor zwei Wochen ha- ben wir hier im Plenum des Deutschen Bundestags die Das bedeutet zugleich, daß diese Politik konkret nur Beratungen über das deutsch-polnische Vertrags- im Einvernehmen mit den betroffenen Regierungen, werk aufgenommen. Der Antrag, den die Koalitions- z. B. mit der Regierung der Republik Polen, nur ge- meinsam mit der Regierung der Sowjetunion und den fraktionen heute zur Beratung stellen, fügt sich be-- wußt und gewollt in den Rahmen dieses Vertrags- Regierungen der Staaten der Union, in denen die werks und auch der zu erwartenden Vertragswerke deutschen Minderheiten leben, vereinbart werden ein. Er will den Zielen dieser Vertragswerke dienen. kann, Das Thema, das uns heute beschäftigt, ist auch über (Freimut Duve [SPD]: Und mit dem Auswär den Rahmen dieses Hauses hinaus aktuell. In dieser tigen Amt!) Woche weilt eine Delega tion aus der Russischen Re- publik in Deutschland. Gestern morgen war die Dele- und zwar zwischen der Bundesrepublik Deutschland gation mit Herrn Minister Leonid P. Prokopjew, dem und diesen Regierungen. Die Bundesrepublik Vorsitzenden des Staatskomitees der RSFSR für Na- Deutschland wird in auswärtigen Belangen — so habe tionalitätenfragen und der Kommission bei der Regie- ich es gelernt — durch das Auswärtige Amt vertreten, rung der RSFSR für die Angelegenheiten der Deut- sofern das keine Angelegenheit ist, bei der der Kanz- schen, im Plenum auf der Ehrentribüne. Im Trubel der ler das politische Sagen gemeinsam mit dem Außen- gestrigen Debatte blieben die hohen Gäste anonym. minister wahrnimmt. Der Notar der Bundesrepublik Ich meine, wir sollten ihnen heute nachträglich für ist der Außenminister, wie sich das aus Völkerrecht ihren Besuch bei uns danken. und Verfassung ergibt. In diesen Fragen kann es dar- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie über gar keinen Streit geben. bei Abgeordneten der SPD) Der Antrag greift über den bilateralen Bereich der (Freimut Duve [SPD]: Sehr gut!) abgeschlossenen oder abzuschließenden Verträge hinaus. Wir wollen mit ihm die grundsätzliche Platt- Lassen Sie mich, über den Antrag hinausführend, form dafür legen, daß drei Ziele erreicht werden: auf eines aufmerksam machen, worauf uns gerade die russische Delegation hingewiesen hat: So wich tig und Erstens. Wir wollen den Deutschen, die im östlichen notwendig es ist, daß wir den Bereich der Förderung Europa und jenseits des Urals leben, ein Zeichen dafür der Kultur und der kulturellen Identität in den Gebie- setzen, daß wir mit unseren politischen und finanziel- ten, in denen die Deutschen als Minderheiten leben, len Mitteln dazu beitragen wollen, daß ihnen eine unterstreichen, so notwendig ist es auch, daß wir uns Perspektive zum Verbleiben in ihrer jetzigen Heimat als Parlament mit der Bitte an unsere Wirtschaft wen- gegeben wird. den, daß auch sie ihren Beitrag zur praktizierten Soli- Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Das darität im ökonomischen Bereich wahrnehmen sollte. berührt nicht die Frage, ob es nicht doch gelingt, die Wir sollten die Wirtschaft auch ermuntern, Investitio- Sowjetdeutschen aus ihrem jetzigen Wohngebiet in nen und Kooperationen gerade in den Gebieten, in Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3815

Wolfgang Lüder denen Deutsche als Minderheit leben, zu verstär- können und dürfen wir nicht den ärmeren Staaten im ken. Osten allein überlassen. Sie werden ihren Beitrag dazu leisten. Aber wir müssen auch hier mithelfen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die drei Forderungen dieses Antrags gehören zu- sammen, sie bilden eine Einheit auf der Grundlage Wir werden auch prüfen müssen, ob wir unseren der Verträge und des Zusammenwachsens Europas: Antrag nicht vielleicht noch um diesen Punkt ergän- Erstens. Wir wollen, daß die Deutschen in ihren zen. Denn ohne ein wirtschaftliches Engagement in angestammten Gebieten in Osteuropa als nationale diesen Ländern, ohne einen wirtschaftlichen Auf- Minderheiten, aber eben in ihrer Heimat leben kön- schwung dort, wird es schwieriger sein — ich will nen. Dazu wollen wir ihnen helfen. Dies ist auch ein mich zurückhaltend ausdrücken — , den Weg zu ge- Beitrag zur multikulturellen Gesellschaft in Europa. hen, den wir alle für notwendig halten. (Beifall bei der FDP) Wir wollen unserer Verantwortung gegenüber den Zweitens. Wir wollen das kulturelle Erbe der Ver- in diesen Ländern gleichermaßen gerecht Deutschen gangenheit nicht dem Vergessen anheimfallen las- werden, wie wir den Respekt vor der Souveränität sen. Deswegen unterstützen wir die Arbeit derer, die dieser Staaten wahren wollen. Deswegen muß es ge- sich diesem Werk besonders verpflichtet wissen. meinsam mit den Regierungen gehen. Seitdem diese Staaten nun wirklich demokratisch strukturiert sind, Drittens. Wir wollen gemeinsam mit den Regierun- wird es auch den demokratisch gewählten Regierun- gen der osteuropäischen Staaten dazu beitragen, daß gen unseres Landes und der Länder drüben gelingen, nicht zerstört wird, was bewah rt werden sollte. Wir hier gemeinsame Wege für die Menschen zu finden. leisten damit einen Beitrag auch zur Versöhnung in Europa. Nicht durch Verdrängen des Vergangenen, Ich bin damit einverstanden — ich schließe an das nur durch Auseinandersetzung mit der Vergangen- an, was Frau Wisniewski erklärt hat —, die Anhörung heit können wir Zukunft gestalten. Nicht durch Zer- durchzuführen, weil wir das Wissen vertiefen wollen. störung des Erbes, sondern durch seine Pflege werden Wir wollen den Weg in die neue Zeit mit Sachver- wir den Herausforderungen der Zukunft gerecht. stand, Sachkunde und unter Einbeziehung der Bürger Danke. gehen. (Beifall im ganzen Hause) Der zweite Punkt des Antrages ist folgender: Mit der Herstellung der Einheit Deutschlands vor einem Jahr und der bevorstehenden Verabschiedung des Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Gesetzes zum deutsch-polnischen Vertrag und später Herrn, das Wort hat jetzt der Herr Abgeordnete zu den anderen Verträgen findet die Nachkriegszeit Dr. Dietmar Keller. des Zweiten Weltkrieges ihren Abschluß, eine Zeit, in der viele unserer Mitbürger viel verloren haben. Mit (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- haben die Aussiedler und die Dr. Dietmar Keller dem Verlust der Heimat dent! Meine Damen und Herren! Die beiden vorlie- früher Vertriebenen auch die Stätten aufgegeben, in genden Anträge finden von ihrem inhaltlichen Anlie- denen und an denen sie ihr kulturelles Erbe wahren gen her die Zustimmung der PDS/Linke Liste, und konnten. Ich betrachte es als eine der Hauptaufgaben, zwar zumindest aus zwei Gründen: die die Vertriebenen und ihre Verbände stets mit gro- ßem Engagement wahrgenommen haben, daß die Erstens hat der Deutsche Bundestag eine hohe Ver- Stätten der Pflege der ostdeutschen Kultur und Ge- antwortung für die Pflege, den Schutz, die Bewahrung schichte — heute müssen wir sagen: der früher ost- und die Förderung des deutschen Kulturerbes glei- deutschen Kultur und Geschichte — nicht ins Verges- chermaßen wie — darüber ist bisher nicht gesprochen sen geraten. Niemand darf und kann geschichtslos worden — für die Förderung des zeitgenössischen dastehen. Dies wahrzunehmen und aufzugreifen ist künstlerischen Schaffens nicht nur in den Alt- und eine der wichtigen Aufgaben auch staatlicher Politik. Neuländern, sondern auch in Ost- und Südost- Gerade wegen der endgültigen Regelung der Grenze, europa. gerade weil Deutschland jetzt und auf Dauer in den Zweitens — das ist eben von Herrn Lüder schon Grenzen dieser Bundesrepublik Deutschland exi- gesagt worden — geht unser Blick auf das vereinigte stiert, müssen wir hier mit unserer Bundesrepublik Europa. Unsere Erfahrungen der letzten Jahre besa- Deutschland — aber bitte auch auf die ostdeutschen gen, daß das kulturelle Leben ein nicht unwesentli- Bundesländer verteilt; lassen Sie uns das Kultur- und cher Faktor im Vorfeld der Wiedervereinigung Geschichtserbe der früher ostdeutschen Gebiete nicht Deutschlands gewesen ist und auch bei dem Prozeß nur im heutigen Westdeutschland wahren — verstärkt des Werdens eines einheitlichen Deutschland eine das geschichtliche und kulturelle Erbe aus den histo- nicht unwesentliche Rolle spielen wird. rischen Reichs- und Siedlungsgebieten wahren und Gestatten Sie mir, obwohl ich damit schon sagen pflegen. könnte, meine Rede sei zu Ende, auf vier Probleme Schließlich drittens: Durch Krieg und Nachkriegs- des Antrags der Koalitionsfraktionen aufmerksam zu zeit sind vielfach deutsche Kulturgüter von europäi- machen. schem Rang der Gefahr des Zerfalls und der Zerstö- Erstens. Mir scheint, daß Klarheit bezüglich der rung ausgesetzt. Hier geben uns die Anerkennung Begriffe geschaffen werden muß, damit es keine Miß- der Realitäten in Europa und die neuen Gemeinsam- verständnisse gibt. Die Überschrift des Antrags der keiten der Demokraten auf unserem Kontinent die Regierungsfraktionen lautet „Förderung der Deut- Chance, Verfall und Zerstörung zu vermeiden. Dies schen und ihrer Kultur im östlichen Europa und jen- 3816 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Dr. Dietmar Keller seits des Urals sowie des ostdeutschen Kulturerbes in Danke. der Bundesrepublik Deutschland". Im Text des An- (Beifall des Abg. Freimut Duve [SPD]) trags heißt es im Gegensatz dazu: „Die Bundesrepu- blik Deutschland trägt eine besondere Verantwortung für die deutsche Kultur in den früheren ostdeutschen Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Provinzen Pommern, Ostpreußen, Westpreußen, Herren, ich erteile jetzt dem Staatsminister im Aus- Schlesien und in den deutschen Siedlungsgebieten in wärtigen Amt, Herrn Helmut Schäfer, das Wort. mittel-, südost- und osteuropäischen Ländern. " Das ist ein Unterschied. Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die (Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Minister für Kul- Bundesregierung kann dem Anliegen des Entschlie- tur war der mal!) ßungsantrages voll zustimmen. Wir wollen, daß durch — Herr Bohl, ich weiß, Sie sind heute erst einmal im unsere Hilfsmaßnahmen dazu beigetragen wird, den Protokoll aufgeführt. Ich verstehe, daß Sie ab und zu rund 3,5 Millionen Deutschen eine Zukunftsperspek- etwas sagen, damit Sie noch einmal im Protokoll auf- tive in ihrer angestammten Heimat zu geben. Lassen tauchen. Das brauchen Sie für Ihren künftigen Weg. Sie mich allerdings auch anmerken, daß der Beg riff Ich habe Verständnis dafür. „Aussiedlungsgebiete" nicht unbedingt der glück- lichste ist. (Zuruf von der CDU/CSU: Er hat Sie endlich (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ mal zur Kenntnis genommen! Freuen Sie sich GRÜNE) doch darüber!) Aber ich habe den Eindruck, daß Sie bereit sind, ihn Zweitens. Ich mache auf den Beg riff ostdeutsches zu ändern. Er würde ja geradezu suggerieren, daß die Kulturerbe aufmerksam. Auch dieser Beg riff ist etwas von uns begrüßte Alternative des Bleibens nicht mehr problematisch, zumal im letzten fast halben Jahrhun- bestünde. dert der Begriff „ostdeutsches Kulturerbe" oder „Ost- Dieses Ziel schien jahrzehntelang unerreichbar; deutschland" für die ehemalige sowjetische Besat- denn Grundvoraussetzung für unsere Hilfspro- zungszone und die DDR benutzt wurde. Übrigens hat gramme zugunsten der deutschen Minderheiten ist die Regierung dies heute durch Herrn Dr. Wieczorek die Akzeptanz der Minderheiten durch Regierung ebenfalls gesagt, indem er formuliert hat, er möchte und Bevölkerung des jeweiligen Partnerlandes. Heute als Ostdeutscher eine Bemerkung machen. wird niemand in diesem Haus bestreiten, daß wir in den letzten Jahren sehr wesentliche Verbesserungen Drittens. Ich weiß nicht, was Sie mit „ihrer Kultur" der tatsächlichen und rechtlichen Lage der Minder- meinen. Wenn Sie der Auffassung sind, daß damit heiten erreicht haben. Kulturelle und sprachliche Ei- auch die zu Kultur gewordene Lebensweise, die die genständigkeit der deutschen Volksgruppen werden Deutschen in anderen Ländern Europas aus der Kultur auch dort wieder anerkannt, ja, sogar gefördert, wo sie ihrer jetzigen Heimatländer aufgenommen haben, ge- über lange Zeit hinweg abgestritten und tabuiert wor- meint ist, kann man dem zustimmen, wie man auch den waren. zustimmen kann, daß man meint, es sei nur das deut- sche Kulturerbe gemeint. In dem Kopenhagener Dokument über die mensch- liche Dimension der KSZE ist ein europäischer Stan- (Zuruf von der CDU/CSU: Wie wollen Sie das dard der Minderheitenrechte erarbeitet worden, der trennen?) auch in die bilateralen Verträge, die wir zur Zeit mit den Regierungen in Mittel-, Südost- und Osteuropa — Man muß deutlicher machen, was gemeint ist, weil abschließen und abgeschlossen haben, Eingang ge- „ihr Kulturerbe" natürlich ein viel, viel umfassenderer funden hat. Mit diesen Verträgen ist eine rechtlich Begriff ist, als er im Antrag behandelt zu sein gesicherte Grundlage für die Existenz und die Entfal- scheint. tung der deutschen Minderheiten in ihren Heimatlän- Zu dem Begriff „Aussiedlungsgebiet" ist hier ge- dern erreicht worden. sprochen worden. Ich glaube, es gibt Übereinstim- Lassen Sie mich nur einige wichtige Elemente nen- mung darüber, einen besseren Beg riff zu finden. nen: Die Deutschen können selbst darüber entschei- den, ob sie in ihrer bisherigen Heimat bleiben oder Viertens. Die Maßnahmen, die wir vorsehen, dürfen nach Deutschland übersiedeln wollen. Die Minder- nicht zu einer Bevorzugung der Deutschen gegenüber heiten können sich in ihrer jetzigen Heimat offen zu den mitwohnenden Angehörigen anderer Nationali- ihrer deutschen Volkszugehörigkeit bekennen und täten führen. Deshalb ist der Vorschlag, den Herr Lü- ihre kulturelle und sprachliche Identität entfalten. Die der hier formuliert hat, wirtschaftsbegleitende Pro- Bundesregierung, sonstige deutsche Institutionen wie gramme zu entwickeln und zu realisieren, meines Er- auch Privatpersonen haben das Recht, über Grenzen achtens vernünftig. hinweg Kontakte zu diesen Minderheiten zu erhalten Das folgende sage ich insbesondere mit Blick auf und zu entwickeln. Das schließt natürlich nachhaltige die Zeitschrift „Infodienst für deutsche Ausländer" Hilfsmaßnahmen ein. vom Juli 1991, wo eine Kommentierung Ihres Antrags Die Bundesregierung bemüht sich nach Kräften, dahin erfolgt ist, daß mit diesem Antrag keine Tür diese neuen Chancen konkret zu nutzen. Ihre Hilfs- aufgestoßen werden darf, auf die Prozesse der Erlan- maßnahmen werden im wesentlichen vom Bundesmi- gung der Selbstverwaltung von außen über uns ein- nisterium des Innern und vom Auswärtigen Amt zuwirken. Das wird eine Aufgabe der Deutschen in durchgeführt. Dabei besteht gute Zusammenarbeit. den Ländern, in denen sie jetzt leben, bleiben. Die Aufgabenteilung bedeutet, daß die kulturellen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3817

Staatsminister Helmut Schäfer Förderungsprogramme aus den Mitteln des Auswärti- Außerdem stehen wir vor neuen Aufgaben. Zwei gen Amtes, soziale und gemeinschaftsfördernde Maß- Stichworte dazu: unsere Unterstützung bei der drin- nahmen einschließlich wirtschaftlicher Förderung aus gend erwünschten Einführung muttersprachlichen Mitteln des Bundesministeriums des Innern finanziert Unterrichts den es bisher praktisch nur in Rumänien werden. gibt, sowie in der Sowjetunion die Perspektive einer Wolga-Republik, über die — Herr Kollege Lüder hat darauf hingewiesen — in dieser Woche sehr intensive Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Staatsmini- ster, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gespräche in Bonn geführt worden sind. Duve? Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir zum Schluß noch folgenden Hinweis: Kulturelle Hilfen sind unverzichtbar für den Prozeß des Sichwiederfin- Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Herr Kollege Duve, Ihre Frage darf aber nicht auf dens der deutschen Minderheiten. Wir sind uns im meine Redezeit angerechnet werden. Ich muß darauf klaren darüber, daß sie allein nicht ausreichen. Die bestehen; denn ich wollte mich — sie merken das mei- politische Gesamtsituation sowie die wi rtschaftliche nem Tonfall an — beeilen, damit Herr Sielaff noch Lage im jeweiligen Land entscheiden natürlich über zum Zuge kommt. den Verbleib oder die Aussiedlung. Hier ergibt sich eine besondere Verantwortung auch unserer Außen- politik bei der Umsetzung unserer Förderungspolitik. Vizepräsident Helmuth Becker: Er will diese Gele- Hilfsmaßnahmen für die deutschen Minderheiten genheit noch einmal nutzen. — Bitte, Herr Kollege üben erheblichen Einfluß auf unsere Beziehungen zu Duve. diesen Ländern insgesamt aus. Regierung und Öffent- lichkeit in diesen Ländern beobachten mit Aufmerk- Freimut Duve (SPD): Herr Staatsminister, ist Ihr Lob samkeit, manchmal auch mit Besorgnis nicht nur das der guten Zusammenarbeit so zu verstehen, daß Sie Verhalten der Minderheiten in ihren Ländern, son- an der Aufgabenteilung zwischen Innenministerium dern auch, in welcher Weise die Bundesregierung auf und Auswärtigem Amt und an dem Auftreten von sie Einfluß nimmt. Organisationen, die jeweils aus dem einen oder dem Es muß deshalb an uns liegen, in den Ländern Mit- anderen Haushalt im Ausland finanziert werden, tel- und Osteuropas die Erkenntnis zu stärken, daß überhaupt nichts auszusetzen haben und daß Sie auch unsere Hilfe für die deutschen Minderheiten letztlich künftig eine Veränderung dieser Lage nicht anstre- dazu dienen muß, unser partnerschaftliches Verhält- ben? nis — in Zukunft hoffentlich auch unser freundschaft- liches Verhältnis — zu unseren östlichen Nachbar- Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen staaten weiterzuentwickeln. Amt: Herr Kollege Duve, es geht mir hier darum, die Vielen Dank. sinnvolle Zusammenarbeit von zwei Häusern der Bundesregierung herauszustellen. Sollte es gelegent- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD lich da oder dort eine Schwierigkeit geben, obliegt es und dem Bündnis 90/GRÜNE) der Opposition, sie deutlich zu machen. Lassen Sie mich deshalb nur noch zu den kulturel- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und len Förderungsprogrammen des Auswärtigen Amtes Herren, als letztem Redner zu diesem Tagesordnungs- sprechen. Für die unmittelbare Minderheitenförde- punkt erteile ich dem Kollegen Horst Sielaff das rung sind 1990 und 1991 jeweils rund 10 Millionen Wort. DM bereitgestellt worden. Darüber hinaus kam aber auch das generelle Förderungsinstrumentarium der Horst Sielaff (SPD): Herr Präsident! Meine Damen auswärtigen Kulturpolitik teilweise den deutschen und Herren! Das Hauptargument für die Aussiedlung Minderheiten zugute, so daß die tatsächlichen Auf- vieler Deutscher aus Ost- und Südosteuropa war: Wir wendungen wesentlich höher lagen. verlieren unsere eigene Identität, weil wir die Mutter- Der Schwerpunkt unserer kulturellen Hilfsmaßnah- sprache verlieren; unsere Enkel werden nicht mehr men lag beim Ausbau des Deutschunterrichtes im deutsch sprechen, und die Pflege unserer deutschen Schulbereich: Entsendung von Lehrern, Ausbildungs- Kultur, der Kultur unserer Eltern und Großeltern, ist und Fortbildungsmaßnahmen für Deutschlehrer, Be- nicht mehr möglich. reitstellung und Entwicklung von deutschen Unter- Die Förderung deutscher Kultur im Ausland, insbe- richtsmaterialien sowie Förderung des Ausbaus sondere in Ost- und Südosteuropa, hat deshalb heute, deutschsprachiger Zweige an Schulen, Pädagogi- wie ich meine, eine Bedeutung, die über kulturpoliti- schen Hochschulen und Universitäten. sche Aspekte im engeren Sinne hinausgeht. Es sind Dazu gab es auch die Unterstützung beim Aufbau Hilfen, die die Menschen bewegen können, in ihrer von Bibliotheken und deutschsprachigen Theatern jetzigen Heimat zu bleiben. — auch das ist sehr wichtig — sowie deutschsprachi- Wir begrüßen deshalb, Herr Staatsminister, die Be- gen Medien. mühungen der Bundesregierung, die Einrichtung von Meine Damen und Herren, um die Kulturpro- deutschen Begegnungsstätten und Sprachkursen, von gramme im kommenden Jahr entsprechend den Be- kulturellen Initiativen, Handwerksbetrieben und vie- dürfnissen der deutschen Minderheiten durchführen len andern mehr in Ost- und Südosteuropa zu unter- zu können, ist natürlich eine erhebliche Steigerung stützen. Dafür stehen 1990/91 insgesamt 20 Millionen der Haushaltsmittel nötig. Dem schnell wachsenden DM zur Verfügung. Es wäre gut gewesen, wenn es Bedarf können wir sonst nicht mehr entsprechen. diese Hilfe, wie ich meine, schon vor sechs, sieben 3818 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Horst Sielaff Jahren gegeben hätte und wenn sie massiver einge- sinnvolle Verbandszeitschriften verteilt werden, bun- setzt worden wäre, denn viele Deutsche haben inzwi- desdeutsche Zeitungen in ihrer Vielfalt aber nicht schen ihre Heimat verlassen. Ich meine, trotz der ausreichend zu finden sind. schwierigen Situation in den Ländern wäre eine ver- (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Und stärkte Hilfe auch schon früher möglich gewesen. dann noch aus dem Bundeshaushalt finan (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Sehr rich- ziert!) tig!) — Das ist richtig, Herr Kollege. — Dem Eindruck, der Klagen, daß man zu wenige Deutschlehrer und kein mancherorts in der Vergangenheit entstanden ist, ausreichendes Unterrichtsmaterial habe, die von den man müsse, um Förderung aus Deutschland zu erhal- Deutschen aus Ungarn, Polen, Rumänien und der ten, Mitglied eines bestimmten Verbandes sein, muß UdSSR geführt werden, hören wir weiterhin — Frau der Boden entzogen werden. Kollegin Wisniewski hat darauf hingewiesen — , und (Zustimmung bei der SPD sowie des Abg. zwar trotz dieser Hilfen. Ich meine in der Tat, daß Dr. Dietmar Keller [PDS/Linke Liste] — Frei deshalb vermehrte Anstrengungen notwendig sein mut Duve [SPD]: Richtig! Das ist nicht demo werden. -kratisch!) (Beifall des Abg. Toetemeyer [SPD]) Unser Antrag hat das Ziel, Effektivität und Inhalte Meine Damen und Herren, deutsche Kulturarbeit in der Fördermaßnahmen zu überprüfen. Das liegt auch Ost- und Südosteuropa löst bei manch einem im Land, im Interesse der Verbände, die zum Teil hervorra- aber insbesondere auch im Ausland noch immer Un- gende Arbeit leisten; das wollen wir gar nicht bestrei- behagen aus. Es heißt, dies sei Deutschtümelei oder ten. Aber ich glaube, man sollte diese Arbeit von Zeit gar kultureller Chauvinismus. Wir meinen: Die Pflege zu Zeit überprüfen. Ein Verband, der vernünftig ar- deutscher Kultur in Ost- und Südosteuropa kann und beitet, wird dies auch begrüßen. Darüber hinaus muß muß Brückenfunktion haben, die Verständigung, gewährleistet sein, daß den neuen politischen Gege- Überwindung von Vorurteilen und Interesse an der benheiten in den Ländern Ost- und Südosteuropas jeweils anderen Kultur fördert. Herr Duve hat im ein- Rechnung getragen wird. zelnen darauf hingewiesen. (Zuruf von der CDU/CSU: Tun wir doch!) So darf auch die materielle Hilfe für die Deutschen Ich möchte zum Schluß noch eines sagen: Wir ha- andere Nationalitäten nicht ausschließen. Gemein- ben hier im Deutschen Bundestag bisher — zumindest same Projekte von Deutschen und Menschen anderer in den letzten Jahren — mit großer Einmütigkeit, wie ethnischer Zugehörigkeit verdienen daher, wie ich ich meine, für die Belange der Deutschen in Ost- und meine, besondere Förderung. Das Nebeneinander, Südosteuropa nicht nur gerungen, sondern wir sind gegenseitiges Kennenlernen und die wechselseitige- sogar gemeinsam dafür eingetreten. Wir sollten jetzt Beeinflussung sollten Ziel unserer Förderungsmaß- nicht Porzellan auf dem Rücken der Deutschen in Ost- nahmen sein. und Südosteuropa zerschlagen, wie es beispielsweise, meine Damen und Herren von der CDU, gestern ge- Ich plädiere dafür, die Förderung mit großer Behut- rade wieder Herr Koschyk, im Pressedienst Ihrer Par- samkeit und Umsicht zu betreiben. Das gilt gerade tei nachzulesen, mit, wie ich meine, nicht hilfreichen dann, wenn wir dabei sind, auch im wirtschaft lichen Unterstellungen gegen die Sozialdemokraten getan Bereich zu helfen. Ich glaube, es darf nicht der Ein- hat. druck entstehen, als ob die anderen damit womöglich auf der Strecke bleiben oder benachteiligt würden. (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Das kann Wir müssen alles vermeiden, was aus dem Nebenein- man wohl sagen!) ander verschiedener Kulturen neue Nationalitäten- Ich meine, wir sollten, da es endlich ohne Probleme konflikte entstehen läßt. Anläßlich der endlich abseh- möglich ist, weiterhin nüchtern, aber tatkräftig baren Wiedereinrichtung der autonomen Wolga-Re- — vielleicht noch tatkräftiger — Hilfe gewähren, um publik für die Deutschen in der Sowjetunion ist dies den Menschen dort das Bleiben zu erleichtern, damit von besonderer Bedeutung. Für die im Wolgagebiet die Aussiedlung nicht als einzige Alternative stehen- lebenden Russen und anderen Nationalitäten darf bleibt. nicht der Eindruck einer Zweitklassierung entstehen. Es bedarf deshalb genauer Überlegungen, wie man Ich habe den Eindruck, daß Sie, meine Damen und mit dieser neuen positiven Situation umzugehen ge- Herren von der CDU/CSU, leider zu spät gemeinsam willt ist. mit uns für dieses Bleiben eingetreten sind und daß von daher sicherlich manche Hilfe zu spät kommt. Es muß darüber hinaus verhindert werden, daß die Pflege deutscher Kultur zum Instrument von Verbän- den oder gar einzelnen Funktionären und ihren Inter- essen wird. Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Sie- laff, wollen Sie eine Zwischenfrage zulassen? — Bitte, (Zustimmung bei der SPD und des Abg. Frau Dr. Wisniewski. Wolfgang Lüder [FDP]) Meine Damen und Herren, damit meine ich Verbände und Funktionäre nicht nur in der Bundesrepublik, Dr. Roswitha Wisniewski (CDU/CSU): Herr Kol- sondern auch vor Ort. Es ist wenig hilfreich für deut- lege, ist Ihnen bekannt, daß Herr Koschyk gemeint sche Kulturarbeit im Ausland, wenn in deutschen Be- und auch deutlich gesagt hat, daß wir nicht durch die gegnungsstätten massenweise mehr oder weniger Streichung des Art. 116 eine Torschlußpanik hervor- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3819

Dr. Roswitha Wisniewski rufen und auf diese Weise zu großen Auswanderungs- Einrichtung einer Stiftung zum Schutz und zur bewegungen animieren dürfen? Bewahrung der Stätten des antifaschistischen Widerstands (Wolfgang Lüder [FDP]: Da hat er recht!) — Drucksache 12/1117 — Überweisungsvorschlag : Innenausschuß (federführend) Horst Sielaff (SPD): Liebe Frau Kollegin, Sie haben Rechtsausschuß nur einen Teil dieser Presseerklärung zitiert. Ich er- ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Frei- gänze das jetzt aus dem Kopf. Herr Koschyk hat ge- mut Duve, Dr. Willfried Penner, Wolfgang sagt, daß die Sozialdemokraten die Deutschen in der Thierse, weiterer Abgeordneter und der Frak- Sowjetunion verunsichern würden. Wer so etwas tion der SPD heute erklärt, verstärkt die Unruhe bei manchen Men- Mahn- und Gedenkstätten in der Bundesrepu- schen. blik Deutschland Jetzt sage ich Ihnen noch ein Zweites: Es mag sein — Drucksache 12/1189 — — ich möchte das gar nicht bestreiten, Herr Bohl —, Überweisungsvorschlag: daß Herr Koschyk in seiner Funktion beim Bund der Innenausschuß (federführend) Vertriebenen manche Dinge frühzeitig, gut und ver- Finanzausschuß nünftig gemacht hat, Ausschuß für Bildung und Wissenschaft (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Im Ge- Interfraktionell ist für die gemeinsame Aussprache gensatz zum Präsidenten!) eine Runde mit Fünf-Minuten-Beiträgen vereinbart worden. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das manche auch weniger gut. Sich aber jetzt als der Ver- so beschlossen. walter der Interessen der Deutschen gerade in der Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abge- Sowjetunion aufzuspielen und so zu tun, als würde ordnete Dr. Dietmar Keller. man dieses Thema jetzt entdecken, ist sicherlich nicht redlich. Ich glaube, daß der Herr Staatsminister Schä- fer schon lange vor Herrn Koschyk da war. Ich war Dr. Dietmar Keller (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- noch früher da. Es war leider so, daß sich die Unions- dent! Meine Damen und Herren! Ich bin in der etwas politiker in den letzten Jahren gerade um die Deut- unglücklichen Situation, einen Antrag meiner Gruppe schen der Sowjetunion äußerst zurückhaltend ge- begründen zu müssen und zur gleichen Zeit einen kümmert haben. Insofern sollte auch Herr Koschyk in Antrag der SPD zu finden, der aus meiner Sicht wei- dieser Frage zurückhaltender sein. Er hilft den Men- terreichend ist und — das sage ich selbstkritisch — schen in Ost- und Südosteuropa mit dieser Polemik auf Einseitigkeiten, die leider in unserem Antrag ent- nicht. - halten sind, verzichtet. (Beifall bei der SPD — Hans-Günther Toete- Ich sage das deshalb, weil zur Aufarbeitung der meyer [SPD]: Richtig! So ist es! — Freimut Geschichte gehört, daß wir uns nicht nur um die Stät- Duve [SPD]: Koschyk ist ein junger Mann! ten des faschistischen Terrors und des antifaschisti- Gnade der späten Geburt!) schen Widerstandes bemühen müssen, sondern daß es auch um Orte der Trauer und um Orte geht, in denen Opfern des Stalinismus zu gedenken sein wird. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und (Zuruf von der CDU/CSU: Späte Einsicht!) Herren, ich schließe die Aussprache. Wie nötig das ist, — — Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf (Stefan Schwarz [CDU/CSU]: Späte Ein Drucksache 12/844 an die in der Tagesordnung auf- sicht!) geführten Ausschüsse vorgeschlagen. — Ja, manche haben eine späte Einsicht, manche Die Vorlage auf Drucksache 12/1188 soll — in Ab- überhaupt nie eine Einsicht; das unterscheidet uns weichung vom Überweisungsvorschlag in der Tages- manchmal. ordnung — zur federführenden Beratung an den In- Wie nötig das ist, beweisen aktuelle Ereignisse, be- nenausschuß und zur Mitberatung an den Auswärti- weisen Ravensbrück und Hoyerswerda. Wir werden gen Ausschuß überwiesen werden. auch darauf verwiesen, daß der Krakauer Appell vom Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre und sehe Juni 1991 und der Antrag zum 11. Ordentlichen Kon- keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen greß der FIR vom Juni 1991 diese Probleme in den so beschlossen. Blickpunkt stellen. Wenn ich sage, daß wir uns auch für Gedenkstätten verantwortlich fühlen müssen, in denen der Opfer des Stalinismus zu gedenken sein wird, schließt das für Ich rufe nunmehr die für heute letzten Punkte der mich ein, daß wir uns weniger von politischen Augen- Tagesordnung, den Tagesordnungspunkt 12 und den blicksemotionen leiten lassen sollten, sondern die hi- Zusatztagesordnungspunkt 7, auf: storischen wissenschaftlichen Arbeiten derer zur 12. Beratung des Antrags der Abgeordneten Kenntnis nehmen, die auf diesem Gebiet gearbeitet Dr. Barbara Höll und der Gruppe der PDS/ haben, und dabei auch verhindern sollten, eine Auf- Linke Liste fassung zu propagieren, daß das gesamte Territorium 3820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Dr. Dietmar Keller der DDR zu einem Gedenkort des Stalinismus ge- Es ist für mich nicht zufällig, aber bezeichnend, daß macht wird. die PDS weder das Grundgesetz noch den Einigungs- Ich finde den Antrag der PDS gut und richtig, ich vertrag zur Kenntnis nimmt. finde den Antrag der SPD weitergehend. Ich kann im Außerdem hat sich mit dieser Problematik der Augenblick nicht im Namen meiner Gruppe spre- Haushaltsausschuß des Bundestages schon im Okto- chen; aber ich kann mir vorstellen, daß, wenn in der ber 1990 befaßt, und es bleibt die von der Bundesre- Ausschußarbeit in den SPD-Antrag ausdrücklich und gierung zu diesem Zeitpunkt erbetene Gesamtkon- namentlich der Schutz und die Bewahrung der Stätten zeption zur Beteiligung des Bundes in diesem Bereich des antifaschistischen Widerstandskampfes in seiner abzuwarten. Zum anderen muß zu dem Antrag, eine ganzen Breite aufgenommen wird, wir unseren An- Stiftung zu errichten, bemerkt werden, daß in den trag zurückziehen können und unsere Stimme dem Hauptsitzländern dieser Gedenkstätten für die Opfer Antrag der SPD-Fraktion geben können. des Nazi-Regimes bereits Landesstiftungen — z. B. in Danke. Brandenburg und Thüringen — eingerichtet worden sind und daß überhaupt die Frage ist, ob sich das lohnt und in welcher Weise da noch eine Bundesstiftung Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile nunmehr tätig werden könnte. Meiner Ansicht nach stünde es das Wort dem Abgeordneten Michael Stübgen. gerade der PDS als historischer Nachfolgerin der SED besser zu Gesicht, daß sie, wenn sie schon einen sol- chen Antrag stellt, auch die Opfer und Widerständler Michael Stübgen (CDU/CSU): Herr Präsident! gegen den SED- und Stasi-Terror einbezieht. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kol- lege Dr. Keller, obwohl Sie jetzt Ihren Antrag zurück- (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf des Abg. genommen haben Dr. Dietmar Keller [PDS/Linke Liste]) (Zuruf von der SPD: Hat er nicht!) In der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts gibt es nur ein dem Nazi-Terror — — — angekündigt haben, daß Sie ihn zurücknehmen wollen — (Anhaltende Zurufe des Abg. Dr. Dietmar Keller [PDS/Linke Liste]) (Zuruf des Abg. Dr. Dietmar Keller [PDS/ Linke Liste] — Zurufe von der SPD) — Bitte, stellen Sie doch eine Zwischenfrage, wenn — darf ich bitte weiterreden — , werde ich trotzdem Sie das wollen; ansonsten lassen Sie mich ausreden. darauf eingehen, weil ich nämlich auch nachweisen (Weitere Zurufe des Abg. Dr. Dietmar Keller möchte, daß Ihr Antrag nicht zufälllig einseitig war, [PDS/Linke Liste]) sondern daß die Art und Weise und die Terminologie Ich habe Sie auch ausreden lassen. Wir haben Ihre Ihres Antrags exemplarisch sind für die Politik Ihrer- Konsorten vierzig Jahre lang — leider zu lange — aus- Partei bis in die heutigen Tage. reden lassen. (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Dietmar Kel- ler [PDS/Linke Liste]: Zuhören lernen, Herr Meines Erachtens gibt es in der europäischen Ge- Kollege! — Stefan Schwarz [CDU/CSU]: Das schichte des 20. Jahrhunderts nur ein dem Naziterror hätten Sie besser früher selbst gemacht!) vergleichbares Unrecht, und das sind die Machen- schaften des Stalin-Regimes und dessen Fortführung Grundsätzlich ist für mich anzumerken, daß die Un- im SED- und Stasi-Terror. Es ist meines Erachtens terhaltung von Gedenk- und Mahnstätten nach der längst überfällig, daß sich die PDS ihrem eigenen hi- Aufgabenverteilung des Grundgesetzes eindeutig storischen „Erbe" stellt. —und das sollten Sie sich auch bei Ihrem Antrag genau anschauen — in die Kompetenz der Länder (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf des Abg. und Kommunen fällt. Nach dieser Aufgabenvertei- Dr. Dietmar Keller [PDS/Linke Liste] — Ge lung kommt für den Bund nur eine Beteiligung an genruf des Abg. Stefan Schwarz [CDU/CSU]: Gedenkstätten gesamtstaatlichen Charakters in Ein getroffener Hund bellt!) Frage. Darauf hebt auch der Einigungsvertrag ganz Mahnmale für die ermordeten Bürger an der Berli- deutlich in Art. 35 ab, nach dem, wie gesagt, ein ge- ner Mauer und der innerdeutschen Grenze müßten samtstaatliches Interesse vorliegen muß, um eine aus- von wissenschaftlichen Dokumentationen über das nahmsweise Förderung durch den Bund zu ermögli- menschenverachtende System des Stalinismus, das chen. Da die PDS und, nach Ihren Zurufen zu schlie- Sie in sehr deutlicher und eindringlicher Weise wei- ßen, auch Sie von der SPD bezeichnenderweise den tergeführt haben, die Grenzsperranlagen sowie die Einigungsvertrag nicht zu kennen scheinen, werde Arbeit des Staatssicherheitsdienstes begleitet wer- ich die folgende Stelle zitieren. Es handelt sich hier den, der Ihnen wahrscheinlich auch nicht unbekannt um Art. 35 Abs. 4, der wie folgt lautet: ist, der in menschenrechtswidriger Weise bespitzelt, Die bisher zentral geleiteten kulturellen Einrich- denunziert, erpreßt, Existenzen zerstört, physisch und tungen gehen in die Trägerschaft der Länder oder psychisch mißhandelt hat. Kommunen über, in denen sie gelegen sind. Eine (Freimut Duve [SPD]: Dabei haben die Mitfinanzierung durch den Bund wird in Ausnah- Blockparteien alle mitgemacht! — Gegenruf mefällen, des Abg. Stefan Schwarz [CDU/CSU]: Aber — ich wiederhole: Ausnahmefällen — die Kommandobehörde war die SED/PDS!) insbesondere im Land Berlin, nicht ausgeschlos- — Das steht heute nicht zur Debatte, aber Sie sollten sen. einmal genau hinschauen. Sie haben von der DDR Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3821

Michael Stübgen wahrscheinlich noch sehr wenig zur Kenntnis genom- unheimlichen Druck, unter dem sie stehen — tatsäch- men. Die Staatssicherheit war „Schwert und Schild lich gemacht haben. Aber ich glaube, wir können uns der Partei", der SED. einig sein. Das, was hier zählt, ist das Ergebnis, das ich, wie gesagt, ausdrücklich begrüße. (Friedrich Bohl [CDU/CSU]: So ist es, genau! Der Leipziger Kommandeur war der Herr Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Keller!) (Beifall bei der CDU/CSU) Die CDU hat zwar in der Tat in einigen Bereichen eine nicht besonders gute Rolle gespielt. Aber das ist heute Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile jetzt das nicht die Thematik. Wort der Frau Abgeordneten Marianne Klappert. Im übrigen möchte ich zu der Thema tik anmerken, daß uns bei der Pflichtbesichtigung des Konzentra- tionslagers Sachsenhausen, die ich als Schüler mitge- Marianne Klappert (SPD): Herr Präsident! Meine macht habe — ich selber hatte das zweifelhafte Ver- lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich habe soeben gnügen, zehn Jahre sozialistische Volksbildung ge- erfreut festgestellt, daß der Kollege der PDS doch lern- nießen zu dürfen — , niemand darauf hingewiesen fähig ist. Ich denke — und das geht an Sie —, wir soll- hat, daß die dort vorhandenen Anlagen nach dem ten so etwas unterstützen. Krieg ohne Unterbrechung in gleicher Weise weiter Ich darf meine Rede mit einer Feststellung begin- genutzt worden sind — und das jahrelang. Dies ist nen: „Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinne- beileibe kein Einzelfall: In meinem Wahlkreis, in rung. " Deshalb ist es nach Ansicht der Sozialdemo- Mühlberg, wurden erst kürzlich Massengräber von kraten unabdingbar, die Erinnerung an die dunkel- Opfern des stalinistischen Terrors gefunden, nicht zu sten Zeiten der deutschen Geschichte wachzuhalten. zählende, namenlose Opfer. Und jede Erinnerung an diese blutige Nacht in unse- Meine sehr verehrten Damen und Herren, die ein- rer deutschen Geschichte muß einem dreifachen Ziel seitige Forderung der PDS nach dem Erhalt von Ge- dienen: zum einen dem Ziel, das Bewußtsein dafür zu denkstätten des antifaschistischen Widerstandes stärken, daß niemand die Vergangenheit so einfach — die Terminologie ist schon verräterisch — ist der abschütteln kann, auch der nicht, der nicht unmittel- wiederholte Versuch der Geschichtsklitterung, worin bar teilhatte an dieser Vergangenheit, als sie noch diese Partei allerdings 40 Jahre lang reichlich Erfah- schreckliche Gegenwart war; zum zweiten dem Ziel, rung sammeln konnte. die Einsicht zu fördern, daß sich so etwas nie wieder- holen darf, (Stefan Schwarz [CDU/CSU]: Und darüber hinaus!) (Zuruf von der SPD: Sehr gut!) daß nicht noch einmal eine Diktatur — ganz gleich, Diese Tatsache allerdings schließt nicht aus, daß sich der Bund nach Maßgabe der verfügbaren Haushalts-- welcher Couleur — die Chance erhalten darf, die Macht zu erlangen, mittel in Einzelfällen an der Förderung von Mahn- und Gedenkstätten beteiligt. Dazu müßten Förderan- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der träge — das ist schon in großer Zahl geschehen — für FDP) konkrete Projekte vom jeweiligen Land und der Trä- und letztlich, daran zu erinnern, daß es auch in dieser gerorganisation gestellt werden. Es muß geprüft wer- Zeit das andere Deutschland gab, das sich unter Ein- den, ob es sich dabei um exemplarische, gesamtstaat- satz und Verlust des eigenen Lebens nicht abfinden lich bedeutsame Gedenkstätten handelt. Und es muß wollte mit diesem terroristischen Regime und das natürlich eine ausreichende Mitfinanzierung der Län- ganz andere Vorstellungen hatte über die Zukunft der gesichert sein. Deutschlands. (Stefan Schwarz [CDU/CSU]: Sehr vernünf Mahn- oder Gedenkstätten können dabei sehr hilf- tig!) reich sein. In den letzten Jahren sind zahlreiche sol- Lassen Sie mich zum Schluß in einem Satz noch cher Gedenkstätten errichtet worden, häufig durch darauf hinweisen, daß der in der Begründung des Initiative von Einzelpersonen und Gruppen, deren En- PDS-Antrages genannte konkrete Fa ll Ravensbrück gagement nicht selten — lokal wie regional — zu in der Sache längst geklärt ist. schweren politischen Auseinandersetzungen führte, ja manchmal sogar zu mehr oder weniger schwerwie- (Stefan Schwarz [CDU/CSU]: Go tt sei genden Repressalien. Dank!) Wenn sich also die Bundesregierung an der Finan- Er war auch schon am 5. September 1991, dem Zeit- zierung und den Unterhaltungskosten dieser Gedenk- punkt der Einbringung Ihres Antrags, geklärt. Ihre stätten beteiligen wi ll, dann ist das auch eine Aner- Partei scheint der Geschichte auch hier weit hinter- kennung dieser Arbeit. Wir Sozialdemokraten begrü- herzuhinken. Der Supermarkt wird nicht an der ur- ßen diese Initiativen ausdrücklich, vor allem auch des- sprünglich geplanten, sondern an einer anderen Stelle halb, weil wir hinsichtlich dieser Mahnstätten keine der Stadt gebaut. Ich begrüße dieses Ergebnis aus- zentralistischen Vorgaben und Steuerungen haben drücklich. Es sei erwähnt, daß sich Ministerpräsident wollen. Wohin es führen kann, wenn das Erinnern an Stolpe, als „Landesvater" für derartige Entscheidun- die Vergangenheit gleichsam von oben herab, also gen zuständig, sehr viel Zeit gelassen hat, endlich staatlich verordnet wird, machen die Vorgänge um Stellung zu nehmen. Der zuständige Bürgermeister das KZ Ravensbrück deutlich. Eine so unsensible Pla- und der zuständige Landrat haben lange Zeit allein nung wie die, auf diesem Gelände einen Supermarkt die Fehler ausbaden müssen, die sie — unter dem errichten zu wollen, wäre nicht möglich gewesen, 3822 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Marianne Klappert wenn diese Gedenkstätte von der Bevölkerung als Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erinnerung an wichtiges Mahnmal an deutsche, gesamtdeutsche die blutigen Zeiten in der Geschichte unseres Volkes, Schuld akzeptiert worden wäre. wie sie in diesem Jahrhundert kulminierten, muß (Abg. Stefan Schwarz [CDU/CSU] meldet wachgehalten werden, damit sich Ereignisse, wie sie sich zu einer Zwischenfrage) im Nationalsozialismus und in der Folgezeit vorka- men, nicht wiederholen können. Zur Aufrechterhal- tung und Festigung dieser Erinnerung sind Mahn- Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin Klap- und Gedenkstätten unabdingbar. pert, gestatten Sie eine Zwischenfrage? (Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Marianne Klappert (SPD): Nein, ich möchte gern weitermachen. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, nun hat der Abgeordnete Wolfgang Lüder das Die Akzeptanz einer Mahn- oder Gedenkstätte läßt Wort. sich nicht per Dekret verordnen, und auch das Ge- schichtsbewußtsein läßt sich nicht durch noch so gut gemeinte Gesetze fördern. Wolfgang Lüder (FDP): Herr Präsident! Meine sehr (Beifall bei der SPD) geehrten Damen und Herren! Im Jahre 1991 über Hier ist Überzeugungsarbeit zu leisten. Verordnun- Gedenkstätten für die Opfer deutschen staatlichen gen und Verfügungen sind dabei wenig hilfreich. Unrechts zu sprechen ist für uns Liberale nur möglich, wenn wir an alle Opfer staatlichen Unrechts in Der uns vorliegende Antrag der PDS offenbart ty- Deutschland denken, pisch die frühere DDR-Haltung: auf dem Verord- nungswege festzulegen, wessen sich das Volk erin- (Stefan Schwarz [CDU/CSU]: Genau!) nern und wessen es gedenken soll. Wir Sozialdemo- und zwar sowohl an die des NS-Terrors als auch an die kraten plädieren dagegen nachdrücklich für eine fi- des SED-Terrors. nanzielle Förderung der Initiativen von unten, und wir (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD begrüßen es, daß in den Haushaltsplänen 1991 und und dem Bündnis 90/GRÜNE) 1992 Mittel dafür zur Verfügung gestellt wurden. Wir Ich formuliere bewußt so, weil ich meine, daß wir ver- fordern allerdings die Bundesregierung noch einmal kürzen, wenn wir nur von Opfern des Stalinismus nachdrücklich auf, die schon mehrfach angemahnte sprechen. Dieses Regime hat mehr Opfer — auch aus Gesamtkonzeption zur Beteiligung des Bundes an anderen Gründen — hervorgebracht als nur die, für Mahn- und Gedenkstätten nun endlich vorzulegen, die Stalin die Schuld trifft. damit allen Betroffenen und Interessierten die Krite- rien einer möglichen Förderung bekannt werden. (Zustimmung bei der FDP und der CDU/ CSU) Was nun die Förderung von Mahn- und Gedenk- stätten in den neuen Bundesländern bet rifft, muß Herr Keller, ich habe zwar polemisches Verständnis nach Ansicht der Sozialdemokraten sichergestellt dafür, daß die PDS in ihrem ursprünglichen Antrag sein, daß die Förderung nicht „einäugig" ist. Eine —bei allem Respekt vor dem, was Sie heute gesagt selektive, nur auf die Zeit des Nationalsozialismus haben; ich komme darauf gleich zu sprechen —, die beschränkte Erinnerung darf es do rt wie hier nicht Verantwortung für Zeiten, die sie selbst zu vertreten geben. Zwar sollte jeder Eindruck einer Gleichset- hat, als sie noch SED hieß, vergessen machen wi ll zung von nationalsozialistischer und stalinistischer — aber dann, bitte schön, sollten Sie auch die Sprache Schuld vermieden werden. Was in der Zeit von 1933 des Sozialismus ablegen. Sie haben erklärt, daß Sie bis 1945 in deutschem Namen geschehen ist, ist sin- sich auf den Antrag der SPD zurückziehen wollen. Ich gulär und mit nichts zu vergleichen. Die Lager des NS- finde das gut, weil ich meine, daß wir damit eine gute Staates waren andere als die in der Nachkriegszeit, Grundlage haben. Wir werden im Ausschuß bezüglich aber es muß auch an die Opfer des Stalinismus erin- der Ausgestaltung noch über das eine oder andere nert werden. reden müssen. Aber den Grundsatz dieses Antrages halte ich für eine Plattform, auf der wir uns verständi- Eine einseitige Fixierung auf eine bestimmte Op- gen können müßten. fergruppe darf es nicht geben. Das ist nicht nur ein Gebot historischer und politischer Redlichkeit, das (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei sind wir vor allem auch den Opfern, und zwar allen Abgeordneten der CDU/CSU) Opfern aller Gewaltsysteme auf deutschem Boden Doch müssen wir dann auch sehen, daß wir auch die schuldig. Sprache der letzten 40 Jahre aus dem Ostteil unseres (Beifall im ganzen Hause) Landes ablegen müssen. Darüber hinaus sollten nach Ansicht der sozialde- Für uns kommt es darauf an, die Opfer zu ehren und mokratischen Fraktion nur solche Mahn- und Ge- nicht zu differenzieren zwischen den antifaschisti- denkstätten gefördert werden, die, wie es unser An- schen Widerstandskämpfern und den übrigen Op- trag formuliert, in ihrer Konzeption die Instrumentali- fern. sierung durch die SED überwunden haben und die in (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der ihrer personellen Besetzung einen Neubeginn ge- CDU/CSU) währleisten. Ich habe genug gelesen über Ehrenpensionen und (Beifall bei der SPD und der FDP) anderes, um hier sagen zu können: Ein Antrag, in dem Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3823

Wolfgang Lüder antifaschistischer Widerstand geehrt werden soll, fin- müssen, daß wir nicht vergessen, mit wem wir uns vor det wegen der Auslegung dieses Wortes über die ver- den Menschen, insbesondere in den neuen Ländern, gangenen 40 Jahre hinweg bei mir keine Zustim- hinstellen, um uns zu erinnern. Das heißt also, ich bin mung. sehr dafür, daß wir das aufarbeiten, in beide Richtun- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gen aufarbeiten, daß wir aber darauf achtgeben, daß wir die Menschen nicht beleidigen, indem wir uns Wir ehren die Opfer und unterscheiden bei einem jetzt mit den ehemaligen Tätern an die Opfergedenk- Opfer des NS-Terrors nicht, ob der Betreffende ver- stätten stellen. folgt wurde, weil er Jude war oder Sinti. Wir unter- scheiden nicht zwischen Opfern, die wegen ihres hu- Schönen Dank. manen Einsatzes als Katholiken, wegen ihrer aufrech- (Beifall bei der CDU/CSU) ten Predigt als Protestanten, wegen ihres demokrati- schen Engagements als Liberale oder Sozialdemokra- Jetzt hat zu einer ten oder wegen ihres politischen Eintretens für den Vizepräsident Helmuth Becker: Zwischenbemerkung nach § 27 Dr. Dietmar Keller Kommunismus im KZ saßen. Wir ehren alle Opfer des das Wort. Terrors. Sie aber übernehmen mit der ursprünglichen For- mulierung Ihres Antrags — die auch noch besteht —, Dr. Dietmar Keller (PDS/Linke Liste): Herr Kollege! mit der Wiederholung der Terminologie Ihrer Partei Sie werden mich auch bei der richtigen und notwen- aus den 50er Jahren die Worte „antifaschistischer Wi- digen Selbstkritik bei der Aufarbeitung der DDR-Ge- derstand" , was nur zu neuem Unrecht führte in dem schichte uneingeschränkt in einer Reihe mit denen Teil der Republik, der jetzt unserer Republik beigetre- finden, die bereit sind, das zu machen. Die Publikatio- ten ist. nen, die ich seitdem herausgegeben habe, die Sie offensichtlich nicht zur Kenntnis nehmen konnten, Meine Damen und Herren, ich habe mit Interesse sprechen davon, daß ich an einer ehrlichen Aufarbei- und Aufmerksamkeit den Antrag der SPD gesehen. tung dieser Geschichte nicht nur interessiert bin, son- Ich wiederhole, was ich gesagt habe: Auf diesen An- dern daß das eine der Aufgaben sein wird, die mich trag können wir aufbauen. Ich gebe nicht mein Wort, den Rest meines Lebens beschäftigen werden. daß wir jeden Satz jetzt schon unterschreiben können — das wäre sicherlich auch zu früh. Doch bildet dieser Ich muß Sie allerdings um Fairneß bitten. Wenn Sie Antrag den Ansatz, den wir brauchen, nämlich das mich persönlich als ehemaligen Minister für Kultur Ehren von Opfern staatlichen Terrors, den wir erlebt ansprechen, muß ich Ihnen sagen, daß meine erste haben — unter dem NS-Regime vor 50 Jahren, aber Entscheidung nach meiner Wahl zum Minister für auch 40 Jahre lang bis zum 3. Oktober letzten Jah- Kultur war, alle Verbote, Aufführungsverbote, Manu- res. skriptverbote, und Restriktionen im kulturellen Be- reich aufzuheben — ohne Einschränkung. Wir müssen — und da übernehme ich, Frau Klap-- pert, das, was Sie gesagt haben; ich mache keine (Zuruf des Abg. Stefan Schwarz [CDU/ Gleichschaltung — die Differenzierung wohl sehen. CSU]) Doch wollen wir die Opfer ehren und diese Ehrung als — Sie haben mich hier in meiner damaligen Funktion Auftrag der politischen Bildung an die zukünftigen als Minister für Kultur angesprochen. Generationen weitergeben. (Stefan Schwarz [CDU/CSU]: Ich könnte Ih (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD nen andere Funktionen nennen!) und dem Bündnis 90/GRÜNE)

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, nunmehr hat der Parlamentarische Staatsse- Herren, bevor Herr Staatssekretär Lintner das Wort kretär im Bundesministerium des Innern, Eduard Lint- hat, gibt es noch die Gelegenheit zu einer Inte rven- ner, das Wort. tion. — Bitte schön! Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Stefan Schwarz (CDU/CSU): Ich möchte ganz kurz minister des Innern: Sehr geehrter Herr Präsident! einige Sätze sagen: Ich halte das, was in dem SPD- Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zum gu- Antrag hier vorgeschlagen wird, für wirklich vernünf- ten Schluß ein paar Bemerkungen aus der Sicht der tig und für eine gute Grundlage. Ich möchte aber Bundesregierung zum Antrag der Gruppe PDS/Linke trotzdem eine Bemerkung zu dem Redebeitrag von Liste machen. Herrn Keller machen. Ich bin antitotalitär erzogen Erstens. Die Errichtung und Unterhaltung von worden. Die Frau Kollegin von der SPD hat gesagt, es Mahn- und Gedenkstätten ist nach der Zuständig- gehe um das Erinnern. Ich möchte an uns appellieren, keitsverteilung des Grundgesetzes grundsätzlich eine daß wir auch darauf achtgeben, wie und mit wem wir Angelegenheit der Länder und der Kommunen. Die- uns erinnern. ser Aufgabenbereich wird bisher auch nahezu aus- Ich kann nicht vergessen, weil es zum Erinnern ge- schließlich von diesen Ebenen wahrgenommen. Dem hört, daß Herr Keller als ehemaliger Kulturminister Bundesminister des Innern liegt allerdings eine Viel- der DDR und seine Partei, die sich jetzt PDS nennt, zahl von Anträgen zur Förderung von Gedenkstätten einen hohen Anteil an Zensur, Unterdrückung von an nationalsozialistisches Unrecht, an die Opfer des Wahrheit usw. hatten. Ich bitte uns sehr, bei allen Stalinismus, an die Berliner Mauer und die Grenz- Möglichkeiten, die wir zur Zusammenarbeit finden sperranlagen vor. 3824 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Parl. Staatssekretär Eduard Lintner Aus diesem Grund hat auch der Haushaltsausschuß Der Bund wird sich selbstverständlich an den Über- des Deutschen Bundestages im Jahre 1990 die Bun- legungen hierzu — soweit dies von den Ländern ge- desregierung gebeten, eine Gesamtkonzeption zur wünscht wird — beteiligen und nach Verabschiedung Beteiligung des Bundes an Mahn- und Gedenkstätten der angekündigten „Gesamtkonzeption zur Beteili- zu erarbeiten. Mit dieser Gesamtkonzeption sollen die gung des Bundes an Mahn- und Gedenkstätten" sei- Voraussetzungen einer Bundesbeteiligung sowie die ner gesamtstaatlichen Verantwortung gerecht wer- Verfahrensweise in diesem grundsätzlich den Län- den. Möglicherweise kommt ja sogar noch eine ge- dern zuzuordnenden Aufgabenbereich festgelegt meinsame Initiative des Hauses zustande, was wir werden. Die Überlegungen hierzu sind bei uns im sehr begrüßen würden. Hause noch nicht abgeschlossen. Ich darf aber bereits jetzt auf folgende Gesichtspunkte hinweisen: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wegen der geschilderten verfassungsrechtlichen Situation kann für den Bund eine Beteiligung an Mahn- und Gedenkstätten nur unter dem Gesichts- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und punkt der gesamtstaatlichen Bedeutung in Frage Herren! Ich schließe die Aussprache. kommen. Art. 35 des Einigungsvertrages eröffnet nur Interfraktionell wird die Überweisung der beiden vorübergehend die Möglichkeit, solche Einrichtun- Vorlagen auf den Drucksachen 12/1117 und 12/1189 gen in den neuen Ländern, an Stelle der Länder, muß an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse ich hinzufügen, zu fördern. Die Voraussetzung ge- vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich samtstaatlicher Bedeutung wird nur bei wenigen höre und sehe keinen Widerspruch. Dann sind die exemplarischen Einrichtungen vorliegen. Selbst in Überweisungen so beschlossen. diesen Fällen wird es aber zunächst Sache der Länder und Kommunen sein, entsprechende Vorstellungen Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. zur Errichtung und inhaltlichen Gestaltung dieser Ge- Ich wünsche Ihnen bei den Wochenendterminen, die denkstätten zu entwickeln. jetzt folgen, viel Erfolg und berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 9. Ok- Insbesondere in den neuen Ländern bedarf es aus tober 1991, 13 Uhr ein. heutiger Sicht grundlegender wissenschaftlicher Un- Die Sitzung ist geschlossen. tersuchungen für die künftigen Konzeptionen. Eine Fortführung der einseitigen und geschichtsverfäl- (Schluß der Sitzung: 14.27 Uhr) schenden Darstellung, wie sie in der ehemaligen DDR gepflegt wurde, kann jedenfalls für uns nicht in Frage kommen. (Beifall bei der CDU/CSU)

Zweitens. Vor diesem Hintergrund sehe ich — ab- Berichtigung gesehen von der insoweit ohnehin fehlenden Gesetz- gebungskompetenz des Bundes — auch keinen 43. Sitzung, Seite 3610' , Anlage 18: Die Antwort des Grund für ein Gesetz zur „Garantie der Unantastbar- Parl. Staatssekretärs Dr. E rich Riedl auf die Frage 40 keit der Stätten des antifaschistischen Widerstandes des Abgeordneten (SPD) (Drucksache und ihres Schutzes vor kommerziellem Mißbrauch", 12/1175) ist um folgenden Text zu ergänzen: wie Sie es formuliert haben. Bei der Turbine handelt es sich nicht um eine Ware, Es wird eine gesellschaftspolitische Aufgabe sein, die von den international abgestimmten Listen erfaßt für eine der geschichtlichen Wahrheit entsprechende wird. Die Ausfuhr ist international allgemein geneh- Fortentwicklung der Mahn- und Gedenkstätten zu migungsfrei. Die Bundesrepublik Deutschland hat im sorgen und sie vor Übergriffen und Mißbrauch zu März 1991 in ihr Ausfuhrrecht eine Bestimmung ein- schützen. Ich kann hier auf das Bezug nehmen, was geführt (§ 5 c AWV), die auch listenmäßig nicht er- ich aus der Debatte heraus zu diesem Thema an Be- faßte Waren einer Genehmigungspflicht unterwirft, kenntnissen und Erläuterungen noch mitbekommen wenn diese in eine Rüstungsanlage eines H-Landes habe. geliefert werden sollen. Diese Bestimmung, die ihrem Wortlaut nach sehr weit gefaßt ist, sollte sich nach den Auch die Forderung, meine Damen und Herren, zu Vorstellungen der Bundesregierung nicht auf allge- diesem Zweck eine Stiftung nach Bundesrecht einzu- mein zur Infrastruktur einer Produktionsanlage gehö- richten, wäre verfassungsrechtlich problematisch. rende Waren erstrecken. Es kann keinen Unterschied Eine solche Stiftung des Bundes ist im übrigen über- machen, ob ein Unternehmen ein eigenes Kraftwerk flüssig, weil die Hauptsitzländer der möglichen Ge- hat oder von einem öffentlichen Netz versorgt wird. denkstätten in den neuen Ländern, Brandenburg und Bei der Genehmigung von Ausfuhrlieferungen an ei- Thüringen, bereits mit der Errichtung von Stiftungen nen öffentlichen Stromversorger wird auch nicht auf für ihre Mahn- und Gedenkstätten befaßt sind. einzelne Stromabnehmer abgestellt. Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3825*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Müller (Kirchheim), CDU/CSU 27. 09. 91 entschuldigt bis Elmar Abgeordnete(r) einschließlich Nelle, Engelbert CDU/CSU 27. 09. 91 Dr. Neuling, Christian CDU/CSU 27. 09. 91 Bargfrede, Heinz-Günter CDU/CSU 27. 09. 91 Neumann (Bremen), CDU/CSU 27. 09. 91 SPD 27. 09. 91 Berger, Johann Anton Bernd CDU/CSU 27. 09. 91 Blank, Renate Nolte, Claudia CDU/CSU 27. 09. 91 Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 27. 09. 91 Paintner, Johann FDP 27. 09. 91 27. 09. 91 Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU Peters, Lisa FDP 27. 09. 91 Büttner (Ingolstadt), Hans SPD 27. 09. 91 Dr. Pfennig, Gero CDU/CSU 27. 09. 91 Dr. Faltlhauser, Kurt CDU/CSU 27. 09. 91 Poß, Joachim SPD 27. 09. 91 Gattermann, Hans H. FDP 27. 09. 91 Rahardt-Vahldieck, CDU/CSU 27. 09. 91 Dr. Gautier, Fritz SPD 27. 09. 91 Susanne Geiger, Michaela CDU/CSU 27. 09. 91 Rappe (Hildesheim), SPD 27. 09. 91 Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 27. 09. 91 Hermann Dr. von Geldern, CDU/CSU 27. 09. 91 Rauen, Peter Harald CDU/CSU 27. 09. 91 Wolfgang Rempe, Walter SPD 27. 09. 91 Genscher, Hans-Dietrich FDP 27. 09. 91 Reuschenbach, Peter W. SPD 27. 09. 91 Dr. Glotz, Peter SPD 27. 09. 91 Richter (Bremerhaven), FDP 27. 09. 91 Graf, Günter SPD 27. 09. 91 Manfred Gries, Ekkehard FDP 27. 09. 91 Dr. Röhl, Klaus FDP 27. 09. 91 * Grochtmann, Elisabeth CDU/CSU 27. 09. 91 Roth, Wolfgang SPD 27. 09. 91 Gröbl, Wolfgang CDU/CSU 27. 09. 91 Sauer (Stuttgart), Roland CDU/CSU 27. 09. 91 Hasenfratz, Klaus SPD 27. 09. 91 Schäfer (Offenburg), SPD 27. 09. 91 Dr. Hauchler, Ingomar SPD 27. 09. 91 Harald B. Haungs, Rainer CDU/CSU 27. 09. 91 Schluckebier, Günther SPD 27. 09. 91 Hauser (Esslingen), Otto CDU/CSU 27. 09. 91 Schmalz, Ulrich CDU/CSU 27. 09. 91 Hiller (Lübeck), Reinhold SPD 27. 09. 91 Schmalz-Jacobsen, FDP 27. 09. 91 Cornelia Hollerith, Josef CDU/CSU 27. 09. 91 Schmidbauer (Nürnberg), SPD 27. 09. 91 Dr. Hoyer, Werner FDP 27. 09. 91 Horst Janz, Ilse SPD 27. 09. 91 Schmidt (Mülheim), CDU/CSU 27. 09. 91 Jaunich, Horst SPD 27. 09. 91 Andreas Jeltsch, Karin CDU/CSU 27. 09. 91 Dr. Schmieder, Jürgen FDP 27. 09. 91 Dr. Jobst, Dionys CDU/CSU 27. 09. 91 von Schmude, Michael CDU/CSU 27. 09. 91 Jung (Düsseldorf), Volker SPD 27. 09. 91 Dr. Schuster, Werner SPD 27. 09. 91 Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 27. 09. 91 Schwanitz, Rolf SPD 27. 09. 91 Kauder, Volker CDU/CSU 27. 09. 91 Seiler-Albring, Ursula FDP 27. 09. 91 Keller, Peter CDU/CSU 27. 09. 91 Skowron, Werner H. CDU/CSU 27. 09. 91 Kirschner, Klaus SPD 27. 09. 91 Dr. Sperling, Dietrich SPD 27. 09. 91 Klinkert, Ulrich CDU/CSU 27. 09. 91 Spranger, Carl-Dieter CDU/CSU 27. 09. 91 Kohn, Roland FDP 27. 09. 91 Terborg, Margitta SPD 27. 09. 91 Koltzsch, Rolf SPD 27. 09. 91 Thierse, Wolfgang SPD 27. 09. 91 Koschnick, Hans SPD 27. 09. 91 Timm, Jürgen FDP 27. 09. 91 Kubicki, Wolfgang FDP 27. 09. 91 Dr. Vondran, Ruprecht CDU/CSU 27. 09. 91 Dr.-Ing. Laermann, FDP 27. 09. 91 Vosen, Josef SPD 27. 09. 91 Karl-Hans Dr. Wegner, Konstanze SPD 27. 09. 91 Link (Diepholz), Walter CDU/CSU 27. 09. 91 Weiß (Berlin), Konrad Bündnis 27. 09. 91 Lühr, Uwe FDP 27. 09. 91 90/GRÜNE Marienfeld, Claire CDU/CSU 27. 09. 91 Weißgerber, Gunter SPD 27. 09. 91 Meckel, Markus SPD 27. 09. 91 Welt, Hans-Joachim SPD 27. 09. 91 Dr. Merten (Bottrop), SPD 27. 09. 91 Wissmann, Matthias CDU/CSU 27. 09. 91 Franz-Josef Zierer. Benno CDU/CSU 27. 09. 91** Dr. Mildner, Klaus CDU/CSU 27. 09. 91 * für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments Gerhard **für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- Mischnick, Wolfgang FDP 27. 09. 91 lung des Europarates 3826* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991

Anlage 2 tung aller Atomkraftwerke und der Verwendung der hier freiwerdenden Mittel für effiziente Energienut- Zu Protokoll gegebene Rede zung, Energieeinsparung und die Nutzung regenera- zu Tagesordnungspunkt 9 a bis 9 c tiver Energiequellen vermieden werden; vermeidet (Entschließungen zu Energie und Umwelt; doch eine hierfür investierte Mark fünfmal soviel CO2, Bericht betr. Schutz der Erde) als wenn in Atomenergie investiert worden wäre. Jutta Braband (PDS/Linke Liste): Zum Schutz der Die notwendigen Umsteuerungen im Verkehrsbe- Erdatmosphäre habe ich mich in diesem Hause schon reich will ich hier nur streifen: Vorrang für den Öffent- geäußert und ich will deshalb nur noch einmal nach- lichen Personennahverkehr und die Schiene, Einfüh- drücklich den Beitrag des Abgeordneten Müller un- rung einer Schwerverkehrsabgabe, Besteuerung des terstützen. Hier will ich mich vor allem mit der PKW- und LKW-Verkehrs nach Verbrauch, Tempoli- entsprechenden Politik im EG-Bereich auseinander- mit und Anhebung der Mineralölsteuer zu Finanzie- setzen. Es zeigt sich, daß für die EG-Kommission nur rung öffentlicher Verkehrsmittel. der Preis, nicht aber die Art und Weise, wie Energie erzeugt wird, von Bedeutung ist. Lediglich dem Faktor Bevor ich nun Eckpunkte für den von mir geforder- Versorgungssicherheit wird noch Stellenwert einge- ten Wechsel in der Politik nenne, möchte ich noch räumt. Dies hat zwangsläufig Energieverschwendung kurz ein paar Bemerkungen zur geplanten CO2-Ab- und erhebliche Umweltbelastungen zur Folge. gabe machen: Grundsätzlich wirken Ökosteuern nur, wenn gleichzeitig Alternativen entwickelt werden, Zwar gibt es pauschale Bekenntnisse der Kommis- also umweltverträgliche Infrastrukturmaßnahmen, sion und des Ministerrates zu Energieeinspa rung und Energiesparprogramme usw. Dies ist hier aber nur Umweltschutz. EG-Förderprogramme für rationelle eingeschränkt der Fall. Energienutzung und die Nutzung regenerativer Ener- giequellen haben allerdings nur Alibifunktion, sind Eine CO2-Abgabe, die die Energieerzeugung aus von der Mittelzuweisung her schon viel zu knapp be- fossilen Energieträgern besteuert, wirkt wie eine Sub- messen. Auf den Durchbruch für effiziente Energie- vention für die Atomindustrie, auch wenn die großen nutzung und regenerative Energieträger durch EVU's, die ja alle im Atomgeschäft tätig sind, jetzt „Marktkräfte" in der EG zu hoffen, wäre hier völlig schon Krokodilstränen über angebliche Wettbewerbs- verfehlt: Ein „freier Markt" im Energiebereich exi- nachteile und Energieverteuerung weinen. Sinnvoll stiert in den EG-Mitgliedsländern nur sektoral. Er ist wäre die Erhebung einer Primärenergiesteuer, die wegen der Aufrechterhaltung der Versorgungssicher- grundsätzlich zum Energiesparen zwingt. heit und den hohen Investitionskosten im Energiesek- tor insbesondere bei den leitungsgebundenen Ener- Die PDS/Linke Liste fordert, Sofortmaßnahmen zur gieträgern auch kaum zu realisieren. Reduzierung des Treibhauseffektes endlich in Ang riff zu nehmen: Wir fordern den sofortigen Ausstieg aus Hier fordern wir konsequente Regionalisierung und der Atomenergie. Die Mittel, die für den Ausbau und Kommunalisierung der Energieversorgung. In diesem insbesondere für Forschung im Atomenergiebereich Zusammenhang ist die Politik der Bundesregierung ausgegeben werden, können so für Energieeinspa- durch die Treuhandanstalt bezüglich der Energiever- rung, effiziente Energienutzung und die Nutzung re- sorgung der neuen Bundesländer rein auf die Interes- generativer Energiequellen eingesetzt werden. sen der großen Energieversorgungsunte rnehmen aus- gerichtet. Nötig ist eine Änderung in der Energiepoli- Die Bundesrepublik als Indust rieland muß sofort tik der EG-Mitgliedsländer — und darüber hinaus. durch rationelle Energienutzung mit der Reduzierung Dies wird auch in dem Report: „Energy for a new cen- der CO2-Emissionen um mindestens 2 % pro Jahr be- tury: The European Perspec tive " der Generaldirek- ginnen. Die Produktion aller FCKW muß eingestellt tion Energie der EG-Kommission eindrucksvoll darge- werden. stellt wird. Die dort beschriebene „conventionel view", die konventionelle Sichtweise, ist herrschende Wir fordern ein Sofortprogramm zum Ausbau des EG-Energiepolitik und führt geradewegs ins Treib- öffentlichen Nahverkehrs. Es müssen auch unpopu- haus. läre Maßnahmen ergriffen werden: Neben der Kata- lysatorpflicht für alle Neuwagen, um Stickoxidemis- 1990 betrugen die CO2-Emissionen der EG-Mit- sionen zu reduzieren, ist es notwendig, ein Tempoli- gliedsländer etwa 2 765 Millionen t. Wird die herr- mit von 100 km je Stunde auf Autobahnen und 80 km schende EG-Energiepolitik fortgeschrieben, werden je Stunde auf Landstraßen einzuführen. die CO2-Emissionen bis 2010 auf 3 143 bis 3 481 Mil- lionen t ansteigen. Bei einem Wechsel der Politik Wir fordern verschärfte Maßnahmen zur Verringe- (Change in policy) könnten die Emissionen selbst rung der Tropenholzimporte in die Bundesrepublik nach konventionellen Berechnungen der EG-Kom- und die EG. mission auf 2 098 Millionen t in 2010 gesenkt wer- den. Markteinführungshilfen für regenerative Energie- quellen müssen forciert werden, und nicht wie von der Bemerkenswert ist dabei: Während die AKW-Er- Bundesregierung beschlossen Ende des Jahres aus- zeugungskapazität im EG-Trendscenario von heute laufen. 105 GW (Gigawatt) auf 150 GW ansteigt, sinkt sie im „change in policy"-Scenario auf 117 GW. Dies wider- Mittelfristig ist die Herstellung einer gerechteren legt in eindrucksvoller Weise das Gerede von Poli- Weltwirtschaft unumgänglich. Aus wirtschaft licher tik und Industrie von der Notwendigkeit der Atom- Not, von der Bundesrepublik mitverursacht, verursa- energie zur Verminderung des Treibhauseffekts. Wie- chen die Menschen in den armen Ländern Afrikas, viel weitere CO2-Emissionen könnten bei Abschal- Lateinamerikas und Asiens katastrophale Umwelt- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 45. Sitzung. Bonn, Freitag, den 27. September 1991 3827*

Schäden durch Abholzung des tropischen Regenwal- Anlage 3 des. Amtliche Mitteilungen Mittelfristig ist auch eine drastische Reduzierung der Nutzung fossiler Energieträger notwendig. Auch Erdgas darf nur da eingesetzt werden, wo Kraft- Der Vorsitzende des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung hat mitgeteilt, daß der Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Wärme-Kopplung und Abwärmenutzung nicht mög- Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu der nach- lich und sinnvoll sind. Und langfristig muß auf die stehenden Vorlage absieht: Nutzung fossiler Energieträger ganz verzichtet wer- den und die Deckung des Restenergiebedarfs durch Drucksache 11/7567 regenerative Energiequellen erfolgen. Der Vorsitzende des Ausschusses für Wirtschaft hat mitgeteilt, daß Exzessiver Chemieeinsatz und CO2-Emissionen der Ausschuß die nachstehenden EG-Vorlagen zur Kenntnis genom- durch ständig steigenden Energieverbrauch und die men hat: damit verbundene Umwelt- und Klimabedrohung sind jedoch kein Schicksal, sondern durch wirtschaft- Drucksache 12/706 Nm. 3.3-3.15 liche und politische Entscheidungen beeinflußbar. Drucksache 12/764 Nr. 2.1 Die Fakten sind bekannt, den Worten sollten end lich Taten folgen, und zwar sofort! Drucksache 12/1003 Nm. 4. —12.