Plenarprotokoll 12/196

Deutscher

Stenographischer Bericht

196. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Inhalt:

Erweiterung der Tagesordnung 17044 A Namentliche Abstimmung 16984 A

Absetzung der Punkte 18a, b und c von der Ergebnis 16984 C Tagesordnung 16958 A Tagesordnungspunkt 5: Tagesordnungspunkt 4: Zweite und dritte Beratung des von den a) Zweite und dritte Beratung des Entwurfs Fraktionen der CDU/CSU, SPD und eines Gesetzes zur Änderung des F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Grundgesetzes (Drucksachen 12/4610, Gesetzes zur Änderung der Hand- 12/5015, 12/6280) werksordnung, anderer handwerks- b) Zweite und dritte Beratung des Entwurfs rechtlicher Vorschriften und des Be- eines Gesetzes zur Neuordnung des rufsbildungsgesetzes (Drucksachen Eisenbahnwesens (Eisenbahnneuord- 12/5918, 12/6303) nungsgesetz) (Drucksachen 12/4609 Ernst Hinsken CDU/CSU . . 16987 B [neu], 12/5014, 12/6269, 12/6270) Albert Pfuhl SPD 16989 C Klaus Daubertshäuser SPD . . 16958C, 16961A Josef Grünbeck F D P 16993 B Dr. Dionys Jobst CDU/CSU 16959A Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär Roland Kohn F D P. 16964 B BMWi 16995 A Detlev von Larcher SPD 16967 C Ernst Hinsken CDU/CSU 16995 B Dr. PDS/Linke Liste 16968A Dr. Walter Hitschler F D P 16996 C Dr. Klaus-Dieter Feige BÜNDNIS 90/DIE Rainer Haungs CDU/CSU 16996 D GRÜNEN 16970B Ernst Waltemathe SPD 16970 D Tagesordnungspunkt 6: Zweite und dritte Beratung des vom , Bundesminister BMV 16972 B Bundesrat eingebrachten Entwurfs ei- Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste . . . 16974A nes ... Gesetzes zur Änderung des Abwasserabgabengesetzes (Drucksa- , Ministerpräsident des L andes chen 12/4272, 12/6281) Hessen 16976 A Klaus Harries CDU/CSU 16998 C Roland Kohn F.D.P. 16977 D Josef M. Leinen, Minister des Saarlandes 17000A Horst Gibtner CDU/CSU 16979 C Josef Grünbeck F D P 17001 B Dr. Dagmar Enkelmann PDS/Linke Liste 16980 B Dr. Dagmar Enkelmann PDS/Linke Liste 17003B Dr. Klaus-Dieter Feige BÜNDNIS 90/DIE Dr. Walter Hitschler F.D.P. . 17003D, 17004D GRÜNEN 16980 C Dr. , Parl. Staatssekretär Dirk Fischer (Hamburg) CDU/CSU . . 16981D BMU 17004 C II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Susanne Kastner SPD 17006C Auswirkungen des Inkrafttretens des Tarif- aufhebungsgesetzes für die deutsche Bin- Dr. Gerhard Friedrich CDU/CSU . . . 17008D nenschiffahrt, insbesondere für die Partiku- Tagesordnungspunkt 1 (Fortsetzung): lierschiffahrt; Schaffung eines nationalen Ordnungsrahmens für die Übergangszeit Fragestunde bis zur Einführung eines europäischen Bin- — Drucksachen 12/6293 vom 1. Dezem- nenschiffahrts-Marktsystems; Prüfung der ber 1993 und 12/6254 vom 26. Novem- Rechtmäßigkeit des Verhaltens der hollän- ber 1993 — dischen Regierung Güterzug mit Pestiziden an der deutsch- MdlAnfr 39, 40 albanischen Grenze; Ausfuhrgenehmigung Karl-Josef Laumann CDU/CSU deutscher Behörden, Entsorgung Antw PStSekr BMV . 17016A, DringlAnfr 1, 2 17017A Dr. (München) CDU/CSU ZusFr Karl-Josef Laumann CDU/CSU . 17016B Antw PStSekr Dr. Bertram Wieczorek, ZusFr Dietmar Schütz SPD 17016D BMU 17010C, 17012A Jährliche Menge nicht sachgerecht ent- ZusFr Dr. Erich Riedl (München) CDU/ sorgter Schmierstoffe; Umweltgefahren CSU 17010D, 17012B MdlAnfr 46 ZusFr Marion Caspers-Merk SPD . . . . 17011B Albert Deß CDU/CSU ZusFr Susanne Kastner SPD . 17011C, 17013 A Antw PStSekr Dr. Bertram Wieczorek ZusFr Jutta Müller (Völklingen) SPD . 17011D BMU 17017B ZusFr Dietmar Schütz SPD 17012 D ZusFr Albert Deß CDU/CSU 17017 C

Einstellung von Leistungen an Mehrfach- Verwendung von Informationsmaterial der bewerber seit der Überprüfung von Asylbe-- Bundesregierung für Rundfunksendungen werbern durch das Automatische Fingerab- MdlAnfr 52 druck-Identifizierungssystem; Einsparun- Hans Wallow SPD gen Antw StSekr Dietrich Vogel BK 17018A MdlAnfr 15, 16 CDU/CSU ZusFr Hans Wallow SPD 17018 C Antw PStSekr Eduard Lintner BMi . . 17013B, D Erörterung von Menschenrechtsfragen ZusFr Brigitte Baumeister CDU/CSU . . 17013D durch den Bundeskanzler bei dessen China-Besuch; Aufforderung des chinesi- Erkenntnisse über die Vernetzung der schen Ministerpräsidenten zum Dialog mit rechtsextremen Szene im In- und Ausland dem geistlichen Oberhaupt Tibets, dem Dalai Lama MdlAnfr 19 Hans Wallow SPD MdlAnfr 53, 54 Dr. Klaus Kübler SPD Antw PStSekr Eduard Lintner BMi . . 17014 A Antw StMin BK . 17018D, 17019C ZusFr Hans Wallow SPD 17014 B ZusFr Dr. Klaus Kübler SPD . . . . 17019A, C Arbeit des Nationalen Drogenrates Hilfe für die von den Auseinandersetzun- MdlAnfr 35 gen zwischen der türkischen Armee und Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink F.D.P. kurdischen Gruppen bedrohten Ch risten in Antw PStSekr'in Dr. Sabine Bergmann Südost-Anatolien Pohl BMG 17014D MdlAnfr 56, 57 ZusFr Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink F.D.P. FDP 17015A Antw StMin Helmut Schäfer AA . . . 17020B, D Kenntnis des Bundesgesundheitsministers ZusFr Georg Gallus F.D.P. . . 17020B, 17021A von der Finanzierung nicht zugelassener Arzneimittel, insbesondere der Firma Zusatztagesordnungspunkt 2: Rentschler, durch die gesetzliche Kranken- Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bun- versicherung desregierung zur Einlagerung radioak- MdlAnfr 36, 37 tiver Abfälle in das Endlager für Klaus Kirschner SPD schwach- und mittelradioaktiver Ab- Antw PStSekr'in Dr. Sabine Bergmann fälle Morsleben (ERAM) Pohl BMG 13015B, C Dietmar Schütz SPD 17021 B ZusFr Klaus Kirschner SPD 17015B, C Klaus Harries CDU/CSU 17022 C Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 III

Dr. Jürgen Starnick F D P 17023 B (Schönebeck) und der Fraktion der CDU/CSU, des Abgeordneten Gerd Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . . . 17024 C Wartenberg () und der Fraktion Dr. Klaus-Dieter Feige BÜNDNIS 90/DIE der SPD sowie des Abgeordneten GRÜNEN 17025 C Dr. und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär Gesetzes zur Änderung des Stasi- BMU 17026D Unterlagen-Gesetzes) (Drucksachen Reinhard Weis (Stendal) SPD 17028B 12/5775, 12/6100) Dr. Harald Kahl CDU/CSU 17029 A f) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrich- Gerhart Rudolf Baum F D P 17030 A tung durch den Präsidenten des Bundes- Siegrun Klemmer SPD 17030 D rechnungshofes als Vorsitzender des Heinrich Seesing CDU/CSU 17032A Bundesschuldenausschusses: Bericht des Bundesschuldenausschusses nach Michael Müller (Düsseldorf) SPD . . . 17033A § 35 Abs. 2 der Reichsschuldenordnung vom 13. Februar 1924 (BGBl. 111, Steffen Kampeter CDU/CSU 17034 B Nr. 651-1) für das Jahr 1992 (Drucksa- Dr. Gerhard Fried rich CDU/CSU . . . 17035B chen 12/5299, 12/6163)

Tagesordnungspunkt 17: g) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu Überweisungen im vereinfachten Verfah- der Unterrichtung durch die Bundesre- ren gierung: Vorschlag für einen Beschluß a) Erste Beratung des von der Bundesre- des Rates zur Ermächtigung einiger gierung eingebrachten Entwurfs eines Mitgliedstaaten, gemäß dem Verfahren Gesetzes zur Änderung des Bun- in Artikel 8 Abs. 4 der Richtlinie deskleingartengesetzes (Drucksache 92/81/EWG des Rates auf Mineralöle, 12/6154) die zu bestimmten Zwecken verwendet b) Erste Beratung des von der Bundesre- werden, ermäßigte Verbrauchsteuer- gierung eingebrachten Entwurfs eines sätze oder Verbrauchsteuerbefreiun- Gesetzes zur Änderung von Rechts- gen einzuführen oder beizubehalten vorschriften auf dem Gebiet der See- (Drucksachen 12/5190 Nr. 2.1, schiffahrt (Drucksache 12/6153) 12/6165) c) Erste Beratung des von der Fraktion der h) Beratung der Beschlußempfehlung und SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge- des Berichts des Finanzausschusses zu setzes zur Änderung des Gesetzes zur der Unterrichtung durch die Bundesre- Aufhebung der Tarife im Güterverkehr gierung: Vorschlag für eine Verord- (Tarifaufhebungsgesetz) (Drucksache nung (EWG) des Rates zur Regelung der 12/6284) gegenseitigen Amtshilfe der Verwal- tungsbehörden der Mitgliedstaaten d) Beratung des Antrags der Abgeordne- und der Zusammenarbeit dieser Behör- ten Marianne Klappert, Dr. Liesel Har- den mit der Kommission, um die ord- tenstein, , weiterer Abge- nungsgemäße Anwendung der Zoll- ordneter und der Fraktion der SPD: Ein- und Agrarregelungen zu gewährlei- schränkung der Tiertransporte in der sten, und zur Aufhebung der Verord- EG (Drucksache 12/5785) nung (EWG) Nr. 1468/81 (Drucksachen e) Beratung des Antrags der Abgeordne- 12/4555 Nr. 2.4, 12/6173) ten Carl Ewen, Robert Antretter, Holger i) Beratung der Beschlußempfehlung Bartsch, weiterer Abgeordneter und der des Petitionsausschusses: Sammelüber- Fraktion der SPD: Sicherung der Wett- sicht 130 zu Petitionen (Drucksache bewerbsfähigkeit der Deutschen Bin- 12/6230) 17036C nenschiffahrt (Drucksache 12/6221) . 17036A

Tagesordnungspunkt 18: Zusatztagesordnungspunkt 13: c) Zweite und dritte Beratung des von den Weitere abschließende Beratungen ohne Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. Aussprache (Ergänzung zu TOP 18) eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes a) Zweite Beratung und Schlußabstim- zur Änderung des Fleischhygienegeset- mung des von der Bundesregierung ein- zes und des Geflügelfleischhygienege- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu setzes (Drucksachen 12/6205, 12/6305) dem Rechtsakt vom 25. März 1993 zur d) Zweite und dritte Beratung des von den Änderung des Protokolls über die Sat- Abgeordneten , zung der Europäischen Investitions- Wolfgang Zeitlmann, Hartmut Büttner bank (Drucksachen 12/5941, 12/6300) IV Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 b) Zweite und dritte Beratung des von der wurfs eines Gesetzes fiber die Voraus- Bundesregierung eingebrachten Ent- setzungen und das Verfahren von wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Sicherheitsüberprüfungen des Bun- Handels- und Lohnstatistikgesetzes des (Sicherheitsüberprüfungsgesetz) (Statistikänderungsgesetz) (Drucksa- (Drucksachen 12/4891, 12/6307) chen 12/5886, 12/6309) 17037 B Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär BMI 17058 C Gerd Wartenberg (Berlin) SPD 17059B Tagesordnungspunkt 7: Zweite und dritte Beratung des von den Dr. Burkhard Hirsch F D P 17061 A Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. PDS/Linke Liste 17062 A eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Dr. BÜNDNIS 90/DIE zur weiteren Verlängerung der Kündi- GRÜNEN 17062 C gungsmöglichkeiten in der öffentlichen Verwaltung nach dem Einigungsver- CDU/CSU 17063A trag (Drucksachen 12/6120, 12/6308) Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Erklärung nach § 31 GO) . . 17064A Hartmut Koschyk CDU/CSU 17038C SPD 17039 D Tagesordnungspunkt 10: Udo Haschke (Jena) CDU/CSU 17040C, 17041 D Beratung der Großen Anfrage der Abge- ordneten Antje-Marie Steen, Carl Ewen, Dr. Burkhard Hirsch F.D.P. 17041D Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD: Rei- Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste . 17042 C semöglichkeiten für behinderte Men- Dr. Burkhard Hirsch F.D.P. 17043A schen (Drucksachen 12/3649, 12/5086) Dr. Wolfgang Ullmann BÜNDNIS 90/DIE in Verbindung mit GRÜNEN 17043 B Zusatztagesordnungspunkt 3: Tagesordnungspunkt 8: Beratung des Antrags der Abgeordne- ten Dr. Rolf Olderog, , Beratung der Beschlußempfehlung und Wolfgang Börnsen (Bönstrup), weiterer des Berichts des Auswärtigen Ausschus- Abgeordneter und der Fraktion der ses zu dem Antrag der Abgeordneten CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gerd Poppe, Vera Wollenberger, Wer- Dr. Michaela Blunk (Lübeck), Dr. Eva ner Schulz (Berlin) und der Gruppe Pohl, Dr. , weiterer Abge- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zur aktu- ordneter und der Fraktion der F.D.P.: ellen Situation im Krieg in Bosnien- Urlaubs- und Freizeitmöglichkeiten für Herzegowina (Drucksachen 12/5729, behinderte Menschen (Drucksache 12/6206) 12/6290) in Verbindung mit Antje-Marie Steen SPD 17064D Beratung des Antrags der Fraktionen Dr. Rolf Olderog CDU/CSU 17067B der CDU/CSU, SPD und F.D.P. sowie Dr. Wolfgang Ullmann BÜNDNIS 90/DIE der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN GRÜNEN 17067 C zur Winterhilfe für Bosnien (Druck- Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste . . . 17068B sache 12/6314) Dr. Eva Pohl F.D.P. 17069A Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU . . 17044 B Antje-Marie Steen SPD 17069C Dr. SPD 17046A Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste 17070 C Burkhard Zurheide F.D.P. 17048C Dr. Rolf Olderog CDU/CSU 17071 A Gerd Poppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 17049D Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 17071B Dr. PDS/Linke Liste . . . 17050D Dr. Konrad Elmer SPD 17072A Dr. Christian Schwarz-Schilling CDU/ CSU 17051D, 17057 D Karin Jeltsch CDU/CSU 17072B Carl Ewen SPD 17073 D Ulrich Irmer F.D.P 17053B, D Dr. Eberhard Brecht SPD 17054A Tagesordnungspunkt 11: Helmut Schäfer, Staatsminister AA . . 17055A Beratung des Antrags der Abgeordne- ten Gerd Wartenberg (Berlin), , , weiterer Abge- Tagesordnungspunkt 9: ordneter und der Fraktion der SPD: Zweite und dritte Beratung des von der Ausländergesetz 1990 (Drucksache Bundesregierung eingebrachten Ent- 12/5994) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 V in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 14: Beratung der Großen Anfrage der Abge- Zusatztagesordnungspunkt 4: ordneten (Berlin), Kon- Beratung des Antrags der Abgeordne- rad Weiß (Berlin) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: ten Ulla Jelpke und der Gruppe der Multilate- PDS/Linke Liste: Änderung des § 19 rale Handelsregulierungen nach der Uruguay-Runde (Drucksachen 12/4576, des Ausländergesetzes (Drucksache 12/6291) 12/5255) Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE BMI 17074B Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär GRÜNEN 17091 A Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast SPD . . . 17075A Klaus Beckmann F.D.P. 17092D

Cornelia Schmalz-Jacobsen F D P 17076C Nächste Sitzung 17093 D Ulla Jelpke PDS/Linke Liste 17077 B

Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE Anlage 1 GRÜNEN 17077D Liste der entschuldigten Abgeordneten . 17095* A -Hermann CDU/CSU . 17078C Uwe Lambinus SPD 17079D Anlage 2

Tagesordnungspunkt 12: Erklärung nach § 31 GO des Abgeordne- Beratung des Antrags der Abgeordne- ten Dieter-Julius Cronenberg (Arnsberg) ten Uwe Lambinus, Siegfried Vergin, (F.D.P.) zur Abstimmung über den Entwurf Siegrun Klemmer, weiterer Abgeordne- eines Gesetzes zur Änderung der Hand- ter und der Fraktion der SPD: Unrechts- werksordnung, anderer handwerksrechtli- urteile wegen „Fahnenflucht/Deser- cher Vorschriften und des Berufsbildungs- tion", „Wehrkraftzersetzung" oder gesetzes (Tagesordnungspunkt 5) . . . . 17095* D „Wehrdienstverweigerung" während der nationalsozialistischen Gewalt- herrschaft (Drucksache 12/6220) Anlage 3 Uwe Lambinus SPD 17080B Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesord- nungspunkt 14 (Große Anfrage: Multilate- Klaus-Heiner Lehne CDU/CSU 17081 C rale Handelsregulierungen nach der Uru- guay-Runde) Uwe Lambinus SPD 17082 C Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär Dr. Konrad Elmer SPD 17083A BMWi 17096* A Wolfgang Lüder F.D.P. 17083 C Dr. CDU/CSU . 17096* D CDU/CSU 17084 C Dr. Norbert Wieczorek SPD 17097* D Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste . 17084D Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) PDS/ Linke Liste 17098* C Dr. Wolfgang Ullmann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 17085 B Anlage 4 Norbert Geis CDU/CSU 17086A Verhinderung der Verwendung mensch- licher Leichen für Unfall-Crash-Tests Tagesordnungspunkt 13: Beratung des Antrags des Abgeordne- MdlAnfr 2 — Drs 12/6254 — ten Dr. und der Gruppe der Claus Jäger CDU/CSU PDS/Linke Liste: Veranstaltung „Aus- SchrAntw PStSekr'in Dr. Sabine Berg- länderinnen und Ausländer im Parla- mann-Pohl BMG 13099 * A ment" (Drucksache 12/5778)

Ulla Jelpke PDS/Linke Liste 17086 C Anlage 5 Erika Steinbach-Hermann CDU/CSU . 17088A Entwicklung des Zuzugs von Aussiedlern seit 1982 Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast SPD . . 17088D MdlAnfr 17 — Drs 12/6254 Cornelia Schmalz-Jacobsen F D P 17090A SPD —Günter Graf Vizepräsident Helmuth Becker 17090C SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI . 17099* C VI Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Anlage 6 Anlage 11 Verfestigung rechtsextremistischer Organi- Abschluß des Planfeststellungsverfahrens sationen für das vorgesehene Endlager „Konrad"; Haltung des Landes Niedersachsen MdlAnfr 18 — Drs 12/6254 CDU/CSU—Jürgen Augustinowitz MdlAnfr 47, 48 — Drs 12/6254 — Klaus Harries CDU/CSU SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI . 17099* D SchrAntw PStSekr Dr. Bertram Wieczorek BMU 17101* D Anlage 7 Förderung von Wohnungen für Bedienstete des Jagdgeschwaders JG 73 in der Stadt Anlage 12 Laage durch den Bund Sondertarife für humanitäre Paketsendun- MdlAnfr 32, 33 — Drs 12/6254 — gen in die Dritte Welt Dr. Karl-Heinz Klejdzinski SPD MdlAnfr 49 — Drs 12/6254 — SchrAntw PStSekr Bernd Wilz BMVg . . 17100* B Simon Wittmann (Tännesberg) CDU/CSU SchrAntw PStSekr Dr. Paul Laufs BMPT . 17102* A Anlage 8 Einrichtung des Fonds für HIV-infizierte Anlage 13 Bluter Erhöhung der Paketgebühren für Sendun- MdlAnfr 34 — Drs 12/6254 — gen ins ehemalige Jugoslawien Simon Wittmann (Tännesberg) CDU/CSU MdlAnfr 50, 51 — Drs 12/6254 — SchrAntw PStSekr'in Dr. Sabine Berg- SPD mann-Pohl BMG 17100* D SchrAntw PStSekr Dr. Paul Laufs BMPT . 17102' B

Anlage 9 Anlage 14 Erhaltung der Konkurrenzfähigkeit der deutschen Seeschiffahrt Vereinbarkeit der „Ein-China-Politik" der Bundesregierung mit der Resolution des MdlAnfr 38 — Drs 12/6254 — Europäischen Parlaments zur Einbezie- Ortwin Lowack fraktionslos hung von China und Taiwan in das Allge- meine Zoll- und Handelsabkommen SchrAntw PStSekr Manfred Carstens BMV 17101* A MdlAnfr 55 — Drs 12/6254 — Ortwin Lowack fraktionslos Anlage 10 SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA . . 17102* D Bemühungen der belgischen Verkehrs- wacht um Verbesserung der Verkehrssi- Anlage 15 cherheit, z. B. durch Werbekampagnen mit drastischen Bildern für angepaßte Ge- Konsequenzen aus der neuen russischen schwindigkeiten und gegen Alkohol am Militärdoktrin für die Präsenz der Bundes- Steuer marine an der Ostsee im Zusammenhang mit den deutschen Sicherheitsinteressen MdlAnfr 43 — Drs 12/6254 — Horst Kubatschka SPD MdlAnfr 58 — Drs 12/6254 — Norbert Gansel SPD SchrAntw PStSekr Manfred Carstens BMV 17101* C SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA . . 17103* A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16957

196. Sitzung

Bonn, den 2. Dezember 1993

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsident Hans Klein: Die Sitzung ist eröff- Europäische Investitionsbank für etwaige Verluste aus net. Darlehen für Vorhaben in Albanien — Drucksachen 12/4797 Nr. 3.2, 12/6259 —

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, interfraktio- 9. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des nell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesord- Finanzausschusses (7. Ausschuß) zu der Unterrichtung nung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen durch das Europäische Parlament: Entschließung zum Zah- vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: lungsverkehr Im Rahmen der Wirtschafts- und Währungs- union — Drucksachen 12/4505, 12/6260 —

1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Gruppe der PDS/Linke 10. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Liste: Haltung der Bundesregierung zur Bedeutung der Finanzausschusses (7. Ausschuß) zu der Unterrichtung Braunkohle im Rahmen ihres Energiekonzepts vor dem durch die Bundesregierung: Der Europäische Investitions- Hintergrund von unmittelbar bevorstehenden Schließun- fonds (EIF) gen von Tagebaurevieren in den neuen Bundesländern und der anstehenden Eröffnung neuer Tagebaureviere in Nord- — Vorschlag für einen Zusatz zu dem Protokoll über die rhein-Westfalen (In der 195. Sitzung bereits erledigt) Satzung der Europäischen Investitionsbank, mit dem der Rat der Gouverneure der EIB zur Errichtung des 2. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Europäischen Investitionsfonds ermächtigt wird Haltung der Bundesregierung zur Einlagerung radioakti- ver Abfälle in das Endlager für schwach- und mittelradio- — Vorschlag für einen Beschluß des Rates über die Mit- aktiver Abfälle Morsleben (ERAM) gliedschaft der Gemeinschaft im Europäischen Investi- tionsfonds 3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rolf Olderog, Wilfried Bohlsen, Wolfgang Börnsen (Bönstrup), weiterer — Drucksachen 12/4555 Nr. 2.6, 12/6261 — Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Michaela Blunk (Lübeck), Dr. Eva Pohl, 11. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Dr. Olaf Feldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Finanzausschusses (7. Ausschuß) zu der Unterrichtung der F.D.P.: Urlaubs- und Freizeitmöglichkeiten für behin- durch die Bundesregierung derte Menschen — Drucksache 12/6290 — — Mitteilung der Kommission zu den Interventionen der 4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke und Europäischen Investitionsbank in den mittel- und osteu- der Gruppe der PDS/Linke Liste: Änderung des § 19 des ropäischen Ländern Ausländergesetzes — Drucksache 12/6291 — — Vorschlag für einen Beschluß des Rates über eine 5. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Garantieleistung der Gemeinschaft für etwaige Verluste EG-Ausschusses (24. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch der Europäischen Investitionsbank aus Darlehen für das Europäische Parlament: Entschließung zur Verwirkli- Vorhaben in den mittel- und osteuropäischen Ländern chung des Subsidiaritätsprinzips — Drucksachen 12/4054, (Polen, Ungarn, Tschechische Republik, Slowakische 12/6256 — Republik, Rumänien, Bulgarien, Lettland, Estland, Litauen und Albanien) — Drucksachen 12/5662 Nr. 3.4, 12/6265 — 6. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des EG-Ausschusses zu der Unterrichtung durch das Europäi- 12. Beratung des Antrags der Gruppe der PDS/Linke Liste: sche Parlament: Entschließung zum freien Personenver- Forderungen an die künftige Europapolitik der Bundesre- kehr gemäß Artikel 8a des EWG-Vertrags und zu der gierung — Drucksache 12/6282 — Unterrichtung durch das Europäische Parlament: Entschlie- ßungrtikel zum 8 freien a (EWG) Personenverkehr gemäß A 13. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache (Er- — Drucksachen 12/5173, 12/5534, 12/6257 — gänzung zu TOP 18)

7. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der EG-Ausschusses (24. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- die Bundesregierung: Arbeitsprogramm der Kommis- zes zu dem Rechtsakt vom 25. März 1993 zur Änderung sion für 1993-1994 — Drucksachen 12/5190 Nr. 2.13, des Protokolls über die Satzung der Europäischen 12/6258 — Investitionsbank — Drucksachen 12/5941, 12/6300 —

8. Beratung der Beschlußempfehung und des Berichts des b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung Finanzausschusses (7. Ausschuß) zu der Unterrichtung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung durch die Bundesregierung: Mitteilung der Kommission an des Handels- und Lohnstatistikgesetzes (Statistikände- den Rat und Vorschlag für einen Beschluß des Rates zur rungsgesetz — StatÄndG) — Drucksachen 12/5886, Gewährung einer Bürgschaft der Gemeinschaft an die 12/6309 — 16958 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Vizepräsident Hans Klein Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, Änderung des Grundgesetzes namentlich abstimmen soweit es bei einzelnen Punkten der Tagesordnung werden. Dies dürfte Viertel nach elf, halb zwölf der und der Zusatzpunktliste erforderlich ist, abgewichen Fall sein. werden. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Darüber hinaus ist vereinbart worden, die Tages- gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. ordnungspunkte 18a, 18b und 18e abzusetzen. Die — Dagegen erhebt sich offensichtlich kein Wider- Punkte ohne Aussprache werden heute im Anschluß spruch. Dann ist auch das so beschlossen. an die Aktuelle Stunde aufgerufen. Bevor ich die Aussprache eröffne, erhält der Bericht- Weiter mache ich darauf aufmerksam, daß erstatter Klaus Daubertshäuser das Wort. die Plenarsitzung am morgigen Freitag erst um 9.30 Uhr beginnt, und zwar vereinbarungsgemäß zuerst mit Tagesordnungspunkt 16 — zweite und dritte Beratung des Sozialgesetzbuches —, dem sich (SPD): Herr Präsident! Tagesordnungspunkt 15 — die Europadebatte — Klaus Daubertshäuser Meine Damen und Herren! Das gestrige Gespräch der anschließt. Ministerpräsidenten beim Bundeskanzler hat im Sind Sie damit einverstanden? — Es erhebt sich kein Ergebnis Präzisierungen erbracht. Diese Präzisierun- Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. gen beziehen sich auf folgende Punkte: Erstens. Die Regionalisierung wird um ein Jahr von 1995 auf 1996 verschoben. Dies bedeutet dann auch Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf: eine Verschiebung des Inkrafttretens des Personenbe- a) Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines förderungsgesetzes auf den 1. Januar 1996. Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes Zweitens. Artikel 106a des Grundgesetzes erhält — Drucksachen 12/4610, 12/5015 — eine Fassung, wonach den Ländern aus dem Steuer- (Erste Beratung 150. und 161. Sitzung) aufkommen des Bundes für Zwecke des ÖPNV Mittel - zustehen. Im Regionalisierungsgesetz erfolgt dann Beschlußempfehlung und Be richt des Rechts- der Hinweis darauf, daß diese Mittel aus dem Mine- ausschusses (6. Ausschuß) ralölsteueraufkommen zu erbringen sind. — Drucksache 12/6280 — Drittens. Die Ausgleichszahlungen des Bundes Berichterstattung: für 1996 werden von 8,2 auf 8,7 Milliarden DM Abgeordnete Dr. erhöht. Viertens. Die Revisionsklausel zur Dynamisierung b) Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines wird um ein Jahr verschoben und kommt somit im Gesetzes zur Neuordnung des Eisenbahn- Jahre 2001 mit Wirkung zum Jahre 2002. Die Einzel- wesens (Eisenbahnneuordnungsgesetz — heiten der Berechnungsgrundlage, d. h. der Hinweis ENeuOG) auf die Finanzkraft von Bund und Ländern, wurden — Drucksachen 12/4609 (neu), 12/5014 — komplett gestrichen.

(Erste Beratung 150. und 161. Sitzung) Im Hinblick auf die Absicherung der Altlastenrege- aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Aus lung für die Deutsche Reichsbahn wird zusätzlich ein schusses für Verkehr (16. Ausschuß) Entschließungsantrag vorgelegt. Für den S-Bahn — Drucksache 12/6269 — Verkehr in Berlin, der durch den Mauerbau unterbro- chen wurde, werden in den Jahren 1996 und 1997 vom Berichterstattung: Bund jeweils zusätzlich 100 Millionen DM bereitge- Abgeordnete Klaus Daubertshäuser stellt. Roland Kohn bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- Diese Präzisierungen haben ihren Niederschlag in schuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung zusätzlichen Anträgen der Fraktionen von CDU/CSU, — Drucksache 12/6270 — SPD und F.D.P. gefunden; diese liegen Ihnen auf den Drucksachen 12/6311, 12/6312 und 12/6313 vor. Ich Berichterstattung: bitte Sie jedoch um eine redaktionelle Korrektur. In Abgeordnete Ernst Waltemathe der Drucksache 12/6312 sind in Art. 4, Regionalisie- Wilfried Bohlsen rungsgesetz, § 5 Abs. 2 Satz 2 die Worte „nach Satz 1" Werner Zywietz zu streichen. Zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Mit diesen Präzisierungen ist nunmehr sicherge- Grundgesetzes liegt ein Änderungsantrag der Frak- stellt, daß die Ergebnisse des Ministerpräsidenten- tionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. vor. Zum gespräches beim Bundeskanzler in unser Gesetzge- Eisenbahnneuordnungsgesetz liegen zwei Ände- bungsverfahren Eingang finden. Es war eine sehr rungsanträge und ein Entschließungsantrag der Frak- hektische und fast eine stürmische Nacht. Ich möchte tionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. vor. ganz herzlichen Dank sagen an die Mitarbeiterinnen Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die und Mitarbeiter des Verkehrsministeriums und der Aussprache über den Entwurf eines Gesetzes zur Fraktionen, die es möglich gemacht haben, daß Ihnen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16959

Klaus Daubertshäuser allen diese Ergebnisse heute morgen in der Form Die Finanzsituation der Bundesbahn und der eines Gesetzentwurfs vorliegen. Reichsbahn ist fatal. 1993 werden beide Bahnen einen Herzlichen Dank. Verlust von 16 Milliarden DM einfahren, bei einer Bundesleistung von 23 Milliarden DM. Die Verschul- (Beifall im ganzen Hause) dung wird heuer 67 Milliarden DM erreichen, obwohl die Altschulden 1992 im Betrage von 12,5 Milliarden DM auf den Bundeshaushalt übernommen wurden. Vizepräsident Hans Klein: Ich eröffne die Ausspra- che. Ich erteile das Wort unserem Kollegen Dr. Dionys Sind diese Zahlen schon alarmierend, so würde Jobst. eine dramatische Verschlechterung der Finanzsitu- ation bei der Bahn eintreten, wenn nichts geschieht. Die Verschuldung, so wird prognostiziert, würde in Dr. Dionys Jobst (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr den nächsten zehn Jahren über 380 Milliarden DM Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kolle- ansteigen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, gen! Für die deutsche Verkehrspolitik bringt der eine solche Bahn wäre nicht mehr bezahlbar, sie heutige Tag eine geschichtliche Stunde. Mit der würde den Haushalt sprengen. Die Folge wäre eine Bahnstrukturreform wird ein Werk auf den Weg Schrumpfbahn mit erheblichen Nachteilen für die gebracht, das in der deutschen Verkehrsgeschichte Bürger und auch für die Länder. Eine solche Bahn beispiellos ist. Der Deutsche Bundestag beschließt wollen wir nicht, und deshalb ist die Reform der heute die größte Privatisierungsaktion, die es jemals einzige Weg, den finanziellen Niedergang der Bahn gegeben hat. Ich darf daran erinnern, daß wir gerade zu stoppen. bei der Privatisierung im Verkehrsbereich in dieser Legislaturperiode sehr erfolgreich waren. Ich erinnere (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. an die Privatisierung der deutschen Flugsicherung; sowie des Abg. Klaus Daubertshäuser ich erinnere an die Privatisierung der Gesellschaft für [SPD]) Nebenbetriebe der Bundesautobahnen, die jetzt Für diese Bahnreform ist es daher höchste Eisen- umgesetzt wird. bahn. Wir brauchen einen Neubeginn auf einer neuen Mit der Reform der Bahn aber beginnt heute ein Grundlage. Wir müssen Verkehr auf die Schiene neues Eisenbahnzeitalter. Diese Reform ist ein Teil umlenken, um als zentrales Durchgangsland in des Verkehrskonzepts zur Bewältigung der verkehrs- Europa eine Verkehrskatastrophe auf unseren Stra- politischen Herausforderungen, vor denen wir stehen. ßen zu vermeiden. Deshalb ist für uns die Bahn Vor zehn oder fünf Jahren wäre eine Privatisierung Hoffnungsträger beim Verkehr, auch was die Erfor- der Bahn unmöglich, undenkbar gewesen. Heute dernisse für die Umweltbelange angeht. Schwere haben wir erfreulicherweise einen breiten Konsens in Transporte auf weiten Entfernungen gehören auf die unserer Gesellschaft bis in die Reihen der Eisenbah- Schiene. Die europäischen Zentren müssen mit Hoch- ner hinein. Dies zeugt davon, daß die Bahnstrukturre- leistungsstrecken verbunden werden, und deshalb form richtig ist. muß die Eisenbahn auch eine europäische Ausrich- Die verkehrspolitischen Herausforderungen, vor tung erhalten. denen wir heute stehen, erfordern eine andere, erfor- Ein Eckstein der Bahnstrukturreform ist die Regio- dern eine neue Bahn, die leistungsfähiger ist, die mehr nalisierung des öffentlichen Schienenpersonennah- Verkehr bewältigt und die weniger kostet. Wir wollen verkehrs. Wir brauchen hier überzeugendere Ange- keinen Abbau von Arbeit bei der Bahn; wir wollen bote in den Ballungsräumen, aber auch in der Fläche. höhere Verkehrsleistungen der Eisenbahn. Unsere Städte müssen wieder lebenswerter werden. Die Bahn steht im Wettbewerb mit anderen Ver- Die Chance, den öffentlichen Personennahverkehr zu kehrsträgern und mit anderen Eisenbahnen in verbessern, besteht nur über die Regionalisierung. Europa. Diesen Wettbewerb kann keine Behörden- Vor Ort kann am besten entschieden werden, was bahn bestehen mit einer Infrastruktur aus dem letzten notwendig ist, was sinnvoll ist und was zugleich Jahrhundert, mit einer veralteten Organisation aus finanzierbar ist. Dies bedeutet, daß die Entschei- der Zeit, als die Bahn noch eine Monopolstellung dungsverantwortung und die Finanzverantwortung hatte. bei den Ländern und Kommunen liegen müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Wenn es um Geld geht, ist der Appetit natürlich sehr Zuruf von der F.D.P.: Genau so ist es!) groß. Der Kollege Daubertshäuser hat als Berichter- Die Strukturreform, meine Damen und Herren, statter die letzten Ergebnisse eben vorgetragen. Wir nimmt die behördlichen und öffentlich-rechtlichen freuen uns, daß die letzten Stolpersteine endlich Bremsklötze endlich von den Schienen und bringt die weggeräumt werden konnten und die Vernunft jetzt unternehmerische Bahn. Die Bahn muß wieder ihre endlich gesiegt hat. Rolle als leistungsfähiger und umweltfreundlicher Verkehrsträger wahrnehmen können. Die Bahn hat (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nicht mehr die dominierende Rolle im Verkehr, die sie Die Bahnreform, meine Damen und Herren, durfte einmal gehabt hat. Ihr Anteil an den Verkehrsleistun- kurz vor dem Ziel nicht mehr scheitern. Die Länder gen beträgt im Personenverkehr nurmehr 6 %, im erhalten feste Beträge, und ich glaube, der Bund ist Güterverkehr 22 %. 1992 hat die Deutsche Bundes- mit seinem Angebot sehr weit entgegengekommen. bahn nurmehr 250 Millionen Tonnen Güter befördert; dies ist das niedrigste Ergebnis seit den 50er Jah- (Uta Würfel [F.D.P.]: Das finde ich allerdings ren. auch!) 16960 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Dr. Dionys Jobst Entscheidend ist aber für uns — dies kann nicht schaft, im Interesse der ländlichen Räume, aber auch deutlich genug unterstrichen werden —, daß es jetzt im Interesse der Eisenbahner. Wir brauchen wieder möglich ist, enorme Investitionen in den öffentlichen Zukunftsperspektiven für unsere Eisenbahner. Un- Schienennahverkehr zu geben, wie sie bisher nicht sere Eisenbahner brauchen sich mit ihren Leistungen möglich gewesen sind. Dies geht zum Vorteil der nicht zu verstecken. Die Eisenbahn hat zu allen Zeiten Kommunen, und dies dient auch unseren Bürgern. Vor hervorragende Mitarbeiter gehabt. Diese Mitarbeiter allem ist es wichtig, daß nach dem Schienenwegeaus- waren stets ein wichtiges Kapital bei der Bahn. Der baugesetz in den nächsten neun Jahren 2,7 Milliarden Abwärtstrend muß gestoppt werden; es muß wieder DM Investitionsmittel zweckgebunden für den öffent- aufwärtsgehen, auch für unsere Eisenbahner. lichen Personennahverkehr verwendet werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Meine Damen und Herren, die künftige Bahn ist sowie bei Abgeordneten der SPD) eine unternehmerische Bahn. Dies bedeutet ihre Pri- vatisierung, und deshalb muß das Grundgesetz geän- Für die Mitarbeiter der Bahn ist es wich tig, daß die dert werden. Dies bedeutet die Befreiung von den sozialen und die betrieblichen Einrichtungen für sie Schulden und von den Altlasten, die bisher entstan- erhalten bleiben. den sind, und dies bedeutet auch die Abschaffung des Meine Damen und Herren, die Bahnstrukturreform öffentlichen Dienstrechts. Nur wenn die Eisenbahn ist nur möglich geworden, weil alle verantwortlichen vom überkommenen Haushalts- und Dienstrecht frei politischen Kräfte an diesem Kraftakt mitgewirkt ist, kann sie auf dem Markt kaufmännisch agieren. haben. Daß dieses Werk gelungen ist, ist vielen zu (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Uta verdanken. Ich möchte heute als Vorsitzender des Würfel [F.D.P.]) Verkehrsausschusses diesen Dank an die Mitbericht- erstatter im Verkehrsausschuß des Bundestages über- Der Vorstand der Bahn AG kann künftig unternehme- mitteln. Ich möchte hier insbesondere die Arbeit des risch handeln. Dies bedeutet aber auch die volle verkehrspolitischen Sprechers der SPD-Fraktion, des unternehmerische Verantwortung. Ein Rückzug der Kollegen Klaus Daubertshäuser, würdigen, der eine Bundesbahnführung auf die Politik ist ihr insoweit wichtige Koordinierungsaufgabe geleistet hat. nicht mehr möglich. Die Bahn AG wird Eigentümerin des Schienenweges, der Staat zieht sich- aber aus (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der sener gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung nicht SPD) zurück. Es ist meistens etwas bedenklich, wenn man vom (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Er zahlt politischen Gegner gelobt wird, aber dieses Lob ist weiter!) wirklich verdient. Die Eisenbahn ist für uns volkswirtschaftlich unver- Mein Dank gilt den Mitarbeitern des Sekretariats zichtbar. Deshalb behält der Bund die Verantwortung des Verkehrsausschusses, den Mitarbeitern der für die Schieneninfrastruktur. Alle künftigen Investi- Eisenbahnabteilung im Bundesverkehrsministerium. tionen in den Fahrweg werden durch den Bund durch Beide Bereiche waren das ganze Jahr über besonders zinslose Darlehen oder durch Baukostenzuschüsse gefordert. finanziert. Der Fahrweg ist nämlich die teuerste Ange- legenheit bei der Bahn. Der Anteil der Fahrwegkosten Mein Dank gilt dem früheren Bundesminister für an den Gesamtkosten beträgt beim Lkw 7 %, bei der Verkehr, Dr. Warnke, der die Regierungskommission Binnenschiffahrt 0,7 %, bei der Eisenbahn aber eingesetzt hat und dem mit dem Vorsitzenden dieser 34 %. Kommission, Herrn Dr. Saßmannshausen, ein guter Griff gelungen ist. Des weiteren möchte ich dem Die zentrale Aufgabe der künftigen Unternehmens- früheren Bundesverkehrsminister Professor Krause führung wird sein, die Wettbewerbsfähigkeit der danken. Er hat diese Reform auf den parlamentari- Eisenbahn zu stärken. Die Bahn braucht gleiche schen Weg gebracht. Wettbewerbsbedingungen. (Ernst Waltemathe [SPD]: Zimmermann ver (Zustimmung bei der CDU/CSU) gißt er!) Deshalb bleibt die Politik weiter gefordert, und wir bleiben in der Verantwortung. Wir als Verkehrspoliti- Mein besonderer Dank gilt natürlich dem jetzigen ker werden uns vom Thema Bahn nicht verabschie- Bundesverkehrsminister Wissmann, der die schwie- den. Wir werden uns damit zu befassen haben, was die rige Abstimmung mit den Ländern herbeigeführt und Bahn als Unternehmen und als wichtiger Verkehrsträ- die letzten Hindernisse aus dem Weg geräumt hat. ger leisten kann und was sie in Zukunft leisten Danken darf ich auch den Regierungen der Län- muß. der, Meine Damen und Herren, es ist prognostiziert, daß (Roland Kohn [F.D.P.]: Wofür denn?) die Bahnreform den Haushalt in den nächsten zehn Jahren um 100 Milliarden DM entlasten wird. Nie- die diese Reform mittragen. Schließlich gilt mein mand kann heute mit Sicherheit sagen, ob dieses Dank den Eisenbahnern, den Personalräten und große Ziel voll erreicht wird. Dennoch meine ich: Der Gewerkschaften, die an dieser Reform mitgewirkt und Weg ist richtig, wir müssen diesen Weg beschrei- diese Reform künftig umzusetzen haben. ten. Meine Damen und Herren, die Bahnreform ist ein Die Bahnreform ist notwendig geworden im Inter- Wagnis. Wir haben den Mut zum Wagnis aufgebracht. esse unserer Wirtschaft, im Interesse unserer Gesell Es gibt keinen anderen Weg. Deutschland und Europa Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16961

Dr. Dionys Jobst brauchen eine neue und eine starke Bahn der kehrspolitik insgesamt eine positive Zukunftschance Zukunft. eröffnet. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Nun kommt natürlich auch teilweise Kritik, komi- sowie bei Abgeordneten der SPD) scherweise von Leuten, die ständig die Verkehrsver- Ich bin zuversichtlich, daß dieses Reformwerk erfolg- lagerung auf die Schiene, den Verzicht auf Strecken- reich ist. Wir stellen heute im Deutschen Bundestag stillegungen usw. fordern. Liebe Kolleginnen und die Signale für eine neue Bahn auf freie Fahrt. Der Kollegen, gestatten Sie mir aber eine deutliche Ant- neuen Bahn und ihren Mitarbeitern gilt ein herzliches wort. Seit der „kleinen Bahnreform" 1981, seit mehr Glückauf bei der Fahrt in eine erfolgreiche Zukunft. als zwölf Jahren also, kämpfe ich zusammen mit Danke. meinen Kolleginnen und Kollegen von der Arbeits- gruppe Verkehr für eine umfassende Reform der (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Bahn, für eine saubere Entschuldung, für die Tren- SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nung von unternehmerischer und politischer Verant- wortung, für Gleichbehandlung bei Ausbau und Erhalt der Verkehrsinfrastruktur, für mehr Flexibilität Herr Kollege Waltema- Vizepräsident Hans Klein: im personalrechtlichen Sektor, d. h. Kippen des star- the, wenn Sie die Dankesliste des Ausschußvorsitzen- ren öffentlichen Dienstrechtes. Wir waren es, die bei den erweitern möchten, dann geben Sie das doch der Verabschiedung des Bundesverkehrswegeplans Ihrem Kollegen Daubertshäuser mit ans Rednerpult. erfolgreich darauf gedrängt haben, durch das Schie- Er hat als nächster das Wort. nenwegeausbaugesetz endlich die rechtliche und pla- nerische Gleichstellung von Schiene und Straße her- Klaus Daubertshäuser (SPD): Herr Präsident! zustellen. Meine Damen und Herren! Die Entscheidung über die (Beifall bei der SPD) Bahnreform ist in der Tat ein Meilenstein in der verkehrs- und sogar in der wirtschaftspolitischen Meine Damen und Herren, wie kann jemand vor Geschichte dieser Republik. Sie ist ein ganz wichtiger diesem Hintergrund auf die Idee kommen, daß die Beitrag für die Modernisierung unserer Volkswirt- SPD ausgerechnet dann aufstecken soll, wenn es nun schaft und die Eröffnung einer wesentlichen darum geht, ihre Ziele auch tatsächlich konkret umzu- Zukunftschance für unser L and. Dies ist das Ergebnis setzen und zu normieren? Meine Damen und Herren, harter und zäher Arbeit. wer diese Bahnreform nicht will, der schreibt die alten, Auch ich will mit meinem, mit unserem Dank die gescheiterten Strukturen fest und erreicht damit beginnen. Ich glaube, man muß ganz besonders weniger als nichts. Denn das hieße doch im Ergebnis: herzlich den Verhandlungsführern von Bund und Der Schuldenberg wächst weiter ins Unermeßliche, Ländern danke sagen, insbesondere aber Verkehrs- der Ausbau der Schieneninfrastruktur wird vernach- minister Wissmann und den Ministerpräsidenten lässigt, und die Verkehrsanteile der Bahn sinken und Hans Eichel. kontinuierlich. Gleichzeitig werden aber von allen politischen Ebenen weiterhin immer neue verkehrs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten politische Wunschzettel bei der Bahn abgeliefert. der CDU/CSU — Ernst Waltemathe [SPD]: Wissmann wird jede Woche gelobt!) Es ist deshalb völlig unbestreitbar, daß es so wie bisher nicht mehr weitergehen kann, d. h. nur eine Was sie, allen voran natürlich die Mitarbeiter und umfassende Reform kann diesen Teufelskreis durch- Mitarbeiterinnen der Abteilung Eisenbahn des Bun- brechen. desverkehrsministeriums und der Hauptverwaltung der Bundesbahn, und — ich sage dies hier bewußt — Der gesetzliche Rahmen, den wir heute verabschie- die Mitarbeiter der Fraktionen in den letzten Monaten den wollen, eröffnet diese Chance für den Neuanfang. unter zum Teil fast unzumutbarem Zeitdruck und bis Natürlich haben nicht alle ihre Forderungen lupen- zur Grenze der physischen Leistungsfähigkeit ge- rein durchsetzen können. Aber das ist doch das Wesen schafft haben, verdient außerordentlichen Respekt. von Verhandlungen: Jeder knirscht an einer Stelle mit (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der den Zähnen. F.D.P.) Dennoch sage ich: Dies ist ein gutes Ergebnis. Ich Auch ich will ganz besonders herzlich insbesondere will diese Einschätzung unterlegen. Die Bahn als der Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands und Unternehmen wird von den Fesseln des öffentlichen ihrem Vorsitzenden Rudi Schäfer, den ich oben auf der Rechts befreit — Tribüne sitzen sehe, danke sagen. (Roland Kohn [F.D.P.]: Des Dienstrechts, (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der nicht des Rechts!) F.D.P.) — natürlich des Dienstrechts, völlig klar, Herr Kollege Er hat in einer außerordentlich schwierigen Phase vor Kohn —, aber die Verantwortung des Staates für die dem Hintergrund berechtigter Ängste und Sorgen der Infrastruktur ist grundgesetzlich gesichert. Wer die Eisenbahner nie das große Ziel aus den Augen verlo- Verantwortung des Staates ausschließlich am forma- ren, gleichwohl aber erfolgreich um jede Verbesse- len Eigentum an den Schienenwegen festmacht, rung für die Beschäftigten der Bahn gekämpft. springt zu kurz. Entscheidend ist, daß der Staat auf Das Ergebnis, das wir heute vorliegen haben, ist ein Dauer Eigentümer der Fahrweggesellschaft bleibt tragfähiges Konzept, ein Ergebnis, das der Bahn, ihren und daß darüber hinaus seine Verantwortung für das Beschäftigten und ihren Nutzern, aber auch der Ver- Wohl der Allgemeinheit bei Ausbau und Erhalt der 16962 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Klaus Daubertshäuser Schienenwege in einer unzweideutig formulierten Die neue Unternehmensstruktur ermöglicht der Gewährleistungsklausel im Grundgesetz festge- Bahn vor dem Hintergrund eines schuldenfreien schrieben ist. Starts weitere Aufwandsreduzierungen. Aber ich bin davon überzeugt, daß sich diese sogenannten AG- (Beifall bei der SPD) Effekte frühestens in fünf oder sechs Jahren bemerk- Meine Damen und Herren, diese jetzt gefundenen bar machen. Sie werden nicht bereits im ersten Rutsch Formulierungen für die Änderung des Grundgesetzes in der Bilanz ihren Niederschlag finden. Aber ob, sind qualitativ weit besser als das, was heute im wann und in welcher Größenordnung diese AG- Grundgesetz zur Bahn steht. Ja, sie sind mehr als das, Effekte realisiert werden, liegt nun in der Hand des was bisher in den geltenden Grundgesetztext hinein- Bahnmanagements. interpretiert wurde. Von entscheidender Bedeutung für die Sozialdemo- Meine Damen und Herren, erreicht wurde auch kraten waren und sind die personalrechtlichen Rege- eine eindeutige Festschreibung der Finanzverant- lungen. Es ist uns in Zusammenarbeit mit der GdED wortung des Bundes für das gesamte Schienennetz im gelungen, hier eine volle arbeits- und personalverfas- Schienenwegeausbaugesetz. Um einen weitverbrei- sungsrechtliche Besitzstandswahrung zu erreichen. teten Irrtum zu beseitigen, sage ich hier noch einmal Darüber hinaus ist durch eine Vorruhestandsrege- ganz deutlich: Die Bundesverantwortung betrifft wie lung die Chance geschaffen worden, im Bereich der bisher auch in Zukunft das Netz, auf dem Schienen- Bundesbahn den schwierigen Übergang auf den personennahverkehr betrieben wird. neuen Status so sozialverträglich wie nur irgend möglich zu gestalten. Untermauert werden diese Sicherungen der staatli- chen Infrastrukturverantwortung schließlich durch Ein ganz wichtiger Punkt ist schließlich die unbe- klare Netzzugangsregelungen mit Vorrang für ver- dingte Sicherung der Eisenbahnerwohnungen. Im taktete und vernetzte Verkehre und auch durch ein Gesetz ist nun eindeutig festgestellt, daß der gesamte sauberes Streckenstillegungsverfahren unter Beteili- Wohnungsbestand vom Bundeseisenbahnvermögen gung der betroffenen Gebietskörperschaften. — also in der Verantwortung der öffentlichen Hand — nach den bisherigen Grundsätzen fortgeführt wird. Meine Damen und Herren, künftig wird erstmals Die DBAG wird mit dem Eisenbahnvermögen vertrag- das Parlament mit dem Schienenwegebedarfsplan lich sicherstellen, daß die Wohnungsförderung wie darüber entscheiden, welche Strecken ausgebaut bisher fortgesetzt wird. Das heißt im Klartext: Kein werden. Und es entscheidet durch den Haushalt Eisenbahner und seine Familie muß um seine Woh- darüber, wieviel Geld dafür zur Verfügung gestellt nung bangen. Das ist ein ganz wesentlicher, wichtiger wird. Das sind die entscheidenden Stellschrauben, Punkt, der hier festgeschrieben wurde. nicht die Frage, ob eine privatrechtlich oder öffent- lich-rechtlich organisierte Gesellschaft die Schienen- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wege verwaltet. Nicht das Etikett, die Inhalte sind der CDU/CSU und der F.D.P.) entscheidend, und diese Inhalte sind stimmig. Meine Damen und Herren, von zentraler Bedeu- (Beifall bei der SPD) tung für den Gesamterfolg der Bahnreform ist schließ- lich die Regionalisierung des Schienenpersonennah- Der zweite wichtige Punkt ist die Entschuldung der verkehrs. Der Nahverkehr ist heute das Rückgrat der Bahn. Wir wollten einen völlig schuldenfreien Start Bahn. Sie bezieht daraus rund 40 % ihrer Einkünfte. der Bahn, weil sie nur so eine echte Chance für einen Gleichzeitig ist in der alten Struktur der Nahverkehr Neuanfang hat. Dies ist gelungen. Das ist eine groß- aber auch der größte Zankapfel zwischen allen Betei- artige Leistung, für die insbesondere Verkehrsmini- ligten. ster Wissmann Dank zu sagen ist. Ich kann nachvoll- ziehen, welch harte Verhandlungen er innerhalb der (Zurufe von der SPD: Ja! — Richtig!) Bundesregierung, innerhalb des Bundeskabinettes zu Was bisher stattfand, war ein übles Schwarzer-Peter- bestehen hatte. Man muß sich vorstellen: Der Bund Spiel, bei dem jeder versucht hat, seine Verantwor- hat nicht nur die rund 70 Milliarden DM Altschulden tung auf den anderen zu schieben. Dieses Schwarzer- von Bundesbahn und Reichsbahn, sondern auch die Peter-Spiel wird durch die Regionalisierung endgültig Verantwortung für die Altlasten der Reichsbahn und beendet. die personalrechtlichen Lasten, die auf der bisherigen Anwendung des Beamtenrechtes bei der Bundesbahn Die Länder bzw. die kommunalen Gebietskörper- beruhen. schaften sind in Zukunft die Besteller aller Nahver- kehrsleistungen, egal ob es Bahn, Regionalbus, Stadt- (Zuruf des Abg. Dieter-Julius Cronenberg bus oder Straßenbahn ist. Damit ist die Voraussetzung [Arnsberg] [F.D.P.]) dafür geschaffen, einen Nahverkehr aus einem Guß — Das gehört aber dazu, wenn Sie wirklich Wettbe- zu organisieren, der sich am Kundennutzen orien- werb und Marktwirtschaft wollen, Herr Cronen- tiert. berg. Nahverkehr aus einem Guß bedeutet auch, daß von Wenn man das zusammenrechnet, ist es ein Batzen der Nahverkehrs AG eine integrierte Produktpalette von weit über 100 Milliarden DM, der ohne die von Schiene und Bahnbus angeboten werden muß. Entschuldung im Rahmen der Bahnreform beiden (Beifall bei der SPD) deutschen Bahnen in kürzester Zeit endgültig das Genick gebrochen hätte, und wir hätten auf das Ich sage hier ganz klar, ein Verkauf der Bahnbusse Instrument Bahn wahrscheinlich verzichten müssen. wäre eine deutliche Schwächung der Bahn und des Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16963

Klaus Daubertshäuser ÖPNV gerade im ländlichen Raum. Dies darf nicht schaft in einem handelsrechtlich strukturierten Unter- passieren. nehmen für gute Leistungen auch bessere Gegenlei- stungen zu erhalten. (Beifall bei der SPD — Ministerpräsident Hans Eichel [Hessen]: Recht hat er!) Diese positiven Effekte der Bahnreform sind Mög- lichkeiten und Chancen. Das heißt, der Gesetzgeber Meine Damen und Herren, der Bund steht auch hat die Instrumente nun in den Orchestergraben weiter in der Verantwortung, indem er den Ländern gestellt; nun muß damit aber auch gespielt werden. für den Bereich des Schienenpersonennahverkehrs Mit anderen Worten, Gesetzesvorgaben bleiben wir- ausreichende und dynamisierte Finanzmittel zur Ver- kungslos, wenn sie nicht aktiv genutzt werden. fügung stellen muß. Zusammen mit den bisher schon in den Ländern für den öffentlichen Personennahver- Damit ist klar: Der gesetzliche Rahmen der Bahnre- kehr eingesetzten Mitteln sind die künftigen Aufga- form ist nur der allererste Schritt hin zu einer Gesun- benträger damit in der Lage, die verschiedenen dung der Bahn. Die eigentliche Arbeit steht auf allen Anbieter von Nahverkehrsleistungen im Rahmen Ebenen noch bevor. Herr Dürr und das Management eines integrierten Nahverkehrsplans zu vernetzen der künftigen Bahn AG müssen jetzt die innere und ein verbessertes Angebot auf die Beine zu stellen, Reform durchsetzen. Das heißt, Entschuldigungen mit natürlich unter der Überschrift: Wettbewerb statt Blick auf Dritte werden nicht mehr entgegengenom- Einheitsangebot, Attraktivitätssteigerung statt Lei- men. stungseinschränkungen, Anbindung der Fläche statt (Zuruf von der SPD: So ist es!) Konzentration auf die Ballungszentren. So, wie es in der Vergangenheit war, ist der ländliche Raum völlig Damit ist auch hier das Schwarzer-Peter-Spiel zu vernachlässigt worden. Das heißt, die vorliegenden Ende. Gesetze schaffen alle Voraussetzungen dafür, daß (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten umfassende ÖPNV-Regionalkonzepte unter Einbe- der CDU/CSU und der F.D.P.) ziehung der Schiene auch umgesetzt werden kön- nen. Die Bundesregierung bleibt in der Pflicht, die heute noch zu Lasten der Bahn bestehenden Wettbewerbs- Nun können auch in den ländlichen Räumen ökolo- verzerrungen auf dem deutschen und internationalen gisch verträgliche, moderne Verkehrssysteme ange- Verkehrsmarkt so rasch wie möglich abzubauen. Wir, boten werden. Das, was S-Bahn und Stadtexpress für das Parlament und die Bundesregierung, sind in der die Ballungsräume sind, das sind die Regionalbahn Verantwortung, bei der Aufteilung der Haushaltsmit- und der Regionalexpress für die ländlichen Räume. tel durch eindeutigen Vorrang für die Schiene dem Meine Damen und Herren, nur eine Bahn und ein Nachholbedarf im Bereich der Schieneninfrastruktur ÖPNV, die den Menschen in allen Regionen, nicht nur Rechnung zu tragen. in den Ballungsräumen, zur Verfügung stehen, sind es auch wert, aus Steuergeldern aller gefördert zu wer- (Zuruf von der SPD: Genau!) den. Insgesamt bleibt die Politik in der Pflicht, im Rah- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten men eines integrierten Gesamtverkehrskonzeptes der F.D.P. und des BÜNDNISSES 90/DIE weitere Schritte zur Verkehrsvermeidung, zur Ein- GRÜNEN) dämmung der Verkehrszuwächse und zur Verlage- rung von motorisiertem Verkehr auf Bahn und Bin- Nun sind die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß nenschiff zu tun. Die Tarifpartner müssen die durch ÖPNV endlich auch intelligent organisiert werden das Gesetz geschaffenen Möglichkeiten mit Leben kann. erfüllen. Die Liste der von uns positiv bewerteten Elemente Meine Damen und Herren, ich sage es noch einmal: ließe sich im Detail fortsetzen. Ich glaube aber, es ist Die Bahnreform wird am Ende nur dann erfolgreich klar, daß die Bahnreform die Bahn in die Lage sein, wenn die Eisenbahnerinnen und Eisenbahner versetzt, in Zukunft eine tragende Rolle im Rahmen auf ihrer Seite sind. Tarifpartner haben es in der eines integrierten Gesamtverkehrskonzeptes zu über- Hand, dafür die Voraussetzungen zu schaffen. Herr nehmen: Kollege Urbaniak, die Mitbestimmung, nach dem Die Bahnkunden werden künftig ein attraktiveres 76er Modell und die Besitzstandswahrungsregeln in Angebot vorfinden, daß das Umsteigen auf die Bahn den Bahngesetzen bilden dafür nur den Rahmen. erleichtert. Die Lander schließlich müssen den abstrakten Die Wirtschaft hat eine Transportperspektive, die Begriff der Regionalisierung vor Ort mit Leben erfül- der an seine Grenzen stoßende Straßenverkehr in len. Ich habe großes Verständnis dafür, daß die Länder naher Zukunft nicht mehr bieten kann. über ihre Ministerpräsidenten wie die Löwen um Für die Eisenbahner schließlich ist die Bahnreform ausreichende Finanzmittel für diese neue Aufgabe ein Licht am Ende des Tunnels. Sie haben bisher gekämpft haben. Kein Ministerpräsident eines Bun- frustriert miterleben müssen, wie alle Produktivitäts- deslandes könnte es verantworten, eine Aufgabe steigerungen, alle ihre Anstrengungen doch zu nichts dieser Dimension nur unter dem Risiko der Preisgabe anderem geführt haben, als daß die Bahn immer tiefer anderer wichtiger Aufgaben zu übernehmen. in die Krise hineinfuhr. Sie haben jetzt die Ch ance, Geld allein aber — auch das muß man sagen — ist daß ihr Engagement nicht wirkungslos verpufft, daß nicht die einzige Voraussetzung für mehr und besse- wir die Motivation steigern, denn sie haben die ren Nahverkehr in der Zukunft. Hinzu kommen muß Möglichkeit, auf Grund der flexibleren Personalwirt- die intelligente Umsetzung durch Nahverkehrskon- 16964 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Klaus Daubertshäuser zepte, die die Bedürfnisse der jeweiligen Region im Es geht darum, die Zukunftsmöglichkeiten der I Sinne einer Maßanzuglösung befriedigen. Bahn endlich voll auszuschöpfen. Deswegen Wenn das gemeinsame Anliegen einer Qualitäts- richte ich auch an dieser Stelle an alle Verant- und Quantitätsoffensive für den ÖPNV Erfolg haben wortlichen die dringende Bitte, daß die Bahnre- soll, dann müssen die Länder auch in Zukunft über die form jetzt endlich verabschiedet werden kann. Transfermittel für den Schienennahverkehr hinaus (Detlev von Larcher [SPD]: Was ist daran eigene Mittel zur Stärkung des ÖPNV einsetzen. denkwürdig?) Mehr Geld und die Möglichkeit, ÖPNV intelligent zu organisieren, meine Damen und Herren — damit sind Dieser Wunsch des Kanzlers ist bei uns Liberalen die Weichen für einen Aufbruch „Pro ÖPNV" auf fruchtbaren Boden gefallen. Der Standort gestellt. Deutschland kann sich keinen Standverkehr leisten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.) Wir Freien Demokraten sind eben doch der stabile Meine Damen und Herren, die Lösung des Problems Faktor in dieser Koalition. der Bahnreform hat aber darüber hinaus bewiesen, (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/CSU daß es nach wie vor sachorientierte Handlungsfähig-- — Lachen bei der SPD) keit der Politik gibt. Schließlich sind wir und niemand sonst die trei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der bende Kraft F.D.P. — Zuruf von der SPD: Das wird man sehen!) (Dr. Klaus-Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE Die gängige These, die einmal von unserem Bundes- GRÜNEN]: Sachsen-Anhalt!) präsidenten in den Satz von der für die Bahnreform gewesen. Dies ist die historische Machtversessenheit auf den Wahlsieg und Wahrheit! Machtvergessenheit bei der Wahrnehmung der inhaltlichen und konzeptionellen politischen (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Führungsaufgabe ten der CDU/CSU — Zurufe von der SPD) gekleidet wurde, hat mit der Bahnreform zumindest Fast auf den Tag genau vor zehn Jahren habe ich ein überzeugendes Gegenbeispiel erhalten. zusammen mit meinen früheren Fraktionskollegen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Klaus-Jürgen Hoffie und Horst-Ludwig Riemer die der CDU/CSU und der F.D.P.) Forderung erhoben, die Bundesbahn zu einem am Markt operierenden Unternehmen fortzuentwickeln. Auf einem wichtigen wirtschafts- und verkehrspoli- tischen Feld hat die deutsche Politik ihren Willen und (Ernst Waltemathe [SPD]: Donnerwetter ihre Fähigkeit zur ergebnisorientierten Problemlö- noch einmal!) sung unter Beweis gestellt. Unsere damals formulierten Bahneckpunkte — Schon vor fast zehn Jahren hat Hermann Josef Abs festgestellt: (Zuruf von der SPD: Das ist ja schon ein paar Die wirtschafts- und gesellschaftspolitische Rolle Jahre her!) der Deutschen Bundesbahn erlaubt es nicht, Trennung der Unternehmensbereiche, Trennung von gerade im Hinblick auf die jüngste Vergangen- Fahrweg und Betrieb, Beseitigung der politischen heit, zögerliche Einzelvorschläge kompromißhaft Durchgriffsmöglichkeiten auf die Bahn, Privatisie- zu verwirklichen zu suchen, sondern erfordert rung, umfassende Reform der Bahngesetze, konse- eine ergebnisorientierte, anhaltende Bereit- quente Marktorientierung — sind Gegenstand des schaft, die Gesamtheit der empfohlenen Maßnah- Bahnreformpakets, über das wir heute entscheiden. men einzuführen. Dem ist nichts hinzuzufügen. Ich habe in dem Jahrzehnt seither nach dem Motto gehandelt: Es ist süß und ehrenvoll, für die Bahnre- ank. Vielen D form zu werben. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Uta Würfel [F.D.P.]: Was lange währt, wird NEN) einmal gut!) Leider haben erst die Bundesverkehrsminister Krause und Wissmann den politischen Mut gehabt, dieses Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Roland Projekt tatsächlich anzugehen, und an dieser Stelle Kohn, Sie haben das Wort. möchte ich Ihnen, Herr Minister Wissmann, ausdrück- lich für Ihr Engagement danken und Ihnen sagen: Die Roland Kohn (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr Spätzle-Connection an dieser Stelle hat funktio- verehrten Damen und Herren! In der Debatte des niert. Deutschen Bundestages vom 21. Oktober 1993 zum (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Wirtschaftsstandort Deutschland hat Bundeskanzler den denkwürdigen Satz ausgesprochen Liebe Kolleginnen und Kollegen, daß es aber nicht — ich zitiere —: möglich war, viel früher das Notwendige zu tim, stellt Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16965

Roland Kohn der Reformfähigkeit unseres politischen Systems ein allem ist auch die Vernetzung der Verkehrsträger denkbar schlechtes Zeugnis aus. angesagt. Statt Stau auf Gummirädern brauchen wir Schub auf Eisenrädern. Machen wir Deutschland zu (Ernst Waltemathe [SPD]: Die F.D.P. war Europas Bahnland Nummer eins! doch immer dabei! Ich weiß gar nicht, was Sie wollen! Diese bewegliche Partei!) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Es ist auf Dauer verhängnisvoll für eine gedeihliche ten der CDU/CSU und der SPD — Dr. Dag Entwicklung in unserem Land, daß Verkrustungen mar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Schön und Erstarrungen in Wirtschaft und Gesellschaft fast wär's ja!) nicht mehr aufzubrechen sind. Erst unter dem Lei- — Ich freue mich schon heute auf die wichtigen densdruck der Defizitentwicklung wurde endlich die Beiträge derjenigen, die von seiten der SPD jetzt so Bahnreform auf die Schiene gebracht, und einem lautstark Beifall klatschen. Baden-Württemberger werden Sie gewiß nachsehen, wenn er hinzufügt: Wieviel Geld der Steuerzahler Welche Philosophie steckt hinter unserem Lösungs- hätten wir bei rechtzeitigem Handeln einsparen kön- ansatz? Wir sagen: Es ist eine staatliche Aufgabe, für nen! eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur zu sorgen. Aber es ist keine originär staatliche Aufgabe, den Wo steht die Bahn heute? Transport von Menschen oder Gütern selbst in die - (Ernst Waltemathe [SPD]: Es geht nicht Hand zu nehmen. Der Staat ist nun einmal ein darum, daß sie steht, sondern darum, daß sie miserabler Fahrkartenverkäufer. Wohin staatlich fährt!) dirigistische Transportlenkung führt, können wir am abschreckenden Beispiel der DDR-Verkehrspolitik Der Marktanteil der DB ist im Güterfernverkehr studieren. Deshalb gilt für uns die Maxime: Die Bahn zwischen 1965 und 1990 von 40,6 % auf 24,7 % gefal- muß Fahrgäste und verladende Wirtschaft durch die len, im Personenverkehr von 11,2 % auf 6,2 %. Wäh- Qualität ihres Dienstleistungsangebots im Wettbe- rend das Bundesfernstraßennetz in den letzten Jahr- werb mit den anderen Verkehrsträgern überzeugen. zehnten massiv ausgebaut wurde, fährt die Bahn bis Wir müssen erreichen, daß die Menschen — nicht heute im wesentlichen auf einem Schienennetz, das immer, aber immer öfter — sagen: Ich habe Lust auf im 19. Jahrhundert konzipiert und gebaut worden ist, Bahnverkehr. wenn man einmal von den paar Kilometern Neubau- strecken absieht, die inzwischen für den Hochge- (Heiterkeit) schwindigkeitsverkehr zur Verfügung stehen. — Kollegen, ich fürchte, Sie haben mich mißverstan- Wie sehr in der Vergangenheit die Bahn benachtei- den. ligt wurde, erkennen Sie daran, daß zwischen 1965 und 1990 die Streckenlänge der Bahn von über Wie sieht unser Konzept im einzelnen aus? Deut- 30 000 km auf etwa 26 000 km geschrumpft ist, sche Bundesbahn und Deutsche Reichsbahn werden während sich in diesem Zeitraum die Streckenlänge zusammengeführt und in privatrechtlicher Organisa- der Bundesautobahnen verdreifacht hat. Das Wachs tionsform zur Deutschen Bahn AG mit den Sparten tum im Pkw-Bestand, im Lkw-Bestand — Zahlen, die Fahrweg, Güterverkehr, Personenfern- und Perso- Ihnen allen bekannt sind — zeigt, daß wir alle ohne nennahverkehr umgewandelt. In einem zweiten Ausnahme zu spät die Zeichen der Zeit erkannt Schritt werden dann aus den Sparten Aktiengesell- haben. schaften unter dem Dach einer Holding. Der Bund bleibt Mehrheitseigentümer der Fahrweg AG. Der Wir alle wissen auch, daß in dem genannten Zeit- Bund entschuldet die Bahn vollständig; er übernimmt raum die SED durch Unterlassung von Investitionen die überhöhten Versorgungslasten sowie die Zusatz- die Substanz der Deutschen Reichsbahn aufgezehrt kosten für das Personal, die auf dessen öffentlich- hat. Deshalb wird und muß nach dem Willen der rechtlichem Dienstverhältnis beruhen. Die Bahn wird Koalition in den nächsten Jahren das Investitions- aus den Fesseln des öffentlichen Dienstrechts befreit schwergewicht auf den Verkehrsprojekten Deutsche und vom Durchgriff der Politik erlöst. Einheit und in den jungen Bundesländern liegen. Das Schienennetz wird für Dritte, z. B. für ausländi- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der sche Eisenbahnunternehmen oder auch für P rivate, CDU/CSU) geöffnet, gegen Zahlung eines nutzungsabhängigen Finanziell betrachtet, stellt sich die Situation so dar: Entgelts, versteht sich. Die Fahrweg-Aktiengesell- Jahresdefizit bei DB und DR rund 15 Milliarden DM, schaft wird die Aufgabe haben, dieses Schienennetz Gesamtschuldenstand der beiden Unternehmen rund offensiv zu vermarkten. Für uns ist besonders wichtig: 70 Milliarden DM, Finanzbedarf bis zum Jahre 2002 Der Zugang zu diesem Schienennetz muß diskrimi- weit über 500 Milliarden DM. nierungsfrei möglich sein. Was also ist das Ziel der Bahnpolitik der Freien (Zustimmung bei der CDU/CSU) Demokraten? G anz einfach: Wir wollen mehr Verkehr auf die Schiene bringen. Der Bund bleibt finanziell für den Fahrweg verant- wortlich, d. h. für den Unterhalt, den Aus- und Neubau (Detlev von Larcher [SPD]: Ach?) von Schienenstrecken. Ich will in diesem Zusammen- Denn die Bahn ist ein umweltfreundliches Verkehrs- hang ausdrücklich betonen, daß wir in Zukunft wich- mittel. Außerdem werden wir angesichts des vorher- tige Infrastrukturprojekte auch bei den Bahnen über sehbaren Verkehrswachstums jeden Verkehrsträger den freien Kapitalmarkt werden finanzieren müs- mit seinen systemspezifischen Stärken brauchen. Vor sen. 16966 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Roland Kohn Für gemeinwirtschaftliche Leistungen, solche also, bestehend aus 8,7 Milliarden DM Fortführung Schie- die sich betriebswirtschaftlich nicht rechnen, aber im nenpersonennahverkehr plus 6,3 Milliarden DM öffentlichen Interesse liegen, wird das Bestellerprin- Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, zur Verfü- zip eingeführt. Diejenige politische Instanz, die gung stellen. Bis zum Jahr 2000 soll dieser Be trag auf bestellt, muß auch bezahlen. 17,3 Milliarden DM ansteigen. Außerdem sind zusätz- lich Revionsklauseln vereinbart worden. Ein weiteres Kernstück unseres Konzepts ist die Regionalisierung. Das bedeutet, daß Entscheidungen Der Bund räumt den Ländern einen Anteil aus über den Nahverkehr in Zukunft vor Ort getroffen seinem Steueraufkommen zweckgebunden ein, um werden, in den Ländern, in den Regionen. Mit dieser damit den öffentlichen Personennahverkehr zu finan- Angebotskompetenz verbunden wird die Finanzver- zieren, und zwar über die Mineralölsteuer. Nüchtern antwortung. Der Bund stellt den Ländern die bisher betrachtet, ist der Bund damit den Ländern in einem dafür eingeplanten Mittel zur Verfügung — und noch Maße entgegengekommen, daß ich mich fragen muß, einiges mehr. So machen wir endlich Schluß mit der ob der Bundesfinanzminister eigentlich nachts noch bisher praktizierten kollektiven Verantwortungslo- gut schlafen kann. sigkeit, man könnte auch sagen: Heuchelei. Denn (Detlev von Larcher [SPD]: Das kann er schon bisher konnte man vor Ort leichten Herzens jede, aber auch jede Forderung zum Nahverkehr, ob sinnvoll lange nicht mehr, aber nicht deswegen! — Ernst Waltemathe [SPD]: Er ist gar nicht da! oder nicht sinnvoll, lautstark vorbringen; die finanzi-- Er schläft immer noch!) ellen Auswirkungen konnte man ja bei denen da oben, in Bonn oder in Frankfurt, abladen. Deswegen Angesichts dieser Sachlage möchte ich hier klar sagen wir: Es ist richtig, daß die Verantwortung jetzt feststellen: Die Bundesländer haben im Zusammen- bei den Ländern und bei den kommunalen Gebiets- hang mit der Bahnstrukturreform den Bund schamlos körperschaften liegt. ausgepreßt. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Was die bisherigen Beamten bei der Bahn angeht, CDU/CSU — Ministerpräsident Hans Eichel so werden sie — natürlich unter voller Wahrung ihrer [Hessen]: Unsinn!) Beamtenrechte — der DBAG als faktischem Arbeitge- Und wie bis in die letzten Tage hinein die Länder mit ber zugewiesen, soweit sie nicht freiwillig aus der DB dem Verfassungsorgan Deutscher Bundestag umge- ausscheiden oder sich beurlauben lassen wollen, um gangen sind, ist einfach unerträglich. mit der DBAG einen selbständigen Arbeitsvertrag abzuschließen. Ich glaube, hier haben es alle Fraktio- (Beifall bei der F.D.P und der CDU/CSU — nen gemeinsam — das betone ich an dieser Stelle Widerspruch bei der SPD — Zuruf von der ausdrücklich — geschafft, Lösungen zu finden, die für F.D.P.: Bis heute nacht!) die Mitarbeiter der Deutschen Bundesbahn und der Da haben die Ministerpräsidenten mit dem Bundes Deutschen Reichsbahn sozial verträglich sind. kanzler eine Vereinbarung ge troffen, um diese am Das also, meine Damen und Herren, sind die Ke rn nächsten Tag wieder in Frage zu stellen. Da haben die -punkte des Reformkonzepts: kaufmännische Führung Länderverkehrsminister im Auftrag ihrer Regierungs- der Unternehmen, Öffnung und Wettbewerb auf der chefs Positionen bezogen, denen die Länderfinanzmi- Schiene und Bestellerprinzip für gemeinwirtschaftli- nister widersprochen haben, ebenfalls im Auftrag che Leistungen. Um dies zu ermöglichen, müssen wir ihrer Regierungschefs. die Grundgesetzartikel 73, 74, 80 und 87 ändern sowie (Zuruf von der F.D.P.: Partikularismus in das Grundgesetz um die Art. 87 e — Eisenbahnver- sich!) kehrsverwaltung —, 106 a — Länderzuschuß —, und 143a — Übergangsrecht für die bisherigen Bundesei- Und manche wollten die Zustimmung zu dem Jahr- senbahnen — ergänzen. Ferner schaffen wir sechs hundertwerk Bahnreform tatsächlich von der Elektri- neue Gesetze und ändern 134 Gesetze und Verord- fizierung der Schienenstrecke zwischen Posemuckel nungen. Sie sehen, nichts gedeiht derzeit in Deutsch- und Kleinkleckersdorf abhängig machen. land so üppig wie der Paragraphendschungel. Monatelang haben sich die politisch Verantwortli- Wie wirkt sich dieses Reformkonzept finanziell aus? chen der Länder um die Bahnreform überhaupt nicht In den Jahren 1994 bis 2003 kommen auf den Bund gekümmert. Dann allerdings sind sie plötzlich aufge- insgesamt 245 Milliarden DM an Belastungen zu, wacht und waren sich sofort einig, als es darum ging, davon 70 Milliarden DM Entschuldung, 68 Milliarden sich als Bundesbeutelschneider gegenüber dem Bund DM Fahrwegfinanzierung, 81 Milliarden DM Altla- zu organisieren. sten Deutsche Reichsbahn und 26 Milliarden DM (Unruhe bei der SPD) überhöhte Versorgungslasten für DB-Mitarbeiter. Um diese Belastungen tragen zu können, müssen wir die Am allerliebsten hätten sie statt Bahnprivatisierung Mineralölsteuer zum 1. Januar 1994 erhöhen. eine „Bahn deutscher Länder" durchgesetzt, bei voller Finanzverantwortung des Bundes natürlich. Die positiven Effekte der Bahnumwandlung in eine Aktiengesellschaft verringern den Finanzbedarf im (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. — Zuruf genannten Zeitraum um rund 100 Milliarden DM und des Abg. Detlev von Larcher [SPD]) entlasten in dieser Höhe den Bundeshaushalt. Ich sage ganz ruhig: Wenn die Länder auch in Mit Beginn der Regionalisierung im Jahr 1996 wird Zukunft nur kurzfristige Eigeninteressen verfolgen der Bund den Ländern jährlich 15 Milliarden DM, und nicht bereit sind, ihrer gesamtstaatlichen Verant- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16967

Roland Kohn wortung gerecht zu werden, zerstören sie den Föde- Roland Kohn (F.D.P.): Gern. ralismus von innen heraus. (Zuruf von der F.D.P.: Sehr richtig!) Vizepräsident Hans Klein: Bitte sehr. Meine Damen und Herren, die Bahnreform, wie sie uns heute zur Entscheidung vorliegt, ist ein Jahrhun- Detlev von Larcher (SPD): Herr Kollege, ich höre mit dertwerk, ist eine Revolutionierung des Verkehrssek- Vergnügen, daß Sie sich für eine verkehrsmittelunab- tors und ein dringend notwendiger Impuls zur Stär- hängige Entfernungspauschale einsetzen. Ich frage kung unserer Volkswirtschaft. Sie: Warum haben Sie im Ausschuß dagegen gestimmt? Warum haben Ihre Kollegen im Finanzaus- Ich verhehle allerdings nicht, daß die Bahnreform schuß ebenfalls gegen unseren Antrag gestimmt? noch mutiger und konsequenter ausgefallen wäre, wenn es allein nach uns Liberalen gegangen wäre. Die grundgesetzliche Verankerung des Allgemein- Roland Kohn (F.D.P.): Erstens. Herr Kollege, ich wohls bei den Verkehrsbedürfnissen ist für unsere habe in meiner eigenen Partei im Bundeshauptaus- Begriffe extrem weitgehend. Daß der Automatismus schuß durchgesetzt, daß dieses Ziel, Umwandlung der bei der Auflösung der DB-Holding preisgegeben Kilometerpauschale in eine allgemeine verkehrsmit- werden mußte, schmerzt uns aus Gründen der Wett- telunabhängige Entfernungspauschale, zum Ziel der bewerbsgleichheit ganz außerordentlich. Schließlich F.D.P. erklärt worden ist. ist die Festschreibung des Mehrheitseigentums des Zweitens. Der Abgeordnete Roland Kohn hat nicht Bundes am Fahrweg eine schädliche Zementierung gegen diesen Vorschlag gestimmt, sondern, wenn Sie überkommener Strukturen. genau hingesehen hätten, hätten Sie gesehen, daß ich Dennoch werden wir Freien Demokraten der Bahn- mich an der Abstimmung aus gutem Grund nicht reform aus Überzeugung zustimmen, weil die Rich- beteiligt habe. tung stimmt. (Zuruf von der SPD: Das ist ja noch schlim (Detlev von Larcher [SPD]: Gramgebeugt!) mer!) Drittens. Ich sage: Ich werde dies bei nächster Nach Lage der Dinge war leider nicht mehr zu Gelegenheit, die sich bietet — ich hoffe, im nächsten erreichen. Ein Scheitern des Gesamtprojekts hätte auf Jahr werden Chancen bestehen, wiederum mit der viele Jahre hinaus einen neuen Reformanlauf unmög- CDU/CSU Koalitionsverhandlungen zu führen —, lich gemacht und die Bahn durch mangelnde Attrak- zum Gegenstand der Koalitionsverhandlungen ma- tivität endgültig ins Verkehrsabseits befördert. Bahn- chen. politik wäre dann zur Sinngebung des Sinnlosen verkommen. (Beifall bei der F.D.P. — Zurufe von der SPD: Das können Sie sich abschminken! — Dann Ich sage aber auch deutlich: Weitere Schritte müs- können Sie ja nächstes Jahr noch einmal sen erfolgen. Ich nenne vor allem die Durchforstung umfallen!) bürokratischer Regelwerke, wie der Eisenbahnbau- und -Betriebsordnung, um unnötigen Aufwand zu Meine sehr verehrten Damen und Herren, sicherlich reduzieren. Ich nenne die Umwandlung der Kilome-- wird mit dem Inkrafttreten der Bahnreform am 1. Ja- terpauschale in eine allgemeine verkehrsmittelunab- nuar 1994 nicht das goldene Bahnzeitalter ausbre- hängige Entfernungspauschale, um Wettbewerbsver- chen. Aber die Politik hat jetzt die Voraussetzungen zerrungen zu Lasten der Bahn abzubauen. dafür geschaffen, daß die Bahn als echter Dienstleister um Kunden werben, daß sie ihre Produkte marktge- (Zuruf von der SPD: Warum macht ihr das recht entwickeln kann. Und nicht zuletzt: Der Steuer- denn nicht?) zahler wird langfristig entlastet. Insbesondere jedoch muß die Zusammenarbeit der Es liegt mir daran, hier zum Abschluß in aller europäischen Eisenbahnen intensiviert werden, nach Öffentlichkeit vielen Freunden innerhalb und außer- dem Motto: Schienen verbinden Europas Demokra- halb der F.D.P. zu danken, die mich über Jahre tien. hinweg unterstützt und mir den Rücken gestärkt (Zuruf des Abg. Detlev von Larcher [SPD]) haben, vor allen anderen, den Mitgliedern des Bun- desfachausschusses meiner Partei und den Freunden Ich sage an dieser Stelle ausdrücklich an die in der Arbeitsgruppe Verkehr der F.D.P.-Bundestags- Adresse der Bundesregierung: Wir Freien Demokra- fraktion. Konzeptionelle Weitsicht und zähe Beharr- ten verlangen, daß jetzt endlich mit der Privatisierung lichkeit der Liberalen zahlen sich heute endlich doch der BahnbusGesellschaften ernst gemacht wird. aus. (Beifall bei der F.D.P.) Jetzt gilt: Die Bahn muß sich am Markt bewähren. Wir haben seit langem in der Koalition eine gemein- Es gibt keine Ausreden mehr. Management und alle same Position in dieser Frage bezogen, und wir Mitarbeiter sind gefordert, zu zeigen, was sie zu erwarten, daß jetzt tatkräftig gehandelt wird. leisten imstande sind. Ich weiß von vielen Eisenbah- Was bringt die Bahnreform dem Kunden, was der nern, die sagen: Wann geht es denn endlich los? Wir verladenden Wirtschaft? wollen zeigen, was in uns steckt. — Jetzt haben sie die Chance dazu. (Zurufe von der SPD) Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, sind Sie Ich setze auf diese Eisenbahner und auf die bereit, eine Zwischenfrage des Kollegen von Larcher Gewerkschaften, die konstruktiv am Reformprojekt zu beantworten? mitgewirkt haben. Wenn wir als Gesellschaft es mit 16968 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Roland Kohn der ökologischen Umsteuerung im Rahmen unserer Es ist vorhin darüber schon diskutiert worden. — marktwirtschaftlichen Ordnung ernst meinen, dann Soweit zu diesen Auszügen aus der ersten Debatte. müssen wir dem Verkehrsträger Schiene eine Chance Das klingt alles irgendwie schön. geben. Die Devise muß lauten: Freie Fahrt für freie Leider ist von den hehren Vorstellungen, Wünschen Bahnen. und Zielen nicht mehr viel übriggeblieben. Sicher, es (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ist zu begrüßen, daß der Bund Eigentümer der Fahr- ten der CDU/CSU) weg AG mit allen Rechten und vor allem mit der Pflicht der Verantwortung bleibt. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Kohn, ich Positiv ist zunächst auch, daß nach Art. 87 des habe Sie vorhin nicht unterbrochen. Aber ich würde Grundgesetzes der Bund das Wohl der Allgemeinheit Ihnen gerne den Rat geben, wenn in einem Verfas- gewährleistet. Mir ist allerdings schleierhaft, wie Sie sungsorgan über ein anderes Verfassungsorgan das mit 51 % der Anteile an einem rein privatwirt- gesprochen wird, sich möglichst nicht solcher Aus- schaftlich organisierten Unternehmen sichern wol- drücke wie „Bundesbeutelschneider" zu bedienen. len. (Beifall bei der SPD — Roland Kohn [F.D.P.]: (Ernst Waltemathe [SPD]: Das lernt man Der Ausdruck hat mir aber so gut gefallen! — manchmal, wenn man etwas vom Aktien Ernst Waltemathe [SPD]: Sie sind ja ein recht versteht!) richtiger Schlimmbeutel!) Was bleibt, ist purer Etikettenschwindel. Sie täu- Ich erteile das Wort der Kollegin Dr. Dagmar Enkel- mann. schen falsche Tatsachen, nämlich eine durchgrei- fende Reform der Bahn, vor und geben sich dann mit einer Veränderung der Organisationsstruktur zufrie- Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Herr den. Präsident! Meine Damen und Herren! In Vorbereitung Die Bundesregierung kann sich einen auf diese Debatte habe ich mir noch einmal die erhöhten erste Verkehrsanteil der Bahn wünschen, soviel sie will. Sie Lesung vorgenommen. Mit etwas Abstand und mit wird ihr Jahrhundertwerk — oder besser: ihre Jahr- weniger Emotionen, die allein schon dieser Plenarsaal hundertlüge — in den Sand setzen, wenn sie auf hervorruft, konnte ich eine Reihe von Passagen fin- entscheidende verkehrspolitische den, die ich voll unterstützen würde. Rahmenbedingun- gen verzichtet. — Kollege Klaus Daubertshäuser, die So hat u. a. der Verkehrsausschußvorsitzende in PDS/Linke Liste ist sehr wohl für eine Reform der Bahn der ersten Lesung gesagt: — das haben wir immer wieder betont und entspre- Die Bundesbahn erbringt heute nur mehr 22 % chende Anträge vorgelegt —, aber nicht für eine, die der Verkehrsleistungen im Güterverkehr und nur sich nur so nennt. — mehr 6 % der Verkehrsleistungen im Personen- (Ernst Waltemathe [SPD]: Aber für eine Ver verkehr. staatlichung!) Sie haben auch heute die Zahlen erneut genannt. - So tut die Bundesregierung nach wie vor weder etwas Dies sind für uns alarmierende Tatsachen, auch dafür, die bestehenden Wettbewerbsverzerrungen zu im Hinblick auf die Verkehrslawinen, die auf Lasten der Bahn zu beseitigen, noch sorgt sie für eine unseren Straßen heute schon vorhanden sind und Neuordnung der Wegekostenanlastung für alle Ver- weiter wachsen werden. Wir brauchen eine Bahn, kehrsträger, die auch die sozialen und ökologischen die sich behaupten kann, die im Wettbewerb Kosten berücksichtigt. Im Gegenteil: Allein die bestehen und die Verkehr an sich ziehen kann. geplante Absenkung der Lkw-Steuer ab Januar 1994 Herr Kollege Daubertshäuser, Sie haben gesagt: von 10 000 DM auf 2 800 DM für einen 40-Tonnen- Es gibt vorab keinen Blankoscheck für eine Lkw wird dazu beitragen, daß die Bahn weitere Grundgesetzänderung ... Nötig ... ist ... ein Anteile am Güterverkehr verliert. dauerhaft tragfähiges Sanierungskonzept, und (Elke Ferner [SPD]: Das ist der grandiose zwar muß dieses Bestandteil einer grundlegen- Erfolg von Wissmann!) den Neuorientierung der deutschen und auch der europäischen Verkehrspolitik sein. Im Rahmen — Sehen Sie, genau das meine ich auch. — Selbst eines integrierten Gesamtverkehrskonzeptes ist wenn wir die geplante Lkw-Vignette einrechnen, dabei insbesondere der Einstieg in Konzepte zur ergibt sich dennoch durch die Senkung der Lkw Verkehrsvermeidung und zu einer europaweit Steuer ein Kostenvorteil für die Straßenverkehrsspe- gerechteren Anlastung der Wegekosten ... erfor- ditionen. Weitere Wettbewerbsnachteile der Bahn derlich. liegen in der Mineralölsteuerbefreiung des Luftver- kehrs, in der Umsatzsteuerbefreiung des internationa- Um auch der F.D.P. gerecht zu werden: Herr Kollege len Luftverkehrs, in der steuerlichen Bevorzugung des Kohn, Sie haben in der ersten Debatte gesagt: Individualverkehrs über die Kilometerpauschale, die Eines aber muß klar sein: Die große Bahnstruk- jetzt erneut um 10 Pf/km erhöht werden soll, und turreform ... wird nur dann gelingen, wenn die natürlich in der staatlichen Infrastrukturpolitik, die Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten der Bahn den Straßenbau über Jahrzehnte forcierte, während schrittweise abgebaut werden. Ich denke dabei die Bahn bislang 30 % ihres Netzes verlor. 4 500 u. a. an die Ersetzung der Kilometerpauschale Bahnhöfe bzw. Haltepunkte und 4 000 Güterannah- durch eine allgemeine, verkehrsmittelunabhän- mepunkte verschwanden. Wie viele werden noch gige Entfernungspauschale .. . folgen? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16969

Dr. Dagmar Enkelmann Ein Wort zu den Altlasten der Deutschen Reichs- bleiben. Ausdünnungen und Stillegungen sind die bahn — da geht bei mir immer der Hut hoch —: Sie Folge. Das ist nun einmal das Gesetz der Marktwirt- wissen ganz genau, daß sich der Waigel den Immobi- schaft; das wird uns hier immer wieder gesagt. lienfonds der Deutschen Reichsbahn im Zusammen- Ein anderes Problem, das meines Erachtens drin- hang mit der Vereinigung sofort „ gekrallt" hat, so daß gender Erwähnung bedarf, ist der geplante der in diese Bahnreform überhaupt nicht mehr ein- Stellenab- Bei der Deutschen Reichsbahn fand und findet geht. Es hätte die Chance bestanden, über diesen bau. weiterhin ein personeller Kahlschlag statt. In den Immobilienfonds einen Großteil der Schulden der Jahren 1989 bis 1992 wurde rund ein Drittel der Bundesbahn — die Reichsbahn hatte nämlich keine Belegschaft abgewickelt. Von den jetzt noch 167 000 Schulden — abzubauen. Beschäftigten haben 23 000 ein vom Bahnvorstand im (Zuruf von der CDU/CSU: Wie kommen Sie August unterbreitetes Angebot zum sogenannten frei- denn darauf, Frau Kollegin?) willigen Ausscheiden angenommen. Nach den Sicher fällt es schwer, liebe Kolleginnen und Kolle- Berechnungen des Bundesrechnungshofes sollen zum gen der SPD, in die Rolle des Buhmanns gedrängt zu Schluß lediglich rund 70 000 Beschäftigte übrigblei- werden, der das Inkrafttreten der Bahnreform zum ben. Dabei spielt es beim jetzigen und geplanten 1. Januar 1994 verhindert — so ist Ihnen das ja Stellenabbau keine Rolle, in welchem Bereich die vorgeworfen worden —, zumal dann, wenn einem Beschäftigten tätig sind. Es gibt ja eben keine konkre- vorgehalten wird, durch seine Verweigerungshaltung ten Analysen, welche Leistung die Bahn mit welchem würde man an die 100 Milliarden DM Haushaltsgelder Bestand an Arbeitsplätzen für die Kunden erbringen mit vollen Händen aus dem Fenster werfen. kann und soll. Aber seien wir doch einmal ehrlich: Erstens sind, Dieser rigorose Stellenabbau findet statt, obwohl was den Spareffekt angeht, von den 100 Milliarden die Leistungsdefizite bei der Reichsbahn schon jetzt DM, die angeblich in einem Jahrzehnt gespart werden nicht mehr zu übersehen sind: Wegen fehlenden können, nach Prüfung des Bundesrechnungshofes Personals wurden bereits Fahrpläne ausgedünnt, „nur" 65 Milliarden DM übriggeblieben. Zugegeben, Fahrkartenschalter mußten ganz oder stundenweise auch das ist nicht wenig. Aber ich meine, falsche geschlossen werden, den Gepäckdienst gibt es vieler- Prioritäten, heute gesetzt, werden sich in deutlich orts schon nicht mehr, zahllose Überstunden müssen höheren Ausgaben später rächen. geleistet werden, und Urlaubssperren wurden ver- hängt. — So vergraulen Sie auch noch die letzten, die Zweitens kann ich es beim besten Willen nicht treu und brav zur Bahn gestanden haben. Und denen, verantwortungsvoll finden, hier eine Reform zu verab- die vielleicht vom Auto auf die Bahn umsteigen schieden, die an einem zentralen Punkt schlicht und wollen, werden Barrieren durch fehlendes Auskunfts- ergreifend übers Knie gebrochen werden sollte, näm- personal, durch die Suche nach einem funktionieren- lich bei der Regionalisierung des Schienennahver- den Fahrkartenschalter, durch fehlende Informatio- kehrs. Gerade hier aber werden die Weichen für die nen über Fahr- und Anschlußzeiten und Fahrgeld Zukunft der Bahn gestellt. Und bis heute kann nie- gebaut — und das alles zu Lasten der Kundinnen und mand sagen — denn bei der Bahn existiert keine Kunden. Trennungsrechnung —, wieviel der Nahverkehr nun tatsächlich kostet und welche Summen erforderlich Vor diesem Hintergrund klingt es fast schon wären, um eine attraktive Flächenbahn aufzubauen. zynisch, Herr Kollege Wissmann, wenn Sie mit stolz- Ob nun 7,7, 8,2 oder 9,0 Milliarden DM Tr ansferlei- geschwellter Brust in einem Inte rview verkünden, die stungen vom Bund an die Länder — es ist völlig klar, Vereinbarung zwischen Bund und Ländern habe für daß damit höchstens der Status quo aufrechterhalten über 400 000 Arbeitsplätze eine Perspektive eröffnet. werden kann. Die dringend erforderliche Attraktivi- Sie wissen genausogut wie ich, daß das nicht der Fall tätssteigerung hin zu einer systembeschleunigten Flä- ist. Bahnchef Dürr hat erst vor wenigen Tagen noch chenbahn mit einem dichten Schienennetz und einem einmal darauf hingewiesen, daß es dabei bleibt, daß modernen Fahrzeugpark, mit gutem Komfort und das Personal von Bundes- und Reichsbahn bis zum kundennahem Service, mit vertakteten und optimal Jahr 2000 von 360 000 auf maximal 250 000 vermin- verknüpften Nah-, Regional- und Fernverkehrsnet- dert werden soll. Für die verbleibenden Beschäftigten zen und einheitlichem Tarifsystem kann damit auf der Reichsbahn gibt es bis heute keinen Stufentarif- keinen Fall finanziert werden. vertrag. Der wird wohl auch bis zum 1. Januar nicht mehr kommen. Die Folge ist, daß es in einem Unter- Den endgültigen Umfang der neuen Bahn von nehmen Beschäftigte erster und zweiter Klasse gibt. marktwirtschaftlichen Prinzipien bestimmen zu las- Das heißt, das unterschiedliche Tarifniveau wird auf sen ist meines Erachtens verkehrspolitischer Unfug. unbestimmte Zeit festgeklopft, von der fehlenden Die gemeinwirtschaftlichen Aufgaben, die von Zig- gesetzlichen Regelung die Gesamtversorgung der tausenden Nahverkehrszügen und S-Bahnen tagtäg- Reichsbahn betreffend ganz zu schweigen. lich erfüllt werden, sind nun einmal nicht kostendek- kend zu haben. Der Nahverkehr ist kein an betriebs- Zum Schluß möchte ich einen Punkt ansprechen, wirtschaftlichen Kriterien orientiertes Unternehmen der bisher gänzlich unter den Tisch gefallen ist. Es und die Marktwirtschaft kein Allheilmittel, ein sozia- drängt sich nämlich die Frage auf, ob die angestrebten les und ökologisches schon allemal nicht. Eine private Kostenersparnisse durch marktwirtschaftliche Be- AG muß — das können wir hier relativ nüchtern triebsführung nicht auch zu abnehmenden Sicher- feststellen — auf Gedeih und Verderb gewinnorien- heitsstandards führen. Es ist z. B. auffällig, daß die tiert arbeiten. Der Profit ist das Maß aller Dinge. Da Zunahme schwerer Unfälle bei Gleisbauarbeiten zeit- muß das Gemeinwohl zwangsläufig auf der Strecke lich mit der Übernahme der Sicherung durch p rivat- 16970 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Dr. Dagmar Enkelmann rechtliche Bewachungsunternehmen zusammenfällt. wird nun doch nicht zwangsweise zum Totengräber Wo früher erfahrene Mitarbeiter der bahneigenen des öffentlichen Nahverkehrs werden oder zu um- Gleisbauhöfe eingesetzt wurden, fangreichen Streckenstillegungen führen. (Roland Kohn [F.D.P.]: Die sollen moderne Ich gebe zu, daß dies nur durch das Miteinander der Technologien einsetzen, nicht die des beiden größten Fraktionen dieses Hauses klappen 19. Jahrhunderts!) konnte, und ich bin nicht einmal sonderlich unzufrie- tun jetzt kurzfristig angelernte Arbeiter aus Privatfir- den darüber, wenn da nicht dieses unangenehme men Dienst. Gefühl der Funktionslosigkeit der kleinen Fraktionen bzw. Gruppen wäre. So habe ich Ihr Geschrei heute Meine Damen und Herren, für die Mehrheit in auch verstanden. diesem Hohen Hause ist die Privatisierung offenkun- dig ein Zauberschlüssel, mit dem m an spielend alle ( [F.D.P.]: Sie haben doch gar Türen öffnen kann. Ich meine, Sie verschließen sich nicht mitgewirkt! Das ist unverschämt!) damit einer wirklichen Lösung des Problems drohen- Eine große Koalition würde — das hat mir diese der Verkehrsinfarkt. Die kann nur in einer grundle- Elefantenhochzeit gezeigt — die demokratische Kul- genden Wende der Verkehrspolitik liegen. Mit dieser tur in unserem Land noch weiter an den Rand des Bahnreform aber machen Sie weiter wie bisher. Zumutbaren treiben. Ich möchte am Ende noch einen Hinweis in eigener (Ekkehard G ries [F.D.P.]: Da hätten Sie mit Sache geben. Ich habe nachher eine Diskussions- arbeiten müssen!) runde mit einer Schülergruppe aus Lauchhammer. Meine Damen und Herren, dessen ungeachtet soll also zunächst uneingeschränkt das Gute aus diesem Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, Ihre Rede- Reformprojekt hervorgehoben werden. Die Verant- zeit ist abgelaufen. wortung für das Schienennetz verbleibt beim Bund und ist in ausreichendem Maße verfassungsrechtlich abgesichert. Angesichts der großen ökologischen Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Nur ein Herausforderung für die Verkehrspolitik ist des unab- Wort noch. — Sie müssen also für den Rest der Debatte dingbar. Nur der Bund kann gewährleisten, daß eine leider auf mich verzichten. Schieneninfrastruktur erhalten und ausgebaut wird, (Zuruf von der CDU/CSU: Wir haben schon die für die Bewältigung der Zukunftsaufgaben erf or- bei den Beratungen auf Sie verzichtet!) derlich wird. Nur der Bund kann für eine schlechte Ich werde mir aber das Protokoll sehr gründlich Bahninfrastrukturpolitik letztlich auch in die politi- durchlesen. sche Verantwortung genommen werden. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Das vom Verkehrsausschuß in das Eisenbahnneu- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) ordnungsgesetz eingefügte Regionalisierungsgesetz regelt außerdem die Zuständigkeit und Finanzierung für den öffentlichen Personennahverkehr. Die Länder Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem sind nun gehalten, den öffentlichen Nahverkehr selbst - Kollegen Dr. Klaus-Dieter Feige. zu organisieren. Meine Damen und Herren, leider hat es der Ver- Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kehrsausschuß versäumt, den Ländern im Regionali- NEN): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen sierungsgesetz Mindeststandards für die ÖPNV- und Herren! Nach Jahren bahnpolitischen Tiefschlafs Bedienung vorzuschreiben. So wären der Vorrang der ist die Bundesregierung aufgewacht. Die finanziellen Schiene vor der Busbedienung und die Vermeidung Risiken der anhaltenden Misere eines der größten z. B. von Mobilitätsbehinderung einzelner Bevölke- Bundesunternehmen zwangen den Verkehrsminister, rungsgruppen — z. B. von Frauen, Kindern und alten endlich ein überaus dringendes Reformprojekt anzu- Menschen — zu gewährleisten gewesen. Und was gehen, für das die GRÜNEN ein Jahrzehnt vergeblich unsere angemahnte Mitarbeit angeht: Diese wesent- geworben haben. Und, Herr Kohn, die F.D.P. ist uns in lichen Punkte sind von der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE diesen zehn Jahren nicht wesentlich aufgefallen, von GRÜNEN bereits im Frühjahr durch einen Antrag für Ihrer Rede heute mal abgesehen. ein Bundes-ÖPNV-Gesetz vorgestellt und in den Bun- (Roland Kohn [F.D.P.]: Da müssen Sie aber destag eingebracht worden. blind sein!) Aber dennoch haben die Länder jetzt erstmalig eine Wo waren Sie denn eigentlich gestern im Verkehrs- ernstzunehmende Möglichkeit, moderne Bahnkon- zepte vor Ort zu realisieren. ausschuß, als gerade wieder eine Autobahn „festge- macht" wurde, mit Ihrem Bahnanspruch? (Lachen bei der SPD) Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Feige, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Walte- Den heute zu beratenden Beschlußempfehlungen mathe? des Rechts- und Verkehrsausschusses zur Grundge- setzänderung und zur Strukturreform der deutschen Eisenbahnen bescheinige ich die gute Absicht und Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Realisierbarkeit. Sie nehmen uns in einigen Positio- NEN): Sehr gern. nen die Befürchtung, die wir nach dem ersten Reform- ansatz aus der Koalition haben mußten. Die mit den Ernst Waltemathe (SPD): Herr Kollege Feige, ich heutigen Gesetzesvorlagen vorbereitete Bahnreform hatte bisher immer geglaubt, daß die GRÜNEN beson- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16971

Ernst Waltemathe ders basisdemokratisch sind. Wollen Sie wirklich richtige Richtung sein. Eine Renaissance der Bahnen sagen, daß der Bund jede Einzelheit den regionalen muß so lange eine Illusion bleiben, wie die allgemeine Gebietskörperschaften vorschreiben soll? Kann man Verkehrspolitik aus der Windschutzscheibenperspek- das nicht vor Ort entscheiden? tive gemacht wird. Selbst ein leistungsstarkes Bahnunternehmen hat im heutigen Wettbewerbsumfeld nur wenig Spiel- Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- raum, eigene Angebotsverbesserungen auch in deut- NEN): Herr Waltemathe, ich glaube, das kann m an vor liche Zugewinne beim Marktanteil umzusetzen. Der Ort sehr gut mit beeinflussen. Aber ich denke, daß der Benzinpreis ist nach wie vor — bei Berücksichtigung Bund hier eine Rahmenkompetenz besitzt, die er auch der Inflation — niedriger als in den 50er Jahren. Auch wahrnehmen muß. Es hat nichts mit dem Verlust an die Erhöhung der Dieselsteuer um 7 Pfennig und die Basisdemokratie zu tun, wenn ich ökologische Einführung der Lkw-Vignette ändern an der Chan- gesamtstaatliche Zielstellungen formuliere und diese cenungleichheit der Bahn nichts, da beide Maßnah- vorgebe; denn sonst würden wir hier nicht sitzen men deutlich von der Kfz-Steuer-Senkung überkom- müssen, sondern könnten alles dezentral organisie- pensiert werden. Im Endeffekt rollt der Güterverkehr ren. Da gerade auch Bahnverbindungen über Regio- auf den Straßen immer noch billiger als auf der nalgrenzen hinweggehen und auch der öffentliche Schiene. Personennahverkehr zwischen Regionen möglich Selbst die vorgeschlagene Bahnreform wird so die sein wird, denke ich, daß die Bürger in Ost und West Verdoppelung des Straßengüterverkehrs nicht ver- und auch z. B. die in Schleswig-Holstein und Bayern hindern. Wie das Jahrhundertreformwerk, wie Sie es einen Anspruch darauf haben, daß für alle die glei- nennen, bei dieser Konstellation wirtschaftlich und chen Voraussetzungen geschaffen werden. finanzpolitisch ein Erfolg werden soll, ist für mich ein Selbst die Einbettung des Gemeindeverkehrsfinan- Rätsel, wenngleich ich wie der Abgeordnete Jobst zierungsgesetzes seitens des Bundes in die Finanzver- versuche, in diesem Sinne kritisch-optimistisch zu handlungen zwischen Bund und Ländern ist sinnvoll, bleiben. da dadurch Länder und Gemeinden zeigen müssen, Die Finanzierungsfrage ist und bleibt trotz der ob sie willens sind, für den Schienennahverkehr zu gestrigen Einigung zwischen Bund und den Ländern Lasten der Straße mehr zu investieren. das Kernproblem des Gesamtprojekts. Die finanziel- Die Bahnreform schafft die Voraussetzung, daß die len Risiken sind erheblich und noch nicht voll über- Bahnen aus sich selbst heraus Verbesserungen des schaubar. Leistungsangebotes erarbeiten können. Schließlich Die Übernahme der Altschulden in Höhe von über ist der Niedergang der Bahnbetriebe nicht allein der 13 Milliarden DM pro Jahr, die langfristige Absiche- straßenorientierten Verkehrspolitik der Bundesregie- rung der Besitzstände des verbeamteten Personals rung zuzuschreiben. Die bürokratischen Verwal- und die zusätzlich notwendigen finanziellen Unter- tungsstrukturen der Behörde Bahn haben ihren Teil stützungen des ÖPNV addieren sich zu einer Größen- dazu beigetragen. Die Reformbahn ist ab 1994 im ordnung von 25 bis 35 Milliarden DM pro Jahr. Prinzip endlich frei von den Verkrustungen der Behör- Ausbau und Modernisierung von Bahn und ÖPNV denstruktur. Meine Damen und Herren, so weit, so sind dabei nicht adäquat berücksichtigt. Ob die vom gut! Bund zugesicherte Finanzierung für die Sicherung des Aber alle Anzeichen deuten darauf hin, daß die Ist-Zustandes des Schienennahverkehrs ausreichen unternehmensbezogene Strukturreform dennoch Ge- wird, müssen erst die Erfahrungen der nächsten Jahre fahr läuft, an den Kundenbedürfnissen vorbeizuge- zeigen. hen. So droht die Fixierung auf den lukrativen Hoch- Meine Damen und Herren, auf Grund dieser offe- geschwindigkeitsverkehr die Verbesserung des nen Finanzierungsfragen wird in der Bundesrepublik Schienennahverkehrs, der heute rund 80 % der Bahn- die Verkehrspolitik der Regierung immer noch weit passagiere trägt, zu unterlaufen. mehr ampelgeregelt, als daß Weichen oder Signale An dieser Stelle wird das verbleibende große gestellt werden, wie sie es sehr euphorisch gesagt Manko der Bahnreform deutlich; denn was fehlt, ist haben. ein eindeutiger ökologischer Leistungsauftrag für die Die gestrige Diskussion zum Bau der Bundesauto- reformierte Bahn. Dieser müßte im Sinne der ökologi- bahn A 20 im Verkehrsausschuß hat es erneut gezeigt: schen Daseinsvorsorge den Bahnen klare Vorgaben Statt den Straßenbauetat zusammenzustreichen, will definieren, mit denen diese z. B. auch zur angestreb- die Bundesregierung in den nächsten 20 Jahren ten CO2-Minimierung um 25 bis 30 % im Verkehrs- 11 600 km neue Fernstraßen bauen lassen. Das pro- sektor beitragen können. Das ist eine gesamtstaatli- gnostizierte rasante Wachstum des Straßenverkehrs che Aufgabe. erhält dadurch zusätzlichen Raum. Die Bahnreform ist primär eine Kosten- und Struk- Offenkundig wäre auch eine reformierte Bahn von turreform geblieben. Eine Vision für ein neues Bahn- dieser Entwicklung völlig überfordert. Ihre Anteile am zeitalter ist nicht inbegriffen und ist nicht erkennbar. Verkehrsaufkommen werden deshalb ohne Gegen- Wie Bahn und öffentlicher Nahverkehr in Zukunft ihre steuerung weiter sinken. Wie schlecht die Position der Schlüsselrolle bei der Bewältigung der ökologischen Schiene unter den gegenwärtigen Rahmenbedingun- Krise erfüllen sollen, bleibt in diesem Zusammenhang gen ist, zeigt in drastischer Weise eine Analyse des völlig offen. Ifo-Instituts. Das Güterverkehrsaufkommen der Ei- Meine Damen und Herren, die Bahnreform kann senbahn ist danach auf das niedrigste Niveau seit 1953 daher nur ein erster, kleiner Schritt in eine neue, aber zurückgefallen. 16972 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Dr. Maus-Dieter Feige Ein neues Bahnzeitalter wird erst dann eingeleitet, 1. Januar 1994 das Privatunternehmen Bahn seine wenn die Verkehrspolitik nicht nur in dem Bereich, Arbeit aufnimmt, beginnt für alle Beteiligten, viele über den wir heute diskutieren, sondern auf allen tüchtige und leistungsbereite Mitarbeiter der Bahn, staatlichen Ebenen die ökologischen Herausforde- aber auch für die Führung eine Revolution, ein Umset- rungen annimmt und innovativ löst. Die Reduktion zungsprozeß, ein Umdenken, das über Jahre hinweg der Ozon-Vorläuferstoffe Stickoxyd und Kohlenwas- dauern wird und das die Bereitschaft aller zur Mitar- serstoffe aus dem Straßenverkehr um 70 % bis 80 % beit verlangt. sowie die Verminderung der CO2-Emissionen um 30 % bis zum Jahre 2005, längerfristig um 80 %, bilden Ich muß sagen: Ich bin durch die Unterstützung aus dabei den Zielrahmen. Angesichts dieser Größenord- den Reihen der Mitarbeiter der Bahn, der Gewerk- nung wird sehr deutlich, wie wei treichend die ökolo- schaften und der Führung der Bahn — Heinz Dürr ist gischen Zukunftsaufgaben der Bahn sind und auch heute hier in diesem Hause — ermutigt. Ich glaube, mit der Bahnreform bleiben. daß mit diesem Gemeinschaftsgeist, der bei der Unter- stützung des Konzepts der Bahnreform sichtbar Meine Damen und Herren, die Bundesbahn — ab wurde, der Wandlungsprozeß vollzogen werden 1996 vielleicht besser: die Länderbahn — wird für eine kann, aus der Staatsbehörde Bahn zu einem moder- ökologische Umwelt zweifellos erhebliche Anteile nen Dienstleistungsunternehmen zu werden. Genau vom Straßenverkehr übernehmen müssen. Die erfor- das ist unser gemeinsames Ziel im Interesse des derliche Dimension dieses Anteils verdeutlicht viel- Verbrauchers, des Steuerzahlers und des Bürgers. leicht folgende Hochrechnung: Für die Vervierfa- chung der Verkehrsleistung der Bahnen muß das (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Schienennetz zu einer Flächenbahn mit 6 000 Kilome- sowie des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]) tern Neu- und 14 000 Kilometern Ausbaustrecken verdichtet werden. Das kann nur durch ein rigoroses Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Tomasi di Streichen der Straßenbaupläne umgesetzt werden. Lampedusas berühmtem Roman „Der Leopard" heißt Sonst werden die Ziele selbst der bestgemeinten es an einer entscheidenden Stelle: Reformansätze niemals erreicht. Nur wer vieles verändert, wird das Wesentliche Einen fairen Wettbewerb aller Verkehrsträger erhalten. garantieren wir nur dann, wenn auch der Straßen- und Flugverkehr Schritt für Schritt für die durch sie selbst Ich meine, daß das gute Zeichen an diesem Tag darin verursachten ökologischen Folgen aufkommen müs- besteht, daß wir ein seit Jahrzehnten diskutiertes sen. Konzept ohne wesentliche Veränderungen in den Grundzügen politisch durchsetzen und daß sich damit (Beifall des Abg. Detlev von Larcher [SPD]) die deutsche Politik, und zwar über Parteigrenzen Wenn die Autofahrer nun in alter Gewohnheit wieder hinweg, handlungsfähig zeigt, Reformaufgaben nicht als Melkkühe der Na tion hingestellt werden, sollte verschiebt, man bedenken, daß der Straßenverkehr der am höch- sten subventionierte Verkehrsbereich ist, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall der Abg. Dr. Cornelie Sonntag-Wol-- sondern sie gemeinsam durchsetzt. Ich meine, daß es gast [SPD]) in einer Zeit allgemeiner Verdrossenheit vielleicht das und das sogar ohne Anrechnung der ökologischen Wichtigste ist, was wir gemeinsam leisten können: und sozialen Folgen. Handeln statt Reden, Als letzten Satz: Alles in allem bleibt nach der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Verabschiedung dieses Gesetzesvorhabens der größte Teil des Weges zu einer ökologischen Ver- Verändern statt Verschieben, Durchsetzen statt nur kehrspolitik noch vor uns. BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Diskutieren. NEN werden sich ehrlich gemeinten Verbesserungs- (Zuruf von der CDU/CSU: Das sind Mini bemühungen nicht entgegenstellen. ster!)

Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, Sie sind Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle wissen, jetzt ein gutes Stück über die Redezeit. daß wir im Interesse des Bürgers einer besseren Verkehrspolitik die Bahn bereiten müssen, daß wir mehr Verkehr auf die Schiene bringen müssen, daß Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- auch der Autofahrer ein Interesse daran haben muß, NEN): Wir hätten dieser Bahnreform, wenn sie in eine daß er nicht in einigen Jahren bei dramatischen ökologische Gesamtverkehrspolitik eingebettet wor- Verkehrszuwächsen auf den Autobahnen irgend den wäre, jedoch viel leichter zustimmen können. warnn nur noch „durchparken" kann, weil der Ver- Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. kehrszuwachs alles erstickt, daß also eine Verlage- (Beifall des Abg. Dr. Ulrich Briefs [fraktions- rung auf die Schiene im Nahverkehr, im Güterverkehr los]) und im Personenfernverkehr dringend geboten ist. Dies geht zum einen durch größere Investitionen in Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Bundes- die Schiene. Im Bundesverkehrswegeplan haben wir minister für Verkehr, Matthias Wissmann, das Wort. erstmals mehr Investitionen in die Schiene vorgese- hen als in jeden anderen Verkehrsweg; bis zum Jahre Matthias Wissmann, Bundesminister für Verkehr: 2012 sind Schieneninvestitionen für rund 6 000 Kilo- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn am meter geplant. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16973

Bundesminister Matthias Wissmann Zum anderen geht dies aber auch, wenn wir Struk- auf das technische Niveau der Bundesbahn in den turen verändern. Aus einer vom Dienstrecht gefessel- alten Bundesländern zu bringen. ten Bahn muß eine unternehmerisch agierende Bahn werden, Wir haben in einem entscheidenden Punkt des Bahngründungsgesetzes, und zwar ohne Haushalts- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) vorbehalt, gesagt, daß wir in den nächsten neun eine Bahn, die um Verkehrsmarktanteile kämpft, eine Jahren bis zu 33 Milliarden DM in die Erneuerung der Bahn, die ihren Dienst am Kunden in den Vorder- Schienenstrecken in den neuen Bundesländern grund stellt, und eine Bahn, die leistungsbereite geben wollen. Wir brauchen diese Aufholjagd auch, Mitarbeiter nicht demotiviert, sondern ermutigt; denn damit die Tendenz der letzten Jahre, daß auch do rt nur durch eine Veränderung im Denken und Handeln immer weniger Verkehr auf die Schiene geht, vieler bei der Bahn wird die große Operation gelin- gestoppt wird und wir wieder eine bessere Einstellung gen. zu den Bahnen und eine Stärkung des Schienenver- Nur dann, wenn Kreativität und Leistung belohnt kehrs auch in den neuen Bundesländern bekom- werden, wenn — wie in jedem Wirtschaftsunterneh- men. men — Anreize für die Arbeit vorhanden sind und Hemmnisse einer Behörde entfallen, kann sich bei (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. den Mitarbeitern der Bahn immer mehr ein Denken sowie bei Abgeordneten der SPD) und Handeln entwickeln — dazu sind die Mitarbeiter Meine Damen und Herren, wie wichtig die Verän- ja bereit —, das das Dienstleistungsunternehmen und nicht Behördenstrukturen im Mittelpunkt sieht. derung ist, zeigt die Tatsache, daß die Bahnen allein für 1993 ein Jahresergebnis mit einem Defizit von Wir haben in den letzten Jahrzehnten bei den rund 14 Milliarden DM erwarten und daß am Ende Bahnen einen ständigen Rückgang der Verkehrs- dieses Jahres rund 70 Milliarden DM Schulden bei marktanteile erlebt. In den letzten 30 Jahren sind die Bundesbahn und Reichsbahn blieben. Hätten wir Verkehrszuwächse, die wir überall hatten, fast aus- nicht gehandelt, schließlich in den Straßen- und in den Luftverkehr gegangen. Die Bahnen sind im wahrsten Sinne des (Ernst Waltemathe [SPD]: Das können wir Wortes stehengeblieben. Schon seit zwei Jahrzehnten verrechnen mit den 70 Milliarden Schulden wird diskutiert, wie wir der ständigen Tendenz zum im Bundeshaushalt!) Rückgang der Verkehrsmarktanteile der Bahnen ent- rinnen können. so würden wir die Bahnen in eine Schuldenlawine Wir wissen doch alle, daß nur dort, wo eine klare ohne Ende fahren lassen und wären zu einem Stille- Kostenzuordnung und Gewinnorientierung gegeben gungsprozeß gezwungen, den keiner von uns verant- ist, wo auch wirklich Kostendruck entsteht, Rationali- worten kann. sierungspotentiale ausgeschöpft werden. Wir wissen Ich glaube deswegen, daß wir jetzt allerdings bei schon lange, und zwar heute Gott sei Dank über den Bahnen — das ist nicht zuletzt eine Verantwor- Parteigrenzen hinweg, daß Behörden dort, wo es um tung der Führung der Bahn, aber ich bin überzeugt staatliche Hoheitsaufgaben geht, Sinn machen, daß davon, daß sie sich dieser Verantwortung stellt — den aber wirtschaftliche Tätigkeit, die Tätigkeit eines inneren Umsetzungsprozeß beginnen müssen, daß Dienstleistungsunternehmens besser von p rivaten wir die eingeleiteten Reformschritte verstärkt fortset- Unternehmen ausgeführt wird. Meine lieben Kolle- zen müssen, daß wir diejenigen, die bei der Bahn ginnen und Kollegen, ich bin deswegen froh, daß wir heute schon unternehmerisch gedacht und agiert darüber, jedenfalls über weite Strecken, nicht mehr haben, ermutigen und stärken müssen. die alten ideologischen Diskussionen haben. Allein die Sprengung der Fesseln des öffentlichen Ich nenne ein Beispiel, das manche von Ihnen Dienstrechts bei der Bahn bringt dem Unternehmen kennen, das zeigt, daß heute schon Kreativität da ist, eine Kostenentlastung von fast 60 Milliarden DM in die aber mehr belohnt und gestärkt werden muß. zehn Jahren. Daß wir natürlich nicht nur die Struktur- Wenn jetzt durch eine gute Aktion der Bahnen in veränderung benötigen — AG, Öffnung des Schie- Norddeutschland der ökologische und ökonomische nennetzes für Dritte —, sondern auch die Entschul- Unsinn beendet wird, daß eine große deutsche Kaffee- dung durchsetzen müssen, hat uns die Bahnkommis- firma, die mit Schiffen ihre Kaffeebohnen aus der Welt sion unter Leitung des sehr verdienstvollen Herrn bekommt, jeden Tag mit 30 Lkws von Bremen nach Saßmannshausen als Konzept mit auf den Weg gege- Berlin fährt und zurück, ben. Der AG am 1. Januar 1994 die Schulden der alten (Zurufe von der SPD: Ja!) Staatseisenbahnen zu belassen hätte bedeutet, ihr wenn jetzt die Bahn es geschafft hat, daß diese den Konkursantrag bereits mit auf den Weg zu geben. ökologisch und ökonomisch unsinnigen Verkehrslei- Deshalb übergeben wir dem neuen Unternehmen stungen beendet werden, weil die Bahn ein attraktives eine schuldenfreie Bilanz, ja wir übernehmen sogar Angebot gemacht hat und dies jetzt im Güterschie- die extrem hohen Belastungen der AG durch das nenverkehr stattfindet, dann sollte das ein Beispiel für Personal und das Material der Reichsbahn. Hunderte in der Zukunft werden. Unser gemeinsames Ziel ist — wir bringen es heute in einem Entschließungsvertrag der Fraktionen zum (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Ausdruck —, die Bahn in den neuen Bundesländern F.D.P.) 16974 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Bundesminister Matthias Wissmann Ich glaube, wir brauchen das, wenn wir ökonomisch an die Stelle der bisher drohenden massenhaften erfolgreich werden wollen und ökologisch verant- Streckenstillegungen. Damit sichert die Bahnreform wortlich handeln wollen. den Nahverkehr und ein großes Stück Lebensqualität (Ernst Waltemathe [SPD]: Die Bremer sind für unsere Bevölkerung, insbesondere in den ländli- vorbildlich!) chen Gebieten. — Herr Waltemathe, Sie sagen es: Die Bremer sind Natürlich — das ist heute erwähnt worden — gab es hier vorbildlich. Spätestens seit Ihrer letzten Haus- ein Ringen um die Frage, wie wir den Nahverkehr haltsrede weiß ich, wie sehr Sie sich um diese partei- organisieren werden. Wir haben in Deutschland ja übergreifende vorbildliche Funktion bemühen. inzwischen die Angewohnheit, ein drei Viertel volles Glas immer als ein Viertel leer zu be trachten. Wir Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, der sollten über der Notwendigkeit eines solchen Ringens Kollege Dr. Seifert würde gern eine Zwischenfrage — wir haben nun sechs Monate hart verhandelt, und stellen. ich bin allen dankbar, die sich daran mit Engagement beteiligt haben — nicht vergessen, daß es uns damit gelingt, ein verkehrspolitisches Jahrhundertwerk Matthias Wissmann, Bundesminister für Verkehr: Bitte schön. endlich durchzusetzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Herr Minister, da sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie gerade eindrucksvoll aufzählen, daß die Bahnen Ich glaube, daß sollten wir in dieser Stunde besonders auch Gewinn einfahren können, wenn sie einmal betonen. privat sein werden, frage ich Sie: Wäre es nicht für den Bund, z. B. für Ihren Kollegen, den Finanzminister, (Ernst Hinsken (CDU/CSU): Sehr wahr!) auch sehr schön, wenn eine wirtschaftlich arbeitende Ich sagte es schon: Wir öffnen dem Wettbewerb eine Bahn Gewinn einfahren würde und das z. B. für Gasse. Es werden dann auch andere auf das Schie- soziale Zwecke eingesetzt werden könnte im Sinne nennetz kommen können als nur die Bahn AG. des Bundeshaushaltes? Wettbewerb ist immer Salz in der Suppe einer funk- (Roland Kohn [F.D.P.]: Beides zusammen tionierenden Wirtschaftsordnung. geht nicht!) Mit der Regionalisierung machen wir das, wovon häufig nur geredet wird: Verlagerung der Verantwor- Bundesminister für Verkehr: Matthias Wissmann, tung von oben nach unten. Jeder von uns weiß doch Herr Kollege Seifert, wir werden sicher in der Lage aus seiner Gemeinde oder Stadt, daß ein regionaler sein — Herr Dürr sagt: bald —, zumindest in Teilbe- Verkehrsverbund die Vernetzung von Busverkehr, reichen der Bahn eine schwarze Nu ll zu fahren, also Individualverkehr und Schienenverkehr im Zweifel aus den roten Zahlen herauszukommen. Aber ob wir besser organisieren kann als jeder noch so tüchtige insgesamt bei den Bahnen in einer absehbaren Zeit Mitarbeiter bei der Bahn in Frankfurt oder im Bundes- die Erträge erwirtschaften, die wir uns gemeinsam verkehrsministerium in Bonn. erhoffen, das bleibt abzuwarten. Ich will allerdings eines ausdrücklich unterstützen: (Beifall bei der CDU/CSU) Wir dürfen in einer Zeit, in der wir das Umdenken in Das bedeutet Subsidiarität, Verlagerung von oben Richtung des Bahnverkehrs fördern wollen, keine nach unten. Dies sinnvoll zu finanzieren, war das psychologisch verhängnisvollen Fehler machen. Des- Ergebnis der Diskussionen mit den Ministerpräsiden- halb bin ich froh, daß es gelungen ist — dies war ten. angesichts der Sparanstrengungen schwierig —, für die kinderreichen Familien dem Wuermeling-Paß zu Meine Damen und Herren, wenn m an das Ergebnis retten, nun wertet, sagt der eine, das sei viel zuwenig, und der andere, das sei viel zuviel. In Wahrheit kann man die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Summen, die wir ausgeben — ab 1. Januar 1996 für die daß es gelungen ist, das Interrailticket, das junge Regionalisierung des Schienenpersonennahverkehrs Leute in Deutschland und in ganz Europa auf die Bahn 8,7 Milliarden DM —, die später ansteigen, aber im ziehen soll, nicht nur zu erhalten — es war ja gefähr- Zusammenhang mit den ohnehin vorgesehenen Mit- det —, sondern es auf weitere Zonen in Europa zu teln für das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz erstrecken. hat einmal gesagt: Die gesehen werden müssen, nur als eine sinnvolle Mitte Hälfte der Wirtschaftspolitik ist Psychologie. — Ich bin zwischen übersteigerten Erwartungen und der not- davon überzeugt, auch die Hälfte des Erfolgs der Bahn wendigen finanzpolitischen Zurückhaltung, die in hat mit Psychologie und mit Umdenken zu tun. Ich einer schwierigen finanzwirtschaftlichen Lage natür- meine, daran sollten wir denken, wenn wir über lich geboten ist, bezeichnen. Ich bin froh, daß am Ende Verkehrspolitik reden. die Klugheit aller Beteiligten den Weg für diese Mitte Gewinner der Bahnreform, liebe Kolleginnen und eröffnet hat. Kollegen, wird in jedem Fall der Kunde sein, um den Es ist heute oft gedankt worden. Ich danke allen sich die Bahn AG dann wirklich bemühen muß, Beteiligten. Ich danke dem Bundeskanzler für sein sowohl was den Komfort, was die Pünktlichkeit und persönliches Engagement. Häufigkeit der Zugverbindungen als auch was den Preis angeht. Gewinner wird aber auch der Bürger (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. sein, weil eine alte Befürchtung in der Diskussion um Ekkehard G ries [F.D.P.] und des Abg. Klaus die Bahn ihre Gültigkeit verliert: Der Wettbewerb tritt Daubertshäuser [SPD]) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16975

Bundesminister Matthias Wissmann Ich danke dem Bundesfinanzminister, für den das ein tik, wo der Vorrang der p rivaten Organisation und schwieriges Werk in einer finanzwirtschaftlich kriti- nicht der Staatsorganisation gilt, in eine Wirtschafts-, schen Zeit ist. Verkehrs- und Ordnungspolitik, wo der Vorrang nicht der zentralen Organisation gilt, irgendwo fernab vom (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Bürger, sondern wo man so viel Verantwortung wie sowie des Abg. Klaus Daubertshäuser möglich auf die unteren Ebenen verlagert. Unser [SPD)) Beispiel: Die Regionalisierung des Schienenperso- Ich stehe auch nicht an, dem Vorsitzenden der Mini- nennahverkehrs. sterpräsidentenkonferenz, Herrn Scharping, für sei- Und die Bahnreform paßt in eine Verkehrs-, Wi rt nen persönlichen Beitrag zu dem Ergebnis zu danken, -schafts- und Ordnungspolitik, wo man auf die Lei- ebenso wie allen Ministerpräsidenten. Ich finde, es hat stungsbereitschaft des einzelnen Mitarbeiters ver- keinen Wert, jetzt die Ärgernisse der letzten Monate traut, wo man seine Motivation stärkt, wo m an Struk- noch einmal aufzubereiten, Herr Kollege Eichel. Ich turen beseitigt, die motivationshemmend sind. bin überzeugt, wir wollen gemeinsam in die Zukunft einer vernünftigen Bahn gehen. Ich füge hinzu, daß Ich muß sagen: Ich war erfreut darüber, daß es in ich den Kolleginnen und Kollegen im Parlament den letzten Monaten gelungen ist, dieses ganze besonders danke, den Berichterstattern, Dionys Jobst, Thema Bahnreform aus den sonst in Bonn häufig Horst Gibtner, nicht zuletzt Klaus Daubertshäuser, der üblichen Bereichen ideologischer Verklemmung her- sich ungewöhnlich engagiert hat, und zwar in einem auszuhalten. Es ist bemerkenswert, wenn die Verant- parteiübergreifenden Sinne. wortlichen der Gewerkschaften im Kern die Bahnre- form genauso wollen wie die Führung der Bahn unter (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Heinz Dürr. SPD) Ich bin überzeugt davon, meine Damen und Herren, Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht in Deutsch- Kollegen, „Bürgernähe statt Zentralismus" steht im land in vielen Bereichen so: Wir werden alle in der Mittelpunkt der Idee einer Neuorganisation des Nah- Politik nicht an Ansehen gewinnen, wenn wir jedes verkehrs. Die Bahn AG hat sich im Nahverkehr Thema ideologisch überhöhen und damit lösungsun- ehrgeizige Ziele gesetzt: eine Steigerung der Perso- fähig werden, sondern Ansehen werden wir gewin- nenkilometer im Nahbereich um rund 50 % bis zum nen, wenn wir in entscheidenden Punkten handlungs- Jahr 2000. Wir wissen, wie schwer dieses Ziel zu fähig sind erreichen ist. Aber wir stellen Nahverkehrsinvestitio- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. nen in einer Größenordnung zur Verfügung wie nie sowie bei Abgeordneten der SPD) zuvor in der Nachkriegsgeschichte. und Probleme lösen, statt sie nur zu beschreiben. Gleichzeitig fördern wir den Güterverkehr. Im Güterverkehr liegt eine Überlebensfrage der neuen Ich meine ohnehin, daß wir in unserem Land noch Bahn. Denn hier haben Bundesbahn und Reichsbahn allzu häufig die Tendenz haben, glänzende Seminar- bisher drastisch Marktanteile verloren. Innerhalb von diskussionen zu veranstalten, in denen sich jeder 30 Jahren sank der Anteil der Bundesbahn am Güter- eindrucksvoll profiliert und aufzählt, was alles nicht verkehr von 37 % auf nur noch 18 %. geht. Glaubwürdigkeit zurückgewinnen werden die Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Gewerk- Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und schaften aber nicht, wenn sie beschreiben, was alles Kollegen, ein Land, in dem man die Schieneninfra- nicht geht, sondern wenn sie zeigen, und zwar durch struktur noch viel mehr vernachlässigt hat als in Handeln, wie man Dinge verändern kann. Deutschland, sind die Vereinigten Staaten. In den Vereinigten Staaten hat man Anfang der 80er Jahre (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. eine große Güterverkehrsgesellschaft, Conrail, neu sowie bei Abgeordneten der SPD) organisiert und privatrechtlich strukturiert. Vor dieser Die Veränderungsfähigkeit unserer Gesellschaft ist Neuorganisation machte Conrail pro Tag eine Million die Voraussetzung dafür, daß auch der Standort Dollar Verlust, heute, zwölf Jahre danach, pro Tag Deutschland wieder an Attraktivität gewinnt. Deswe- eine Million Dollar Gewinn. Was aber noch viel gen bin ich froh, daß wir an einem großen, seit wichtiger ist als Gewinn und Verlust: Eine unterneh- Jahrzehnten diskutierten Reformwerk der Bahnre- merisch agierende Bahn konnte dort auf den entschei- form die Veränderungsfähigkeit unserer Gesellschaft denden Strecken wieder Verkehrsmarktanteile zu- beweisen. rückgewinnen. Und das ist doch genau das, was wir Daß das parteiübergreifend geschieht, ist kein verkehrspolitisch und ökologisch gemeinsam brau- Nachteil. Ich finde, es ist ein Vorteil. Es gibt der Bahn chen. und es gibt unserem Land eine gute Zukunfts- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. chance. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Wir sollten von den guten Beispielen in anderen sowie bei Abgeordneten der SPD) Ländern lernen und daraus für die innere Organisa- tion der deutschen Bahnen Konsequenzen ziehen. Meine Damen und Herren, die Bahnreform paßt in Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Minister- ein größeres Gesamtkonzept. Sie paßt in eine Vorstel- präsidenten des Landes Hessen, Hans Eichel, das lung von Verkehrs-, Wirtschafts- und Ordnungspoli- Wort . 16976 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Ministerpräsident Hans Eichel (Hessen): Herr Präsi- gemacht. Er hat nicht schlecht verhandelt. Es ist ein dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich faires Ergebnis gewesen. Perspektive der Länder einige möchte nun aus der (Roland Kohn [F.D.P.]: Zu Lasten der Länder kurze Bemerkungen zu dem Gesetzeswerk, das heute Ost!) hier im Bundestag und dann am 17. Dezember im Bundesrat verabschiedet werden soll, machen. Ich — Ich schicke Ihnen alle Zahlen zu. Die Legende, die muß nicht alles wiederholen, was hier — und ich finde: in Bonn immer verbreitet wird, der Bundesfinanzmi- zu Recht — von allen Seiten des Hauses über die nister sei dabei über den Tisch gezogen worden, muß Bedeutung der Bahn in der Zukunft und ihre Vernach- ich in seinem Interesse zurückweisen. Das ist nicht lässigung in der Vergangenheit gesagt worden ist. wahr. Wäre das allen ein bißchen früher eingefallen, hätten Wahr ist aber, daß er immer unterschlagen hat, wir es jetzt alle ein bißchen leichter. welche Entlastungen er zum 1. Januar 1995 tatsäch- Anläßlich der ersten Beratungsrunde im Bundestag lich hat, und gemeint hat, sich damit einen verhand- am 26. März habe ich die Notwendigkeit einer Wende lungstaktischen Vorteil zu verschaffen. Nein, bei den in der Verkehrspolitik hervorgehoben. Über diese Bund-Länder-Verhandlungen zur Bahnreform ging es Notwendigkeit besteht nach meinem Eindruck hier im nicht um einen Finanzpoker. Das ist leider auch in der Hause Konsens. Presse völlig falsch dargestellt worden. Sondern es ging darum, wie die Länder und Kommunen die Für diese Wende in der Verkehrspolitik werden Sie Verantwortung für den Nah- und Regionalverkehr die deutschen Länder und die deutschen Gemeinden übernehmen können, ohne Streckenstillegungspro- als ganz starke Bündnispartner finden, und zwar quer gramme durchführen zu müssen, wie dies der Bund durch alle parteipolitischen Richtungen. Das war der jahrelang gemacht hat. Wir sind nicht bereit, diese Sinn der nicht immer einfachen Verhandlungen zwi- Verkehrspolitik fortzuführen. Wir wollen den Regio- schen Bund und Ländern. Ich sage ein bißchen salopp: nalverkehr und den Nahverkehr ausbauen. Deswe- Nicht immer fördern Generalisten die Verhandlun- gen kämpfen wir für die richtigen Bedingungen. gen. Die Auseinandersetzungen zwischen Bund und Ich denke, wir haben ein Ergebnis erzielt, das man Ländern wurden immer nur als ein Finanzpoker als Ministerpräsident verantwortlich seinem Kabinett wahrgenommen. Das ist ein Mißverständnis. Noch nie zur Zustimmung vorlegen kann. Aber ich stimme auch hat sich die Ministerpräsidentenkonferenz so intensiv allen zu, die gesagt haben, es sei nur ein erster Schritt. mit verkehrspolitischen Fragen beschäftigt, wie das Es werden viele weitere Schritte folgen müssen, bevor bei diesem Thema der Fall war. wir angemessene gesetzliche Rahmenbedingungen (Roland Kohn [F.D.P.]: Traurig, traurig!) zu einer neuen Verkehrspolitik in Deutschl and haben. Das ist eigentlich das zentrale Thema gewesen. Die Länder haben sich in erheblichem Umfange und Deswegen sage ich gerade zu Ihnen, Herr Kohn: Das, auch unter Verzicht auf wichtige Positionen bewegt. was Sie hier gesagt haben ist nicht richtig. Ich will Wir waren der Auffassung — Sie wissen, ein Bundes- Ihnen nur zwei Gegenbeispiele nennen. Der Bund land wird aus diesem Grunde im Bundesrat der wird in vielen Fällen — und wir merken es immer Grundgesetzänderung nicht zustimmen —, daß das mehr — seinen verfassungsmäßigen Verantwortun- Eigentum am Fahrweg eigentlich Bundessache blei- gen nicht gerecht. Das hat uns in unseren Erfahrungen ben sollte. geprägt. (Roland Kohn [F.D.P.]: Was sagt denn die Seit Jahren finanzieren wir im Hochschulbau vor. Statt-Partei dazu?) Selbst das wird uns nicht mehr erlaubt, obwohl der Bund mitfinanzieren müßte. Sie wissen selber: Was Wir waren dieser Auffassung. wir im Hause zur Zeit im Zusammenhang mit dem Wir haben uns in einem langwierigen Prozeß einan- Arbeitsförderungsgesetz beschließen, ist nichts ande- der angenähert, und zwar dadurch, daß die Gemein- res als eine Lastenverlagerung in die Kommunalhaus- wohl- und die Infrastrukturverantwortung des Bundes halte. im Grundgesetz bei Aufgabe des staatlichen Eigen- tums am Fahrweg festgeschrieben worden sind. So (Beifall bei der SPD) führt man zwei Positionen zusammen. Deswegen teile ich auch nicht das, was aus meiner Sicht zu kritisch Anschließend stehen die Kommunen bei uns, den gegen diese Konzeption gesagt worden ist. Ländern, die wir für ihre Finanzausstattung verfas- sungsrechtlich verantwortlich sind, und verlangen Nichtsdestoweniger werden wir die weitere Ent- von uns Geld zurück. So geht es nicht. Kein Verschie- wicklung noch sehr genau beobachten müssen. Nicht bebahnhof zwischen Bund und Ländern, sondern ein hinnehmbar wäre die Entwicklung zu einem Schie- faires Miteinander! nennetz, das die Infrastrukturverantwortung der öffentlichen Hand nicht widerspiegelt. Das wird nie (Roland Kohn [F.D.P.]: Was ist im Frühjahr unsere Zustimmung finden. Es kann auch nicht ein dieses Jahres passiert?) Schienennetz werden, das nur noch die Vermark- tungschancen widerspiegelt; denn welche Konse- — Was dem Bund passiert ist? Es war die Zeit der quenzen das für die Raumordnung im Lande hätte, Solidarpaktverhandlungen oder — ich sage lieber — kann sich jeder sofort ausrechnen. des Föderalen Konsolidierungsprogramms. Der Bun- desfinanzminister hat leider eine falsche Propaganda (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16977

Ministerpräsident Hans Eichel (Hessen) Deswegen haben wir Einigung in diesem Punkt. den. Das kann in niemandes Sinn sein. Wir brauchen eine Optimierung des Straßen- und Schienenverkehrs Bei der Regionalisierung übernehmen die Länder durch eine bessere Koordination der Bahn und der die Verantwortung für den Regionalverkehr. Die Busgesellschaften. Problematik der Regionalisierung ist in den Verhand- lungen auch unter dem Aspekt der Qualität der Ich sage das folgende an Sie, Herr Kohn, weil Sie Schieneninfrastruktur in den neuen Ländern erörtert offenbar am deutlichsten widersprechen. Wenn Sie worden. Es gibt aber nicht nur vernachlässigte Bahn- meinen, daß alle Verkehrsträger zu einem vernetzten strecken in Ostdeutschland. Es hat nicht nur die SED System verbunden werden sollen — dem stimme ich vom Vermögen gezehrt. Das hat sie. Es gibt — wenn ausdrücklich zu —, dann gilt das aber auch für das auch nicht im gleichen Umfang, das ist wohl wahr — Verhältnis von Bahn und Busgesellschaften. Nur als vernachlässigte Bahnstrecken auch in Westdeutsch- System kann man die Leistungen beider Verkehrsge- land. Mit anderen Worten: Die Länder begeben sich sellschaften optimieren, nicht anders. hier in ein Risiko, das sie nicht voll überschauen (Beifall bei der SPD) können. Deswegen halte ich es für einen schweren Fehler, (Beifall bei der SPD) wenn die Busgesellschaften von der Bahn abgekop- pelt werden. Die Zahlen sind noch nicht belastbar. Bei den neuen Bundesländern sind überhaupt noch keine Zahlen da. Nun zu den Voraussetzungen, unter denen wir Sie müssen bitte verstehen, daß die Ministerpräsiden- bereit sind, den Regionalverkehr zu übernehmen und ten der neuen Bundesländer in diesem Punkte zöger- den Gesetzen zuzustimmen. Das ist inzwischen von licher sind als die der alten; denn sie haben überhaupt Herrn Daubertshäuser als Ergebnis der gestrigen keine Zahlen auf dem Tisch. Besprechung klargestellt worden. Ich will dazu deut- lich sagen — weil auch Sie, Herr Kohn, das erwähnt Ich sage deswegen auch: Ich bin froh darüber, daß haben —: Es geht nicht darum, daß ein Verfassungs- wir in einem gemeinsamen Annäherungsprozeß die organ das andere ändern will. Die Ministerpräsiden- Garantie des Bundes erreicht haben, daß für vier Jahre ten sind kein Verfassungsorgan. zu definierten Kosten, die dann noch vom Bund Das Problem, das wir zusammen hatten, war ganz übernommen werden, der Regionalverkehr auf dem offenkundig: Wie vermeiden wir möglichst noch ein jetzigen Stand bleibt. Dann werden wir in der ersten Vermittlungsverfahren? Wie erreichen wir, daß Bun- Revision sehen, wie hoch tatsächlich die Kosten sind. destag und Bundesrat — allerdings unter sehr großem Bis dahin werden die Kosten von der Bundesbahn Zeitdruck — zu einer gemeinsamen Beschlußfassung aufgearbeitet werden können. kommen und daß wir nicht hinterher feststellen müs- Dann werden wir hier noch einmal gemeinsam sen: Sie haben etwas in bestem Wissen beschlossen, offen und sehr fair darüber reden müssen, wie hoch was für die Länder untragbar ist, und anschließend die tatsächlichen Kosten zunächst nur des Status- haben wir ein Vermittlungsverfahren. Das war der quo-Verkehrs sind; denn die müssen auf jeden Fall Sinn. Ich denke, das müßte für jedermann verständ- vom Bund übernommen werden. Zeigt sich, daß die lich sein. Kostenabschätzungen zu niedrig waren, gehen die Mehrkosten zu Lasten des Bundes. Das muß m an sich Herr Ministerpräsident, ganz genau vor Augen führen. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Kohn würde Ihnen gern eine Zwischen- Mit der Regionalisierung wird eine Aufgabe über- frage stellen. tragen. Entsprechende Finanzmittel müssen mit über- tragen werden. Auch wir haben in den Landeshaus- halten — genauso wie die Gemeinden in den kommu- Ministerpräsident Hans Eichel (Hessen): Gern. nalen Haushalten — für zusätzliche Aufgaben kein Geld mehr. Das sehen Freie Demokraten in der Vizepräsident Hans Klein: Wenn Sie zustimmen, Kommunal- und der Landespolitik nicht anders. möchte ich vor der Frage gern eine Bemerkung zum Ich will bei der Gelegenheit noch auf etwas anderes Kollegen Kohn machen. Der Herr Bundesverkehrsmi- hinweisen, weil es mir wichtig ist. Ich möchte auch an nister war bei mir hier oben. Er legt großen Wert auf das anknüpfen, was Herr Daubertshäuser gesagt hat. die Feststellung, daß er bei der Auflistung seines Herr Bundesverkehrsminister, ich hielte es für sehr Dankes an die Berichterstatter aus Versehen, Herr Kollege Kohn, Ihren Namen nicht erwähnt hat. Aber wichtig, wenn die Busgesellschaften und die Bahn zusammenblieben, und zwar aus einem ganz einfa- es drängt ihn, das zu tun. chen Grunde. Wenn Sie die trennen, wenn Sie dann (Beifall bei der F.D.P.) zulassen, daß Parallelverkehre im ländlichen Raum Nun die Frage. organisiert werden, daß unterschiedliche Angebote gemacht werden, dann werden Sie nichts weiter erleben als weitere Streckenstillegungen im Lande Roland Kohn (F.D.P.): Ich bin tief gerührt. Ich habe und weiteren Verkehr auf der Straße. vorhin, als der Kollege Jobst hier sprach, gesagt: Man hat vergessen, auch Herrn Sebohm zu danken. (Beifall bei der SPD) Herr Ministerpräsident, mit Blick auf die Diskussion Es muß jeder, der anbietet, gezwungen werden, sich über die Privatisierung der Bahnbus-Gesellschaften: mit anderen Verkehrsträgern zu koordinieren; denn Würden Sie mir einräumen, daß sich das p rivate sonst fahren viele Busse aus den ländlichen Gebieten Gewerbe bereit erklärt hat, die Verkehrsverbünde in in die Städte hinein, und die Schienenstrecken verö- der Abteilung Bahnbus komplett zu übernehmen, und 16978 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Roland Kohn daß dadurch die Systemwirkung, die Sie zu Recht Wir haben uns auf eine Stufenlösung zum Aufbau anmahnen, nicht in Frage gestellt wird? der dafür notwendigen Finanzen verständigt. Ich sage ausdrücklich: Ich denke, daß das Finanzierungs- system auch weiterhin konsensfähig bleibt. Ministerpräsident Hans Eichel (Hessen): Nein, das Wie Sie wissen, gibt es sehr sorgfältige Untersu- ist mein Eindruck nicht. Ich will ausdrücklich sagen, chungen, soweit man das überhaupt unter den heuti- Herr Kohn: Wir benötigen ein integriertes Angebot gen Bedingungen kann, die davon ausgehen, daß wir, von Schiene und Straße im ländlichen Raum. die Länder, für die Übernahme des Regionalverkehrs 14 Milliarden DM benötigen. Dem lagen Untersu- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ingeborg chungen der vier Länder Bayern, Baden-Württem- Philipp [PDS/Linke Liste]) berg, Nordrhein-Westfalen und Hessen zugrunde, die Wenn wir das nicht bekommen, wenn Sie ein konkur- allein 75 % des Regionalverkehrs bestreiten. rierendes Angebot für Schiene und Straße bekom- men, werden weitere Streckenstillegungen die Kon- (Roland Kohn [F.D.P.]: Über den Daumen sequenz sein. gepeilt!) (Zuruf von der F.D.P.) — Nein, es war nicht über den Daumen gepeilt, aber Sie haben natürlich recht, daß genaue Berechnungen — Sehen Sie, das ist der Unterschied. Wir reden doch, des gesamten Finanzbedarfs nicht vorlagen, aber das, denke ich, über Verkehrspolitik; und wir reden über was wir hatten, war weitaus besser als das, was wir Raumordnungspolitik; und wir reden darüber, die sonst an Zahlen für dieses Thema gehabt haben, wie ländlichen Räume auch mit Verkehrsleistungen zu Sie sehr wohl wissen, Herr Kohn. versorgen. Deswegen, denke ich, bilden die Finanzierungsmit- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ingeborg tel, wenn auch zeitlich gestreckt und damit wieder Philipp [PDS/Linke Liste]) inflationsbereinigt weniger einen Sockel, der nach Deswegen reden wir über ein integriertes System. dem Ergebnis von gestern im Jahr 2001 mit Wirkung von 2002 überprüft wird. Man kann nunmehr den (Roland Kohn [F.D.P.]: So ist es! Das haben Ländern empfehlen, die Regionalisierung zu über- wir schon!) nehmen. In späteren Jahren aber werden wir uns dann — Ja eben. Aber deswegen ist es notwendig, daß wir wieder verantwortlich unterhalten müssen. einen ständigen Optimierungsprozeß zwischen den verschiedenen Verkehrsträgern und nicht einen Ver- Das große Bedenken, das ich habe und ich hier drängungsprozeß bekommen. Das bedeutet, daß Sie keinen Moment verhehlen will, ist die gleichzeitige dann auch das Angebot für beides in eine Hand Absenkung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsge- bringen müssen; sonst geht das nicht. setzes. Es gibt die Verstetigung auf dem Niveau von 6,3 Milliarden DM nur noch bis Ende 1996. Das können konkurrierende Gesellschaften sein. Was ich hier sage, schließt doch Konkurrenz nicht aus, Ich sage Ihnen, ich glaube nicht, daß dieses Ergeb- Herr Kohn. Aber es verlangt vom Unternehmen, daß nis trägt. Daran wird aber jetzt niemand von uns die es gemeinsam für Schiene und Straße anbietet; nicht Bahnreform scheitern lassen. Ich glaube aber, über daß der eine nur für die Schiene, der andere nur für die diesen Punkt müssen wir uns — ich hoffe, dann unter Straße anbietet. Das ist der Fehler. finanziell etwas günstigeren Bedingungen — im Jahre 1995 neu unterhalten. Eine Reihe von Projekten, die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) insbesondere in den Ballungsgebieten, in den Städten Meine Damen und Herren, ein Wort noch zu den wichtig sind, kommen jetzt ins Trudeln. Es kann von finanziellen Fragen der Reform. Ich wi ll deutlich niemandem gewollt sein, daß z. B. der Ausbau von machen: Wir werden eine erste Revision bekommen, Stadtbahnstrecken, von S-Bahnstrecken in dem wenn klar ist, was die jetzt vom Bund garantierten Zusammenhang nicht verwirklicht werden kann. Verkehre tatsächlich kosten. Wir werden eine zweite Es wäre ein schlechter Witz, die Regionalisierung Revision bekommen. Da geht es um die Frage: Welche — so wirkt es sich im Ergebnis im Moment dann aus — Mittel sind erforderlich, damit erstens das System, das zu einem Teil aus den Nahverkehrsinvestitionen zu wir heute haben, verbessert werden kann? Wir haben bezahlen. Das macht auf Dauer keinen Sinn. Das war im ländlichen Raum großen Nachholbedarf — sehen ein Teil des Kampfes; den haben wir noch nicht Sie sich das Schienensystem an —, auch im Westen. gewonnen. Ich denke aber, alle Verkehrspolitiker (Beifall bei der SPD) müssen über dieses Thema noch einmal neu nachden- ken. Welche Mittel sind zweitens erforderlich, um in den Verkehrsverbänden zur Vertaktung des Verkehrs zu Wir haben eine rechtlich einwandfreie Absicherung kommen? Das war immer unser Ziel; wir wollten der Finanzierungsmittel im Grundgesetz — das war eigentlich früher mehr Mittel haben, weil wir glauben uns wichtig, ich bitte Sie um Verständnis dafür; die — ich denke, daß die Verkehrspolitiker das gar nicht Länder sind da etwas mißtrauisch —, nicht Bundesfi- anders sehen können —, daß wir uns in den nächsten nanzhilfen, sondern ein originäres Recht der Länder vier Jahren im Nah- und Regionalverkehr keinen auf diese Mittel für diese Aufgabe. Das ist uns, denke Stillstand leisten können, sondern daß wir vorange- ich, vernünftig gelungen. hen müssen, und zwar nicht erst nach vier Jahren, Auch die Zustimmung der Länder zu den Bahnge- sondern möglichst schnell. setzen ist künftig erforderlich. Bei der Zustimmung (Beifall bei der SPD) des Bundesrates — und damit komme ich zum Schluß, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16979

Ministerpräsident Hans Eichel (Hessen) meine Damen und Herren — geht es um die Rahmen- die Länderfinanzminister, weil wir keinen zweiten bedingungen. Da will ich meine Sorge, die z. B. der Länderfinanzausgleich, sondern eine gute Verkehrs- Hamburger Bürgermeister viel drastischer ausdrük- politik wollten und weil wir nicht wollten, daß die ken würde als ich, noch einmal deutlich machen. Mittel, um die es hier geht, für andere Zwecke eingesetzt werden. Ich denke, was heute im Bundes- wir haben Wir übernehmen die Verantwortung — tag verabschiedet wird und — ich hoffe es — mit sehr für den Regionalverkehr. Aber, das auch gewollt — großer Mehrheit am 17. Dezember im Bundesrat, ist meine Damen und Herren, den Verkehrsmarkt und ein guter und großer Schritt hin zu einer anderen die Chancen am Verkehrsmarkt bestimmt noch weit- Verkehrspolitik. gehend der Bund, und es gibt eine Reihe Länderchefs, die die Vermutung oder die Ängste haben, daß der (Vorsitz: Vizepräsidentin ) Bund dann eine Verkehrspolitik macht, bei der er, da Ich bitte Sie aber, es bei dem nicht zu belassen, er für den Fernverkehr auf der Schiene zuständig sondern mit den deutschen Ländern zusammen wei- bleibt, diesen begünstigt, daß er im übrigen eine tere Schritte zu einer ökologisch orientierten Ver- Verkehrspolitik macht, die weiter die Straße begün- kehrspolitik zu gehen. stigt, und daß wir dann eine Aufgabe übernommen (Beifall bei der SPD) haben, bei der wir die Marktchancen unsererseits nicht hinreichend mit beeinflussen können und dann doch wieder in große Defizite hineinfahren. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- Ich bitte Sie also ganz herzlich, das ganz ernst zu lege Horst Gibtner das Wo rt . nehmen. Nach allem, was ich heute hier im Bundestag gehört habe, gibt es darüber offenbar auch gar keinen Streit: Die Länder sind Verbündete des Bundes, wenn Horst Gibtner (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine es darum geht, eine Wende in der Verkehrspolitik sehr verehrten Damen und Herren! Auch ich komme einzuleiten und eine ökologisch orientierte Verkehrs- nicht umhin, unserem Plenum zu sagen, daß unser politik zu machen, und zwar von allen Seiten. heutiges Gesetzgebungsvorhaben eine wahrhaft historische Dimension hat, denn es geht ein Kapitel (Beifall bei der SPD) Eisenbahngeschichte zu Ende, das Zeitalter der zen- Verzahnung von Nah-, Regional- und Fernverkehr, tralen Staatsbahn, das besonders mit dem Namen Verzahnung der Instrumente, mit denen wir das „Deutsche Reichsbahn" verknüpft ist. Aber auch die beeinflussen. Steuerpolitik: Meine Damen und Her- Deutsche Bundesbahn trägt diesen Charakter. ren, ich habe mir die ganze Zeit Gedanken gemacht, Am 1. April 1920 ist die Deutsche Reichsbahn aus warum der Bund sich so nachdrücklich gewehrt hat, den damaligen Staatsbahnen der Länder mit über die Mineralölsteuer zu einer Gemeinschaftssteuer zu einer Million Beschäftigter gegründet worden. Dane- machen. Ich habe eine einfache Erklärung; sie ist wohl ben bestanden viele Privatbahnen, im Gebiet der auch zutreffend. Er will sie weiter als Finanzierungs- damaligen Sowjetischen Besatzungszone allerdings instrument, aber nicht als verkehrspolitisches Len- nur bis zu deren Enteignung im Jahre 1949. kungsinstrument benutzen, und das halte ich für einen Die Zentralisierung der Staatsbahnen war in den Fehler. Artikeln 89 und 171 der Weimarer Verfassung festge- Ich bin der Meinung, das gehört in ein Gesamtkon- legt. „Wer die Eisenbahnen eines Landes in seiner zept hinein, und dann wäre es vernünftiger gewesen, Hand hat, ist Machtfaktor ersten Ranges in Politik und an der Mineralölsteuer viel direkter anzuknüpfen, Wirtschaft", so Herr Groener, der erste Verkehrsmini- aber wir haben uns da auf ein Level geeinigt, das auch ster der Weimarer Republik. Von Oktober 1924 bis für den Bund verträglich war. Ich vermute, es wird Februar 1937 ist die Deutsche Reichsbahn dann als große Mineralölsteuererhöhungen geben, nur werden öffentlich-rechtliche Betriebsgesellschaft unter inter- sie mit Verkehrspolitik nichts zu tun haben, und das nationaler Aufsicht geführt worden und hatte umfang- kann man, glaube ich, ganz genau voraussehen. reiche Reparationsleistungen an die damaligen Sie- (Beifall bei der SPD) germächte des Ersten Weltkrieges aufzubringen. Sie führte in dieser Zeit den Namen „Deutsche-Reichs- Zum Schluß, meine Damen und Herren: Wir sitzen bahn-Gesellschaft" . hier jetzt mehr denn je in einem Boot. Meine Damen und Herren, die Bedeutung der (Roland Kohn [F.D.P.]: In einem Zug!) Deutschen Reichsbahn für die Weimarer Republik und der Reichsbahngesellschaft für die Siegermächte — Ja, Zug ist auch etwas Umweltfreundliches, je des Ersten Weltkriegs zeigt, daß die Bahnen als nachdem, wie es gemacht wird. dazumal wichtigster Verkehrsträger Erträge abwar- Es wird nicht mehr so sein — wir wollen das auch fen. Das hat sich geändert. Die Bahn war zunehmend nicht —, daß die Länder oder die Gemeinden vom dem Wettbewerb, insbesondere des Kraftverkehrs, Bund etwas fordern, was er nicht will, sondern wir ausgesetzt. Die Verkehrsmarktordnung, die ab 1931 machen jetzt gemeinsam Verkehrspolitik. Das ist die eingeführt wurde, konnte die Bahn nicht vor der Konsequenz der heutigen Entscheidung, und das Konkurrenz schützen. heißt auch, wir müssen — und das wäre meine Längst hat der deutsche Staat, zunächst nur auf dem herzliche Bitte — mit ein bißchen mehr Verständnis als Gebiet der alten Bundesrepublik, einen föderalen eine Staatsebene auf die jeweils andere reagieren. Aufbau — ein klarer Widerspruch übrigens zur bishe- Unterstellen Sie uns nicht Beutelschneiderei. Wir rigen Zuordnung der Nahverkehrsaufgaben an die haben die Zweckbindung der Mittel gewollt, sogar zentrale Staatsbahn. 16980 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Horst Gibtner Es ist gut, meine Damen und Herren, daß die die Bahnreform eine so hohe Priorität einräumen, und Vereinigung beider deutscher Bahnen und die Reform deswegen war ich dabei — — vollzogen werden, nachdem die föderalen Strukturen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und auch in den neuen Bundesländern gefestigt sind. Es der F.D.P. — Lachen bei der SPD) hat sich ebenfalls als richtig erwiesen, daß beide deutsche Bahnen laut Einigungsvertrag bis Ende Auch wenn Sie das sehr schlimm finden: Wer keine dieses Jahres als getrennte Sondervermögen weiter- ausreichenden Kenntnisse über die Bahnreform hat, geführt wurden. So konnten sich die Bahnen und ihre ist nun selbst daran schuld. Beschäftigten gründlich auf den Zusammenschluß vorbereiten. Sie haben sich mit großem Elan auf die Vizepräsidentin Renate Schmidt: Kollege Gibtner, Zukunft in der Deutschen Bahn AG vorbereitet. Denn es gibt noch einen zweiten Wunsch nach einer Zwi- das Kapitel „Zentrale Staatsbahn" wird nicht abge- schenfrage, und zwar vom Kollegen Feige. schlossen, ohne ein neues, anspruchsvolles Kapitel Bahngeschichte zu eröffnen. Meine Damen und Herren, ich finde es unerträglich Horst Gibtner (CDU/CSU): Mit Vergnügen. und für die betroffenen Menschen, die mit den grund- legenden Strukturveränderungen in ihrem Unterneh- Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- men natürlich auch ihre Sorgen haben, wenig hilf- NEN): Herr Gibtner, würden Sie mir bestätigen, daß reich, wenn die Vertreter der beiden Gruppen in sich die GRÜNEN und jetzt BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- diesem Hohen Hause, PDS/Linke Liste und BÜND- NEN seit Jahren um eine Bahnreform bemüht haben, NIS 90/DIE GRÜNEN, düstere Prophezeiungen über die dieser Intention von heute gerecht wird? Stimmen die Zukunft der Bahn AG und des Schienenverkehrs Sie mir zu, daß es das erste Mal wäre, daß die in Deutschland aussprechen. Dazu, meine Damen und CDU/CSU-Fraktion wirklich daran interessiert wäre, Herren, gäbe es viel zu sagen, aber die Chance zur auf die Worte der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sachlichen Auseinandersetzung ist verspielt; denn die zu hören oder überhaupt zu reagieren? Vertreter dieser beiden Gruppen haben nicht ein einziges Mal an der Arbeit der Berichterstatter und nicht ein einziges Mal an den Ausschußberatungen Horst Gibtner (CDU/CSU): Herr Dr. Feige, ich zur Bahnreform teilgenommen. glaube, ich habe mit meinen Bemerkungen zu Ihrem (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: mangelnden Engagement bei der Erarbeitung der Das stimmt nicht! — Zuruf des Abg. Dr. Bahnreform bewiesen, daß ich den Grad Ihrer Mitar- Klaus-Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- beit sehr genau verfolgt habe. Wenn eine politische NEN] — Zuruf von der F.D.P.: Sie waren Gruppe, eine Partei große Beiträge zu einem solchen einmal da, Frau Enkelmann!) Reformwerk zu leisten hat, dann muß sie, bitte schön, — Frau Kollegin Enkelmann, Sie waren ja nicht auch mitarbeiten. einmal während dieser Debatte die ganze Zeit im (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Plenarsaal. Und Herr Kollege Feige, wer im Glashaus - Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Eine tolle sitzt, sollte nicht mit Steinen nach dem Kollegen Kohn Redel) werfen. Meine Damen und Herren, ich darf aber sagen, daß die Zusammenarbeit der drei Fraktionen in diesem Hohen Hause, der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P., Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Gibtner, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kolle- ganz anders verlief, und zwar sowohl bei der parla- gin Enkelmann? mentarischen als auch bei der außerparlamentari- schen Vorbereitung des Gesetzeswerkes. Jeder von uns mußte von seinen ordnungspolitischen Idealvor- Horst Gibtner (CDU/CSU): Ja, bitte. stellungen ein Stück abrücken, um den Konsens zu erreichen, der die Zukunft des Schienenverkehrs in Deutschland sichert. Dies haben wir geschafft, weil Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Herr wir es gewollt haben, meine Damen und Herren. Kollege Gibtner, ich weiß nicht, ob Sie meine Rede gehört haben. Ich habe am Schluß meiner Rede Ob Sie es glauben oder nicht, wir hatten auch mit gesagt, daß ich auf Grund einer Diskussionsrunde mit Beamten des Bundesverkehrsministeriums und der Schülerinnen und Schillern aus Lauchhammer den Bahn zu tun, die nicht nur ungeheuer fleißig, sondern Plenarsaal zeitweise verlassen muß, und ich habe Sie auch äußerst kreativ dazu beigetragen haben, daß wir um Ihr Verständnis gebeten. dieses Ergebnis zustande gebracht haben. (Lachen bei der CDU/CSU) Ganz anders ist mein Eindruck von den Bund- Länder-Verhandlungen. Herr Ministerpräsident Ei- Sind Sie bereit, diese Bitte um Verständnis entgegen- chel, es tut mir herzlich leid: Dieses Feilschen um zunehmen? Geldbeträge bis in die letzten Stunden des gestrigen (Ernst Waltemathe [SPD]: Er hat nicht zuge- Tages hört, wie üblich!) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Hört doch mal auf!) Horst Gibtner (CDU/CSU): — Aber Herr Waltema- hinterläßt nicht nur bei mir und nicht nur bei der the! — Frau Kollegin Enkelmann, selbstverständlich Presse, sondern auch in der Öffentlichkeit den Ein habe ich das gehört; aber ich würde dieser Debatte um druck, als sei es in erster Linie um Kriegsbeute Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16981

Horst Gibtner gegangen und nicht um das gemeinsame Interesse an Schon heute ist das Image der Bahn in den neuen der Zukunft der Bahn. Bundesländern weitaus besser als noch vor zwei Jahren. Eine kürzlich veröffentlichte Umfrage der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Industrie- und Handelskammer Berlin bei Unterneh- Ich danke in diesem Zusammenhang besonders men in Berlin und belegt dies: 52 % der unserem Bundesverkehrsminister, Matthias Wiss- befragten Firmen in Berlin und 20 % derer in Branden- mann, und auch dem Bundeskanzler Helmut Kohl burg erklären, daß sie die Bahn heute schon häufiger persönlich für ihren Einsatz in dieser Situa tion. benutzen als vor zwei Jahren. Das ist schon ein erfreulicher Trend, aber es ist natürlich noch l ange (Beifall bei der CDU/CSU — Unruhe und nicht das angestrebte Ergebnis. Lachen bei der SPD) Auch die heutige Verabschiedung der Gesetze zur Meine Damen und Herren, besonders diese beiden Bahnreform ist noch nicht das Ergebnis, sondern der Personen haben ihre Eignung als Brückenbauer unter Startschuß für die Reform. Jetzt muß sie im Unterneh- Beweis gestellt. men umgesetzt werden. Das ist eine gewaltige, aber auch faszinierende Aufgabe. Diese Aufgabe wird (Lachen bei der SPD) nicht auf einen Schlag gelöst sein, die Reform ist ein Die sachliche Phase der Bund-Länder-Verhandlun- Prozeß. gen liegt schon etwas weiter zurück. Entscheidende In diesem Prozeß werden Schwierigkeiten und Forderungen der Länder sind in die Gesetzentwürfe vielleicht auch Rückschläge auftreten. Ich wünsche aufgenommen worden. So wurden das Mehrheitsei- der künftigen Bahn AG, daß notwendige Nacharbei- gentum des Bundes an der Fahrweg AG, die Gemein- ten und Korrekturen dann so zielstrebig und kollegial wohlverpflichtung des Bundes bezüglich Ausbau und mit dem Eigentümer und der Politik bewältigt werden, Erhalt der Schienenwege sowie der Verkehrsange- wie wir die Gesetze zur Einleitung der Bahnreform bote und der schon erwähnte Zustimmungsvorbehalt erarbeitet haben. des Bundesrates zu allen diesbezüglichen Gesetzen Ich wünsche den Menschen, die die Reform jetzt im Grundgesetz verankert. umzusetzen haben, Kraft und Erfolg. Meine Damen Nun wird die Regionalisierung erst ab 1. Januar und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, geben 1996 wirksam. Ab diesem Zeitpunkt leistet der Bund wir ihnen die Chance. seinen Finanzbeitrag für den öffentlichen Personen- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nahverkehr der Länder, dessen Höhe im Jahre 1997 der F.D.P.) und dessen Steigerungsrate im Jahre 2001 überprüft werden sollen. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster Die Bahn AG ist verpflichtet, das Nahverkehrsange- erhält der Kollege Dirk Fischer das Wort. Ich darf Sie bot der Jahre 1993 und 1994 mit dem jetzigen Finanz- ganz herzlich bitten, nachdem die Akustik in diesem beitrag des Bundes weiterhin zu gewährleisten. Die Saal zwar nicht besonders gut ist, aber immer besser verhandelten Steigerungsbeträge sind zur Verbesse- wird, wenn man sich mit dem Nachbarn unterhält rung des Nahverkehrsangebots bestimmt. — zumindest hören wir hier alles, und Sie hören nichts mehr —, trotz der anstehenden namentlichen Abstim- Von besonderer Bedeutung ist auch die Verpflich- mung doch ein bißchen ruhiger als bisher zu sein. tung für die Bahn AG, daß 20 % der Investitionsmittel für Nahverkehrsinvestitionen einzusetzen sind. Das Herr Kollege Fischer, Sie haben das Wort. Eisenbahnneuordnungsgesetz verpflichtet den Bund, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und auch darauf hinzuwirken, daß der technologische der F.D.P.) Rückstand im Netz der bisherigen Deutschen Reichs- bahn schnell abgebaut und aufgeholt wird. Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Frau Präsiden- In den nächsten neun Jahren sind 30 % der Investi- tin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Verab- tionsmittel zur Bewältigung der wirtschaftlichen und schiedung des Gesetzespakets zur Strukturreform der ökologischen Altlasten der bisherigen Deutschen Bahn ist der Beginn einer Ara, in der die Eisenbahn Reichsbahn reserviert. Im gleichen Zeitraum erstattet ihrer Rolle als der verkehrspolitische Hoffnungsträ- der Bund der DBAG auch die Kosten für einen ger gerecht werden kann, zum Nutzen der Kunden, erhöhten Personalbedarf infolge des technischen und zum Nutzen unserer Umwelt, aber auch zum Nutzen betrieblichen Rückstands der Bahn in den neuen der deutschen und europäischen Volkswirtschaft. Bundesländern. Künftige Generationen werden hoffentlich nur noch Das sind gesetzliche Festlegungen für die neuen in Büchern nachlesen können, daß es einmal eine Bundesländer, die sich sehen lassen können. Bahnbehörde nach öffentlichem Dienst- und Haus- haltsrecht mit einer ausgeprägten Organisations- und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Behördenkultur ohne jegliche Wettbewerbschance der F.D.P.) auf dem Verkehrsmarkt mit Milliardendefiziten gege- ben hat. Ich hoffe, daß wir diese dann sehr bald auch Ich bin überzeugt, daß die verstärkte Zuweisung von aus der Wirklichkeit verabschieden können. Haushaltsmitteln zu einer raschen Aufholung des Rückstandes führen und neue Kunden auf die Schie- Ich will keine übermäßige Zeit der Geschichtsfor- nenwege holen wird. Die Beschäftigten der bisheri- schung widmen, sondern es geht jetzt darum, in die gen Deutschen Reichsbahn arbeiten jedenfalls enga- Zukunft zu blicken. giert daran. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 16982 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Dirk Fischer (Hamburg) Die Notwendigkeit eines zukunftsorientierten Kon- Den Begriff „die Bahn" als einheitliche Organisa- zeptes für die Bahn mit dem Ziel, mehr Verkehr auf tion wird es nicht mehr geben. Es wird für die die Schiene zu bringen, und mit dem Ziel, eine selbständigen Bereiche wie Fahrweg, Güterverkehr dauerhafte Entlastung des Bundeshaushalts zu errei- und Personenverkehr Kapitalgesellschaften, die am chen, wurde doch von uns allen, von der Regierung, Markt akquirieren und operieren und die ihre von den Fraktionen des Deutschen Bundestages und Geschäfte nach kaufmännischen Grundsätzen abwik- auch von den Bundesländern, erkannt und, ich sage keln, geben. Das Bestellerprinzip wird im übrigen für einmal: als ein Pakt der Vernunft jetzt auch umge- eine marktgerechte und ertragsorientierte Preisge- setzt. staltung für die erbrachten Verkehrsleistungen sor- (Beifall bei der CDU/CSU) gen. Es wird nicht mehr so sein, daß jeder ohne Ergebnis- und Finanzverantwortung ziemlich unge- Der Kollege Gibtner hat eben schon darauf hinge- hemmt in die Tasche der Bahn und des Bundes greifen wiesen, daß die Strukturreform der Bahn ein Prozeß kann und sich dort selbst bedienen kann. ist. Die heutige Entscheidung des Parlamentes ist also nur der erste Schritt einer Entwicklung, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ( [CDU/CSU]: Sehr gut! Sehr Also, um es deutlich zu sagen: Wer in der Zukunft wahr!) die Musik bestellt, der muß auch den Preis bezahlen und das Geld dafür beschaffen, damit diese Dienstlei- die jetzt beginnen muß und die in allen Köpfen der stung anständig bezahlt werden kann. Ich glaube, Kunden und der Mitarbeiter auch eine neue Philoso- dann werden wir erfolgreich sein können, so wie der phie des Eisenbahndenkens auslösen muß. Das ist Minister hier seine Hoffnung auf einen Erfolg der entscheidend, um das Werk zu einem Gesamterfolg zu Bahnreform ausgedrückt hat. machen. Die Bahnreform ist aber — darauf muß deutlich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) hingewiesen werden — nicht nur ein na tionales Anlie- Wir wollen eine Entwicklung eines leistungsfähi- gen der Bundesrepublik Deutschland, sondern ist gen, umweltverträglichen und vor allem auch inte- eben auch eine Erfüllung und damit ein Element des grierten Verkehrssystems. Nicht das Gegeneinander überragend wichtigen Ziels der gemeinsamen Eisen- der Verkehrsträger, sondern das Miteinander, ihre bahnpolitik der Europäischen Gemeinschaft. Denn Kooperation, ist gefragt, nicht ihre Konfrontation. Das unsere Bahnreform ist ein Element und ist ein Teil der muß nach meiner Auffassung der Impuls der Stunde Philosophie der europäischen Eisenbahnpolitik, wie sein, der vom Deutschen Bundestag heute ausgeht. sie in der Richtlinie der EG von 1991 vom Rat ausgegangen ist. Das heißt, hier wird heute europäi- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sche Eisenbahnharmonisierung bet rieben und be- Meine verehrten Damen und Herren, ich sage sonst schlossen. Seien wir uns bitte auch dieser Angelegen- voraus, daß wir die Herausforderung der auf uns heit voll bewußt. zurollenden Verkehrsprobleme vor allem auch durch Im EG-Binnenmarkt ist die strukturelle Neuord- den internationalen Transitverkehr, den der europäi- nung der staatlichen Eisenbahnen notwendig, da sche Verkehrsverteiler Deutschland bewältigen muß, nach dem europäischen Wettbewerbsrecht Eisen- nicht werden bewältigen können. Wir laufen sonst in bahnmonopole nicht mehr aufrechtzuerhalten wären. eine Verkehrskatastrophe mit ökologischen Belastun- Die Eisenbahnen der EG müssen in der Zukunft gen hinein, die wir alle nicht verantworten können. rechtlich selbständig, unabhängig von den Regierun- Dieses gilt es zu verhindern. Davon muß man heute gen und nach eigenwirtschaftlichen Grundsätzen ausgehen. geführt werden, und sie müssen zuvor finanziell (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) saniert werden. Ich glaube, das ist eine ganz wichtige und die europäischen Eisenbahnen nach vorn brin- Die Bahnen haben bisher in einem Schienenver- gende Angelegenheit. kehrsmonopol gearbeitet und eben nicht die Heraus- forderung des Wettbewerbs innerhalb dieses Ver- Eine leistungsfähige, attraktive, wettbewerbsfähige kehrsträgers gehabt. Ich glaube daran: Wettbewerb Eisenbahn wird auch den Mitarbeitern der Deutschen macht stark, Wettbewerb macht nicht schwach. Des- Bahn Aktiengesellschaft eine überzeugendere, lang- wegen wollen wir, daß der Wettbewerb des Systems fristige berufliche Perspektive eröffnen. Schiene auch die Dienstleistungsunternehmen in der Endlich wird die Eisenbahn in die Lage versetzt, die Zukunft stärker macht. Das ist unser Wunsch. Systemvorteile der Schiene auch in Erfolge im Ver- Meine Damen und Herren, wir werden jetzt die kehrsmarkt umzusetzen. Voraussetzungen für künftigen Wettbewerb schaffen: Die Deutsche Bahn Ak tiengesellschaft muß mit die Öffnung des Schienennetzes auch für andere Zukunftsinvestitionen einerseits, einem betriebs- nationale Eisenbahnverkehrsunternehmen in Europa, orientierten Kostenmanagement andererseits, mit der auch für Dritte Nutzung gegen Entgelt, wo Angebot Delegation von Verantwortung und einer kundenna- und Nachfrage darüber bestimmen, welches Entgelt hen Organisation die hohen Erwartungen in die neue im Einzelfall zu entrichten ist, d. h. wo der Preis auch Bahn der Zukunft erfüllen. ein Steuerungsmittel für die der Kapazitätsauslastung ist. Ich glaube, dies sind ganz wichtige Elemente, die Bundesregierung und Parlament haben den ersten wir dringend brauchen. Baustein zur Strukturreform der Bahn gefertigt. Die große, vielleicht sogar viel größere Herausforderung, (Beifall bei der CDU/CSU) nämlich die Umsetzung der Bahnreform, die Zusam- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16983

Dirk Fischer (Hamburg) menführung zweier klassischer Behörden, die in an dieser Stelle auch sagen: Es war ein Glücksfall, daß gegensätzlichen Gesellschaftssystemen gewachsen in der konzeptionellen Phase ein Verkehrsminister sind, in ein nach privatwirtschaftlichen Regeln arbei- wie Günther Krause, den ich auch hier im Raum tendes Unternehmen, dies ist die Herausforderung herzlich willkommen heiße, des Alltags in den nächsten Jahren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Glocke der Präsidentin) und in der operativen Phase Bundesverkehrsminister Wissmann erfolgreich zusammengewirkt haben, um Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege, dieses Werk jetzt auch parlamentarisch zu einem einen kleinen Moment mal bitte! Erfolg zu bringen. Es gab in diesen Phasen oftmals die Ich wünsche Ihnen allen, daß Sie demnächst kurz Gefahr des Scheiterns. Ich kann den Bundesverkehrs- vor einer namentlichen Abstimmung reden sollen. minister nur herzlich beglückwünschen, daß es gelun- gen ist, diese Gefahren des Scheiterns jeweils abzu- (Beifall bei der CDU/CSU) wenden und durch geschicktes Verhandeln zu ver- Vielleicht machen Sie, egal, in welcher Fraktion, in meiden. Ich glaube, das ist wichtig für uns alle. welcher Gruppe, dann auch einmal die Erfahrung, was es bedeutet, wenn sich hier in diesem Saal Dynamik, Tatkraft, Sachverstand aus Wirtschaft Konferenzen abspielen, wenn Sie glauben, all Ihre und Industrie sowie unternehmerisches Geschick Geschäfte hier erledigen zu müssen. Und vielleicht müssen sicherstellen, daß der zweite Schritt der Bahn- denken Sie einmal daran, was es bedeutet, in so einer reform, nämlich die innere Reform, jetzt in einem Situation hier zu sprechen, und haben ein bißchen mehrjährigen Prozeß zu einem erfolgreichen Unter- Solidarität mit dem jeweiligen Redner. Sie müssen nehmensprodukt auf dem europäischen Verkehrs- seine Ansichten nicht teilen, aber ihm wenigstens markt führt. zuhören. Meine Damen und Herren, berechtiger Optimismus Herzlichen Dank. Herr Kollege, Sie haben wieder ist angesichts der breiten Zustimmung sowohl der das Wort. Bundesregierung, des Parlaments, des Bundesrates, der Bahn selbst wohl geeignet, Hoffnung auszulösen, daß die Bahnreform insgesamt für uns alle ein voller Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Vielen Dank, Erfolg für Wirtschaft, Politik und letztlich auch für Frau Präsidentin. unsere Bürger in Deutschl and und in Europa wird. Die große Herausforderung der Zusammenführung, Schönen Dank für die Aufmerksamkeit. der Umsetzung der Bahnreform, anzunehmen, von der ich sprach, wird vor allem die Aufgabe des (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Unternehmens, der Unternehmensleitung und der sowie bei Abgeordneten der SPD) Mitarbeiter sein. Wir haben heute hier Herrn Dürr mit seinen Mitar- beitern begrüßt. Ich habe ihm einmal in einer etwas kritischen Situation der Beratung zugerufen, er möge Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Wortmel- doch bitte ruhig bleiben, die Bahnreform — das dungen liegen nicht vor. Damit schließe ich die sicherte ich ihm zu — werde unter seinem Tannen- Aussprache. baum liegen. Dort wird sie auch liegen, das ist heute Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstim- gewiß. Aber, Herr Dürr, es gibt auch Weihnachtsge- mung über die von den Fraktionen der CDU/CSU und schenke, die außerordentlich anstrengende Arbeit der F.D.P. sowie der Bundesregierung eingebrachten auslösen. Als ich einmal eine Modelleisenbahn Entwürfe zur Änderung des Grundgesetzes auf den geschenkt bekam, habe ich das genauso empfunden. Drucksachen 12/4610, 12/5015 und 12/6280. Also machen Sie es gut, ein in der deutschen Wirt- schaftsgeschichte ziemlich einmaliges Vorhaben jetzt Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen der auch zu einem überzeugenden Alltagserfolg für uns CDU/CSU, SPD und F.D.P. auf Drucksache 12/6311 alle zu machen. vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) den Änderungsantrag? — Gegenstimmen? — Stimm- enthaltungen? — Damit ist dieser Änderungsantrag Die innere Reform als die eigentliche Bahnreform einstimmig angenommen. muß jetzt realisiert werden. Wir brauchen ein schlüs- siges Unternehmenskonzept, das dem künftigen Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Wettbewerb auf der Schiene gerecht wird, da der Ausschußfassung mit den soeben beschlossenen potentielle in- und ausländische Wettbewerber auf- Änderungen zustimmen wollen, um das Handzei- merksam die Öffnung des deutschen Schienennetzes chen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltun- verfolgt und nicht ruhen, sondern zum Wettbewerb gen? — Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Bera- antreten wird. Dieser Wettbewerb muß jetzt bestan- tung bei wenigen Gegenstimmen und einer Stimm- den werden. enthaltung angenommen. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Interfraktionell ist vereinbart, trotz des in der zwei- Der Erfolg der Bahnreform als Kernstück der Ver- ten Beratung angenommenen Änderungsantrages kehrspolitik dieser Bundesregierung und der sie tra- unmittelbar in die dritte Beratung einzutreten. Sind genden Koalitionsfraktionen in dieser Legislaturpe- Sie damit einverstanden? — Dies ist der Fall, dann ist riode wird natürlich im wesentlichen von der Unter- das mit der erforderlichen Mehrheit so beschlos- nehmensstrategie selbst abhängen, aber ich möchte sen. 16984 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Vizepräsidentin Renate Schmidt Wir kommen nun zur Endgültiges Ergebnis Gerster (Mainz), Johannes Gibtner, Horst dritten Beratung Abgegebene Stimmen: 575; Glos, Michael und Schlußabstimmung. davon: Dr. Göhner, Reinhard Göttsching, Martin Ich weise darauf hin, daß nach Art. 79 des Grund- ja: 558 Götz, Peter Dr. Götzer, Wolfgang gesetzes ein Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes nein: 13 die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Gres, Joachim enthalten: 4 Grochtmann, Elisabeth Bundestages erfordert. Das sind mindestens 442 Ab- Gröbl, Wolfgang geordnete. Es ist dazu namentliche Abstimmung ver- Grotz, Claus-Peter langt. Ich eröffne die Abstimmung. Ja Dr. Grünewald, Joachim Frhr. von Hammerstein, Darf ich fragen, ob es noch jemanden hier im Saale CDU/CSU Carl-Detlev gibt, der seine Stimme abzugeben wünscht? — Ja, Harries, Klaus Dr. Ackermann, Else Haschke (Großhennersdorf), Norbert Gansel möchte seine Stimme noch abgeben, Gottfried wunderbar! Adam, Ulrich Dr. Altherr, Walter Franz Haschke (Jena), Udo Hasselfeldt, Gerda (Norbert Gansel [SPD]: Ich komme doch mit Augustin, Anneliese Augustinowitz, Jürgen Haungs, Rainer der Bahn und weiß doch, daß gefragt Austermann, Dietrich Hauser (Esslingen), Otto wird!) Bargfrede, Heinz-Günter Hauser (Rednitzhembach), Hansgeorg Darf ich fragen, ob es noch jemanden gibt, der seine Dr. Bauer, Wolf Baumeister, Brigitte Hedrich, Klaus-Jürgen Stimme abzugeben wünscht? — Ja, gibt es noch Belle, Meinrad Heise, Manfred jemanden? — Könnten die Kollegen und Kolleginnen Dr. Bergmann-Pohl, Sabine Dr. Hellwig, Renate Bierling, Hans-Dirk Dr. h. c. Herkenrath, Adolf vielleicht ein bißchen schneller als sonst zur Urne Dr. Herr, Norbert schreiten! Dr. Blank, Joseph-, Renate Hinsken, Ernst Dr. Blens, Heribert Hintze, Peter Ich sehe, daß niemand mehr seine Stimme abzuge- Hörsken, Heinz-Adolf ben wünscht. Damit schließe ich die Abstimmung und Bleser, Peter Dr. Blüm, Norbe rt Hörster, Joachim bitte die Schriftführer und Schriftführerinnen, mit der Böhm (Melsungen), Wilfried Dr. Hoffacker, Paul Auszählung zu beginnen. Bis zum Vorliegen des Dr. Böhmer, Maria Hollerith, Josef Börnsen (Bönstrup), Wolfgang Dr. Hornhues, Karl-Heinz Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbre- Hornung, Siegfried che ich die Sitzung; erst dann werden wir über das Dr. Bötsch, Wolfgang Bohl, Friedrich Hüppe, Hubert Eisenbahnneuordnungsgesetz abstimmen können. Bohlsen, Wilfried Jäger, Claus Das wird nicht sehr lange dauern, Sie brauchen sich Borchert, Jochen Dr. Jahn (Münster), rich-Adolf also nicht sehr weit zu entfernen. Brähmig, Klaus Fried Breuer, Paul Janovsky, Georg (Unterbrechung von 11.37 Uhr bis 11.44 Brudlewsky, Monika Jeltsch, Karin Dr. Jobst, Dionys Brunnhuber, Georg Uhr) Dr.-Ing. Jork, Rainer Bühler (Bruchsal), Klaus Dr. Jüttner, Egon Büttner (Schönebeck), Jung (Limburg), Michael Hartmut - Junghanns, Ulrich Buwitt, Dankward Dr. Kahl, Harald Vizepräsidentin Renate Schmidt: Meine sehr geehr- Carstens (Emstek), Manfred Kalb, Bartholomäus ten Damen und Herren, die unterbrochene Sitzung ist Carstensen (Nordstrand), Kampeter, Steffen Peter Harry wieder eröffnet. Dr.-Ing. Kansy, Dietmar Clemens, Joachim Karwatzki, Irmgard Ich bitte Sie ganz herzlich, Platz zu nehmen. Dieser Dehnel, Wolfgang Kauder, Volker Wunsch ist, wie immer, ernst gemeint; ihm ist ohne Dempwolf, Gertrud Keller, Peter Deres, Karl schuldhaftes Zögern Folge zu leisten. — Meine Kittelmann, Peter Deß, Albert Damen und Herren! Die Sitzung ist wieder eröffnet. Klein (Bremen), Günter Diemers, Renate Klein (München), Hans Ich bitte Sie, Platz zu nehmen. — Manchmal frage ich Dörflinger, Werner Klinkert, Ulrich mich, was Sie eigentlich täten, wenn sich Ihre Kinder Doss, Hansjürgen Köhler (Hainspitz), so verhalten würden. Dr. Dregger, Alfred Hans-Ulrich Echternach, Jürgen Dr. Köhler (Wolfsburg), (Beifall auf der Zuhörertribüne) Ehlers, Wolfgang Volkmar Eichhorn, Maria Dr. Kohl, Helmut — Beifall von den oberen Rängen ist nicht gestattet; Engelmann, Wolfgang Kolbe, Manfred ich freue mich in diesem Fall aber trotzdem dar- Eppelmann, Rainer Kors, Eva-Maria über. Erler (Waldbrunn), Wolfgang Koschyk, Hartmut Eymer, Anke Kossendey, Thomas Ich darf Ihnen das von den Schriftführern und Falk, Ilse Kraus, Rudolf Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der namentli- Feilcke, Jochen Dr. Krause (Börgerende), chen Abstimmung über den Entwurf zur Änderung Dr. Fell, Karl H. Günther Fischer (Hamburg), Dirk Krause (Dessau), Wolfgang des Grundgesetzes auf den Drucksachen 12/4610, Fockenberg, Winfried Krey, Franz Heinrich 12/5015, 12/6280 und 12/6311 bekanntgeben. Francke (Hamburg), Klaus Kriedner, Arnulf 575 Stimmen wurden abgegeben. Mit Ja haben Frankenhauser, Herbert Dr.-Ing. Krüger, Paul gestimmt: 559. Dr. Friedrich, Gerhard Krziskewitz, Reiner Fritz, Erich G. Lamers, Karl (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der Fuchtel, Hans-Joachim Dr. Lammert, Norbert F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Ganz (St. Wendel), Johannes Lamp, Helmut Dr. Geiger (Darmstadt), Sissy Lattmann, Herbert NEN) Geiger, Michaela Dr. Laufs, Paul Mit Nein haben gestimmt: 12. Enthaltungen gab Geis, Norbert Laumann, Karl-Josef Dr. Geißler, Heiner Lehne, Klaus-Heiner es 4. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16985

Vizepräsidentin Renate Schmidt Dr. Lehr, Ursula Dr. Schäuble, Wolfgang Zierer, Benno Dr. Klejdzinski, Karl-Heinz Lenzer, Christian Scharrenbroich, Heribert Zöller, Wolfgang Klemmer, Siegrun Dr. Lieberoth, Immo Schartz (Trier), Günther Dr. Knaape, Hans-Hinrich Limbach, Editha Schemken, Heinz Körper, Fritz Rudolf Link (Diepholz), Walter Scheu, Gerhard SPD Kolbow, Walter Lintner, Eduard Schmalz, Ulrich Koltzsch, Rolf Dr. Lippold (Offenbach), Schmidbauer, Bernd Adler, Brigitte Koschnick, Hans Klaus W. Schmidt (Fürth), Christian Andres, Gerd Kubatschka, Horst Dr. Lischewski, Manfred Dr.-Ing. Schmidt (Halsbrücke), Bachmaier, Hermann Dr. Kübler, Klaus Löwisch, Sigrun Joachim Barbe, Angelika Kuessner, Hinrich Lohmann (Lüdenscheid), Schmidt (Mülheim), Andreas Becker (Nienberge), Helmuth Dr. Küster, Uwe Wolfgang Schmidt (Spiesen), Trudi Becker-Inglau, Ingrid Kuhlwein, Eckart Louven, Julius Schmitz (Baesweiler), Berger, Hans Lambinus, Uwe Lummer, Heinrich Hans Peter Bernrath, Hans Gottfried Lange, Brigitte Dr. Luther, Michael Dr. Schneider (Nürnberg), Beucher, Friedhelm Julius von Larcher, Detlev Maaß (Wilhelmshaven), Erich Oscar Bock, Thea Leidinger, Robert Männle, Ursula Dr. Schockenhoff, Andreas Dr. Böhme (Unna), Ulrich Dr. Leonhard-Schmid, Elke Magin, Theo Graf von Schönburg Börnsen (Ritterhude), Arne Lörcher, Christa Dr. Mahlo, Dietrich Glauchau, Joachim Brandt-Elsweier, Anni Lohmann (Witten), Klaus Marienfeld, Claire Dr. Scholz, Rupe rt Dr. Brecht, Eberhard Dr. Lucyga, Christine Marschewski, Erwin Frhr. von Schorlemer, Büchler (Hof), Hans Maaß (Herne), Dieter Dr. Mayer (Siegertsbrunn), Reinhard Büchner (Speyer), Peter Marx, Dorle Martin Schulhoff, Wolfgang Dr. von Bülow, Andreas Mascher, Ulrike Meckelburg, Wolfgang Dr. Schulte (Schwäbisch Büttner (Ingolstadt), Hans Matschie, Christoph Meinl, Rudolf Gmünd), Dieter Bulmahn, Edelgard Matthäus-Maier, Ingrid Dr. Meseke, Hedda Schulz (), Gerhard Burchardt, Ursula Mattischeck, Heide Michalk, Maria Schwalbe, Clemens Bury, Hans Martin Mehl, Ulrike Michels, Meinolf Schwarz, Stefan Caspers-Merk, Marion Meißner, Herbert Dr. Mildner, Klaus Dr. Schwarz-Schilling, Catenhusen, Wolf-Michael Dr. Meyer (Ulm), Jürgen Dr. Möller, Franz Christian Conradi, Peter Mosdorf, Siegmar Molnar, Thomas Dr. Schwörer, Hermann Dr. Däubler-Gmelin, Herta Müller (Pleisweiler), Albrecht Müller (Kirchheim), Elmar Seehofer, Horst Daubertshäuser, Klaus Müller (Schweinfurt), Rudolf Müller (Wesseling), Alfons Seesing, Heinrich Dr. Diederich (Berlin), Nils Müller (Völklingen), Jutta Nelle, Engelbert Seibel, Wilfried Diller, Karl Müller (Zittau), Christian Neumann (Bremen), Bernd Seiters, Rudolf Dr. Dobberthien, Marliese Neumann (Bramsche), Volker Niedenthal, Erhard Sikora, Jürgen Dreßler, Rudolf Dr. Niehuis, Edith Nitsch, Johannes Skowron, Werner H. Dr. Eckardt, Peter Dr. Niese, Rolf Nolte, Claudia Sothmann, Bärbel Dr. Ehmke (Bonn), Horst Niggemeier, Horst Dr. Olderog, Rolf Spilker, Karl-Heinz Eich, Ludwig Odendahl, Doris Ost, Friedhelm Spranger, Carl-Dieter Erler, Gernot Oesinghaus, Günter Oswald, Eduard Dr. Sprung, Rudolf Esters, Helmut Oostergetelo, Jan Otto (Erfurt), Norbe rt Steinbach-Hermann, Erika Ewen, Carl Opel, Manfred Dr. Päselt, Gerhard Dr. Stercken, Hans Ferner, Elke Ostertag, Adolf Dr. Paziorek, Peter Dr. Frhr. von Stetten, Fischer (Gräfenhainichen), Dr. Otto, Helga Pesch, Hans-Wilhelm Wolfgang Evelin Palis, Kurt Petzold, Ulrich Stockhausen, Karl Fischer (Homburg), Lothar Paterna, Peter Pfeifer, Anton Dr. Stoltenberg, Gerhard Formanski, Norbert Dr. Penner, Willfried Pfeiffer, Angelika Strube, Hans-Gerd - Fuchs (Köln), Anke Peter (Kassel), Horst Dr. Pfennig, Gero Stübgen, Michael Fuchs (Verl), Katrin Dr. Pfaff, Ma rtin Dr. Pflüger, Friedbert Dr. Süssmuth, Rita Fuhrmann, Arne Pfuhl, Albert Pofalla, Ronald Susset, Egon Gansel, Norbe rt Dr. Pick, Eckhart Dr. Pohler, Hermann Tillmann, Ferdi Gilges, Konrad Purps, Rudolf Priebus, Rosemarie Dr. Töpfer, Klaus Dr. Glotz, Peter von Renesse, Margot Dr. Probst, Albert Dr. Uelhoff, Klaus-Dieter Graf, Günter Rennebach, Renate Dr. Protzner, Bernd Uldall, Gunnar Großmann, Achim Reschke, Otto Pützhofen, Dieter Verhülsdonk, Roswitha Haack (Extertal), Reuter, Bernd Raidel, Hans Vogt (Düren), Wolfgang Karl Hermann Rixe, Günter Dr. Ramsauer, Peter Dr. Voigt (Northeim), Habermann, Michael Schanz, Dieter Rau, Rolf Hans-Peter Hacker, Hans-Joachim Scheffler, Siegfried Rauen, Peter Harald Dr. Vondran, Ruprecht Hämmerle, Gerlinde Schily, Otto Rawe, Wilhelm Dr. Waigel, Theodor Hampel, Manfred Schloten, Dieter Regenspurger, Otto Graf von Waldburg-Zeil, Alois Hanewinckel, Christel Schluckebier, Günter Reichenbach, Klaus Dr. Warnke, Jürgen Dr. Hartenstein, Liesel Schmidbauer (Nürnberg), Dr. Reinartz, Bertold Dr. Warrikoff, Alexander Hasenfratz, Klaus Horst Reinhardt, Erika Werner (Ulm), Herbert Heistermann, Dieter Schmidt (Aachen), Ursula Dr. Riedl (München), Erich Wetzel, Kersten Hiller (Lübeck), Reinhold Schmidt (Nürnberg), Renate Riegert, Klaus Wiechatzek, Gabriele Hilsberg, Stephan Schmidt (Salzgitter), Wilhelm Ringkamp, Werner Dr. Wieczorek (Auerbach), Dr. Holtz, Uwe Schmidt-Zadel, Regina Rode (Wietzen), Helmut Bertram Ibrügger, Lothar Dr. Schmude, Jürgen Rönsch (Wiesbaden), Dr. Wilms, Dorothee Iwersen, Gabriele Dr. Schöfberger, Rudolf Hannelore Wilz, Bernd Jäger, Renate Schöler, Walter Romer, Franz Wimmer (Neuss), Willy Janz, Ilse Schröter, Gisela Dr. Rose, Klaus Dr. Wisniewski, Roswitha Dr. Janzen, Ulrich Schütz, Dietmar Rossmanith, Kurt J. Wissmann, Matthias Jaunich, Horst Dr. Schuster, R. Werner Roth (Gießen), Adolf Dr. Wittmann, Fritz Dr. Jens, Uwe Schwanhold, Ernst Rother, Heinz Wittmann (Tännesberg), Jung (Düsseldorf), Volker Schwanitz, Rolf Dr. Ruck, Christian Simon Jungmann (Wittmoldt), Horst Seidenthal, Bodo Rühe, Volker Wonneberger, Michael Kastner, Susanne Seuster, Lisa Dr. Rüttgers, Jürgen Wülfing, Elke Kastning, Ernst Sielaff, Horst Sauer (Salzgitter), Helmut Würzbach, Peter Kurt Kemper, Hans-Peter Simm, Erika Sauer (Stuttgart), Roland Yzer, Cornelia Kirschner, Klaus Singer, Johannes Schätzle, Ortrun Zeitlmann, Wolfgang Klappert, Marianne Dr. Skarpelis-Sperk, Sigrid 16986 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Vizepräsidentin Renate Schmidt Dr. Sonntag-Wolgast, Cornelie Lühr, Uwe Dr. Fuchs, Ruth Enthalten Sorge, Wieland Dr. Menzel, Bruno Henn, Bernd Dr. Sperling, Dietrich Mischnick, Wolfgang Dr. Heuer, Uwe-Jens BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Steen, Antje-Marie Nolting, Günther Friedrich Dr. Höll, Barbara Stiegler, Ludwig Otto (Frankfurt), Jelpke, Ulla Köppe, Ingrid Dr. Struck, Peter Hans-Joachim Dr. Keller, Dietmar Schenk, Christina Tappe, Joachim Paintner, Johann Lederer, Andrea Schulz (Berlin), Werner Dr. Thalheim, Gerald Peters, Lisa Dr. Seifert , Ilja Dr. Ullmann, , Wolfgang Dr. Pohl, Eva Titze-Stecher, Uta Richter (Bremerhaven), Toetemeyer, Hans-Günther Manfred Der Gesetzentwurf ist mit der erforderlichen Zwei- Urbaniak, Hans-Eberhard Rind, Hermann drittelmehrheit angenommen. Vergin, Siegfried Dr. Röhl, Klaus Dr. Vogel, Hans-Jochen Schäfer (Mainz), Helmut Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstim- Wagner, Hans Georg Schmalz-Jacobsen, Cornelia mung über die von den Fraktionen der CDU/CSU und Waltemathe, Ernst Schmidt (Dresden), Arno F.D.P. sowie der Bundesregierung eingebrachten Ent- Walter (Cochem), Ralf Dr. Schmieder, Jürgen würfe eines Eisenbahnneuordnungsgesetzes auf den Walther (Zierenberg), Rudi Dr. Schnittler, Christoph Wartenberg (Berlin), Gerd Schuster, Hans Drucksachen 12/4609 neu, 12/5014 und 12/6269 Nr. 1. Dr. Wegner, Konstanze Dr. Schwaetzer, Irmgard Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt, die Gesetzent- Weiermann, Wolfgang Sehn, Marita Weiler, Barbara Seiler-Albring, Ursula würfe der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. sowie Weis (Stendal), Reinhard Dr. Semper, Sigrid der Bundesregierung zusammenzuführen und in der Weisheit, Matthias Dr. Solms, Hermann Otto Ausschußfassung anzunehmen. Weißgerber, Gunter Dr. Starnick, Jürgen Welt, Jochen Thiele, Carl-Ludwig Es liegen zwei Änderungsanträge der Fraktionen Dr. Wernitz, Axel Timm, Jürgen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. auf den Drucksachen Wester, Hildegard Türk, Jürgen 12/6286 und 12/6312 vor, über die wir zuerst abstim- Westrich, Lydia Walz, Ingrid men. Dr. Wetzel, Margrit Wolfgramm (Göttingen), Weyel, Gudrun Torsten Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksa- Dr. Wieczorek, Norbert Würfel, Uta Wieczorek (Duisburg), Helmut che 12/6286? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltun- Zurheide, Burkhard gen? — Dann ist dieser Änderungsantrag auf Druck- Wiefelspütz, Dieter Zywietz, Werner Wimmer (Neuötting), sache 12/6286 einstimmig bei wenigen Stimmenthal- Hermann tungen angenommen. Dr. de With, Hans Wittich, Berthold Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksa- Wohlleben, Verena PDS/Linke Liste che 12/6312 mit der vom Berichterstatter vorgetrage- Wolf, Hanna nen Berichtigung? — Gegenstimmen? — Stimment- Zapf, Uta Philipp, Ingeborg Dr. Zöpel, Christoph haltungen? — Dann ist dieser Änderungsantrag auf Drucksache 12/6312 ebenfalls einstimmig bei weni- gen Stimmenthaltungen angenommen. F.D.P. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Albowitz, Ina Dr. Feige, Klaus-Dieter Ausschußfassung mit den soeben beschlossenen Dr. Babel, Gisela Poppe, Gerd Änderungen zustimmen wollen, um das Handzei- Baum, Gerhart Rudolf Weiß (Berlin), Konrad chen. — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Beckmann, Klaus Wollenberger, Vera Dr. Blunk (Lübeck), Michaela Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung Bredehorn, Günther bei zwei Gegenstimmen und wenigen Enthaltungen Cronenberg (Arnsberg), angenommen. Dieter-Julius Eimer (Fürth), Norbert Fraktionslos Interfraktionell ist vereinbart, trotz der in zweiter Engelhard, Hans A. Beratung angenommenen Änderungsanträge unmit- Dr. Briefs, Ulrich van Essen, Jörg telbar in die dritte Beratung einzutreten. Sind Sie Friedhoff, Paul K. Dr. Krause (Bonese), Funke, Rainer Rudolf Karl damit einverstanden? — Dies ist der Fall. Dann ist das Dr. Funke-Schmitt-Rink, Lowack, Ortwin mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen. Margret Gallus, Georg Wir kommen damit zur Ganschow, Jörg dritten Beratung Genscher, Hans-Diet rich und Schlußabstimmung. Gries, Ekkehard Grünbeck, Josef Nein Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim- Grüner, Martin men wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? Dr. Guttmacher, Karlheinz CDU/CSU — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Gesetzent- Hansen, Dirk wurf in dritter Beratung angenommen, und zwar bei Heinrich, Ulrich Schell, Manfred Dr. Hitschler, Walter zwei Gegenstimmen und einer Stimmenthaltung. Homburger, Birgit Unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung auf Druck- Dr. Hoth, Sigrid SPD Dr. Hoyer, Werner sache 12/6269 empfiehlt der Ausschuß für Verkehr die Irmer, Ulrich Wallow, Hans Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Kleinert (Hannover), Detlef Wettig-Danielmeier, Inge Beschlußempfehlung? — Gegenstimmen? — Stimm- Kohn, Roland enthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung Dr. Kolb, Heinrich L. einstimmig bei zwei Stimmenthaltungen angenom- Koppelin, Jürgen PDS/Linke Liste Dr.-Ing. Laermann, Karl-Hans men. Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Enkelmann, Dagmar Sabine Dr. Fischer, Ursula Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent- schließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16987

Vizepräsidentin Renate Schmidt und F.D.P. auf Drucksache 12/6313. Wer stimmt für ordnung am 26. März 1953 von den Abgeordneten diesen Entschließungsantrag? — Gegenprobe! — aller demokratischen Parteien im Deutschen Bundes- Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Entschlie- tag verabschiedet. Damit wurde ein Zustand der ßungsantrag ebenfalls einstimmig bei wenigen Ent- Rechtsunsicherheit und der Rechtszersplitterung be- haltungen angenommen. endet und endlich wieder eine einheitliche Grundlage Wir kommen damit zum Tagesordnungspunkt 5: für das Handwerk geschaffen. Vorangegangen waren damals jahrelange Beratungen und 53 Sitzungen der Zweite und dritte Beratung des von den Frak- zuständigen Bundestagsausschüsse unter Leitung von tionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. einge- Richard Stücklen, unserem ehemaligen Bundestags- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände präsidenten, den man zu Recht als „Vater der H and- rung der Handwerksordnung, anderer hand- werksordnung " bezeichnet. werksrechtlicher Vorschriften und des Berufs- bildungsgesetzes 1965 gab es die letzte Nove lle zu diesem Gesetz. — Drucksache 12/5918 — Meine Damen und Herren, seit dieser Zeit hat sich die wirtschaftliche Realität in Deutschl and geändert. Die (Erste Beratung 182. Sitzung) technischen und unternehmerischen Anforderungen Beschlußempfehlung und Be richt des Aus- an den Handwerksmeister, aber auch die Wettbe- schusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) werbssituation haben sich grundlegend gewandelt. Es — Drucksache 12/6303 — galt deshalb, für diesen bedeutenden Wirtschafts- zweig mit ca. fünf Millionen Beschäftigten und über Berichterstattung: 750 000 Unternehmen das Gesetz so zu novellieren, Abgeordneter Ernst Hinsken daß es den Herausforderungen von Gegenwart und Dazu liegt ein Änderungsantrag des Abgeordneten Zukunft gewachsen ist. Werner Schulz (Berlin) vor. (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die neten der F.D.P.) Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so Übrigens: Das Handwerk ist ein Wirtschaftszweig, beschlossen. in dem nicht nur Qualitäts- und Meisterarbeit erbracht Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem wird, sondern in dem auch das Verhältnis zwischen dem Kollegen Ernst Hinsken das Wort. dem Arbeitgeber einerseits und den Arbeitnehmern andererseits im großen und ganzen stimmt. Beide (Unruhe) Seiten sind sich bewußt, daß sie in einem Boot sitzen, Hier gilt wieder genau dasselbe: Diejenigen, die und ergänzen sich meistens gegenseitig. anderes zu tun haben, bitte ich, möglichst schnell den Saal zu verlassen, und die anderen bitte ich Platz zu (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nehmen und dem Redner bitte zuzuhören. der F.D.P.) (Anhaltende Unruhe) Ich kann das insbesondere auf meinen Bet rieb bezo- gen sagen. Darf ich bitten, daß diejenigen, die gerade etwas - anderes zu tun haben, den Saal verlassen und die Zudem ist das Handwerk ein Berufszweig, der sich anderen sich bitte hinsetzen. auch in der momentanen rezessionalen Phase weitge- hend krisenfest zeigt. Leider muß aber festgestellt werden, daß oftmals Fachkräfte fehlen. Deshalb ist es Ernst Hinsken (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine für mich besonders wichtig, die Forderung aufzustel- lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich len, auch das Bildungssystem zu andern. Denn was zunächst dafür bedanken, daß bei dem wichtigen nützt es, Arbeit zu haben, wenn man diese nicht Thema der zweiten und dritten Lesung der Hand- erledigen kann, weil Fachkräfte fehlen! werksordnung ein störungsfreier Ablauf weiterhin gewährleistet ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Meine Damen und Herren: Ende gut, alles gut! Albert Pfuhl [SPD]) Diese Überschrift möchte ich über die Handwerksno- Wie sagte deshalb einmal der Präsident des Deut- velle setzen. schen Handwerks, Heribert Späth: „Wir brauchen (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Die Hand- mehr Handwerker statt Mundwerker." werker brauchen nicht nur gute Sprüche!) (Beifall bei der CDU/CSU) Nach monatelangen, viele Stunden umfassenden Ver- handlungen, zu denen Spitzenvertreter des Hand- Ich glaube, dieser Satz ist auch in der heutigen Zeit werks, des DGB, des Kolpingwerkes und des Wirt- von Gültigkeit. schaftsministeriums hinzugezogen wurden, beraten Unbestritten: Oftmals gibt es auch Verärgerung wir heute abschließend die Novellierung der Hand- über Handwerker, insbesondere dann, wenn der werksordnung. Mit dieser zweiten und dritten Lesung Handwerker nicht immer gleich da ist, setzen wir einen weiteren Meilenstein zur Fortent- wicklung des Handwerksrechts. (Albert Pfuhl [SPD]: Wenn er gebraucht wird!) Ich meine, daß es auch heute angebracht ist, kurz auf die Geschichte der Handwerksordnung in der wenn er benötigt wird. In anderen Wirtschaftsberei Bundesrepublik einzugehen. Acht Jahre nach dem chen ist das nicht so. Ein Beispiel: Niemand regt sich Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Handwerks- darüber auf, beim Kauf eines Autos z. B. eine Lieferzeit 16988 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Ernst Hinsken von einem halben Jahr in Kauf zu nehmen. Nur beim Aber auch den tüchtigen Mitarbeitern der Fraktio- Handwerk hat man das Verständnis oftmals nicht. nen ist besonders zu danken. (Dr. Dionys Jobst [CDU/CSU]: Der hat immer (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) da zu sein!) Für sie galt in den letzten Monaten wahrlich nicht die 38 1 /2-Stunden-Woche. Sie brachten zum Teil das Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, von einem Doppelte der Zeit mit ein, so daß wir gute Zuarbeit Handwerksmeister wird heute viel verlangt. Er muß bekamen, um dieses Gesetzeswerk vorlegen zu kön- etwas vom Marketing verstehen, von Personalfüh- nen. Besonders hervorzuheben ist aber auch, daß sich rung, und wenn er im grenznahen Bereich tätig ist, der Parlamentarische Staatssekretär im Bundeswirt- dann soll er möglichst auch noch Sprachen beherr- schaftsministerium Dr. Kolb an fast allen Sitzungen schen, sich im Vertragsrecht auskennen und von beteiligt hat. Betriebswirtschaft etwas verstehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. (Claus Jäger [CDU/CSU]: Steuerrecht!) sowie des Abg. Albert Pfuhl [SPD]) Das ist eine große Bandbreite, die andererseits den Somit war immer eine gute Verbindung zu dem Handwerksberuf sehr schön macht. Das möchte ich als Wirtschaftsministerium und den dort zuständigen Bundestagsabgeordneter, der als praktizierender Beamten hergestellt und gewährleistet. Handwerksmeister tätig ist, ausdrücklich feststellen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, was sind die ausschlaggebenden wichtigen Punkte dieser Lassen Sie mich aber auch noch generell feststellen: Novelle? — Die Erweiterung des Handlungs- und Wir als Gesetzgeber sind verpflichtet: erstens die viel Entwicklungsrahmens für das Handwerksunterneh- zu hohe Bürokratiebelastung, die insbesondere das men wird durch folgende Regelungen erreicht: Der Handwerk bedrückt, abzubauen; zweitens die Steuer- Handwerksmeister darf bei der Ausführung eines politik weiterhin so auszurichten, daß sie insbeson- konkreten Auftrages Arbeiten in anderen Handwer- dere auch dem Mittelstand dient; drittens ein bundes- ken , die das Leistungsangebot des eigenen Hand- weites Existenzgründungsprogramm bald wieder auf- werks wirtschaftlich ergänzen, in Zukunft mit ausfüh- zulegen, damit die Bereitschaft, in die Selbständigkeit ren. So darf künftig z. B. der Tischlermeister, der einen zu gehen, durch kleine finanzielle Anreize seitens des Stuhl herstellt, diesen auch polstern, und der Elektro- Staates gefördert wird. meister, der seine Leitungen verlegt, darf nach dieser (Beifall des Abg. Albert Pfuhl [SPD]) neuen Vorschrift kleinere Fliesenarbeiten mit erledi- gen, z. B. wenn Fliesen beschädigt wurden. — Kollege Pfuhl, darin sind wir uns ja einig. Erleichtert wird auch die Möglichkeit des Handwer- Nun zum eigentlichen Thema des heutigen Tages, kers, seinen Betrieb zu erweitern. Erstens wird die zur Verabschiedung der Handwerksnovelle. Haupt- Zahl der verwandten Handwerke, die der H and- anliegen der Reform ist es, durch verbesserte Rah- werksmeister automatisch immer mit ausüben darf, menbedingungen die wirtschaftliche Entwicklungsfä- erweitert. Zweitens darf der Handwerksmeister jetzt higkeit von Handwerksunternehmen zu verbessern einen Meister aus einem anderen Handwerk als und auf diese Weise neue Impulse für wirtschaftliches Betriebsleiter einstellen und wird dann mit diesem Wachstum zu geben. Mit dem Ergebnis, das erst nach anderen Handwerk in die Handwerksrolle eingetra- sehr schwierigen und langwierigen Verhandlungen gen. Und drittens erhält ein Handwerksmeister die gefunden werden konnte, kann man, so meine ich, Ausübungsberechtigung für ein anderes Handwerk zufrieden sein. oder Teile eines anderen Handwerks der Anlage A, sofern er Kenntnisse und Fertigkeiten diesbezüglich Meine Damen und Herren, wenn es alleine nach nachweist. meinen Parteifreunden und mir gegangen wäre, Damit bin ich bei einem weiteren wesentlichen wären bestimmt andere Akzente gesetzt worden. Das Punkt, dem großen Befähigungsnachweis. Die Mei- Ergebnis, das jetzt auf dem Tisch liegt, ist ein Kom- sterprüfung als Voraussetzung für die Eintragung in promiß, der unter den drei großen Fraktionen des die Handwerksrolle wird durch diese Novelle nicht Bundestages erarbeitet wurde. angetastet. An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Kollegen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) herzlich für die konstruktive Zusammenarbeit bedan- Das war ein besonderer Wunsch der vielen Handwer- ken: bei den Mitgliedern der eingesetzten Arbeits- ker bundesweit. Bei allen beteiligten Fraktionen gruppe, wie dem Vorsitzenden des Wirtschaftsaus- besteht die Überzeugung, daß ein Aufweichen des schusses, Herrn Ost, sowie dem wirtschaftspolitischen großen Befähigungsnachweises, der Wettbewerb un- Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Rainer Haungs, ter den Handwerkern auf hohem Niveau garantiert, und Dr. Protzner aus dieser Fraktion, bei Herrn nicht in Frage kommt, nicht zuletzt auch deshalb, weil Kollegen Pfuhl, Professor Dr. Jens und dem Kollegen sonst unser duales Berufsausbildungssystem, um das Schwanhold von der SPD-Fraktion sowie bei Herrn wir von der ganzen Welt beneidet werden, in Frage Dr. Hitschler und Herrn Grünbeck von der F.D.P.- gestellt wäre. Fraktion. Sie alle haben mitgearbeitet, ihr Bestes gegeben und darum gerungen, ihre Meinung nicht Meine Damen und Herren, wir haben deswegen nur einzubringen, sondern sie auch umzusetzen. auch das von vielen vorgeschlagene Ersitzen des Meistertitels nach zehn oder fünfzehnjähriger Gesel- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) lentätigkeit abgelehnt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16989

Ernst Hinsken Beibehalten wurde das sogenannnte Inhaberprin- Ich spreche dies bewußt im Rahmen dieser Rede an, zip, nach dem der Inhaber eines Handwerkerbetriebs weil ich meine, daß hier dringender Handlungsbedarf selbst den großen Befähigungsnachweis haben gegeben ist. muß. Bei der Anlage B haben wir in etwa das aufgenom- Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Öffnung der men, was uns hier von den Spitzen des deutschen Handwerksordnung gegenüber den Anforderungen Handwerks an die Hand gegeben wurde, was zwi- des europäischen Binnenmarkts. Den erweiterten schen DIHT einerseits und Handwerk andererseits Möglichkeiten der Mobilität von Arbeitnehmern ausgehandelt wurde. innerhalb des EG-Binnenmarktes wird dadurch Rech- Meine Damen und Herren, es gäbe hierzu noch viel nung getragen, daß ausländische Bildungsabschlüsse zu sagen. Meine Redezeit ist leider abgelaufen. Ich oder Zeiten der Berufstätigkeit bei der Gesellenprü- möchte mich nochmals bei allen Kollegen, die mitge- fung ebenso wie bei der Meisterprüfung berücksich- arbeitet haben, herzlich bedanken und hoffe, daß tigt werden. diese Handwerksnovelle einen l angen, langen Mit längeren Geburtswehen war die Frage der Bestand, vielleicht über das Jahr 2000 hinaus, haben datenschutzrechtlichen Regelungen verbunden. In möge. der neuen Handwerksordnung muß die Frage, welche Herzlichen D ank für die Aufmerksamkeit. Daten bei den Handwerkskammern gespeichert wer- (Beifall bei der CDU/CSU — Dr.-Ing. Dietmar den können und in welchem Umfang öffentliche und Kansy [CDU/CSU]: Sehr gut! Eine der besten nichtöffentliche Stellen diese Daten abrufen können Reden, die hier gehalten wurden!) bzw. wer Auskunft aus der Handwerksrolle erhält, ebenfalls geregelt werden. Wir haben das getan. Die Vorschriften wurden zwischen den Datenschutzbe- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- auftragten des Bundes und der Länder in langwieri- lege Albert Pfuhl das Wort. gen Verhandlungen beraten. Im Einvernehmen mit ZDH und DGB wurde auch Albert Pfuhl (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen die Mitgliedschaft in der Handwerkskammer neu und Herren! Liebe Kollegen! M an mag es für eine geregelt. Künftig sollen auch Arbeitnehmer in Hand- geschickte Regie oder auch für Zufall halten, daß wir werksbetrieben mit einer abgeschlossenen Berufsaus- nach der eben beendeten ausführlichen Debatte über bildung, die nicht handwerklich ist, zu der Hand- die Bahnreform ein zweites Gesetzesvorhaben disku- werkskammer gehören. Damit werden andere Arbeit- tieren, das von allen großen Fraktionen hier im Hause nehmer mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung gemeinsam getragen wird. Wenn die Not am größten den Handwerksgesellen gleichgestellt. Das war ein ist und die Notwendigkeit besteht, sollten wir zusam- besonderer Wunsch des DGB, dem wir Rechnung menhalten und diese Fragen, wenn wir sie ausführlich getragen haben. diskutiert haben, dann auch lösen. Nicht geändert wurde die Anlage A, also die Liste (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der der Handwerksberufe. Dieses Thema wollen wir zu F.D.P.) einem späteren Zeitpunkt aufgreifen. - Der von der SPD, der CDU/CSU und F.D.P. einge- Übrigens gibt es eine ganze Reihe von Vorschlägen, brachte Gesetzentwurf zeigt, daß es bei gutem Willen die auf die Zusammenfassung, Trennung oder Umbe- möglich ist, über Parteigrenzen hinweg sachorien- nennung von Handwerken der Anlage A abzielen. tierte Lösungen zu erarbeiten. Ich möchte an dieser Diese Vorschläge, die durch Rechtsverordnung umge- Stelle ausdrücklich hervorheben, daß der gemeinsam setzt werden können, wurden seitens des Zentralver- vom Zentralverband des Handwerks, vom Kolping bandes des Deutschen Handwerks dem Bundesmini- werk und vom Deutschen Gewerkschaftsbund erar- sterium für Wirtschaft schon vor etwa zwei Jahren beitete Lösungsvorschlag, der Grundlage unserer Dis- vorgelegt. kussion war und ist, eine wesentliche Voraussetzung Geschehen, Herr Staatssekretär Dr. Kolb, ist aller- auch für diesen Gesetzentwurf war. dings bislang nichts. Ich sehe hier dringenden Hand- Die Tatsache, daß es sich um einen Gesetzentwurf lungsbedarf. Deshalb fordere ich Sie auf, umgehend der Fraktionen handelt, verdeutlicht allerdings auch, eine Rechtsverordnung gemäß § 1 Abs. 3 der Hand- daß die Bundesregierung tief und fest geschlafen hat. werksordnung zu erlassen und dabei alle Möglichkei- Ein Kollege von mir hat mir letztens gesagt, minde- ten einer Streichung, Zusammenfassung und Tren- stens 10, 15 Jahre habe die Bundesregierung geschla- nung sowie Neubezeichnung von Handwerken aus- fen. Das betrifft also alle, die in diesen 15 Jahren hier zuschöpfen. auf dieser B ank gesessen haben. Anders ausgedrückt: (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wir mußten sie zum Jagen tragen. (Beifall bei der SPD) Die Bundesregierung hat von sich aus nichts unter- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege, darf nommen, um das Gesetz zur Ordnung des Handwerks ich Sie bitten, zum Ende zu kommen. Sie sind schon zu novellieren. Dabei war dringender Handlungsbe- einige Minuten über Ihrer Redezeit. darf gegeben. Herr Kollege Hinsken hat dieses hier ausführlich dargelegt. Die letzte umfassende Novellierung aus dem Jahre Ernst Hinsken (CDU/CSU): Ich bin sofort beim 1965 war der letzte Teil, den der Bundestag für das Schluß. Handwerk geleistet hat. Seit dieser Zeit ist nicht mehr 16990 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Albert Pfuhl viel geschehen. Aber seit dieser Zeit haben sich die weis, der Nachweis auch der Kenntnisse und Fertig- technischen und wirtschaft lichen Rahmenbedingun- keiten in neuen Tätigkeitsbereichen. gen erheblich geändert, so daß entsprechende Anpas- Um zu zeigen, worum es geht, möchte ich es etwas sungen notwendig wurden. Dringend erforderlich war trocken und abstrakt darlegen. Wenn jemand seine vor allem eine Verbesserung der bisher völlig unzu- Wände anstreichen lassen will und der Malermeister länglichen Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmer in feststellt, daß der Putz bröckelt, mußte bisher der den Organen der Handwerkskammern. Deswegen Maurer beauftragt werden. Künftig kann der Maler- auch die gemeinsame Initiative der Fraktionen. Der meister diese Aufgaben mit erledigen. War bisher für Gesetzentwurf setzt hier an. Installationen beispielsweise eines Heißwassergerä- Die Novellierungsvorschläge zielen im wesentli- tes im Badezimmer nach dem Gesetz eine ganze chen auf eine flexiblere Handhabung der mit dem Heerschar von Handwerkern — Elektriker, Klempner, großen Befähigungsnachweis verbundenen Berufs- Installateure, Fließenleger — zuständig, so wird dies ausbildung und Ausübung im Handwerk und auf die zukünftig von einem einzigen Handwerker erledigt Stärkung der Rechte der Arbeitnehmer in der Selbst- werden können. verwaltung ab. Anders und deutlicher ausgedrückt: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir wollen, daß das Angebot aus einer Hand erleich- tert und erweitert wird. Dies liegt sowohl im Interesse Die vorgesehen Erleichterungen bei der Berufsaus- der Handwerker, die ihre Geschäftsfelder sinnvoll übung knüpfen im Kern an dem großen Befähigungs- arrondieren können, als auch im Interesse der Kun- nachweis an. Die Erweiterungen der handwerklichen den. Tätigkeit bleibt an die Person des Meisters geknüpft, der mit seiner Meisterprüfung oder einer ihr gleich- Die bisherigen Bestimmungen der Handwerksord- wertigen Prüfung nachgewiesen hat, daß er die Qua- nung haben die Tätigkeit eines Handwerksmeisters lifikation, Kenntnisse und Erfahrungen einer h and- relativ eng auf sein spezielles Gewerk, in dem er den werklichen Berufsausbildung besitzt. Dieses Institut großen Befähigungsnachweis erworben hat, be- des großen Befähigungsnachweises wollen wir im grenzt. Diese Beschränkungen sind nicht mehr zeitge- Handwerksrecht und in der Handwerkswirtschaft mäß und auch wirtschaftlich und verbraucherpolitisch erhalten. Bei dem Ausarbeiten der Rede bin ich auf unvernünftig. Sie behindern die wirtschaftliche Ent- einen Ausspruch gestoßen, den ich Ihnen nicht vor- faltungsmöglichkeit im Handwerk, und sie sind für enthalten möchte. Er lautet: den Kunden unzumutbar, der eine ganze Armada von Die Privilegierten, die drinnen sitzen, wollen verschiedenen Handwerkern beauftragen mußte, um anderen, die reinwollen, das Leben sauer simple Arbeiten miteinander ausführen zu lassen. machen. Man möchte sich abschirmen, Zäune um Mit den neuen Gesetzesbestimmungen kommt Berufe ziehen, man möchte abwehren, m an auch frischer Wind in die Handwerkswirtschaft. In möchte schützen, Positionen mit künstlichen Mit- teln bewahren. Zukunft wird es möglich sein, daß H andwerker, die bereits durch die Ablegung einer Meisterprüfung die Meine Damen und Herren, dreimal dürfen Sie raten, Befähigung in ihrem Handwerk nachgewiesen haben, von wem dieser Spruch stammt: von Ludwig daß sie, wie es traditionsgemäß heißt, meisterliche Erhard. Kenntnisse und Fähigkeiten besitzen, unter bestimm- So haben wir uns die Novellierung des Handwerks- ten Voraussetzungen auch in anderen Handwerken rechts nicht vorgestellt. Im Gegenteil: Wir wollen hier Arbeiten ausführen zu können. Dies gilt z. B. auch im auflockern, wir wollen zusammenfassen, wir wollen Rahmen eines konkreten Auftrages, in dem künftig die Möglichkeit geben, daß eine Liberalisierung auch ein Handwerksmeister auch Arbeiten eines anderen in diesem Bereich stattfindet, aber unter der Voraus- Handwerks ausführen kann, wenn sie mit seinem setzung, daß der große Befähigungsnachweis das eigenen Leistungsangebot technisch und fachlich Recht bietet, diese Handwerkstätigkeiten auch auszu- zusammenhängen und es auch wirtschaftlich ergän- üben. zen. Der große Befähigungsnachweis ist nicht, wie viele Von verschiedenen Seiten ist im Vorfeld der Bera- polemisch meinen, ein Relikt aus der Zunftordnung tungen im Hinblick auf diese Auflockerungen einge- des Mittelalters — dieses wollen wir auch in Zukunft wandt worden, sie würden einseitig zu einer Begün- nicht —, sondern eine wesentliche Ursache für den stigung des Handwerks beitragen. So könne in hohen Ausbildungs- und Fortbildungsstand im Hand- Zukunft etwa ein Maurermeister problemlos das werk. Dies kommt auch der gesamten Wirtschaft Geigenbauerhandwerk ausüben, wenn er über die zugute. Insofern ist die Meisterprüfung auch ein erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten verfügt. Gütesiegel unserer weltweit als vorbildlich anerkann- Dies sei aber einem Nichthandwerker wie einem ten Ausbildung. Der Kollege Hinsken hat das schon Musikalienhändler ohne Meisterprüfung nicht mög- deutlich gemacht. lich. Ich halte dieses Beispiel, vornehm ausgedrückt, für sehr subtil oder, plastisch ausgedrückt, an den (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Haaren herbeigezogen; denn nach aller Lebenserfah- F.D.P.) rung wird sich ein Handwerker ganz überwiegend nur Meine Damen und Herren, wir haben in der Bun- in einem solchen anderen Handwerk betätigen, in desrepublik Gewerbefreiheit und das verfassungs- dem er Tätigkeiten ausübt, die mit seiner Haupttätig- rechtlich verbriefte Recht der freien Berufswahl. Mit keit artverwandt sind. In solchen Fällen reicht, fußend dem großen Befähigungsnachweis, den wir für erfor- auf dem bereits abgelegten großen Befähigungsnach- derlich halten, werden diese Freiheiten einge- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16991

Albert Pfuhl schränkt, indem die Aufnahme als selbständiger Im übrigen darf ich darauf hinweisen, daß innerhalb Handwerker vom Besitz beruflicher Fähigkeiten und der betroffenen Berufszweige selbst völlig unter- Fertigkeiten abhängig gemacht wird. Das Bundesver- schiedliche Positionen im Hinblick auf die Aufnahme fassungsgericht hat diese subjektive Zulassungsvor- in die Anlage A bestehen. Uns liegen jedenfalls aussetzung in einer Grundsatzentscheidung schon unzählige Eingaben vor — vielen Abgeordneten des aus dem Jahre 1961 grundsätzlich anerkannt. Es hat ganzen Hauses sind sie zugestellt worden —, in denen jedoch auch deutlich gemacht, daß subjektive Zulas- sich Betroffene sowohl für als auch gegen eine Auf- sungsvoraussetzungen nur zum Schutze eines wichti- nahme in die Anlage A aussprechen. Ganz zu schwei- gen Gemeinschaftsgutes gerechtfertigt sind. gen davon, daß ein bedeutender und seriöser Dach- verband innerhalb weniger Tage zwei völlig gegen- Ich will hier nicht im einzelnen auf die Gründe sätzliche Stellungnahmen zu dieser Frage abgegeben eingehen, die vom Bundesverfassungsgericht für die Berechtigung des großen Befähigungsnachweises und zugestellt hat. aufgeführt wurden. Wir müssen uns aber im klaren Meine Damen und Herren, Sie sehen also: Hier gibt sein, daß wir uns bei der vorliegenden Novellierung es erheblichen Klärungsbedarf, und zwar nicht zuletzt der Handwerksordnung in dem sehr fragilen Span- auch im Hinblick auf die von mir eingangs angespro- nungsfeld zwischen freier Berufswahl und Berufszu- chene verfassungsrechtliche Bewertung. Wir werden lassungsbeschränkungen bewegen und daß wir sehr nach unseren Vorstellungen, die wir auch in die genau darauf achten müssen, daß verfassungsrechtli- Begründung dieser Novelle aufgenommen haben, che Grenzen zu beachten sind. Ich glaube, das ist uns den Bundesminister für Wirtschaft bitten, uns so auch bei dieser Vorlage, die wir heute hier verab- schnell wie möglich eine fundierte Vorlage zu schieden wollen, gemeinsam gelungen. machen, die entsprechend den Versprechungen den einzelnen Verbänden gegenüber die Grundlage für (Beifall bei der SPD) unsere Arbeit und für eine baldige Verabschiedung Die Frage wird demnächst auch bei dem schon bilden kann. angesprochenen Thema Anhang A eine Rolle spielen. Nach meiner Auffassung kann es dabei nicht allein Im Zuge der vorbereitenden Beratung der vorliegen- darum gehen, über die Aufnahme neuer Gewerbe in den Novelle ist von einer Reihe von Berufszweigen die die Anlage A zu sprechen. Wenn wir schon dabei sind, Forderung erhoben worden, in die Anlage A der sollte die Anlage A grundlegend überarbeitet werden; Handwerksordnung aufgenommen zu werden. d. h. wir müssen dann auch über Straffung und Zum besseren Verständnis sage ich hier noch ein- Zusammenfassung von Handwerken sprechen, mal: In der Anlage A der Handwerksordnung sind alle (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der diejenigen Berufe namentlich aufgeführt, die als Voll- F.D.P.) handwerk gelten und für die die Bestimmungen der Handwerksordnung Anwendung finden. Eine Erwei- um überflüssige Regulierung abzubauen und Hand- terung dieser Anlage ist nur auf gesetzlichem Wege werke mit einem breiten Leistungsangebot zu schaf- möglich. So soll es auch in Zukunft bleiben. fen. (Zustimmung bei der SPD) Eine Innung, die in den letzten fünf Jahren nicht mehr ausgebildet hat, die sich nur noch aus wenigen Die Aufnahme neuer Gewerbe in die Anlage A wäre zusammensetzt, hat ihre Daseinsberechtigung als im Unterschied zu der bisherigen Situation in den selbständige Innung verloren. M an muß sich Gedan- betroffenen Berufszweigen zwangsläufig mit den im ken machen, wie man sie mit anderen Innungen Handwerk vorgesehenen Berufszugangsregelungen zusammenfaßt, damit sie ihrer Aufgabe auch gerecht — wie für Lehrzeit, Meisterprüfung usw. — verbun- werden kann, im dualen System die Ausbildung den. Die mögliche Änderung der Anlage A bedarf durchzuführen. deshalb einer sorgfältigen und seriösen Überprüfung, bei der alle betroffenen und sachverständigen Institu- Meine Damen und Herren, einige wenige Punkte: tionen gehört werden sollten. Dies ist angesichts der Zur Erleichterung führen nach dem Gesetz die Aus- Eilbedürftigkeit unseres Gesetzgebungsverfahrens nahmebewilligungen für den Zugang zum Handwerk, heute nicht möglich gewesen. die Verkürzung der vorgeschriebenen Gesellenzeit bis zur Meisterprüfung, die verfahrenstechnische Ver- Die Eilbedürftigkeit ist nach übereinstimmender besserung bei der Ablegung der Meisterprüfung, z. B. Auffassung aller Fraktionen darin begründet, daß auch die rechtliche Verselbständigung der einzelnen eine Reihe von Handwerkskammern 1994 zu Beginn Prüfungsteile für die Meisterprüfung, und last, but not des Jahres schon die Wahlen zu ihren Gremien least erwähne ich auch die Regelungen über die durchführen müssen. Diese Wahlen sollen schon auf Anerkennung von Meisterprüfungen, gleichwertigen Grund des neuen Gesetzes durchgeführt werden. Die Prüfungen und ausländischen Hochschuldiplomen. neuen Wahlrechtsbestimmungen sollen dabei An- wendung finden. Deswegen bedarf es auch einer In der Begründung zum Gesetzentwurf findet sich Absprache mit dem Bundesrat, dazu u. a. eine Klarstellung, die, denke ich, vor allen Dingen für die neuen Bundesländer Bedeutung hat. (Josef Grünbeck [F.D.P.]: Der heute nicht Die Handwerkskammern in den neuen Ländern sol- vertreten ist!) len nämlich ausdrücklich die Ausbildungsabschlüsse daß er diese Verabschiedung noch in seiner letzten von Meistern der vormaligen volkseigenen Indust rie Sitzung dieses Jahres durchführt. Die Rücksprachen als Voraussetzung für die Eintragung in die H and- bei den einzelnen Ländern haben ergeben, daß der werksrolle beachten. Da hat es in der Vergangenheit Wille dazu auch dort besteht. Schwierigkeiten gegeben, weil sich Meister in den 16992 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Albert Pfuhl sogenannten Genossenschaftsbereichen gegenüber Als letztes möchte ich das sogenannte Gruppen- den Meistern blockierten, die aus sogenannten Kom- wahlrecht erwähnen. Nach dem jetzigen Wahlrecht binaten kamen, diese Aufgaben aber mit der gleichen benötigen die beiden Vizepräsidenten der Kammer, Ausbildung wahrgenommen haben. Dies hat uns hier von denen je einer von den Betriebsinhabern und in der Vergangenheit schon beschäftigt. einer von den Arbeitnehmern gestellt wird, für ihre Wahl 51 %. Bei einer Zweidrittelmehrheit der Meister Ein ganz zentrales Anliegen des Gesetzentwurfs aber in den Kammern — die Arbeitnehmer verfügten betrifft die Stärkung der Position der Arbeitnehmer in nur über ein Drittel — ließ sich im Konfliktfall der den Organen. Meiner Fraktion, der SPD, ist dies Kandidat der Arbeitnehmer von den Arbeitnehmern verständlicherweise ein ganz besonderes Anliegen, allein nicht durchsetzen. Es bedurfte immer der zumal der Deutsche Gewerkschaftsbund seit Jahr- Zustimmung der Meister. Dieses wird in Zukunft zehnten auf Nachbesserung gedrungen hat und es allein Sache der Mehrheit der Arbeitnehmervertreter nunmehr zu einem Konsens zwischen Arbeitgebern, in der Kammer sein, den Vizepräsidenten der Arbeit- Gewerkschaften und dem Kolping-Verein über eine nehmerseite zu benennen. Verbesserung der Mitwirkung innerhalb der Kam- mern und der Innung gekommen ist. Die Arbeiten an dieser Gesetzesvorlage waren kompliziert, wir haben uns manchmal auch gestritten. Ein besonders wichtiger Punkt ist, daß nunmehr der Um so mehr ist es aber zu begrüßen, daß sich die Kreis der Kammerzugehörigen und damit auch der Parteien trotz mancher unterschiedlichen Auffassun- Wahlberechtigten über den Kreis der Meister, Gesel- gen in den Details zu dieser Vorlage gefunden len und Lehrlinge hinaus alle Arbeitnehmer im Hand- haben. werk beinhaltet, die eine abgeschlossene Berufsaus- bildung haben. Denn in der Vergangenheit konnte Dies ist im Hinblick auf die Handwerksordnung z. B. ein Techniker im Installationsbereich, der keine eine gute Tradition, denn sowohl das Gesetz zur Gesellenprüfung, sondern eine Ausbildung z. B. an Ordnung des Handwerks aus dem Jahre 1953 als auch einer Fachhochschule hatte, bei der Auswahl seiner die Novelle aus dem Jahre 1965 haben stets breite Vertreter in den Kammern nicht mitwählen und mit- Mehrheiten gefunden. Ich denke, daß dies auch ein bestimmen. Diese Änderung des Gesetzes war längst Zeichen für die Anerkennung der Bedeutung und überfällig. Sie trägt den strukturellen Veränderungen Leistung des Handwerks ist, das zum zweitgrößten im Handwerk Rechnung. Die alten Vorschriften Wirtschaftsbereich in unserem Lande zählt und des- haben dazu geführt, daß immer mehr Arbeitnehmer sen Qualifikation und Leistungsfähigkeit wir auch des Handwerks auf Grund der Veränderung nicht damit stärken wollen. wählen durften; in der Zukunft ist dies möglich. In diesem Zusammenhang, meine Damen und Her- Ebenfalls von Bedeutung und längst überfällig ist ren, kann ich es mir als Vertreter der Opposition nicht die Streichung des Kriteriums der deutschen Staats- verkneifen, darauf hinzuweisen, daß die Bundesre- angehörigkeit als Voraussetzung für die Mitwirkung gierung bedauerlicherweise die konkreten Pro- in den Organen der Handwerkskammern. Wir haben gramme zur Förderung kleiner und mittlerer Unter- in vielen handwerklichen Berufen ausländische nehmen auch im Handwerk im Laufe der letzten Jahre Arbeitnehmer, die sich mit der gleichen Berufsausbil- in den alten Bundesländern praktisch abgeschafft hat. dung auf Grund des Fehlens der deutschen Staatsan- Kollege Hinsken hat eben schon einiges erwähnt. gehörigkeit nicht an den Kammerwahlen beteiligen Ich erinnere hier beispielsweise an das Eigenkapi- durften, obwohl sie z. B. Gesellenprüfung oder sogar talhilfeprogramm und die verschiedenen Forschungs- Meisterprüfung in einem Handwerk in der Bundesre- förderungsprogramme für kleine und mittlere Unter- publik abgelegt hatten; die dürfen in der Zukunft mitwählen. nehmen. Nicht vergessen sollten wir auch, daß sich die von der Bundesregierung vorgesehene Abschaf- Eine andere wichtige Änderung betrifft die Beibe- fung der sogenannten Aufstiegsfortbildung im Ar- haltung des Wahlrechtes und der Mandate von beitsförderungsprogramm insbesondere für das Arbeitnehmern im Falle kurzfristiger Arbeitslosig- Handwerk nachteilig auswirkt. Diese Streichungen keit. Bisher verlor ein Arbeitnehmer im Handwerk werden dazu führen, daß wir in Zukunft weniger sowohl sein aktives als auch sein passives Wahlrecht Meister und damit im Handwerk auch weniger Exi- als auch sein Mandat mit sofortiger Wirkung im Falle stenzgründer haben. der Arbeitslosigkeit. Diese Bestimmungen werden (Josef Grünbeck [F.D.P.]: Aber nein, der jetzt abgeschafft; damit ist eine alte Forderung auch Andrang ist groß!) unsererseits erfüllt. Wir bedauern, daß die Regierungskoalition nicht Eine deutliche Verbesserung für Arbeitnehmer im bereit war, unseren konkreten Anträgen in den Haus- Handwerk wird auch dadurch erreicht, daß der Frei- haltsberatungen zu folgen und diese bewährte Förde- stellungsanspruch für die Ausübung eines M andats rung fortzuführen und qualitativ auszubauen. präzisiert und eindeutig geregelt ist, so daß hier keine Streitigkeiten mehr zu erfolgen brauchen. (Dr. Walter Hitschler [F.D.P.]: Sie fordern uns sonst immer zum Subventionsabbau auf!) Abgeschafft haben wir auch das antiquierte Wahl- männersystem im Handwerk. Dieser alte Zopf, der die — Verehrtester, wenn Sie dieses Wort Subventionsab- unmittelbare Ausübung des Wahlrechts der Arbeit- bau in die Debatte werfen, dann gibt es Problem- nehmer im Handwerk einschränkte und behinderte, kreise, die viel größer sind und über die wir uns wird abgeschnitten. unterhalten sollten, als diese wirklich gute Förderung, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16993

Albert Pfuhl die wir in der Vergangenheit damit verwirklicht danken, wenn ich auch zwei Dinge richtigstellen haben. muß. (Josef Grünbeck [F.D.P.]: Da machen Sie erst Daß die Parlamentsfraktionen die Initiative für diese recht nicht mit!) Novelle ergriffen haben, verdanken wir unserer Gleichzeitig mit diesem Gesetz zur Novellierung Einigkeit in der Sache von vornherein. Daß wir nicht des Handwerksgesetzes soll auch das Gesetz fiber die gegen die Regierung, sondern mit der Regierung Handwerksstatistiken verabschiedet werden. Auch gearbeitet haben, haben die letzten Wochen und dieser Entwurf ist unstrittig. Er hätte allerdings, wie Monate bewiesen. Ich möchte ausdrücklich dem Wirt- dies gefordert war, bereits einige Jahre vorher vorlie- schaftsminister, seinem Staatssekretär, aber auch gen können. allen Beamten seines Hauses für die konstruktive Mitarbeit bei dieser Novelle herzlich danken. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist leider verhindert worden — von einem, der neben (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne mir sitzt!) ten der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Da — Der kann sich gleich dazu äußern. klatschen aber wenige!) Zu guter Letzt noch ein Wort zum Schornsteinfeger- Das zweite, lieber Herr Kollege Pfuhl: Daß Sie die gesetz. Hier hat es z. T. Irritationen darüber gegeben, finanziellen Einschränkungen beklagt haben, dafür ob dieses Gesetz im Zusammenhang mit der Hand- habe ich durchaus Verständnis. Aber bitte haben Sie werksordnung verabschiedet werden sollte. ebenfalls Verständnis dafür, daß wir im Grunde genommen auf eine konzertierte Aktion zur Sparsam- Wir haben aus den bereits erwähnten Gründen der keit in allen öffentlichen Haushalten angewiesen sind. Eilbedürftigkeit und wegen der sachlich notwendigen Alle wissen, daß wir darauf angewiesen sind. Da kann Klarstellung zu dem Schornsteinfegergesetz, das wir ich nicht immer sagen: Macht es bei anderen, nur bei nicht ausführlich beraten konnten, auch hier eine mir selber bitte nicht. Deshalb stehen wir zu diesem gesonderte Beratung vorgesehen, wobei wir uns alle Haushalt des Bundeswirtschaftsministers. darüber einig waren, daß die soziale Problematik der Bezirksschornsteinfegermeister in den neuen Län- (Beifall bei der F.D.P.) dern so bald wie möglich einer Klärung bedarf und die Meine Damen und Herren, ich habe eine ganz Zuführung in das Versorgungswerk der Schornstein- ernste Bitte vorzutragen. Im Vorfeld haben alle Frak- feger durchgeführt werden sollte. Dies ist bei dem tionen sachlich und mit gegenseitigem Verständnis Einigungsvertrag leider wahrscheinlich vergessen diese Novelle zur Verabschiedung vorbereitet. Im worden. Vorfeld der Verabschiedung dieser Novelle, vor weni- (Josef Grünbeck [F.D.P.]: Nein, nein, da steht gen Tagen, hat ein gewisser Journalist namens Möller es drin!) im Westdeutschen Rundfunk in einem Hörfunkbei- Es ist aber notwendig. trag zu ihr Stellung bezogen. Ich kann nur eines sagen: Wir Liberalen sind ja die letzten, die an der In diesem Zusammenhang müssen wir auch eines Pressefreiheit nagen oder an ihr zweifeln wollen, tun. Wir müssen das Schornsteinfegergesetz derge-- stalt ändern, daß Aufgaben, die die Länder teilweise (Zuruf von der SPD: Na, na, na!) den Bezirksschornsteinfegermeistern schon zugewie- aber es gibt keine Freiheit ohne Verantwortung. Was sen haben, in dem Bundesschornsteinfegergesetz manchmal in der Öffentlichkeit an Verantwortungslo keine rechtliche Handhabung finden. Dies muß sigkeit verbreitet wird, ist nicht mehr zu überbieten. geheilt werden. Deswegen sollten wir uns überlegen, ob wir nicht das Schornsteinfegergesetz als erstes in (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. — Zuruf Angriff nehmen und schnellstens über die Bühne des Abg. Dieter-Julius Cronenberg [Arns bringen, weil es im Zusammenhang mit der Diskus- berg] [F.D.P.]) sion am unproblematischsten ist. Wir haben in allen Fraktionen gemeinsam erfolg- Meine Damen und Herren, ich hoffe, daß wir zu reich gearbeitet. Ich muß Ihnen zwei, drei Kostproben einer guten weiteren Zusammenarbeit im Zusammen- — das trifft uns alle — aus dieser satirischen und in der hang mit der Aufgabe der Lösung der Anhänge A und Sprache fast nicht mehr vertretbaren Sendung vortra- B und des Schornsteinfegergesetzes kommen. Wir gen. Der Herr Journalist sagte, daß der Mann, der werden dann, glaube ich, am Ende sagen können, daß einen Gehilfen anleitet — das betrifft die Bestatter; die wir für das deutsche Handwerk eine Aufgabe gut diesbezüglichen Fragen haben wir mit aller Sorgfalt gelöst haben. vertagt —, vor dem Sarg Falten im ausgelegten Herzlichen Dank. Teppich zu glätten, nichts gelernt haben muß. Ich frage: Was ist das für eine pietätlose Sprache? Die (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Sendung läuft auch noch unter dem Titel „Pietät- F.D.P.) los". Es ist ebenfalls noch die Rede von einer Frau, die als Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat Kosmetikerin ihren Kunden „ an die Pickel geht". Ich der Kollege Josef Grünbeck das Wort. frage: Was ist das für eine vulgäre Sprache? (Dieter-Julius Cronenberg [Arnsberg] [F.D.P.]: Typisch Westdeutscher Rundfunk!) Josef Grünbeck (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte dem Oder zu unserer gemeinsamen Arbeit heißt es: In Kollegen Pfuhl für seine Rede ausdrücklich herzlich Bonn hat sich eine kleine, aber entschlossene Gruppe 16994 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Josef Grünbeck von Parlamentariern gefunden, die dem unwürdigen liegt diese Quote unter 5 %. Das ist die Qualitätsbe- Treiben ein möglichst rasches Ende bereiten wollen. weislast, die wir erbracht haben: Wir haben eine Ihre Forderung: Wer andere Menschen in den Sarg ordentliche Ausbildung, die den jungen Menschen legt, Teppiche verlegt oder Schönheitsmasken auf- einen Einstieg in das Berufsleben gewährleistet und legt, muß Meister sein. es ihnen ermöglicht, eine Perspektive für ihren Berufs- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So etwas ist weg zu finden. Ich glaube, dafür dürfen wir dan- pietätlos!) ken. Ich muß Ihnen ehrlich gestehen: Solche pietätlosen Wir haben gleichzeitig aber auch die Frischluftzu- Dinge sollten wir ebenfalls öffentlich beim Namen fuhr für den qualifizierten Nachwuchs geschaffen und nennen, die Pressefreiheit noch einmal in Schutz der Jugend Perspektiven gegeben. Der Zugang zu nehmen, aber die Presseverantwortungslosigkeit handwerksähnlichen Betrieben wurde erleichtert, nicht widerspruchslos dulden. was auch notwendig ist. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Ich muß eines gestehen, weil wir von Subventionen Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das war ein Jour- geredet haben: Es gibt keinen Berufsstand oder keine nalist des WDR!) Branche in der Bundesrepublik Deutschland, die so Meine Damen und Herren, wir haben die Handwerks- wenig auf Subventionen setzen wie der Mittelstand. ordnung, die ja eine Art Kleiderordnung für das Der Mittelstand in der Bundesrepublik Deutschland Deutsche Handwerk ist, gemeinsam durchgearbeitet erarbeitet 60 % aller Steuern. Er stellt 60 % aller und verabschiedet. Sie war seit 1965 fällig. Es ist eine Arbeitsplätze und 80 % aller Ausbildungsplätze. Die Initiative aller Fraktionen. Es war ein hartes Stück durchschnittliche Wochenarbeitszeit der Meister liegt Arbeit und beweist eigentlich das von meinem Kolle- zwischen 60 und 70 Stunden. Die durchschnittliche gen Hinsken schon zitierte Wort: „Handwerk ist kein Lebensarbeitszeit liegt bei etwa 70 Jahren. Die Hand- Mundwerk, sondern harte Arbeit." Wir haben dem werksmeister haben die kinderreichsten Familien. Rechnung getragen. Trotz traditioneller Strukturen im Was kann man eigentlich von einem Berufsstand wie Handwerk war eine Anpassung fällig. Wir brauchen dem Mittelstand in der Bundesrepublik Deutschland neue Technologien, wir brauchen neue Käuferschich- noch mehr verlangen? ten, wir brauchen neue Märkte, wir brauchen Nach- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne wuchskräfte, wir brauchen Mobilität und Flexibilität. ten der CDU/CSU) Die Novelle ist darauf ausgerichtet, mehr wirtschaftli- che Möglichkeiten durch übergreifende Tätigkeiten Die Kosten für die Bürokratie sind viel zu hoch. zu ermöglichen. Natürlich müssen wir daran denken. Ein Unterneh- Lassen Sie mich auch dazu eine Bemerkung men mit 10 000 Beschäftigten hat dieselben Fragebo- machen. Ich habe sehr viele B riefe aus der Industrie gen für statistische Erhebungen wie ein Bet rieb mit mit der Frage bekommen, warum wir das gemacht zehn Mitarbeitern auszufüllen. Wenn ich das auf die haben. Warum haben wir das gemacht? Meine Kolle- Einzelkosten einer betrieblichen Kostenrechnung gen haben dazu alles das betont, was richtig ist. - umschlage und feststelle, was für den kleinen und Ergänzend darf ich noch einmal bemerken, daß natür- mittleren Unternehmer an kaum noch zu erbringen- lich in den letzten Jahrzehnten die Zahl der General- der Leistung beim Staat abgeliefert wird, muß ich bauunternehmer immer größer geworden ist und sagen, daß es Zeit für uns wird, zur Kostenbereinigung damit der Preis- und Auftragsdruck auf die kleinen und zur Statistikbereinigung in unserem Lande zu Handwerksbetriebe immer größer wurde. Nun hat das kommen. Die Kosten für den einzelnen Mitarbeiter Handwerk selber die Chance, dagegenzusteuern und sind zu hoch. in einem Wettbewerbsprozeß anzutreten. Darüber (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) kann man doch nicht schimpfen; das muß man begrü- ßen. Wettbewerb ist immer positiv für den Bauherrn Die Anlage A haben wir aus rechtlichen Gründen und den Verbraucher. Das haben wir richtig gere- ausgeklammert. Das wurde hier schon wiederholt gelt. betont. Wir werden das sorgfältig prüfen und fordern die Bundesregierung ja auch in einem Antrag auf, (Beifall bei der F.D.P.) qualifizierte Vorschläge zu erarbeiten. Es kommt natürlich auch zu einer Kosteneinsparung durch die von Herrn Pfuhl schon vorgetragene Philo- Typisch für das Handwerk ist: Die Novelle kostet sophie „alles aus einer H and". nichts. Wir haben keine Kosten; wir erhöhen nur die Effizienz. Und das ist ja nicht bei jedem Gesetz, das wir Wir haben uns ebenfalls dem Nachwuchs gewid- hier einbringen, der Fall. Wir wollen lediglich Preis- met. Der große Befähigungsnachweis bleibt, insbe- erhöhungen vermeiden, was eher zur Senkung der sondere im Bereich der Ausbildung. Kosten führen wird, und wir strebem strukturelle Meine Damen und Herren, lassen Sie mich dazu Verbesserungen an. einmal ein ernstes Wort sagen. Ich danke dem deut- Lassen Sie mich zum Schluß noch einmal zusam- schen Handwerk für die Ausbildungskapazität, die zu menfassen. Erstens. Es wird im Handwerk nicht mehr stellen es immer wieder bereit war, aber auch für die so sein, wie es war. Aber es wird mit dieser Novelle Qualität der Ausbildung. Wir haben in der Europäi- besser werden. Wir brauchen die Zukunftschancen schen Gemeinschaft eine Bilanz, die besagt, daß die nur zu nutzen. klassischen Industrieländer Italien und Frankreich bei jungen Menschen unter 25 Jahren mehr als 20 % Zweitens. Wir müssen die Frischluftzufuhr für die Arbeitslose haben, Spanien, mehr als 30 %. Bei uns einzelnen handwerklichen Berufe sicherstellen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16995

Josef Grünbeck Drittens. Die neuen Länder brauchen den verstärk- regierung, die F.D.P. dem Handwerk ein besonderes ten Mittelstand. Das wird helfen, den Aufbau dort zu Gewicht und besondere Bedeutung beimißt. beschleunigen. (Eckart Kuhlwein [SPD]: Die verspätete Meine letzte Bemerkung ist, meine Damen und Anwesenheit!) Herren: Auf die Herausforderungen des europäischen Binnenmarkts kann durch diese Novelle besser rea- giert werden. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Abgeordne- ter Hinsken, sosehr wir beide und wahrscheinlich Das Handwerk hat in seiner Tradi tion immer seine Aufgaben erfüllt. Die F.D.P.-Fraktion wird die weitere auch alle anderen die Abwesenheit von ganzen Grup- Modernisierung dieser handwerklichen Ordnung pen kritisieren, so glaube ich dennoch, ist es nicht Aufgabe der Bundesregierung, das zu kritisieren, begleiten, und zwar positiv und mit dem herzlichen sondern es ist unsere Aufgabe, dies als Parlament zu Dank an den Wirtschaftsminister. tun. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Deshalb habe ich mich gemeldet, Frau Präsidentin! — Hei Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat Herr Staatssekretär Dr. Kolb das Wo rt . terkeit) (Dr. Peter Struck [SPD]: Warum redet der — Herr Kollege Hinsken, Sie sollten sich die Zustim- Minister nicht?) mung zu dieser Meinung dann aber nicht von der Bundesregierung holen, sondern von einem Kollegen des Parlaments, der als Parlamentarier und nicht als Parl. Staatssekretär beim Dr. Heinrich L. Kolb, Vertreter der Bundesregierung spricht. Bundesminister für Wirtschaft: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Jetzt beenden wir das Ganze, weil wir weiterma- Novellierung der Handwerksordnung wird dafür chen wollen. Sorge getragen, daß sich das H andwerk dem wirt- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ich kann die schaftlichen Wandel und den technologischen, insti- nachfolgenden Redner auch noch fragen! — tutionellen und rechtlichen Änderungen der Rahmen- Heiterkeit) bedingungen anpassen kann. Ich danke den Kolleginnen und Kollegen der Koali- tionsfraktionen und auch der SPD dafür, daß sie so Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim engagiert zusammengearbeitet haben. Wir haben Bundesminister für Wirtschaft: Die Novelle bringt ein einen konstruktiven Dialog gehabt, und es ist gute gehöriges Mehr an Flexibilität. Im Interesse der H and- Arbeit geleistet worden. Wir haben viel erreicht. A lle werker und der Verbraucher wird die Leistungspa- Beteiligten, auch der ZDH und die Gewerkschaften, lette des Handwerks wesentlich erweitert und hatten das gemeinsame Ziel der Stärkung der Lei- Abgrenzungsprobleme unter Handwerkern reduziert. stungsfähigkeit des Handwerks vor Augen. Dieser Das Stichwort: Angebot aus einer Hand, wobei am Grundkonsens hat zum Erfolg geführt. großen Befähigungsnachweis — das halte ich für - wichtig — festgehalten wird. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Staatssekre- Ferner werden Betriebserweiterungen u. a. da- tär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen durch erleichtert, daß das Betriebsleiterprivileg auf Hinsken? die Ausübung wirtschaftlich zusammenhängender (Dr. Peter Struck [SPD]: Er hat doch gerade Handwerke auch bei Personen und Personengesell- erst angefangen zu reden!) schaften ausgeweitet wird. Dadurch werden wesent- liche, neue Akzente gesetzt. Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim Die genannten Verbesserungen tragen dazu bei, Bundesminister für Wirtschaft: Bitte sehr, Herr Kol- die Anpassungsfähigkeit eines Handwerksunterneh- lege. mens an neue Entwicklungen in seinen Märkten wesentlich zu steigern. Ernst Hinsken CDU/CSU): Herr Staatssekretär, Gelungen ist auch, die Handwerksordnung für die pflichten Sie mir bei, daß durch die Abwesenheit der Anforderungen des Europäischen Binnenmarktes Kollegen der Gruppe PDS/Linke Liste und der Gruppe und des Europäischen Wirtschaftsraums weiter zu BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gezeigt wird, welche öffnen. Der größere europäische Markt schafft neue Bedeutung sie dem Handwerk beimessen — sie halten Chancen für ein grenzüberschreitendes Angebot für es nicht einmal für erforderlich, bei dieser für das Handwerksunternehmen und neue Chancen für die Handwerk sehr wichtigen Debatte zugegen zu sein —, Arbeitnehmer. Ich denke, daß es diese Chancen sind und daß das nicht verstanden werden kann? — und nicht nur vermutete Bedrohungen —, die im (Günter Rixe [SPD]: Der Minister ist auch Handwerk in Zukunft stärker gesehen werden. sehr spät gekommen! Das wollen wir einmal Über die Anlage A, liebe Kolleginnen und Kollegen, festhalten!) haben wir lange diskutiert. Es wurden viele Vor- schläge für eine Erweiterung auf den Tisch gelegt. Sie Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim konnten aber in diese Novelle nicht aufgenommen Bundesminister für Wirtschaft: Herr Kollege Hinsken, werden. Es war nicht ohne weiteres erkennbar, daß ich stimme Ihnen ausdrücklich zu. Ich möchte darauf die verfassungsrechtlichen Anforderungen erfüllt hinweisen, daß die Anwesenheit des Bundesministers werden. Auch werden diese Vorschläge, zumindest Günter Rexrodt hier deutlich macht, daß die Bundes- einige davon, innerhalb der Handwerkerschaft selbst 16996 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolb noch kontrovers diskutiert. Deswegen sage ich noch liegenden Novelle denke und dann das heutige einmal: Zu recht wurden bei dieser Novelle neue Ergebnis sehe, so können wir alle doch sehr zufrieden Handwerke in die Anlage A nicht aufgenommen. sein. Sicherlich gibt es auch einige, die sagen werden: Wir wollen dem Handwerk mehr Freiräume ermög- Das ist nicht genug. Aber diese Leute verkennen, daß lichen. Deshalb begrüße ich die Entschließung der es in der Politik der Kompromisse bedarf. Diese heute Fraktionen des Deutschen Bundestages zur Überar- vorliegende Novelle ist das Ergebis eines gelungenen beitung der Anlage A. Es geht jetzt darum, überflüs- Kompromisses und wird — davon bin ich überzeugt — sige Regulierungen abzuschaffen. wesentlich zur Verbesserung der Situa tion im Hand- werk beitragen. Allen, die daran mitgewirkt haben, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sage ich hierfür nochmals besten Dank. der F.D.P.) Vielen Dank auch für Ihre Aufmerksamkeit. Die Anlage A, so die Entschließung, soll so überarbei- (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der tet werden, daß breitere Handwerke entstehen und SPD) der große Befähigungsnachweis weiter gestärkt wird. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zu einer (Günter Rixe [SPD]: Da müssen wir uns aber Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten ranmachen!) Dr. Hitschler das Wort. Diese Überarbeitung, bei der auch die Vorschläge des Handwerks berücksichtigt werden sollen, konnte Dr. Walter Hitschler (F.D.P.): Ich beziehe mich in aber in der zur Verfügung stehenden kurzen Zeit nicht meiner Kurzintervention auf die Rede vom Herrn realisiert werden. Das Inkrafttreten der Novelle zum Kollegen Pfuhl und auch auf Passagen der Aussagen 1. Januar 1994 war vorrangiges Ziel unseres Han- von Herrn Staatssekretär Kolb. delns. Wir brauchen und wollen jetzt den Impuls für Sie wissen, meine Damen und Herren, daß es das Handwerk. Wünsche und Bestrebungen gegeben hat, neue Berufe in die Anlage A aufzunehmen, und wir in der (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Richtig!) Kürze der Zeit nicht mehr in der Lage waren, diesen Es besteht die Vorstellung, Herr Kollege Hinsken, Wünschen Rechnung zu tragen. Das hat bei verschie- man könne die Anlage A mittels Rechtsverordnung denen Berufsgruppen, die betroffen sind, zu der nach § 1 Abs. 3 der Handwerksordnung ändern. Wir Einstellung geführt, wir würden das sozusagen aus wollen das prüfen, aber ich möchte hier auch vor Jux und Tollerei machen. Es werden gegen uns Illusionen warnen. Die Ermächtigungsgrundlage gibt schwere Vorwürfe erhoben. Diese Vorwürfe, meine dem Bundesministerium für Wirtschaft lediglich die ich, müssen wir zurückweisen. Möglichkeit, auf Grund technischer und wirtschaftli- Ich darf das tun, Herr Kollege Pfuhl, mit dem cher Entwicklungen eingetretene tatsächliche Verän- Hinweis auf das von Ihnen sehr richtig geschilderte derungen rechtlich nachzuvollziehen. Alles, was dar- Spannungsverhältnis zwischen dem Grundrecht auf über hinausgeht, können wir mit dieser Rechtsverord- Berufsausübung einerseits und der Zutrittsbeschrän- nung nicht klären. Wir müssen sehen, was mit diesem kung andererseits, die im Prinzip im großen Befähi- Instrument zu machen ist. gungsnachweis begründet liegt. Ich darf darauf hin- Die Anlage B wird mit dieser Novelle um eine Reihe weisen, daß die verfassungsrechtliche Prüfung vor handwerksähnlicher Gewerbe erweitert. In der Dis- Aufnahme einer neuen Berufsgruppe in die Anlage A kussion war eine Verordnungsermächtigung. Sie eben ein sehr schwieriger Akt ist, der nicht auf die konnte aus verfassungsrechtlichen und auch aus poli- Schnelle durchgeführt werden kann. tischen Gründen nicht aufgenommen werden. Deshalb möchten alle Fraktionen des Deutschen Insgesamt, liebe Kolleginnen und Kollegen, glaube Bundestages, die daran beteiligt waren, diesen H and- ich sagen zu können, daß die Koalitionsarbeitsgruppe werksgruppen von dieser Stelle aus versichern, daß auf eine erfolgreiche Arbeit zurückblicken kann. Die wir nach der Verabschiedung dieser Novelle zur Novelle ist ein politischer Erfolg, mithin auch ein Handwerksordnung in einem nächsten Schritt daran- wichtiger Beitrag für mehr Freiheit bei der Hand- gehen werden, dies nachzuholen und zu überprüfen, werksausübung, für Offenheit und die wirtschaftliche wie die Anlage A überarbeitet werden kann. Das ist, Weiterentwicklung des Handwerks. glaube ich, notwendig, damit hier nicht der Vorwurf zurückbleibt, es sei, obwohl sich ZDH und DIHT auf Schließlich und nicht zuletzt: Die Novelle trägt auch eine gemeinsame Haltung geeinigt hätten, nur der den Forderungen des von Bundesminister Rexrodt böse Wille der Parlamentarier, daß diese Berufsgrup- vorgelegten Standortberichtes der Bundesregierung pen jetzt nicht aufgenommen würden. Rechnung. Sie ist ein wesentliches Element der wirt- Wir sichern eine sehr sorgfältige und verfassungs- schaftspolitisch notwendigen und überfälligen Dere- rechtlich notwendige Prüfung dieser Fragen zu. gulierung. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Vorsitz: Vizepräsident Dieter-Julius Cro- nenberg) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Zum Schluß möchte ich hervorheben, zu welch nunmehr dem Abgeordneten Rainer Haungs das positiven Ergebnissen konstruktive Zusammenarbeit Wort. führen kann. Wenn ich an die Kontroverse um die Deregulierungskommission denke, auch wenn ich an Rainer Haungs (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine die erste gemeinsame Sitzung zur Beratung der vor- sehr verehrten Damen und Herren! Das deutsche Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16997

Rainer Haungs Handwerk hat bei der Bewältigung der drei großen sondern auch bei der fortführenden Gestaltung dieses Aufgaben, die heute in der Wirtschaftspolitik vor uns wichtigen Bereiches unserer Wirtschaft. stehen, Beachtliches geleistet. Bei der Überwindung der Rezession ist es dem deutschen Handwerk im Dem Wunsch des Handwerks, den großen Befähi- großen und ganzen besser als anderen Wirtschafts- gungsnachweis, wie sich die Meisterprüfung nennt, zweigen gelungen, die Krise zu bewältigen. im Kern zu erhalten, wurde entsprochen. Die Zukunft im europäischen Binnenmarkt wird es zeigen, ob wir (Ernst Hinsken (CDU/CSU): Sehr wahr!) hiermit nicht eine Form der Inländerdiskriminierung Beim Aufbau der Arbeit in den neuen Bundesländern im Wettbewerb mit europäischen Handwerkern aus wurden erstaunliche, beachtliche und dankenswerte unseren Nachbarstaaten haben, die von vielen jungen Leistungen erbracht. Es wäre schön, wenn dies bei Existenzgründern bei uns als wenig hilfreich angese- anderen Wirtschaftszweigen ähnlich gelingen würde. hen wird. Aber es war der Wunsch des Handwerks, Gleichzeitig bietet das deutsche Handwerk bei dem und wir sollten uns nicht anmaßen, eine Politik über Strukturwandel, den die deutsche Wirtschaft derzeit die Wünsche der Betroffenen hinweg zu machen. zu bewältigen hat, eine breite Palette individueller Produkte und vom Kunden gewünschter Dienstlei- Der Zugang zur Handwerksausübung — dies stungen an. wurde von den Vorrednern erwähnt — wurde erleich- tert. Alte Zunftschranken wurden überwunden. Lei- Deshalb sollte es das Ziel unserer Novelle zur stungen aus einer H and sind in Zukunft möglich. Dies Handwerksordnung sein, alle Gesetze und alle Vor- bringt die notwendige Flexibilität in eine allzu starre schriften zu überprüfen und zu ändern, die unserer Ordnung. Der wirtschaftliche und technische Zusam- Vorstellung einer dynamischen Marktwirtschaft nicht menhang bei der Ausführung einer handwerklichen entsprechen. Wir wollen den Handwerksunterneh- Leistung im Interesse des Kunden und im Interesse men helfen, in der Zukunft kundennäher zu arbeiten des Handwerkers überwindet endlich die wirklich- und damit ihre weitere positive Entwicklung zu stabi- keitsfremde Situation und legalisiert wirtschaft liche lisieren. Vernunft. (Zustimmung bei der CDU/CSU und der muß in F.D.P.) Die Anlage A der Handwerksordnung Zukunft überarbeitet werden. Es müssen neue Berufe Wir wollen — dies ist auch Aufgabe der Wirtschafts- aufgenommen werden. Hier sind viele Wünsche politik, und das wurde vom Herrn Staatssekretär auch genannt worden. Sie werden überprüft. Alte Berufe so dargelegt — unsere Wirtschaftsordnung moderni- muß man ebenfalls daraufhin überprüfen, ob sie als sieren. Wir wollen in diesem Zusammenhang auch Vollhandwerk nach wie vor zur Ordnung A gehören marktwidrige Regelungen entfernen. Vor allem aber oder ob sie eher in der Liste B richtig aufgehoben sind. — dies ist das Wichtigste —: Im Sinne der Kunden soll Andere Berufe muß man auch wieder zusammenfas- so gehandelt werden, daß Handwerksleistungen in sen. Zukunft mehr nachgefragt werden können. Die Arbeiten zu dieser Novelle, liebe Kolleginnen Die generelle Absicht, überflüssige Regelungen und Kollegen, gestalteten sich mühsamer als erwartet. abzuschaffen und Handwerksberufe umfassend so zu Dies hatten allerdings Kenner der Materie vorausge- ordnen, daß innerhalb eines großen Rahmens eine Spezialisierung zukunftsgerichtet möglich ist, wird sagt. Bereits die erwähnten Vorschläge der Deregu- wohl die Aufgabe für die nächste oder die nächsten lierungskommission waren bei vielen umstritten und führten zu heftigen Reaktionen. Dies war rational Legislaturperioden — ich glaube, das eine für die nicht immer nachvollziehbar, änderte es doch nichts nächste Legislaturperiode, das Fortführende für die an der Tatsache, daß sich im Handwerksrecht im nächsten Legislaturperioden — sein. Laufe der Jahre ein großer Modernisierungsstau Auch ich darf mich dem Dank anschließen, daß wir angesammelt hatte. Dies war vielen klar, nur nicht auf diesem schwierigen Gebiet, wo wir Stunden um immer den Be troffenen. Stunden zugebracht haben, im großen und ganzen (Vorsitz : Vizepräsidentin Renate einen Kompromiß jenseits von Parteidifferenzen Schmidt) zustande gebracht haben. Wir hoffen gemeinsam — jeder aus seinem Blickwinkel —, daß wir schon Die Koalitionsfraktionen versuchten erfolgreich unter Voraussetzungen geschaffen haben, eine dynamische Einbindung der Opposition, der Gewerkschaften und Entwicklung des Handwerks für die Zukunft zu der Handwerksvertreter, nicht über die Köpfe der gestalten und dadurch auch den Beitrag zur Umstruk- Betroffenen hinweg das vielleicht Richtige zu turierung unserer Wirtschaft zu leisten. beschließen, sondern bei allen neuen Regelungen auf große Akzeptanz hinzuarbeiten. Persönlich versuchte Wir wissen alle — insofern nehme ich auch den ich dabei, meine berufliche Erfahrung aus 30jähriger Wunsch der Opposition nach stärkerer Förderung von Tätigkeit als Lehrling, Geselle und geschäftsführen- neuen Existenzen auf —, daß nur die kleinen und der Gesellschafter mehrerer Handwerksunternehmen mittleren Unternehmen im Handwerk, im Mittelstand einzubringen. in der Lage sind — keine anderen Unternehmen —, in Ich bin mit meinen Vorrednern der Meinung, daß Zukunft die Arbeitsplätze für unsere Mitbürger zur sich das Ergebnis sehen lassen kann, auch wenn es Verfügung zu stellen, die notwendig sind, um das nicht alle Wünsche erfüllt. Es bleibt für alle dem Problem Nummer eins, Beseitigung der Arbeitslosig- Handwerk verpflichteten Abgeordneten auch in keit, lösen zu helfen. Insofern glaube ich, daß das Zukunft sehr viel Arbeit, nicht nur bei Anlage A und B, Handwerk mit dieser Novellierung bessere Zukunfts- 16998 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Rainer Haungs bedingungen hat, und dies war die Absicht der Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Novelle, die wir heute beschließen. der SPD vor. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die SPD) Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich erteile als erstem dem Kollegen Klaus Harries Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Wortmel- das Wort. dungen liegen mir nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstim- Klaus Harries (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe mung über den von den Fraktionen der CDU/CSU, Kolleginnen und Kollegen! Die heute anstehende SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurf zur Änderung Änderung und Ergänzung des Abwasserabgabenge- der Handwerksordnung, anderer handwerksrechtli- setzes kommt, wie ich meine, zum richtigen Zeit- cher Vorschriften und des Berufsbildungsgesetzes auf punkt. Einmal deswegen, weil Städte, Gemeinden den Drucksachen 12/5918 und 12/6303. und Kreise darauf warten, daß eine Entlastung kommt. Wir kennen die finanzielle Not der Kommu- Dazu liegt ein Änderungsantrag des Abgeordneten nen. Sie brauchen in dieser finanziell angespannten Werner Schulz auf Drucksache 12/6304 vor, über den Zeit ein Zeichen von uns, daß wir ohne Aufgabe von wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Ände- Umweltstandards auf dem richtigen Wege sind und rungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — ihnen helfen. Damit ist dieser Änderungsantrag bei einer Stimment- haltung einstimmig abgelehnt. Es warten aber nicht nur die Kommunen auf dieses Zeichen, sondern genauso weite Teile unserer Wirt- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Bei Abwesen- schaft. Sie brauchen Entlastung in der Phase der heit des Antragstellers!) Konjunkturschwäche und in der Phase der Struktur- — Dies wird sicherlich im Protokoll vermerkt wer- schwäche. den. Wichtig ist aber zu wissen — das ist hervorzuheben Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der und zu unterstreichen —, daß das Schwert eines Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Hand- wirksamen Gewässerschutzes nicht entschärft wird. zeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Im Gesetz, das wir heute zur Änderung und Ergän- Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung zung des Abwasserabgabengesetzes beschließen, einstimmig angenommen. bleiben die ordnungsrechtlichen Bestimmungen im Damit kommen wir zur vollen Umfang erhalten. Die marktwirtschaftlichen Abgabe- und damit Lenkungsmaßnahmen über den dritten Beratung Preis werden zwar geändert, ohne aber ihre Wirksam- und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem keit zu verlieren. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Die Opposition wird hier mit Sicherheit gleich das Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist der - Abgehen von bewährten und notwendigen Umwelt- Gesetzentwurf einstimmig angenommen. standards an die Wand malen. (Beifall des Abg. E rnst Hinsken [CDU/ (Susanne Kastner [SPD]: Richtig!) CSU]) Dem kann ich nur widersprechen. Ich darf noch darauf hinweisen, daß nach § 31 Abs. 1 der Geschäftsordnung vom Kollegen Dieter-Julius (Susanne Kastner [SPD]: Das habe ich mir Cronenberg eine persönliche Erklärung zum Tages- gedacht!) ordnungspunkt 5 vorliegt, die zu Protokoll genommen Dies ist zu kurz gesprungen und wird, wie ich gesagt wird.* ) habe, der Situation, in der wir heute leben und sicher auch morgen noch leben werden, überhaupt nicht gerecht. Wir sind mit der Umweltschutzpolitik der Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Bundesrepublik im Vergleich zu allen anderen Nach- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat barstaaten und vor allem zu den EG-Staaten immer eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur noch gut oder besser. Wir liegen im R ang immer noch Änderung des Abwasserabgabengesetzes vorne. — Drucksache 12/4272 — Ich nenne einige Beispiele, etwa die von der Bun- desregierung eingeleitete und immer wieder unter- (Erste Beratung 143. Sitzung) stützte FCKW-Politik. Ich nenne auch — trotz aller Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- Schwierigkeiten — die Abfallpolitik. Ich nenne die schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- CO2-Politik, den Katalysator. Ich erwähne auch aus- sicherheit (17. Ausschuß) drücklich, daß die Bundesregierung und die Regie- — Drucksache 12/6281 — rungskoalition weiterhin bereit sind eine Energie Berichterstattung: CO2-Steuer einzuführen, um ein wirksames Umwelt- Abgeordnete Klaus Harries schutzmittel zu bekommen, wenn sie denn in Europa Susanne Kastner lückenlos kommt, wenn sie aufkommensneutral ist Josef Grünbeck und ohne Erhöhung der Staatsquote erfolgt. Es ist schon bemerkenswert, daß die Opposi tion, die *) Anlage 2 mit Sicherheit gleich auf das Abgehen von bewährten Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 16999

Klaus Harries Standards hinweisen wird, selbst keinerlei Bedenken darin im übrigen auch eine Erleichterung für die hat, vorzuschlagen — sie hat das in den Ausschüssen Vollzugsbehörden der Länder, die ja nach der jetzigen getan —, doch weitere Verrechnungsmöglichkeiten Fassung im Grunde immer wieder sehr kurzfristig für Investitionen der Kommunen einzuführen. Das ist aufgefordert sind, zu neuen Meßbescheiden und die oft erlebte und wiederholte Politik, auf der einen neuen Festsetzungen zu kommen. Seite zu geben und auf der anderen Seite zu neh- Ich darf im übrigen gerade an dieser Stelle darauf men. hinweisen, daß die Kontinuität der Abgabe bedeutet, (Susanne Kastner [SPD]: Quatsch!) daß die Abgabe in ihrer Höhe noch immer so interes- sant ist, daß sie zur Verrechnung führt und daß Sie zeigen keine Konsequenz in der Wirtschafts- und Investitionen durch die Kommunen — sprich: dritte Umweltpolitik. Das widerlegt im Grunde Ihre Argu- Reinigungsstufe, wenn sie denn erforderlich und mög- mente, die Sie dazu bringen, hier — voraussichtlich — lich ist — und weitere Investitionen durchgeführt gegen das Abwasserabgabengesetz zu stimmen. werden. Meine Damen und Herren, die Novellierung, die Drittens. Wir senken die Restverschmutzungsab- heute ansteht, beruht auf einer Ini tiative des Bundes- gabe nicht auf Null, sondern um die Hälfte. Auch hier rates. Der Anstoß kam vom Freistaat Baye rn. Die bleibt das Schwert nicht nur in der Scheide, sondern Änderung, die der Bundesrat vorschlug, bezog sich im regt zu Investitionen an. wesentlichen — beinahe ausschließlich — auf weitere Verrechnungsmöglichkeiten von Abgaben und Inve- Wir anerkennen Investitionen gerade bei der che- stitionen im Kanalbereich. Wir, die Regierungskoali- mischen Industrie — oft gescholten —, die jetzt in der tion, haben uns nach sehr eingehenden Vorgesprä- Lage ist, Verbesserungen auch im Teilstrombereich chen und Beratungen — auch mit der Opposi tion — auf ihren Grundstücken, auf ihrem Betriebsgelände, nicht mit dieser Änderung begnügt, wir haben sie in wenn sie nachweislich zur Senkung des Schmutzwas- diesem Umfange auch nicht akzeptiert, sondern seranteils führen, zu verrechnen. haben, wie wir meinen, ein umfassenderes Konzept Wir haben die Anregung des Bundesrates zwar erarbeitet und vorgelegt, das auf der einen Seite der minimiert und zurückgeführt, aber in einem wich tigen Konjunktur- und Strukturlage Rechnung trägt, das Kern gelassen, indem nämlich Investitionen auch aber auf der anderen Seite — ich unterstreiche das, beim Hauptsammler verrechnet werden können. weil es wichtig ist — Umweltstandards im Grunde überhaupt nicht verändert. Es gibt gerade zu diesem Punkt Anträge, Anregun- gen und immer wieder Forderungen von Kommunen Was ist also der Inhalt dessen, was wir heute zur und Trägern von Abwasserbehandlungsanlagen aus Abstimmung stellen? Erstens. Wir geben ein Zeichen dem ländlichen Raum, die mit Recht darauf hinwei- in Richtung Meßlösung. Ich gestehe zu, daß es sen, daß die Schaffung von Leitungen von entfernt zunächst nur ein Zeichen ist. Es verweist aber auf liegenden Dörfern, von einzeln liegenden Gehöften, einen konsequent einzuhaltenden Weg, der in von den Streusiedlungen zur Abwasseranlage in dem Zukunft gegangen werden muß. Die Meßlösung trägt größeren Kirchdorf zu teuer und nicht zu bezahlen sei in vollem dem Grundsatz des Verursacherprinzips und daß hier verrechnet werden müsse. Umfang Rechnung Wir haben uns mit diesem Problem befaßt, haben (Susanne Kastner [SPD]: Auf dem Papier!) diese Anregungen aber abgelehnt, weil wir der Mei- und ist im Grunde die gerechte, praktikable und nung sind: Hier tun unsere Länder als Vollzugsbehör- einfachere Lösung. Das ändert aber nichts daran, daß den zuviel. Es ist nicht erforderlich, meine Damen und diese Meßlösung, obwohl sie schon heute technisch Herren, daß der letzte Bauernhof, das letzte Haus im möglich wäre, der Vorbereitung durch die Vollzugs- Außenbereich, die Streusiedlung eine Leitung zur behörden, durch die Länder bedarf. Hier brauchen wir Kläranlage erhalten und damit eine starke finanzielle eine Vorlaufzeit. Belastung verursachen. Hier können die Länder, ohne gegen § 7a des Wasserhaushaltsgesetzes zu versto- Wir haben durch Einfügung von Elementen der ßen, handeln und Befreiungen bzw. Ausnahmen vor- Meßlösung in die Novellierung, die heute ansteht, sehen. Das bedarf nicht des Gesetzes. einen ersten Schritt get an und werden unsere politi- sche Absicht durch eine ergänzende Entschließung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zum Ausdruck bringen. Die Weiche ist mit dem Meine Damen und Herren, wir haben schließlich Einstieg in die Meßlösung, die den Bundestag in der und endlich eine Kompensation zugunsten der neuen nächsten Legislaturperiode abschließend beschäfti- Lander eingeführt, daß also Investitionen, die in den gen wird, gestellt. Meßlösung bedeutet allerdings neuen Ländern von Kommunen oder der Wirtschaft auch — ich unterstreiche das —, daß die Konzeption getätigt werden, angerechnet werden. Auch ich weiß, und die inhaltliche Ausgestaltung des Gesetzes auch daß abgewartet werden muß, ob dieser Möglichkeit der Meßlösung angepaßt werden muß. große Bedeutung zukommt. Auch ich habe meine (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Zweifel, wenn es um Städte und Partnergemeinden geht, sehe hier aber posi tive Möglichkeiten insbeson- Zweitens. Wir senken und stabilisieren die Abwas- dere für unsere Industrie und Wirtschaft. serabgabe. In der jetzigen Gesetzesfassung ist eine Steigerung von 70 auf 90 DM zum Ende dieses Wir sind der Meinung, daß dieses Gesetz der Zeit, in Jahrhunderts, also in wenigen Jahren, vorgesehen. der wir leben, und dem Umweltschutz gerecht wird. Hierin sehen wir eine Belastung von Wirtschaft und Wir werden ihm zustimmen und fordern den Bundes- Kommunen, die geändert werden sollte. Wir sehen rat auf, dem kurzfristig zu folgen. 17000 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Klaus Harries Vielen Dank. darüber hinaus technisch möglich ist, wird bei diesen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Abgabensätzen nicht mehr gemacht. (Zuruf von der CDU/CSU: Meßlösung!) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat nun Deutschland läuft damit Gefahr, die eingegange- der saarländische Minister für Umwelt, Herr Josef nen Verpflichtungen zum Schutz der Nordsee und der Leinen. Ostsee nicht zu erfüllen. Diese Novelle gibt ein völlig falsches Signal. Statt einer Verstärkung des Gewäs- Minister Josef M. Leinen (Saarland): Frau Präsiden- serschutzes das Wort zu reden, reden Sie einer Ver- tin! Meine Damen und Herren! Trotz wortreicher langsamung das Wort; das war ja auch der Tenor Ihrer Erklärungen kann man es drehen und wenden, wie Präsentation. Das ist ein falsches Signal für die Kom- man will: Die vorgelegte Novelle zum Abwasserabga- munen und auch ein falsches Signal für die Wirt- bengesetz ist kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt schaft. für den Umweltschutz in Deutschland. Das Abwasserabgabengesetz kennt in zwölf Jahren (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke nun schon die vierte Novelle. Es liegen noch nicht Liste) einmal die Erfahrungsberichte über die zweite und die Im Gegensatz zu meinem Vorredner kann ich nicht dritte Novelle vor, und schon kommen wieder erheb- erkennen, wie mit dieser Novelle das Schwert der liche Umstellungen und damit auch Unsicherheiten Abwasserpolitik geschärft wird. Das Gegenteil wird auf den Vollzug vor Ort zu. Diese Kurzatmigkeit nützt der Fall sein: Das Schwert wird in der Scheide bleiben nichts, sondern schadet. Sie werden sehen, daß der und an der Klinge stumpf gemacht. Das ist die Folge Zug gebremst und angehalten wird; wir werden damit dessen, was Sie hier vorgelegt haben. nicht, wie wir es im Sinne der Nordsee und der Ostsee machen müßten, das Tempo beschleunigen. Meine Damen und Herren, die Abwasserabgabe wird in einem Maße ausgehöhlt und verstümmelt, daß Seit dem Robbensterben und dem Auftreten der ein gewässerökologischer Lenkungseffekt nicht Killeralgen in Nord- und Ostsee sind noch keine drei mehr erkennbar sein wird. Das einzige ökonomische Jahre vergangen; wir alle haben vor den Mikropho- Instrument, das wir in der deutschen Umweltpolitik nen gestanden und eine Verschärfung und Beschleu- haben, wird mit dieser Novelle zu Grabe getragen. nigung der Abwasserreinigung gefordert. Viele sind Personen und Institute, die das seit vielen Jahren dem gefolgt und haben jetzt Investitionen vorbereitet. verfolgen, haben dazu ihre Studien und Erklärungen Sie stoppen das Pferd im Galopp, und ich sage Ihnen: abgegeben. Schon mancher Reiter ist bei einer solchen Operation (Josef Grünbeck [F.D.P.]: Aber in der Anhö- kopfüber gepurzelt. Dies droht uns in der Abwasser- rung kam etwas anderes heraus!) politik. Es ist ein falsches Signal und ein schlechtes Omen, (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke was uns in der Umweltpolitik bei anderen Sektoren in Liste) dieser schwierigen Zeit noch droht. Wir alle wollen einen zügigen Fortschritt bei der Eine Abgabe ohne Lenkungseffekt ist wie ein Auto Abwasserreinigung in den neuen Bundesländern, ohne Motor. Ich sage: Es wäre ehrlicher, in diesem Fall aber die in der Novelle vorgeschlagene Verrech- das Abwasserabgabengesetz ganz abzuschaffen; wir nungsmöglichkeit wird dazu so gut wie nichts beitra- in den Ländern würden dann wenigstens den Verwal- gen; Sie werden das sehen. Die Kompensationsrege- tungsaufwand sparen. lung ist verfassungsrechtlich bedenklich und im Ver- (Beifall bei der SPD) waltungsvollzug recht aufwendig. Wenn der Lenkungseffekt nicht vorhanden ist, hat das Ich kann nicht erkennen, welche Kommune oder ganze Gesetz keinen Sinn mehr. welcher Betrieb vor Erledigung der eigenen Hausauf- Wie weit wir zurückfallen, zeigt das Sondergutach- gaben auf Zuschüsse oder auf Maßnahmen zur dau- ten des Sachverständigenrates für Umweltfragen aus erhaften Verbesserung der Abwassersituation ver- dem Jahre 1974. Schon damals wurde ein Abgaben- zichten würde. Insofern ist das ein Scheinargument satz von 80 DM pro Schadeinheit gefordert. Daß jetzt, und auch eine Scheinaktivität. Es wäre besser, geziel- mehr als 20 Jahre später, der Abgabensatz auf 70 DM ter und sachgerechter, in den jungen Bundesländern pro Schadeinheit eingefroren werden soll, zeigt die ein Sonderprogramm Abwasserreinigung mit Mitteln völlige Unklarheit und auch die Unzulänglichkeit der durchzuziehen, die wir haben, die uns die EG gibt und Umweltpolitik in der heutigen Zeit. die aus dem Fonds deutsche Einheit stammen, (Zuruf von der SPD: Da hat er recht!) (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Mit dieser Novelle entfällt der Anreiz zu einer Liste) weitergehenden Vermeidung und Reinigung von als den Eindruck zu erwecken, mit den 100 Milliarden schädlichen Abwässern. Deshalb ist diese Novelle, DM, die dazu notwendig sind, würde über die Kom- Kolleginnen und Kollegen, ein Hemmnis für die pensationsregelung ein relevanter Beitrag geleistet Technologieentwicklung und auch ein Hemmnis für werden. Dies wird nicht der Fall sein. weitergehende Investitionen in der Indus trie und in den Kommunen. Es wird wieder billiger, die Abwas- (Josef Grünbeck [F.D.P.]: Haben Sie nicht serabgabe zu zahlen, anstatt in Abwassermaßnahmen gehört, daß das schon läuft? Das, was Sie zu investieren. Sie werden sehen: Die Grenzwerte daherreden, ist doch schon längst auf den werden gerade eben eingehalten, aber das, was Weg gebracht!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17001

Minister Josef M. Leinen (Saarland) Meine Damen und Herren, wenn Sie sagen, Sie land hier abgeliefert hat. Er hat nämlich von einer wollen die Kommunen entlasten, Verlangsamung gesprochen. Hier möchte ich Sie an (Josef Grünbeck [F.D.P.]: Der schläft im Saal! folgendes erinnern, Herr Minister: Wir beraten seit Sie wissen das noch nicht!) einem Jahr diese Novelle, und gestern hat die SPD- Bundestagsfraktion einen neuen Antrag eingebracht. dann kann ich die Tragfähigkeit dieses Argumentes Ist das keine Verlangsamung? Wenn ein saarländi- nicht erkennen, weil jene Kommunen in Deutschland, scher Regierungsvertreter hier auftritt, habe ich die Abwasserreinigung mit eigenen Haushaltsmitteln immer den Eindruck, daß er über die Verlangsamung und nicht mit den Gebühren der Verursacher bezah- von Problemlösungen redet, aber die Erhöhung der len, falsch organisiert sind. Schuldenstände beschleunigt. (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) (Zurufe von der SPD) Wenn das in den Kommunen richtig organisiert ist, gibt es durch die gebührenfinanzierte Abwasserrei- Das ist immer eine Problematik, bei der wir uns mit nigung keine Belastung der kommunalen Haushalte. Ihnen auseinandersetzen müssen. Insofern liegt Ihr Argument daneben und bestärkt Sie haben von den erhöhten Verwaltungskosten eigentlich Kommunen, die noch keine Abwasser- gesprochen. Schauen Sie sich mal an, wie unter- werke oder eigenen Organisationsmodelle gewählt schiedlich die Verwaltungskosten in den Ländern haben, um eine gesonderte Kostenrechnung für die- verrechnet werden. Es gibt Länder mit einem ganz sen Millionenaufwand zu haben. Das ist also kein niedrigen Satz an Verwaltungskosten und Länder mit Argument, das man ins Feld führen kann. einem hohen Satz an Verwaltungskosten. Diejenigen, Meine Damen und Herren, die Länder haben die den niedrigen Verwaltungskostensatz haben, sind Novellierungsvorschläge erwartet, die den Vollzug die fähigen Länder, die ein solches Problem organi- des Abwasserabgabengesetzes erleichtern. Ich gebe sieren können. Diejenigen Länder, die die hohen Ihnen recht: Der Ersatz der Bescheidlösung durch Verwaltungskosten haben, sind die, die das nicht eine Meßlösung könnte zu einer zeitnahen Veranla- können. Da muß man sie anhalten, die Verwaltungs- gung, zu einer gerechteren Abgabenerhebung und zu kosten überall zu senken. einer spürbaren Entlastung der Verwaltungsbehör- den führen. Aber dieser Vorschlag soll nach Ihrem Was die Bundesländer angeht, habe ich Ihnen einen Willen erst in der nächsten Periode kommen. netten Brief entgegenzuhalten, den der Umweltmini- ster von Thüringen der Präsidentin geschrieben hat. (Josef Grünbeck [F.D.P.]: Nein, den Einstieg machen wir sofort!) (Zuruf von der SPD: Nur der F.D.P. und der Ich verkenne nicht die Übergangsschwierigkeiten, Frau Präsidentin!) aber ich meine, das wäre eine echte Novelle wert — Auch ohne Berücksichtigung der charmanten Zwi- gewesen. Da wir alle erkennen, daß wir auf die Kürze schenruferin darf ich fortfahren. Der Umweltminister noch nicht so weit sind, es zu formulieren und schon schreibt: direkt zum 1. Januar umzusetzen, hätten wir uns allen einen Gefallen getan, wenn wir die Erfahrungen mit Berücksichtigt man die angespannte wirtschaftli- der zweiten und dritten Novelle abgewartet hätten. che Lage, die sich in hoher Arbeitslosigkeit und Der Bundestag hat von der Regierung bis Ende dieses niedrigen Einkommen ausdrückt — das ist auf Jahres einen Be richt über die Erfahrungen mit der Thüringen bezogen — belasten die hohen zweiten und dritten Novelle verlangt, und schon vor Abwassergebühren die Bevölkerung Thüringens Ende dieses Jahres haben wir die vierte Novelle, die besonders. Die Landesregierung ist deshalb wieder einiges von dem zurücknimmt, was wir als bemüht, Einfluß auf die Reduzierung der Preise Signal einer fortschrittlichen Umweltpolitik in die zu nehmen. Aus diesem Grunde halte ich die Öffentlichkeit und an die Adressaten gegeben Novellierung des Abwasserabgabengesetzes für haben. notwendig und messe dabei den Neuregelungen Wir hätten uns einen Gefallen getan, wenn wir die in § 10 Abs. 4 und 5 Abwasserabgabengesetz gesamte Gesetzesnovelle nochmals gründlich über- besondere Bedeutung zu. Durch die Novellierung dacht hätten, damit wir mehr Umweltschutz bekom- des Abwasserabgabengesetzes wäre ein spürba- men und nicht, wie ich befürchte und voraussage, rer Beitrag zur Verringerung der Abwasserpreise weniger. Das Kriterium „mehr Umweltschutz" erfüllt in Thüringen möglich. Ihre Vorlage nicht, und deshalb wünsche ich mir, daß Dem kann man nur beipflichten. Nicht beipflichten dieses Gesetzeswerk nicht durchgeht. kann man Ihrer sogenannten Bescheidlösung, weil Danke für die Aufmerksamkeit. Sie von vornherein Geld einfordern, für das Sie (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke möglicherweise gar keine Leistung erbringen. Des- Liste) halb hat diese Koalition richtig entschieden. Ich möchte noch eines betonen — das hatte ich schon aufgeschrieben, ohne Ihre Rede gehört zu Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat der Kollege Josef Grünbeck das Wort. haben, Herr Leinen —: Der Gewässerschutz in Deutschland ist sowohl vorbildlich in der Gesetzge- bung — das hat mein Kollege schon betont —, als auch Josef Grünbeck (F.D.P.): Verehrte Frau Präsidentin! fortschrittlich in der technologischen Entwicklung, Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es und zwar in der Verfahrenstechnik als auch in der ist schon eigenartig, was der Minister aus dem Saar- Werkstofftechnik. 17002 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Josef Grünbeck Die Entsorgung ist in unserer Bundesrepublik in Die Meßlösung bedeutet auch eine Kostensenkung. allen Bereichen der Umweltprobleme zunehmend Sie haben im Ausschuß gesagt, die Senkung der kein Problem der Gesetzgebung, der be troffenen Kosten käme nur der Industrie zugute. Verbände und der Wirtschaft, sondern wird immer (Uta Würfel [F.D.P.]: Also ehrlich, die armen mehr zu einer Standortfrage. Wir müssen uns dazu Bürger, die immer mehr bezahlen müssen!) durchringen, auch zu dem Standort zu stehen, wenn wir irgendwo eine Entsorgungsanlage brauchen, sei Demjenigen, der so einen Unfug daherredet, muß ich dies eine Abwasseranlage oder eine Abfallanlage. endlich einmal sagen, daß wir bei der Trinkwasser- Sobald ein Standort auch nur in Erwägung gezogen versorgung in immer größerem Umfang auf die Ober- wird, sind Sie immer die ersten, die sich in die Proteste flächengewässer zurückgreifen müssen. Das trifft einreihen, den Standort verhindern wollen gerade auf Sie im Saarl and zu, Herr Minister. Je schlechter die Qualität der Oberflächengewässer ist, (Zuruf von der SPD: Das ist überhaupt nicht um so teurer und qualifiziert schwieriger wird die wahr!) Wiederaufbereitung zur Gewährleistung der Trink- wasserversorgung unserer Bevölkerung. Wenn Sie und damit auch die Lösung des Problems verlangsa- das nicht zur Kenntnis nehmen, dann vernachlässigen men. Sie, daß der Kubikmeter Wasser bei schlechtem Ober- (Beifall bei der F.D.P.) flächenwasser für den Verbraucher entsprechend teu- rer wird. Im übrigen ist bei Ihnen im Umweltbereich viel Das ist keine Gesetzesnovelle für die Industrie, populistischer Aktionismus im Spiel. Mir wäre es sondern eine Gesetzesnovelle für den Umweltschutz, lieber, wir würden etwas sachlicher miteinander für die Industrie und für die Verbraucher. Deshalb umgehen. halten wir sie für richtig. (Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.] — (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Susanne Kastner [SPD]: Ach ja, das sagen Uta Würfel [F.D.P.]: Das ist der Fachmann!) Sie! — Weitere Zurufe von der SPD) Ich muß Ihnen noch sagen: Daß die Kanalinvestitio- Einen ordnungspolitischen Durchbruch bietet der nen verrechnet werden, halte ich für eine gute Vorschlag dieser Regierung. Lösung. Meine Damen und Herren, wir haben große Klagen bekommen, daß wir die Investitionen für die Was Sie zur Meßlösung dargelegt haben, ist doch Kanalleitungen in diese Gesetzesnovelle mit einbezo- völlig verkehrt. Wir hatten vor zehn Jahren natürlich gen haben. Wir haben dies aus dem einfachen Grunde noch nicht die technischen Möglichkeiten, eine Meß- getan, weil es — natürlich länderspezifisch verschie- lösung anzubieten. Jetzt haben wir die erprobte Mög- den — in der Kanalisation erhebliche Leckagen gibt, lichkeit, die Meßwerte der Schadstoffe nicht nur die repariert oder saniert werden müssen. Deshalb ist permanent zu untersuchen, sondern sie auch perma- dies richtig, zumal in manchen Bereichen die Kanali- nent aufschreiben zu lassen. Somit bekomme ich über sation im Durchschnitt zwei Drittel, die Kläranlage die Abwasserqualität eine regelmäßige und beleg- selbst aber bloß ein Drittel der Mittel verschlingt. bare Kontrolle. Ich finde, daß die Stellungnahmen der Kommunen Nun werfen Sie uns vor, daß wir nur den Einstieg manchmal enttäuschen. Ich bin nicht nur über die wagen. Soll man denn die Dummheit begehen und in Ungerechtigkeit der Strukturierung der Verwaltungs- einer neuen Technologie sofort auf breitester Ebene kosten in Sorge, sondern ich bin auch etwas über die losmarschieren? Oder sollten wir nicht erst einmal die Ehrlichkeit der Abrechnung in Sorge. Bei sorgfältiger neuen Lösungen im Einzelfall, als Pilotprojekt erpro- Nachprüfung stellen wir in manchen Ländern fest, daß ben — das war unser Beschluß — und dann erst in die die Verrechnung gegenüber dem Verbraucher leider breite Öffentlichkeit durchdringen? Gottes nicht immer ganz kostengerecht erfolgt. Ich denke nur an die völlig unterschiedlichen Abschrei- (Beifall bei der F.D.P.) bungsmodalitäten. Die Ehrlichkeit dieser Verrech- nung wird der F.D.P. demnächst — hoffentlich Das Verursacherprinzip wird damit gewahrt. Ich gemeinsam mit unserem Koalitionspartner — eine bin enttäuscht von Ihnen, die Sie sich seinerzeit mit Anfrage an die Regierung wert sein. Und auch Sie von uns gemeinsam in der sozialliberalen Regierung der SPD sind eingeladen, sich da anzuschließen. eigentlich das Verursacherprinzip auf Ihre Fahnen geschrieben haben. Wir haben im Abwasserbereich Die Sorgen der Kommunen, daß in diesem Bereich jetzt das erste Mal die Möglichkeit, tatsächlich auf das keine Finanzen vorhanden sind, muß man wirklich Verursacherprinzip zurückzugreifen, weil wir die einmal öffentlich aussprechen. Es gab in der Abwas- technischen Möglichkeiten dazu haben. Nun sagen serentsorgung Pilotprojekte; das Land Niedersachsen Sie, das sei Pfusch. — Nein, es ist genau das Richtige, ist mit großem Vorbild vorangegangen. Mit soge- daß der mehr zahlen muß, der mehr Schadstoffe nannten Betreibermodellen konnten bei der Privati- einbringt. sierung von Abwasseranlagen 20 bis 30 % der Investi- tionskosten und 20 bis 30 % der Betreiberkosten (Dr. Walter Hitschler [F.D.P.]: Sehr richtig!) gespart werden. Für mich hat eine Kommune kein Recht, hier zu klagen, daß das Geld ausgeht, wenn sie Was können wir denn eigentlich Besseres machen, als nicht alle Chancen zur Kostensenkung wahrnimmt, das Verursacherprinzip so in Vollzug zu bringen? und das heißt Privatisierung mancher Anlagen. (Beifall bei der F.D.P.) (Beifall bei der F.D.P.) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17003

Josef Grünbeck Das ist eine Forderung unserer Fraktion. stellt werden. Hier stimme ich dem Minister aus dem Bedauerlich ist — da schließe ich mich meinem Saarland voll zu. Kollegen Harries an —, daß wir die Kompensations- Für verfassungsrechtlich bedenklich halten wir lösung nicht so zustande gebracht haben, wie wir sie auch die Einführung einer Kompensationsmöglich- gern gewollt hätten. Meine Damen und Herren, ich keit von Investitionen in ostdeutschen Kommunen mit muß Ihnen ehrlich gestehen — und da besteht wohl in Westdeutschland zu zahlenden Abgaben. Das hat quer durch alle Reihen Übereinstimmung —: Daß die nämlich mit Solidarität nichts zu tun. Bundesländer es abgelehnt haben, die entsprechen- Doch die Handlungsfähigkeit der Kommunen wird den Fördermittel in Kompensation den neuen Bundes- ebenso durch eine neue Qualität bedroht, nämlich ländern zufließen zu lassen, ist nicht nur ökologisch durch die im Maastrichter Vertrag niedergelegten kaum vertretbar. Es mangelt da auch an Solidarität mit Konvergenzkritierien zur Schaffung der Europäi- unserer deutschen Einheit. schen Währungsunion. Danach ist die Verschuldung (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) der öffentlichen Hand zu begrenzen, wodurch ein Der ökologische Effekt ist nachgewiesen. Aus dem starker Zwang zur Privatisierung in allen Bereichen Gutachten ist ersichtlich, daß wir beispielsweise bei der Kommunen ausgeübt wird. Dazu möchte ich 1 000 DM Einsatz im Westen bei der dritten oder einige Bemerkungen mehr machen. vierten Reinigungsstufe einen ökologischen Effekt Viele deutsche Kommunen befürchten, daß durch von 3 bis 4 % erhalten. Mit der gleichen Summe den Maastrichter Vertrag die kommunale Selbstver- können Sie bei der ersten und zweiten Reinigungs- waltung, die es in vergleichbarer Form in anderen stufe in den östlichen Bundesländern 30 bis 40 % Mitgliedstaaten nicht gibt, durch EG-Regelungen erreichen. Wenn unsere Solidarität in unserem verein- weiter eingeschränkt wird. Sie steht schon heute fast ten deutschen Land nicht mehr ausreicht, um solche nur noch auf dem Papier. In Brandenburg liegt z. B. Erkenntnisse im Gesetz umzusetzen, dann haben sich das, was tatsächlich in der Selbstverwaltung der die Länder mit ihrem Egoismus eigentlich einen Kommunen liegt, im Durchschnitt bei etwa 6 %. schlechten Dienst erwiesen. Herr Kollege Harries, Sie haben vorhin von der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) finanziellen Not der Kommunen gesprochen. Die Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Wir werden Verantwortung dafür liegt doch vor allen Dingen beim beim Abwasserrecht, beim Abfallrecht, bei allen Bund. Sehen wir uns doch nur einmal das Sparpaket Umweltgesetzen nach mehr Akzeptanz im europäi- an, das hier beschlossen worden ist. Etwa 100 bis schen Raum suchen müssen. Es wird uns nichts helfen, 150 Millionen DM zusätzliche Finanzausgaben erge- wenn wir den Rhein sauberhalten und die Franzosen ben sich daraus allein für die Kommunen in Branden- uns die Kalisalze hineinwerfen. Es wird uns nichts burg, vom Sinken der Kaufkraft ganz zu schweigen. helfen, wenn wir die Elbe sauber machen und die Für Brandenburg bedeutet das 300 bis 500 Millionen Tschechen uns über die Grenze massenweise Frach- DM weniger an Kaufkraft, was letzten Endes heißt, ten liefern. Die Ostsee wird durch internationale daß sich die Einnahmen der Kommunen deutlich Verschmutzung belastet. verringern würden. Die Verantwortung liegt also hier im Bund, und diese können wir nicht einfach abschie- Wir müssen alle gemeinsam die Erkenntnis akzep- ben. tieren: Wasser und Luft haben keine Grenzen. Wir müssen dem Umweltschutz in allen Bereichen zu internationaler Akzeptanz verhelfen. Denn eines Vizepräsidentin Renate Schmidt: Frau Kollegin steht fest, meine verehrten Damen und Herren: Der Enkelmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frieden in Europa kann nur sichergestellt werden, Herrn Kollegen Hitschler? wenn wir den Frieden mit der Natur finden. Der vorgelegte Gesetzentwurf ist ein Schritt dahin. Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Nein, ich Ich danke Ihnen sehr. möchte von Herrn Hitschler keine Frage. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Zuruf von der CDU/CSU) — Das wird mit uns ja auch so gemacht. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächste hat Wir meinen, daß auch die Befürchtungen nicht die Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann das Wo rt . unberechtigt sind, daß die Entscheidungen von Brüs- sel, Straßburg und Maastricht einen weiteren Demo- Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Frau kratieabbau an der Basis politischer Entscheidungen Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Gesetz- — nämlich auch in den Kommunen — bedeuten, der entwurf zur Änderung des Abwasserabgabengesetzes auch durch weitere Befugnisse für das EG-Parlament, geht an den Realitäten der Kommunen insbesondere wie sie die SPD immer wieder gebetsmühlenartig in Ostdeutschland vorbei. Leider offenbart sich bei fordert, nicht zu kompensieren ist. dieser Gelegenheit wieder einmal, daß vom Bund und Es wird heute viel von Politikverdrossenheit zum Teil den Ländern auf die Kommunen wenig gesprochen. An die Bundesregierung sei hier die Rücksicht genommen wird. Es macht offensichtlich Frage gestellt, wie sie in Zukunft Menschen für die Spaß, sie an der kurzen Leine der zweckgebundenen Politik gewinnen will, wenn der größte Teil des Zuweisungen zu führen. Es müssen endlich die not- öffentlichen Lebens in den Kommunen privatisiert wendigen Mittel für eine Sanierung und Modernisie- wurde. Welchen Sinn haben kommunale Parlamente rung der Kanalsysteme und der Kläranlagen insbe- noch, wenn öffentliche Politik privatisiert wird? Die sondere in den ostdeutschen Kommunen bereitge- Tatsache, daß in vielen Gemeinden in Brandenburg 17004 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Dr. Dagmar Enkelmann kein Bürger bereit ist, für das Parlament überhaupt zu Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun spricht Herr kandidieren, hat vor allem damit zu tun, daß der Staatssekretär Wieczorek. Entscheidungsspielraum für die Parlamente immer geringer wird. Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reak- Meine Damen und Herren, in der Bundesrepublik torsicherheit: Frau Präsidentin! Meine Damen und wurde bis zur Vereinigung die Abwasserbeseitigung Herren! Es ist schon sehr interessant, einmal zu nur in Niedersachsen und dort nur zu ca. 5 % privat verfolgen, wie mäßig und leise die Diskussion über die betrieben. In der Diskussion um die Privatisierung der Novellierung des Abwasserabgabengesetzes begann. Abwasserbeseitigung wie auch der Wasserversor- Es war übrigens eine Bundesratsinitiative, über die gung wird oft argumentiert, die Einbeziehung priva- wir im Umweltausschuß zu sprechen hatten, und eine ten Kapitals entlaste die öffentlichen Haushalte. Diese entsprechende Erweiterung durch die Bundesregie- Aussage ist, obwohl sie seit Jahren wiederholt wird, rung, bei der ich mich freue, daß unsere Konzeption äußerst kurzsichtig. Werden die Investitionen durch durchsetzbar war. Eigenkapital beispielsweise eines privaten Betreibers finanziert, so wird dieser sein Eigenkapital kalkulato- Auf der anderen Seite erlebt man, mit welch wenig risch nach Marktkonditionen verzinsen. Finanziert gebotener Sachkunde hier diskutiert wird. Frau Kol- sich der private Betreiber selbst am Kapitalmarkt, so legin Enkelmann, ich zähle mich auch zu diesen ergeben sich mindestens gleiche Finanzierungsko- gottesfürchtigen Menschen — ich bin an sich einer —, sten, wie sie der Kommune bei entsprechender Kre- aber indem Sie Ihre alten Ladenhüter immer wieder ditaufnahme entstehen würden. vorbeten, wird die Situation nicht anders. (Zuruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann (Zuruf von der CDU/CSU) [PDS/Linke Liste]) — Solange kommunales Eigentum vorhanden ist, — Sie müssen sich einmal mit der Realität beschäfti- natürlich. gen. Wir haben in den alten und in den neuen Bundesländern mittlerweile an die 80 private Betrei- Privates Kapital kann also nicht die Finanzierungs- bermodelle oder Kooperationsmodelle in Planung, kosten, die letztendlich in jedem Fall von den Bürge- Bau oder Betrieb mit einem gebundenen Investitions- rinnen und Bürgern zu tragen sind, senken. volumen von 6,5 Milliarden DM. Wissen Sie über- (Dr. Walter Hitschler [F.D.P.]: Aber vielleicht haupt, wieviel Arbeitsplätze dadurch geschaffen wur- wirtschaftlicher arbeiten!) den? Sie sollten sich einmal solche Modelle ansehen und nicht nur darüber reden, wie schlecht das alles Die Erfahrungen im Osten belegen eher das Gegen- ist. teil. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Das häufige Argument, die p rivate Finanzierung Die alten Ladenhüter, kommunale Kredite, sind der Abwasserbeseitigung schaffe den kommunalen alles Dinge — ich bin gerne bereit, mit Ihnen und den Spielraum für die Realisierung anderer kreditfinan- entsprechenden Fachleuten ein Gespräch zu füh- zierter Aufgaben, ist ebenfalls nicht schlüssig, da ren —, die wir in der öffentlichen Diskussion nicht dieser Spielraum letztlich durch die Leistungsfähig- brauchen. Sie bringen die Bürgermeister, die in den keit der Kommunen bestimmt wird. Unter der Lei- neuen Bundesländern vor Investitionen von über stungsfähigkeit der Kommunen wird verstanden, daß 200 Milliarden DM stehen, genau auf den alten Weg, langfristig die Ausgaben der Kommunen durch ent- den man 40 Jahre lang in der alten Bundesrepublik sprechende sozialverträgliche Einnahmen gedeckt beschritten hat, und führen damit in eine Sackgasse. sein müssen. Wir sollten endlich einmal offen über diese Dinge sprechen. Die Tatsache, daß aus der Sicht der Kommunen an die Stelle der Kredittilgung die Zahlung eines Entgelts Vizepräsidentin Renate Schmidt: Ich möchte Sie an den privaten Betreiber tritt, schafft keine zusätzli- darauf aufmerksam machen, ohne Ihren Redefluß zu chen Einnahmequellen, d. h. der Spielraum der Kom- stoppen, daß der Kollege Hitschler das Bedürfnis hat, munen ändert sich an dieser Stelle nicht. die von seiner Partei mit getragene Bundesregierung (Klaus Harries [CDU/CSU]: Davon steht befragen zu dürfen. nichts darin!) Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär beim Soviel zur Privatisierung der Abwasserentsorgung, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reak- die von einigen Politikern mit Inbrunst eines religiö- torsicherheit: Frau Präsidentin, selbstverständlich. sen Glaubensbekenntnisses verkündet wird. Politik (Zuruf von der F.D.P.: Ist das verboten?) sollte jedoch etwas mit Wissen zu tun haben und weniger mit Glauben. Daher wissen wir, daß wir die Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nein, das ist über- vorgesehene Novellierung ablehnen müssen. haupt nicht verboten. Ich mache nur darauf aufmerk- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. sam, daß Dreiecksfragen, was der Kollege Staatsse- kretär von den Äußerungen der Frau Kollegin Enkel- (Zuruf von der CDU/CSU: Wer ist „wir"? — mann hält, nicht zulässig sind. Ich sage es nur sicher- Gegenruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann heitshalber. [PDS/Linke Liste]: Anteilsmäßig sind wir heute sehr stark vertreten, im Gegensatz zu Dr. Walter Hitschler (F.D.P.): Das beabsichtige ich euch!) auch nicht zu fragen, Frau Präsidentin. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17005

Dr. Walter Hitschler Meine Frage geht dahin, ob Sie in der Lage sind, der gebracht hat, und sollten auch einmal aufmerksam Herr Staatssekretär, uns und vielleicht der Kollegin registrieren, daß z. B. der Freistaat Sachsen einen Enkelmann einen Überblick darüber zu geben, wie lange von der Bundesregierung gemachten Vorschlag sich die kommunalen Gebühren aus diesen Gebüh- aufgenommen hat, nämlich GA-Mittel — Gemein- renhaushalten in den letzten Jahren und insbesondere schaftsaufgabe regionale Wirtschaftsstruktur — auch in der letzten Zeit explosiv entwickelt haben. im Bereich der Umweltinfrastruktur einzusetzen. Das Bekanntlich sind die kommunalen Gebühren jene hat z. B. den Freistaat Sachsen in die Lage versetzt, in Preise, die von allen Preisen am stärksten gestiegen den nächsten Jahren über 600 Millionen DM zur sind und die Lebenshaltungskosten am stärksten in Förderung von Wasser- und Abwasserprojekten zu die Höhe getrieben haben. haben. Andere Bundesländer können diesem Weg (Zuruf von der SPD: Ist das eine Kurzinter- ruhig folgen. vention? Es ist doch keine Frage!) Meine Damen und Herren, ich will an dieser Stelle Das ist ja nicht unbedingt ein Ausweis für die beson- noch einmal kurz auf die Änderungen eingehen. Wir dere Wirtschaftlichkeit und Sinnhaftigkeit solcher haben einmal die Ermäßigungsregelung für den Rest- kommunalen Betriebe. schmutz. Außerdem soll der Abgabesatz nicht mehr bis auf 90 DM, sondern bis auf 70 DM ansteigen. Das (Beifall bei der F.D.P. — Widerspruch der bedeutet nicht, daß wir Umweltstandards mindern Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke wollten oder Leute, die mehr Schadstoffe einleiten, Liste] — Zuruf von der SPD: War das eine belohnten, sondern es ist das Ergebnis der Tatsache, Frage? — Eckart Kuhlwein [SPD]: Kommu- daß das Abwasserabgabengesetz in Verbindung mit nalfeindlich!) dem Wasserhaushaltsgesetz und der Entwicklung der Technik der Entlastung der Gewässer eine ganze Menge an Gewinn für die Umwelt gebracht hat, so daß Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reak- eine weitere Steigerung — wie vom Bundesrat 1990 torsicherheit: Herr Kollege, um der Kritik der Präsi- verabschiedet, von der Bundesregierung aber schon dentin zu entsprechen und keine Dreiecksantwort zu damals nicht gewollt — nicht notwendig ist. geben, verweise ich auf den Bericht, der gestern im Die bedeutendsten Veränderungen — das ist hier Kabinett zur Entwicklung des Gebührenaufkommens auch schon gesagt worden — ergeben sich im Bereich in der kommunalen Abwasserbeseitigung und Abfall- der Verrechnung der Abwasserabgabe mit den dem entsorgung vorgelegt wurde. Wir haben sehr differen- Gewässerschutz zugute kommenden Investitionen. zierte, aber in den letzten Jahren exorbitant steigende Meine Damen und Herren, es geht doch hier gar nicht Belastungen in den Kommunen, nicht nur in den darum, jemanden zu belohnen, der ein Kanalnetz Bereichen Wasser und Abwasser, sondern auch im baut, einen Sammler baut oder ein Straßennetz baut, Bereich der Abfallwirtschaft. sondern darum — das betrifft vor allem auch die neuen Aber, Frau Kollegin Enkelmann, kommen wir noch Länder —, dann zu kompensieren, dann die Investi- einmal auf das Thema zurück. Wir sind keine Privati- tionen gegenzurechnen, wenn deutliche Reduzierun- sierungsfetischisten. Wir wollen auch gar nicht das gen der Belastung von 20 % im Teilstrom und im Grundgesetz ändern. Der Art. 28 bedeutet uns sehr Gesamtstrom beim Einleiten in das Gewässer insge- viel. Wir sehen auch Chancen, bei Privatinvestitionen samt zu einer Minderung führen. Wenn es nicht die hoheitlichen Rechte der Kommunen besser aus- gewaltige Entlastungen sind, so sind es immerhin füllen zu können. doch Entlastungen. Ich denke, das ist auch eine deutliche Verbesserung dessen, was ursprünglich im Aber was wir wollen, ist ein Wettbewerb zwischen den Öffentlich-Rechtlichen und den P rivaten. Dazu Bundesrat diskutiert wurde. wird die Bundesregierung in allernächster Zeit einige Nun komme ich zum letzten Punkt: Verrechnung Entscheidungen treffen, z. B. im Bereich der steuerli- der Investitionen in den neuen Bundesländern. Wir chen Belastungen. Es ist doch gar nicht einzusehen, wissen, wie schwierig dieses Thema ist. Aber wir daß ein Privatinvestor im Sinne unternehmerischer wissen natürlich auch, daß die Kommunen hier theo- Tätigkeit im Abwasserbereich 15 % Mehrwertsteuer retisch Solidarität üben könnten, wobei wir zugeben, bezahlt und die Kommune gar nichts, obwohl sie das daß das sehr schwierig ist, denn auch die westdeut- gleiche tut. Wir wollen Wettbewerb. Wir wollen Wirt- schen Kommunen stehen vor gewaltigen Herausfor- schaftlichkeitsvergleich. Dann werden wir ja sehen, derungen z. B. bei der Erneuerung der Kanalisation. welche Lösung die bessere ist. Wesentliche finanzielle Mittel werden wir jedenfalls von seiten des Staates Wenn wir uns einmal den Nebenkriegsschauplatz — wie auch hier im Antrag der SPD steht — vom Fonds der dritten Reinigungsstufe anschauen, dann wissen Deutsche Einheit und aus Fördermitteln der EG zur wir: Es geht gar nicht um die dritte Reinigungsstufe, Verfügung haben. Es ist ja alles richtig, und es passiert sondern eigentlich um die Kanalisation; denn die ja auch. dritte Reinigungsstufe belastet die Gesamtinvesti- tion nicht einmal zwischen 10 und 15 %, während das (Widerspruch bei der SPD) Kanalnetz mit über 70 % durchschlägt. Auch hier — Entschuldigen Sie, Sie sollten sich einmal damit werden wir also eine Erleichterung bekommen. Nein, befassen, welche enormen Mittel die Bundesregie- wir meinen natürlich hier auch Wirtschaftsunterneh- rung, also der Bund in den vergangenen Jahren 1991 men, die z. B. in den neuen Bundesländern in die und 1992 mit dem Programm ökologischer Aufbau Umweltinfrastruktur investieren; m an sollte hier und jetzt auch mit der Verstetigung des Fonds Deut- einen Anreiz schaffen, diese Maßnahmen zügig und sche Einheit aus EG-Mitteln in die neuen Bundeslän- schnell durchzuführen. 17006 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Parl. Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek Meine Damen und Herren, den Einwand, insbeson- Diskussion über das Verhältnis von Ordnungsrecht dere die erhebliche Ausweitung der Verrechnungs- und Abgaberecht führen müssen. möglichkeiten werde zu einer drastischen Absenkung Die hier nur angedeuteten Perspektiven machen des Abgabeaufkommens führen, kann ich nicht gelten deutlich: Von Stillstand oder gar Rückschritt in der lassen. Man muß immer wieder betonen: Mit der Gewässerschutzpolitik kann keine Rede sein. Abwasserabgabe wollen wir nicht dem Staat zusätzli- che Einnahmen verschaffen, sondern den Gewässer- Vielen Dank, meine Damen und Herren. schutz verbessern, und zwar durch geeignete Investi- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tionen. Die Ausweitung der Verrechnungsmöglich- keiten wird insofern starke Innovationsimpulse aus- lösen. Wer investiert, soll abgabemäßig belohnt wer- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun spricht Frau den. Das ist seit jeher ein Prinzip der Abwasserab- Kollegin Susanne Kastner. gabe.

Die letzte, erst zum Schluß in das Novellierungskon- Susanne Kastner (SPD): Liebe Kollegen! Liebe zept aufgenommene Änderung betrifft die Meßlö- Kolleginnen! Das von der sozialliberalen Koalition sung; Herr Kollege Grünbeck hat darüber ausführlich 1976 verabschiedete Abwasserabgabengesetz regelt gesprochen. Mein Haus hat sich entschieden den von bis heute die einzige echte Umweltabgabe. Die starken Kräften unterstützten Versuchungen wider- Abwasserabgabe ist — wie wir heute so gern sagen — setzt, durch Einführung einer Option auf eine Veran- eine echte Ökosteuer. Dieses ökonomische Instru- lagung nach gemessenen Werten die Abgabenbela- ment des Umweltschutzes regelt: Wer viel Dreck in die stung und entsprechend die ökonomische Anreizwir- Flüsse einleitet, muß viel zahlen; wer wenig einleitet, kung der Abwasserabgabe fast zu halbieren, ohne daß muß wenig zahlen. Dies wollten wir doch alle. Dreimal sich an den Abwasserverhältnissen etwas ändert. jedoch ist dieses Gesetz inzwischen von Ihnen novel- liert und zum Teil auch abgeschwächt worden. Wir wollen jetzt in einer Probephase, in einer Modellphase neben den im Bescheid festgesetzten Heute steht die vierte Novelle zur Debatte, mit der Überwachungswerten im Falle einer Heraberklärung die Bundesregierung einen Gesetzentwurf des Lan- nach § 4 Abs. 5 sehen, wie wir Erfahrungen mit den des Bayern zum weiteren Absatteln mißbraucht. Sie, Meßprogrammen sammeln können. Wir müssen auch meine Damen und Herren von der Regierungskoali- darauf aufmerksam machen, daß es für die geforder- tion, wollen und werden mit dieser Änderung Ihren ten Meßwerte noch gar nicht die entsprechenden eigenen Umweltminister ad absurdum führen Programme gibt. Das müssen wir ausweiten; das muß (Josef Grünbeck [F.D.P.]: Das glaubt Ihnen sich entwickeln. Deshalb werden wir mit Augenmaß niemand!) diese Modellversuche begleiten. Ich glaube auch, daß — Herr Grünbeck, hören Sie doch zu, was Herr Töpfer wir hier kooperative Partner bei den bescheidenden gesagt hat —, der noch 1990 bei der dritten Novelle Behörden finden werden. stolz verkündet hat, „daß dieses neue Abwasserabga- Meine Damen und Herren, in der zu fassenden bengesetz ein weiterer Baustein für das Gesamtpaket Entschließung sind bereits die Weichen für eine des in dieser Legislaturperiode vorgelegten Ausbaus grundlegende Reform des Abwasserabgabenrechts zu einer ökologischen Marktwirtschaft in der Bundes- gestellt. Ich begrüße den der Bundesregierung republik Deutschland ist". Sie selbst führen diesen gestellten Novellierungsauftrag ausdrücklich. Umweltminister heute vor, weil Sie trotz der Warnung vieler Sachverständiger in der Anhörung des Umwelt- (Zuruf von der SPD: Das wundert uns ausschusses — ich nenne beispielsweise nur das nicht!) Bundesumweltamt, den BBU, den Bundesverband Gas- und Wasserwirtschaft und das Finanzwissen- Wir werden ihn ernst nehmen. schaftliche Institut der Universität Köln — dafür sor- gen, daß diese erste und einzige erfolgreiche Öko- Es war von vornherein klar, daß das, wie wir alle steuer in ihrer Wirkung im wahrsten Sinne des Wortes wissen, recht kompliziert und strikt auf die aktuellen verwässert wird. Erfordernisse des wasserrechtlichen Vollzugs ausge- richtete Abgabensystem nach fast 20jähriger Praxiser- Diese Novelle könnte auch überschrieben sein mit probung auf den Prüfstand gehört. Dabei werden vor „Novelle zur Abschaffung des Abwasserabgabenge- allem die Fortschritte, die im Ordnungsrecht bei der setzes und zu einer Umwandlung in ein Wirtschafts- Durchsetzung der Mindestanforderungen an Abwas- förderungsgesetz". sereinleitungen nach § 7 a Wasserhaushaltsgesetz (Beifall bei der SPD) erreicht worden sind, und die daraus zu ziehenden Diese zutreffende Überschrift habe nicht ich erfunden, Schlußfolgerungen für die Aufgaben und die Ausge- sondern renommierte Wissenschaftler, wie Sie viel- staltung eines künftigen Abwasserabgabensystems leicht wissen. zu würdigen sein. Sie wollen heute, ohne die Umsetzung und die Bei der in der nächsten Legislaturperiode anstehen- Auswirkungen der dritten Novelle überhaupt abge- den Novelle werden wir die Gelegenheit nutzen, eine wartet zu haben, eine Fülle von Änderungen vorneh- zukunftsorientierte, der gestiegenen Bedeutung men und damit in Sachen Umweltschutz einen gewal- marktwirtschaftlicher Instrumente in der Umweltpo- tigen Schritt zurückgehen. Sie nutzen die Finanznot litik angepaßte Konzeption der Abwasserabgabe vor- der Städte und Gemeinden, zu der die Bundesregie- zulegen. Wir werden dabei auch eine grundsätzliche rung ja nicht unmaßgeblich beigetragen hat, dazu, die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17007

Susanne Kastner Kosten für die Sanierung und Beseitigung von Schaut man sich die von Ihnen geplante Änderung Umweltschäden wieder zu Lasten der Steuerzahler des Abwasserabgabengesetzes an, dann bestätigt sich statt zu Lasten der Verursacher abzuwälzen. der Verdacht eines Kuhhandels (Beifall bei der SPD) (Georg Gallus [F.D.P.]: Haben Sie schon einmal eine Kuh gekauft? — Heiterkeit bei Es bestand noch vor kurzem weitgehend Konsens in der F.D.P. und der CDU/CSU — Zuruf von diesem Haus, daß vorsorgender Umweltschutz billi- der SPD: Nein, aber gemolken!) ger ist als Sanierung und daß die Sanierungskosten ja wohl von den Verursachern zu tragen sind. zu Lasten unserer natürlichen Ressourcen und zur Subventionierung der interessierten Wirtschaft aller- (Zuruf von der CDU/CSU: Dabei bleibt es dings. — Vom Kühemelken versteht der Kollege da auch!) drüben vielleicht ein bißchen mehr. Jetzt aber, angesichts der allgemeinen Rezession, (Georg Gallus [F.D.P.]: Ja, das kann ich beginnen wir wieder mit der leidigen Diskussion der schon!) 80er Jahre, daß Umweltschutz Luxus sei, den m an sich nur bei wirtschaftlicher Hochkonjunktur leisten Sie wollen die Abgabesätze zunächst auf dem könne. heutigen Stand einfrieren und erst 1997 wieder um 10 DM anheben, wohl wissend, daß diese Abgabe- (Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.) sätze schon heute deutlich geringer sind als die Ich frage mich manchmal, ob Sie die Studien, tatsächlich durch die Schadstoffeinträge verursachten Expertisen und Papiere aus dem Haus Ihres eigenen Kosten. Umweltministers und auch des Bundesumweltamtes Sie wollen die Verrechnungsmöglichkeit auf Inve- überhaupt schon einmal gelesen haben, denn dann stitionen für Sammelbecken erweitern, obwohl diese hätten Sie ja eigentlich lernen können, daß der Baumaßnahmen kaum Schadstoffe beseitigen und Umweltschutz und die damit verbundene Indust rie damit am Sinn des Gesetzes einfach vorbeilaufen. bei uns inzwischen ein entscheidender Wirtschafts- faktor ist. Sie wollen Investitionen in den neuen Bundeslän- dern auf die Abgabe im Westen anrechnen lassen, was Auch die kurzsichtigen Rechnungen, man müsse kaum praktikabel sein wird, verfassungsrechtlich nur die Umweltstandards wieder herunterfahren, um bedenklich ist und für die Kommunen einen zusätzli- der Wirtschaft für einige Zeit Kosten zu ersparen, sind chen Verwaltungsaufwand bedeutet, der in keinem doch schon längst widerlegt. Verhältnis zu den Kosten steht. (Josef Grünbeck [F.D.P.]: Das will kein Sie wollen den Einstieg in die Meßlösung jetzt, Mensch!) obwohl die tatsächlichen Schadstofffrachten nicht — Doch, mit dieser Novelle wollen Sie das, Herr konkret gemessen werden können — Herr Grünbeck Grünbeck. — Jeder kann zumindest heute wissen, daß behauptet, es könne sein; im nächsten Satz sagt er die Nachsorge immer teurer ist, als Schäden und dann, es müßten aber noch Pilotprojekte finanziert Verschmutzungen gar nicht erst zu produzieren. werden; was denn nun, fragt m an sich dann — und immer von einzelnen Meßwerten auf die Gesamt- All dies wissend, wollen Sie aber heute die vie rte fracht umgerechnet werden muß. Sie kündigen die Novelle oder, besser gesagt, die Abschaffung des dazugehörigen und notwendigen Gesetze und Ge- Abwasserabgabengesetzes beschließen. Es scheint ja setzesänderungen erst für die nächsten Jahre an, etwas dran zu sein an dem „Kuhhandel" mit den vielleicht auch auf dem Hintergrund, daß sich in den Wirtschaftspoli tikern der Regierungskoalition, den nächsten Jahren die Regierung ändert. das „Handelsblatt" am 28. Oktober dieses Jahres beschrieb. Von einem Kuhhandel ist dort die Rede, (Zurufe von der CDU/CSU: Was?) nachdem bisher in dieser Legislaturperiode „über- Mit diesen Kernpunkten Ihrer Novelle schwächen haupt nichts gelaufen ist". Und weiter — ich zitiere Sie das Verursacherprinzip, schaffen Sie den Anreiz- wörtlich, und wer jetzt zitiert ist, der fühlt sich sicher charakter des alten Gesetzes weitgehend ab und auch betroffen —: steigern Sie den Verwaltungsaufwand auch für Kom- Überzogene Regulierungen wie beim Abwasser- munen und Länder derart, daß die Forderung nach abgabengesetz würden zurückgedreht, um an- völliger Abschaffung des Gesetzes nur noch eine dere Projekte wie das Bodenschutzgesetz und das logische Schlußfolgerung sein kann. Kreislaufwirtschaftsgesetz doch noch durchs Par- Ich weiß schon, daß Sie mir immer wieder die lament zu bringen. Stellungnahmen der kommunalen Spitzenverbände ( [SPD]: Wer hat das gesagt? — vorhalten, Weiterer Zuruf von der SPD: Das ist eine (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Illusion!) die sich weitgehend positiv zu Ihren Novellierungs- Selbst wenn ich Ihnen einmal zugute halte, daß vorschlägen geäußert haben. hiervon vielleicht nur ein Teil oder die Hälfte stimmt, bleibt das doch in der Tat ein starker Tobak. (Zuruf von der F.D.P.: Ihre Genossen!) (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Aber ich sage Ihnen jetzt schon: Dieselben Verbände Liste) werden in einem Jahr wieder bei uns anklopfen und 17008 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Susanne Kastner sich über den unsinnigen Verwaltungsaufwand genmodernisierung, zum Ausbau des Kanalsystems beschweren, den diese Novelle verursachen wird. und zur Trinkwassersanierung nicht über die schon (Zuruf von der SPD: Jawohl!) heute sehr hohen Gebühren alleine finanzieren. Hier müssen Bund, Länder und die Europäische Union Daß sich die Kommunen bei ihrer desolaten Finanz- zielgerichtet fördern. Das haben Sie gar nicht bestrit- lage über jede einzusparende Mark freuen, wird ja ten. Sie sagen: Der Antrag der SPD ist in dieser Frage keinen von uns wundern. Aber ich sage Ihnen, und richtig. Die Gebührenbelastung der normalen Ver- zwar auch als aktive Kommunalpolitikerin, die ich braucher im Westen und im Osten wird durch diese noch bin: Hier wird zu kurzfristig gedacht und auch zu Novelle aber nicht gesenkt werden, da die Abwasser- kurzfristig gehandelt. abgabe nur einen sehr, sehr kleinen Teil dieser (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Gebühren ausmacht. Liste) Der Bundesrat wird die Scheinfunktion dieser Novelle, die gerade den Bürgerinnen und Bürgern der Ich weiß ja, daß fast überall Kommunalwahlen vor der neuen Bundesländer nur S and in die Augen streut, Tür stehen und daß es jedem Kommunalpolitiker hoffentlich noch verhindern. Der Beschluß der schwerfällt, neue Gebührenerhöhungen verkünden Umweltministerkonferenz aus der letzten Woche zu müssen. Aber die Sanierung verunreinigter stimmt mich da sehr hoffnungsvoll. Vielleicht sollten Gewässer muß irgendwann einmal bezahlt werden, Sie sich den Beschluß noch einmal durchlesen; ich und es ist dann eben einfach billiger, Verunreinigun- kann ihn Ihnen aber auch gerne noch einmal vorle- gen erst gar nicht zuzulassen und die notwendigen sen. Investitionen heute zu tätigen, als anschließend teure Sanierungsprogramme zu bezahlen. Die Nordsee ist (Josef Grünbeck [F.D.P.]: Nein, danke!) nur zu retten, wenn Phosphor und Stickstoff aus dem Da heißt es: Wasser unserer Flüsse entfernt werden oder, besser Die Umweltministerkonferenz vertritt die Auffas- noch, gar nicht erst eingeleitet werden. sung, daß sich die Abwasserabgabe als einzige Herr Töpfer ließ im Sommer dieses Jahres die frohe bundesweit eingeführte Lenkungsabgabe be- Botschaft verbreiten, die Wasserqualität der deut- währt hat. Dabei tritt die Umweltministerkonfe- schen Flüsse sei in den letzten Jahren fast überall renz Bestrebungen entgegen, über den Beschluß besser geworden, des Bundesrates hinaus dieses marktwirtschaft- lich wirkende Instrument unver tretbar einzu- (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) schränken. es bedürfe aber bei einigen Gewässern noch weiterer Dem habe ich eigentlich nichts mehr hinzuzufügen. Maßnahmen. All es schön, alles richtig. Ich frage Sie Sie, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen von der dann aber: Warum jetzt das Erreichte wieder aufs Koalition, sollten sich darüber im klaren sein: Gerade Spiel setzen? Warum jetzt Verschmutzungen zulas- im Interesse des Wirtschaftsstandortes Deutschl and sen, die wir dann wieder sanieren müssen? können wir einen Rückschritt im Umweltschutz ein- (Zuruf von der CDU/CSU: Das passiert doch fach nicht zulassen. gar nicht!) (Zustimmung bei der SPD — Josef Grünbeck Warum wollen Sie unseren Kindern und Enkelkindern [F.D.P.]: Den machen wir auch nicht!) neben all den Schulden, die wir und insbesondere Sie Nur wenn die Infrastruktur in den neuen Ländern ihnen hinterlassen, auch noch den Dreck hinterlas- schnell verbessert wird, werden wir dort Arbeitsplätze sen, erhalten und neue schaffen. Sauberes Trinkwasser, saubere Flüsse und Seen und eine moderne Abwas- (Zuruf von der CDU/CSU: Sie malen ein serreinigung gehören dazu. Deshalb lehnen wir den Horrorgemälde!) Gesetzentwurf und den Entschließungsantrag der obwohl es schon heute möglich wäre, ihn zu verhin- Koalitionsfraktionen ab und fordern Sie auf, unserem dern, und dies auch volkswirtschaftlich billiger Entschließungsantrag, den Sie ja in Ihren Wortbeiträ- wäre? gen auch für richtig erachtet haben, zuzustimmen. Ich kenne das Argument, daß es doch besser sei, (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke jetzt die Kläranlagen und Abwasserkanäle in den Liste) neuen Ländern zu sanieren, als die dritte Reinigungs- stufe im Westen einzufordern. Dies klingt logisch und Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster auf den ersten Blick unglaublich einfach und beste- spricht der Kollege Dr. Gerhard Friedrich. chend; aber es ist eine reine Augenwischerei, weil die bei den Kommunen im Westen eingesparten Mittel ja gar nicht in die neuen Länder fließen werden. Die Dr. Gerhard Fried ri ch (CDU/CSU): Frau Präsiden- Finanznot der Kommunen wird durch eine Verwässe- tin! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin rung oder Aussetzung des Abwasserabgabengesetzes Kastner, da Sie, genauso wie ich, aus Bayern stam- nicht behoben werden, aber die Länder, insbesondere men, wissen Sie doch: Kuhhandel ist in Bayern ein die neuen, werden noch weniger Mittel zur Verfü- ehrenwertes Geschäft. gung haben, um Investitionen zur Verbesserung der (Zustimmung bei der CDU/CSU — Georg Abwasserreinigung schwerpunktmäßig zu fördern. Gallus [F.D.P.]: Jawohl!) Die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern Ich will Ihnen gern übersetzen, was ich damit gemeint können die notwendigen Investitionen zur Kläranla- habe. Wir befinden uns in einer etwas schwierigen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17009

Dr. Gerhard Friedrich wirtschaftlichen Großwetterlage. Die Bürger bekla- den Minister Töpfer als Umweltschlappi bezeichnet gen sich über immer mehr Abgaben; die Wirtschaft ist hat. international immer weniger wettbewerbsfähig. An- gesichts dessen meinen wir, daß wir, wenn wir in der (Zuruf von der SPD: Das würde Schäfer nie Umweltpolitik dort, wo es notwendig ist, Anforderun- sagen!) gen anheben müssen, zum Ausgleich der Gesamtbe- Es war ihm ja alles viel zu wenig. Aber seit er nicht lastung z. B. der Wirtschaft in anderen Bereichen mehr Theoretiker hier im Bundestag ist, sondern Übertreibungen streichen müssen. Praktiker in Baden-Württemberg geworden ist, hat er (Zustimmung bei der CDU/CSU) erkannt, daß nicht alles, was er hier erklärt hat, in der Praxis sinnvoll und vollziehbar ist. Das ist die Übersetzung des Begriffs Kuhhandel, den Sie hier verwendet haben; Sie haben mich ja zitiert. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Frau Kastner hat sich heute, weil sie mit Wirkung Meine Damen und Herren, ich will die kurze Zeit auf die Bundesmedien geredet hat, etwas leichter nutzen, um dem Herrn Leinen zu antworten, der sich getan. Im Ausschuß ist mir aufgefallen, Frau Kollegin ja zum Teil zu Recht auf Institute berufen hat, die sehr Kastner, daß Sie — wie hier — gesagt haben: Die für Umweltabgaben eintreten. Es ist vor allem ein ganze Richtung paßt mir nicht. Heute hat Herr Leinen finanzwissenschaftliches Institut in Köln, das in Äuße- von „verwässern" geredet, Sie haben von „absatteln" rungen bzw. in Aufsätzen tatsächlich befürchtet hat, gesprochen. Das Erstaunliche im Ausschuß war, Frau daß hier etwas verwässert wird, daß eine Umweltab- Kollegin Kastner, daß Sie zwei weitere „ Verwässe- gabe entschärft wird. rungsanträge " gestellt haben. Jetzt muß ich ein bißchen in die Details der Theorie (Susanne Kastner [SPD]: Oho! Das ist der Umweltabgabe gehen. Ich bin eigentlich mit stark!) Ihnen ein Anhänger dieses Instruments. Wir haben aber speziell im Wasserrecht das Problem, daß wir ein — Doch! ganz strenges materielles Ordnungsrecht haben, also (Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!) ganz strenge Grenzwerte, niedergelegt in § 7 a Was- serhaushaltsgesetz und in den Verwaltungsvorschrif- Es waren Anträge, die man im Grunde genommen nur ten zum Vollzug dieses Gesetzes. Gleichzeitig erhe- stellen kann, wenn man das Anliegen der Kommunal- ben wir hier eine Umweltabgabe, eine sogenannte politiker — und jetzt auch der Koalition — akzeptiert. Lenkungsabgabe. Diese hatte, Frau Kollegin Kastner, Ich habe den Eindruck, Sie halten hier Reden, um zu so, wie wir sie mit dem Kollegen Harries in der letzten sagen: Bundesweit bleibt die SPD umweltpolitisch an Legislaturperiode konstruiert haben, ursprünglich der Spitze der Bewegung. Der andere Antrag hinge- zweierlei Funktionen: gen war etwas für Ihren Wahlkreis. Damit wollten Sie Ihren SPD-Bürgermeistern wohl sagen: Wir sind ja Sie sollte zunächst einmal den Vollzug des Ord- auch noch ein bißchen vernünftig. nungsrechts beschleunigen, weil der § 7 a Wasser- haushaltsgesetz keine Fristen enthält. Wenn die (Heiterkeit bei der CDU/CSU — Zuruf von Anforderungen des § 7 a erfüllt sind, sollte die Abwas- der CDU/CSU: Aber nur ein bißchen!) serabgabe nach einigen wenigen Jahren eine Rest- Sie wissen doch ganz genau, Frau Kollegin Kastner, verschmutzungsabgabe werden. Jetzt haben wir die daß bei dem von Ihnen erwähnten Abwasserabgaben- Situation, daß wir Fristen zum Vollzug des materiellen gesetz-Hearing die kommunalen Spitzenverbände Wasserrechts haben, und zwar in einer EG-Richtlinie. — ich glaube, es war Herr Dr. Landsberg — gesagt Deshalb ist es eigentlich nicht mehr ganz erklärbar, haben, sie fühlten sich durch das gesamte Recht der weshalb wir beim Vollzug des § 7 a und der s trengen Abwasserreinigung überfordert. Ich habe Dr. Lands- Grenzwerte zweimal Druck machen, nämlich einer- berg gefragt, ob er für CDU- oder CSU-Kommunal- seits durch Fristen und andererseits durch Abga- politiker spricht. Er hat gesagt, er rede auch für die ben. SPD-Kommunalpolitiker. Die fühlen sich total überla- Aus meiner Sicht müssen wir, wenn wir mehr Zeit stet, meine Damen und Herren! haben — das ist jetzt vor den Wahlterminen nicht Und um bei Ihrem Begriff des Absattelns zu bleiben: möglich —, das Wasserrecht insgesamt neu überden- Einer, der neuerdings zu den Absattlern gehört, ist Ihr ken. SPD-Umweltminister Schäfer aus Baden-Württem- berg. (Susanne Kastner [SPD]: Ihr hattet doch lange genug Zeit dazu!) (Susanne Kastner [SPD]: Das ist die Unwahr- heit! Er ist dagegen!) Wenn wir mit Abgaben konsequent arbeiten wollen, wofür ich sehr bin, dann müssen wir das Ordnungs- Der hat einen ganz erstaunlichen Brief an den Bun- recht ganz radikal zurückschneiden, desumweltminister geschrieben und ganz vorsichtig angefragt, ob man im Bereich der Abwasserreinigung (Zuruf der Abg. Susanne Kastner [SPD]) nicht wieder ein bißchen zurückführen kann. weil man menschliches Verhalten nicht doppelt steu- (Zuruf der Abg. Susanne Kastner [SPD]) ern kann. Der kann nur nicht so klar reden, weil er hier bei der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — letzten Veränderung des Abwasserabgabengesetzes Zuruf von der SPD: Ihr wollt beides nicht!) 17010 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Dr. Gerhard Friedrich Es hat keinen Sinn, etwas zu verbieten und dann Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär beim hinterher eine Strafsteuer zu verlangen. Wir müssen Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reak- darüber noch insgesamt neu reden. torsicherheit: Frau Präsidentin! Herr Kollege Riedl! (Susanne Kastner [SPD]: Seit 1983 seid ihr an Für den Export der Pflanzenschutzmittel waren der Regierung! — Gegenruf von der CDU/ sowohl unter pflanzenschutzrechtlichen als auch CSU: Das ist noch nicht lange genug! — unter außenwirtschaftsrechtlichen Aspekten keine Susanne Kastner [SPD]: Zu lange!) Genehmigungen erforderlich. Die nach EG-Recht notwendigen Notifizierungsvorschriften wurden be- Vielen Dank. achtet. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Bei grenzüberschreitenden Beförderungsvorgän- gen auf der Schiene sind die internationalen RID- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Wortmel- Regeln zu beachten. In Deutschland ist je nach Trans- dungen liegen nicht vor. Damit schließe ich die portgut beim Bahntransport außerdem die Gefahrgut- Aussprache. verordnung Eisenbahn einschlägig. Soweit sich die Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstim- Pflanzenschutzmittel aus den letzten beiden Lieferun- mung über den vom Bundesrat eingebrachten Gesetz- gen wieder in Deutschland befinden, haben die entwurf zur Änderung des Abwasserabgabengesetzes zuständigen Landesbehörden eine ordnungsgemäße auf den Drucksachen 12/4272 und 12/6281 Nr. 1. Zwischenlagerung sichergestellt und die agrochemi- schen Zentren zur Entsorgung verpflichtet. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Hinsichtlich der in Albanien befindlichen Pflanzen- Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Hand- schutzmittel ergeben sich nach den gegenwärtigen zeichen. — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? Erkenntnissen der Bundesregierung keine Anhalts- — Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung punkte dafür, daß der Expo rt illegal war und die angenommen. Landesbehörden insoweit Maßnahmen gegen die Wir kommen damit zur Auftraggeber der Hannoveraner Firma ergreifen. dritten Beratung In diesem Zusammenhang ist festzustellen, daß die und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Staatsanwaltschaft Hannover das Ermittlungsverfah- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — ren gegen die Firmenverantwortlichen wegen Versto- Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der ßes gegen § 326 Abs. 1 StGB eingestellt hat. Dort Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung angenom- wurde geprüft, ob vermutete Abfallexporte oder die men. Entsorgung in Albanien strafrechtlich relevant sind. Unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung auf der Diese Frage wurde verneint. Drucksache 12/6281 empfiehlt der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit die Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage, Herr Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Kollege Riedl? — Bitte. Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimment- haltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung Dr. Erich Riedl (München) (CDU/CSU): Herr Staats- angenommen. sekretär, wenn man sich die Bilder dieses Gifttrans- portes einmal vor Augen hält, wenn man sich einen Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent- Bericht näher anschaut, der schon im Sommer von schließungsantrag der Fraktion der SPD auf der einer Expertenkommission gemacht worden ist, und Drucksache 12/6285. Wer stimmt für diesen Entschlie- wenn ich einen Be richt der deutschen Botschaft in ßungsantrag? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltun- Tirana zitieren darf, in dem es wörtlich heißt: ,,Unfaß- gen? — Dieser Entschließungsantrag ist abgelehnt. bar ist, wie der Zug überhaupt Deutschland verlassen Wir kommen damit etwas verfrüht zum Tagesord- konnte", dann frage ich mich, ob das alles so, wie Sie nungspunkt 1. Zur Fragestunde. Ist die Bundesregie- es hier guten Gewissens erklärt haben, mit EG- rung darauf eingestellt? — Wunderbar. Vorschriften oder mit Gesetz und Recht vereinbar sein kann. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf: Es kann doch nicht wahr sein, daß ein derartig Fragestunde voluminöses, hochgefährliches Gift in, soweit ich weiß, 17 Eisenbahnwaggons, auf Gesetz beruhend, — Drucksache 12/6254 — nach Albanien transportiert werden kann und daß Zunächst kommen wir zu den Dringlichen Fragen nach Auskunft der albanischen Behörden ein albani- aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für scher Empfänger nicht feststellbar ist. Wenn das Recht Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit — Druck- und Ordnung ist, Herr Staatssekretär, dann können sache 12/6293 —. Zur Beantwortung steht der Parla- wir doch unsere Arbeit hier einstellen. mentarische Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek zur Verfügung. Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr Ich rufe die Dringliche Frage 1 des Kollegen Dr. Kollege Riedl, meine Aufgabe war es, die rechtliche Erich Riedl (München) auf: Situation zu beleuchten. Die tatsächlichen Gegeben- Auf Grund welcher Genehmigungen deutscher Behörden heiten entsprechen Ihren Schilderungen. konnte der zur Zeit an der deutsch-albanischen Grenze mit etwa Ich muß hierzu erklären, daß Albanien bis 1990 450 Tonnen zum Teil hoch toxischen Pestiziden beladene jährlich 10 000 t Pflanzenschutzmittel eingeführt hat Güterzug Deutschland verlassen, und welche Maßnahmen wer- den gegen den Auftraggeber dieser von einer Firma in Hannover und daß nach dem Sturz der alten Regierung diese gelieferten Pestizide aus der ehemaligen DDR ergriffen? Menge drastisch auf 80 t heruntergefahren wurde, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17011

Parl. Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek wobei Lieferverträge weiter bestanden. Auch die Vizepräsident Helmut Becker: Zusatzfrage, Frau albanische Botschaft in Bonn hat den jeweiligen Kollegin Kastner. Eingang solcher Pflanzenschutzmittel bestätigt. Da es sich aber hier bei dem Zug in Bazje, auf den Susanne Kastner (SPD): Herr Staatssekretär, gilt Sie eingehen, in dem sich ca. 217 t Pflanzenschutzmit- dieser Begriff auch für Produkte, die diesem Land tel befinden, um eine potentie lle Bedrohung der geschenkt werden? Umwelt, besonders um eine Bedrohung des in unmit- In diesem Zusammenhang hätte ich von Ihnen telbarer Nähe sich befindlichen Shkodersees handelt, gerne noch gewußt, was der Bundesumweltminister in hat der Bundesumweltminister — entgegen der nicht dieser für das Zusatzabkommen zum Baseler Ober- bestehenden Verantwortung der Bundesregierung — einkommen doch sehr dringlichen Frage gemeinsam in Vorwegnahme eines EG-Vorhabens, über 3 600 t mit den Ländern unternehmen wird, damit dieses Pflanzenschutzmittel, die aus dem Bereich der EG und Zusatzabkommen jetzt möglichst schnell auf dem der Weltbank nach Albanien geliefert wurden, Tisch liegt und von seiten der Bundesrepublik verab- zurückzuführen, einen Antrag beim Bundesfinanzmi- schiedet werden kann. nister gestellt, die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, die erforderlich sind, um zunächst einmal Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Frau vor Ort die Pflanzenschutzmittel zu sichern und neu zu Kollegin Kastner, inwieweit Pflanzenschutzmittellie- verpacken, damit keine weiteren potentiellen Um- ferungen per Schenkung oder gegen Bezahlung nach weltgefahren entstehen. Albanien erfolgten, kann ich von dieser Stelle aus nicht nachvollziehen. (Vorsitz : Vizepräsident Helmuth Becker) Sie wissen, daß die Bundesregierung mit der Ein- bringung der entsprechenden Ratifizierungsgesetze Dr. Erich Riedl (München) (CDU/CSU): Herr Staats- zum Baseler Übereinkommen immer betont hat, daß sekretär, sind Sie nicht mit mir der Auffassung — auch bis zum 6. Mai nächsten Jahres — dann tritt es nämlich wenn ich anerkenne, daß eine rechtliche Verantwor- in Kraft — die entsprechenden Voraussetzungen im tung für diesen Gifttransport im Augenblick nicht nationalen Recht — z. B. Ratifizierung der EG — Ab- feststellbar ist —, daß, wenn es zu Unglücken, zur fallverbringungsrichtlinie — geschaffen werden müs- Umweltverseuchung, zur Wasserverseuchung oder sen, um den Export gefährlicher Abfälle außerhalb der auch zu Personenschäden kommt, eine ganz enorme OECD zu unterbinden. auf Deutschland und auf politische Verantwortung Ich muß aber noch einmal betonen, Frau Kollegin die deutschen Behörden zukommt? Kastner, es handelt sich hier, formaljuristisch betrach- tet, nicht um einen erfolgten Expo rt von Abfällen, Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Solche sondern von Pflanzenschutzmitteln. Vorgänge, wie sie hier von Ihnen dargestellt wurden, sind natürlich nicht dazu angetan, das politische Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Ansehen der Bundesrepublik Deutschl and in einem Zusatzfrage der Frau Kollegin Jutta Müller. sich in einer besonders schwierigen Situation befind- lichen Land wie Albanien zu stärken. Jutta Müller (Völklingen) (SPD): Herr Staatssekre- tär, das ist nicht die erste Schlagzeile, die uns erreicht, in der es um solche Dinge geht. Ist Ihnen oder Ihrem Vizepräsident Helmuth Becker: Zusatzfrage, Frau Kollegin Caspers-Merk. Haus bekannt, ob noch mit weiteren Fällen zu rechnen ist, in denen solche Stoffe vor allen Dingen in Länder des Ostblocks verbracht wurden, auch wenn sie als Marion Caspers-Merk (SPD): Herr Staatssekretär, „segensvolle Geschenke" deklariert wurden? hängt die Verantwortung der Bundesrepublik nicht auch daran, daß wir einen falschen Abfallbegriff Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Frau haben, der es ermöglicht, daß auf ganz legale Weise Kollegin Müller, Sie kennen die entsprechenden Mel- durch die Umdeklaration von Schadstoffen zu Wert- dungen in den Medien. Das war nicht der erste Fall, es stoffen oder Reststoffen diese exportiert werden kön- wird bestimmt auch nicht der letzte sein. Deshalb ist es nen, wenn nur nachgewiesen werden kann, daß sie erforderlich, daß die Rechtsakte, die ich beschrieben am Bestimmungsort entweder entsorgt oder ge- habe, so schnell wie möglich umgesetzt werden und braucht werden? Wären Sie als Bundesregierung das Parlament sich in aller Form bemüht, auch die nicht aufgefordert, den Abfallbegriff zu ändern? Voraussetzungen, die EG-Begrifflichkeit im Abfall- recht, wenn Sie auf Abfälle abstellen, einzuführen und Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Frau das Kreislaufwirtschaftsgesetz bis zum 6. Mai 1994 zu Kollegin Caspers-Merk, der von mir geschilderte verabschieden, um bündig sowohl dem Baseler Über- Vorgang hat keinen Bezug zum deutschen Abfall- einkommen als auch dem neuen Abfallbegriff im recht. Ich sage noch einmal: Unter Beleuchtung der neuen Gesetz Rechtskraft zu verschaffen. Rechtssituation handelte es sich hier im Jahr 1991 und (Susanne Kastner [SPD]: Also doch! — 1992 um einen ganz legalen Export von Pflanzen- Marion Caspers-Merk [SPD]: Also doch schutzmitteln. Abfallbegriff!) Ich bin auf Grund der Tatsache, daß ich gehalten — Ich sagte gerade, soweit Sie von Abfall sprechen. bin, hier kurz zu antworten, nicht in der Lage, Ihnen die einzelnen Rechtsakte zu erklären. Es würde min- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und destens einer Viertelstunde bedürfen, Ihnen das alles Herren, wir kommen jetzt zur zweiten Dringlichen einsichtig darzustellen. Frage des Abgeordneten Dr. E rich Riedl (München): 17012 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Vizepräsident Helmuth Becker Welche Sofortmaßnahmen werden seitens der deutschen Behör- Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr den getroffen, um die sofortige Entsorgung dieser „Giftbombe" sicherzustellen, und welche konkreten Gefahren bestehen der- Kollege Riedl, ich möchte hier noch einmal auf die zeit für die Bevölkerung, nachdem soeben bekannt geworden Gesetzeslage aufmerksam machen. Der Export von in ist, daß ein Teil der Giftstoffe aus den Behältnissen entweicht? Deutschland nicht zugelassenen Pflanzenschutzmit- Bitte, Herr Staatssekretär. teln ist auf der Grundlage des § 23 Abs. 2 möglich, in dem auch steht, daß Pflanzenschutzmittel ordnungs- gemäß, sicher verpackt und mit Gebrauchsanwei- Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Die sung, die sowohl Hinweise auf die Anwendung als deutschen Experten haben schon während ihres Auf- auch auf die Gefahr für die menschliche Gesundheit enthalts in Albanien auf das Gefährdungspotential, enthält, versehen sein müssen. Das war, wie Sie sich das insbesondere von dem Zug ausgeht, aufmerksam selber überzeugen konnten, in Bazje nicht mehr der gemacht und Empfehlungen zur Sicherung gegeben. Fall. In diesem Sinne liegt hier eine Ordnungswidrig- Zusätzlich hat die deutsche Botschaft in Tirana die keit vor, die mit einer entsprechenden Geldbuße albanische Regierung nochmals entsprechend unter- geahndet werden kann. richtet. Aber die Schwierigkeit — und das hat auch die Der Bundesumweltminister ist zu der Überzeugung Expertenkommission vor Ort feststellen können — gelangt, daß wir die albanische Regierung bei der besteht darin, daß heute nicht mehr nachweisbar ist, Entsorgung der Pflanzenschutzmittel nicht unter Hin- ob es bereits in der Bundesrepublik Deutschland eine weis auf rein formale Aspekte alleinlassen können mangelnde Transportsicherung gab oder ob dieser und dürfen. Es ist vielmehr politisch geboten, daß sich Zustand erst in Albanien entstanden ist. die Bundesregierung zumindest bei den sofort erfor- Wir haben Informationen, daß Bürger aus der derlichen Sicherungsmaßnahmen am Zug in Bazje Umgebung dort z. B. Plastebehältnisse, Kunststoffbe- auch unmittelbar engagiert, um Gefahren für Men- hältnisse, Kanister aus den Waggons, die zu dem schen und Umwelt abzuwenden. Zeitpunkt noch nicht gesichert waren, entnommen, Der Bundesumweltminister beabsichtigt deshalb, geleert und für die eigene Trinkwasserversorgung ein kompetentes Unternehmen möglichst umgehend genutzt haben. mit der technischen Sicherung zu beauftragen. Mit gestrigem Datum wurde Bundesminister Waigel Dr. Erich Riedl (München) (CDU/CSU): Herr Staats- gebeten, die dafür notwendigen Haushaltsmittel zur sekretär, da mir noch eine zweite Frage zusteht: Wie Verfügung zu stellen. kommt es eigentlich, daß die albanischen Behörden Nach Feststellung der deutschen Experten ist der sagen, es gebe gar keinen Empfänger für diese Zustand der Verpackung von 7,1 t Delicia-Fribal- Pestizide, die ja nicht zuletzt auch auf Grund dieser Emulsion am kritischsten zu bewerten, die in über Tatsache ganz offensichtlich auf diesem Bahnhof 280 Glasballons mit 25 Litern in mehreren Waggons in lagern? Kann man denn eigentlich solche Giftstoffe Bazje vorgefunden wurden. Beim Bruch eines oder exportieren, ohne daß ein Empfänger feststeht? mehrerer dieser Glasballons ist eine Kontaminierung des Wassers eines in Sichtweite gelegenen Sees nicht Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr auszuschließen. Da 25 % dieses Pflanzenschutzmittels Kollege Riedl, ich sagte vorhin, daß die albanische aus Testbenzin bestehen, ist die Feuergefahr nicht zu Botschaft in Bonn bei jeder Lieferung — bis auf die unterschätzen. zwei zurückgewiesenen, von denen ich vorhin schon sprach — bestätigt hat, daß sie in Albanien angekom- men ist. Dr. Erich Riedl (München) (CDU/CSU): Herr Staats- sekretär, da für mich der eigentliche Skandal darin Der Empfänger ist heute in dem Sinne nicht mehr besteht, daß diese Pestizide Deutschland überhaupt feststellbar, weil die Unternehmen, die vor der Macht- verlassen konnten, und zwar in einer Weise, die nach übernahme durch demokratische Kräfte in diesem meiner festen Überzeugung den Tatbestand nicht nur Land noch existierten, nicht mehr vorhanden sind. Es der Transportgefährdung erfüllt, sondern auch den existieren privatisierte Unternehmen, die keine Tatbestand der Gesundheitsschädigung und Gesund- unmittelbare Rechtsnachfolge darstellen. heitsbeeinträchtigung all der Menschen, die auf dem Kollege Dietmar Transportweg in die unmittelbare Nähe dieser Gifte Vizepräsident Helmuth Becker: Schütz, bitte, Zusatzfrage. gekommen sind — ich möchte ausdrücklich anerken- nen, daß die Bemühungen der Bundesregierung um Dietmar Schütz (SPD): Herr Staatssekretär Wieczo- die Initiativen, die Sie soeben genannt haben, das rek, ich habe bisher für richtig gehalten, was mein Äußerste sind, was Regierung und Behörden tun Kollege Riedl gefragt hat, ob man das nicht bestrafen können —, frage ich mich, ob der, der dies alles könne. Sie haben gesagt, das sei nur mit einer verursacht hat, nicht hinter Schloß und Riegel Ordnungswidrigkeit zu belegen. Welche Intentionen gehört. und welche Bemühungen stellen Sie denn an, um das Und wenn ich mir eine Gerichts- bzw. Staatsanwalt- zu ändern? Sie wissen ja, gerade im Umweltstrafrecht schaftsschelte erlauben darf: Wie kann die Staatsan- haben wir überall den Tatbestand, daß wir nur mit waltschaft so ein Verfahren einstellen? Ich frage Sie: Ordnungswidrigkeiten reagieren. Wir wollen ja bei Wird denn für die Millionenbeträge, die der Steuer- der Reform des Umweltstrafrechts versuchen, nachzu- zahler jetzt ganz offensichtlich aufbringen muß, diese bessern. Tun Sie an dieser Stelle etwas! Firma nicht zum Schadenersatz herangezogen? Es kann doch nicht wahr sein, daß der Steuerzahler für all Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr diese Beträge aufkommen muß. Kollege Schütz, Sie wissen — ich habe das gerade Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17013

Parl. Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek beschrieben —, daß wir bei nationalen Umsetzungen der umgehend über jeden Fall einer Mehrfachantrag- von EG-Richtlinien — ich habe z. B. auch das Baseler stellung, der durch das Automatisierte Fingerab- Übereinkommen erwähnt — eine stärkere Terminie- drucksystem beim Bundeskriminalamt aufgedeckt rung der Begriffe „Wirtschaftsgut" bzw. „Abfall" wird. Die Unterrichtung der zuständigen Landes- vornehmen wollen. Sie wissen auch, daß in diesem sozialbehörden und Strafverfolgungsbehörden ob- Zusammenhang — das greift erst dann, wenn diese liegt auf Grund einer Bund-Länder-Absprache den Dinge in nationales Recht umgesetzt sind — das Ausländerbehörden. Umweltstrafrecht bereits verschärft wurde, auch im Es muß davon ausgegangen werden, daß seitens der Abfallbereich. Strafrechtlich verfolgen kann ich aller- Länder auch entsprechend verfahren wird. Allerdings dings erst dann, wenn der EG-Abfallbegriff auch im liegen dem Bundesministerium des Innern keine deutschen Recht entsprechend festgelegt ist. näheren Erkenntnisse darüber vor, ob dies ausnahms- los der Fall ist. Das Bundesministerium des Innern hat Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin deshalb in der von der Innenministerkonferenz einge- Susanne Kastner, Sie haben jetzt das Wort zu einer setzten Arbeitsgruppe „Rückführung" am 5. Oktober Zusatzfrage. dieses Jahres auf diesen Punkt nochmals nachdrück- lich hingewiesen. Um entsprechende zuverlässige Susanne Kastner (SPD): Herr Staatssekretär, kön- Angaben zu erhalten, sind umfangreiche Recherchen nen Sie mir sagen, wieviel Geld die Regierung oder unter Beteiligung der Ausländer- sowie Sozialbehör- der Finanzminister dem Bundesumweltminister für den erforderlich. das Jahr 1994 bewilligt hat, nachdem ja inzwischen Das Bundesministerium des Innern wird auf der — sicher auch Ihnen — bekannt ist, daß Albanien kein nächsten Bund-Länder-Koordinatorensitzung am Einzelfall ist, daß Rumänien kein Einzelfall war, 14. Dezember 1993 die Problematik noch einmal sondern daß bereits eine Hitliste dieser „Geschenke" aufgreifen. bzw. Exporte nach Osteuropa existiert? Seit Einführung des Automatisierten Fingerab- drucksystems am 3. Dezember 1992 haben rund Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Kastner, ich kann mich nur wiederholen. Der 236 000 Überprüfungen stattgefunden. Dabei sind Bund ist hier sozusagen nicht Schadenshaftender, rund 33 000 Mehrfachanträge festgestellt worden; sondern hier ist eine politische Entscheidung getrof- dies sind rund 14 % der überprüften Fälle. Eine Aufteilung nach Bundesländern ist derzeit statistisch fen worden. Sie wissen, daß wir im Zuge der Ratifizie- rung des Baseler Übereinkommens und der EG- nicht möglich. Abfallverbringungsrichtlinie über die Frage der Staatshaftung, der Verantwortlichkeit Bund/Land Vizepräsident Helmuth Becker: Keine Zusatz- bzw. der Privatwirtschaft zur Zeit sehr intensiv disku- frage? — tieren und auch zu einem Ergebnis kommen wer- Dann rufe ich die Frage 16 der Abgeordneten Frau den. Brigitte Baumeister auf: Welche Summen — aufgegliedert nach Bundesländern — Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und betragen die sich hieraus ergebenden Einsparungen an Leistun- Herren, damit sind die Dringlichen Fragen des Kolle- gen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz? gen Dr. Erich Riedl zum Geschäftsbereich des Bundes- Bitte, Herr Staatssekretär. ministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- cherheit abgehandelt. Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Hier kann ich Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi- Ihnen folgende Antwort geben: Das Asylbewerberlei- nisteriums der Verteidigung. stungsgesetz ist erst am 1. November dieses Jahres in Die Fragen 32 und 33 des Kollegen Dr. Karl-Heinz Kraft ge treten. Statistische Angaben von seiten der Klejdzinski werden schriftlich beantwortet. Die Ant- Länder über Einsparungen an Leistungen liegen worten werden als Anlagen abgedruckt. deshalb noch nicht vor. Es ist aber beabsichtigt, nach Erfahrungsfrist die Länder Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun- Ablauf einer bestimmten desministeriums des Innern. Zur Beantwortung steht zu bitten, entsprechende statistische Angaben zur uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Eduard Verfügung zu stellen. Lintner zur Verfügung. Zusatzfrage der Ich rufe die Frage 15 der Abgeordneten Frau Vizepräsident Helmuth Becker: Brigitte Baumeister auf: Kollegin Baumeister. In wie vielen Fällen — aufgegliedert nach Bundesländern — sind nach Kenntnis der Bundesregierung seit Einführung der Brigitte Baumeister (CDU/CSU): Herr Staatssekre- Überprüfung von Asylbewerbern mittels des Automatischen tär, können Sie Angaben darüber machen, wann Fingerabdruck-Identifizierungs-Systems (AFIS) auf Grund der frühestens mit Zahlen zu rechnen ist? Auswertung der Fingerabdruckblätter Konsequenzen bei Mehr- fachbewerbern gezogen und Leistungen eingestellt worden? Bitte, Herr Staatssekretär. Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Also, immer unter dem Vorbehalt, daß die Länder unserer Bitte nachkommen, würde ich meinen, daß im Abstand von Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- minister des Innern: Frau Kollegin Baumeister, die vielleicht einem Vierteljahr entsprechende Angaben Antwort lautet wie folgt: Das Bundesamt für die gemacht, daß zumindest bereits Tendenzen genannt Anerkennung ausländischer Flüchtlinge informiert werden können. die jeweils zuständigen Ausländerbehörden der Län- (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Danke!) 17014 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Vizepräsident Helmuth Becker: Wir kommen nun- dest die Begriffe zu erläutern. Es handelt sich bei- mehr zur Frage 17 des Kollegen Günter Graf. Diese spielsweise um „Mail boxes", deren Zugang durch soll schriftlich beantwortet werden, ebenso die unterschiedliche Paßwörter gesperrt ist. Je geheimer Frage 18 des Kollegen Jürgen Augustinowitz. Die die Informationen aus der Sicht des Installateurs sind, Antworten werden als Anlagen abgedruckt. um so weniger Leuten ist das diesbezügliche Paßwort Nun kommen wir zur Frage 19 des Kollegen Hans bekannt, um so weniger Leute können also diese Wallow: Information abrufen. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung im Hinblick auf die wachsende Vernetzung — auch mit modernen Kommunika- Hans Wallow (SPD): Herr Staatssekretär, in der tionsmitteln — der rechtsextremen Szene innerhalb der Bundes- Sitzung des Innenausschusses, die Sie ansprachen, republik Deutschland und mit dem Ausland? hat der Präsident des Bundeskriminalamtes keine Bitte, Herr Staatssekretär. Kenntnis über eine derartige Vernetzung gezeigt. Wie erklärt sich die Bundesregierung dies? Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Wallow, hier die Antwort: Zur Vernetzung von rechts- Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Das erklärt sich extremistischen Organisationen und militanten einfach dadurch, daß derartige Kenntnisse damals Rechtsextremisten hat die Bundesregierung bereits in noch nicht vorhanden waren. Möglicherweise sind der 74. Sitzung des Innenausschusses am 22. Septem- diese Dinge seinerzeit noch nicht so intensiv genutzt ber 1993 berichtet; im Protokoll dieser Sitzung auf worden, wie dies in letzter Zeit festgestellt worden Seite 28 nachzulesen. ist. Ergänzend dazu ist folgendes anzumerken: Vernet- zungsansätze im Nahtbereich von Skinheads und Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und rechtsextremistischen — insbesondere neonazisti- Herren, wir sind damit am Ende des Geschäftsbe- schen — Personenzusammenschlüssen sind in Einzel- reichs des Bundesministeriums des Innern. Ich darf fällen vorhanden, wenn auch nicht typisch. Vernet- mich bei Ihnen, Herr Staatssekretär, herzlich bedan- zungsansätze mit rechtsextremistischen Parteien sind ken. Ich habe dies bei Herrn Staatssekretär Wieczorek gegenwärtig noch marginal. Allerdings läßt sich vor vergessen; deshalb tue ich dies hiermit auch noch. allem in den neuen Bundesländern die Abgrenzung dieser Parteien zu Neonazis und Skins auf Grund der Wir kommen nunmehr zum Geschäftsbereich des diffusen, auf örtlicher Ebene noch wenig differenzier- Bundesministeriums für Gesundheit. Zur Beantwor- ten rechtsextremistischen Szene zum Teil nur schwer tung steht uns Frau Parlamentarische Staatssekretärin in der von den Parteiführungen geforderten Weise Dr. Sabine Bergmann-Pohl zur Verfügung. verwirklichen. Die Frage 2 des Kollegen Claus Jäger soll schriftlich Eine Steuerung der militanten Rechtsextremisten, beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage insbesondere der rechtsextremistischen Skinheads, abgedruckt. durch den organisierten Rechtsextremismus ist mit Das gleiche gilt für die Frage 34 des Abgeordneten diesen Kontakten bislang noch nicht verbunden. Simon Wittmann (Tännesberg). Die Antwort wird als Die gegen die „Antifa-Bestrebungen" des Hambur- Anlage abgedruckt. ger Neonazis Ch ristian Worch gerichteten Aktivitäten Wir kommen damit zu Frage 35 der Abgeordneten sind die derzeit maßgeblichen Gefährdungskompo- Frau Margret Funke-Schmitt-Rink: nenten im deutschen Rechtsextremismus. Die von Was hat der Nationale Drogenrat, der die Bundesregierung Worch angestrebte Vernetzung im informationellen beraten soll, seit seiner Arbeitsaufnahme geleistet? Sinne bildet einen Beobachtungsschwerpunkt des Bitte, Frau Staatssekretärin. Verfassungsschutzes. Mit der Nutzung der Informationstechnik entste- Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin hen neue Möglichkeiten der Strukturierung und Ver- beim Bundesminister für Gesundheit: Frau Kollegin, netzung, die auch als Steuerungsmittel einsetzbar Aufgabe des aus 13 unabhängigen Experten verschie- sind. Diese besonders für einen überregionalen Infor- dener Fach- und Berufsbereiche zusammengesetzten mationsaustausch interessanten Kommunikations- Nationalen Drogenrates ist es, die Bundesregierung in wege sind inzwischen auch von Rechtsextremisten grundsätzlichen Fragen aus dem Gesamtspektrum erkannt worden. Die relativ niedrigen Investitions- der Drogenpolitik zu beraten. und Betriebskosten werden wie in fast allen Der Rat soll durchschnittlich zweimal im Jahr tagen. Geschäftsbereichen auch im Rechtsextremismus zu Seine konstituierende Sitzung fand am 21. Januar einer noch stärkeren Bedeutung dieser neuen Kom- 1993 statt. Dabei wurde eine grundsätzlich zustim- munikationsform führen. mende Bestandsaufnahme der Drogenpolitik auf der Zum Ausland liegen uns keine Erkenntnisse vor. Grundlage des Nationalen Rauschgiftbekämpfungs- planes vorgenommen. Eine vertiefende Diskussion Hans Wallow (SPD): Herr Staatssekretär, ich hätte wird auf der nächsten Sitzung am 16. Dezember 1993 gerne noch etwas zu der technischen Vernetzung, stattfinden. über die Art und den Umfang, gewußt. Das, was Sie Zwischen den Sitzungen besteht für das Bundesge- gesagt haben, war sehr allgemein. sundheitsministerium die Möglichkeit, sich an die Mitglieder zu wenden und sie um Stellungnahmen zu Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wichtigen Themen zu bitten. So wurden den Mitglie- unter der Voraussetzung, daß Sie wissen, daß ich dern des Drogenrates im Mai 1993 eine Expertise zu Jurist und kein Techniker bin, erlaube ich mir, zumin- Fragen der Liberalisierung des Umgangs mit illegalen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17015

Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl Drogen, im Juli 1993 Daten zur Entwicklung der Bleichlautende Antwort vom Bundesverband der Zahlen im Drogenbereich vorgelegt. Beide Themen Ortskrankenkassen vor. sollen auf der Grundlage der eingegangenen Stel- lungnahmen der Drogenratsmitglieder bei der näch- Vizepräsident Helmuth Becker: Keine weitere sten Sitzung erörtert werden. Zusatzfrage? — Dann rufe ich die Frage 37 des Kollegen Klaus Kirschner auf: Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink (F.D.P.): Frau Wann hat die Firma Rentschler für das Arzneimittel Fiblaferon Staatssekretärin, wie erklären Sie sich den Unmut für eine weitere Indikation klinische Versuche angemeldet, und z. B. des Fachverbandes Drogen und Rauschmittel wann hat sie einen entsprechenden Zulassungsantrag beim Bundesgesundheitsamt gestellt? über die Nichttätigkeit des Drogenrats? Frau Staatssekretärin, bitte. Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: Frau Kollegin, ich kann nicht bestätigen, daß der Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: Drogenrat untätig war. Ich habe gesagt: Eine Sitzung Herr Kollege Kirschner, die Frage, wann die Firma Rentschler für das Arzneimittel wurde durchgeführt; die nächste Sitzung wird im Fiblaferon für eine Dezember stattfinden. Inzwischen sind uns zwölf weitere Indikation klinische Versuche angemeldet hat Stellungnahmen zur Liberalisierungsexpertise, fünf und wann sie einen entsprechenden Zulassungsan- Stellungnahmen zum BKA-Bericht eingegangen. Da trag beim Bundesgesundheitsamt gestellt hat, betrifft geschützte Firmendaten. Eine Auskunft zu dieser kann man, glaube ich, von Untätigkeit nicht spre- Frage kann nur mit Zustimmung der Firma gegeben chen. werden. Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink (F.D.P.): Frau Klaus Kirschner (SPD): Frau Staatssekretärin, ich Staatssekretärin, wie erklären Sie sich denn, daß die gehe davon aus, daß die Bundesregierung die öffent- Öffentlichkeit überhaupt nichts vom Nationalen Dro- liche Diskussion verfolgt hat. Deshalb frage ich: Ist genrat weiß? nach Auffassung der Bundesregierung die Tatsache, daß das Arzneimittel Fiblaferon offensichtlich in einer Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: großen Zahl von Fällen für eine nicht zugelassene Frau Kollegin, ich bin nicht dafür zuständig, inwieweit Indikation verordnet worden ist, ein Anhaltspunkt sich die Presse diesem Thema widmet. Wir haben dafür, daß die geltenden gesetzlichen Regelungen zur allerdings in einer Pressemitteilung vom 21. Januar Durchführung klinischer Versuche und zur Kosten- 1993 auf den Nationalen Drogenrat hingewiesen. übernahme durch die Krankenkassen systematich umgangen worden sind und damit sozusagen ein Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und grauer Markt für Arzneimittel in einer nicht zugelas- Herren, wir kommen jetzt zur Frage 36 des Kollegen senen Indikation geschaffen worden ist? Klaus Kirschner: Wann hat der Bundesminister für Gesundheit zum ersten Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: Mal von Vorwürfen gegen Arzneimittelfirmen, u. a. der Firma Herr Kollege Kirschner, ich habe ja gesagt, daß wir auf Rentschler, erfahren. wonach die Erprobung nicht zugelassener oder für bestimmte Indikationen nicht zugelassener Arzneimit- unsere Anfrage bei den Krankenkassen bisher noch tel, beispielsweise des Arzneimittels Fiblaferom, durch Verord- keine entsprechende Antwort erhalten haben. Es ist nung dieser Mittel zu Lasten der gesetzlichen Krankenversiche- also noch nicht geklärt, wie groß die Zahl der Fälle ist, rung finanziert worden sei? in denen Fiblaferon für ein nicht zugelassenes Bitte, Frau Staatssekretärin. Anwendungsgebiet verordnet worden ist. Bevor die Sachverhalte, die der Verordnung von Fiblaferon Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: zugunde liegen, nicht hinreichend geklärt sind, kann Herr Kollege Kirschner, das Bundesministerium für über derartige Zusammenhänge nur spekuliert wer- Gesundheit hat Anfang Oktober aus der Presse von den. Die Bundesregierung beteiligt sich an derartigen den Vorwürfen erfahren. Spekulationen nicht.

Vizepräsident Helmuth Becker: Zusatzfrage des Klaus Kirschner (SPD): Frau Staatssekretärin, kann Kollegen Kirschner. ich davon ausgehen, daß die Bundesregierung alles tut, um diesen Sachverhalt wirklich lückenlos aufzu- Klaus Kirschner (SPD): Frau Staatssekretärin, Sie klären? Ich denke, daß hier doch offensichtlich Hand- haben in Beantwortung meiner Frage am 27. Oktober lungsbedarf gegeben ist, da offensichtlich klinische mitgeteilt, daß Sie die Spitzenverbände der gesetzli- Versuche im Rahmen der Arzneimittelzulassung chen Krankenversicherung um Stellungnahme gebe- durchgeführt werden, insbesondere mit Arzneimit- ten haben. Ich habe die Frage: Ist in der Zwischenzeit teln, die bereits für eine Indikation zugelassen sind, eine solche Stellungnahme eingegangen? Wenn aber für eine andere Indikation eingesetzt werden. nicht: Wann rechnen Sie damit, daß diese Stellung- nahme eingeht? Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: Herr Kollege Kirschner, ich stimme Ihnen zu, daß wir Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: diesem Tatbestand auf jeden Fall nachgehen müssen. Herr Kollege Kirschner, wir haben bisher Stellung- Es muß gewährleistet sein, daß die Krankenkassen nahmen vom VdAK, von den BKK, von den IKK, von von der Tatsache der klinischen Prüfung eines Arznei- den landwirtschaftlichen Krankenkassen, von der mittels mit einer neuen Indikation Kenntnis erhalten. Seekasse und von der Bundesknappschaft, daß es Die Bundesregierung wird sicherstellen, daß dies keine greifbaren Hinweise gibt. Ebenso liegt uns eine auch erfolgt. Die näheren Einzelheiten müssen aber 17016 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl noch mit den Beteiligten erörtert werden. Sofern sich den, aber auch den anderen entsprechend praktizie- dann die Notwendigkeit ergibt, ist gegebenenfalls renden EG-Ländern nachhaltig und nachdrücklich zu auch eine Änderung des Arzneimittelgesetzes in fordern haben, daß z. B. das dortige Tour-de-rôle- Erwägung zu ziehen. System aufgehoben wird. Darin stimme ich Ihnen vollständig zu. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, wir haben damit die Fragen aus dem Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Dann sehe ich das Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ge- also richtig, daß die Bundesregierung in diesem sundheit abgehandelt. Ihnen vielen Dank, Frau Bereich die Interessen der deutschen Binnenschiffahrt Staatssekretärin. und nicht etwa die der anderen vertritt? Dann habe ich Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bun- auch die Frage: Was will die Bundesregierung tun, um desministeriums für Verkehr. Zur Beantwortung der die auf uns zukommenden Verdrängungswettbe- Fragen steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekre- werbe aus dem osteuropäischen Raum im Bereich der tär Manfred Carstens zur Verfügung. Binnenschiffahrt zu verhindern? Denn daß osteuropäi- Die Frage 38 des Abgeordneten Ortwin Lowack und sche Binnenschiffahrtsgesellschaften billiger fahren die Frage 43 des Abgeordneten Horst Kubatschka können als unsere, sollte wohl auch der Bundesregie- werden schriftlich beantwortet. Die Antworten wer- rung bekannt sein. den als Anlagen abgedruckt. Die Fragen 41 und 42 der Abgeordneten Dr. Margrit Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Wir haben Wetzel sowie die Fragen 44 und 45 des Abgeordneten in der Frage Binnenschiffahrt einen sehr umfassenden Hans-Eberhard Urbaniak werden zurückgezogen. Bericht an den Verkehrsausschuß des Deutschen Bundestages gegeben. In diesem Be richt haben wir in Nunmehr rufe ich die Frage 39 des Kollegen Karl- verschiedenen Punkten im einzelnen zum Ausdruck Josef Laumann auf: gebracht, was die Bundesregierung unverzüglich in Welche Auswirkungen hat das Inkrafttreten des Tarifaufhe- einigen Fällen und mittelfristig in anderen Fällen tun bungsgesetzes für die deutsche Binnenschiffahrt, insbesondere für die Partikuliere, und sieht die Bundesregierung Möglichkei- will. Unter anderem gehört dazu — das ist nicht ten — ähnlich wie Holland —, die Interessen der deutschen unwichtig —, daß der Zugang der osteuropäischen Binnenschiffer durch einen nationalen Ordnungsrahmen für Binnenschiffahrt zu den EG-Gewässern nicht völlig eine Übergangszeit bis zur Einführung eines europäischen ohne Regeln vonstatten gehen darf, weil dort ein Binnenschiffahrts-Marktsystems abzusichern? Preisniveau herrscht, das bei EG-Staaten als völlig Bitte, Herr Staatssekretär. unnormal zu bezeichnen ist. Wir sind auch sicher, auf diesem Gebiet zu Erfolgen Parl. Staatssekretär beim Bun- Manfred Carstens, zu kommen. Aber nicht nur auf diesem Gebiet, son- desminister für Verkehr: Die freie Preisbildung, die dern auch sonst gibt es einige Ansätze, z. B. bei der mit dem Inkrafttreten des Tarifaufhebungsgesetzes Frage der Kabotageverlängerung. Es gibt einen Binnenschiffahrt ange- möglich wird, bringt für die Untersuchungsauftrag, den wir für die Bundesregie- sichts bestehender Überkapazitäten sowie konjunk- rung übernommen haben, inwieweit es innerhalb der tur- und strukturbedingter Rückgänge beim Ladungs- EG in Sachen Binnenschiffahrt und Partikuliere Wett- angebot sicherlich Übergangsschwierigkeiten mit bewerbsverzerrungen gibt. Das alles, auch zu diesem sich, eröffnet ihr aber gleichzeitig neue Chancen im Punkt, wird dann in der nächsten Woche so weit wie Wettbewerb mit anderen Verkehrsträgern. Sie bietet möglich schon im Verkehrsausschuß des Deutschen die Möglichkeit, sich von den bisherigen zum Teil Bundestages und vermutlich dann in der nächsten starren Marktstrukturen zu befreien und innovativ Woche auch hier im Deutschen Bundestag behandelt und flexibel neue Betätigungsfelder zu erschließen. werden. Ich hoffe, daß eine Lösung zum Tragen Mit der freien Preisbildung bestimmen Angebot und kommt, mit der die deutsche Binnenschiffahrt eine Nachfrage den Preis. Überkapazitäten und die augen- gute Zukunft angehen kann. blicklich insgesamt schwierige Konjunkturlage wir- ken sich zur Zeit ungünstig auf die Ertragslage der Binnenschiffahrt aus. Deshalb wie in den Niederlan- Vizepräsident Helmuth Becker: Eine Zusatzfrage den an einem Ordnungsrahmen festzuhalten wäre des Kollegen Dietmar Schütz. jedoch sehr fragwürdig. Die Binnenschiffahrt würde im Wettbewerb mit Schiene und Straße möglicher- Dietmar Schütz (SPD): Herr Staatssekretär, wenn, weise auf der Strecke bleiben. wie Sie gesagt haben, die Holländer und Belgier nicht das Tour-de-rôle-System aufgeben — das steht ja Karl-Josef Laumann [CDU/CSU): Herr Staatssekre- möglicherweise zu befürchten —, haben wir dann tär, sind Sie denn nicht auch der Meinung, daß wir Instrumente, um die Wettbewerbsfähigkeit unserer Deutsche allen Grund haben, bevor wir — dies hängt Binnenschiffer aufrechtzuerhalten, und haben wir ja damit zusammen — in der EG weitere Liberalisie- dann Instrumente, um zu sagen: Dann halten wir uns rung beschließen, stärker darauf zu bestehen, daß auch nicht daran? andere Länder dann die Harmonisierung machen, und daß hier die deutschen Binnenschiffer einen Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Ich glaube Opfergang gehen müssen, weil andere nicht harmo- nicht, daß man die Frage des Tour-de-rôle-Systems nisieren? unverzüglich und direkt in die Wettbewerbslage der Binnenschiffer in der EG einbeziehen kann. Dabei Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Ich gebe gibt es recht unterschiedliche Positionen. Es gibt sogar Ihnen insoweit völlig recht, als wir von den Niederlan- Partikuliere und Binnenschiffer, die es lieber sähen, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17017

Parl. Staatssekretär Manfred Carstens wenn es dieses Tour-de-rôle-System noch eine Zeit- der Metallbearbeitung oder als Restölmengen in lang gäbe. Altautos. Nicht auszuschließen sind allerdings auch Aber das ist nicht die Frage, sondern eigentlich ist direkte Verluste durch Leckagen, Havarien usw. die Frage die, die der Kollege Laumann eben gestellt Eine zahlenmäßige Aufschlüsselung auf die einzel- hat. Wenn es darum geht, in Europa zu harmonisieren, nen Bereiche ist zur Zeit nicht möglich. Ebenso ist eine dann dürfen wir nicht nur bei uns harmonisieren, Abschätzung der konkreten Umweltgefährdungen sondern dann muß das auch in den Niederlanden und durch Schmierstoffe wegen der unübersehbaren Viel- woanders geschehen. Auf den weiteren Teil der Frage zahl möglicher Inhaltsstoffe, vor allem der im einzel- kann ich dann gleich die Antwort geben, wenn ich auf nen nicht bekannten Rezepturen mit ganzen Additiv die Frage 40 des Kollegen Laumann antworte; denn paketen, zur Zeit nicht möglich. dort hat er danach gefragt. Albert Deß (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, gibt es, Vizepräsident Helmuth Becker: Ich rufe die Frage 40 da schon bekannt ist, daß viele Öle verlorengehen, bei auf: der Bundesregierung Überlegungen, Verlustschmier- Ist die Bundesregierung bereit, das Verhalten der Holländer in stoffe zu verbieten, die die Umwelt gefährden, und dieser Angelegenheit vor dem Europäischen Gerichtshof auf dafür Produkte zu verwenden, die die Umwelt weni- seine Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen? ger gefährden, z. B. Produkte auf pflanzlicher Basis? Bitte, Herr Staatssekretär. Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Die Bun- Kollege Deß, ein Teil der Verlustschmierstoffe wird desregierung prüft zur Zeit die Erfolgsaussichten durch Verbrennungsprozesse umgesetzt, wie schon einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof über von mir beschrieben, der andere Teil der Verlust- die Vereinbarkeit des niederländischen Ordnungs- schmierstoffe — ich denke hier an Schleifschlämme rahmens mit dem Europarecht. besonders im Bereich der Metallindustrie — ist nach § 5 Abs. 1 Satz 3 Bundes-Immissionsschutzgesetz zu Vizepräsident Helmuth Becker: Keine Zusatzfra- vermindern bzw. ordnungsgemäß zu verwerten. gen. — Dann sind wir damit am Ende der Abhandlung Es gibt eine sehr interessante Entwicklung im dieses Geschäftsbereiches. Herr Parlamentarischer Bereich des Einsatzes von Bioölen. Sie wissen, daß Staatssekretär Carstens, vielen Dank. zumindest in einem Bereich, bei den Kettenschmier- Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bun- ölen sowie bei Schmierstoffen und Schalölen, das desministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reak- Umweltzeichen bereits vergeben wurde. Größere Pro- torsicherheit. Zur Beantwortung steht uns Herr Parla- bleme haben wir noch bei den Hydraulikölen. mentarischer Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek zur Verfügung. Albert Deß (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, Ihnen Ich rufe die Frage 46 des Abgeordneten Albert Deß ist bekannt, daß der deutschen Landwirtschaft zuge- auf: mutet wurde, daß Atrazin im nationalen Alleingang Welche Mengen Schmierstoffe gehen nach Kenntnis der verboten wurde, und die Landwirtschaft wesentlich Bundesregierung in der Bundesrepublik Deutschland jährlich- teurere Ersatzprodukte verwenden muß. Warum verloren bzw. werden nicht sachgerecht entsorgt, und welche erläßt die Bundesregierung nicht auch im nationalen Umweltgefahren entstehen nach Ansicht der Bundesregierung durch diese Mengen? Alleingang ein Anwendungsgebot dort, wo bereits heute bessere Schmiermittel zur Verfügung stehen? Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reak- Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr torsicherheit: Herr Präsident! Herr Kollege Deß, nach Kollege Deß, ich muß noch einmal darauf hinweisen, den der Bundesregierung vorliegenden Informatio- daß es hier Entwicklungen gibt. Wir wären auch nen wurden in 1991 von den rund 1,228 Millionen t bereit, im Bereich der Hydrauliköle weitere Anwen- abgesetzten Schmierstoffen etwa 723 000 t als Altöl dungen zu ermöglichen, wenn die Fragen der Erfas- wieder eingesammelt und einer Verwertung bzw. sung, der Sammlung und der Verwertung gelöst sind. ordnungsgemäßen Entsorgung zugeführt. Sie wissen, daß das bisher nicht der Fall ist. Ich Der Bundesregierung liegen keine Hinweise der für erinnere hier an die Altölverordnung. So können z. B. den Vollzug des Abfallrechts zuständigen Länder beide Ole nicht vermischt werden — eine Vermi- über eine i llegale Entsorgung der Differenzmenge schung kann auch in der Landwirtschaft vorkom- von 500 000 t Altöl vor. Vielmehr ist nach wie vor men —, da ansonsten keine Wiederaufarbeitung mög- davon auszugehen, daß der größte Teil dieser Öle lich ist. Außerdem weise ich noch einmal darauf hin, bestimmungsgemäß verbraucht wird. Dies gilt vor daß auch in den Bioölen wie bei den Mineralölen allem für Motorenöle, die teilweise während des Additive enthalten sind. Hier ist noch eine ganze Betriebs verbrannt und über das Abgas emittiert Menge Forschungs- und Entwicklungsbedarf vonnö- werden. Verfahrensöle bleiben als Weichmacher in ten. Kunststoffen und Kautschuk, Verlustschmierstoffe gehen gebrauchsbedingt vollständig als Sägeket- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und tenöl, Zweitaktmotorenöl, Drahtseilschmierstoff und Herren, die Fragen 47 und 48 des Kollegen Klaus für ähnliche Anwendungen verloren. Teile der Öle Harries sollen schriftlich beantwortet werden. Die verbleiben außerdem als Reste oder Anhaftungen in Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Transportbehältern und Verpackungen, an behandel- Wir sind damit auch mit der Behandlung des ten Metallteilen, Spänen und Schleifschlämmen aus Geschäftsbereichs des Bundesministeriums für Um- 17018 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Vizepräsident Helmuth Becker welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit fertig. Noch Um auf den wahrscheinlichen Kern Ihrer Frage zu einmal herzlichen Dank, Herr Staatssekretär, daß Sie kommen: Ich habe nicht die geringsten Bedenken, bei hier waren. allen derartigen Beiträgen den Absender, nämlich die Wir kommen nunmehr zum Geschäftsbereich des Bundesregierung, klar und deutlich und ganz unmiß- Bundesministeriums für Post und Telekommunika- verständlich zu nennen. Sehr häufig wird dieser tion. Absender in den Beiträgen ja auch genannt. Ich halte das auch für die bessere Lösung. Wir haben keinen Alle drei eingereichten Fragen sollen schriftlich Grund, die Herkunft dieser Meldungen zu verschwei- beantwortet werden. Es handelt sich im einzelnen um gen. Aber ob die Bundesregierung als Absender die Frage 49 des Abgeordneten Simon Wittmann genannt wird oder nicht, ist Sache der Rundfunkan- (Tännesberg) und die Fragen 50 und 51 des Abgeord- stalten und der Spezialagenturen. Sie haben das neten Gernot Erler. Die Antworten werden als Anla- selber zu entscheiden. gen abgedruckt. Nunmehr rufe ich den Geschäftsbereich des Bun- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und deskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf. Zur Herren, das war natürlich mehr ein Vortrag zu dieser Beantwortung der hier gestellten Frage 52 des Kolle- Frage als die Beantwortung der Frage. Ich muß gen Hans Wallow: allerdings darauf hinweisen, daß die Frage so gestellt In welcher Art und welchem Umfang liefert die Bundesregie- ist, daß sie eine kurze Antwort der Bundesregierung rung Rundfunksendern Informationsmaterial für Sendungen, überhaupt nicht ermöglicht. Ich bitte aber, daß wir das dann bei der Ausstrahlung von den Hörern nicht als nach den Richtlinien der Fragestunde verfahren: staatliche Information identifiziert werden kann? kurze Fragen und kurze Antworten. steht uns Herr Staatssekretär Diet rich Vogel zur Bitte, Herr Kollege Wallow. Verfügung. Bitte, Herr Staatssekretär. Hans Wallow (SPD): Kurze Frage, Herr Staatssekre- tär: Sehen Sie nach Ihren Ausführungen wirklich die Dietrich Vogel, Staatssekretär, Chef des Presse- und Staatsfreiheit des Rundfunks nach Art. 5 GG gewähr- Informationsamtes der Bundesregierung: Herr Abge- leistet, wenn der Adressat nicht in jedem Falle weiß, ordneter, erstens: Alle Rundfunksender erhalten von daß das Material von der Bundesregierung kommt? uns direkt Informationsmaterial, z. B. Pressemittei- lungen oder andere Produkte des Bundespresseamtes Dietrich Vogel, Staatssekretär: Ja, Herr Abgeordne- oder der Ministerien. Die Anstalten verwenden die- ter, ich sehe das. Jeder Rundfunkredakteur hat die ses Material nach ihrem Gutdünken und geben eine Freiheit, so etwas zu nehmen oder nicht zu neh- Quelle an oder tun es auch nicht. men. Zweitens. Das Bundespresseamt hat bekanntlich die Aufgabe, die Politik der Bundesregierung darzu- Hans Wallow (SPD): Wird für den Hörer erkennbar, stellen und zu erläutern. Um diese Aufgabe möglichst daß es sich um bezahlte Beiträge handelt? umfassend erfüllen zu können, unterhält das Amt seit vielen Jahren und auch unter wechselnden Regierun- Dietrich Vogel, Staatssekretär: Es sind keine bezahl- gen vertragliche Beziehungen zu Herausgebern spe- ten Beiträge der Rundfunkanstalten. Es sind Ange- zieller Informationsdienste für Rundfunkanstalten bote von Agenturen, die wir finanzieren. Wir haben niemals daraus ein Hehl gemacht. Jedermann, der und zu entsprechenden Agenturen. Diese Agenturen erhalten von uns Mate rial zu politischen, wirtschafts- sich für diese Fragen interessiert, weiß das. politischen und ganz allgemeinen Themen. Die Her- Das war nun wieder ausgeber produzieren daraus in eigener Verantwor- Vizepräsident Helmuth Becker: vorbildlich. tung Beiträge für Rundfunkanstalten und bieten sie jetzt vor allem privaten, aber auch öffentlich-rechtli- Nun, Herr Staatssekretär, herzlichen Dank für die chen Anstalten an. In diesem Jahr — 1993 — hat das Beantwortung der Fragen und dafür, daß Sie hier Schwergewicht solcher Beiträge bei sogenannten Rat- waren. gebersendungen, bei der Europapolitik und beim Wir kommen nunmehr zu den Fragen, die das Solidarpakt gelegen. Das Presseamt selbst tritt dabei Bundeskanzleramt direkt be treffen. Zur Beantwor- nicht in irgendwelche direkten oder indirekten Bezie- tung steht uns Herr Staatsminister Anton Pfeifer zur hungen zu einer Rundfunkanstalt. Diese Beziehungen Verfügung. Inzwischen ist auch Herr Kollege werden allein von den Agenturen unterhalten. Dr. Klaus Kübler anwesend. Die Leistung der Herausgeber bzw. der Agenturen Ich rufe die Frage 53 des Abgeordneten Dr. Klaus wird vom Bundespresseamt honoriert. Im Jahre 1993 Kübler auf: sind dafür insgesamt 1 545 000 DM ausgegeben wor- In welcher Art hat der Bundeskanzler bei seinem China- den. Bei 2 860 Sendeminuten aller Rundfunkanstal- Besuch das Thema der Menschenrechtsverletzungen in Tibet angesprochen, und hat der Bundeskanzler den chinesischen ten, die damit von den Agenturen beliefert worden Ministerpräsidenten zum Dialog mit dem geistlichen Oberhaupt sind, sind das Kosten von 540 DM je Sendeminute. In Tibets, dem Dalai Lama, aufgefordert? der Branche gilt das als ein sehr niedriger Preis. Bitte, Herr Staatsminister. 1992 haben wir für diese Zwecke 1,1 Millionen DM ausgegeben. In diesem Jahr ist es mehr geworden, Anton Pfeifer, Staatsminister beim Bundeskanzler: weil das Interesse der Anstalten an solchen Beiträgen Herr Präsident! Herr Kollege Kübler! Der Bundes- gewachsen ist und die Zahl der Rundfunkanbieter kanzler und als sein persönlicher Beauftragter Staats- — der privaten — immer noch steigt. sekretär Kastrup haben in Parallelgesprächen und im Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17019

Staatsminister Anton Pfeifer Rahmen einer Vormission alle mit den Menschen- Anton Pfeifer, Staatsminister: Herr Kollege Kübler, rechten in der Volksrepublik China zusammenhän- der Bundeskanzler hat in der Plenarsitzung des Deut- genden Fragen offen und sehr konkret angesprochen. schen Bundestages am 24. November 1993 erklärt, Aus der Sicht der Bundesregierung, insbesondere auf daß er während seines Besuches in China seine Grund ihrer Erfahrungen in diesem Zusammenhang, Gesprächspartner auf die Menschenrechte angespro- ist es im Interesse der Betroffenen opportun, diese chen, auf die große Bedeutung dieser Frage hingewie- Fragen und eventuelle Ergebnisse diskret zu verfol- sen und der chinesischen Regierung in Abstimmung gen. mit amnesty international und dem Kommissariat der Deutschen Bischöfe eine Liste mit mehr als 20 Namen Dr. Klaus Kübler (SPD): Lieber Kollege Pfeifer, Sie übergeben hat. Im Hinblick auf die erfragten näheren wissen, daß ich eine Reihe von Fragen stellen muß. Einzelheiten möchte ich mich auf meine Antwort auf Natürlich ist mir Ihre Äußerung viel zu allgemein. Dies die vorherige Frage beziehen. ist auch der Hintergrund meiner Fragen, weil auch ich nur die allgemeinen Erkenntnisse aus der Presse Dr. Klaus Kübler (SPD): Ist die Bundesregierung habe. dann der Auffassung — unterstellt, ihre Art der Antwort wäre zu akzeptieren —, daß die amerikani- Ich wiederhole deshalb meine Frage sehr präzise, sche Regierung, insbesondere der Präsident Clinton, ob und bei welchem Gespräch das Thema Tibet angesprochen worden ist, und ob im Zusammenhang übrigens auch der Vorgänger, Präsident Bush — hier mit Tibet auch die Frage angesprochen worden ist, gibt es überhaupt keine Unterschiede —, nicht Einzel- daß sich die Bundesrepublik für einen Dialog zwi- namen — die habe ich auch nicht abgefragt, auch nicht in meinen Fragen —, aber sehr klar und eindeu- schen der chinesischen Regierung und der Seite des tig die Menschenrechtsfrage, auch differenziert nach Dalai Lama einsetzt. Sachthemen, nicht nach Personen, angesprochen hat? Und ist die Bundesregierung nicht der Auffassung, Anton Pfeifer, Staatsminister: Herr Kollege Kübler, zunächst sind diese Menschenrechtsfragen in mehre- daß man hier in verbündeter Form und damit auch ren Gesprächen angesprochen worden. Ich sehe, daß viel, viel wirkungsvoller vorgehen könnte? Sie mich durch Ihre Zusatzfrage doch bewegen wol- Anton Pfeifer, Staatsminister: Herr Kollege Kübler, len, zu Einzelheiten Stellung zu nehmen. Aber weil die Bundesregierung hat gestern ihren zweiten ich weiß, daß es auch Ihnen darum geht, daß Men- Bericht an den Deutschen Bundestag über die Men- schen konkret geholfen wird, bitte ich Sie nochmals schenrechtspolitik verabschiedet. Im Hinblick auf Ihre um Verständnis, wenn ich an dieser Stelle auf diese Frage möchte ich dann doch zum Ausdruck bringen, Einzelheiten nicht eingehen möchte. Ich möchte daß dieser Be richt im einzelnen ausweist, daß die Ihnen aber sagen, daß es nach meinem Wissen heute Bundesregierung sich unter anderem auch mit China abend die Möglichkeit gibt, im zuständigen Unteraus- besonders intensiv um einen Menschenrechtsdialog schuß des Bundestages auch diese Frage zu erörtern. bemüht, wie dies auch beim Besuch des Bundeskanz- Nach meiner Kenntnis wird auch Herr Staatssekretär lers der Fall war und jetzt in der Nacharbeit dieses Kastrup dort sein. Selbstverständlich bin ich gerne Besuches weiter der Fall ist. Auch das hat der Bundes- bereit, Ihnen persönlich in einem Gespräch noch kanzler am 24. November hier im Bundestag zum einige dieser Fragen zu beantworten. Ausdruck gebracht. Aus diesem Bericht ergibt sich auch im einzelnen, daß der Menschenrechtsdialog mit Dr. Klaus Kübler (SPD): Da es, Herr Staatsminister China inzwischen eine gewisse Stetigkeit und Quali- Pfeifer, mir nicht um Namen geht und damit auch tät erreicht hat und daß dieser Dialog das gesamte nicht um Einzelpersonen, ist meine Frage erneut die Spektrum der Beziehungen auf dem Gebiet der Men- — und ich glaube, darüber muß man auch öffentlich schenrechte umfaßt. Es wird ja in der kommenden Rechenschaft ablegen —, ob über Tibet in dieser Woche Gelegenheit sein, diesen Be richt hier im Bun- doppelten Hinsicht gesprochen wurde: Menschen- destag zu diskutieren. rechtsfragen allgemein und auch Fragen des Dialo- ges. Dr. Klaus Kübler (SPD): Herr Staatsminister Pfeifer, ich darf noch einmal meine Frage wiederholen, ob es Anton Pfeifer, Staatsminister: Aber wenn man Men- politisch klug ist — lassen Sie mich wirklich so offen schen helfen will — und der Bundeskanzler hat das fragen —, in der Menschenrechtspolitik so vorzuge- Thema am 24. November hier im Bundestag ange- hen. Ich gebrauche jetzt nicht ein so hartes Wort wie sprochen — und wenn man vor allem Ergebnisse für gestern in der Asiendebatte, weil ich so heftige Menschen erzielen will, dann ist es manchmal besser, Proteste bekommen habe, sondern ein harmloses wenn man über Einzelheiten aus solchen Gesprächen Wort. Ich frage, ob gegenüber einem Land, das nicht spricht. Ich möchte Sie noch einmal um Ver- kommunistisch strukturiert ist, wo selbst Dissidenten, ständnis bitten. die irgend etwas machen, auch während des Kanzler- besuchs verhaftet worden sind und wo in übereinstim- Vizepräsident Helmuth Becker: Wir kommen nun- mender Weise auch zwischen Koalition und Opposi- mehr zur Frage 54 des Kollegen Dr. Klaus Kübler: tion die Auffassung besteht — ich meine Kollege Hat der Bundeskanzler die Namensliste von 20 politisch Scharrenbroich und andere —, daß sich da nichts Inhaftierten dem chinesischen Ministerpräsidenten in einem bewegt, nicht eine vergleichbare Haltung zwischen Gespräch übergeben, und hat der Bundeskanzler weitere Men- schenrechtsfragen wie z. B. die Zwangsarbeit in Umerziehungs- den Vereinigten Staaten, Frankreich, Großbritannien, lagern oder den Besuch von Vertretern des Internationalen also Clinton, Mitterrand, Major und der Bundesrepu- Roten Kreuzes in Gefängnissen angesprochen? blik ansteht, damit nicht der Anschein entsteht, daß Bitte, Herr Staatsminister. wir die Menschenrechtspolitik in dieser Frage gegen- 17020 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Dr. Klaus Kübler über China nicht genauso ernst nehmen wie die aber ganz allgemein sagen: Weil die PKK in Dörfer Amerikaner, die Franzosen und die Engländer. dieses Gebietes vordringt, do rt zum Teil Munition deponiert, die Leute zwingt, sich so zu verhalten, wie Anton Pfeifer, Staatsminister: Ich denke, daß wir sie es will, ist es dazu gekommen, daß die türkische diese Frage nicht weniger ernst nehmen als andere. Regierung mehrmals solche Dörfer hat räumen lassen, Auch das ist im zweiten Be richt über Menschenrechts- und zwar nicht, weil do rt Christen wohnen, sondern politik, den die Bundesregierung gestern verabschie- weil die PKK diese Menschen durch Gewalt für ihre det hat, dargelegt, und darin kommt auch im einzel- Zwecke benutzt hat. nen zum Ausdruck, welche Zusammenarbeit in inter- Wir haben aber — das hat unsere Botschaft wieder- nationalen Organisationen geschieht. holt auch auf Anweisung des Amtes getan — in der Aber da Sie eben nach dem konkreten Besuch Türkei sehr deutlich gesagt: Wir müssen darauf ach- gefragt haben, so ist es auf Grund der bisher gemach- ten, daß diese Kampfhandlungen nicht dazu führen, ten Erfahrungen im Interesse der Menschen opportun, daß die dort lebenden christlichen Minderheiten stän- daß wir uns so verhalten, wie ich es hier tue. dig betroffen werden.

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Georg Gallus (F.D.P.): Herr Staatsminister, stimmt Herren, wir sind damit am Ende der Behandlung der es — wie ich einer Meldung entnommen habe —, daß Fragen aus dem Bereich des Bundeskanzleramtes und die türkische Regierung Hisbollah-Kämpfer gegen die des Bundeskanzlers. Ich danke Ihnen, Herr Staatsmi- PKK ausbildet und mit Waffen ausrüstet, die PKK nister Anton Pfeifer, für die Beantwortung der Fra- ihrerseits aber eine christenfreie Südosttürkei will und gen. deshalb keinerlei Rücksicht auf dort lebende Christen Außerdem sage ich noch einmal: Vielleicht gibt es nimmt, die Christen sogar für die Greueltaten an im Frühjahr eine Gelegenheit, mit einer chinesischen Muslimen in Bosnien verantwortlich macht? Delegation, die hier weilt, diese Fragen weiter zu vertiefen. Helmut Schäfer, Staatsminister: Mir ist eine solche Meine Damen und Herren, der letzte Geschäftsbe- Nachricht nicht bekannt, daß die Türkei jetzt Hisbol- reich ist der Geschäftsbereich des Auswärtigen lah-Kämpfer gegen die kurdische PKK ausrüste. Die Amtes. Türkei hat den Kampf gegen diese Bewegung bisher Zur Beantwortung steht uns Herr Staatssekretär mit eigenen militärischen Mitteln geführt. Wir hatten Helmut Schäfer zur Verfügung. im Bundestag wiederholt Gelegenheit dazu — auch Die Frage Nr. 55 des Kollegen Ortwin Lowack und kritisch — Stellung zu nehmen. die Frage Nr. 58 des Kollegen Norbert Gansel sollen Ich kann nur sagen, daß wir die türkische Regierung schriftlich beantwortet werden. Die Antworten wer- bislang auch auf die Lage der kleinen christlichen den als Anlagen abgedruckt. Minderheiten hingewiesen haben, die hier zwischen Es verbleiben uns die beiden Fragen des Abgeordne- die Fronten geraten sind und die Opfer dieser Ausein- ten Georg Gallus, nämlich die Fragen 56 und 57. Ich andersetzung werden, und daß wir — wie zuletzt beim rufe zunächst Frage 56 auf: - Besuch der türkischen Premierministerin hier — dar- auf achten werden, daß diesen Christen, die dort Ist der Bundesregierung bekannt, daß bei den Auseinander Setzungen in Südost-Anatolien zwischen der türkischen Armee leben, nicht noch mehr zugemutet wird, als das bisher und den kurdischen Gruppen die dort wohnenden Ch risten der Fall war, und daß man auf jeden Fall versucht, sie immer mehr in Mitleidenschaft gezogen werden? zu schonen. Bitte, Herr Staatsminister! Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen Herren, die Zeit für die Fragestunde ist abgelaufen. Amt: Herr Kollege, der Bundesregierung ist bekannt, Ich hoffe aber, daß Sie einverstanden sind, daß wir die daß die Christen in der Südosttürkei wie die dort Antwort auf die letzte Frage des Kollegen Gallus, die lebende Zivilbevölkerung insgesamt zunehmend zwi- Frage 57, noch zulassen: schen die Fronten des Konfliktes mit der kurdischen Ist die Bundesregierung bereit, dafür zu sorgen, daß die Terrororganisation PKK geraten. Da sich der Kurden- Christen aus diesem Gebiet in ihren Dörfern wohnen bleiben konflikt in letzter Zeit spürbar verschärft hat, ist auch dürfen oder — sollte dies nicht möglich sein — ein Weg gefunden ihre Situation schwieriger geworden. wird, daß sie in der Bundesrepublik Deutschland oder in anderen europäischen Staaten Asyl bekommen können? Georg Gallus (F.D.P.): Herr Staatsminister, ist der Bitte, Herr Staatsminister. Bundesregierung auch bekannt, daß das Dorf Hasana bis zum 20. November total von den syrisch-orthodo- Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege Gal- xen Christen geräumt werden mußte, weil es am lus, die Botschaft Ankara steht in Kontakt mit Vertre- Abend des 20. November bombardiert werden sollte? tern der christlichen Kirchen in der Südosttürkei und Ist das Dorf nun bombardiert worden, oder ist es auf beobachtet die Lage der dortigen christlichen Min- Grund der Einwendungen der Bundesregierung nicht derheiten sehr genau. Die Möglichkeiten der Bundes- bombardiert worden? Das möchte ich jetzt wissen. regierung, auf die Türkei einzuwirken, sind be- schränkt, da die von den türkischen Sicherheitskräf- Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich ten im Einzelfall ge troffenen Maßnahmen — ich habe kann Ihnen nicht genau sagen — Sie haben die Frage das schon gesagt — von der türkischen Regierung nicht schriftlich gestellt —, was mit dem von Ihnen regelmäßig als im Rahmen der Terrorismusbekämp- genannten Dorf inzwischen geschehen ist. Ich darf fung notwendig begründet worden sind. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17021

Staatsminister Helmut Schäfer Es haben bereits zahlreiche christliche Bewohner als ob sie alle nach dem Atomgesetz erforderlichen der Region in der Bundesrepublik Deutschland Auf- Genehmigungsschritte durchmessen hätte. nahme gefunden. Unbeschadet der Prüfung in jedem (Zuruf von der CDU/CSU: Ohne Zweifel!) Einzelfall, ob eine Aufnahme möglich ist, muß auf die für diesen Personenkreis bestehende Alternative hin- Nicht nur die Bürger vor Ort fragen sich, ob wir gewiesen werden, daß in der Westtürkei, vor allem in dieses Danaergeschenk der deutschen Einheit anneh- den Großstädten, in denen es christliche Gemeinden men sollen oder nicht. Die Bundesregierung will dies gibt, auch Möglichkeiten für eine Zuflucht beste- tun. Sie sagt, sicherheitstechnische und rechtliche hen. Bedenken stünden einem Betrieb des Endlagers Morsleben nicht entgegen. Ich meine, das ist schlicht Unfug, und Sie wissen das auch. Selbstverständlich Georg Gallus (F.D.P.): Herr Staatsminister, leider sind mir auch Fälle bekannt, daß unsere zuständigen bestehen rechtliche Bedenken und sicherheitstechni- Vertretungen in der Türkei nicht in jedem Einzelfall so sche Probleme, nur glauben Sie sich darüber hinweg- gehandelt haben, daß diese Menschen, wenn sie setzen zu können. einen Aufenthalt bei Verwandten hier in der Bundes- Ich will mich in meinem Beitrag mit der Frage republik gesucht haben, entsprechend schnell und auseinandersetzen, ob die Bundesregierung gut bera- reibungslos „abgewickelt" worden sind. ten war und ist, ohne eigenes, öffentliches Prüfverfah- Wollen Sie dafür Sorge tragen, daß in der Zukunft ren eine derartige Anlage weiterzubetreiben. angesichts des Personenkreises, der verjagt worden (Zustimmung bei der SPD) ist, ohne daß irgend jemand gesagt hat, wo sie eigentlich bleiben können, so schnell und so reibungs- Formal mag man der Meinung sein, weil ihr das los wie irgend möglich etwas geschieht? Bundesverwaltungsgericht dieses Endlagergeschenk ausdrücklich als Rechtens bestätigt habe, ginge das (Vorsitz: Vizepräsident Dieter-Julius Cro- so. Ich will mich nicht nur mit den formalen Gründen nenberg) des Bundesverwaltungsgerichts auseinandersetzen, weil die politische Verantwortung gleichwohl beider Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege Gal- Bundesregierung bleibt. lus, Sie wissen, daß für die Zulassung von Asylanten in Allerdings vermag ich nur unter Mühen die Vorstel- Deutschland in erster Linie die Innenbehörden der lung des Bundesverwaltungsgerichts nachzuvollzie- Lander verantwortlich sind. hen, daß der Betrieb in Morsleben auf Grund einer Ich bin aber gem bereit, einzelne Fälle, die Sie jetzt Genehmigung der DDR erfolgte, für deren Erteilung ansprechen und die wohl auch mit der Erteilung von materielle Anforderungen mit im wesentlichen glei- Ausreisegenehmigungen oder Visa im Zusammen- cher Zielsetzung in bezug auf die Gewährleistung von hang stehen, mit Ihnen anzusprechen und Ihnen auch Leben und Gesundheit gegolten hätten wie für ent- zu helfen, diese Fälle in dem von Ihnen angesproche- sprechende Anlagen in der Bundesrepublik Deutsch- nen Sinne zu lösen. land. Die gleichen materiellen Voraussetzungen seien dort geprüft worden. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Das Bundesverwaltungsgericht hat die fehlende Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Beteiligung der Öffentlichkeit und potentieller Dritt- Fragestunde. betroffener und deren Grundrechtsschutz,

Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf: (Zuruf von der F.D.P.: Das ist falsch!) Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion insbesondere also von Leben und Gesundheit, als der SPD nicht in jedem Fall unverzichtbar angesehen, weil der Gesetzgeber in einer Situation war, diese Anlagen in Haltung der Bundesregierung zur Einlage- ein neues Rechtssystem überzuleiten. Zudem handele rung radioaktiver Abfälle in das Endlager es sich um eine Ein für schwach- und mittelradioaktive Abfälle befristete Übergangsregelung. Konzept der Langzeitsicherheit sei in einem dafür Morsleben (ERAM) vorgesehenen Planfeststellungsverfahren später ei- Zunächst einmal hat der Abgeordnete Dietmar ner erstmaligen gründlichen Überprüfung zu unter- Schütz das Wort. Bitte sehr. ziehen. Wenn wir es, meine Damen und Herren, sowieso Dietmar Schütz (SPD): Herr Präsident! Meine lieben machen müssen, wie das Bundesverwaltungsgericht Kolleginnen und Kollegen! Ohne Planfeststellungs- es sagt, wieso machen wir es nicht schon jetzt? verfahren, ohne Öffentlichkeitsbeteiligung, ohne gründliche gutachterliche Prüfung hat sich die Bun- (Beifall bei der SPD) desregierung per Einheitsvertrag in Morsleben ein In vergleichbaren Fällen haben wir bei den Atom- Endlager genehmigt. anlagen der ehemaligen DDR, die auf Grund des (Zuruf von der SPD: Das geht nicht!) Einigungsvertrages auch befristet weiterbetrieben Wir haben diese Aktuelle Stunde beantragt, weil die werden konnten, von keiner dieser bef risteten Über- Bundesregierung dieses ihr so zugefallene Endlager gangsregelungen Gebrauch gemacht, obwohl dies jetzt aktuell für schwachradioaktive Abfälle nutzen der Einigungsvertrag auch erlaubt hätte. will, (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das läßt sich (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) nicht vergleichen!) 17022 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Dietmar Schütz Ich erinnere daran, daß wir nach dem Vertrag die Ich danke Ihnen. Kernkraftwerke fünf Jahre und auch die DDR-inter- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nen Atomtransporte zwei Jahre lang hätten durchfüh- der PDS/Linke Liste) ren können. Mit guten Gründen haben wir darauf verzichtet, und das sollten wir hier auch tun. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke nunmehr dem Abgeordneten Klaus Harries das Liste) Wort. Ich frage die Bundesregierung, warum sie nicht (Zurufe von der CDU/CSU: Jetzt wird es auch für das Endlager Morsleben auf die sichere Seite endlich sachlich! — Er stellt einiges rich geht tig!)

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir sind auf Klaus Harries (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine der sicheren Seite!) sehr verehrten Damen und Herren! Die niedersächsi- und in einem nach dem Atomgesetz vorgesehenen sche Umweltministerin betreibt in ihrem Lande eine Verfahren gründlich und sorgfältig unter Beteiligung ausstiegsorientierte Vollzugspolitik in Sachen Kern- der Öffentlichkeit und der kritischen Wissenschaft energie. Das ist rechtswidrig und widersp richt ihrer prüft, ob Morsleben als Endlager für schwachradioak- Zuständigkeit. Die Energiepolitik wird in Bonn live Stoffe geeignet ist. Warum tut sie das nicht gemacht. Das Atomgesetz ist ein Bundesgesetz; die jetzt? Länder haben zu vollziehen. Das ist eine rechtswid- rige Obstruktionspolitik. Das macht nicht nur die Während der Diskussion zum Einheitsvertrag niedersächsische Umweltministerin, sondern das gilt mußte die Rechtsüberleitung zügig und schnell ebenfalls für andere rot-grün regierte Länder. M an gehen. Dafür bestand und besteht in der Öffentlich- beruft sich zur Begründung für diese rechtswidrige keit Akzeptanz. Jetzt gibt es für dieses Argument der Obstruktionspolitik darauf, daß man für den Schutz schnellen Herstellung der Rechtssicherheit keine der Bevölkerung zuständig sei. Das ist im Grunde ein Akzeptanz mehr. Jetzt gilt wegen der möglichen schlimmes Argument. Sicherheitsgefährdung durch ein solches Endlager, daß Sorgfalt, Genauigkeit und kritische öffentliche (Zuruf von der SPD: Was?) Prüfung absolute Priorität haben müssen. Aber ich bleibe ganz freundlich und sage: Das ist ja nur die halbe Wahrheit. Wir machen schon seit eini- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke gen Jahrzehnten Energiepolitik mit Kernenergie. Sie Liste) wurde schwerpunktmäßig unter Ihren Bundesregie- Die Bundesregierung muß sich dieser Anforderung rungen begonnen, und Sie nehmen mit Recht eben- stellen. Die Dauerbetriebsgenehmigung der DDR, falls für sich in Anspruch, daß die damalige zuständige deren Rechtsetzung Sie doch sonst nie akzeptiert Bundesregierung eine Schutzfunktion für die Bevöl- haben, einfach zu übernehmen ist ein sehr billiger kerung wahrgenommen, aber eben auch Energiepo- Versuch — „billig" im doppelten Sinne —, vom litik gemacht hat, was überhaupt nicht zu trennen ist. Entsorgungsnotstand der deutschen Atomwirtschaft - Das nehmen wir genauso für uns in Anspruch. Wir sind abzulenken. Sie haben nie die Rechtsetzungsbefug- nicht blauäugig und nicht einäugig. Das ist für uns nisse und Rechtsetzungsmacht der DDR bei so wich- eine zusammenhängende Betrachtungsweise. Das tigen Sachen akzeptiert, nur an dieser Stelle tun Sie machen wir ohne jeden Sicherheitsrabatt. das. (Zuruf von der SPD: Sie treten aber nicht den (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Natürlich, Gegenbeweis an !) z. B. im Scheidungsrecht!) Lieber Herr Schütz, Sie haben eben dargelegt, daß die Bundesregierung nach der Wiedervereinigung Es ist erstaunlich. unbesehen Morsleben übernommen habe. Sie haben Ich fordere deshalb die vorläufige Stillegung des recht: Morsleben ist von der damaligen DDR-Regie- Endlagers Morsleben und die sofortige Einleitung rung als Endlager für schwach- und leichtradioaktive eines neuen, ordnungsgemäßen, nach bundesdeut- Stoffe genehmigt gewesen. Wir haben es aber nicht schen Standards durchzuführenden Genehmigungs- unbesehen übernommen. Leider sind Sie dann nur mit verfahrens. Vor dessen Abschluß ist jeder Bet rieb formalen und formalistischen Argumenten und rechtlich bedenklich und politisch nicht zu verantwor- Betrachtungsweisen gekommen. ten. Ich will im Bild der griechischen Mythologie Wir haben Gutachter und die Reaktorsicherheits- bleiben. Ich habe vorhin vom Danaergeschenk konferenz gehört. Greenpeace hat eine Verfassungs- gesprochen. Wir sollten die Büchse der P andora nicht beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht ein- öffnen, sollten sie geschlossen halten. Leider tut das gelegt. Sie wurde zurückgewiesen. Alle Prüfungen die Bundesregierung nicht. Wir wollen sie prüfen. und alle Untersuchungen, die durchgeführt worden sind, haben uns und der Bundesregierung bestätigt, (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Wo wollen Sie daß man Morsleben als Endlager für leicht- und denn solchen Abfall hinbringen? — Zuruf schwachradioaktive Abfälle aus Kernkraftwerken von der SPD: Wovor haben Sie denn so viel benutzen kann. Das ist schließlich von dem zuständi- Angst?) gen Gericht in Magdeburg bestätigt worden. Der — Wir wollen den Abfall dorthin bringen, wo wir nach Bundesumweltminister hat aus politischen, nicht aus einem ordnungsgemäßen Verfahren die Vorausset- rechtlichen oder anderen Gründen, um die Debatte zu zungen dafür geschaffen haben. Das sollten wir tun. versachlichen, gegenüber dem sachsen-anhaltini- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17023

Klaus Harries schen Umweltminister zugestanden, daß er das dies- betrieben. Es wurde von der ehemaligen DDR als ein I bezügliche Urteil des OLG Magdeburg, wenn es die zentrales Endlager konzipiert und erhielt im April Zulässigkeit nur für die neuen Länder bestätigt, aner- 1986 die Dauerbetriebsgenehmigung. Im Zuge der kennen werde und den Einzugsbereich von Morsle- Verhandlung des Einigungsvertrages wurde die Eig- ben nicht auf die gesamte Bundesrepublik Deutsch- nung dieses Endlagers geprüft und festgestellt, daß, land ausdehnen wolle. Sie ersehen daraus einfach, gemessen an den atomrechtlichen und sicherheits- daß wir uns in schwieriger Entsorgungssituation um technischen Anforderungen der Bundesrepublik, Sachlichkeit und um Vernunft bemühen. Keine keine Gefährdungen bestehen, die eine Einstellung Leichtfertigkeit, sondern ein Blick für das Ganze und des Betriebs rechtfertigen würden. auch ein Blick für die besondere, anhaltende Situation Warum streiten wir uns also heute? Einerseits wird der neuen Bundesländer! Das sollten Sie bedenken. kritisiert, daß kein bundesrepublikanisches Genehmi- (Beifall bei der CDU/CSU) gungsverfahren vorliegt, zum anderen wird die Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie Betriebssicherheit dieses Endlagers bezweifelt. Erste- zäumen bei Ihrer — ich sage es jetzt unfreund lich, res halte ich für Spiegelfechterei; und ich möchte auch aber es ist genau das, was ich meine — Obstruktions- keine rechtliche Beurteilung vornehmen, zumal der politik gegen die Kernenergie das Pferd von hinten Kollege Baum hierfür in meiner Fraktion der Berufe- auf nere ist. Spiegelfechterei nenne ich es deshalb, weil es wohl auf den Zustand dieses Lagers ankommt, wenn (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig ist ernsthaft die Frage gestellt werden soll, ob Morsleben das!) für die Endlagerung der vorgesehenen Abfälle geeig- und sagen, weil die Entsorgung nicht gesichert sei, gar net ist. nicht gesichert werden könne, müsse man nein zur Kernenergie sagen. Die Bundesregierung hatte schon frühzeitig sowohl bei der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicher- (Zuruf von der SPD: Rein formal!) heit als auch bei der Bundesanstalt für Geowissen- Das ist ein nicht stimmiges, ein nicht überzeugendes, schaften und Rohstoffe Sicherheitsanalysen in Auf- ein falsches Argument. Denn wenn wir, Herr Schütz, trag gegeben. Diese Analysen ergaben eindeutig, daß noch keine Endlager haben — ich nenne Konrad, ich eine Gefährdung, die eine Stillegung des Bet riebs nenne Morsleben —, dann liegt das nicht daran, daß zwingend erforderlich machen würde, nicht gegeben sie aus wissenschaftlichen, aus naturwissenschaftli- ist. chen Gründen nicht genehmigungsfähig wären, son- Gleichwohl hat der Bundesumweltminister die Ein- dern es liegt allein daran, daß hier wirklich eine lagerung von radioaktiven Abfällen in Morsleben ausstiegsorientierte Vollzugspolitik gemacht wird, zunächst ausgesetzt und die Reaktorsicherheitskom- daß hier im Grunde Politik vor Ort gegen Zuständig- mission gebeten, eine zusätzliche Stellungnahme keit des Bundes gemacht wird, um die ganze Kern zum Betrieb dieses Endlagers abzugeben. Diese Stel- -energiepolitik und damit einen wichtigen Bereich lungnahme liegt seit Mai 1991 vor. Sie besagt, daß für unserer Energiepolitik zu Fall zu bringen. den genehmigten Betriebszeitraum bis zum Jahre (Beifall bei der CDU/CSU) - 2000 eine vom Anlagenbetrieb ausgehende Gefähr- Im Grunde sollten wir uns, meine Damen und dung ausgeschlossen werden kann. Schäden für Herren, wirklich bemühen — und ich benutze die Dritte seien nicht zu befürchten. Die Sicherheitskrite- Aktuelle Stunde, die Sie beantragt haben, dazu, dies rien der Reaktorsicherheitskommission werden als zu sagen —, uns punktuell zu verständigen. Ich will voll erfüllt erachtet. gar nicht den niedersächsischen Ministerpräsidenten Die Reaktorsicherheitskommission kam also zu dem zitieren, aber nun habe ich es beinahe — leider — Ergebnis, daß aus sicherheitstechnischer Sicht eine gesagt: Der ist hier ganz anderer Meinung. Er hat zwar Fortsetzung des Einlagerungsbetriebs unbedenklich noch vor Monaten gesagt, „Konrad" sei unverant- ist. Auch der SKA-Ausschuß der Strahlensicherheits- wortlich, gar nicht genehmigungsfähig; jetzt sagt er, kommission kam zu einer gleichartigen generellen „Konrad" sei selbstverständlich zulässig. Bewertung des Endlagerbetriebs. Wir erkennen alle, daß wir Lager für schwach- und In keiner Weise kann man aus den vorliegenden leichtradioaktive Stoffe brauchen. Also sagen wir Gutachten eine Bestätigung der allgemein verbreite- endlich ja zu einem Endlager! Das sind wir unserer Wirtschaft, das sind wir uns allen, das sind wir der ten Behauptung finden, Morsleben saufe ab. Auch die Schutzfunktion gegenüber der Bevölkerung in jeder etwas abgemilderte Behauptung, das Grundwasser Weise schuldig. Das muß geschehen. Machen Sie werde verseucht, erweist sich durch die Gutachten als unhaltbar. Um es einmal präzise zu sagen: Es treten mit! genau an fünf Stellen des Endlagers saline Lösungen (Beifall bei der CDU/CSU) aus dem umgebenden Salzgestein in die Grube. Drei davon entstanden bereits zur Zeit der Salzablagerung bzw. durch Umlösungsvorgänge innerhalb des Salz- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort stockes. hat nunmehr Professor Dr. Jürgen Starnick. Die Tropfstellen im Bereich des sogenannten „Bun- ten Firsts" sind bergbaubedingt. Nur die Tropfstelle Dr. Jürgen Starnick (F.D.P.): Herr Präsident! Meine im Lager H steht im Zusammenhang mit dem grund Damen und Herren! Seit 1981 wird Morsleben als wasserführenden Deckgebirge über der Salzstruktur. Endlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle Diese Tropfstellen sind bereits seit 1907 bekannt. Die 17024 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Dr. Jürgen Starnick durchschnittliche Zutrittsrate der letzten 25 Jahre liegt Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! bei ca. 7 m3 pro Jahr. Meine Damen und Herren! „Die Bundesregierung hat Die Beherrschung einer solchen Menge hat sich keine sicherheitstechnischen und rechtlichen Beden- bisher nie irgendwo als bergbautechnisches Problem ken, wieder radioaktive Abfälle im atomaren Endla- erwiesen. Hieraus eine Gefährdung ableiten zu wol- ger Morsleben einzulagern", so lauten die ersten len, widerspräche allen hydrogeologischen, gebirgs- Zeilen einer Agenturmeldung vom 30. November mechanischen und bergmännischen Erkenntnissen. dieses Jahres. Da es nun aber zur guten Übung geworden ist, daß Des weiteren heißt es: „ Zur Struktur des Deckgebir- in solchen Bereichen auch jeglichem aufkommenden ges des Endlagers und möglichen Wasserzuflüssen in Verdacht vorgebeugt werden muß, wurde ein Maß- den Salzstock sollen die Untersuchungen den Anga- nahmenkonzept ausgearbeitet, das von unabhängi- ben zufolge 1995 abgeschlossen werden. Bisherige gen Gutachtern als effektiv bewertet wurde. Damit Ergebnisse schlössen die Langzeitsicherheit des wäre ein verstärkter Zufluß, der bisher weder erkenn- Lagers nicht aus." Ich bitte Sie, hier wirk lich genau bar noch wahrscheinlich ist, jederzeit in den Griff zu hinzuhören: „Bisherige Ergebnisse schlössen die bekommen. Langzeitsicherheit nicht aus." Mit anderen Worten: Vielleicht ist Morsleben ja dicht. Wir wissen es nicht Entgegen so macher publizierter Meinung, haben genau, aber es könnte sein. Das reicht uns. hier also die Verantwortlichen einen kritischen Sach- verhalt keineswegs ignoriert, sondern ihn überprüft, (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Panikma hinterfragt und sogar eine doppelte Absicherung che! Von nichts eine Ahnung, aber dummes vorgenommen. Der Briefwechsel zwischen Green- Zeug reden!) peace einerseits und dem BMU, dem Bundesamt für Herr Töpfer, ich muß an dieser Stelle fragen: Was ist Strahlenschutz und mit der Deutschen Gesellschaft denn nun wirklich mit dieser Tropfsteinhöhle los? Sie zum Bau und Betrieb von Endlagern für Abfallstoffe haben sich schon mehrfach hingestellt und verkündet: andererseits, belegt beispielhaft, daß man mit der Morsleben ist sicher! Offensichtlich, laut dieser Agen- vorgetragenen Kritik konstruktiv umgegangen ist. turmeldung, sind Sie aber selbst nicht davon über- Gleichwohl ignoriert Greenpeace die dargelegten zeugt, oder Sie waren eben voreilig. Ich frage mich Argumente, könnte doch durch sie die eigene Grund- wirklich, wie kann man so etwas schon vor Abschluß haltung in Frage gestellt werden. Nichts ist schlimmer, der Untersuchungen verkünden? Wie kann man so als an der eigenen Gläubigkeit zu rütteln. Bei einer etwas nutzen? Organisation wie Greenpeace habe ich dafür sogar (Zuruf von der CDU/CSU) ein gewisses Verständnis. — Wenn sie abgeschlossen sind, dann müssen Sie die Was mir allerdings unverständlich bleibt, ist, daß Meldungen Ihres Hauses überprüfen und wirklich sich die große Oppositionspartei nachfragen, wie lange entsprechende Untersuchun- (Klaus Lennartz [SPD]: Die zukünftige Regie- gen laufen und wie lange nicht. Ich beziehe mich hier rungspartei!) auf die offizielle Verlautbarung des Ministeriums. auf die von Greenpeace gezogene Rille setzt. Sie weiß- Ich glaube, Politik sollte in diesen Fragen wirk lich doch ganz genau, daß wir, gleichgültig ob wir Ke rn etwas mit Wissen zu tun haben und nicht mit Glauben. -kraftwerke heute abschalten oder sie weiterbetreiben, Morsleben ist nicht sicher. Per Einigungsvertrag hat Endlager brauchen. sich die Bundesregierung ohne Planfeststellungsver- fahren und ohne Öffentlichkeitsbeteiligung ein End- Das wird auch von den Umweltschutzverbänden lager genehmigt. Morsleben erfüllt nicht einmal die nicht bezweifelt. Die SPD fordert ja Endlager bei jeder laschen Kriterien, die von der Bundesregierung bisher guten Gelegenheit. Ihre Haltung und ihr Handeln im an die Errichtung und den Bet rieb eines Endlagers für Einzelfall, sei es in Morsleben oder anderswo, ist aber radioaktive Abfälle gestellt werden. Für eine ver- genau darauf ausgerichtet, jedes Endlager solcher Art gleichbare Anlage, Schacht Konrad in Niedersachsen, zu verhindern. Ich meine, bei soviel politischer Schi- hat die Anhörung der Öffentlichkeit fünf Monate zophrenie mögen Sie solches selbst zu verantworten gedauert. haben. Aber beklagen Sie sich nicht darüber, daß der Bürger ein solches Verwirrspiel nicht immer begreift. Ich glaube, gerade bei diesem diffizilen Problem der Daß Ihnen einige Stammwähler abhanden kommen, Kernenergie sollte man sehr bewußt mit der Öffent- läßt sich daraus durchaus begründen. lichkeit umgehen, um hier eine tatsächliche Aufklä- rung zu erreichen. Einfach über die Menschen hin- (Lachen und Zurufe von der SPD: Machen wegzugehen ist schon sehr unverschämt. Sie sich darüber keine Sorgen! Über Ihre Stimmenverluste machen Sie sich mehr Sor- (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Panik gen! — Zuruf von der CDU/CSU: Was ist das mache!) für ein alberner Verein?) — Gerade weil es nicht um Panikmache, sondern um Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. eine sachliche Diskussion geht, wäre es notwendig, tatsächlich Transparenz herzustellen. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Die angefochtene DDR-Betriebsgenehmigung für Morsleben reicht nur noch sieben Jahre. Der Schutz Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort des Menschen und der Umwelt vor radioaktiver Ver- hat nunmehr Frau Dr. Höll. seuchung ist nicht gewährleistet. Die Stabilität des Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17025

Dr. Barbara Höll Grubengebäudes ist durch Zuflüsse aus dem Deckge- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau birge gefährdet. Ein Greenpeace-Gutachten bestä- Dr. Höll, bei der Aktuellen Stunde kann ich nicht tigt, daß unkontrollierte Zuflüsse zum Absaufen und großzügig sein. Ich muß dringend bitten, zum Schluß Einstürzen des Bergwerkes führen können. Die Folge zu kommen. wäre eine radioaktive Verseuchung des Grundwas- sers. Gutachter des Bundesamtes für Strahlenschutz stützen diese Vorwürfe. Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Ja, ich möchte schließen: Unserer Meinung nach darf Morsleben Auch Herrn Töpfer dürften diese Fakten bekannt nicht genehmigt werden und ist schon heute eine sein. Die Greenpeace-Aktivistin Inge Lindemann hat schwere atomare Altlast für kommende Generatio- bereits mehrmals den Umweltminister persönlich dar- nen. über informiert und versucht, ihm ins Gewissen zu reden. Eigentlich müßte sie ihm mittlerweile im Ich danke Ihnen. Traume erscheinen. (Beifall bei der PDS/Linke Liste, dem BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne Ich finde es schon etwas hanebüchen, wenn Sie hier ten der SPD) vorwerfen, daß mit dieser Aktuellen Stunde heute das Pferd von hinten aufgezäumt werde. (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Das Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile ist kein Pferd, das ist höchstens ein Esel, den nunmehr das Wort dem Abgeordneten Dr. Klaus- Sie da aufzäumen!) Dieter Feige. Es ist doch gerade so, daß wir keine Politik machen können, indem wir nur vorne anfangen und es uns Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht interessiert, wie unsere Kinder und Enkel mit NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es den Abfällen, die wir heute produzieren, leben müs- ist schon eine ziemlich makabre Woche: Gestern sen. wurde der ungeheuerlichste Waldschadensbericht, Wenn man auf die Anfragen zurückgreift, die Frau den es in der Bundesrepublik bisher gab, vorgestellt. Dr. Enkelmann hier an die Bundesregierung gestellt Am gleichen Tag stimmt nicht nur der Verkehrs-, hat, und bedenkt, daß heute bereits 88 Anträge für die sondern auch der Umweltausschuß dem Bau der Endlagerung in Morsleben gestellt sind, dann ist doch Ostseeautobahn A 20 zu. der Druck auf den Schwanz des Pferdes so stark, (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Das — Da sieht man, welches Verständnis Sie von diesem arme Pferd tut mir ja nun leid! Herr Präsident, Wechselverhältnis zwischen Natur und Wirtschaft das ist Tierquälerei in der Aktuellen haben. Stunde!) (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Künftig soll daß Sie davon abgehen, hier tatsächlich eine sachli- ten Sie sie aber nie benutzen, Herr Feige!) che und ordentliche Entscheidung zu treffen. - Heute debattieren wir in einer Aktuellen Stunde Die anwachsenden Atommüllberge bringen nicht über die Zukunft des Atommüllagers in Morsleben, nur Herrn Töpfer ins Schwitzen. Ab 1995 ist die während am gleichen Tag in Phebus ein Atomun- Lagerung von über 17 000 m3 schwach- und mittelra- glück, der Super-GAU, erprobt wird. dioaktiver Abfälle ungewiß. Der drohende Entsor- Pünktlich zum Auftakt dieses zynischen Expe ri gungsnotstand wird immer offensichtlicher. Die -ments hat sich die Bundesregierung beeilt, meine Atomwirtschaft hat ein großes Interesse, die Abfälle, Kleine Anfrage zu beantworten. Freunden des die in Zwischenlagern keinen Platz haben, in Morsle- schwarzen Humors empfehle ich die Lektüre der ben verschwinden zu lassen. Drucksache 12/6318. (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Unglaub- Aus dieser Antwort möchte ich Ihnen nur zwei lich!) ziemlich wahllos herausgegriffene Kostproben vor- stellen, die Ihnen belegen, daß das BMFT glaubt, die Meine Damen und Herren, sieben Jahre könnte Abgeordneten sind bescheuert, oder — das bleibt Morsleben maximal noch bet rieben werden. Welches wirklich nur noch als Alternative — es gar selbst ist. Stillegungskonzept hat die Bundesregierung eigent- Auf die Frage nämlich, woher die Regierung die lich für die Grube? Wenn Morsleben schon nach Gewißheit nimmt, daß das Expe riment völlig harmlos DDR-Recht genehmigt wurde und die Bundesregie- sei, antwortet die Bundesregierung, sie stütze ihre rung die Genehmigung als rechtmäßig ansieht, wäre Einschätzung auf ihr — Zitat — es nur konsequent, die Stillegung solchermaßen vor- zunehmen. Hier muß man aber auch wirklich klar volles Vertrauen zur verantwortungsbewußten sagen, daß das DDR-Konzept das einfache Absaufen- Durchführung der französischen Genehmigungs- lassen der Grube vorsah. Ist dies der St andard, der in verfahren. Zukunft auch für andere Endlager gilt? Und auf die Frage, inwieweit bei diesem experi- Nach dem Regierungsrücktritt in Sachsen-Anhalt, mentellen Wahnwitz Bedienungsfehler auszuschlie- den nun leider nicht stattfindenden Neuwahlen, aber ßen seien, antwortet die Bundesregierung wörtlich: nach dem Antritt der neuen Regierung bietet sich hier Um Bedienungsfehler auszuschließen, ist der eine Chance für einen Neuanfang bei der Atompolitik geplante Ablauf des Versuchs schriftlich festge- dieses Landes. legt worden. 17026 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Dr. Klaus-Dieter Feige Na prima. Wenn ich mich recht erinnere, gab es auch den müssen. Doch es gibt weltweit bis heute kein in Tschernobyl damals schriftliche Festlegungen. sicheres Endlager. Es gibt noch nicht einmal ein Konzept für ein wirklich sicheres Endlager. Und wenn (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Aber wir in geologischen Dimensionen denken, werden wir die waren in Russisch! Das war das Pro das auf der Erde vielleicht überhaupt nicht haben. blem!) Aber auch deshalb, weil diese Konzeptionen noch Leider hat man übersehen, daß es Ereignisse gibt, die nicht vorliegen, ist Morsleben vorläufig stillzulegen. nicht vorhersehbar und damit auch nicht kalkulierbar Wir brauchen ein Ausstiegskonzept, in das dann sind. auch ein Entsorgungsprogramm integriert ist. Wir Es gehört schon eine ganze Menge Größenwahn sind auch bereit, an der Beseitigung der Sünden der dazu, zu glauben, daß technisches und natürlich auch Vergangenheit mitzuwirken. Aber unabdingbare menschliches Versagen in Osteuropa der Regelfall ist, Voraussetzung ist der Ausstieg aus der Atomkraft, aber in der EG praktisch auszuschließen sei. nicht erst am Sankt-Nimmerleins-Tag, sondern unver- Und was hat das nun alles mit Morsleben zu tun? züglich. Von dem Tag an, an dem wir wissen, wieviel Eine ganze Menge. Es steht nämlich zu befürchten, Atommüll überhaupt noch anfällt, von dem Tag, ab daß die Sicherheitsbedenken auch im nationalen dem wir wissen, wann der letzte Reaktor vom Netz Kontext in der gleichen Manier ausgeräumt wurden geht, werden wir mit unserer Kraft sehr viel bewegen wie in bezug auf Phebus. Wahrscheinlich gibt es auch können. Aber ich denke, daß wir gar nicht dort schriftliche Ablaufpläne. Und ansonsten geht es nach mithelfen müssen, sondern daß an dem Tag auf dem dem Motto: Wenn das Teufelszeug m an bloß erst von Platz, wo Herr Wieczorek sitzt, der erste grüne der Erdoberfläche verschwunden ist, dann gilt wieder Umweltminister sitzen wird. Ich hoffe, daß dann die „Aus den Augen, aus dem Sinn"! Opposition ihre Mithilfe bei unserem Projekt genauso an den Tag legen wird, wie sie sie heute einfordert. Morsleben war und ist für die Atomgemeinde — und Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. da gehört der Bundesumweltminister eindeutig dazu — (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste) (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Die Kranken- häuser gehören dazu!) natürlich ein Geschenk des DDR-Himmels. Doch die Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- Wiederaufarbeitung ist inzwischen gescheitert, die geordneter Dr. Feige, Sie haben die Regierung als Verfahren in Sachen Schacht Konrad und Gorleben „bescheuert" bezeichnet. Ich möchte das als unparla- dümpeln angesichts heftigen Widerstands vor sich mentarisch zurückweisen. Vielleicht können Sie es hin. auch im Protokoll korrigieren. Vielleicht haben Sie auch gehofft, daß da im Osten, Ich erteile nunmehr dem Parlamentarischen Staats- in Morsleben, der Widerstand nicht so organisiert ist, sekretär Dr. Bertram Wieczorek das Wort. aber bei uns gilt: Wir lassen uns nicht teilen, um- beherrscht zu werden! Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr Aber in Morsleben tun Sie so, als gäbe es nicht Präsident, meine Damen und Herren! Nach der satt- längst einen gesellschaftlichen Energiekonsens. Und sam bekannten Horrorstunde des Kollegen Feige der besagt: Die Atomkraft ist ein lebensgefährlicher möchten wir nun langsam wieder zu den Tatsachen Irrweg — nicht erst seit Harrisburg oder Tscherno- zurückkehren. byl. Wie Sie alle wissen, haben wir mit der deutschen Nur, in der Koalition und — leider muß ich das auch Einigung — manche haben schon vergessen, nach sagen — bei einigen radioaktiven Strahlemannköpfen welchem Artikel des Grundgesetzes wir in der Bun- der sozialdemokratischen Partei ist das noch nicht desrepublik Deutschl and aufgegangen sind — das angekommen. Die Quittung für Ihre Ignoranz werden Endlager für radioaktive Abfälle in Morsleben über- Sie im Laufe des nächsten Jahres bekommen. Und nommen, das bereits seit etwa zehn Jahren in Bet rieb ergänzend: Daran sollte bitte die SPD, die auch war und dessen Dauerbetriebsgenehmigung laut sehnsüchtig einen Wahlkampf in Sachsen-Anhalt Einigungsvertrag, im Atomgesetz niedergelegt im sucht, denken, wenn sie do rt ihr Wahlkampfkonzept § 57 a, bis zum 30. Juni des Jahres 2000 fortgilt. vorbereitet. Herr Kollege Starnick hat hier darauf hingewiesen, Ich frage mich manchmal, ob Sie, meine Damen und daß bereits vor der Wiedervereinigung der Bundes- Herren von der Koalition, angesichts der potentiellen umweltminister eine Menge von Untersuchungen Gefahren der Atomtechnologie überhaupt noch ruhig veranlaßt hat, Sicherheitsanalysen mit einem klaren schlafen können. Aber das können Sie offenbar. Sie Ergebnis: Gemessen an den atomgesetzlichen und hinterlassen aber der Menschheit ein strahlendes sonstigen sicherheitstechnischen Anforderungen be- Erbe. Hauptsache heute Profite, ansonsten nach uns stehen keine Gefährdungen, die eine Einstellung des die Sintflut! Betriebes erforderlich machen. Meine Damen und Herren, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir haben weitere Empfehlungen der Reaktorsi- NEN wissen, daß das strahlende Erbe der fehlgeleite- cherheitskommission, die diese Bewertung noch ein- ten Atompolitik, der Atommüll, der atomare Schrott mal bestätigen. Ich brauche das hier nicht zu wieder- der Reaktoren irgendwann einer halbwegs umwelt- holen. Das heißt, einem Weiterbetrieb bis zum Jahre und menschenverträglichen Lagerung zugeführt wer- 2000 steht nichts im Wege. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17027

Parl. Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek Ferner ist festzuhalten, daß der Bundesumweltmini- Bei der sicherheitstechnischen Beurteilung sind ster im Sinne der Verbesserung und Optimierung der auch Ergebnisse berücksichtigt worden, die z. B. von Technik und der Sicherheit wesentliche Maßnahmen, Prof. Herrmann angeführt wurden. Dies gilt insbeson- die in der Sicherheitsanalyse empfohlen worden sind, dere für die „Tropfstellen". Hier wurde von Anfang an umsetzen ließ und damit heute — gemessen an dem vorsorglich in der Sicherheitsanalyse und der Empfeh- Zustand vor dem 3. Oktober 1990 — ein deutliches lung der Reaktor- und Strahlenschutzkommission ein Mehr an Sicherheit geschaffen hat und ein Mehr an Zusammenhang mit Grundwässern aus dem Deckge- Kenntnissen über das Endlager gewonnen wurde. birge unterstellt. Dabei gilt für die Zukunft folgendes: Im Endlager Meine Damen und Herren, Bedenken gegen das werden nur schwach radioaktive Abfälle mit über- Endlager können daher an der Sicherheit nicht fest- wiegend kurzlebigen Radionukliden und vergleichs- gemacht werden. weise geringen Aktivitätskonzentrationen, insbeson- Auch wenn nach wissenschaftlichen Gutachten und dere von Alpha-Strahlern, eingelagert. Expertisen kein Besorgnispotential für Schäden des Herr Kollege Feige und andere, wenn Sie immer Betriebspersonals, der Bevölkerung oder der Umwelt von nächsten und übernächsten Generationen reden, besteht, hat der Bund unter dem Gesichtspunkt der merke ich immer wieder, daß Sie etwas über Ke rn Vorsorge ein Konzept technischer Maßnahmen erar- -energie in Ihrer Ausbildung nicht erfahren haben. Da beitet, um wider Erwarten eventuell erhöhte Laugen- werden Sie gar keine Radioaktivität mehr feststellen. zutritte beherrschen zu können. Dieses geotechnische Sie wissen doch ganz genau, woher ich komme. Ich Konzept, das unabhängige Gutachter als wirksam und habe ein bißchen mehr Wissen und ein bißchen mehr realisierbar bewerten, stellt damit eine Vorsorge Erfahrung mit diesem sehr schwierigen und sensiblen gegen Ereignisse dar, die nach den Erfahrungen im Gebiet als Sie. Ich habe seit 20 Jahren Umgang mit der Endlager und dem bisherigen Kenntnisstand nicht Wismut, einem sehr traurigen Kapitel, das mit diesem auftreten werden. nichts zu tun hat. Sie können mir schon unterstellen, Meine Damen und Herren, für den Zeitraum nach daß ich davon etwas verstehe, zumindest etwas mehr dem 30. Juni des Jahres 2000 ist ein Antrag auf als Sie. Erteilung eines Planfeststellungsbeschlusses beim Umweltministerium des Landes Sachsen-Anhalt ge- (Beifall bei der CDU/CSU) stellt worden, der auch die mögliche Stillegung Meine Damen und Herren, es werden nur noch feste umfaßt. Gegen die Planfeststellungsfähigkeit beste- Abfälle verstürzt, die nicht brennbar sind. Flüssige hen keine begründeten Bedenken. Abfälle dürfen nicht mehr im Endlager angeliefert Der Bundesumweltminister hat am 9. November werden. 1993 mit Greenpeace und seinen Sachbeiständen die von dort erhobenen Bedenken allumfassend erörtert. Alle im Endlager Morsleben einzulagernden radio- aktiven Abfälle müssen unabhängig von ihrer Her- Greenpeace konnte keine Argumente anbringen, die die Sachposition des Bundes in Frage stellen. Es kunft aus den neuen oder alten Bundesländern den Anforderungen an endzulagernde Abfälle genügen. wurde Greenpeace nochmals und wiederholt angebo- ten, noch einmal schriftlich bis zum 19. November Die Erfüllung der Endlagerungsbedingungen setzt 1993 seine Argumenta ti voraus, daß nur konditionierte Abfälle angeliefert on vorzutragen. Auch hierbei konnte Greenpeace keine rechtlichen und tatsächli- werden dürfen. chen Gründe, Argumente oder Bedenken vorlegen, Die Einhaltung der Endlagerungsbedingungen die unsere positive Sicherheitsbeurteilung in Frage wird durch umfangreiche Produktkontrollmaßnah- stellen konnten. men an den radioaktiven Abfällen übeprüft. Die vom seinerzeitigen staatlichen Amt für Atomsi- Was die Langzeitsicherung, meine Damen und cherheit und Strahlenschutz der DDR am 22. April Herren, betrifft, so haben unabhängig von den bereits 1986 erteilte unbefristete Dauerbetriebsgenehmi- zu DDR-Zeiten angestellten Überlegungen verschie- gung gilt nach der deutschen Vereinigung als Plan dene Institutionen in ihren Arbeiten unter Zugrunde- -feststellungsbeschluß nur — wie schon mehrmals legung konservativer, pessimistischer Annahmen betont — bis zum 30. Juni 2000 fort. Der Planfeststel- nachgewiesen, daß das 0,3-mSv-Konzept als Schutz- lungsbeschluß umfaßt radioaktive Abfälle sowohl aus ziel deutlich eingehalten wird, selbst wenn man die dem alten wie dem neuen Bundesgebiet. Die endla- Berechnungen über Hunderttausende von Jahren gerbaren Abfälle sind also nicht mehr nur auf solche ausdehnt. Gleichwohl wurden die im Rahmen der aus dem Staatsgebiet der ehemaligen DDR be- Genehmigung zulässigen geringen Anteile an langle- schränkt. Die juristischen Dinge wurden hier dazu bigen, Alphastrahlen aussendenden Radionukliden schon erörtert. Allerdings — und das wurde ja auch vorsorglich noch weiter reduziert. betont — ist zu der Frage der rechtlichen Zulässigkeit einer Einlagerung von Abfällen aus den alten Bundes- Neben der Langzeitsicherheit sind auch die betrieb- ländern beim Oberverwaltungsgericht Magdeburg lichen radiologischen Auswirkungen auf die Umge- ein Eilantrag gestellt worden. Wir werden die Ent- bung auf Grund der Abwässer und Abwetter erneut scheidung abwarten und uns dieser Entscheidung untersucht worden. dann auch entsprechend beugen. Meine Damen und Herren, auch in Zukunft ist Meine Damen und Herren, zusammenfassend stelle gewährleistet, daß alle Grenzwerte eingehalten wer- ich fest, daß kein begründeter Anlaß zur Besorgnis bei den. Dies wird im übrigen durch ein Umgebungsüber- einem Weiterbetrieb des Endlagers Morsleben wachungsprogramm kontrolliert. besteht. Fest steht allerdings auch, daß das Endlager 17028 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Parl. Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek Morsleben ein Bundesendlager ist und damit für alle deutschen Sicherheitsanforderungen für den Bau und Bundesländer — nicht nur für die neuen — als Betrieb von Endlagern aus dem Jahre 1983. Endlager zur Verfügung stehen muß. Meine Damen und Herren, die Einheit Deutschlands ist auch inso- (Beifall bei der SPD — Gerhart Rudolf Baum weit unteilbar. Dies wird im übrigen auch für das [F.D.P.]: Das stimmt doch nicht!) Endlager Konrad in Salzgitter gelten, wenn dort — Herr Baum, das müssen auch Sie zur Kenntnis solche radioaktiven Abfälle aus den neuen Bundes- nehmen. Sonst müßte nicht nach Ablauf der durch den ländern beseitigt werden sollen, die für eine Endlage- Einigungsvertrag bis zum 30. Juni des Jahres 2000 rung in Morsleben nicht geeignet sind. geretteten Betriebsgenehmigung aus DDR-Zeiten ein Es kann kein Zweifel bestehen, daß die sichere und Planfeststellungsverfahren durchgeführt werden. endgültige Beseitigung radioaktiver Abfälle im Herr Staatssekretär Wieczorek sagte uns das eben, öffentlichen Interesse liegt. Mit dem betriebsfähigen und auch in der Antwort der Bundesregierung vom Endlager Morsleben kann diesem öffentlichen Inter- 16. November ist diese Aussage enthalten. esse Genüge getan werden. Es gilt nun, dieses Ziel Auf zweifelhafter rechtlicher Grundlage wird in rasch anzustreben und mit der Einlagerung erneut zu Morsleben ein völlig unbefriedigendes Sicherheits- beginnen. konzept der DDR übernommen. Wenn, wie Herr Meine Damen und Herren, zum Abschluß noch eine Staatssekretär Wieczorek hier eben gesagt hat, die Bemerkung. Wenn sich die vielen Theoretiker, die Bundesregierung erklärt, daß es sich nach dem Voll- heute gesprochen haben, aufraffen würden, nach zug der deutschen Einigung in Morsleben uneinge- Morsleben oder Konrad zu fahren, würde ihr Kennt- schränkt um ein Bundesendlager handelt, dann ist zu nisstand in schwindelnde Höhen kommen, und man befürchten, daß die Bundesregierung anstrebt, diesen hätte eine ganz andere Einstellung zu diesem Pro- unbefriedigenden Sicherheitsstandard auf ihr gesam- blem, als man sie hier im Plenum hat. Frau Kollegin tes Endlagerkonzept ausdehnen zu wollen. Klemmer, wir beide waren auch in Königstein; Sie Welches aber sind die gravierenden Sicherheitspro- konnten damals leider nicht mit unter Tage fahren aus bleme in Morsleben? Erstens wäre zu nennen, es Gründen, die verständlich sind. Man würde dann hier besteht Unklarheit über das tatsächlich in Morsleben nicht so reden, wenn man die Realität einmal kontrol- bisher eingelagerte radioaktive Inventar aus DDR- liert hat. Zeiten. Zweitens, die geringe Salzschwebe zwischen Vielen Dank, meine Damen und Herren. den alten Abbauen und dem Deckgestein genügt nicht einmal den Anforderungen an ein Gewinnungs- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) bergwerk, geschweige denn an ein radioaktives End- lager. Drittens. Der Salzstock in Morsleben weist Laugenzuflüsse auf, deren Ausmaß gegebenenfalls Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile nicht mehr kontrolliert werden kann. Die Absicht der nunmehr dem Abgeordneten Reinhard Weis (Stendal) DDR-Regierung, die Flutung des Endlagers als Stille- das Wort. gungskonzept vorzusehen, bedeutet nichts anderes - als das Eingeständnis, mittelfristig ein Absaufen des Endlagers nicht verhindern zu können. Reinhard Weis (Stendal) (SPD): Sehr geehrter Herr Diese von mir genannten drei Punkte führen vor Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach allem zu einer grundsätzlichen Einschränkung der Auffassung des Bundesumweltministeriums bestehen Langzeitsicherheit des Endlagers. Bis heute gibt es keinerlei Gründe für den Verzicht auf eine erneute weder eine abschließende Aussage zur Langzeitsi- Einlagerung ins radioaktive Endlager in Morsleben. cherheit noch ein Stillegungskonzept für das Endla- Herr Staatssekretär Wieczorek hat uns das eben ger, das den Sicherheitskriterien der Reaktorsicher- erzählt. heitskommission entspräche. Herr Wieczorek, Sie sind sehr polemisch meiner Meine Fraktion wird deshalb im Bundestag einen Frage nach den Halbwertzeiten ausgewichen. Ich Antrag einbringen, der die Bundesregierung dazu möchte Ihnen sagen, daß sechs Jahre Berufserfahrung auffordert, erstens jegliche Einlagerung im Endlager im Kernkraftwerk Deutschland mit entsprechenden für radioaktive Abfälle Morsleben vorerst auszuset- strahlenschutztechnischen Unterweisungen mir auch zen, zweitens eine Entscheidung über den weiteren ein Gefühl dafür gegeben haben, welche Wirkung Betrieb des Endlagers vom Ergebnis eines nach bun- mittel- und schwachradioaktive Stoffe haben. Darauf desdeutschem Atomrecht durchzuführenden Geneh- hätten Sie sachlicher antworten und darauf eingehen migungsverfahren abhängig zu machen, drittens in können. diesem Rahmen einen Nachweis der tatsächlichen Wir müssen jederzeit damit rechnen, daß die Einla- Langzeitsicherheit zu erbringen und viertens im Zuge gerungen beginnen. Darum hat meine Fraktion diese eines Stillegungskonzeptes auch eine Untersuchung Aktuelle Stunde beantragt. Der heutigen Situation einzuleiten, durch die geprüft werden soll, ob und wie vorausgegangen waren zwei Kleine Anfragen meiner das im Endlager liegende radioaktive Inventar wieder Fraktion im Frühjahr und Herbst dieses Jahres. Die geborgen werden könnte, wenn sich erweist, daß das sicherheitstechnischen und rechtlichen Einwände Endlager nicht planfeststellbar sein wird. gegen die Betriebsgenehmigung für das Endlager Nach unserer Meinung ist nur durch die sofortige Morsleben konnten für uns von der Bundesregierung Einleitung eines Planfeststellungsverfahrens die Aus- nicht ausgeräumt werden. Das atomare Endlager in sicht gegeben, den S treit um die Eignung des End- Morsleben entspricht unstreitig nicht den bundes lagers Morsleben sowohl in der Fachwelt als auch in Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17029

Reinhard Weis (Stendal) der Öffentlichkeit, z. B. im Raum Helmstedt, in Nie- Mir scheint: Das Hauptproblem der Entsorgung des dersachsen, zu schlichten und Zustimmung für ein atomaren Mülls in Deutschland liegt in der Verweige- Endlagerungskonzept zu erreichen. rung und Blockadehaltung der Opposition. Die Bundesregierung sollte deshalb jetzt diesen (Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.: Forderungen nachkommen. Zeit für ein ordentliches Sehr richtig!) Genehmigungsverfahren nach bundesdeutschem Kollegin Klemmer, wenn Sie schreiben, daß die Atomrecht muß immer sein. Wir haben diese Zeit; Zweifel internationaler Experten an der Endlagerung denn durch die Vereinigung hat sich der Endlage- in Salzstöcken immer größer werden, dann sei darauf rungsnotstand nicht verschärft, und ohne Vereinigung verwiesen, daß z. B. in Frankreich und England hätte die Bundesrepublik auch ohne Morsleben aus- schwach- und mittelradioaktive Stoffe lediglich über kommen müssen. Tage deponiert werden Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Siegrun Klemmer [SPD]: Das macht es doch (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und nicht besser!) dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und diese Tatsache dort keineswegs eine solch über- zogene Protestreaktion wie in Deutschl and hervor- ruft. Die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Roh- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Harald Kahl. stoffe sowie das Bundesamt für Strahlenschutz stellten im April dieses Jahres fest, daß neue geowissenschaft- liche Erkenntnisse keine Anhaltspunkte ergeben, die einer Wiederaufnahme des Einlagerungsbetriebes entgegenstehen. Die bestehende Genehmigung des Dr. Harald Kahl (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es vergeht fast keine Woche, Endlagers, die noch zu DDR-Zeiten vom SAAS erteilt ohne daß in unserem Land Themen wie „Sicherheit wurde und laut Einigungsvertrag bis 30. Juni 2000 gilt, von Kernkraftwerken", „Beseitigung des Atommülls" ist eine Überleitungsregelung, die nach geltendem oder gar „Ausstieg aus der Kernenergie" medienwirk- Atomrecht in ein Planfeststellungsverfahren mündet. sam ausgebreitet werden. Dieses bereits begonnene Verfahren wird entschei- den, ob das Endlager Morsleben nach dem 30. Juni (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 2000 weiter als solches genutzt werden kann oder War es vor kurzem ein von der Gesellschaft für stillgelegt wird. An diesem Verfahren wird die Öffent- Strahlenschutz in Dresden veranstaltetes Symposium lichkeit in vollem Umfange beteiligt. zu Fragen der Strahlengefährdung in der Region (Zuruf von der SPD: Warum nicht jetzt Sachsen/Thüringen mit der Schlagzeile „Krebsalarm gleich?) in der Wismut-Region", so ist es heute das Endlager Im übrigen erklärte sich die Bundesregierung in der für radioaktive Abfälle in Morsleben. Vergangenheit stets und ständig dazu bereit, mit den In Dresden wurde seitens der Gesellschaft für Strah- Gegnern der Einlagerung in Morsleben zu sprechen. lenschutz in einer Vorab-Pressekonferenz ein Kata- So hat beispielsweise erst am 9. November der Bun- strophenszenario entworfen, nach dem sowohl das desumweltminister erneut mit Greenpeace deren Fra- Krebsrisiko für die Bewohner der Wismut-Region als gen und Bedenken zu Morsleben eingehend erörtert. auch die Sanierungskosten um jeweils das Zehnfache Jedoch mußten wir wie bei den vorangegangenen höher veranschlagt werden müßten, wohlgemerkt Erörterungen dieses Themas feststellen, daß von ohne wissenschaftlich fundierte Begründung. Greenpeace keine neuen Fakten auf den Tisch gelegt Die Gegenargumentation während des Sympo- wurden, die gegen einen Betrieb des Endlagers Mors- siums, gegeben vom Bundesamt für Strahlenschutz, leben sprechen. Die jüngsten Aktionen von Green- von der Wismut und vom sächsischen Umweltministe- peace lassen eher den Eindruck aufkommen, daß es rium vorgetragen, fielen — wen wundert es — unter Greenpeace nicht primär um Morsleben, sondern um den Tisch. ein Medienspektakel geht. Greenpeace geht es nicht um Sicherheit und sichere Verwahrung von schwach- Eine Parallele dazu sehe ich in der Thematik der und mittelradioaktiven Stoffen, sondern generell um heute von der SPD beantragten Aktuellen Stunde. den Verzicht auf Kernenergie, und dazu dient Mors- Wenn Sie, Frau Kollegin Klemmer von der SPD- leben als Vorwand. Fraktion, in Ihrer Pressemitteilung vom 8. November 1993 behaupten, das Problem der Entsorgung des (Zuruf von der SPD: Pfui Teufel!) atomaren Mülls bleibe weiter auf der Strecke und Deutschland hat weltweit das höchste Sicherheits- werde fahrlässig ignoriert, niveau bei Kernkraftwerken. Kurzfristig auf Kern- (Siegrun Klemmer [SPD]: So ist es leider!) energie zu verzichten ist töricht und hieße, die Spit- zenstellung, die Deutschland bei der Reaktorsicher- so muß ich Ihnen sagen: Damit ignorieren Sie bei- heit besitzt, aufzugeben und das Forschungspotential spielsweise die beachtlichen Erfolge bei der Sanie- auf diesem Gebiet lahmzulegen. Auch das wäre ein rung der Wismut-Region, für die die Bundesregierung weiterer Schritt zur Demontage des Wirtschaftsstand- jährlich ungefähr 800 Millionen DM ausgibt. ortes Deutschland. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Meine Damen und Herren! Wir produzieren Atom- Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]) müll; wir haben ein sicheres Endlager und eine gültige 17030 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Dr. Harald Kahl Betriebsgenehmigung bis zum Jahr 2000. Morsleben überhaupt kein Faktum, das uns veranlassen könnte, — das ist die einhellige Auffassung der Reaktorsicher- von der Entscheidung der Bundesregierung abzuwei- heitskommission, des Bundesamtes für Strahlen- chen. schutz und der Bundesanstalt für Geowissenschaften Es ist dargelegt worden, daß die Schutzziele des und Rohstoffe — ist sicher. Deshalb gibt es aus meiner Atom- und Strahlschutzrechtes — unseres Rechtes, Sicht überhaupt keinen Grund, dagegen zu opponie- nicht des DDR-Rechtes — eingehalten werden. Das ist ren. in ernstzunehmenden Stellungnahmen der Reaktorsi- Es wäre wünschenswert, wenn die Opposition und cherheitskommission, auf die wir uns immer gestützt Greenpeace zu einem konstruktiven Meinungsaus- haben, bei einem Sicherheitskonzept für Kernenergie tausch zurückkehren und nicht durch spektakuläre, in unserem Lande nachgewiesen, das — das sage medienwirksame und populistische Aktionen Verun- ich — weltweit wirklich mit an der Spitze liegt. sicherungen in die Bevölkerung tragen würden. Wir haben die Sicherheitskriterien eingehalten, die (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) Ende der 70er Jahre in der Bundesrepublik erarbeitet Damit ist letztlich keinem gedient. worden sind. Wir haben keinen Sicherheitsrabatt für Morsleben gegeben, wie das mitunter behauptet wird. (Beifall bei der CDU/CSU) Die RSK hat ihre Sicherheitsgrundsätze beachtet. Wir haben zusätzliche Gutachten in Auftrag gegeben. Wir Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort haben in einer GRS-Sicherheitsanalyse festgestellt, hat nunmehr der Abgeordnete Gerhart Rudolf daß trotz pessimistischster Annahmen die Schutzziele Baum. selbst für den nicht zu erwartenden Fall des Absaufens des Endlagers weit unterschritten werden, daß wir also einen Schutz haben, der auch noch diese Risiken Gerhart Rudolf Baum (F.D.P.): Herr Präsident! mit einbezieht. Eine Gefahr des Auftretens von Tages- Meine Damen und Herren! Es handelt sich um ein brüchen unter Berücksichtigung der aktuellen Situa- Thema, mit dem wieder Ängste geschürt werden tion wird nicht als gegeben angesehen. Rechtlich, wie sollen. ich schon gesagt habe, gibt es nach dem Urteil des (Zuruf von der CDU/CSU: Genau so ist es!) Bundesverwaltungsgerichts von 1992 keine Hinde- Es gibt andere Gebiete in der Politik, wo dies auch rungsgründe. geschieht. Ich finde das nicht gut. Eine Partei, die Ich möchte also zusammenfassend feststellen, daß Regierungsverantwortung übernehmen will, muß sich von niemandem Fakten vorgelegt wurden, die diese der Verantwortung für die Entsorgung stellen. Das tun Auffassung erschüttern könnten und die gegen den Sie in Niedersachsen nicht. Wäre der Energiekonsens Betrieb des Endlagers Morsleben sprächen. Ich for- zustandegekommen, Herr Kollege Müller, hätte sich dere die Opposition, insbesondere die SPD, erneut Herr Schröder durchgesetzt, dann hätten wir nämlich auf, sich aktiv an Bemühungen um einen Energiekon- auch Konrad auf dem Wege und müßten nicht allein sens, d. h. auch um einen Entsorgungskonsens, in über Morsleben sprechen. unserem Lande zu bemühen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) - (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Was muten Sie eigentlich den neuen Bundesländern Zuruf von der CDU/CSU: Das ist hoffnungs zu, wenn Sie bei Konrad Obstruktion be treiben? Herr los bei denen, Herr Baum!) Schröder war ganz klar bereit, Konrad laufen zu Ich meine, daß der Bundesumweltminister, von dem lassen, weil er sieht, daß wir eine Pflicht zur Entsor- ich weiß, daß er in Fragen der Reaktorsicherheit sehr gung haben. ernst an die Sache herangeht, seine Pflicht tut, und wir Es handelt sich um schwach- und mittelaktive unterstützen ihn weiter dabei. Abfälle. Wir haben in den 70er Jahren ein Entsor- Danke. gungskonzept entwickelt, das eben nicht die Augen verschließt und nicht die oberflächliche Lagerung, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sondern eine wirklich vorsorgende Lagerung in tiefen Gesteinsformationen für schwach- und mittelaktive Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Abfälle vorsieht. Das war eine gemeinsame Politik der hat nunmehr die Abgeordnete Frau Siegrun Klem- damaligen Koalition, von der Sie sich verabschiedet mer. haben. Übrigens erinnere ich mich ja auch daran, daß Sie dem Einigungsvertrag zugestimmt haben. Da haben Sie diesem Konzept ja auch zugestimmt. Siegrun Klemmer (SPD): Herr Präsident! Liebe Kol- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — leginnen und Kollegen! Das 1986 von der ehemaligen Zuruf von der CDU/CSU: So ist es! Das haben DDR für den Dauerbetrieb genehmigte Endlager die alle vergessen!) Morsleben steht sozusagen stellvertretend für das Es gibt die berechtigte Frage — und dieser hat sich Desaster der deutschen Entsorgung radioaktiver die Bundesregierung unabhängig von den rechtlichen Abfälle. Die Atomindustrie, unterstützt durch die Gegebenheiten gestellt —: Kann man Abfälle dieser Bundesregierung, hat sich in eine Sackgasse bege- Art in Morsleben denn verantwortbar einlagern? Ich ben. Sie müßten eigentlich, liebe Kollegen, heute bin kein Fachmann; ich habe nicht die Fähigkeit, erkennen, daß die Endlagerung nuklearer Abfälle zur Gesteinsformationen zu beurteilen, aber ich habe mir Gretchenfrage der weiteren Nutzung der Kernenergie angesehen, was die Fachleute gesagt haben — und geworden ist. das sind ernstzunehmende Fachleute. Danach gibt es (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Konrad!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17031

Siegrun Klemmer Denn das Endlagerproblem ist nach dem heutigen Das Problem spitzt sich durch den von Ihnen Stand von Wissenschaft und Technik nicht nur in geplanten Weiterbetrieb der Atomkraftwerke jähr- Deutschland, sondern weltweit als ungelöst zu lich zu. In den nächsten beiden Jahrzehnten — ich betrachten. möchte Ihnen das mit einigen Zahlen veranschauli- (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Was machen chen — werden unter den Annahmen, daß die Ener- Sie mit dem Abfall?) gieerzeugung konstant bleibt, daß kein weiterer Reaktorbau stattfindet und die Wiederaufbereitung Auch Sie, meine Damen und Herren von der Koali- abgebrannter Brennelemente fortgeführt wird, fol- tion, können sich doch dieser allgemeinen wissen- gende Abfallmengen zu erwarten sein: Die derzeit schaftlichen Erkenntnis eigentlich nicht länger ver- 6 000 t abgebrannter Brennelemente erhöhen sich auf schließen. Das Endlager Morsleben weist neben den 16 000 t. Dazu kommen: 1 300 Glaskokillen zu je 1501 von meinen Kollegen schon angesprochenen rechtli- Nettovolumen, das entspricht der 1,5fachen Kapazität chen Bedenken erhebliche Sicherheitsmängel auf, die des Lagers Gorleben; 6 400 Fässer mit Hülsen und insbesondere den Standort und Fragen der Langzeit- Strukturteilen aus den Wiederaufbereitungsanlagen, sicherheit betreffen. Der Nachweis der Langzeitsi- das entspricht der 4,4fachen Kapazität des Lagers cherheit für das Endlager Morsleben ist bisher nicht Gorleben; 128 000 Gebinde mittelradioaktiver Abfall- erbracht worden, obwohl der Nachweis der Langzeit- stoffe, das entspricht der 18,9fachen Kapazität des sicherheit nicht a priori zeitlich begrenzt werden Lagers Gorleben; mindestens 75 000 m 3 Betriebsab- sollte. fälle aus Kernkraftwerken, das entspricht immer noch Hinzu kommt, daß die bisherigen Rechenmodelle der 6,3fachen Kapazität des Lagers Gorleben. Das zur Langzeitsicherheit der Realität nicht gerecht wer- dürfen Sie dann addieren. den. Es fehlen dynamische Modelle, die auch die (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Wenn Sie langfristige Instabilität von K lima und Geologie stillegen wollen, brauchen Sie Morsleben berücksichtigen. Die von seiten der Bundesregierung erst recht! — Klaus Har ries [CDU/CSU]: Sie favorisierte Endlagerung in Salzformationen birgt sind doch auch gegen den Sofortausstieg!) eine Menge von Problemen in sich, die in den vorlie- genden Planungen nicht ausreichend berücksichtigt Diese Zahlen sind nicht erst sei heute bekannt, sie worden sind. verdeutlichen aber den deutschen Entsorgungsnot- stand. (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Sie sprechen über Gorleben!) In dieser desolaten Situa tion kommt Herrn Töpfer natürlich jedes Lager gelegen, sei es auch rechtlich — Ich spreche über Morsleben, Herr Kollege Baum. und wissenschaftlich noch so zweifelhaft. Im Rahmen Dazu gehören u. a. eine hohe Korrosivität, Eindrin- der deutschen Wiedervereinigung— das ist hier schon gen der Lösungen, das Auspressen konterminierter gesagt worden — ist ihm sozusagen eine Morgengabe Lösungen sowie eine geringe mittelfristige Stabilität in das Ehebett gelegt worden, die ihm wie gerufen technisch geschaffener Hohlräume. Im konkreten Fa ll gekommen ist: rt gravierende - Morsleben existieren heute schon dera (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Weil Sie Kon Fakten, daß die weitere Einlagerung radioaktiver rad blockieren!) Abfälle sofort gestoppt werden muß. ein komplettes Atommüllendlager. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Welche denn? Jetzt aber mal Butter an die Fische!) Angesichts der für die Umwelt gravierenden Hinter- lassenschaften der ehemaligen DDR — wenigstens — Ich komme sofort dazu, Herr Kollege Kampeter. diese Einsicht sollten Sie doch akzeptieren — wie den Seien Sie ein bißchen geduldig, ich habe ja noch drei völlig devastierten Ur an- und Kohlebergbauland- Minuten. schaften, den Standorten der Chemiebetriebe und (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Was, soviel ähnlichem ist es nur schwer vorstellbar, daß die DDR noch? — Dr. Gerhard Friedrich [CDU/CSU]: ausgerechnet in der Frage der Entsorgung radioakti- Fakten wollen wir hören!) ven Mülls gewissenhaft gearbeitet hat. Die Salzschwebe des Lagers variiert zwischen 30 (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das haben und 300 m, müßte aber durchgängig mehr als 100 Me- wir doch überprüft!) ter betr agen, um die Sicherheit des Lagers zu gewähr- Wider besseren Wissens versuchen Herr Töpfer und leisten. die Atomlobby nun, der Öffentlichkeit klarzumachen, (Zuruf von der F.D.P.: Wieso denn das?) daß Morsleben den bundesdeutschen Sicherheitsan- Zusätzlich gefährden Zuflüsse aus dem Deckgebirge forderungen genügt. Gutachten, in denen schwerwie- die Standortsicherheit des Lagers. gende Mängel festgestellt wurden, werden bis heute nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Daher besteht Angesichts dieser schweren Sicherheitsmängel für uns der begründete Verdacht, daß mit der Mißach- muß die Frage gestellt werden, warum sich Herr tung bundesdeutscher St andards in Morsleben auch Minister Töpfer über diese Mängel und die ungeklärte die Anforderungen für die geplanten Standorte Gor- rechtliche Situation so rigoros hinwegsetzt und Mors- leben und Schacht Konrad gesenkt werden sollen. leben weiterbetreiben will. Zur Beantwortung dieser Frage — das wissen Sie ganz genau, Sie wollen sie nur (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke nicht beantworten — muß man sich den Entsorgungs- Liste) druck vor Augen halten, unter dem die deutschen Der Standort Morsleben ist nicht nur ungeeignet für Kraftwerksbetreiber stehen. die Lagerung radioaktiver Abfälle, sondern müßte im 17032 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Siegrun Klemmer Grunde genommen dringend saniert werden. Seit seine Bedenken gegen die Kernenergie wirklich ernst 1986 sind mehr als 13 000 m3 fester und flüssiger nimmt. Abfälle deponiert worden, und zwar nicht nur in Fässern. Gucken Sie sich das einmal an! Drei Fraktionen dieses Hauses haben besonders in den 70er Jahren die Kernenergie aus vielerlei wohler- wogenen Gründen nach vorne gebracht. Eine Frak- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Ab- tion hat sich dabei besonders hervorgetan, die heute geordnete Klemmer, ich muß auf Einhaltung der glaubt, sich durch Ausstiegsbeschlüsse ihrer Partei Redezeit bestehen. aus der Affäre ziehen zu können. Wir werden Sie, sehr verehrte und liebe Kolleginnen der SPD, aus Ihrer Siegrun Klemmer (SPD): Der Herr Staatssekretär Verantwortung nicht entlassen. hat mich überflüssigerweise eingeladen. Ich kenne es. (Zuruf von der SPD: Wir wollen daraus auch nicht entlassen werden!) Ich denke, Sie müssen endlich akzeptieren, daß die Frage der Endlagerung nur zusammen mit der Frage Und da Sie inzwischen wohl auch einsehen, daß der des endgültigen Ausstiegs aus dieser Energie betrach- schnelle Ausstieg aus der Kernenergie Deutschl and tet werden kann. schadet, müssen Sie sich jetzt mit allen vernünftigen (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Kräften auf den Weg machen, auch diejenigen Pro- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Gerhart bleme der Kernenergie zu lösen, die bisher nicht Rudolf Baum [F.D.P.]: Dann brauchen Sie das gelöst werden konnten. doch, um das alles dahinzubringen!) Wir sind ja auch bereit, die direkte Endlagerung als weitere Entsorgungsform für abgebrannte Brenn- Der Abge- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: stäbe im Atomgesetz festzuschreiben. Dabei gehe ich ordnete Heinz Seesing hat nun das Wo rt . davon aus, daß abgebrannte Brennstäbe nicht mehr (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Stell das mal wiederaufbereitet, sondern für die direkte Endlage- wieder richtig!) rung vorbereitet werden. Und dafür brauchen wir das Lager sicher nicht heute und morgen, aber in einigen Jahrzehnten. Wir können also ge trost auch den Heinrich Seesing (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Gewisse Wunsch des von der SPD wohl nicht besonders gelieb- Vorgänge in Morsleben am 8. November haben mir ten niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder schon zu schaffen gemacht. Es war, so glaube ich, der erfüllen, 8.andem November, Frau Klemmer ihre Pressemit- (Zurufe von der SPD) teilung, die vorhin zitiert wurde, herausgab. Da überwinden also Leute die Sicherheitsanlagen neben Gorleben auch noch andere Standorte auf die des Atommüllendlagers Morsleben, dringen in den Eignung als Endlager für abgebrannte Brennstäbe zu Kontrollraum ein und beeinträchtigen den sicheren erkunden. Bis dahin müssen wir eben andere Plätze Betrieb des Lagers. Man kann sicher Sympathien für haben, um die Brennstäbe zu lagern. Greenpeace haben. Ich muß gestehen, daß das auch bei mir zeitweise der Fall war. Gelegentlich hatte ich Probleme bietet uns jetzt aber die Endlagerung von sogar recht viel Sympathie für die eine oder andere mittel- und schwachradioaktiven Abfällen. Zwi- Aktion. Aber das in Morsleben am 8. November dieses schenlager für die allermeisten dieser radioaktiven Jahres hat mir .ernsthaft Sorge gemacht — nicht weil Abfälle hätten wir nicht nötig gehabt, wenn es in sich die Frauen und Männer angekettet haben und ein Deutschland rechtzeitig ein betriebsbereites Endlager Transparent aufspannten, nein, weil hier von Leuten, für diese Abfälle gegeben hätte. Statt dessen sind wir die für viele junge Menschen Vorbildfunktion einneh- durch die Verzögerung bei der Bereitstellung eines men, Endlagers bereits jetzt in der Situa tion, daß weitere Zwischenlagerkapazitäten geschaffen werden müs- (Siegrun Klemmer [SPD]: Ja!) sen. offener Rechtsbruch begangen wurde. Was soll man eigentlich von den Sicherheitsvor- Können wir uns eigentlich solche Zustände — auch schriften halten, wenn man sich so bedenkenlos volkswirtschaftlich gesehen — noch leisten? Für eine darüber hinwegsetzt, nur um öffentliche Aufmerk- gewisse Zeit kann Morsleben noch Abfälle aufneh- samkeit zu erregen? Solche Vorschriften sind ja men. Aber es geht kein Weg daran vorbei: Konrad schließlich erlassen worden, um das Leben und die muß jetzt in Betrieb gehen. Wenn Sie, meine Damen Umwelt zu schützen. Es ist an der Zeit, daß wir wieder und Herren, einmal in aller Ruhe über diese Proble- lernen, uns an Recht und Gesetz zu halten und alles zu matik nachdenken, werden auch Sie darauf kommen, tun, daß diese eigentliche Selbstverständlichkeit auch daß diese Verweigerungshaltung keine Wähler- wieder in die Köpfe aller Menschen hineinkommt. stimme mehr bringt. Im Gegenteil: Die Inbetrieb- nahme von Konrad würde zeigen, daß man eine (Beifall bei der CDU/CSU) staatstragende und den Menschen Sicherheit ge- In die Köpfe der Menschen muß aber auch hinein- bende Haltung hat und sie nicht nur beredet. kommen, daß nun endlich das Problem der Endlage- rung von radioaktiven Stoffen gelöst werden muß. Ich danke Ihnen. Selbst der entschiedenste Gegner der Kernenergie muß sich intensiv darum bemühen, wenn er denn (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17033

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Die Position bei Schröder war schon eine ausstiegs- nunmehr dem Abgeordneten Michael Müller (Düssel- orientierte. Ich habe nicht gesehen, daß von irgend- dorf) das Wort. einem auf der Seite von CDU/CSU und F.D.P. eine ausstiegsorientierte Posi tion vertreten wurde. Der (Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt sind wir aber Streit mit Schröder war ein anderer. Ich habe den Weg neugierig!) als Trickitracki angesehen; es h andelt sich hier also um einen, der zuviel von hintenherum gekommen ist, anstatt klar zu sagen: Ich will nicht. Das werfe ich ihm Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Herr Präsident! vor. Das ist nicht meine Posi tion. Aber daraus zu tun, Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich drei als ob von dieser Seite des Hauses die Posi tion von Vorbemerkungen machen. Die erste Vorbemerkung Schröder unterstützt worden wäre, ist auch ein Mär- ist: Sie können natürlich so interpretieren, daß Sie chen. Wir sollten also nicht solche Märchen verbrei- sagen: Die Diskussion in dieser Aktuellen Stunde über ten. Die bringen nämlich nichts. Morsleben macht man, um sozusagen eine Obstruk- (Zuruf von der F.D.P.) tionspolitik in Sachen Atomenergie zu führen. (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) — Die war bei Ihnen übrigens auch frappant. Ich will nur einmal darauf hinweisen: Der Kollege Töpfer — Sie können das so interpretieren. Ich kann Ihnen vertritt beispielsweise überall in der Öffentlichkeit das genauso umgekehrt interpretieren: Sie halten an Konzept einer Energiesteuer, einer CO2-Steuer. einem sehr fragwürdigen Rechtsstandpunkt fest, um eine Sache zu retten, die nicht zu retten ist. (Klaus Harries [CDU/CSU]: Bleiben Sie beim (Zuruf von der CDU/CSU: Fragwürdig? Thema!) Höchstrichterlich bestätigt!) — Ja, weil Sie davon reden. Entschuldigung, Sie Ich weiß nicht, ob wir auf einer solchen Ebene haben mich vorhin auf den Punkt angesprochen. Dann miteinander verfahren sollten. Es bringt nichts. Ich reagiere ich darauf. Das paßt Ihnen wohl nicht. Nur in finde, wir sollten uns über die Probleme unterhalten, den Debatten war von Töpfer selbst nie davon die um die es hier geht, und diese sind ernst genug. Rede. Dies ist auch ein komisches Spiel, in der Es geht bei Morsleben nicht darum, durch die kalte Öffentlichkeit so und bei den Verhandlungen das Küche eine Ausstiegsstrategie durchzusetzen, son- Gegenteil zu sagen. Ich wäre sehr vorsichtig mit dern es geht um sehr ernsthafte Probleme, die bei uns solchen Vorwürfen. Das fällt immer sehr schnell auf natürlich vor dem Hintergrund einer Gesamtbewer- einen selbst zurück. tung der Atomenergie stehen. Da ist Ihnen ja nicht (Zuruf von der CDU/CSU) neu, daß wir für einen Ausstieg sind. Die zweite Bemerkung, die ich machen möchte! Tun Eine dritte Bemerkung ist: In den Debatten wurde Sie nicht so, als ob Sie die Schrödersche Posi tion von seiten der SPD-Bundestagsfraktion — ich stehe unterstützen würden. Das ist eines der größten Mär- dazu — von einem nationalen Entsorgungskonzept chen, das überall verbreitet wird. Sie sollten auf gesprochen. Ich finde nicht, daß daran gerüttelt wer- diesem Feld, das eine derart wich tige Zukunftsfrage den darf. Es gab in den Gesprächen sehr starke ist, wirklich etwas seriöser und ehrlicher sein. Tendenzen, von dem nationalen Entsorgungskonzept wegzukommen, übrigens nicht von der Opposi tions- (Klaus Harries [CDU/CSU]: Wir haben von seite. Darauf möchte ich hinweisen. Konrad gesprochen!) Ich möchte in dem Zusammenhang auch sagen: Die — Vorhin wurde von Herrn Kollegen Baum gesagt: Frage mit Konrad ist im Entscheiden eine Frage der tion von Herrn Schröder. Die Posi Menge. Wenn wir wissen, welche Mengen Atommüll (Zuruf von der CDU/CSU: Lenken Sie doch anfallen, können wir in einer ganz anderen Weise nicht von Ihrer eigenen Gespaltenheit ab!) über Endlager reden. Sol ange das nicht klar ist, wird — Ich lenke überhaupt von meiner Gespaltenheit es sehr schwer sein, zu einer Einigung zu kommen. ab. Das entscheidende Problem ist sozusagen die Frage, mit welcher Menge von Atommüll wir insgesamt zu (Heiterkeit) rechnen haben, mit welcher Menge wir umzugehen Das ist auch wirklich insofern kein Problem, weil ich in haben. Solange das nicht klar ist, werden wir keine dieser Frage überhaupt nicht gespalten bin. Im Tür aufmachen, von der wir nicht wissen, wohin der Gegensatz zu Ihnen habe ich mich nämlich immer für Gang führt. Da wollen wir schon Klarheit haben. den Ausstieg eingesetzt, nämlich schon seit über (Vorsitz: Vizepräsident Helmuth Becker) 20 Jahren. Ich habe überhaupt kein Problem, mich in dieser Frage irgendwo zu verändern, sondern ich war Ich sage hier also noch einmal in der Öffentlichkeit, immer auf einer Position, wo ich eher Kompromisse zu wir sind für ein nationales Entsorgungskonzept. Wir denen gemacht habe, die die Konzeption, die ich stehen auch dazu. Aber das steht bei uns in einem vertrete, nicht geteilt haben. Ich habe also eher mit Zusammenhang. Wir wollen Klarheit über die Menge anderen Kompromisse gemacht. Ich habe aber bei des Atommülls, der anfällt, haben, und dann kann denen, die eine Technologie verteidigen, die nicht zu man über alles mögliche reden. Keine Frage. verteidigen ist, bisher diese Kompromisse nicht ver- zeichnet. Insofern sollte m an da etwas vorsichtiger (Klaus Harries [CDU/CSU]: Wann wollen Sie sein. denn aussteigen?) 17034 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Michael Müller (Düsseldorf) — Wissen Sie, es hat einmal eine interessante Debatte nungsgemäße Inbetriebnahme von Konrad. Dies ist gegeben, die auch von Ihrer Fraktion unterstützt eine widersprüch liche Obstruktionspolitik, wie sie worden ist. Das ist Ihnen heute vielleicht nicht mehr in deutlicher hier und heute nicht werden konnte. Erinnerung. Es wurde beispielsweise in der Enquete- Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" sehr deut- Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist die einzige lich gesagt, die Frage der Atomenergie sei nicht die Fraktion, die bisher ein geschlossenes energiepoliti- entscheidende Zukunftsfrage der Energieversorgung. sches Gesamtkonzept vorgelegt hat. Im Rahmen die- Heute ist das natürlich anders. Heute läuft das alles ses energiepolitischen Gesamtkonzepts setzen wir unter der hyste rischen Standortdebatte. Aber ich uns nachdrücklich für die verantwortliche Nutzung finde, es ist viel interessanter, darüber zu diskutieren, der Kernenergie ein. Wir halten sie für effektiv und wie man den Strukturwandel in der Bundesrepublik umweltschonend. einleitet, und zwar in die Zukunftsfelder, die wir Ein zweiter wichtiger, deutlicher Punkt in dieser wirklich tatsächlich brauchen, und nicht in die anti Debatte ist: Die Entsorgung in der Bundesrepublik ist -quierte Atomenergie. sicher. Morsleben ist für schwach- und mittelradioak- (Beifall bei der SPD — Klaus Harries [CDU/ tive Abfälle geeignet. Einen Sicherheitsrabatt gibt es CSU]: Das ist keine Antwort!) weder für Morsleben noch für irgendeine andere Lassen Sie mich noch einmal zu dem entscheiden- kerntechnische Anlage in der Bundesrepublik. den Punkt Morsleben zurückkommen. Wir führen hier Wenn Herr Kollege Müller in seiner Rede hier nicht eine Diskussion über Pro und Kontra der Atom- anführt, die Rechtsgrundlage für Morsleben sei frag- energie im weiteren Sinne. Wir führen hier eine lich, dann ist dies eine absolute Außenseiterposition. Debatte erstens darüber, ob Morsleben auf einer Sie ist nicht nur begründet durch den Einigungsver- richtigen Grundlage, auf einer seriösen rechtlichen trag, sondern sie ist auch höchstrichterlich bestätigt Grundlage ist — das bestreiten wir —, und zweitens, worden. Das heißt, es gibt überhaupt keine Annahme darüber, ob die Sicherheitsbedenken ernstgenom- für die rechtliche Fragwürdigkeit von Morsleben. men werden. Ich will nur einen einzigen Satz zitieren, damit klar wird, daß wir nicht nur eine Opposi tions- Für uns ist nicht die vorrangige Frage, ob Morsleben position vertreten. In dem Gutachten der Reaktorsi- rechtmäßig ist. Entscheidend ist die Sicherheit, cherheitskommission, auf die sich auch Herr Töpfer (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bezieht, steht: Eingehende Untersuchungen zu den geowissen- aber es zeigt schon, wie fragwürdig Ihre sicherheits- schaftlichen Fragen, ... ,konnten ... aus Zeit- politische Argumenta tion ist, wenn Sie sich auf ein gründen noch nicht durchgeführt werden. ebenso fragwürdiges rechtspolitisches Argument stüt- zen. Das ist ein Schlag in das Gesicht Ihrer Politik. Es tut mir leid. Wer so leichtfertig mit bestimmten Sicher- Ein Drittes, was hier anzumerken ist: Die Bundesre- heitsexpertisen umgeht, braucht sich nicht zu wun- gierung ist selbstverständlich über alle Elemente ihrer dern, wenn er nicht ernstgenommen wird. Kernenergiepolitik bis hin zur Endlagerung dialogbe- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und reit, u. a. auch mit der Umweltschutzorganisation dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Greenpeace. Es ist schon erstaunlich, daß Greenpeace nach den zahlreichen Fragen zu Morsleben, die man von dort gestellt hatte und die von einer Bundesbe- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und hörde schriftlich beantwortet worden sind, als näch- Herren, nächster Redner ist jetzt unser Kollege Steffen sten Schritt die Blockade dieses Endlagers vorgenom- Kampeter. men hat. Das Gesprächsangebot von Bundesminister Töpfer Steffen Kampeter (CDU/CSU): Herr Präsident! war verbunden mit der Aufforderung, diese Blockade Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gerade die von Morsleben einzustellen. Erst dann ist der Ausführungen meines Vorredners haben gezeigt, wie Gesprächsbeginn erfolgt. Das Gespräch hat aber kei- widersprüchlich und ohne Konzept die energiepoliti- nerlei substantielle Ergebnisse hervorgebracht, die sche Position der Sozialdemokratie in Deutschland sowohl die sicherheitstechnische als auch die rechtli- ist. che Eignung des Standorts Morsleben in Frage stel- (Zuruf des Abg. Wolfgang Weiermann len. [SPD]) Es geht hier also nicht so sehr um sicherheitstech- Da stellt sich der umweltpolitische Sprecher hier hin nische oder rechtliche Bedenken, sondern vielmehr und führt an, daß der niedersächsische Ministerpräsi- darum, daß Ideologie über Rechtsstaatlichkeit und dent für den Ausstieg sei. energiepolitische Vernunft gestellt wird. (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Natür- lich!) Die Umweltorganisation Greenpeace setzt sich über Fach-, Verwaltungs- und Polizeibehörden, sowie über In den Energiekonsensgesprächen hat uns Herr Gerichte hinweg. Dies kann für uns kein Maßstab Schröder allerdings einen Einstieg in eine neue Reak- unseres Handelns sein. torlinie versprochen. Dann wird beklagt, daß in der Entsorgung und Endlagerung zuwenig getan wird. Eine vierte Sache ist in dieser Debatte hier und Genau dieser gleiche Herr Schröder, der uns den heute klargeworden: Die Opposition informiert die Einstieg in eine neue Reaktorlinie in den Energiekon- Öffentlichkeit unzutreffend. Die mir persönlich außer- sensgesprächen angeboten hat, blockiert die ord- ordentlich sympathische Kollegin Klemmer hat dies Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17035

Steffen Kampeter leider auch in einer Presseerklärung vor wenigen noch etwas ein bißchen gefährlich ist, dann müssen Tagen gemacht. wir uns über die Zwischenlager abgebrannter Brenn- (Zuruf von der SPD: Eine gute Presseerklä- stäbe und über Wiederaufarbeitung unterhalten. rung!) Danach müssen wir uns über das unterhalten, was noch gefährlicher ist, nämlich über die Produktion von Da wird von fahrlässigem Verhalten oder ignorantem Kernbrennstäben. Ganz am Ende steht die Gefähr- Verhalten, von erheblichen Sicherheitsmängeln und lichkeit der Ablagerung schwach radioaktiver Ab- anderen Dingen gesprochen. Frau Kollegin Klemmer, fälle. ich habe auf Grund Ihrer Presseerklärung Ihrer Rede sehr, sehr aufmerksam gelauscht. Ich stelle fest, daß Wenn Sie hier im Bundestag nach fachlichen Krite- Sie für Ihre Behauptungen hier heute vor dem Deut- rien Schwerpunkte setzen würden, dann nähme ich schen Bundestag überhaupt gar keine Belege gelie- Sie ernst, Herr Weiß. Sie wählen Ihre Themen aber fert haben. Sie haben keinerlei überzeugende Zweifel nicht nach fachlichen Gesichtspunkten: Wenn ich die sowohl an der sicherheitstechnischen wie an der Aktuellen Stunden und Ihre Anträge berücksichtige, rechtlichen Eignung von Morsleben hier vorgetragen. zeigt sich, daß Sie nicht da Anträge stellen, wo das Sie haben lediglich Ihre bekannten Behauptungen größte Gefährdungspotential ist, sondern immer nur wiederholt, die dazu dienen, die Öffentlichkeit irrezu- da, wo etwas in Betrieb gehen soll. Das ist doch ein führen. Angst und Ideologie sowie Irreführung sind fachlich nicht ernst zu nehmendes Anliegen. Da allerdings ein schlechter Ratgeber in der Auseinan- offenbaren Sie, Herr Kollege Müller, daß Sie eigent- dersetzung über ein zukunftsweisendes Energiekon- lich Obstruktion betreiben wollen, weil Sie sich nicht zept. dort engagieren, wo etwas leicht Gefährliches läuft, Also ziehe ich das Fazit: Die Opposi tion ist ohne ein sondern dort, wo etwas in Betrieb gehen soll. Das ist geschlossenes energiepolitisches Konzept. Sie hat der typische Versuch zu verhindern — ich sage: hier wenig Neues vorgetragen, was es rechtfertigen Obstruktion. würde, diese Stunde als besonders aktuell zu charak- Ich habe gesagt: die geringste Gefährlichkeit bei terisieren. Die Bundesregierung hat unter Beweis schwach radioaktiven Abfällen. Im Untersuchungs- gestellt, daß sie in allen Fragen der kerntechnischen ausschuß „Transnuklear" habe ich gemeinsam mit Anlagen, insbesondere aber in Morsleben, verantwor- dem Kollegen Harries gelernt, daß es sich z. B. um tungsbewußt handelt. Handschuhe handelt, die bei der Reinigung von Herzlichen Dank. Kernkraftwerken anfallen. Da soll das größte Gefah- renpotential vorhanden sein? Es ist nicht das Gefähr- (Beifall bei der CDU/CSU) lichste; es gibt noch ein paar Dinge, die ernster zu nehmen sind. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Aber man muß den Leuten beispielhaft sagen, um Herren, der letzte Redner in der Aktuellen Stunde ist was es sich handelt. Die „großen Mengen" sind z. B. unser Kollege Dr. Gerhard F riedrich. Putzmaterial oder irgendwelche Flüssigkeiten, die irgendwo im Bereich des Reaktorkerns geflossen sind und die da leicht kontaminiert sind. Das ist das „große Dr. Gerhard Friedrich (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will mich bemühen, Gefahrenpotential", über das Sie heute reden. Es sind möglichst wenig zu wiederholen. Ich habe mich in der ein paar Dinge dabei, die nicht ganz so harmlos letzten Legislaturperiode mehr mit Kernenergie sind. beschäftigt. Deshalb habe ich heute früh nachgelesen, Herr Kollege Feige, da muß ich jetzt auf Sie zu was denn jetzt die „große Gefahr" in Morsleben ist. sprechen kommen. Der Kollege Feige hat uns ein sehr Frau Kollegin Klemmer, ich habe an Hand meiner großzügiges Angebot gemacht. Aber die Fragestel- Unterlagen festgestellt: Es gibt fünf Tropfstellen, lung war nicht befriedigend, lieber Kollege Feige. Sie davon ist eine ernst zu nehmen. Der Wasserzufluß haben nämlich gesagt: Steigen wir erst einmal aus der beträgt 1,71 pro Stunde. Frau Klemmer, das landet in Kernenergie aus, dann werden wir konstruktiv an der einem Bergwerk, nicht in einem unserer Wohnzim- Lösung der Endlagerprobleme mitwirken. Das Aus- mer. Das heißt, es handelt sich um Minimengen in steigen aus der Kernkraft, Herr Kollege Feige, löst einem riesigen Hohlraum. Das entspricht etwa der noch nicht das gesamte Problem. In diesen Lagern Gefährdung, wie wenn hier im Bundestag eine Putz- landet auch das, was wir in der Nuklearmedizin frau etwas Wasser verschüttet, worauf Sie dann sagen: anwenden. Da landet alles mögliche aus den Kran- Wir müssen alle Räume des Bundestages räumen, weil kenhäusern. Herr Kollege Feige, wollen wir auch aus Hochwasser droht. der Nuklearmedizin aussteigen? (Heiterkeit bei der CDU/CSU) (Zuruf von der SPD: Auch noch aus der Es tut mir leid, ich muß mich wirklich fragen, ob ich Sie Werkstoffprüfung!) ernst nehmen soll. — Ich weiß schon: Ihr wollt eigentlich aus allem Dann kommt hier der Kollege Müller ans Mikrofon aussteigen, das ist mir klar. Herr Kollege Feige, wollen und sagt: Ich bin doch konstruktiv. — Es geht uns um Sie aber auch aus der Nuklearmedizin aussteigen? Morsleben. Herr Kollege Müller, ich will Ihnen in der Wenn nicht, dann brauchen wir wenigstens ein klei- Sache etwas sagen: Da Sie die Probleme wirklich nes Endlager. Dann sagen Sie den Leuten hier wenig- kennen, müssen Sie doch zugeben, daß, wenn in der stens ehrlich: Wir wollen ein kleineres .Endlager Kernenergie etwas gefährlich ist, das erst einmal das Morsleben. Aber Sie tun so, als wenn wir nichts mehr laufende Kernkraftwerk ist. Wenn dann überhaupt bräuchten, wenn wir aus der Kernenergie ausstiegen. 17036 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Dr. Gerhard Friedrich Herr Kollege Feige, entweder wissen Sie über die e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Carl Dinge nicht Bescheid, oder Sie täuschen die Men- Ewen, Robert Antretter, Holger Bartsch, weite- schen hier. rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Jetzt sehe ich gerade, daß ich langsam aufhören Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der muß. Ich muß Ihnen sagen, ich kann mich schon Deutschen Binnenschiffahrt darüber empören, daß der SPD-Parteivorsitzende — Drucksache 12/6221 — Scharping Reden hält und sagt, im nächsten Jahr gibt Überweisungsvorschlag: es nur ein Thema, Arbeitsplätze, aber Sie vernichten Ausschuß für Verkehr (federführend) in diesem Land einen Arbeitsplatz nach dem anderen Ausschuß für Wirtschaft — in der Nuklearindustrie, die keine Subventionen EG-Ausschuß braucht — und stellen dann die unsinnigen Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage an Anträge, die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu (Widerspruch bei der SPD) überweisen. Sind Sie damit einverstanden? —Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann sind alle Über- neue subventionierte Arbeitsplätze zu schaffen. weisungen so beschlossen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 18c, 18d und 18f bis 18i sowie die Zusatzpunkte 13a und 13b auf: Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet. 18. c) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Wir fahren in der Tagesordnung fort. Ich rufe den Änderung des Fleischhygienegesetzes und Tagesordnungspunkt 17 auf: des Geflügelfleischhygienegesetzes Überweisungen im vereinfachten Verfahren — Drucksache 12/6205 — a) Erste Beratung des von der Bundesregierung (Erste Beratung 194. Sitzung) eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- Änderung des Bundeskleingartengesetzes schusses für Gesundheit (15. Ausschuß) (BKleingÄndG) — Drucksache 12/6305 — — Drucksache 12/6154 — Berichterstattung: Überweisungsvorschlag: Abgeordneter Dr. Hans-Hinrich Knaape Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (fe- derführend) d) Zweite und dritte Beratung des von den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Abgeordneten Erwin Marschewski, Wolf- gang Zeitlmann, Hartmut Büttner (Schöne- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung beck) und der Fraktion der CDU/CSU, des eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abgeordneten Gerd Wartenberg (Berlin) Änderung von Rechtsvorschriften auf dem und der Fraktion der SPD sowie des Abge- Gebiet der Seeschiffahrt ordneten Dr. Burkhard Hirsch und der Frak- — Drucksache 12/6153 — tion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs Überweisungsvorschlag: eines Gesetzes zur Änderung des Stasi- Ausschuß für Verkehr (federführend) Unterlagen-Gesetzes (StUÄndG) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit — Drucksache 12/5775 — c) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD (Erste Beratung 179. Sitzung) eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung der Beschlußempfehlung und Be richt des In- Tarife im Güterverkehr (Tarifaufhebungsge- nenausschusses (4. Ausschuß) setz — TAufhG) — Drucksache 12/6100 — — Drucksache 12/6284 — Berichterstattung: Abgeordnete Hartmut Büttner (Schöne- Überweisungsvorschlag: beck) Ausschuß für Verkehr (federführend) Ausschuß für Wirtschaft Rolf Schwanitz Dr. Jürgen Schmieder d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Mari- anne Klappert, Dr. Liesel Hartenstein, B rigitte f) Beratung der Beschlußempfehlung des Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der der SPD Unterrichtung durch den Präsidenten des Bundesrechnungshofes als Vorsitzender Einschränkung der Tiertransporte in der EG des Bundesschuldenausschusses — Drucksache 12/5785 — Bericht des Bundesschuldenausschusses Überweisungsvorschlag: nach § 35 Abs. 2 der Reichsschuldenord- Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (feder- nung vom 13. Februar 1924 (BGBl. 111, führend) Nr. 651-1) für das Jahr 1992 Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit — Drucksachen 12/5299, 12/6163 — Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17037

Vizepräsident Helmuth Becker Berichterstattung: b) Zweite und dritte Beratung des von der Abgeordnete Dr. Christian Neuling Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) eines Gesetzes zur Änderung des Handels- Helmut Wieczorek (Duisburg) und Lohnstatistikgesetzes g) Beratung der Beschlußempfehlung und des (Statistikänderungsgesetz — StatÄndG) Berichts des Finanzausschusses (7. Aus- — Drucksache 12/5886 — schuß) zu der Unterrichtung durch die Bun- (Erste Beratung 194. Sitzung) desregierung Beschlußempfehlung und Bericht des In- Vorschlag für einen Beschluß des Rates zur nenausschusses (4. Ausschuß) Ermächtigung einiger Mitgliedstaaten, ge- — Drucksache 12/6309 — mäß dem Verfahren in Artikel 8 Abs. 4 der Richtlinie 92/81/EWG des Rates auf Mine- Berichterstattung: ralöle, die zu bestimmten Zwecken ver- Abgeordnete Meinrad Belle wendet werden, ermäßigte Verbrauchsteu- Gerd Wartenberg (Berlin) ersätze oder Verbrauchsteuerbefreiungen Dr. Burkhard Hirsch einzuführen oder beizubehalten Es handelt sich um Beschlußvorlagen, zu denen — Drucksachen 12/5190 Nr. 2. 1, 12/6165 — keine Aussprache vorgesehen ist. Berichterstattung: Wir stimmen zum Tagesordnungspunkt 18c ab. Der Abgeordneter Ausschuß für Gesundheit empfiehlt auf Drucksache 12/6305, den Gesetzentwurf unverändert anzuneh- h) Beratung der Beschlußempfehlung und des men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf Berichts des Finanzausschusses (7. Aus- zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer schuß) zu der Unterrichtung durch die Bun- stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Dann ist desregierung dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei einigen Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Stimmenthaltungen von der Gruppe BÜNDNIS 90/ Rates zur Regelung der gegenseitigen DIE GRÜNEN angenommen. Amtshilfe der Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten und der Zusammenarbeit Dritte Beratung dieser Behörden mit der Kommission, um und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem die ordnungsgemäße Anwendung der Zoll- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — und Agrarregelungen zu gewährleisten, Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Mit und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) dem gleichen Stimmergebnis ist der Gesetzentwurf in Nr. 1468/81 dritter Lesung angenommen. — Drucksachen 12/4555 Nr. 2.4, 12/6173 — Wir kommen zur Abstimmung zum Tagesordnungs- Berichterstattung: punkt 18d. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- Abgeordneter Claus Jäger wurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um i) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimm- tionsausschusses (2. Ausschuß) enthaltungen? — Bei Gegenstimmen der Gruppen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und PDS/Linke Liste ist Sammelübersicht 130 zu Petitionen der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenom- — Drucksache 12/6230 — men. ZP13 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus- Dritte Beratung sprache und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem (Ergänzung zu TOP 18) Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der des von der Bundesregierung eingebrach- Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit dem gleichen ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Rechts- Stimmergebnis angenommen. akt vom 25. März 1993 zur Änderung des Wir kommen zur Abstimmung zum Tagesordnungs- Protokolls über die Satzung der Europäi- punkt 18f. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? schen Investitionsbank — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Bei — Drucksache 12/5941 — Stimmenthaltungen aus den beiden Gruppen ist diese Beschlußempfehlung angenommen. (Erste Beratung 194. Sitzung) Wir kommen zur Abstimmung zum Tagesordnungs- a) Beschlußempfehlung und Be richt des punkt 18g. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? Finanzausschusses (7. Ausschuß) — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Bei Stimmenthaltung der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- — Drucksache 12/6300 — NEN ist die Beschlußempfehlung angenommen. Berichterstattung: Abgeordneter Martin Grüner Wir kommen zur Abstimmung zum Tagesordnungs- punkt 18h. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? b) Bericht des Haushaltsausschusses — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Stimm- (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäfts- enthaltungen aus der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ordnung NEN. Die Beschlußempfehlung ist angenommen. 17038 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Vizepräsident Helmuth Becker Wir kommen zur Abstimmung zum Tagesordnungs- Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Herr Präsident! punkt 18i. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Bei Gesetzentwurf der Koalition zur Änderung des Geset- einigen Stimmenthaltungen aus den beiden Gruppen zes zur weiteren Verlängerung der Kündigungsmög- ist die Beschlußempfehlung angenommen. lichkeiten in der öffentlichen Verwaltung nach dem Zusatzpunkt 13 a. Nach einer interfraktionellen Einigungsvertrag sollen die jungen Bundesländer Vereinbarung sollen die zweite Beratung und Schluß- auch über den 31. Dezember dieses Jahres hinaus in abstimmung des Gesetzentwurfs zur Europäischen die Lage versetzt werden, den immensen vorhande- Investitionsbank erst morgen nach Tagesordnungs- nen Überhang in der öffentlichen Verwaltung der punkt 16 aufgerufen werden. Sind Sie damit einver- neuen Länder abzubauen. standen? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Die Kernfrage der Diskussion, die zu diesem Dann ist das so beschlossen. Gesetzentwurf der Koalition geführt hat, lautet, ob der Wir kommen zur Abstimmung zu Zusatzpunkt 13b. Übergangsprozeß der dringend notwendigen Um- Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der strukturierungen im öffentlichen Dienst in den jun- Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Hand- gen Bundesländern tatsächlich abgeschlossen ist. zeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltun- Angesichts noch geringer Effektivität vieler, zum Teil gen? — Bei Stimmenthaltungen aus den Gruppen noch im Aufbau befindlicher Gliederungen der öffent- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und PDS/Linke Liste ist lichen Verwaltungen und angesichts des Mangels an dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenom- Vertrauen in der Öffentlichkeit gegenüber den selten men. nicht überdimensionierten Einrichtungen ist diese Frage, wie wir meinen, eindeutig zu verneinen. Bei Wir kommen zur der Herausbildung neuer Gebietskörperschaften ste- dritten Beratung hen wir sogar erst am Anfang der Neustrukturierung und zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die in den jungen Bundesländern. Es kann deshalb heute dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe- nicht die Rede davon sein, daß dieser Übergangs- und ben. — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Umstrukturierungsprozeß bereits beendet ist. Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit demsel- Das Grundanliegen des Einigungsvertrages, der ben Stimmenverhältnis wie in zweiter Lesung ange- Aufbau einer funktionierenden, neues Vertrauen nommen. begründenden öffentlichen Verwaltung in den neuen Ländern mit einem kleinen, aber qualifizierten Perso- nalstamm, ist deshalb bis heute nicht erfüllt. Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: Weil immer gesagt wird, daß das, was die Koali- Zweite und dritte Beratung des von den Frak- tionsregierung vorschlägt, überhaupt nicht Wunsch tionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten und Bedürfnis in den neuen Ländern ist, habe ich mir Entwurfs eines Gesetzes zur weiteren Verlän- die Mühe gemacht, mit den unionsgeführten Landes- gerung der Kündigungsmöglichkeiten in der regierungen der jungen Bundesländer Kontakt aufzu- öffentlichen Verwaltung nach dem Einigungs- nehmen, und mich um Stellungnahmen zur Frage der vertrag Notwendigkeit einer weiteren Fristverlängerung — Drucksache 12/6120 — der Sonderkündigungsmöglichkeiten bemüht. Dies (Erste Beratung 189. Sitzung) wurde von unseren Kollegen dort einhellig begrüßt. Beschlußempfehlung und Be richt des Innen- Der Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, ausschusses (4. Ausschuß) Rudi Geil, verwies darauf, daß es größtenteils noch nicht gelungen ist, Personalüberhänge auf ein ver- — Drucksache 12/6308 — waltungsökonomisch und finanziell zumutbares Maß Berichterstattung: zu reduzieren. Abgeordnete Wolfgang Zeitlmann Der sächsische Innenminister, Heinz Eggert, hält Rolf Schwanitz ebenso wie die thüringische Landesregierung diese Dr. Burkhard Hirsch Fristverlängerung, die wir jetzt vorschlagen, für drin- Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der gend geboten. SPD vor. Unser Gesetzentwurf sieht eine Fristverlängerung Ich weise darauf hin, daß die Gruppe PDS/Linke für Bedarfskündigungen vom 31. Dezember dieses Liste zur Schlußabstimmung namentliche Abstim- Jahres bis zum 31. März 1994 vor. Parallel dazu mung wünscht. Nach unserer Geschäftsordnung kann werden die Landesregierungen der fünf jungen Bun- eine namentliche Abstimmung aber nur von einer desländer ermächtigt, durch Rechtsverordnungen zu Fraktion oder anwesenden 5 v. H. der Mitglieder des bestimmen, daß von den Sonderkündigungsregelun- Hauses verlangt werden. Ob der Antrag der Gruppe gen bis längstens zum 31. Dezember 1994 Gebrauch PDS/Linke Liste die erforderliche Unterstützung hat, gemacht werden kann. Wir halten diese Regelung für wird vor der Schlußabstimmung festgestellt. sinnvoll und richtig, weil hierdurch die jungen Lander, Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die in deren ureigenstem Interesse die Weiterführung der Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich Kündigungsregelungen liegt, in die Pflicht genom- sehe keinen Widerspruch. Dann ist auch das so men und in die Lage versetzt werden, ihrerseits per beschlossen. Rechtsverordnung aktiv zu werden. Ich eröffne die Aussprache. Als erster hat unser Mit der im Gesetzentwurf vorgegebenen Fristver- Kollege Hartmut Koschyk das Wort. längerung bis zum 31. März 1994 bleibt den Landes- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17039

Hartmut Koschyk regierungen hierfür auch ausreichend Zeit. Zugleich Bundesratsinitiative der neuen Länder in dieser Sache wird erreicht — darauf legen wir großen Wert —, daß nicht verschließen. Mit der in unserem Gesetzentwurf die politische Verantwortung, wie es auch von der vorgegebenen Fristverlängerung bis zum 31. März Sache her geboten ist, auf die Länder verlagert wird. 1994 wird auch genügend Zeit bleiben, Überlegungen Die betroffenen Länder können dann per Rechtsver- in dieser Richtung umzusetzen. ordnung eigenverantwortlich die Personalkörper im Abschließend ist festzuhalten, daß der Personalab- öffentlichen Dienst so reduzieren, daß sie auch auf bau im öffentlichen Dienst in den neuen Ländern auch Dauer finanzierbar bleiben. weiterhin dringend erforderlich sein wird. Wir appel- Es ist vor allem ein Wunsch der Kommunen in den lieren daher vor allem an die dortigen Landesregie- neuen Bundesländern, auch weiterhin nach den Son- rungen, umgehend dafür Sorge zu tragen und per derkündigungsmöglichkeiten Personal abzubauen. Rechtsverordnung zu bestimmen, daß vom Kündi- Ich habe bereits bei der ersten Lesung darauf verwie- gungsrecht auch nach dem Einigungsvertrag bis zum sen, daß das auch als klares Votum bei einer Tagung 31. Dezember 1994 Gebrauch gemacht werden von Kommunalpolitikern im Berliner Reichstag, initi- kann. iert von der SPD, zum Ausdruck gekommen ist. Die Kommunen und Gebietskörperschaften in den jungen Bundesländern benötigen diese Zeit, um den Personalüberhang bei etwa Insgesamt liegt der weiteren Personalabbau im öffentlichen Dienst voran- 440 000 Beschäftigten mit jährlichen Mehrkosten von zubringen und damit die Voraussetzungen für Haus- 20 Milliarden DM. Wir wissen alle, daß diese Summe haltskonsolidierung und für eine Verbesserung der durch die Einkommensangleichung an das Westni- Investitionsquote zum Aufbau notwendiger Infra- veau noch erheblich steigen wird. Damit drohen die struktur zu schaffen. Deshalb bitten wir auch die Personalausgaben zum Treib- und Sprengsatz der Sozialdemokraten, sich unserem Entwurf anzuschlie- ohnehin schon schwachen öffentlichen Haushalte in ßen, da Ihrem Anliegen im Änderungsantrag durch den neuen Bundesländern zu werden. Wir müssen den Koalitionsentwurf, wie wir meinen, voll Rechnung auch in Rechnung stellen, daß jede sechste oder siebte getragen wird. Mark der Transferleistungen an die neuen Länder für Mehraufwendungen für das Personal im öffentlichen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dienst verbraucht wird und damit für den Aufbau von dringend notwendiger Infrastruktur fehlt. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Durch den Gesetzentwurf der Koalition werden die Herren, das Wo rt hat jetzt unser Kollege Rolf Schwa- jungen Bundesländer in die Lage versetzt, das wirk- nitz. lich eklatante Mißverhältnis zwischen Überbesetzung vor allem im Sozial- und Kultusbereich und einer zu verzeichnenden Unterbesetzung im Bereich der klas- Rolf Schwanitz (SPD): Herr Präsident! Meine sehr sischen Verwaltung, also bei der Bauaufsicht und in verehrten Damen und Herren! Das Problem ist der Ordnungsverwaltung, zu beseitigen. Da dies bekannt. Auch im dritten Jahr der deutschen Einheit durch interne Versetzungen nicht möglich ist, werden müssen wir in Ostdeutschland eine personelle Situa- weitere Kündigungen unvermeidlich sein. Nur durch tion verzeichnen, die nur als Personalüberstrukturie- ein Abspecken der öffentlichen Verwaltung wird es rung bezeichnet werden kann. Dafür gibt es — das den Kreisen und Gemeinden möglich sein, Einspar- haben wir an verschiedenen Stellen immer betont — reserven auszuschöpfen und damit strukturelle Ver- sehr wohl auch objektive Gründe. Ich nenne einen, besserungen in der Verwaltung zu verwirklichen und den wir bei den vielzitierten offenen Vermögensfra- die Investitionsquote zu steigern. gen nur als Randproblem diskutiert haben, nämlich Alle Seiten sind sich darüber einig, daß vor allem die noch nicht abgeschlossenen Zuordnungen von diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, entsprechenden Einrichtungen im Bereich der Kom- die erst nach dem Mai 1990 eingestellt wurden, munen. Auch das ist ein Element, auf Grund dessen Chancengleichheit erfahren müssen mit jenen, die immer wieder Personal in die Kommunen transportiert wird. Vordienstzeiten in der DDR -Verwaltung vorweisen können. Diese oftmals jungen, für den Aufbau einer Wir haben — das ist richtig angesprochen worden — demokratischen und rechtsstaatlichen Verwaltung das Problem der Gebietsreform, die nach wie vor in engagierten und politisch unbelasteten Mitarbeiter den neuen Bundesländern vor uns steht. Wir haben müssen dem öffentlichen Dienst in den neuen Län- aber natürlich auch Abbaumöglichkeiten in vielen dern auch in Zukunft erhalten bleiben. Kommunen. Ich weiß, das ist nicht generell zu sagen, aber diese sind in nicht wenigen Kommunen nicht in Wir meinen, daß die von der SPD in ihrem Ände- vollem Umfang ausgenutzt, so daß tatsächlich ein rungsantrag erhobene Forderung nach Chancen- Überhang da ist. gleichheit für die nach 1990 in den öffentlichen Dienst der neuen Länder gekommenen Seiteneinsteiger in Wir glauben dennoch, daß das, was uns die CDU, dem Gesetzentwurf der Koalition erfüllt wird, da er die die F.D.P. und die CSU — sie will ich natürlich auch Möglichkeit offen läßt, daß stets nach erfolgter Einzel- nicht vergessen — heute vorschlagen, nämlich fallprüfung entschieden werden kann. Bedarfskündigungen zeitlich zu verlängern, ein fal- sches Instrument ist. Sollten aber die neuen Bundesländer der Auffas- sung sein, daß bei den Bedarfskündigungen auch (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dieser Aspekt einer Sozialauswahl für die Beurteilung dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) herangezogen werden muß, dann sollten wir uns einer Ich will dafür vier Gründe anführen. 17040 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Rolf Schwanitz Erstens. Es ist unbes treitbar, daß die erneute Ver- gungsvertrag zur Verfügung steht, ist sehr wohl längerung der Bedarfskündigungen nach dem Eini- geeignet, die Umstrukturierungen zu betreiben. gungsvertrag ein massiver Einschnitt in Arbeitneh- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ merrechte ist. Man kann einfach nicht die Augen DIE GRÜNEN) davor verschließen, daß man mit einem solchen harten Instrument nicht x-beliebig oft, also nicht erneut — die Debatte hatten wir 1992 schon — ins Rennen gehen Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Schwanitz, gestatten Sie eine Zwischenfrage? damit wichtige Instrumente, wichtige Rechte, insbe- sondere im Bereich des Kündigungsschutzes vorent- Rolf Schwanitz (SPD): Bitte schön. halten kann. Das ist im dritten und vierten Jahr der deutschen Einheit aus unserer Sicht nicht zumutbar. Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte, Herr Kol- Zweitens. Wir kommen zu den Einschätzungen, daß lege. das Instrumentarium, das wir in Ostdeutschland, wenn das Sonderkündigungsrecht ausläuft, zur Ver- Udo Haschke (Jena) (CDU/CSU): Herr Kollege fügung haben, sehr wohl geeignet ist, den notwendi- Schwanitz, würden Sie mir zustimmen, daß dieses gen Personalabbau in den ostdeutschen Verwaltun- Gesetz nur die Möglichkeit eröffnet, so weiterzuver- gen zu betreiben. fahren wie bisher? Ich mache das an drei Punkten fest. Der erste Punkt Zweitens haben Sie, glaube ich, nicht richtig auf das ist der vor allen Dingen auch in der ersten Debatte und Argument gehört — darum würde ich bitten —, was in vielen Diskussionen immer wieder unterschwellig der Kollege Koschyk vorgetragen hat, nämlich daß bei Normalkündigungsverfahren gerade die Leute, die angeführte Tatbestand, daß angeblich nach 15 Dienst- jahren eine faktische Unkündbarkeit von Personen im wir alle im gemeinsamen Interesse seit Mai 1990 in öffentlichen Dienst Ostdeutschlands eintreten würde. den öffentlichen Dienst gebracht haben, eben doch Ein Blick in den BAT Ost zeigt relativ schnell, daß § 55, gegenüber denen benachteiligt wurden, die schon 20 der das im BAT für die alten Bundesländer bewirkt, im Jahre in den Rathäusern sitzen. BAT Ost nicht ausgefüllt worden ist, so daß zunächst einmal festzuhalten ist: unabhängig von der Vor- Rolf Schwanitz (SPD): Kollege Haschke, das zweite dienst- und Dienstzeit steht das gesamte Personal ist in der Tat ein Problem. Welche Antwort wir dazu auch beim Auslaufen des Instrumentes aus dem Eini- haben, werde ich gleich im Laufe meiner Rede noch gungsvertrag für die Umstrukturierung im Sinne einer erläutern. Deswegen bitte ich darum, daß ich eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses zur Verfügung. Antwort darauf im Anschluß geben darf. Die Situation ist also anders. Hier liegen viele Ängste, Was Sie als erstes gesagt haben, ist nicht ganz daß das vom Ins trument her nicht geht. Diese Ängste richtig. Richtig ist: Es wird eine Rechtsverordnungser- sind unbegründet. mächtigung ermöglicht, die Länder entscheiden. Aber wenn man einmal Spitz auf Knopf guckt, stellt m an Zum zweiten muß man sagen, daß sich auch die natürlich fest, daß zumindest über ein Vierteljahr das Abfindungsregelungen nicht ändern. Auch die Abfin- Instrument erst einmal verlängert wird. Nach der dungsregelungen sind nicht anders als die, die wir Beschlußfassung im Bundestag ist die Verlängerung hier nach dem Bedarfskündigungsrecht aus dem Eini- des Rechtes natürlich bis zum 31. März 1994 da. gungsvertrag heraus haben, so daß sich auch die Insofern ist das nicht so einfach. Es ist ein Einschnitt in finanzielle Situation, die damit im Zusammenhang Arbeitnehmerrechte. steht — die finanzielle Belastung ist immer wieder genannt worden — bei dieser Rechtsänderung nicht Meine Damen und Herren, die Union hat gestern im verändert. Innenausschuß ihre ursprüngliche Fassung noch ein- mal in zwei Punkten verändert: Zum einen wird Zum dritten muß ich gestehen, daß sich die Frage vorgeschlagen, die Rechtsverordnungsermächtigung, der Kündigungsfristen, die natürlich auch eine Frage die ursprünglich nur bis zum 31. Dezember diesen der finanziellen Belastung bei der Umstrukturierung Jahres gelten sollte, bis zum 31. März nächsten Jahres ist, nicht entscheidend verändert, wenn die Sonder- zu verlängern. Das hängt aus meiner Sicht, muß ich kündigungsmöglichkeit ausläuft. Ich gehe von der gestehen, damit zusammen, daß dieses Thema Hals maximalen Variante aus: Wir haben jetzt bei dem über Kopf in dieses Parlament getragen worden ist. Es Sonderkündigungsrecht die maximale Kündigungs- ist natürlich verständlich, daß m an zu dem Schluß frist aus dem Arbeitsgesetzbuch der ehemaligen DDR kommt, daß in den verbleibenden Wochen und hin- von drei Monaten, wenn man die längste Dienstzeit sichtlich der wenigen Möglichkeiten, die die Kabi- betrachtet. Das verändert sich auf sechs Monate. Ich nette noch haben, ein Umsetzen in der ursprünglichen muß gestehen: Das ist für mich keine so entscheidende Struktur überhaupt nicht möglich ist. Verlängerung, die diesen Personalabbau gefährden Ich kann also nur sagen: Ein solcher Weg ist würde. sicherlich auch eine Folge dessen, daß Hals über Kopf und unter großer Zeitnot eine solche harte Entschei- Ich sage noch einmal: Dieses harte Instrument, dung hier ins Parlament getragen worden ist. dieses harte Einschneiden in Arbeitnehmerrechte ist Auch die zweite Änderung ist aus meiner Sicht nicht gerechtfertigt. Das Instrument, das beim Auslau- interessant. Die Verlängerung des Rechtes der fen des Sonderkündigungsrechtes nach dem Eini- Bedarfskündigung per Rechtsverordnungsermächti- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17041

Rolf Schwanitz gung soll nun nicht mehr um zwei Jahre möglich sein, Instrumentarien wehren und entsprechend ihre sondern nur noch um ein Jahr. Rechte geltend machen. Wir wollen nicht, daß in der jetzigen Situation und (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Da kommen auch nach Auslaufen der entsprechenden Instrumen- wir Ihnen entgegen!) tarien die Interessen der Kommunen hinsichtlich die- Darin liegt aus meiner Sicht eine ganze Menge ser 1990 eingestellten Personen auf der Strecke blei- Zündstoff — Herr Koschyk, ich beziehe mich auf das, ben. was Sie gesagt haben —, was Sie auch in den neuen Meine Damen und Herren von der Koalition, eines Bundesländern sehr wohl spüren. muß ich Ihnen schon noch vorwerfen. Sie wissen sehr wohl, daß die Rechtsprechung in Ostdeutschland Aus dem Land Mecklenburg-Vorpommern — das nicht stehengeblieben ist. Sie wissen, daß in Mecklen- wollen Sie mir bitte zugestehen — gibt es ganz burg-Vorpommern seit mehreren Wochen überhaupt unterschiedliche Botschaften. Nicht nur der Innenmi- kein Verfahren mehr nach dem Einigungsvertrag im nister äußert sich zu der Frage: Soll das Recht verlän- Sinne dieser Sonderkündigung durchgeführt wird. gert werden? Beispielsweise äußert sich auch der Sie wissen, daß in Erfurt — ich gehe einmal davon aus, Ministerpräsident dazu. Ich habe noch nie eine solche daß Sie das wissen — neun von zehn Fällen, die dort Instrumentendebatte in so großer Zerstrittenheit in nach der Bedarfskündigungsmöglichkeit angestrengt Ostdeutschland erlebt, wie das hier der Fall ist. werden, in der ersten Instanz scheitern. Und Sie Ich kann nur sagen: Ich akzeptiere es, daß Sie sich wissen, daß vom Landesarbeitsgericht Sachsen ein bei dem scharfen Wind, der Ihnen aus Ihren Reihen Urteil vorliegt, das die Bedarfskündigungsmöglich- offensichtlich entgegenweht, dazu durchgerungen keit insgesamt ad absurdum führt, als unrechtmäßig haben, dieses Instrument auf nur ein Jahr zu begren- klassifiziert. zen. Allerdings werden Sie in Ihrer Argumentation Wenn Sie dies wissen, aber trotzdem hier für eine natürlich widersprüchlich und unglaubwürdig; denn Verlängerung plädieren und damit in Kauf nehmen, kein Mensch kann ernsthaft annehmen, daß die daß Ihr Instrument rechtlich ins Leere läuft, dann Gebietsreformen in Ostdeutschland in einem Jahr können Sie auch nicht mehr sagen, Sie setzten sich für abgeschlossen sind. Insofern bewegen Sie sich hier im den Schutz der Leute ein, die 1990 unter demokrati- Kreis. schen Strukturen in die Verwaltungen gekommen sind. Das geht nur mit einem Modell, wie wir es hier (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und vorlegen. Und ich bitte Sie darum, unserem Antrag dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zuzustimmen. Die Sozialdemokraten sehen in der Tat das Problem, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ daß die Leute, die im Zuge der Demokratisierung der DIE GRÜNEN) öffentlichen Verwaltungen in Ostdeutschland einge- stellt worden sind und die dort Leistungsträger sind, Vizepräsident Helmuth Becker: Gestatten Sie noch beim Auslaufen der Bedarfskündigungsmöglichkeit eine Zwischenfrage des Kollegen Haschke? — Bitte. als erste in die Arbeitslosigkeit fallen und aus den Verwaltungen gedrängt werden. Diese Leute brau- Udo Haschke (Jena) (CDU/CSU): Herr Kollege chen wir. Das ist ein wichtiger politischer Punkt. Wir Schwanitz, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, haben Ihnen deshalb einen Änderungsantrag vorge- daß viele dieser Fälle vor den Arbeitsgerichten nicht legt. In diesem Änderungsantrag wird eine Vermu- Bestand haben trotz eindeutiger gesetzlicher Rege- tung formuliert; es wird auf den Mechanismus des lungen. Was glauben Sie, wie viele Fälle vor dem Kündigungsschutzgesetzes zurückgegriffen. Dort ha- Arbeitsgericht Bestand haben werden, die auf Grund ben wir bereits die Institution, daß man sehr wohl per einer geäußerten Vermutung vor den Kadi kom- Einzelfallentscheidung feststellen kann: Das Verblei- men? ben dieser Person im Arbeitsverhältnis ist für den Betrieb notwendig. Rolf Schwanitz (SPD): Herr Haschke, die Vermu- tung ist ein legitimes Rechtsinstitut, das es in vielen Wir wollen, daß für Bedienstete, die ab dem 6. Mai rechtlichen Regelungen gibt. Das ist nichts Neues. Ich 1990, dem Datum der ersten freien Wahlen im kom- frage Sie einmal zurück: Was vermuten Sie denn, wie munalen Bereich Ostdeutschlands, eingestellt worden viele Fälle vor dem Arbeitsgericht landen, wenn Ihr sind, das betriebliche Bedürfnis der Weiterbeschäfti- Gesetz durchkommt? gung vermutet wird. Wir wollen also eine Beweislast- umkehr im Rahmen dessen, was nach dem Kündi- (Beifall bei der SPD — Renate Rennebach gungsschutzgesetz dann ablaufen wird, und damit [SPD]: Jeder einzelne!) diese Personengruppe aus der Sozialauswahl nach dem Kündigungsschutzgesetz herausnehmen. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Es ist eine Vermutung, die gesetzlich festgeschrie- Dr. Burkhard Hirsch. ben werden soll, die natürlich widerlegbar ist. Denn jeder Mensch weiß, daß es Ausnahmen gibt. Der Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Arbeitgeber kann über eine Begründung dafür sor- Damen und Herren! Es gibt eine ganze Reihe von gen, daß eine Person diesen Vorteil nicht genießen ehernen Verwaltungsgesetzen, die Sie kennen: Par- kann, aber auch die Arbeitnehmer, denen nach unse- kinson, Murphy, Peter's Law. Ich habe den Eindruck, rem Modell das Kündigungsschutzrecht vollständig hier taucht ein weiteres dieser ehernen Verwaltungs- eingeräumt wird, können sich mit den gegebenen gesetze auf, nämlich: Je unangenehmer eine Ent- 17042 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Dr. Burkhard Hirsch scheidung ist, um so schneller wird sie einem anderen Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und zugeschoben. Herren, nächster Redner ist jetzt der Kollege Dr. Uwe-. Nach allem, was wir hier gehört haben, haben wir Jens Heuer. eine Entscheidung vor uns, die man nur falsch treffen kann. Entweder die F rist wird verlängert, dann wird Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- einem vorgehalten: Ihr verlängert die Unsicherheit dent! Meine Damen und Herren! Der Deutsche Beam- der Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, ihr greift in tenbund hat diesen Gesetzentwurf zutreffend als Arbeitsrechte ein. Oder die F rist wird nicht verlängert, politischen Willkürakt bezeichnet, und dieser Beam- dann wird gesagt: Ihr seid schuld daran, daß in der tenbund gilt ja doch wohl als staatstragend. verbleibenden Zeit noch schnell soundso vielen Leu- Es geht hier nicht einfach um einen Umbau der ten gekündigt wird, um die F rist auszunutzen. Verwaltung, es geht auch nicht einfach um den Abbau Was macht m an, wenn man nur eine falsche Ent- der in der DDR angeblich aufgeblähten Verwaltung; scheidung treffen kann? Man hält sich an die alte im eigentlichen Verwaltungsbereich arbeiten heute in Anwaltsweisheit: Im Zweifel entscheide man sich für Ostdeutschland mehr Menschen als in der DDR. Das das Richtige. Und das Richtige ist, daß jeder seine wurde schon von Herrn Koschyk gesagt. Es geht im eigene Verantwortung wahrnimmt. Das heißt, m an größten Umfang um den Abbau sozialer Dienste, die troffen muß die Entscheidung dahin tun, wo sie ge sich die Kommunen der armen DDR zum Nutzen ihrer werden muß. Bürgerinnen und Bürger geleistet haben, z. B. zur Gewährleistung des Rechts auf einen Kindergarten- Nun wissen wir, daß die ostdeutschen Länder die platz, den man sich heute offenbar nicht mehr leisten Frage, die wir hier behandeln, unterschiedlich bewer- kann oder will. ten. Die einen wollen eine Verlängerung, die anderen wollen keine Verlängerung, und die dritten äußern Möglicherweise ist der Strukturwandel der Verwal- sich nicht. Und darum ist die einzige Lösung, die man tungen in Ostdeutschland noch nicht ganz abge- in einer solchen Frage treffen kann, zu sagen: Wir schlossen. Möglicherweise müssen auch Kindergar- verlängern die F rist nicht selbst, sondern wir lassen tenplätze und damit Arbeitsplätze von Erzieherinnen den Ländern — die in ihrem eigenen Bereich entschei- abgebaut werden. Aber dann sollten doch bitte bei den müssen, ob sie damit zurechtkommen oder diesem Um- und Abbau der Verwaltung wenigstens nicht — die Möglichkeit, bis zum Ende des kommen- die allgemeinen Regeln des Kündigungsschutzes und den Jahres durch eine Verordnung eine Regelung zu der Mitbestimmung gelten, die sonst auch im öffent- treffen. lichen Dienst der Bundesrepublik Deutschland gel- ten. Die ersten drei Monate, die wir im Gesetz haben, sind ja — das haben Sie mit Recht bemerkt — ein rein (Beifall bei der PDS/Linke Liste) technischer Vorgang, um den ostdeutschen Landesre- Herr Hirsch, Sie haben hier gesagt, daß man die gierungen die technische Möglichkeit zu geben, die Entscheidung den Ländern überlasse. Aber der Bun- Diskussion bei sich abzuschließen und zu einer eige- destag entscheidet darüber, daß in Ostdeutschland nen Entscheidung zu kommen. Das ist der Sinn dieser anderes Recht gilt als in Westdeutschland. Das ist doch Regelung. ganz offensichtlich. Er erlaubt es den Ländern, aber er hat doch diese Entscheidung gefällt. Ich habe mich, Herr Kollege Schwanitz, mit Ihrem Vorschlag der Umkehr der Beweislast oder der Ver- (Zurufe von der CDU/CSU) mutungsregelung nicht anfreunden können. Man — Ja, Sie unterscheiden doch rechtlich, Sie machen greift in eine Fülle individueller Verhältnisse ein, die doch diese Unterschiede, nicht ich! man gar nicht bewerten kann. Man verändert prozes- Der Osten Deutschlands ist ein Reservat, in dem die suale Aussichten für den einen oder gegen den Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschl and nur anderen. Jede Stichtagsregelung hat ja eine Unge- eingeschränkt gilt, eine Art rechtsverdünnter Raum. rechtigkeit in sich. Warum soll sich bei demjenigen, Das war zunächst eine Entscheidung des Einigungs- der einen Tag früher eingestellt worden ist als der vertrages; dann haben wir das im Juni 1992 in diesem andere, die Beweislast umdrehen, bei dem anderen Hause verlängert. Verfassungsrechtliche Bedenken nicht? Darin kann ich keine ra tionale Lösung erken- wurden beiseite geschoben. nen. Herr Koschyk spricht in diesem Zusammenhang Unsere Antwort auf das Problem liegt eben in von Abspecken, wenn Leute in die Arbeitslosigkeit diesem Gesetzentwurf. Wir sagen, wir verlängern oder in den Ruhestand geschickt werden. Ich halte das nicht selbst, sondern wir tun die Entscheidung dahin, für eine unmenschliche Formulierung. wo sie allein beurteilt und ge troffen werden kann. Jetzt wird zum zweitenmal verlängert. Alle, denen Ich möchte allerdings für unsere Fraktion erklären, Arbeitnehmerinteressen auch in Westdeutschland daß wir einer weiteren Verlängerung der Frist über etwas bedeuten, sollten sich sehr genau überlegen, das Ende des nächsten Jahres hinaus nicht mehr wie sie sich zu diesem Gesetz verhalten. zustimmen werden und daß es nun wirklich das letzte Mal ist, daß wir uns hier mit dieser Angelegenheit Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Dr. Heuer, gesetzgeberisch befassen. gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Mit dieser Maßgabe werden wir dem Entwurf Hirsch? zustimmen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Aber ja. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17043

Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte, Kollege ich eigentlich auf Ihre Zustimmung gerechnet — doch Hirsch. sein, daß endlich ein einheitliches deutsches Kündi- gungsrecht durchgesetzt wird. Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Kollege Heuer, Der Koalitionsentwurf leistet das nun leider nicht, Sie sprechen von einem „rechtsverdünnten Raum". sondern schiebt dieses Ziel abermals hinaus; maßvoll Sie können doch nun wirklich an der Tatsache nicht — das will ich gerne sagen —, aber er tut es eben. Das vorbei, daß wir hier den einzig und allein verfassungs- ist ja nun auch der Grund dafür, daß der Deutsche rechtlich legitimierten Vertretern in jedem einzelnen Beamtenbund ihn abgelehnt hat, übrigens mit Verfas- der östlichen Bundesländer die freie Entscheidung sungsbedenken. Wer das hört, der wird j a auch Sorgen geben, wie sie mit der Kündigungsregelung umgehen kriegen, daß hier möglicherweise wieder eine Flut von wollen. Demokratischer kann man es doch nun wirk- Prozessen entstehen könnte. Ebenso tut es der Deut- lich nicht machen. sche Gewerkschaftsbund.

Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Herr Hirsch, Ich glaube, man sollte hier doch nicht nur auf die ich habe nur gesagt, daß die Abweichung von der Innenminister — oder einige Innenminister — hören, Grundsatzregelung für Ostdeutschland hier vorge- sondern auch auf die Betroffenen, und sich dem nommen wird, und das halte ich für eine Verletzung Vorschlag des Deutschen Beamtenbundes, der ja in des Gleichheitsgebotes. Wenn es hier nicht entschie- dem SPD-Antrag aufgegriffen wird, anschließen, eine den würde, hätten die ostdeutschen Länder eben nicht Schutzklausel zugunsten derer, die nach dem 6. Mai die Entscheidung. Insofern meine ich schon, daß die 1990 in den öffentlichen Verwaltungsdienst eingetre- Entscheidung hier gefällt wird. Es gibt auch Beispiele ten sind, aufzunehmen. Es stimmt, Herr Hirsch, was aus anderen Bereichen, z. B. der Kultur, wo zunächst Sie über Stichtage gesagt haben; aber es gibt sinn- im Osten Einrichtungen beseitigt wurden und besei- volle, und es gibt weniger sinnvolle. Der 6. Mai 1990 tigt werden konnten, weil sich im Westen keine ist gewählt worden; da war die Kommunalwahl. Das solidarische Hand rührte, und wo jetzt — siehe Schil- halte ich immerhin für sinnvoll und bedenkenswert. lertheater in Berlin — im Westen weitergemacht Wer also etwas meines Erachtens Nützliches tun wird. will, der sollte diesen Vorschlag der Kolleginnen und Der Deutsche Beamtenbund hat vor einem uner- Kollegen der SPD und des Deutschen Beamtenbundes träglichen Vertrauensverlust bei den Betroffenen und unterstützen. Das würde, glaube ich, vielleicht nicht vor der Gefahr gewarnt, daß sich hier Vorbehalte alle Probleme lösen, aber einer Lösung etwas näher gegenüber dem Rechtsstaat aufbauen. Ich kann das bringen können. nur unterstreichen. Wir werden genau beobachten, Danke. wie sich die Landesregierungen, namentlich die SPD- geführte in Brandenburg — und dann vielleicht auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schon in Sachsen-Anhalt —, im Wahljahr verhalten und bei der SPD) werden. Herr Koschyk hat gesagt, wir stehen erst am Anfang. Ich befürchte, es wird so weitergehen. Ostdeutsche Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich sollen weiter Bundesdeutsche auf Probe sein in unab- lässiger Prüfung, ob sie geeignet sind und ob ihre schließe die Aussprache. Leistungen in der Anpassungsfortbildung — das ist im Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung Osten ein gebräuchlicher Beg riff wie Buschgeld — über den von den Fraktionen der CDU/CSU und auch genügend sind. F.D.P. eingebrachten Gesetzentwurf zur weiteren Wir leimen das Gesetz entschieden ab. Verlängerung der Kündigungsmöglichkeiten in der öffentlichen Verwaltung. Das sind die Drucksachen (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Hartmut 12/6120 und 12/6308. Koschyk [CDU/CSU]: Wir sind ganz über- rascht!) Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/6310 vor, über den wir zuerst Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Herren, letzter Redner in dieser Debatte ist unser SPD? — Die Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Kollege Dr. Wolfgang Ullmann. Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ausschußfassung zustimmen wollen, um das H and- NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die zeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltun- Kündigungsregelung des Einigungsvertrages war gen? — Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der eine situationsbedingte Ausnahmebestimmung. Koalitionsfraktionen in zweiter Beratung angenom- (Udo Haschke [Jena] CDU/CSU: Eine not- men. wendige!) Wir kommen zur Wer nun miterlebt hat, Herr Hirsch, wie sich im dritten Beratung Rechtsausschuß Ihre schöne Formel „aber bestimmt zum letztenmal" immer wiederholt und wie sich durch und Schlußabstimmung. die Wiederholung von Ausnahmeregelungen Rechts- Wie wir bereits zu Beginn der Debatte mitgeteilt verschlechterungen einschleichen, der wird hier Sor- haben, wünscht die Gruppe PDS/Linke Liste nament- gen haben und wird wie ich in dieser Sache meinen, liche Abstimmung. Nach unserer Geschäftsordnung die gesetzgeberische Hauptaufgabe muß — da hätte kann eine namentliche Abstimmung nur von einer 17044 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Vizepräsident Helmuth Becker Fraktion oder von anwesenden fünf vom Hundert der in Bosnien, von der täglichen Angst ums Überleben Mitglieder, das sind 34 Abgeordnete, verlangt wer- und den Bedrohungen durch Hunger, Kälte und den. Ich stelle daher die Frage: Wer unterstützt den Granaten befreit zu sein. Die Hoffnungen, die wir alle Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf namentliche uns im Sommer dieses Jahres im Hinblick auf eine Abstimmung? — Das sind zwölf Mitglieder des Hau- Lösung am Genfer Verhandlungstisch gemacht ses. Damit wird die Schlußabstimmung nicht nament- haben, sind leider unerfüllt geblieben. lich durchgeführt. Unter dem Druck des Winters wird humanitäre Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim- Hilfe noch wichtiger. Alle humanitäre Hilfe aber stellt men wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? keine Lösung dar. Sie stellt genauso wenig eine — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist mit Lösung dar wie die Vorstellung — welcher Kriegspar- den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die tei auch immer —, militärisch sei dieser Konflikt zu Stimmen der SPD und der beiden Gruppen in dritter gewinnen. Nicht nur, daß Aggressoren nicht belohnt Lesung angenommen. werden dürfen, auch die vielfältigen Verflechtungen Meine Damen und Herren, interfraktionell ist ver- der Volksgruppen in geographischer Hinsicht machen einbart worden, die heutige Tagesordnung um die eine Verhandlungslösung unabdingbar. Darüber be- Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, steht in Europa wohl auch Konsens. SPD und F.D.P. sowie der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE Dennoch beschleicht mich Unbehagen, wenn ich GRÜNEN auf Drucksache 12/6314 zur Winterhilfe für hiervon rede, hat doch all diese schöne Erkenntnis Bosnien zu erweitern. Dieser Antrag soll zusammen bisher nicht zu einer Beendigung der Kämpfe geführt. mit dem Tagesordnungspunkt 8 in verbundener Bera- Das Embargo gegen Serbien tung behandelt werden. Sind Sie damit einverstan- zeigt zwar seine wirt- schaftlichen Wirkungen, militärisch sind die Serben, den? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. d. h. die Republik Serbien und die bosnischen Serben, jedoch nach wie vor gut gerüstet. So l ange, bis die (Unruhe) letzte Kugel aus den militärischen Vorräten der Tito- — Ich bitte um Ruhe und diejenigen, die sich auf dem Armee verschossen und das letzte Pulver verbraucht Mittelgang befinden, die Plätze einzunehmen. ist, können wir, können vor allem die Menschen dort (Vorsitz: Vizepräsidentin Renate Schmidt) nicht warten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Ich rufe jetzt Deswegen ist die deutsch-französische Ini tiative zur Tagesordnungspunkt 8 und den soeben aufgesetzten Fortsetzung der Genfer Verhandlungen Zusatzpunkt auf: und zum Erreichen eines erfolgreichen Abschlusses dieser Ver- Beratung der Beschlußempfehlung und des handlungen richtig. Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- schuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Gerd Ich sage dies, obwohl es mir im Inneren widers trebt, Poppe, Vera Wollenberger, Werner Schulz Serbien Zugeständnisse beim Embargo zu machen, (Berlin) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE solange der Konflikt nicht vollständig beendet ist. GRÜNEN Jedenfalls muß und darf nicht eine Festschreibung von Zur aktuellen Situation im Krieg in Bosnien- Gebietsverzichten mit dem Bajonett erzwungen Herzegowina werden. Im Vordergrund muß aber die Rettung von Menschenleben stehen. Ich glaube, daß dies mit der — Drucksachen 12/5729, 12/6206 — gemeinsamen Initiative der Europäischen Union zum Berichterstattung: jetzigen Zeitpunkt am ehesten zu erreichen ist. Abgeordnete Chris tian Schmidt (Fürth) Karsten D. Voigt (Frankfu rt) Letztendlich liegt es jedoch an den Serben und auch Ulrich Irmer an den anderen Konfliktparteien, eine Bereitschaft Gerd Poppe zum Einlenken zu zeigen. Ich müßte lügen, wenn ich sagen würde, ich hätte keinen Zweifel daran, daß die Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ Serben zu solch einem substantiellen Einlenken bereit CSU, SPD und F.D.P. sowie der Gruppe BÜND- sind. NIS 90/DIE GRÜNEN zur Winterhilfe für Bos- nien — Drucksache 12/6314 — Die Belgrader Zeitung „Politika" hat am 8. Novem- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist ber eine sogenannte Präsentation eröffnet, die in dafür eine gemeinsame Aussprache von einer Stunde Zusammenarbeit mit — wie es dort heißt — „einigen besonderen wich ti vorgesehen. Sind Sie mit dieser Beratungszeit einver- gen staatlichen und akademischen standen? — Dies ist der Fall. Dann ist das so beschlos- Institutionen" entstanden ist. Dieser sogenannten Prä- sen. sentation folgt eine Landkarte, die den großserbi- schen Vorstellungen über „mit dem Bajonett gezo- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem gene Grenzen" entsprechen soll. Die Karte stellt dem Kollegen Christian Schmidt das Wort. Bosnien-Herzegowina in einem Ausmaß als serbi- sches Gebiet dar, das die bisher diskutierten Ambitio- Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Frau Präsi- nen Serbiens wieder weit übersteigt. Kroatien redu- dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! ziert sich auf dieser Karte unter anderem um bedeu- Wieder einmal befaßt sich der Deutsche Bundestag tende Teile Dalmatiens und weist ihm neben einigen mit der Situation in Bosnien-Herzegowina, und noch kleinen dalmatinischen Küstenstreifen um Split und immer nicht ist das Wichtigste geschafft: der Frieden Dubrovnik lediglich ein Staatsgebiet etwa von der und die Möglichkeit für die Millionen von Menschen Größe Sloweniens rings um Zagreb zu. Von diesen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17045

Christian Schmidt (Fürth) Grenzziehungsträumen muß sich Herr Milosevic wohl sollten ihrer Bevölkerung deutlich machen, daß vom vorher verabschieden. benachbarten kleinen Mazedonien eine Gefahr für die territoriale Integrität Griechenlands nicht aus- Auch die zwischenzeitlich eingetretene Situation, geht. daß nahezu jeder gegen jeden kämpft nach dem Motto: Rette sich wer kann, ändert nichts an der (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Verantwortlichkeit Serbiens dafür, daß es mangels SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) politischer Fähigkeiten mit dem primitivsten und Sollte jemals solch eine Gefahr auch nur ansatzweise menschenverachtendsten aller Mittel seine Interessen auf Kosten anderer durchzusetzen erstrebt hatte und und theoretisch erwartet werden können, stünde die Europäische Union, aber auch die NATO in klarer immer noch erstrebt. Linie. Immer noch werden die Hoffnungen auf eine koor- Aber, meine lieben griechischen Kolleginnen und dinierte gemeinsame Aktion der Europäer gerichtet; Kollegen: Zündeln Sie nicht. Rufen Sie keine Gefahr ich hatte dies bereits betont. Die Beschlußfassungen in herbei, die nicht besteht, und beschwören Sie keine der KSZE in Rom von dieser Woche sind hilfreich, aber Gefahr herauf, wo manche in Ihrem Land sie gerne nicht entscheidend. Entscheidend wird sein, daß die hätten. Besinnen Sie sich der Verantwortung, die Sie im Rahmen der gemeinsamen Außen- und Sicher- im ersten Halbjahr 1994 für die gesamte Europäische heitspolitik der Europäischen Union nun als gemein- Union zu übernehmen haben. Die Präsidentschaft der same Aktion definierte Bosnienpolitik genügend Europäischen Union zu übernehmen heißt, berechen- Nachhaltigkeit erhält, um die Genfer Verhandlungen bar zu sein. Wir werden in diesem Hause auf diese zu einem Erfolg zu führen. Frage bei der Diskussion über die WEU-Assoziierung Moral allein hilft nicht weiter, weil die zu Mahnen- Griechenlands sicherlich noch zurückkommen. den für sich durch ihre Taten jede moralische Katego- Zurück zur aktuellen Problematik der humanitären rie abgestreift haben — und ist der Ruf erst ruiniert, so Versorgung. Ich bin definitiv dafür, daß Hilfskonvois kämpft es sich offensichtlich gänzlich ungeniert. auch militärisch gesichert und verteidigt werden. Die Europäische Union muß auch die Initiative der Wenn wir nicht einmal dies schaffen, machen wir uns Administration gewisser Gebiete durch die Europäer mitschuldig. Dieses Anliegen ist uns allen so wichtig, offensiv aufnehmen und verhandeln. Hierzu gehört daß alle Fraktionen und die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE Mostar, ebenso eine Adminis tration von Sarajevo GRÜNEN sich gemeinsam den ursprünglichen Antrag durch die Vereinten Nationen. Es ist aber eine Condi- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN vorgenommen tio sine qua non, daß diese Administrationen dann haben, um ihn auszuweiten, der aktuellen Situation auch eine Durchsetzungsfähigkeit haben und nicht anzupassen und in einer gemeinsamen Initiative die nur eine Fassade bilden, hinter der in Wahrheit andere breite Unterstützung des Deutschen Bundestags als agieren. Vertretung aller Bürger deutlich zu machen. Deswegen fordern wir die Europäische Union auf, Wir wollen dies durch einen weiteren gemeinsamen sich bei den Genfer Verhandlungen ganz entschieden Antrag zur Winterhilfe in Bosnien unterstreichen. Bei nicht nur für die Sicherung der humanitären Hilfe, dieser Gelegenheit müssen und wollen wir allen sondern darüber hinaus für eine Beendigung der Bürgern, die sich — in welcher Form auch immer — Kriegshandlungen in den nächsten Tagen einzuset- zur Unterstützung der notleidenden Menschen bereit zen und wenigstens als Mindestvoraussetzung eine erklären, Dank abstatten. Ich weiß aus eigener Kennt- Aussetzung der Konflikthandlungen, einen Waffen- nis, und viele in diesem Hause wissen es sicherlich stillstand über den Winter hinaus zu erreichen. ebenso, wieviel Engagement hinter solchen Initiati- ven steht: Geld wird gesammelt, Päckchen werden Erfreulicherweise hören wir heute aus Genf, daß gepackt, Carepakete werden gepackt, Lkws werden sich die Atmosphäre zwischen Moslems und Serben zur Verfügung gestellt, Kinder, Senioren und Bet riebe verbessert haben soll und daß man mit Zuversicht in basteln für ihre Weihnachtsfeiern und sammeln für die die Verhandlungen am 15. Dezember gehen wird. Menschen in Bosnien. Aber auch den Soldaten der Atmosphäre allein bewegt noch nichts — die Bereit- Bundeswehr, die Nacht für Nacht und soweit möglich schaft zur Konfliktlösung bleibt entscheidend. Es ist zu Tag für Tag Hilfsgüter nach Bosnien fliegen, sei für hoffen, daß trotz der vorhin zitierten serbischen Posi- ihren Einsatz, der nun wahrlich nicht ohne Gefahren tion und auch mancher Äußerungen aus dem bosni- ist, gedankt. schen und kroatischen Bereich die Initiativen der EU zu einem Erfolg führen. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) In diesem Zusammenhang darf sich die Europäische Union aber keine offenen Flanken leisten. Sie muß Wir unterstützen und begrüßen diese Initiativen. Sie insbesondere deutlich machen, daß eine Ausdehnung unterstreichen auch, daß jeder für sich schon eine serbischer Expansionspolitik oder Diskriminierungs- kleine Möglichkeit hat, mit seinen meist bescheide- politik gegenüber Minderheiten im Kosovo und auch nen, aber doch hilfreichen Mitteln das Überleben der im benachbarten Mazedonien keine Chance haben Menschen zu sichern. darf. Die Ausdehnung der Finanzmittel für die humani- Auch muß die griechische Regierung deutlich davor täre Hilfe durch KSZE, Europäische Union und Bun- gewarnt werden zu glauben, sie könne im europäi- desregierung ist das eine. Die durch und durch huma- schen Verbund ihr eigenes Süppchen kochen. Die nitäre und christliche Gesinnung, die aus der großen griechischen Politiker, insbesondere die Regierung, Hilfsbereitschaft unserer Mitbürger erkennbar wird, 17046 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Christian Schmidt (Fürth) eines der wenigen Zeichen der Hoffnung und Ermu- Einheitliche Friedensbemühungen der EU sind in tigung für die Zukunft, ist das andere. der Tat dringend erforderlich. Europas Krebsge- Ich möchte diesen heutigen Tag nutzen, von dieser schwür auf dem Balkan könnte weitere Opfer fordern, Stelle aus an alle Bürgerinnen und Bürger in der wenn sich erst in anderen Regionen Metastasen des Bundesrepublik Deutschland zu appellieren: Bitte im ehemaligen Jugoslawien etablierten Werteverfalls vergessen Sie die Menschen in Bosnien nicht. Wenden gebildet haben: militärische Interessendurchsetzung Sie sich nicht von den Menschen ab, auch wenn die statt Konfliktlösung auf dem Verhandlungsweg, Her- Politik mit ihren Lösungsansätzen mehr oder weniger stellung ethnisch homogener Gebiete durch Vertrei- versagt hat. Helfen Sie mit, eine bessere europäische bung statt Gewährung von Minderheitenrechten, Zukunft, die wir alle für uns in Anspruch nehmen, hemmungsloser Nationalismus statt nachbarschaftli- auch nach Bosnien dringen zu lassen. Ich sagte: cher Beziehungen. Ein sich um Vereinigung bemü- Humanitäre Hilfe ist nicht alles, aber sie ist ein hendes Europa ist zum Scheitern verurteilt, wenn es Wesentliches in diesem schlimmen Winter, der in die Charta von Paris praktisch aufgibt. Bosnien bevorsteht. Für dieses Engagement haben Angesichts der grauenhaften Ereignisse des Bal- wir uns alle schon jetzt bei Ihnen recht herzlich zu kankrieges müssen wir uns eingestehen: Die Europäi- bedanken. sche Union droht zum moralischen und politischen (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Verlierer des Konflikts zu werden, weil sie durch SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Uneinigkeit und Unentschlossenheit viel zu lange zugelassen hat, daß in Europa die elementarsten Menschenrechte unter den Militärstiefeln zertreten Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster werden. spricht der Kollege Dr. Eberhard Brecht. Es ist jedoch nicht möglich, moralische Rigorosität zur einzigen Richtschnur politischen Handelns zu Dr. Eberhard Brecht (SPD): Frau Präsidentin! Meine erheben. Wir stehen nämlich auch in der Gefahr, daß sehr verehrten Damen und Herren! Die letzten Worte die nur als Absichtserklärungen fixierten Normen an des Kollegen Schmidt führen mich zu einer noch mehr der Macht des brutal Faktischen zerschellen und philosophischen Be trachtung über die Frage des Ver- inflationär verkommen. In unserem gemeinsamen sagens der Politik. Trotz der Politikverdrossenheit hat Antrag verlangen wir gleichberechtigte Verhandlun- die deutsche Öffentlichkeit den Glauben an die Omni- gen aller Konfliktparteien und die Nichtanerkennung potenz der Politik, die sie weiß Gott nicht hat. Konse- von gewaltsamen Gebietseroberungen. Doch stellen quenterweise wird die Impotenz der Politik, die Herr der Vance-Owen-Plan oder die „Invincible"-Abma- Kollege Schmidt eben beschrieben hat, gerade im chungen nicht gerade jene Belohnung von gewaltsa- Umgang mit dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien men Grenzverletzungen dar, die wir hier und andern- kritisiert und jedes Mitgefühl von Politikern, jede orts verbal zurückweisen? Wenn die bosnischen Mus- Trauer, jede Wut über die Greuel in Bosnien-Herze- lime heute bereit sind, einer Weiterverhandlung auf gowina als Zynismus gegeißelt. der Grundlage der „Invincible"-Gespräche zuzustim- men, sind sie sicherlich realitätsnäher als manche Zuweilen versteigt sich ein Kritiker zu der Behaup- unserer Anträge. tung, daß Deutschland oder die EG, die KSZE oder die UNO die Schuld am Morden, am Quälen, am Hun- Eher pragmatisch sieht auch der deutsch-französi- gern, am Frieren in Bosnien-Herzegowina trügen, als sche Vorschlag aus: ein Stück — genauer gesagt: stünde nicht hinter dem Desaster an der Ad ria jene 3,7 % — Land für die muslimischen Bosnier gegen irrationale Ideologie, eine Embargolockerung. Nur, wer garantiert die Unumkehrbarkeit dieses Eigentumswechsels? Schon (Staatsminister Helmut Schäfer: So ist es!) jetzt, während der Verhandlungen, verstärken die für die eigene Ethnie einen homogenen Siedlungs- Serben ihre militärischen Aktionen, insbesondere raum gewaltsam durchsetzen zu müssen. durch den Beschuß von Teocak, Zvornik und Tuzla, (Beifall bei der SPD und der F.D.P. sowie bei um weitere Gebietsansprüche gewaltsam durchzuset- Abgeordneten der CDU/CSU) zen. Sicherlich muß man den europäischen Regierungen Das Zustandekommen und insbesondere der Ver- Fehler und vor allem Unterlassungen vorhalten. Noch lauf der Verhandlungen in Genf geben jenen recht, unerträglicher sind jene, die ihre moralische Überle- die militärische Lösungsversuche als untaugliches genheit über die politisch Verantwortlichen durch die Mittel ablehnten und statt dessen auf das Embargo in eigensüchtige Benutzung von Opfern zu dokumentie- seiner Dauerwirkung setzten. Sicherlich kann ange- ren suchen. sichts der enormen Bevorratung der serbischen Armee mit Treibstoff und Muni tion keine Schwä- Die Europäische Union hat in den letzten Tagen chung der militärischen Schlagkraft der serbischen einen ihrer früheren Fehler korrigiert. Das gegensei- Milizen erwartet werden. Im Gegenteil: Die Umset- tige Mißtrauen gegenüber einer vermeintlich interes- zung der Sicherheitsrats-Resolution 757 führte senbestimmten Politik des Nachbarn wurde abgelöst zunächst einmal zu einer relativen und auch absoluten durch eine gemeinsame Verhandlungsstrategie in Schwächung der sich verteidigenden Moslems. Nun Genf. Das Auswärtige Amt hat hieran einen erhebli- aber wurde die serbische Seite angesichts der wirt- chen Anteil, was zweifelsohne die Würdigung dieses schaftlich katastrophalen Lage Restjugoslawiens zu Hauses und aller Fraktionen verdient. einer bis dahin nicht gekannten Beweglichkeit bei (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der den Verhandlungen gezwungen. Die Europäische F.D.P.) Union ist deshalb gut beraten, dieses einzige Druck- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17047

Dr. Eberhard Brecht mittel, das uns überhaupt zur Verfügung steht, nicht die Soldaten anschließen, den Kollege Schmidt eben leichtfertig aus der Hand zu geben, sondern nur schon ausgesprochen hat. schrittweise gegen substantielle Verhandlungser- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der folge abzubauen. F.D.P. und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN) Hauptkonfliktpunkte für die geplante Wiederbele- bung der Londoner Konferenz aber bleiben die serbi- Wirksamer ist natürlich der Transport von Nah- schen Gebietsabtretungen, der Zugang zum Meer für rungsmitteln auf dem Landwege. Die Niederländer die moslemische Teilrepublik bei Neum, das Schick- und die Dänen haben sich hierbei mutig gezeigt, sal der Stadt Sarajevo, die vom Kollegen Schmidt indem ihren Blauhelmsoldaten für die Hilfstransporte schon benannte Einrichtung des UNO-Protektorats in die Möglichkeit der „mission defense" eingeräumt Sarajevo und des Protektorats der EU in Mostar, eine wurde. Wenn zusätzlich die Militärs der Kriegspar- Einigung über die Krajina und — last not least — die teien — wie zugesagt — geschützte Korridore für Zukunft des Kosovo. Ich kann nur davor warnen, ein humanitäre Hilfskonvois garantieren würden, könn- abschließendes Friedensabkommen ohne eine Rege- ten bislang unberücksichtigte Städte und Dörfer mit lung für den Kosovo vorzusehen. Lebensmitteln, Brennmaterial und Medikamenten versorgt werden. Auf deutscher Seite sollten die für (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der den UNHCR und das Internationale Rote Kreuz erfor- F.D.P.) derlichen 10 Millionen DM für weitere humanitäre Hilfe beschafft werden. Wenn dem Wunsche von Milosevic folgend die Euro- In dem vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN initiierten päische Union den Kosovo nur als inneres Problem Antrag fordern wir gemeinsam die Bundesregierung Serbiens betrachtet, also diesen Konfliktherd bei wei- auf, den für die Absicherung des Projektes „Deut- teren Verhandlungen herausläßt, kann eine Ausdeh- scher Konvoi" notwendigen Betrag im Haushalt 1994 nung des Krieges im ehemaligen Jugoslawien nicht festzuschreiben. Auf diese Weise könnten die von ausgeschlossen werden. Ich erinnnere hier an ein- vielen Bundesbürgern gespendeten Hilfsgüter die schlägige Beistandspakte. Opfer des Krieges auch erreichen. Meine Damen und Herren, insbesondere verwun- Insgesamt ist die Hilfsbereitschaft von Privatpersonen dert mich der bislang gepflegte Umgang der Europäi- und NGOs in Deutschland beachtlich. Um so mehr schen Union mit der kroatischen Seite. Da kann muß es befremden, wenn p rivate Hilfspakete für die Präsident Tudjman reguläre kroatische Truppen zum jugoslawische Bevölkerung neuerdings durch einen Kampf nach Bosnien-Herzegowina führen, sich mit neuen hohen Paketpreis der Post behindert werden. den Serben gegen die Moslems verbünden, Bobans Herr Minister Bötsch sollte seinen Post-Reformeifer kroatische Milizen unterstützen, barbarische Men- nicht so weit treiben, daß er darüber solch nebensäch- schenrechtsverletzungen wie die von Stupni Do lich erscheinende Probleme vergißt. dulden und schließlich humanitäre UNPROFOR- Besonders wichtig wäre die von meinem Kollegen Hilfstransporte und die Transporte von Schwerver-- Duve immer wieder geforderte Öffnung des Flugha- wundeten an der Weiterfahrt hindern, ohne daß fens von Tuzla. Die Bundesregierung wird aufgefor- dagegen ernsthaft vorgegangen wird. dert, auf der Wiederinbetriebnahme des Flughafens von Tuzla gegenüber der serbischen Verhandlungs- Dabei hätte die Bundesregierung durch die mögli- seite, insbesondere gegenüber Herrn Karadzic, zu che Streichung der ca. 400 Millionen DM Wirtschafts- bestehen. Immerhin könnte man über diesen Flugha- hilfe ein Mittel in der Hand, um die Durchfahrt von fen den dort lebenden 800 000 Menschen eine bessere Hilfstransporten durch kroatisch kontrolliertes Gebiet Überlebenschance eröffnen. zu erzwingen. Natürlich können wir die bosnischen Flüchtlinge in Kroatien nicht zu Geiseln machen, Trotz aller positiv zu bewertenden humanitären indem die von Deutschland bezahlten 84 Millionen Anstrengungen Europas bleibt doch ein schwerer DM humanitärer Hilfe reduziert oder gestrichen wer- Schandfleck zu beklagen: Wie gehen wir auf unserem den. Aber die erstgenannte Summe bet rifft nicht Kontinent mit den Kriegsflüchtlingen in Europa um? humanitäre Hilfsleistungen. Tragen einige unserer westeuropäischen Nachbarn durch ihre rigide Kontingentierung bei der Flücht- Ich kann auch kaum nachvollziehen, warum Präsi- lingsaufnahme nicht dazu bei, daß sich bei den dent Tudjman im Tausch für weitere Verhandlungs- bosnischen Moslems nun endgültig ein Gefühl der kompromisse zusätzliche Wirtschaftshilfen durch die Zurückweisung und des Verrats breitmacht? EU offeriert werden. Als ein exemplarisches Beispiel menschlicher Ver- bitterung möchte ich ein paar Sätze aus einem Aufsatz Meine Damen und Herren, um die Chance für ein des moslemischen Schriftstellers Dzevad Karahasan Überleben der Menschen in Bosnien-Herzegowina in zitieren, der über seine Heimatstadt Sarajevo schreibt diesem Winter zu erhöhen, müssen wir Europäer — ich zitiere —: weitaus mehr Anstrengungen als bisher unterneh- men. In diesem Zusammenhang ist es zu begrüßen, Seit eineinhalb Jahren also liegt nun vor unser daß die Bundesregierung nun eine zweite Transall- aller Augen eine Stadt im Sterben, die in das Maschine für den Abwurf von Hilfsgütern über den größte Konzentrationslager aller Zeiten verwan- abgeschnittenen bosnischen Enklaven zur Verfügung delt wurde. Eine Stadt, die nicht nur ihren Ein- stellt. Ich möchte mich hier ausdrücklich dem D ank an wohnern, sondern auch Menschen, die nur vor- 17048 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Dr. Eberhard Brecht übergehend dort lebten, ans Herz gewachsen ist. wirklich zu einem Frieden führen? Plausible Wahr- Eine Stadt, deren Identität vor allem durch innere scheinlichkeitsüberlegungen sprechen eher dagegen. Offenheit geprägt ist, die sie ihrem multikulturel- Doch wer jedesmal das Licht am Ende des Tunnels als len Charakter verdankt, und die dank dieser zu schwach befindet, der wird nie ins Freie gelan- inneren Offenheit imstande war, jeden aufzuneh- gen. men und jedem im buchstäblichen Sinn des Ich bedanke mich. Wortes HEIMAT zu sein .. . (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Während ich das langsame Sterben meiner Stadt F.D.P.) mit eigenen Augen ansehen mußte, tröstete ich mich mit dem oft gelesenen Satz, daß eine Stadt, welche die Menschen lieben, unsterblich sei. Ich Vizepräsidentin Renate Schmidt: Jetzt spricht der tröstete mich am Beispiel antiker Städte, die auch Kollege Burkhard Zurheide. dann noch weiterlebten, als ihre Bewohner den Ort bereits verlassen hatten, an dem die Stadt Burkhard Zurheide (F.D.P.): Frau Präsidentin! einst physisch existiert hatte . . . Meine Damen und Herren! Die F.D.P.-Bundestags- Wichtig ist es also, das Herz Sarajevos zu retten, fraktion begrüßt die deutsch-französische Initiative, wichtig ist es, seine Multikulturalität in die die zur Wiederaufnahme der Gespräche zur Verbes- Fremde mitzunehmen und auch seine innere serung der humanitären Situation in Bosnien-Herze- Offenheit . . . gowina geführt hat. Niemand allerdings kann eine Garantie dafür übernehmen, daß am Ende der wieder Meine Hoffnung währte jedoch nicht lange, da es aufgenommenen Gespräche tatsächlich der langer- sich zeigte, daß niemand Unglückliche um sich sehnte Frieden steht. Aus humanitären und politi- duldet .. . schen Gründen wäre es aber unverzeihlich gewesen, Dieselben Staaten, die von den Bürgern Bosnien- wenn diese Chance nicht ergriffen worden wäre. Herzegowinas ein Bekenntnis zum Zusammenle- (Beifall bei der F.D.P.) ben in einem multinationalen und multikulturel- Der Initiative haben sich alle zwölf Mitgliedsländer len Staat gefordert hatten, die deren Staat nach der Europäischen Union angeschlossen. Vielleicht einem Referendum, bei dem sich 65 % der Bevöl- stellt diese Initiative die letzte Chance für die Bürger- kerung in diesem Sinne ausgesprochen hatten, kriegsparteien dar, den Krieg, den militärisch keine anerkannten, blockieren fast jede Initiative, mit der Parteien gewinnen kann, zu beenden. der man diesen unglücklichen Menschen helfen möchte; dieselben Staaten, die jeden Versuch Das, was die Zivilbevölkerung in den betroffenen einer Hilfe für Bosnien-Herzegowina unterbin- Gebieten erlitten hat und täglich von neuem erleidet, den, verbieten Menschen mit bosnischem Paß das ist unerträglich. Der bevorstehende Winter würde zu Betreten ihres Territoriums. weiteren unsagbar schweren Leiden führen, wenn dieser Krieg nicht endlich aufhört. Natürlich ist es Dieses sind die Worte eines moslemischen Schriftstel- - beschämend, daß ein solch grausamer und schmutzi- lers. ger Krieg mitten in Europa, im Herzen Europas Leider beteiligt sich offenbar auch die Vertretung stattfindet. Ja, es ist beschämend, daß er überhaupt Bosniens in Deutschland an einer flüchtlingsfeindli- stattfinden kann. Aber es hilft nichts. Es gibt diesen chen Politik. Sie verlangt im Regelfall für einen neuen Krieg, und er konnte bis zum heutigen Tage nicht Paß 400 DM, eine Summe, die ein Flüchtling kaum beendet werden. aufzubringen vermag. Die Bundesregierung sollte auf Die F.D.P.-Bundestagsfraktion dankt Bundesau- die bosnischen Behörden einwirken, damit diese Pra- ßenminister Kinkel ausdrücklich dafür, daß er trotz xis nicht fortgesetzt werden kann. ungewissen Ausgangs diesen humanitären Aktions- plan initiiert hat und dadurch zumindest Bewegung in (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die seit zwei Monaten völlig festgefahrene Situation gebracht hat. Meine Damen und Herren, in Genf wird wieder (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne verhandelt. Diese Tatsache allein ist keinesfalls ein ten der CDU/CSU) Fortschritt an sich, so wie das Lord Owen und Stolten- berg meinen. Wie oft mußte die Welt erfahren, daß Dies ist im übrigen auch ein Verdienst der deutschen langwierige Verhandlungsrunden zur S trategie der Diplomatie, die still, aber sehr effizient einen ent- serbischen Seite gehörten: möglichst große Landge- scheidenden Beitrag zur Wiederaufnahme der Ge- winne erreichen und gleichzeitig den Zorn der Völ- spräche geleistet hat. Die Europäische Union hat kergemeinschaft begrenzen, indem man ja prinzipiell damit den Bürgerkriegsparteien eine weitere Tür, die Verständigungsbereitschaft signalisiert! Bei dieser schließlich zum Frieden führen kann, geöffnet. Verhandlungsrunde, die am heutigen Tag in Genf Die Europäische Union kann die Bürgerkriegspar- unterbrochen wurde, ist aber dennoch Hoffnung teien nicht zwingen, diese Tür jetzt auch zu durch- angebracht. Die Verständigung über eine völlige schreiten. Sie hat aber den Beteiligten deutlich Bewegungsfreiheit von UNPROFOR, UNHCR und gemacht, daß dies die letzte Tür sein könnte. Die dem Internationalen Roten Kreuz und die prinzipielle Beendigung der Kriegsleiden und schließlich des Akzeptanz der Verhandlungsgrundlage der Europäi- Krieges selber ist ein quälender, mühsamer und schen Union stellen einen erheblichen Fortschritt dar. natürlich viel zu langsam verlaufender Prozeß. Er Doch werden die Gespräche in Genf und London entwickelt sich nur Schritt für Schritt, und mit Rück- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17049

Burkhard Zurheide schlägen muß ständig gerechnet werden. All die umgesetzt. Die beschlossenen Sanktionen stellen hämischen und besserwisserischen Äußerungen in doch ein Druckmittel zur Erzwingung bestimmter den letzten Tagen, die angesichts dieser neuen Initia- Verhaltensweisen dar. In der Logik eines Druckmit- tive gefallen sind, mögen in einem gewissen Sinne tels liegt es, daß seine zunächst schrittweise, dann populär sein. Jeder, der meint, man solle die Men- endgültige Rücknahme erfolgt, wenn das Verhalten, schen im früheren Jugoslawien doch besser sich das erzwungen werden soll, an den Tag gelegt wird. selber überlassen, weil m an ohnehin nichts bewirken Wäre dies nicht so, so verlören Sanktionen ihren könne, aber auch all diejenigen, die in völlig undiffe- Charakter als Druckmittel und würden untauglich. renzierter Schwarzweißmalerei einer finalen Militär- Mit der Suspendierung von Sanktionen, für die aktion das Wort reden, obwohl sie wissen oder wissen zunächst noch die Voraussetzungen geschaffen wer- müßten, daß es eine solche Lösung in Wirklichkeit den müßten, ginge überhaupt nichts verloren: Der nicht gibt, mögen hoffentlich mit sich selber im reinen Sanktionsbeschluß selbst bliebe nämlich bestehen. sein; Meine Damen und Herren, die F.D.P.-Bundestags- (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der fraktion begleitet die Bemühungen des deutschen SPD) Außenministers mit voller Unterstützung. Man mag es drehen und wenden, wie man will: Die Kinkel- der entsetzlich leidenden Bevölkerung in den Bürger- Juppé-Initiative stellt die einzige verantwortbare kriegsgebieten wird dadurch aber in keiner Weise Möglichkeit dar, sofort wirksam humanitär zu helfen geholfen. und den Krieg durch Verhandlungen schließlich viel- Die deutsche Außenpolitik — wertorientiert und leicht doch noch zu beenden. Euphorie wäre völlig ihre Verantwortung erkennend — tut mit dieser Initia- fehl am Platze. Selbst vor Optimismus sollten wir uns tive genau das, was richtig und gegenwärtig möglich angesichts der Umstände hüten. Wir können nur ist, damit dieses Elend mitten im Herzen Europas bald inständig hoffen und unseren Beitrag dazu leisten, daß ein Ende findet. Die Erkenntnis, daß sich der Konflikt diese Initiative Erfolg haben wird. von außen nicht militärisch lösen läßt, fällt angesichts Vielen Dank. der Zustände im früheren Jugoslawien schwer. Vor- rang muß jetzt eine schnelle Verbesserung der huma- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU nitären Situation haben. Dann muß eine politische sowie bei Abgeordneten der SPD) Lösung angestrebt werden. Ein jeder, der sich dieser Erkenntnis nicht verwei- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun erhält Gerd gert und sich gleichzeitig der Mühe unterzieht, statt Poppe das Wort. starker Worte Schritt für Schritt und mit Festigkeit vorzugehen, und damit starke Taten unternimmt, setzt Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau sich der Gefahr aus, fahrlässig oder auch vorsätzlich Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich stimme mißverstanden zu werden. Er kann und muß dies aber Außenminister Kinkel zu, wenn er sagt, daß in den ertragen; denn er weiß, daß dies angesichts nicht gerade wieder angelaufenen Genfer Verhandlungen vorhandener Alternativen der einzige verantwortbare „die humanitäre Problematik absolut im Vordergrund Weg ist, die Leiden für die Bevölkerung zu beenden stehen müsse". und schließlich den Frieden doch herbeizuführen. Zustimmen kann ich auch der Aussage, daß das Im früheren Jugoslawien sind entsetzliche Dinge Leben der Millionen von Hunger und Kälte bedrohten geschehen. Es hat die widerwärtigsten Kriegsverbre- Menschen durch humanitäre Hilfe allein nicht mehr chen gegeben. Keine Seite kann freigesprochen wer- zu retten ist, sondern daß in Verhandlungen nach den. Dies bedeutet nicht, daß in Vergessenheit gerät einer politischen Lösung gesucht werden muß. oder geraten darf, wer der Aggressor in diesem Krieg Die westeuropäische Gemeinschaft muß sich aller- war, von dem alles ausgegangen ist. dings fragen lassen, wieso sie wochenlang in Resigna- Sollte der von der Europäischen Union vorgelegte tion und Erstarrung verharrte, ehe es zur deutsch- Aktionsplan von den Bürgerkriegsparteien angenom- französischen Initiative kam. Schließlich ist seit lan- men werden, so sollten wir uns darüber im klaren sein, gem bekannt, welch schreckliche Folgen der Winter daß Deutschland bei der Implementierung mitwirken für die belagerten und von jeder Versorgung abge- muß. schnittenen Bosnier haben würde. ( [CDU/CSU]: So ist es!) So begrüßenswert der Versuch der Minister Kinkel und Juppé auch sein mag, so ist doch nicht zu Es wird unsere politische und moralische Verpflich- übersehen, daß er mit den Hypotheken einer insge- tung sein, all die Leistungen zu erbringen, zu denen samt fehlerhaften EG-Politik belastet ist. So ist neben wir rechtlich und tatsächlich imstande sind. Eine dem üblichen Quentchen Hoffnung, das wir bewah- schrittweise Suspendierung der Sanktionen gegen- ren wollen, trotz des nun erreichten Konsenses der über Serbien kann und wird natürlich erst dann Zwölf wohl eher Skepsis angebracht. erfolgen, wenn die Serben ihre militärischen Kräfte Nach der Erfahrung mit der bisherigen Verhand- vollständig aus dem dann moslemischen Gebiet abge- lungsführung kann das Angebot der schrittweisen zogen haben. Es ist schon verwunderlich, daß dieser Rücknahme von Sanktionen gegen Serbien leicht als Punkt in den letzten Tagen Gegenstand öffentlicher De-facto-Anerkennung gewaltsam veränderter Gren- Auseinandersetzungen war. zen, als Belohnung der Aggressoren mißverstanden In Wirklichkeit wird doch nichts anderes als der werden. Erwartungsgemäß verbuchen Karadzic und Sanktionsbeschluß des Sicherheitsrates in die Praxis Milosevic das Angebot der Europäischen Union als 17050 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Gerd Poppe Erfolg für sich. Während die ohnehin schwache demo- Es geht auch um die Beendigung der sogenannten kratische Opposition in Serbien weiter vergeblich auf ethnischen Säuberungen, um den allerletzten Ver- Unterstützung westlicher Regierungen wartet, nimmt such, wenigstens die Reste des multi-ethnischen Bos- der serbische Präsident die Wahlkampfhilfe der Euro- nien-Herzegowina zu bewahren, denn die gibt es päischen Union gelassen entgegen, um sogleich die noch, und das ist noch kein rein muslimischer Staat; sofortige und totale Aufhebung der Sanktionen zu und es geht darum, elementare Menschenrechte verlangen. Nicht genug damit: Seine Genfer Ver- durchzusetzen, nicht nur in Bosnien-Herzegowina, handlungspartner müssen auch noch die Zumutung auch im Sandschak, in der Vojvodina und vor allem im ertragen, daß Milosevic vom „Völkermord an den Kosovo. Serben" spricht. Die aktuellen Meldungen besagen, daß Sarajevo (Karl Lamers [CDU/CSU]: Das ist leider geteilt werden soll. Ich meine, daß gerade wir Deut- wahr! ) schen allen Grund haben, uns gegen eine solche sogenannte Lösung auszusprechen. Wenn sich die Europäische Union dann auch noch unaufgefordert die britische Position zu eigen macht, (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann jede militärische Drohung für den Fall des Nichtein- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) lenkens der serbischen Seite weit von sich zu weisen, Ich sage das auch vor allem als Abgeordneter aus ist das politische Scheitern einmal mehr zu befürch- dem Ostteil : Es darf keine Mauer durch ten. Sarajevo geben. Das bisherige Ergebnis besteht darin, daß Milosevic (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die Verhandlungen als sehr konstruktiv bezeichnet bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. und abreist. Währenddessen gehen die Kämpfe und sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Vertreibungen weiter. Zusagen der serbischen und Liste]) der kroatischen Seite, die Hilfskonvois endlich passie- Ein letzter Punkt, bezogen auf die beiden Anträge. ren zu lassen, werden nach Belieben gebrochen. Nur Ich meine, daß wir unabhängig von der möglicher- ein Drittel der Versorgungslieferungen kommt bei weise unterschiedlichen Bewertung der Chancen der den Betroffenen an . Genfer Verhandlungen uns darin einig sein können, Die hungernde und frierende bosnische Bevölke- daß die Hilfe für die notleidende bosnische Bevölke- rung bleibt Geisel der hofierten Kriegsverbrecher. rung verstärkt werden muß. Jene können inzwischen auch unbehelligt wieder Die Bundesregierung hat durch ihren Beauftragten Kampfhubschrauber, nach einigen Informationen für humanitäre Hilfe einen wichtigen Schritt getan, sogar Kampfflugzeuge einsetzen, als gäbe es kein um zusätzliche Transportkapazitäten bereitzustellen. Flugverbot und keine Flugüberwachung. Wir begrüßen diese Entscheidung, vor allem deshalb, Der Bruch ausnahmslos aller bisherigen Vereinbarun- weil sie eine zusätzliche Möglichkeit eröffnet, die von gen und Waffenstillstände hat gezeigt, daß sie das vielen privaten Initiativen und NGOs bereitgestellten Papier nicht wert waren, auf dem Lord Owen sie Hilfsgüter direkt zu den hungernden Menschen zu unterzeichnet hat. Solange sie nur auf dem Papier bringen. stehen, wird sich auch in Zukunft nichts daran Die Spendenbereitschaft der Menschen in Deutsch- ändern. land ist nach wie vor hoch, und sie ist neu motiviert Falls es nun in Genf doch noch gelingt, einen von durch die Schreckensbilder vom bosnischen Winter. allen Seiten unterzeichneten Vertrag auszuhandeln, Soll die Hilfsbereitschaft nicht ins Leere laufen, ist hat dieser nur Erfolgsaussichten, wenn seine Imple- weitere moralische, logistische und finanzielle Unter- mentierung auch durchgesetzt wird. stützung nötig. Ich begrüße deshalb nicht nur Ihre Zustimmung zu (Zuruf von der CDU/CSU): So ist es!) den beiden von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN initiier- Zu Recht verlangt der bosnische Präsident Interna- ten Anträgen, sondern ich bitte Sie auch um Ihre tätige tionale Garantien für den Bestand des verbleibenden Mitwirkung, wenn es darum geht, diese Anträge zum Teilstaats einschließlich der Versorgungswege. Es ist Leben zu erwecken. aber trotz früher abgegebener Erklärungen mehr als Vielen Dank. zweifelhaft, ob Westeuropa und die USA zur Über- nahme dieser Garantien einschließlich der damit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, verbundenen Konsequenzen bereit sind. bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.) So zurückhaltend die Aussichten auf eine baldige Beendigung des Krieges auch bewertet werden müs- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun spricht Frau sen, die zweifellos unverzichtbaren Verhandlungen Dr. Ursula Fischer. dürfen nicht zu einer vorzeitigen Aufgabe der Sank- tionen führen, wobei nicht nur die Sanktionen gegen Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Frau Präsiden- Serbien angesprochen werden sollen, sondern — ich tin! Meine Damen und Herren! Angesichts der schließe mich da Herrn Brecht an — zum wiederholten schrecklichen Not, des Elends und der Leiden der Mal auch die Erhöhung des Druckes gegenüber Menschen in Bosnien gibt es gegenwärtig keine Kroatien zu fordern ist. dringlichere Aufgabe, als ihnen schnell und wirksam Es geht auch nicht nur um die Rückgabe von humanitäre Hilfe zu leisten. Für Tausende, ja Zehn- wenigen Prozent eroberten Gebiets und nicht nur um tausende ist das eine Frage des Lebens, des Überle- die gesicherte Implementierung der Vereinbarungen. bens. Wir appellieren deshalb eindringlich an alle Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17051

Dr. Ursula Fischer Konfliktparteien, die am Montag in Genf getroffene hat dazu alle Möglichkeiten. Sie verfügt nicht nur über Vereinbarung über die freie Fahrt der Hilfskonvois Druckmittel auf Serbien, sondern auch über den strikt einzuhalten. stärksten Einfluß auf die bosnische und die kroatische Konfliktseite. Sie kann und muß ihn nutzen, um zum Washingtoner Pläne, mit Bomben und Raketen friedensschaffenden Kompromiß beizutragen. Hilfskorridore ins Land zu schlagen und damit doch Gleichermaßen ist die Bundesregierung in der Lage durchzuführen, noch eine militärische Intervention und verpflichtet, dazu beizutragen, daß eine Ausdeh- sind inakzeptabel. Statt Leid zu lindern, würde ihre nung des Konflikts auf weitere Teile des Balkans Verwirklichung den Konflikt ausweiten und das Blut- verhindert und daß für alle neuen Staaten in Jugosla- vergießen besonders unter der Zivilbevölkerung ver- wien ein friedliches Umfeld geschaffen wird. Dazu größern. gehört vor allem, daß die anerkannten internationalen Die Bundesregierung beabsichtigt, ihre humanitäre Grenzen des früheren Jugoslawien unantastbar blei- Hilfe fortzusetzen. Das ist zu begrüßen, doch Huma- ben. Wer an diesen Grenzen, darunter an den jugo- nität ist nicht teilbar. Wer in Bosnien und Kroatien slawisch-albanischen, rührt, rüttelt an den Grundfe- bemüht ist, die bestehende Not zu lindern, sollte sten des Friedens. Dagegen würde eine Garantieer- Handlungen unterlassen, die dazu angetan sind, in klärung der KSZE-Staaten für diese Grenzen die anderen Regionen die Leiden der Menschen zu ver- Sicherheit in diesem Raum festigen, die Befürchtung größern. Die Sanktionen gegen Restjugoslawien vor sezessionistischen Kräften in Kosovo mindern und haben in keiner Weise zu einer beschleunigten Her- die dringend notwendige Wiederherstellung suspen- stellung des Friedens, dagegen für seine Bürgerinnen dierter Autonomierechte in diesem Gebiet fördern. und Bürger, darunter für 700 000 Kriegsflüchtlinge, Die Bundesregierung ist aufgefordert, auf dem ebenfalls zu katastrophalen, unmenschlichen Folgen Balkan konstruktiv und tatsächlich friedensstiftend zu geführt. Die schnellstmögliche Aufhebung dieser wirken. Verweigert sie sich, beharrt sie auf dem Hungersanktionen und der im vorliegenden Antrag bisherigen Kurs, bleibt sie mitschuldig am Drama in zu Recht angesprochenen Behinderungen der medizi- Jugoslawien. nischen Versorgung der Bevölkerung — sie stellen nur Der vorliegende Antrag bleibt trotz nicht zu überse- einen, wenn auch besonders abscheulichen Bestand- hender positiver Ansätze unter den Erfordernissen teil dar — ist auch ein Gebot des Humanismus. Sie von einer Politik, die den unteilbaren Prinzipien der territorialen Zugeständnissen abhängig zu machen Humanität und einer schnellstmöglichen Friedensre- zeugt von allem möglichen, aber nicht von christlicher gelung verpflichtet ist. Die PDS/Linke Liste sieht sich Nächstenliebe. deshalb veranlaßt, sich in bezug auf die Beschlußemp- Wenn Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von fehlung des Auswärtigen Ausschusses der Stimme zu der CDU/CSU, die Forderung nach Nächstenliebe enthalten. ungern von einer Ärztin hören, die Abgeordnete der Selbstverständlich stimmen wir dem interfraktio- PDS ist, dann lesen Sie aufmerksam den Hilfsappell, nellen Antrag zur Winterhilfe für Bosnien zu. Es hätte den das Oberhaupt der serbischen Kirche auch an Sie für dieses Haus gesprochen, wenn die PDS/Linke Liste bei diesem Antrag ebenfalls einbezogen worden gerichtet hat: - wäre. Denn, meine Damen und Herren, wenn Sie Wir wenden uns im Namen Jesu Christi an Sie Minderheiten hier schon, in diesem Haus, ausgren- und an alle Leute guten Willens um Hilfe, daß die zen, dann frage ich mich: Wie wollen Sie von anderen ungerechten Sanktionen aufgehoben werden, andere Verhaltensweisen fordern? die hauptsächlich die Unschuldigen und (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Gerd Schwächsten treffen. Poppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie Meine Damen und Herren, seit zwei Jahren wird in waren nicht im Auswärtigen Ausschuß! — diesem Haus das Versagen der internationalen Staatsminister Helmut Schäfer: So ist es! — Gemeinschaft, der Vereinten Nationen, der KSZE, der Ulrich Irmer [F.D.P.]: Sie waren nicht da! Es EG und der EU, vor den schrecklichen Ereignissen in bleibt Ihnen ja unbenommen, nachher hier Jugoslawien beklagt. Nicht wenige der Klagenden zuzustimmen! — Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke bedauern indes, daß es nicht gelungen ist, sich auf Liste]: Das tun wir ja! — Staatsminister Hel eine militärische Intervention zu einigen. An Forde- mut Schäfer: Sie hätten sich ein bißchen rungen in dieser Richtung haben es Vertreter der früher bewegen können!) Regierungskoalition und auch einige andere nicht mangeln lassen. Das eigentliche Versagen der EU Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun erteile ich besteht jedoch darin, daß ihre Politik der vorschnellen dem Kollegen Dr. Christian Schwarz-Schilling das Anerkennung und der Einäugigkeit die Flammen des Wort. Krieges nicht gelöscht, sondern immer wieder ange- facht hat. Dr. Christian Schwarz-Schilling (CDU/CSU): Frau Leider hat auch die deutsche Bundesregierung Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her- daran einen besonderen Anteil. Angesichts ihrer bis- ren! Wir haben in den letzten Tagen wieder Bilder von herigen Rolle im Jugoslawienkonflikt hätte die Bun- dem Winter, der bereits eingebrochen ist, gesehen, desregierung allen Grund, mit besonderem Nach- aber nicht nur das, sondern wir haben auch gesehen, druck für eine Beendigung des Blutvergießens und wie jeden Tag und jede Nacht ein bestimmtes Viertel der Leiden der Menschen sowie für die Herbeifüh- oder bestimmte Gebäude in Sarajevo beschossen rung einer stabilen Friedensregelung zu wirken. Sie werden, insbesondere zivile Gebäude, Gebäude für 17052 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Dr. Christian Schwarz-Schilling Jungen und Mädchen, Schulen, das Hospital. Gerade Jahren hat es so etwas jedenfalls in Europa nicht vor zwei Tagen sind wieder zwei Krankenschwestern gegeben. tödlich getroffen worden. Wir sehen, mit welcher Systematik gehandelt wird. (Uwe Lambinus [SPD): Das ist allerdings wahr!) Wenn man die Frage stellt, wieso das jetzt Die Frage, die sich nun stellt, ist, ob auf einer geschieht, muß man einfach klar sehen, daß auf die solchen Grundlage Friedensverhandlungen über- Ankündigung, es werde, wenn ein massiver Ang riff haupt eine Aussicht auf Erfolg haben. Ich persönlich auf Sarajevo erfolgt, eine entsprechende Reaktion habe darauf eine ganz klare Antwort: Es wird keine kommen, die Serben eine neue Antwort gefunden große Aussicht geben. Dieser Friede wird, wenn er haben: dann also nicht massiv, sondern jeden Tag käme, ein so ungerechter F riede, daß wir schon an gezielt. Und wir stehen wieder da und tun so, als wäre Hand historischer Daten sehen können, wohin er dasselbe Ziel, nur mit längerer Zeit, mit Zermürbung führt. Es gab auch das Diktat von Versailles, das zu dann durch Winter, Hunger und Kälte, nicht auch bestimmten Konsequenzen geführt hat. Es hat Bei- erreichbar. Das ist die Lage. spiele gegeben, daß Imperien sich arrondiert und dann Frieden geschlossen haben. Das ist nicht von Ich freue mich natürlich um so mehr, daß sich die Dauer. Mitglieder des Deutschen Bundestages — die beiden Anträge haben das in ihrer Behandlung ja gezeigt — Wir sehen, was in Palästina geschehen ist. Und just hier sehr einig sind. Es ist eines der erfreulichen zu dieser Zeit, wo man mit soviel Blut und Leid, mit Zeichen, daß hier im Grunde genommen ein großer soviel Terror gegenüber den Menschen diese falschen Konsens zwischen allen Parteien herrscht. Grenzziehungen wieder auflöst, beginnen wir in Europa, ähnliches zu tun. Die Konsequenzen werden Allerdings ist an die Bundesregierung eine Frage zu die gleichen sein. richten: Dieser Bundestag hat am 21. April 1993 Wir können uns auch nicht freisprechen und sagen: beschlossen, daß die Sicherung des physischen und Ja, was sollen wir denn tun? Wir hätten ja militärisch politischen Überlebens der nationalen Gemeinschaft gar nicht eingreifen können! — Ich möchte über die der Moslems in ihrem Heimatstaat Bosnien-Herzego- Problematik hier in Deutschland nicht weiter reden. wina absolute Priorität haben muß. Hat dieser Punkt Ich habe dazu eine ganz andere Auffassung. seit April 1993 in der deutschen Außenpolitik absolute Priorität gehabt? Was haben wir denn in den Monaten Aber eines möchte ich sagen. Wir haben das Waf- getan? fenembargo mit befördert. Schon damals, als es bera- ten wurde, habe ich den Sinn sofort hinterfragt und Wir haben eine Verhandlungsführung von Lord gemeint, das könne doch nur die entsprechende Owen und anschließend, nach dem Rücktritt von Benachteiligung des Überfallenen bringen. Denn der Cyrus Vance, von Stoltenberg erlebt, die mit dem, was Aggressor hat alle Waffenarsenale der fünfstärksten wir in den verschiedenen Konferenzen — siehe z. B. Armee Europas, nämlich der jugoslawischen Armee, London — beschlossen haben, die mit diesen Prinzi- in seiner Hand. pien überhaupt nichts mehr zu tun hat. Was soll das dann? Wenn man schon selber nicht eingreifen will, dann dem Überfallenen die Möglich- Es ist die Frage, ob nicht überhaupt die militärischen keit, sich selbst zu verteidigen, zu nehmen, das ist der Verschärfungen sich dadurch eingestellt haben, daß massivste Eingriff zugunsten der Serben, den die man dem Prinzip der Bevölkerungsgruppe — in bezug Weltorganisation mit den europäischen Unionslän- auf Religion oder nach Zugehörigkeit zu entsprechen- dern begangen hat. den Volksstämmen — für neue Grenzziehungen den Vorzug gegeben hat. Das ist ja geradezu eine Anre- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gung, dafür zu sorgen, daß man in bestimmten Berei- der F.D.P. sowie des Abg. Gerd Poppe chen die Mehrheit bekommt oder andere, wenn man [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) sie nicht liquidieren kann, vertreibt. Von diesem Punkt wird uns niemand freisprechen, auch die Geschichte nicht. Es wird geschichtliche Man weiß ja auch, daß viele — auch falsche — Dimensionen annehmen, bei denen man fragen wird: Grenzziehungen dieser Art zu entsprechenden Din- Du hast doch in dieser Zeit Verantwortung ge tragen, gen geführt haben, indem den einen Gebiete zuge- was hast du eigentlich getan? Jeder wird gefragt schlagen wurden, wo sie in der Minderheit waren, wo werden. Deshalb sage ich: Wir können uns damit nicht sie aber dann dafür sorgen wollten, daß sie in die länger herausreden. Mehrheit kommen. Wir haben mit diesem Akt, weil wir nicht gleichzei- Meine Damen und Herren, daß es für uns nach dem tig seitens der Vereinten Nationen die Sicherheit mit Zweiten Weltkrieg und der Nazizeit in Europa über- angemahnt und durchgesetzt haben, die Integrität des haupt ein Prinzip sein kann, nach Bevölkerungszuge- Landes und der Bevölkerung mißachtet. Denn wenn hörigkeit, nach ethnischen Gruppen, die ausgewiesen wir dem Land die Verteidigungsmöglichkeit nehmen, werden, wenn sie nicht erschlagen werden wollen, dann müssen wir auch für seine Sicherheit garantie- Länder aufzuteilen und dieses Prinzip durch reale ren. Wenn das gemäß Art. 51 nicht gewährleistet ist, Tätigkeit in der Verhandlung — nicht durch Konfe- darf eine solche Beschränkung für ein Mitglied der renzen — anzuerkennen, zeigt den großen Zwiespalt, Vereinten Nationen überhaupt nicht durchgeführt in den wir uns begeben haben. Seit den vierziger werden. Darüber sind sich die Völkerrechtler heute Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17053

Dr. Christian Schwarz-Schilling völlig klar. Aber auch das wird lieber beiseite Menschen in diesem Winter ein — helfen. Wir sehen getan. schließlich nur die Bilder von Sarajevo. Wie jedoch die Ich komme gerade von einer Konferenz internatio- Bilder von den Orten aussähen, auf die wir nicht naler Parlamentarier aus Amerika, aus Asien und aus schauen können, ist wahrscheinlich jenseits unserer Europa, die eine Petersberger Entschließung gefaßt Vorstellungskraft. haben. Ich will Ihnen sagen: Es ist jetzt schon nicht Deswegen sage ich: Darum haben sie uns nie mehr ein europäisches Problem. Denn jetzt spüren die gebeten. Es ist unsere vorschützte Handlungsweise, Menschen, daß Grundlagen und Prinzipien des Völ- immer zu sagen: Das kostet uns zehntausend, fünfzig- kerrechts so in Frage gestellt werden, daß für jedes tausend oder einhunderttausend. Zunächst einmal kleinere Land auf dieser Welt künftig Gefahren lau- haben wir dem Recht Genüge zu tun, daß derjenige, ern, die nur von Willkür — ob z. B. die Vereinigten der sich verteidigen will, auf seinem eigenen Boden Staaten sagen: Das ist unser Interesse, ja oder nein — diese Möglichkeit erhält. Wir hätten dabei natürlich abhängen. Es hängt von der Willkür ab, ob die helfen können. Sicherheit eines Landes garantiert wird. Wie viele Truppen haben wir denn nach Afghani- So ist das heute. Das sind die Tatsachen. Deswegen stan geschickt? — Auch da wurde durch Waffenliefe- ging es im Golfkrieg mit militärischer Einwirkung, rungen gegenüber der stärksten Militärmacht, der während in Bosnien erklärt wird: Das ist nicht unser Sowjetunion, weil sie auf fremdem Gebiet zu kämpfen Interesse. Deswegen sind auch die Israelis, die weiß hatte und weil die Bevölkerung nicht auf ihrer Seite Gott nicht die allerbesten Beziehungen zu den Mos- stand, eine entsprechende Wendung der Dinge her- lems haben, in dieser Frage völlig anderer Meinung, beigeführt. weil sie die große universelle Gefahr sehen, daß wir in Sie können nicht sagen, daß wir hier Truppen hätten den Dschungel hineinkommen, wenn wir gewisse hinschicken müssen. Aber ich sage: Heute hätten wir Prinzipien dieser Welt aufgeben. In diesem Dschungel wahrscheinlich höchstens noch die Möglichkeit, bei geht nichts mehr. Das Beispiel dieses Dschungels ist der humanitären Hilfe die Korridore freizuhalten, heute Bosnien. damit die entsprechenden Möglichkeiten gegeben Auch die Kroaten haben inzwischen natürlich gese- sind. Das ist mit Sicherheit der Fall. hen, daß sie sich mit aller Macht durchsetzen müssen, da ihnen keiner hilft. Ihr H andeln ist die Folge dieser Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Einsicht. Hier frage ich die Bundesregierung danach, Schwarz-Schilling, das ist eine wichtige Debatte. Der was sie jetzt getan hat, um diesem Land, dem gegen- Kollege Irmer und der Kollege Brecht haben jeweils über wir früher viel Positives geleistet haben, klarzu- den Wunsch nach einer Zwischenfrage. Möchten Sie machen, daß wir mit aller Härte verlangen, daß es sich die noch zulassen? den entsprechenden internationalen Verpflichtungen unterstellt. Sonst wäre es erforderlich, auch dort ein Dr. Christian Schwarz-Schilling (CDU/CSU): Die Embargo in Gang zu setzen. Frage ist, ob ich das jetzt auf die Zeit angerechnet bekomme. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Schwarz-Schilling, würden Sie eine Zwischenfrage Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nein, die Redezeit des Kollegen Irmer gestatten? ist schon seit längerem abgestoppt.

Dr. Christian Schwa rz-Schilling (CDU/CSU): Ja, Dr. Christian Schwa rz-Schilling (CDU/CSU): Gut. gern. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Also, Herr Kollege Ulrich Irmer (F.D.P.): Herr Kollege Schwarz-Schil- Irmer, eine Zusatzfrage; dann der Kollege Brecht. ling, ich möchte Sie gerne fragen, wie Sie sich denn die technische Durchführung eines militärischen Ein- Ulrich Irmer (F.D.P.): Herr Kollege Schwarz-Schil- greifens in Bosnien vorstellen und wie Sie verantwor- ling, ich darf Sie bitten, das noch einmal zu erläutern; ten wollen, Soldaten in eine Gegend zu schicken, in ich habe das nämlich nicht verstanden. der in der Vergangenheit intervenierende Truppen Warum haben Sie dann vorher gesagt, es sei in die größten Schwierigkeiten hatten. Möchten Sie Bosnien militärisch bisher nicht interveniert worden, verantworten, daß zu den vielen bosnischen Toten weil es nicht dem amerikanischen Interesse entspro- auch noch die Soldaten aufzuaddieren sind — es gibt chen hätte? Damit haben Sie doch indirekt zum ja schon UN-Tote —, die bei dieser Aktion ums Leben Ausdruck gebracht, daß Sie für eine militärische kommen würden? Intervention eintreten. Unter diesem Aspekt haben Sie meine erste Frage Dr. Christian Schwa rz-Schilling (CDU/CSU): Ich nur dahin gehend beantwortet, die Bosnier hätten möchte Sie daran erinnern, daß uns die Bosnier nie nicht darum gebeten und es wäre lediglich um die darum gebeten haben, Truppen zu schicken. Ad 1: Die Aufhebung des Waffenembargos gegangen. Das ist Bosnier haben uns darum gebeten, von ihrem Recht für mich unverständlich. Gebrauch machen zu dürfen, sich selber zu verteidi- gen. Dr. Christian Schwarz-Schilling (CDU/CSU): Herr Ad 2, wollen wir ihnen bei der massiven Konzentra- Kollege Irmer, ich darf Sie an die Geschichte erinnern: tion von Artilleriestellungen um die eingeschlossenen Vertreter der Vereinigten Staaten von Amerika sind Städte — die Gesamtlandschaft heute mit Kroaten und im Mai dieses Jahres durch die europäischen Haupt- Serben zusammen schließt etwa über zwei Millionen städte gefahren und haben gesagt: Wenn ihr der 17054 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Dr. Christian Schwarz-Schilling Meinung seid, daß wir in dieser Situation etwas tun gemeinschaft, nachdem alle Voraussetzungen erfüllt müssen, dann sagen wir zu, daß das Embargo sofort worden waren, sozusagen im Sturm stehengelassen aufgehoben wird und daß wir durch Luftangriffe der wurden. Wer wird denn in Zukunft noch erwarten, daß moslemischen Seite dort helfen, wo sie angegriffen Vertrauen in irgendwelche Garantien entsteht? Man- wird und um Hilfe nachsucht. che haben hier gesprochen und gesagt, da müßten Und wir haben — lange Monate, beginnend mit der Garantien gegeben werden. Wer kann denn dort noch neuen Administration — von allen Entwicklungen an irgendeine Garantie glauben? Aus dem Grunde dieser Art abgeraten, weil wir gemeint haben, über sind auch die Verhandlungen praktisch nicht zu den Vance-Owen-Plan eine bessere Lösung zu fin- einem positiven Ergebnis zu führen, weil keiner mehr den. daran glauben kann. Die Vereinigten Staaten haben auf die Frage, Meine Damen und Herren, ich möchte Sie nur warum sie nicht alleine eine entsprechende Leader- erinnern, daß wir noch auf der Konferenz in London ship übernommen haben, wie sie das früher gemacht am 27. August 1992 — ich komme zum Ende — haben, geantwortet, daß sie in diesem Punkt kein festgelegt hatten: die Nichtanerkennung aller durch eigenes Interesse verfolgen, d. h., daß ihr nationales Gewaltanwendung oder das Schaffen vollendeter Interesse davon nicht berührt ist, sondern vital die Tatsachen erzielten Vorteile oder der sich daraus Interessen Europas berührt sind. Sie werden in dieser ergebenden Rechtsfolgen; die Verwirklichung der Frage gegenüber Europa nicht selber die Führung verfassungsmäßigen Garantien der Menschenrechte übernehmen. Das ist die Wahrheit! So ist es in diesem und Grundfreiheiten von Personen, die ethnischen Jahr gelaufen. Insofern besteht hier überhaupt kein und nationalen Gemeinschaften und Minderheiten Widerspruch, sondern es ist ein absolut konkludentes angehören; die uneingeschränkte Verurteilung ge- Handeln. waltsamer Vertreibungen. — Ich brauche es hier nicht (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: weiter vorzulesen. Das war das, was Europa auf Die Unlogik bleibt!) Konferenzen erklärte. Jetzt kann ich nur sagen: Ich verstehe die deutsch- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun noch die französische Initiative durchaus. Ich bin ja nicht Zwischenfrage des Kollegen Dr. Brecht. realitätsfern. Die Frage ist allerdings, ob m an sie — mit 3 oder 4 % von 50 % erobertem Gebiet — als wirkliche Dr. Christian Schwarz-Schilling (CDU/CSU): Bitte Konzession ansehen kann, die nicht nur denjenigen, schön. der sich mit Gewalt alles angeeignet hat, bef riedigt, oder ob man nicht auch die anderen Fragen hätte etwas deutlicher stellen müssen — z. B. die Aufhe- Dr. Eberhard Brecht (SPD): Herr Kollege Schwarz- bung jetzt eben nicht mit einer solchen Klarheit Schilling, ich glaube, jeder hier im Raum teilt die anzukündigen, sondern zu sagen, daß das natürlich Klage, daß die Sicherheitsratsresolution 757 selektiv erst nach der Implementierung geschieht. gewirkt hat. Sie haben in Ihrer Erläuterung dazu ausgeführt, daß dieses ein nationales Interesse der Ich habe von den Vereinigten Staaten gehört, daß Amerikaner reflektiert. sie über diese Initiative insofern erschrocken waren, Welche Art der Zusammensetzung des Sicherheits- als die stufenweise Aufhebung ursprünglich gar nicht rates fordern Sie eigentlich, um nationale Interessen mitenthalten war, sondern man zunächst einmal über- auszuschließen und den Prinzipien des Völkerrechtes haupt von der Aufhebung gesprochen hatte. Ich habe tatsächlich Genüge zu tun? Ist das nicht ein sehr gehört, daß die Initiative von uns gekommen sei. Dann utopischer Ansatz, den Sie hier vertreten? höre ich wieder, daß es eine französische Initiative war. Es wäre ganz gut, wenn wir diese Fragen aufklären könnten — gerade dann, wenn die Regie- Dr. Christian Schwarz-Schilling (CDU/CSU): Ich glaube, wir brauchen uns nur auf die Fakten zu rung hierzu spricht. besinnen, in welchen Regionen die Vereinigten Staa- Lassen Sie mich schließen mit den Worten eines ten von Amerika Aktionen und Handlungen durchge- Philosophen. André Glucksmann hat kürzlich in führt haben und in welchen nicht. Sie hätten natürlich einem Artikel in einer deutschen Zeitung folgendes auch in allen anderen Regionen sagen können: Da geschrieben: gibt es keine Möglichkeit. Die Krise der EG fällt nicht vom Himmel, sie Ich erinnere nur daran, wie die Vereinigten Staaten kommt aus Sarajevo. Europa läßt zu, daß unter bei der entsprechenden Machtübernahme in Grenada seinen Augen und in Reichweite das Unsägliche von Europa kritisiert wurden. Sie haben gehandelt, geschieht. Die Gedemütigten und Geschändeten weil sie gesehen haben: Hier wird ein an sich demo- sterben vor unserer Haustür. Europa stirbt nicht in kratisches Land in ein totalitäres verwandelt. Und sie Sarajevo, es krankt an den Eliten, die politische haben dann gesagt: Wir handeln früher. Verantwortung tragen. Aus diesem Grunde kann ich nur sagen: Wir können Ich danke Ihnen. uns nicht von dem Vorwurf freimachen, daß diejeni- gen, die selber einen Staat nach verfassungsmäßigen (Beifall bei der CDU/CSU) Grundsätzen aufstellen wollten, die Mitglied der Ver- einten Nationen sind — wie der Staat Bosnien- Herzegowina, der ein entsprechendes Selbstbestim- mungsrecht praktiziert hat, das wir ihm auch angedie- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun spricht Herr hen hatten —, dann von der internationalen Völker- Staatsminister Schäfer. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17055

Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen Leidtragende, meine Damen und Herren, sind die Amt: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich Menschen, die jetzt den tödlichen Gefahren eines habe bewußt gewartet, bis der Herr Kollege Schwarz- zweiten Kriegswinters ausgesetzt sind. Diese Men- Schilling hier gesprochen hat. Es würde sich fast schen wollen überleben. Ihr Interesse steht im Vorder- lohnen, jetzt hier ausschließlich auf Ihre Rede und auf grund der Überlegungen und Handlungen der Bun- Ihre Pressekonferenz einzugehen, die Sie mit Ihrem desregierung. Sie verfolgt zwei Ziele: einerseits Kollegen Schwarz veranstaltet haben, der leider bei natürlich die Beendigung des Krieges und anderer- dieser Debatte fehlt, weil er wahrscheinlich inzwi- seits die Hilfe für die bedrängten Menschen. schen wichtigere Dinge zu tun hat. Mit diesen Zielen vor Augen ist die Initiative von (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Der beschimpft im Bundesaußenminister Kinkel zusammen mit Herrn Fernsehen den Außenminister! — Zuruf des Juppé zustande gekommen, ein Aktionsplan der Abg. Dr. Schwarz-Schilling [CDU/CSU]) Europäischen Union. Und wenn jetzt von einigen — Das ist anzunehmen, aber ich erspare es mir, Herr Rednern hier schon wieder gefragt wird, warum dies Kollege Schwarz-Schilling, auf Ausfälle einzugehen, nicht früher zustande gekommen ist, dann kann ich wie sie heute gegen die Bundesregierung auch in hier nur sagen: Machen Sie sich doch bitte keine Ihrer Pressekonferenz gemacht worden sind. Ich Illusionen! Eine solche Initiative muß vorbereitet wer- komme aber nachher auf ein, zwei Bemerkungen den. Sie müssen erst Ihre Partner dafür gewinnen und noch zurück. müssen vor allen Dingen die Verantwortlichen für das Unheil, nämlich die Kriegsparteien und ihre verant- Ich darf Ihnen ganz klar sagen: Auch in dieser wortlichen Führer, dazu bewegen, wieder an den Stunde — dessen sind wir uns hier alle in diesem Verhandlungstisch zurückzukehren. Das ist doch der Krieg in Bosnien-Herze- Hause bewußt — dauert der Punkt, nicht, daß wir gezögert und die Herrschaften an, hat die serbische Aggression — Sie haben gowina nur darauf gewartet hätten, bis sie freundlicherweise das zu Recht ausgeführt —, die unermeßliches Leid wieder nach Genf kommen können. über die Menschen gebracht hat, nicht nachgelassen, wird von serbischer Seite der Eindruck erweckt, daß in (Beifall bei der F.D.P.) Bosnien für die eigene Sache alles erreicht sei. Davon kann keine Rede sein. Sie hatten ja die letzte Konferenz in Genf, die zu Hoffnung Anlaß gab, verlassen, unterbrochen und Es ist zu Recht gesagt worden: Sarajevo wird wei- immer wieder neue Forderungen gestellt. So sieht die terhin beschossen. Tuzla soll von Zentralbosnien Sache doch aus! Meine Damen und Herren, ich warne getrennt werden. Aber, Herr Kollege Schwarz-Schil- davor, diese neue Initiative jetzt schon wieder zu ling, in den letzten Monaten — das hätten Sie viel- zerreden oder gar eine Art Fatalismus aufkommen zu leicht in Genf einmal in Erfahrung bringen sollen — ist lassen, wie das in einigen Reden angeklungen ist, vor klargeworden, daß sich die Hauptauseinandersetzun- allem bei Ihnen, Herr Schwarz-Schi lling. gen — das wissen Sie — verlagert haben, nämlich zwischen Moslems und Kroaten stattgefunden haben. Ich kann nur sagen: Es muß doch ein friedliches Nur, das muß man sich einmal sagen lassen in Umfeld für die Versorgung der Menschen geschaffen Genf. werden, die in dieser Situation — und zwar keines- wegs nur die Moslems — bedroht sind. Das moslemi- Sie müssen von den Kroaten zur Kenntnis nehmen, sche Mostar ist von anderen zerstört worden, nicht von daß die Moslems beachtliche Erfolge mit Waffen den Serben, kroatische Siedlungen sind von Moslems erzielt haben, durch Vertreibung von Kroaten aus zerstört worden. Ich bitte, das wirklich zu sehen. Es Gebieten, die diese für sich beanspruchten. Es kann wird Krieg zwischen allen Parteien geführt. Hier kann also die Behauptung nicht stimmen, die Moslems es doch nur darum gehen, — und das ist uns gelun- hätten überhaupt keine Waffen. Sie haben sie; aber sie gen — die Europäische Union zu einem gemeinsamen haben keine schweren Waffen. Das ist der Unter- Handeln zu bringen. schied. Kollege Irmer hat völlig zu Recht gesagt, das Problem, schwere Waffen dorthin zu transportieren, Herr Kollege Schmidt, ich bin Ihnen dankbar über kroatische Häfen, oder sie gar aus der Luft — Herrn Kollegen Brecht ebenfalls —, daß Sie klarge- abwerfen zu wollen, z. B. Artillerie, muß erst noch macht haben, daß Sie diese Initiative, über die wir gelöst werden. So einfach ist das nicht. auch im Auswärtigen Ausschuß sehr intensiv gespro- Ich muß auch ganz klar sagen — Kollege Rühe hat chen haben, unterstützen. Wir haben inzwischen auch mir das gerade noch zugerufen; ich darf das hier die USA und Rußland gewonnen, bei der Umsetzung unterstreichen —: Wir haben die Vereinigten Staaten dieses Friedensplanes mitzuwirken. Das war ja gar in der Forderung nach Aufhebung des Waffenembar- nicht so einfach. gos unterstützt, wir, die deutsche Regierung. Wir Wir wissen aber auch, daß ein wirksames interna- haben dafür keine Zustimmung gefunden, in der WEU tionales Engagement zur Durchsetzung der hoffent- nicht und nicht in der Europäischen Gemeinschaft. lich erzielten Vereinbarungen nur mit einer substan- Und dafür gibt es Gründe. tiellen militärischen Beteiligung der Vereinigten Ich bitte Sie sehr herzlich, die Kollegen, die sich hier Staaten möglich ist. Wir betrachten es als außeror- als Parlamentarier in Bonn treffen und die Bundesre- dentlich wichtig, daß die Vereinigten Staaten im Falle gierung kritisieren, mal zu fragen, was die Regierun- einer politischen Lösung bei der Zusage bleiben. Der gen der anderen Staaten der Europäischen Gemein- Kongreß ist da keineswegs so einhellig Ihrer Auffas- schaft veranlaßt hat, den — von Deutschland unter- sung, Herr Schwarz-Schilling, Friedenstruppen in stützten — Wunsch der Vereinigten Staaten abzuleh- Bosnien zur Verfügung zu stellen und dafür auch die nen. Zustimmung zu geben. 17056 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Staatsminister Helmut Schäfer Die Europäische Union ihrerseits beabsichtigt, sich einmal deutlich sagen: Man kann nicht an einem Tag an der Verwaltung von Mostar zu beteiligen. Auch etwas fordern und am zweiten Tag mit neuen Forde- Deutschland ist dazu bereit. rungen kommen. Das erschwert natürlich jedwede Verhandlung. Wir beraten zur Stunde in Brüssel Was sind die bisherigen Ergebnisse des Treffens von Genf gestern und vorgestern? — Herr Minister Kinkel ist deshalb nicht hier — mit unseren Partnern, wie den Serben noch einmal die Erstens. Die Parteiführer und Militärführer a ller absolute Notwendigkeit eines Einlenkens verdeut- Seiten — mit Ausnahme des bosnisch-serbischen licht werden kann. Wir hoffen, daß es den Unterhänd- Generals Mladic, der nicht erschienen war — haben, lern gelingt, ein Ergebnis in dieser Verhandlungs- wie von der Europäischen Union gefordert, ein runde zu erzielen. Abkommen über die völlige Bewegungsfreiheit der humanitären Hilfe geschlossen. Darin ist auch bestä- Ich finde es in diesem Zusammenhang, Herr tigt, daß UNPROFOR humanitäre Hilfe notfalls mit Schwarz-Schilling, nicht gut, wenn heute gesagt wor- Gewalt sicherstellen wird, d. h. dafür sorgen muß, daß den ist, die Unterhändler in Genf müßten durch die angesichts der Winterverhältnisse immer dringen- unabhängige, den Menschenrechten verpflichtete der werdende humanitäre Hilfe notfalls auch unter Vermittler ersetzt werden. Einsatz militärischer Mittel die notleidende Bevölke- rung erreicht. Das ist unterzeichnet worden. (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Das ist ungeheuer lich!) Zweitens. Alle Parteien sind bereit, sofort die Ver- handlungen mit dem Ziel wiederaufzunehmen, rasch Die Unterhändler in Genf sind der ehemalige britische eine London-II-Konferenz in Genf einzuberufen, die Außenminister Owen und Herr Stoltenberg, der frü- die Verhandlungsergebnisse indossieren und das here norwegische Außenminister; davor war es der Mandat zur Lösung der übrigen Probleme erteilen frühere amerikanische Außenminister Vance. Sie wol- soll. Am Ende des ganzen Prozesses — es ist ja eine len doch nicht im Ernst sagen, daß diese — bei aller langfristige Planung — muß eine jugoslawienpoliti- Kritik; ich kenne die Kritik und teile sie auch zum sche Schlußkonferenz stehen, die alle Probleme Teil — ersetzt werden müßten durch Personen, die — auch Kosovo, auch Vojvodina und Sandschak — zu sich den Menschenrechten verpflichtet fühlen. Ich lösen versucht. kann nur jedem raten, einmal in Genf — Sie müssen es gar nicht mit Owen und auch nicht mit Stoltenberg Drittens. Die Wiederaufnahme der Verhandlungen tun — mit anderen Unterhändlern wie Athisaari zu erfolgt auf der Basis des Aktionsprogramms der sprechen, um zu erfahren, was diesen Unterhändlern Europäischen Union und des im September auf der in Genf von den drei Kriegsparteien seit Monaten „Invincible" erreichten Verhandlungsergebnisses. ununterbrochen zugemutet wird. Da kann man ver- Viertens. Die Außenminister der Europäischen stehen, daß die Geduld dieser Unterhändler fast am Union sind entschlossen, den Verhandlungsfortgang Ende ist und daß sie dankbar wären, wenn sie durch genau zu beobachten und sich möglichst rasch, noch andere ersetzt würden, die aber genausowenig in der im Dezember, in Genf wiederzutreffen und die bis Lage wären — auch wenn sie den Menschenrechten, dahin erzielten Ergebnisse zu bewerten. Eines wissen - wie Sie meinen, stärker verpflichtet sein sollten —, wir jetzt schon. Es sind zwar die Hauptakteure inzwi- weiterreichende Ergebnisse zu erzielen. So einfach ist schen weggefahren; aber es geht in der nächsten es eben nicht, mit diesen Personen zu verhandeln. Woche in wichtigen bilateralen Gesprächen weiter. (Beifall bei der F.D.P.) Ganz entscheidend ist: Der seit zwei Monaten andauernde Stillstand ist beendet, die Konfliktpar- Darin liegt doch eigentlich das Problem. Es liegt nicht teien sind zu Verhandlungen wieder zurückgeholt am Versagen der Europäischen Gemeinschaft, son- worden. Der tote Punkt ist überwunden. Wir haben dern an der mangelnden Bereitschaft dieser Herren, das Menschenmögliche getan, um die drohende zunächst einmal an ihre eigene Bevölkerung zu den- humanitäre Katastrophe zu verhindern. Der Kollege ken und dann erst an ter ritoriale Fragen. Rühe, die Bundesregierung hat dafür gesorgt, daß — es ist ja vorhin schon gesagt worden; ich schließe Was die von den Serben besetzten kroatischen mich dem Dank an die Bundeswehr ausdrücklich Gebiete angeht, so bedeutet der Modus vivendi: an — ab heute zwei Transall-Maschinen täglich, Waffenstillstand, Öffnung der Verkehrswege, Wie- nächtlich nach Bosnien fliegen — neben den schon derherstellung der Energieversorgung. Er bedeutet seit langem andauernden Versorgungsflügen nach nicht den Verzicht auf eine dauerhafte Lösung, die Sarajevo. Also, wir haben humanitäre Hilfe geleistet; zwei Prinzipien gerecht werden muß: erstens dem das kann man uns nun wirklich nicht absprechen. vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nochmals bestätigten Grundsatz der territorialen Integrität Kro- Die bosnischen Moslems und Kroaten haben den atiens, zweitens dem im Carrington-Plan vom Herbst Vorschlag der Europäischen Union zu ihrer Verhand- 1991 niedergelegten Ziel einer weitgehenden Auto- lungsposition gemacht. Unser Ziel ist es, die jetzigen nomie der mehrheitlich serbisch besiedelten Gebiete, Forderungen der Moslems nach einem Drittel des wobei allerdings der Bevölkerungsstand vor Aus- bosnischen Territoriums durchzusetzen; das sind 3 % bruch des Krieges zugrunde gelegt werden muß. mehr als das, was vorher auf der „Invincible", dem berühmten Schiff, erreicht worden war. Der Schwarze Ganz schwierig ist zur Zeit noch die Diskussion Peter liegt im serbischen Lager, das sich noch dagegen zwischen Kroaten und Moslems über den Zugang zur sperrt. Allerdings lese ich heute, es gibt schon wieder Adria. Hier hat die kroatische Seite noch nicht einge- neue moslemische Forderungen. Da muß m an auch lenkt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17057

Staatsminister Helmut Schäfer Wir sind natürlich — und das schon lange — dabei, sche Politik zu einem grundlegenden Wandel bereit den kritisierten Herrn Tudjman zur Raison und zu ist. Zugeständnissen zu bringen. Es ist nicht wahr, daß wir Deshalb kann ich nur sagen: A lles, was jetzt zu die Kroaten — das war vielleicht am Anfang so — zu erreichen versucht wird, bedeutet schrittweise Fort- positiv gesehen haben; denn wir mußten erkennen, schritte für die Menschen. Dann kann man auch welche Absichten zum Teil auch dort verfolgt wurden. schrittweise Sanktionen locke rn, was übrigens letzt- Es war ja Herr Tudjman, der schon im Auswärtigen lich auch den serbischen Menschen und den Nachbar- Ausschuß des Deutschen Bundestages erklärt hat, ein ländern zugute kommt, von denen wir die ganze Zeit Staat Bosnien-Herzegowina unter moslemischer Füh- schon verlangen, daß sie die Sanktionen nach Mög- rung komme nicht in Frage; es gehe um die Aufteilung lichkeit streng durchführen. Kein Mensch aber hilft dieses Staates in kroatisches und in serbisches Gebiet. ihnen dabei, für die Schäden ihrer Wirtschaft aufzu- Man muß sich aber, glaube ich, ein bißchen differen- kommen. Nehmen Sie z. B. Bulgarien oder Mazedo- zierter über die Hintergründe dieses ganzen Konflik- nien. Es ist wenig geschehen, um das, was dort durch tes klarwerden und auch darüber, was die einzelnen die strikte Einhaltung der Sanktionen an volkswirt- Handelnden eigentlich wirklich wollen. Man darf schaftlichem Schaden entstanden ist, unsererseits nicht immer nur Schwarzweißmalerei betreiben, wie auszugleichen. Auch das sollten wir uns gelegentlich das hier schon seit langem der Fall ist. einmal vor Augen führen. Meine Damen und Herren, es ist ganz klar, daß die In die Gesamtregelung des Konflikts wollen wir Sanktionen, die die Europäische Gemeinschaft ver- natürlich ausdrücklich die Zukunft und das Schicksal hängt hat und welche die WEU auf der Donau der Menschen im Kosovo, in der Vojvodina und im kontrolliert, Wirkung gezeigt haben. Wir sehen nur Sandschak mit einbeziehen, die auf eine befriedi- keine Bilder aus Belgrad. Sie müssen zur Kenntnis gende Lösung warten. Das kann nicht ausgeklammert nehmen, daß die serbische Wirtschaft praktisch werden. Es geht nicht nur, aber zunächst und vor zusammengebrochen ist und daß die Situation der allem um Bosnien. Serben verheerend ist, daß ihnen aber trotzdem ein- Zum Schluß: Die Bundesregierung handelt in der geredet wird, nur ihre jetzige Führung könne sie vor Überzeugung, daß es in der derzeitigen katastropha- dem von der Welt und von Deutschland gewünschten len Lage entscheidend darauf ankommt, das Überle- Untergang schützen. Das ist doch die Propaganda, die ben der Menschen vor allem in Bosnien zu sichern, leider Gottes auch in Serbien wirkungsvoll ange- statt auf Prinzipien zu bestehen — Herr Kollege wandt worden ist. Schwarz-Schilling, da besteht der ganz große Gegen- Lassen Sie mich sagen: Wir müssen leider Verspre- satz zwischen uns —, deren Durchsetzung eben nur chungen der Serben mit Skepsis betrachten. Deshalb durch eine militärische Intervention von außen mög- bleiben wir vorsichtig. In unserem Plan geht es nicht lich wäre, wozu die Staatengemeinschaft aus sehr darum, die Sanktionen gegen Serbien aufzuheben, naheliegenden Gründen nicht bereit war. sondern sie für ganz konkrete Zugeständnisse, die wir Es ist sehr einfach, zu sagen: Wir haben versagt. Wir von den Serben fordern, zu suspendieren, und zwar hätten früher etwas tun müssen. Wir sind schuld an schrittweise. Suspendierung heißt, daß wir, wenn den Geschehnissen. Ich frage nur zurück: Wem in etwas nicht eingehalten wird, die Sanktionen sofort Europa wollen Sie zumuten, daß er seine Soldaten in wieder eintreten lassen. Darum geht es. Es geht nicht diesen inzwischen fast nicht mehr überschaubaren um die Aufhebung von Sanktionen, obwohl Griechen- Konflikt hineinjagt — mit allen Konsequenzen? Wenn land schon lange solche Forderungen an uns heran- es die Deutschen sind, die diese Moral vertreten, dann getragen hat. müssen wir zunächst einmal bei uns damit anfangen, Wir erwarten von allen Parteien, daß sie sich von mit unseren eigenen Verfassungsproblemen langsam den Interessen der Menschen leiten lassen. Wir haben zu Rande zu kommen. es aber stets abgelehnt, auf die bosnischen Moslems, Vielen Dank. die Hauptopfer der serbischen Aggression sind (Beifall bei der F.D.P.) — Herr Schwarz-Schilling, da sind wir uns völlig einig —, zur Annahme einer Regelung Druck auszu- üben, die ihre Belange nicht ausreichend berücksich- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege tigt. Wir werden auch die Gewährung humanitärer Schwarz-Schilling, handelt es sich um eine Kurzinter- Hilfe nicht als Druckmittel einsetzen. vention, oder was soll dieses Blinken? Es muß aber alles unternommen werden, meine Damen und Herren, um auf alle drei Seiten einzuwir- Dr. Christian Schwarz-Schilling (CDU/CSU): Ich ken und zu vermeiden, daß unsere humanitäre Hilfe wollte an sich noch eine Frage stellen, aber möchte die rücksichtslose Fortsetzung des Krieges erleichtert. jetzt doch eine Kurzintervention machen. Es kann ja wohl nicht sein, daß man sagt: Na ja, die Ich wollte nur aufklären, daß der Kollege Stefan werden ja weiterhin helfen. Schwarz auf meine Bitte hin die Konferenz auf dem Lassen Sie mich zum Schluß kommen: Für Deutsch- Petersberg fortgesetzt hat und zu Ende leitet und aus land bedeutet der Aktionsplan der Zwölf keine mora- diesem Grunde nicht hier sein kann. Er wäre gerne lische Konzession. Unser Urteil über die Verantwort- hier gewesen. Dies nur, damit man hier keinen fal- lichkeiten, die Kriegsverbrechen und das, was auch schen Eindruck gewinnt. durch Deportationen geschehen ist, bleibt bestehen. Zum zweiten, wenn ich diese Anmerkung machen Unser Verhalten gegenüber Serbien wird auch in darf: Sie haben Lord Owen hier sehr verteidigt. Auf Zukunft davon bestimmt sein müssen, ob die serbi- der anderen Seite haben Sie gesagt, humanitäre Hilfe 17058 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Dr. Christian Schwarz-Schilling dürfe niemals als Druckmittel benutzt werden. Wenn Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem die Medien recht haben und Äußerungen wahrhaftig Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Eduard Lint- vermittelt wurden, hat Lord Owen in den vergange- ner das Wort. nen zehn Tagen gesagt, daß sich die Kriegsparteien im klaren sein müssen, daß, wenn sie jetzt nicht unter- schreiben, auch die Aussetzung der humanitären Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Hilfe möglich sein wird. minister des Innern: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Sicherheitsüberprüfung von Perso- nen aus Gründen des vorbeugenden personellen Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Wortmel- Geheimschutzes ist bislang untergesetzlich in den dungen liegen mir jetzt nicht mehr vor. Ich schließe die Sicherheitsrichtlinien des Bundes geregelt. Ziel des Aussprache. personellen Geheimschutzes ist es, staatliche Ver- schlußsachen zu schützen. Der Schutz von Informatio- Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksa- nen, deren Kenntnisnahme durch Unbefugte den che 12/6206, den Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/ Bestand, lebenswichtige Interessen oder eben die DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/5729 in der Aus- Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefähr- schußfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese den könnte, ist für den demokratischen Rechtsstaat Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimment- unverzichtbar, will er nicht seinen Bestand und die haltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung Existenz seiner Bürger gefährden. bei wenigen Stimmenthaltungen einstimmig ange- nommen. Die Einstufung von Informationen als Verschlußsa- chen ist nicht von einer aktuellen Bedrohung des Wir stimmen jetzt über den Antrag der Fraktionen Staates und seiner Bevölkerung abhängig. Den der CDU/CSU, SPD und F.D.P. sowie der Gruppe Bestand und die Sicherheit des Staates und seiner BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Winterhilfe für Bos- Bevölkerung zu sichern ist eine dauerhafte Aufgabe, nien auf Drucksache 12/6314 ab. Wer stimmt für die von der Annahme auszugehen hat, daß sich diesen Antrag? — Wer stimmt dagegen? — Gibt es latente Gefahren täglich in konkrete Gefährdungen Stimmenthaltungen? — Dann ist dieser Antrag ein- des Staates und seiner Bevölkerung verwandeln kön- stimmig angenommen. nen. Gestatten Sie mir vor dem Tagesordnungspunkt 9 Der Deutsche Bundestag hat im Dezember 1990 auf noch eine kurze Anmerkung: Herr Staatsminister, ich Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. weiß zwar, daß die Bundesregierung jederzeit reden die Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzent- darf; in der Verfassung steht aber nicht, daß sie wurf zur Regelung der Sicherheitsüberprüfung auf unbegrenzt lange sprechen soll. Sie haben Ihre Rede- Grund des Zuganges zu Verschlußsachen vorzulegen. zeit ungefähr um das Doppelte überzogen. Dies nur Anlaß war die Verabschiedung des Gesetzes zur als Anmerkung. Fortentwicklung der Datenverarbeitung und des (Zuruf des Staatsministers Helmut Schäfer) Datenschutzes — hier wären Stichworte wie Bundes- — Nein. Sie hatten auf unserer Liste weniger als datenschutzgesetz, Bundesverfassungsschutzgesetz, 10 Minuten eingetragen. MAD-Gesetz und BND-Gesetz zu nennen —, und unter diesem Aspekt ist dann der vorliegende Gesetz- (Staatsminister Helmut Schäfer: Nein!) entwurf erarbeitet worden. —Es ist so; ich sage es Ihnen nur. Auf jeden Fall haben Im wesentlichen regelt dieser Gesetzentwurf, wann Sie satt überzogen. eine Sicherheitsüberprüfung aus Gründen des Ver- schlußsachenzugangs erforderlich ist. Die Sicher- heitsüberprüfungen werden abgestuft durchgeführt, Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 9 auf: je nachdem, ob der zu überprüfende Zugang zu Zweite und dritte Beratung des von der Bun- VS-vertraulich-, Geheim- oder Streng-geheim-Doku- desregierung eingebrachten Entwurfs eines menten erhalten soll. Gesetzes über die Voraussetzungen und das Die Sicherheitsüberprüfung ist abhängig von der Verfahren von Sicherheitsüberprüfungen des vorherigen Zustimmung der Betroffenen. Niemand Bundes (Sicherheitsüberprüfungsgesetz — soll gegen seinen Willen sicherheitsüberprüft werden. SÜG) Bei den beiden höchsten Überprüfungsarten wird der — Drucksache 12/4891 — Ehegatte beziehungsweise Lebenspartner in die (Erste Beratung 169. Sitzung) Sicherheitsüberprüfung einbezogen. Dies geschieht allerdings nur dann, meine Damen und Herren, wenn Beschlußempfehlung und Be richt des Innen- er zugestimmt hat. Der Grund für die Einbeziehung ausschusses (4. Ausschuß) beruht auf der Erkenntnis, daß sich Sicherheitsrisiken, — Drucksache 12/6307 — die in der Person des Ehegatten oder des Lebenspart- Berichterstattung: ners liegen, auf Grund der engen persönlichen Bezie- Abgeordnete Gerd Wartenberg (Berlin) hungen auf den Be troffenen auswirken können. Meinrad Belle Der Gesetzentwurf legt weiterhin fest, was ein Dr. Burkhard Hirsch Sicherheitsrisiko ist. Vor Ablehnung oder dem Ent- Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die zug einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit ist Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Besteht rechtliches Gehör gewährleistet. Durch die Sicher- darüber Einverständnis? — Das ist der Fall. Dann ist heitsüberprüfung und die bei ihr anfallenden das so beschlossen. Erkenntnisse soll der Überprüfte keine Nachteile in Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17059

Parl. Staatssekretär Eduard Lintner seiner sonstigen beruflichen Position erleiden. Daher Anforderungen aus dem Volkszählungsurteil von ist die Weitergabe der Daten für Zwecke außerhalb 1983 umgesetzt werden mußten. In knapp zwei der Sicherheitsüberprüfung nur unter besonders Wochen haben wir das zehnjährige Jubiläum dieses engen Voraussetzungen möglich. Urteils. Wir stellen fest, daß diese Bundesregierung, Der Überprüfte hat im übrigen Anspruch auf Aus- die etwa seit der gleichen Zeit im Amt ist, es nicht kunft über seine im Zusammenhang mit der Sicher- geschafft hat, einen Großteil der Gesetze, die vom heitsüberprüfung gespeicherten Daten. Unter be- Verfassungsgericht als änderungsbedürftig angese- stimmten Voraussetzungen kann ihm sogar Einsicht in hen worden sind, zu ändern. die Sicherheitsakte gewährt werden. Seine Rechtspo- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Daran sieht sition, meine Damen und Herren, wird insgesamt man nur, daß wir noch länger im Amt sein durch den vorliegenden Gesetzentwurf in einem mit müssen!) den Sicherheitsbelangen des Staates vertretbaren Maß erheblich gestärkt. Dies kann nicht mehr akzeptiert werden. Sie wissen Bei den Vorarbeiten zum Gesetzentwurf wurden die genau, daß der Übergangsbonus, der auch vom Ver- Ressorts, die Nachrichtendienste des Bundes und der fassungsgericht eingeräumt wird, maximal zwei Bundesbeauftragte für Datenschutz intensiv beteiligt. Legislaturperioden dauert, nun aber längst abgelau- Letzterer hat den Entwurf in seinem 14. Tätigkeitsbe- fen ist. richt als eine gute Grundlage für die parlamentari- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Es gab schen Beratungen bewertet. Im Laufe der parlamen- doch kein Gesetz!) tarischen Beratungen hat er dann weitere Empfehlun- gen gegeben, die zum größten Teil auch berücksich- Die unionsgeführte Bundesregierung hat in den tigt worden sind. letzten zehn Jahren diesen verfassungsrechtlichen Auftrag nur sehr zögernd erfüllt. Die Liste der Ver- Es mußte bei den Gesetzesberatungen dem säumnisse ist lang. Beispielhaft sei darauf hingewie- Umstand Rechnung getragen werden, daß sich die sen, daß das Bundeskriminalamt, der Bundesgrenz- Bundesrepublik Deutschland als Mitglied der NATO schutz und die im Bereich der Strafverfolgung zustän- völkerrechtlich verbindlich verpflichtet hat, be- digen Zollbehörden nach wie vor einer verfassungs- stimmte Mindestanforderungen bei Sicherheitsüber- rechtlich einwandfreien und tragfähigen Rechts- prüfungen einzuhalten. Auch dem trägt der Gesetz- grundlage für ihre Arbeit entbehren. entwurf Rechnung. Die Innenminister und Senatoren der Bundeslän- Auch im privaten Bereich mangelt es in bedeuten- der, die über den Entwurf des Gesetzes und den Stand den Rechtsbereichen an verläßlichen und wirksamen der parlamentarischen Beratungen laufend unterrich- Datenschutzbestimmungen. Erinnert sei — ebenfalls tet wurden, haben teilweise schon frühzeitig ange- beispielhaft — an die vordringlich erforderliche Rege- kündigt, daß sie für den Länderbereich nach Verab- lung des Arbeitnehmerdatenschutzes. Übrigens hat schiedung des Bundesgesetzes entsprechende Sicher- diese Bundesregierung in jeder Legislaturperiode heitsüberprüfungsgesetze vorlegen werden. Die Si- versprochen, endlich etwas zu machen. Aber seit zehn cherheitsüberprüfungsgesetze sollten einen mög- Jahren — herzlichen Glückwunsch — kommt lichst einheitlichen Standard haben, um ein Miß- nichts. trauen der Länder untereinander und von seiten (Beifall bei der SPD) unserer ausländischen Partnerstaaten vor allem in der NATO erst gar nicht aufkommen zu lassen. Meine Damen und Herren, auch im Bereich des Zusammenfassend, meine Damen und Herren, Kreditwesens und der Versicherungswirtschaft kann kann gesagt werden, daß in dem vorliegenden Ent- von wirksamen Datenschutzvorschriften nicht die wurf die staatlichen Sicherheitsinteressen einerseits Rede sein. Desgleichen fehlen Vorschriften für das und die schutzwürdigen Belange der Überprüften private Sicherungsgewerbe — ein zunehmendes Pro- andererseits nach dem Urteil aller Beteiligten in blem in unserer Gesellschaft — und das Auskunftei- einem ausgewogenen Verhältnis berücksichtigt wor- wesen, für Bereiche also, in denen die schutzwürdigen den sind. Belange der Bürger schwerwiegenden Beeinträchti- gungen oder Gefährdungen unterliegen können. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Aktuelle Beispiele gibt es in Hülle und Fülle. ordneten der F.D.P.) Erschwerend kommt hinzu, daß sich die Bundesre- gierung nicht nur schwertut, die erforderlichen Kon- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun erteile ich sequenzen aus dem Volkszählungsurteil von 1983 zu das Wort dem Kollegen Gerd Wartenberg. ziehen, sondern nunmehr dazu übergegangen zu sein scheint, über die angestrebte europäische Harmoni- Gerd Wartenberg (Berlin) (SPD): Frau Präsidentin! sierung des Datenschutzrechtes den in der Bundesre- Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich, bevor ich publik trotz aller Mängel anerkanntermaßen hohen auf dieses konkrete Gesetzesvorhaben eingehe, Datenschutzstandard abzusenken. Wie unlängst der einige Bemerkungen an die Koalition und die Bundes- Presse zu entnehmen war, sollen sich der Bundesmi- regierung machen, die wohl immer angemessen sind, nister des Innern wie auch sein bayerischer Kollege in wenn es um Gesetze geht, die den Datenschutz Brüssel mit dieser Tendenz betätigt haben. betreffen. Diesen Bestrebungen wird der deutsche Gesetzge- Die Problematik dieser gesetzlichen Grundlage für ber, müssen wir nachdrücklich entgegentreten, um die Sicherheitsüberprüfung war ja, daß u. a. die auch in Zukunft das hohe Niveau des Datenschutzes, 17060 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Gerd Wartenberg (Berlin) das wir in Deutschland erreicht haben, im Rahmen der überrascht von dem sind, was dort geschieht. Wie soll Europäischen Union zu gewährleisten. man erwarten, daß, wenn solche Fälle vorliegen, eine gemeinsame Erklärung abgegeben wird? Das geht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einfach nicht. Das wird die Menschen meines Erach- DIE GRÜNEN) tens eher zur Lüge zwingen, als daß sie die Wahrheit Weil in der Koalition nach wie vor Unbehagen sagen. bezüglich bestimmter Bereiche und Errungenschaften des Datenschutzes besteht, versucht sie, das auf dem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kalten Wege über die EG wieder zu nivellieren. Das DIE GRÜNEN) werden wir nicht mitmachen. Ich hoffe, daß dazu auch Meine Damen und Herren, die gefundenen Rege- morgen in der Debatte zu Europa etwas gesagt wird. lungen für das Es geht nicht, daß der Innenminister auf der Verhand- Auskunftsrecht bzw. das Recht auf Akteneinsicht der Betroffenen sind unbefriedigend lungsebene in Brüssel stillheimlich seine Duftmarken und bleiben hinter den Regelungen zurück, die noch hinterläßt, aber in diesem Parlament nicht darüber diskutiert wird. im Jahr 1990 gemeinsam von den Koalitionsfraktionen und der SPD im Rahmen der Novellierung des Geset- Dem Bundestag liegt heute nun endlich der Entwurf zes über das Bundesamt für Verfassungsschutz getrof- eines Gesetzes über die Voraussetzungen und das fen worden sind. Auch die Vorschriften über die Verfahren von Sicherheitsüberprüfungen des Bundes Verankerung des Zweckbindungsprinzips sind unzu- zur Beschlußfassung vor. Dies ist grundsätzlich zu reichend. Die möglichen Durchbrechungen, d. h. die begrüßen, wenn auch kein Grund zur Genugtuung Verwendung der im Verfahren der Sicherheitsüber- besteht. Dieses Gesetz wird die bisher geltenden, prüfung angefallenen Daten für andere Zwecke, sind lediglich in Verwaltungsvorschriften befindlichen immer noch zu weitgehend. Regelungen für die Sicherheitsüberprüfungen des Bundes in die verfassungsrechtlich erforderliche Zum Schluß eine Anmerkung in „eigener" Sache. gesetzliche Form überführen. Insgesamt also stellt das Der Bundestag sollte prüfen, ob es weiter hingenom- Gesetz einen Schritt in die richtige Richtung dar, um men werden kann, daß der Bereich des Bundestages die zum Teil einander widerstreitenden Erfordernisse nicht diesem Gesetz unterliegt, da er der Geheim- des Datenschutzes und der Sicherheit in Einklang zu schutzordnung des Deutschen Bundestages unter- bringen. liegt. Diese regelt jedoch nur technische Aspekte der Sicherheit von geheimhaltungsbedürftigen Unterla- Es bleibt anzumerken, daß sich die Koalitionsfrak- gen. Es ist durchaus problematisch, hier über Rege- tionen nur sehr zögernd und nur in einem sehr lungen über die Sicherheitsüberprüfung der „Nor- geringen Umfang dazu haben durchringen können, malbürger" abzustimmen, für den eigenen Bereich sachgerechten Änderungsvorschlägen des Bundes- aber ähnliche Prozeduren nicht vorzusehen, wenn beauftragten für den Datenschutz, die die SPD- vergleichbare Sachverhalte im öffentlichen oder pri- Bundestagsfraktion in den Ausschußberatungen zur vaten Bereich tätige Bedienstete betreffen. Es sollte Abstimmung gestellt hat, zuzustimmen. Gewiß, wir gründlich durchdacht und geprüft werden, ob nicht anerkennen, daß in den Koalitionsgesprächen von eine Ergänzung der einschlägigen Vorschriften im einigen Kollegen der Koalition durchaus Verbesse- Abgeordnetengesetz angebracht ist. rungen durchgesetzt worden sind. In diesem Zusammenhang möchte ich erneut an die (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Datenschutzproblematik im Parlamentsbereich erin- Das ist ja auch schon was!) nern. Die Koalitionsfraktionen, die bei der Verab- Das begrüßen wir an diesem Gesetz. Wir haben auch schiedung der Novellierung des Bundesdatenschutz- mit Freude zur Kenntnis genommen, daß der oder die gesetzes im Herbst 1990 mit Vehemenz der Aufnahme „Verlobte" nunmehr in diesem Gesetz sein oder ihr einer speziellen Regelung für diesen Bereich wider- Leben ausgehaucht haben. Erhalten geblieben sind sprochen hatten, haben seinerzeit aber eine bereichs- uns die „Ehegatten" und „Partner". Aber auch in spezifische Regelung im Rahmen der Geschäftsord- diesem Punkt haben wir eine Regelung erreicht, die nung des Deutschen Bundestages angekündigt. nach wie vor problematisch ist, wenn ich bedenke, daß die gemeinsame Erklärung von Ehepartnern, die im Nach umfangreichen Vorarbeiten zwischen den Gesetz vorgesehen ist, nicht herausgenommen wor- Fraktionen sind die erarbeiteten sachgerechten Rege- den ist, sondern nur versprochen wurde, in einer lungen, die auch die Billigung des Bundesbeauftrag- Testphase von einem Jahr eine getrennte Ermittlung ten für den Datenschutz gefunden haben, in den vorzunehmen. Koalitionsfraktionen offenbar spurlos „verschwun- den". Ich meine, daß die gemeinsame Ermittlung und die darauf folgende Bestätigung durch Ehepartner in (Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Hört! Hört!) einem solchen Fall unmöglich ist, da wir ja in aktuel- len Beispielen erfahren haben, daß Ehepartner häufig Die SPD-Bundestagsfraktion hatte der vorgesehenen nicht wissen, ob ihr Partner tatsächlich sicherheitsre- Ergänzung der Geschäftsordnung des Deutschen levante problematische Dinge gemacht hat. Bundestages zugestimmt. Nicht nur im Bereich der Stasiaktenaufarbeitung Unter diesen Voraussetzungen kann man die Frage haben wir schreckliche Beispiele erlebt. Es gibt auch stellen, ob es sich bewahrheitet, was einmal ein aktuelle Beispiele im Westen, wo Ehepartner völlig verstorbener Politiker in einem anderen Zusammen- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17061

Gerd Wartenberg (Berlin) hang gesagt hat: daß die für Menschen gemachten anderen Beteiligten hat, dann könnten wir mit der Gesetze auf Abgeordnete keine Anwendung finden. Gesetzgebung meinetwegen heute abend begin- (Beifall bei der SPD) nen. Ich glaube, wir sollten selbstkritisch über diese Dinge Nun aber zu dem Gesetz selber; sonst kann ich gar nachdenken. Das schmort alles. Es muß in diesem nichts mehr sagen. Ich halte schon die Überschrift Zusammenhang gelöst werden. Die Koalitionsfraktio- dieses Gesetzes für falsch. Denn es geht ja nicht um nen sind hier im Wort. die Überprüfung von Sicherheit, sondern um die Überprüfung von Menschen, die Zugang zu klassifi- Vielen Dank. zierten Dossiers haben. Und das sind eine ganze (Beifall bei der SPD) Menge. Es gibt Sammlungen über schätzungsweise 600 000 Menschen. Über jeden, der Zugang zu klas- sifiziertem Material hat — Beamte in allen Ministe- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun spricht der rien, Beschäftigte in der Wirtschaft, im öffentlichen Kollege Dr. Burkhard Hirsch. Dienst—, ist eine Sicherheitsakte entstanden. Und das ist keine Kleinigkeit, weil der Zugang zu den Akten Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Frau Präsidentin! beschränkt ist und hier in der Tat Daten gesammelt Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe werden, die sich auch aus Umfeldbefragungen bei bei meinen fünf Minuten Redezeit leider nicht die entsprechenden Zugängen ergeben können, Akten, Gelegenheit, jetzt im einzelnen auf die Angriffe des die den einzelnen auf Lebenszeit begleiten. Kollegen Wartenberg auf die Datenschutzgesetzge- Ich muß leider sagen, daß der Regierungsentwurf, bung insgesamt einzugehen. den wir bekommen hatten, nicht gut war. Darin war Nur, Herr Kollege Wartenberg: Sie wissen eigent- eine Fülle alten Denkens, als ob sich die Welt nicht lich genau, daß in den zehn Jahren nach dem Volks- verändert hätte. zählungsurteil nicht etwa nichts gemacht worden ist, Ich bin dem Kollegen Belle sehr dankbar, daß wir sondern daß wir eine Fülle von datenschutzrechtli- uns in relativ kurzer Zeit auf vernünftige und etwas chen Regelungen getroffen haben, für manche viel zu modernere, schlankere Regelungen haben verständi- viele; nicht nach meiner Meinung, aber manche sehen gen können, indem wir gerade bei den einfachen das so. Vertraulichkeitssachverhalten — NfD und „VS-Ver- (Zurufe von der CDU/CSU: Sehr wahr!) traulich" — die Prüfungen wesentlich abgeschlankt Sie wissen, daß wir ein Datenschutzgesetz haben, das haben und indem wir insbesondere die Rechte dritter auf europäischer Ebene vorbildlich ist. Personen, die mit einer klassifizierten Person in einem gemeinsamen Haushalt leben — Ehepartner, Lebens- (Gerd Wartenberg [Berlin ] [SPD]: Das habe gefährte, erwachsene Kinder —, erweitert haben, daß, ich bestätigt!) wenn sie in Prüfungen einbezogen werden, dies nicht Ich wäre angesichts der zunehmenden Verflechtun- ohne ihren Willen, ohne ihre Kenntnis geschieht und gen zwischen den europäischen Ländern sehr froh, daß sie sich selber in einem Verfahren darüber einigen wenn es in den anderen europäischen Ländern — wir können. Ich glaube, daß Herr Kollege Belle das können ja keine „Dateninsel" bilden — auch nur nachher im einzelnen darstellen kann; meine Rede- annähernd gleichwertige Regelungen gäbe oder zeit ist nahezu abgelaufen. wenn wir sähen, daß sie entstehen, damit wir uns nicht Ich will zum Schluß nur noch einen Gedanken abkapseln. Nehmen Sie die Verfassungsschutzge- äußern. Der Umfang dieser Prüfungen hängt im setzgebung. Wir sind das einzige Land in Europa, das Grunde genommen davon ab, wieviel Mate rial klassi- auch diesen Bereich gesetzgeberisch geregelt hat. Ich fiziert wird, also als vertraulich oder in irgendeiner glaube also, daß man da der Bundesregierung und dem Parlament wenig vorhalten kann. Weise „Geheim" gestempelt wird. Wenn Sie sich in Ihren Schlußworten auf die Daten- Ich habe manchmal den Eindruck — und das ist hier schutzregeln im Deutschen Bundestag beziehen, oft genug gesagt worden —: Was hier im Plenum des dann wird Ihnen Herr Kollege Wiefelspütz sagen Deutschen Bundestages in aller Öffentlichkeit gesagt können, daß wir seit Wochen in einem Austausch wird, ist und bleibt häufig mehr geheim als das, was in darüber sind, wie die endgültigen Regelungen ausse- qualifizierten Dokumenten steht. Das liegt daran, daß hen können. Ich habe vor vierzehn Tagen oder drei dann, wenn ein „Geheim"-Stempel auf eine Sache Wochen Herrn Kollegen Wiefelspütz einen abschlie- kommt, jeder ein großes Interesse entwickelt, das erst ßenden Textvorschlag gemacht. Wenn ich heute einmal zu lesen, weil er meint, daß dort ungeheure durch ihn erfahren würde, daß er mit den Formulie- Dinge stehen. rungen einig ist, könnten wir zu Beginn des nächsten Darum kann man ein solches Gesetz nicht abschlie- Jahres die von Ihnen angemahnte Gesetzgebung im ßend bewerten, und man kann nicht dafür sorgen, daß Einverständnis aller Fraktionen erledigen. Es tut mir wir uns von übertriebener Geheimniskrämerei also leid, wenn Sie nicht informiert sind. Aber da ist befreien, wenn nicht die Verwaltung selber begreift, nichts liegengeblieben. daß sie in der Klassifizierung von Dokumenten (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Herr Hirsch, allein zurückhaltender sein muß, als sie es bisher ist. von Ihnen hängt das auch nicht ab!) Es ist nicht so, daß wir von Feinden umgeben sind, — Nein, Herr Kollege Wiefelspütz; aber wenn Sie mir die nichts anderes im Sinn haben, als unsere Akten in sagen würden, daß Sie mit dem Textvorschlag einver- allen Details durchzuschnüffeln. So ist es nicht. Ich standen sind, der in der Tat die Zustimmung aller glaube, daß etwas mehr Gelassenheit auch in diesem 17062 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Dr. Burkhard Hirsch Bereich der Verwaltung wünschenswert und möglich verwandeln können" — so heißt es in der Begründung ist. des Gesetzentwurfs —, lehnen wir diese Sicherheits- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) philosophie ab. Danke. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun spricht die (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Kollegin Frau Ulla Jelpke. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster Ulla Jelpke (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! spricht der Kollege Dr. Wolfgang Ullmann. Meine Damen und Herren! Ein bisher ohne Gesetz geregelter Bereich der umfassenden Datenerhebung Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und Datenweitergabe soll gesetzlich geregelt werden. NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man so will, ist das eine gute Botschaft. Die Von Geist, Logik und Inhalt dieses Gesetzes kann ich schlechte ist: Den Sicherheitsüberprüfungen — übri- mich nur entschieden distanzieren. Sie wissen, daß ich gens ein Fossil vor allem des Kalten Krieges und der das sehr ungerne tue. Aber in diesem Falle muß es Kommunistenhatz — wird neues Leben eingehaucht. sein. Der Grund steht in der Begründung des Geset- Geregelt werden nämlich im wesentlichen die Verfah- zestextes. Dort steht ein Satz: ren der Bearbeitung und der Weitergabe von Daten, nicht aber das Verbot von umfassenden Erhebun- Im Vordergrund stehen dabei Bestand und gen. Sicherheit des Staates, weil sie als Garanten für die Individualrechte erhalten bleiben müssen. Kann wenigstens, wie es der Gesetzentwurf ver- spricht, von einer schrumpfenden Zahl von Sicher- Es ist dieser Satz, dem das Gesetz entspricht, der heitsüberprüfungen ausgegangen werden? Der kurze mich aber zu dieser entschiedenen Distanzierung Abschnitt 3 der Gesetzesbegründung und die reale veranlaßt. Hier wird die Priorität der Staatssicherheit Entwicklung legen das genaue Gegenteil nahe. Klar ausgesprochen und gegen das Demokratieprinzip der wird dann nämlich, daß gegen die heutigen Bedro- Priorität von Menschen- und Bürgerrechten argumen- hungsanalysen der alte Feind: die sozialistischen tiert. Staaten und ihre sogenannten fünften Kolonnen in der (Meinrad Belle [CDU/CSU]: Als Vorausset Bundesrepublik, einen ziemlich einfach eingrenzba- zung dafür! — Erwin Marschewski [CDU/ ren Feind abgab. CSU]: Das erklären Sie jetzt, Herr Pastor!) Da Ihnen schlicht und einfach das alte Feindbild Zwingend, so denke ich, sind dann auch die Folgen abhanden gekommen ist, sehen Sie die Sicherheit und die Ergebnisse dieser Prinzipienumkehr. Ge- überall bedroht. In einer solchen Situation schrumpft heime Verschlußsachen und Geheimhaltungsinteres- der Sicherheitsbereich nicht, wie das Gesetz es ver- sen der Rüstungsindustrie werden zum Maßstab, an spricht; er dehnt sich meines Erachtens ins Unermeß- dem persönliche Eigenschaften wie Zuverlässigkeit, liche und Allgegenwärtige aus. Sicherheitsempfind- Verfassungstreue, Nichtbestechlichkeit und Nichter- lich sind inzwischen nämlich auch High-Tech und - preßbarkeit gemessen werden. Kommunikationsindustrien, Versorgungseinrichtun- Meine Damen und Herren, kommt Ihnen da nicht gen und internationale Wirtschaftszweige. auch ein Gedanke wie mir? Nach welchen Kriterien Meine Damen und Herren, allein die etwa 7 000 wollen wir denn dann die Zuverlässigkeit von Rechts- Bediensteten des BND können eine Gesamtzahl von anwälten, Ärzten und Pfarrern überprüfen, in deren 100 Überprüfungen im p rivaten Bereich nach sich Berufsausübung es nicht um geheime Verschlußsa- ziehen; Verfassungsschutz und Militärischer Ab- chen und Waffen, sondern um die schwerstwiegenden schirmdienst noch mal so viele. Das sind Unterneh- persönlichen Geheimnisse von Menschen geht? men, denen man eine Sicherheitsüberprüfung zur Not Es weiß doch hier alle Welt, daß allein die Berufs- noch zugestehen mag. praxis selber über die Zuverlässigkeit und Vertrau- Ganz anders aber ist es mit den 2 Millionen Beschäf- enswürdigkeit entscheidet und entscheiden kann. Bei tigten in bundesdeutschen Betrieben, die bereits seit Geheimnissen viel geringerer moralischer Dignität 1988 sicherheitsüberprüft und politisch selektiert wur- soll es nun Überprüfungen geben, in die engste den, wie es der Experte Rolf Gössner schreibt. Laut Vertraute einbezogen werden. Datenschutzbericht von 1988 waren es Ende der 80er Meine Damen und Herren, ich möchte gerne wis- Jahre allein in Bayern über 1 000 Betriebe unter- sen, wie diese Überprüfungen in irgendeiner über- schiedlicher Branchen. In Hamburg waren es neben zeugenden Weise von der Aufforderung zum Denun- Rüstungsbetrieben und Werften insbesondere die zieren und zur Kollaboration getrennt werden sollen, Verkehrs- und Versorgungsbetriebe, deren Beschäf- und zwar auch, wenn man einen solchen Gesetzent- tigte zum potentiellen Sicherheitsrisiko erklärt wur- wurf macht und damit eine Legalität herstellt. Ich den. kann das nicht sehen. Als ob jemand — auch wenn er Damals wurde das heimlich gemacht. Mit anderen zustimmen darf —, der genau die karrieregefährden- Worten: Die Betroffenen haben nicht erfahren, daß sie den Konsequenzen seiner Entscheidung kennt, noch überprüft wurden. Heute, nach dem neuen Gesetz, im geringsten frei wäre, ja oder nein in dieser heiklen müssen sie ihre Einwilligung geben, wenn sie einen Sache zu sagen! Das müssen Sie mir erst noch klar- Job haben wollen. machen. Weil „sich latente Gefahren täglich in konkrete Es stünde — so ist mein Gesamturteil — wirklich Gefährdungen des Staates und seiner Bevölkerung traurig um die Demokratie, wenn der Gesetzentwurf Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17063

Dr. Wolfgang Ullmann recht hätte, daß es keine Alternativen gibt. Aber es Allerdings will ich feststellen, meine Damen und gibt sie natürlich. Man braucht nur den Abschnitt I der Herren, daß wir uns wirklich alle bei der Beratung Begründung zu lesen. Man könnte die vorhandene dieses Gesetzentwurfs an die Grundmaxime des ame- Gesetzeslage datenschutzrechtlich modernisieren, rikanischen Staatsmannes, Philosophen und Erfinders und man könnte durchaus die die individuelle Diskri- Benjamin Franklin gehalten haben. Dieser sagte: minierung vermeidende Regelüberprüfung machen. Wer Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, Ich kann leider nur sagen: Daß man mit einem verdient weder Freiheit noch Sicherheit. solchen Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag in eine vorbildliche Demokratie gehen kann und hier (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. eine Mehrheit bekommt, ist für mich eine befremdli- sowie bei Abgeordneten der SPD) che Tatsache. Ich möchte feststellen, daß wir die Interessen der zu (Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Herr Ullmann, überprüfenden Personen und auch die Datenschutzin- wollen Sie eine Regelüberprüfung ma- teressen in fast vorbildlicher Weise berücksichtigt chen?) haben. — Das könnte ich. Trotz der Kritik des Kollegen Wartenberg möchte ich die gute Zusammenarbeit der Berichterstatterkol- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) legen, aber auch — und das muß besonders erwähnt werden — das deutlich erkennbare Bemühen des Bundesinnenministeriums, auf unsere Vorstellungen Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat einzugehen, lobend erwähnen. Auch das muß einmal das Wort der Kollege Meinrad Belle. gesagt werden. Meine Damen und Herren, das Gesetz regelt die Meinrad Belle (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Voraussetzungen und das Verfahren der Überprü- sehr geehrten Damen und Herren! Haben wir beim fung von Personen, die im öffentlichen Dienst oder im Sicherheitsüberprüfungsgesetz wirklich alles richtig privaten Bereich mit geheimzuhaltenden Angelegen- gemacht? Das fragte ich mich, als gestern im Innen- heiten beschäftigt sind. Einzelheiten, die das Sicher- ausschuß die Koalitionsfraktionen dem Gesetz zuge- heitsrisiko begründen, und die Folgen für die stimmt und sich die Kolleginnen und Kollegen von der Beschäftigten bei einem eventuellen Sicherheitsrisiko SPD der Stimme enthalten haben. Heute brauche ich sind gesetzlich geregelt. Damit wird die 1990 aus mich das nicht mehr zu fragen. Nach der Rede des Datenschutzgründen vom Bundestag aufgestellte For- Kollegen Wartenberg ist es natürlich klar, daß wir das derung erfüllt, die bisher in verschiedensten Richtli- ganz offensichtlich richtig gemacht haben, Herr nien enthaltenen Sicherheitsbestimmungen gesetz- Hirsch. lich zu regeln. Denn eigentlich könnte man bei dieser Sachlage Die Sicherheitsüberprüfung ist aus Gründen des vermuten, daß die öffentlichen Sicherheitsinteressen Geheimschutzes notwendig. Dem Geheimschutz un- möglicherweise nicht ausreichend gewahrt sind. Ich terliegen Informationen, deren Kenntnis den Bestand habe daher, um ganz sicherzugehen, die wichtigsten oder lebenswichtige Interessen, die Sicherheit oder Bestimmungen nochmals überprüft. Meine Befürch- die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder tungen waren grundlos. eines der Länder gefährden. Von diesen zu schützen- Lieber Kollege Wartenberg, jetzt haben wir bei den Informationen sollen Nichtberechtigte keine dieser Gesetzgebung im Ausschuß so hervorragend Kenntnis erhalten. zusammengearbeitet; ich habe gedacht, das kommt Die aus den früheren Regelungen übernommenen heute bei Ihnen zum Ausdruck. Ich habe natürlich Sicherheitsstufen lauten nach wie vor: „Verschlußsa- Verständnis dafür: Es ist außerordentlich schwierig, che", „VS — Nur für den Dienstgebrauch", „VS- Regierungskoalition zu loben, wenn sie etwas Gutes Vertraulich", „Geheim", „Streng geheim". Gesetz- gemacht hat. Das ist natürlich ein bißchen problema- lich festgelegt wurde nun, daß eine Sicherheitsüber- tisch. prüfung erst ab der Sicherheitsstufe 2, also bei „VS- Zu den eigentlichen Beanstandungen hat der Kol- Vertraulich", beginnt und bei der Einstufung „Ge- lege Dr. Hirsch schon etwas gesagt. Er ist länger dabei heim" bzw. „Streng geheim" erweitert fortzuführen als ich; er kann das noch besser beurteilen. ist. Also, meine Damen und Herren: Die öffentlichen Lassen Sie es mich bildhaft ausdrücken: Bei der Sicherheitsinteressen sind voll gewahrt. Beratung dieses Gesetzentwurfes wandelten wir auf einem schmalen Grat, denn es waren immer die Auf die Einwendungen des Kollegen Dr. Ullmann, Freiheitsrechte des einzelnen gegenüber den Sicher- meine Damen und Herren, kann ich leider nicht heitsinteressen des Bundes und der Länder abzuwä- eingehen; dazu reicht mir die Redezeit nämlich nicht. gen. Ich stelle für meine Kollegen fest, daß uns diese Ich bin aber gern bereit, in einem persönlichen Gratwanderung gut gelungen ist; und ich bitte Sie, Gespräch die Hintergründe dieses Gesetzes mit diesem Sicherheitsüberprüfungsgesetz zuzustim- Ihnen, Herr Dr. Ullmann, zu besprechen; denn ich men. muß leider sagen: Sie haben Sinn und Zweck dieses Gesetzes offenbar gar nicht erkannt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Wenn es einen Als zuständiger Berichterstatter will ich abschlie- Wert hat! — Erwin Marschewski [CDU/ ßend allerdings noch auf ein redaktionelles Versehen CSU]: Das macht er öfter so!) hinweisen. Bei der Zusammenstellung des uns heute 17064 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Meinrad Belle vorliegenden Gesetzestextes wurde versehentlich vielen Enthaltungen im Verhältnis zur Anwesenheit — im Hinblick auf die Kürze der Zeit und die große im Parlament angenommen. Eile verständlich — die Anregung in Ziffer 21 des Damit kommen wir zur Bundesrates, der die Bundesregierung zustimmte und die wir am 24. November 1993 im Innenausschuß dritten Beratung einvernehmlich beschlossen hatten, nicht übernom- und Schlußabstimmung. men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim- Ich weise daher darauf hin, daß der vorliegende men wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? Gesetzestext in § 21 Abs. 1 wie folgt zu ändern ist: — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Gesetzent- Erstens. In Satz 1 Nr. 2 sind die Worte „wenn die wurf angenommen. Strafverfolgung ansonsten erheblich erschwert würde" zu streichen. Ich rufe damit den Tagesordnungspunkt 10 und den Zweitens. Nach Satz 1 ist folgender Satz einzufü- Zusatzpunkt 3 auf: gen: 10. Beratung der Großen Anfrage der Abgeordne- Die Strafverfolgungsbehörden dürfen die ihnen ten Antje-Marie Steen, Carl Ewen, H ans Gott- nach Satz 1 Nr. 2 übermittelten Daten für Zwecke fried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der eines Strafverfahrens nur verwenden, wenn die Fraktion der SPD Strafverfolgung auf andere Weise erheblich weniger erfolgversprechend oder wesentlich Reisemöglichkeiten für behinderte Men- erschwert wäre. schen Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, auch — Drucksachen 12/3649, 12/5086 — wenn sie auf der linken Seite nur eingeschränkt ZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten vorhanden war. Dr. Rolf Olderog, Wilfried Bohlsen, Wolfgang (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Börnsen (Bönstrup), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Michaela Blunk (Lübeck), Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort zu einer Dr. Eva Pohl, Dr. Olaf Feldmann, weiterer Erklärung zur Abstimmung nach § 31 unserer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Geschäftsordnung erhält der Kollege Konrad Weiß. Urlaubs- und Freizeitmöglichkeiten für behin- derte Menschen Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): — Drucksache 12/6290 — Vielen Dank. — Frau Präsidentin! Meine Damen und Überweisungsvorschlag: Herren! Ich habe Bedenken gegen die Verfahrens- Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus (federfüh- weise dieses Gesetzes, und ich habe mich dennoch rend) entschlossen, diesem Gesetz zuzustimmen. Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie und Senioren Ich stehe unter dem Eindruck der Kommunalwah- Ausschuß für Gesundheit len in Brandenburg, wo radikale Kräfte in den öffent- lichen Dienst drängen. In Frankfurt an der Oder Zur Großen Anfrage liegt ein Entschließungsantrag kandidiert für das Amt des Oberbürgermeisters ein der Fraktion der SPD vor. Rechtsradikaler, in Potsdam gibt es einen PDS-Ober- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für bürgermeisterkandidaten, der heute als Stasiangehö- die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vor- riger entlarvt worden ist, drei Tage vor den Wahlen. gesehen. Gibt es dazu anderweitige Vorstellungen? — Ich halte es einfach angesichts dieser Situation in Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Deutschland für unverantwort lich, einer solchen Ich rufe Frau Kollegin Antje-Ma rie Steen auf. Sicherheitsüberprüfung — auch, wenn ich das weiß Gott nicht mit frohem Herzen tue — nicht zuzustim- men. Antje-Marie Steen (SPD): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Morgen ist der erste (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) UNO-Tag der behinderten Menschen. Ich finde, es ist dieses Hohen Hauses würdig, daß wir heute auch eine Vizepräsidentin Renate Schmidt: Wir kommen jetzt, Debatte über Reisen und Urlaub für Menschen mit nachdem keine weiteren Wortmeldungen mehr vor- Behinderungen führen. liegen, zur Einzelberatung und Abstimmung über den Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt eine von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf Lebensweisheit, die lautet: Wenn einer eine Reise tut, eines Sicherheitsüberprüfungsgesetzes auf den dann kann er viel erzählen. So können viele Men- Drucksachen 12/4891 und 12/6307. schen mit Mobilitätseinschränkungen oder Behinde- Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der rungen ihre Erlebnisschilderungen beginnen. Was für Ausschußfassung unter Berücksichtigung der Ände- den nichtbehinderten Reisenden als ein Teil Urlaubs- rungen, die der Kollege Meinrad Be lle hier vorgetra- abenteuer oder als ungewöhnliches Ereignis empfun- gen hat, zustimmen wollen, um das Handzeichen. — den wird, stellt sich für Mobilitätseingeschränkte als Gegenstimmen? — Darf ich noch einmal bitte fragen, bittere tägliche Realität oder gar Diskriminierung dar. falls es hier Unsicherheiten gibt: Gegenstimmen? — So kann man nicht spontan und ohne große Vorberei- Stimmenthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf tung eine Reise antreten. Wenn man zur Weiterbewe- in zweiter Beratung bei wenigen Gegenstimmen und gung einen Rollstuhl oder eine Hilfe benötigt, ist kein Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17065

Antje-Marie Steen kurzfristig beschlossener Urlaub möglich, da Urlaubs- Ein behindertengerechter ICE nützt leider keinem quartiere und Freizeitangebote erst auf ihre barriere- mobilitätseingeschränkten Reisenden, wenn er nicht freie Möglichkeit nachgefragt werden müssen. hineinkommt oder wenn die Infrastruktur des Bahn- umfeldes einen Zugang gar nicht erst ermöglicht. Im Zeitalter perfektionierter Tele- und Kommunika- Spätere Umrüstung und Umbau sind in jedem Fa ll tionstechniken mühen sich Hör-, Seh- und Sprachbe- teurer als sofortige Herstellung. hinderte um Informationen, die wir als Hörende, Sehende oder Sprachfähige ihnen gedankenlos vor- Wir sind nach wie vor meilenweit davon entfernt, enthalten. Oder wie soll man es denn anders bezeich- dem berechtigten Anspruch nach selbstbestimmter nen als „gedankenlos", wenn Lautsprecherdurchsa- Lebensführung und der uneingeschränkten Teilhabe gen z. B. in den Zügen undeutlich und zu schnell am gesellschaftlichen Leben und Reisen durch gesetz- erfolgen, keine Lichtanzeige den nächsten Zughalt liche Maßnahmen und bauliche Vorgaben Rechnung anzeigt, wichtige Nachrichten- und Politiksendungen zu tragen. ohne Gebärdendolmetscher über unsere Fernseher gehen? (Zuruf von der SPD: Leider wahr!) Kleinwüchsige Menschen und Rollstuhlnutzer kön- Bis heute ist es bei der bloßen Beschlußempfehlung nen weder Fahrpläne lesen noch Telefone benutzen, — ich betone hier: „bloßen" — des Deutschen Bun- wenn sie starr in einer Höhe für normalwüchsige destages, nachzulesen auf Drucksache 11/8213 vom Menschen angebracht sind. Ebenso ergeht es blinden Mitmenschen, wenn sie Informationen nicht ertasten 29. Oktober 1990, geblieben. oder akustisch aufnehmen können. Körperbehinderte (Vorsitz: Präsidentin Dr. Rita Süssmuth) müssen zur Erlangung einer Fahrerlaubnis immer noch einen psychologischen Test ablegen, Rollstuhl- Obwohl es ein einstimmiges Votum gab, Reise- nutzer vor Antritt einer Flugreise ein ärztliches Attest hemmnisse und Erschwernisse für Behinderte durch über ihre Flugtauglichkeit beibringen. umfassnde Maßnahmen in den Bereichen Beförde- Trotz aller Bemühungen der Bundes- und Reichs- rung, Bauten und Informationen zu erleichtern, sind bahn, für Rollstuhlbenutzer über mobile Einstieghil- nur marginale Verbesserungen eingetreten. fen eine Beförderung auf den wichtigsten Bahnhöfen zu ermöglichen, bleibt es nur ein unzureichendes In ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage in Angebot. Nach wie vor muß vor Antritt einer Reise diesem Jahr weist die Bundesregierung darauf hin, umständlich für jeden Ein-, Um- und Ausstieg eine daß sie vielen Entwicklungen zur Gestaltung eines Anmeldung erfolgen, die nur durch zusätzliches Per- barrierefreien Lebensraumes positiv gegenübersteht; sonal oder hohen technischen Aufwand bewältigt aber leider entwickelt sie keine Initiative, ihre Umset- werden kann. zung aktiv zu fördern. So verzichtet sie bis heute darauf, bei der Investititionsförderung kleinerer und Für mich ist die Weigerung der Bundesbahn, fahr mittlerer Beherbergungsbetriebe besondere Konditio- zeuggebundene Einstieghilfen, wie sie in vielen euro- nen für einen barrierefreien Ausbau zu gewähren. päischen Ländern längst zur Selbstverständlichkeit- geworden sind, in deutsche Bahnen einzubauen, nicht Die Möglichkeit eines Verbandsklagerechts seitens nachvollziehbar. Das Kostenargument scheint ein vor- der Behindertenverbände wird auch nicht einge- geschobenes; vielmehr ist es wohl eher die betriebs- räumt. Das ist deshalb wichtig für die Be troffenen, um wirtschaftliche Betrachtungsweise, die allerdings un- z. B. die Einhaltung der DIN-Normen auch notfalls im ter volkswirtschaftlichen Aspekten ganz anders zu Klageweg zu erreichen, da leider alle DIN-Vorschrif- bewerten ist. Es hat bis zum heutigen Tag keine ten nicht verbindlich sind und nicht verpflichtend tatsächliche Kostenermittlung stattgefunden. Inzwi- angewandt werden müssen. schen gibt es bereits konstruktionsfähige Entwicklun- gen auf diesem Gebiet, und ich fordere die Bundesre- Ich darf hier das Hohe Haus an sein eigenes gierung auf, endlich in eine Entscheidungsphase einzu- Bauvorhaben erinnern. Der neue Plenarsaal erweist treten, um wenigstens bei der Neukonstruktion von sich als ein Musterbeispiel für die nicht ausreichende Eisenbahnwaggons diese Einstieghilfen vorzusehen. Berücksichtigung der Forderung der Behindertenver- (Beifall bei der SPD) tretung nach einer barrierefreien Bauweise. Eine weitgehend selbständige Lebensführung und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Handlungsfähigkeit erspart Sonderkosten, wie z. B. der CDU/CSU) für Extratransporte, zusätzliche Hilfspersonen, nur einseitig zu nutzende Einbauten und Geräte. So dient Erst im laufenden Bauvorhaben sind Nachbesserun- ein Niederflurbus nicht nur Rollstuhlnutzern, sondern gen erfolgt. auch Eltern mit Kinderwagen, Menschen mit Mobili- tätseinschränkung und Gehschwierigkeiten, Reisen- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, den mit schwerem Gepäck, älteren Reisenden, kurz: einmal selbst nachzuprüfen, was mit dieser Rampe ist, Barrierefrei und multifunktional dienen technische was am Eingang am Rheinufer los ist und was sich in Hilfen allen Reisenden, egal, ob es sich dabei um bezug auf die Toilettenanlage darstellt. Bundesbahn, den ÖPNV, das Schiff oder das Flugzeug (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Da handelt. hätte sich Herr Conradi sehr verdient (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Genau machen können; aber daran hat er nicht so darum geht es!) viel Interesse!) 17066 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Antje-Marie Steen Das ist nicht behindertengerecht, sondern wirklich Trotz umfangreicher, sorgfältiger Vorbereitung ausgrenzend. Noch immer müssen Rollstuhlbenutzer gelang es z. B. nicht, den EC in Puttgarden mit einem den Lastenaufzug im neuen Hochhaus besteigen, Rollstuhl über eine Einstieghilfe zu verlassen, da diese wollen sie Abgeordnete in ihren Büros aufsuchen — schlicht nicht angeliefert wurde. Der Zugang zu übrigens nur über den Lieferanteneingang erreich- Ausflugs- oder Fährschiffen, zu Badeanlagen oder bar! Restaurants war kein einziges Mal behindertenge- recht oder gar barrierefrei. Diskriminierende Situati- Sicherlich ist es richtig, darauf zu verweisen, daß onen wie die Benutzung von Lastenaufzügen in nur durch ausreichende Information der Bevölkerung Restaurants, vorbei an Müllcontainern, unzurei- die Integrationsbemühungen erfolgreich verlaufen chende WC-Anlagen und Wanderwege — all das können. Aber wie ist es dann zu verstehen, daß die verursachte physischen und psychischen Streß für alle Koalitionsparteien sich verweigern und einer Auf- in der Gruppe. nahme des Verfassungsgebots zur Gleichstellung Behinderter — „Niemand darf wegen seiner Behinde- Und immer wieder die Situation, auch von uns rung benachteiligt werden" — in das Grundgesetz nicht folgen? Wie, bitte sehr, soll gesellschaftliche erlebt, die wir nicht behindert sind — die Frage: Warum reisen Sie auch mit so viel Behinderten? Wir Akzeptanz erreicht werden, wenn sich die Regie- waren sechs Behinderte in einer Gruppe von zehn rungsparteien gegen die integrationsstiftende Wir- Reisenden. kung von Verfassungsgrundsätzen wehren und in Kauf nehmen, daß dem Gleichstellungsanspruch und dem Schutzbedürfnis behinderter Bürger und Bürge- Reisen und Urlaub machen, liebe Kollegen und Kolleginnen, darf nicht mehr ein Privileg der soge- rinnen angesichts zunehmender Ausschreitungen nannten Gesunden sein. In der Bundesrepublik leben und Belästigungen gegen sie keine Beachtung 6 Millionen geschenkt wird? Menschen mit Behinderungen und Mobi- litätseinschränkung. Über 96 % von Ihnen erleiden (Beifall bei der SPD) diese Behinderung im Laufe ihres Lebens durch Krankheit, Unfall oder Alterungsprozeß. Und dazu Noch immer klaffen zwischen Verfassungsanspruch können wir alle hier auch sehr schnell zählen. Für sie, und Verfassungswirklichkeit große Lücken. Das viel- aber auch für ihre Familien bedeutet Urlaub zu zitierte und in seiner Auswirkung verhängnisvolle machen immer noch eine Hindernisrallye — von der sogenannte Flensburger Urteil ist ein deutliches Zei- Suche nach der behindertengerechten Unterkunft bis chen dafür. hin zur Freizeitgestaltung. Strände, Sehenswürdig- (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Das wird keiten, Wanderwege, Museen, historische Gebäude dort gar nicht erwähnt!) und vieles mehr sind Menschen mit Mobilitätsschwie- rigkeiten, aber auch ihren Angehörigen überwiegend Die Begründung des Urteils — „Der unausweichliche verschlossen. Und sehr schnell verstecken sich Veran- Anblick der Behinderten auf engem Raum bei jeder stalter und politisch Verantwortliche hinter gesetzli- Mahlzeit verursachte Ekel und erinnerte ständig in chen Vorschriften, z. B. feuerpolizeilicher oder versi- einem ungewöhnlich eindringlichen Maße an die cherungsrechtlicher Art, um somit den M angel an Möglichkeit menschlichen Leidens" — drückt eine barrierefreien öffentlichen Einrichtungen zu begrün- Mißachtung der Menschenwürde dieser behinderten den. Menschen aus. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja Unser Ziel ist es, behinderte Menschen in ihrer Seifert [PDS/Linke Liste]) Existenz und ihrer Besonderheit ohne Ausnahme zu akzeptieren. Das bedeutet, daß Menschen mit Behin- Ich kenne sehr viele Behinderte, die mit ihrem derungen ihr Leben so selbstbestimmt führen können, Schicksal sehr emanzipiert umgehen, aber an den daß es dem ihrer nichtbehinderten Mitbürgerinnen äußeren Umständen verzweifeln, die sie immer wie- und Mitbürger entspricht. der zum Objekt machen, die ihnen ihre Hilflosigkeit und Abhängigkeit ständig vor Augen führen. Das ist (Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke der Leidensdruck, der durch eine hinhaltende und Liste]) unsensible, der Situation der behinderten Menschen nicht gerecht werdende Politik erzeugt wird, an der Die Gestaltung unseres Lebensumfeldes muß sich Sie, meine Damen und Herren von der Regierungsko- an die Lebenssituation der Menschen mit Behinderun- alition, sich leider beteiligen. gen und Mobilitätsschwierigkeiten anpassen, wollen (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Schönfär- wir Ausgrenzung und Diskriminierung vermeiden. berei!) Richten wir keine künstlichen Hürden auf, wo sie vermeidbar sind, im Straßenraum, bei der Gestaltung Wie weit wir in der Bundesrepublik noch von einer historischer Plätze und Bauten. annähernd zumutbaren und barrierefreien Freizeit- und Urlaubsgestaltung entfernt sind, konnten wir als Ich zitiere den Herrn Bundespräsidenten aus einer Arbeitsgruppe bei unserer gemeinsamen Reise nach Ansprache aus dem Jahre 1993: „Behindertengerecht Schleswig-Holstein mit mobilitätseingeschränkten ist menschengerecht." Beseitigen wir endlich die Mitreisenden hautnah erleben, wobei die Ereignisse Barrieren in unseren Köpfen und üben wir Solidarität und Erlebnisse in Schleswig-Holstein auf die gesamte und einen selbstverständlichen Umgang der Men- Bundesrepublik übertragbar sind und durchaus keine schen miteinander, ohne Ansehen der körperlichen, Sondersituation darstellen. geistigen, seelischen und materiellen Unterschiede. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17067

Antje-Marie Steen Das gehört zu den wichtigsten Elementen einer Das ist angesichts all der vielen moralischen Appelle Demokratie. und der Aufforderung zur Integration einfach nicht zu (Beifall des Abg. Dr. Ilja Seife rt [PDS/Linke begreifen. Liste]) (Zuruf von der SPD: Das ist skandalös!) In diesem Sinne bitte ich Sie um die Zustimmung zu Ich möchte ein zweites Beispiel nennen. Ein großer dem Entschließungsantrag der SPD-Fraktion, der Reiseveranstalter, der auch behindertengerechte An- Ihnen vorliegt und dessen Inhalt auf den bitteren gebote in seinem Programm hat, weist nicht mit einem Erfahrungen vieler Be troffener im Erleben ihrer tägli- einzigen Wort in seinem Katalog darauf hin. Dazu chen Ausgrenzung aus der Gesellschaft der Nichtbe- befragt, hat der Leiter der Kundenabteilung gesagt: hinderten beruht. „Das würde bedeuten, daß solche Hotels von den Normalen nicht mehr gebucht würden." Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Meine Damen und Herren, diese deprimierende (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste, Aussage kennzeichnet mehr als manches andere die dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei traurige Wirklichkeit zum Thema Integration behin- Abgeordneten der CDU/CSU) derter Menschen in Deutschland im Jahre 1993.

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Bevor ich das Wort Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Gestatten Sie eine an Herrn Olderog gebe, möchte ich sagen: Ich habe Zwischenfrage des Abgeordneten Ullmann? Sie gehört. Im Wasserwerk waren überhaupt keine Vorkehrun- Dr. Rolf Olderog (CDU/CSU): Ja, gern. gen für Behinderte ge troffen und in der Anfangspla- nung für den Plenarsaal waren ebenfalls keine vorge- sehen. Wir haben das alles mühsam hinterher nach- Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- geplant. Das ist nicht optimal geworden. Für Berlin NEN): Herr Kollege Olderog, Sie haben das in sehr machen wir es jetzt vielleicht erstmalig so, wie wir aus eindrucksvoller Weise dargestellt, wie es auch um die dem Lernprozeß hervorgehen. Rechtsprechung bestellt ist. Können Sie mir dann bitte erklären, warum Ihre Fraktion den Antrag nicht unter- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und stützt hat, das Diskriminierungsverbot in die Verfas- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sung aufzunehmen? Dann wären solche Urteile nicht Ich möchte noch hinzufügen, daß hier sehr viel mehr möglich. Mühe darauf verwandt wurde, das im Nachhinein einzuplanen. Einige Widerwärtigkeiten sind leider (CDU/CSU): Das ist ein doch sehr geblieben. Dr. Rolf Olderog anderes Feld. Wir haben uns damals von der Fraktion Als nächster spricht unser Kollege Olderog. sehr massiv und sehr eindeutig gegen diese Recht- sprechung gewandt. Ich selbst habe dazu eine Erklä- rung abgegeben. Das Antidiskriminierungsrecht, wie Dr. Rolf Olderog (CDU/CSU): Frau Präsidentin! es in den USA besteht, paßt nicht zum deutschen Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich fand es Rechtssystem. Wahrscheinlich haben wir es deswe- eindrucksvoll, mit welchem Engagement sich die Frau gen — so genau weiß ich das gar nicht — abge- Kollegin Steen — wir kommen beide aus Osthol- lehnt. stein — diesem Thema gewidmet hat. Ich finde es (Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke überhaupt erfreulich, daß sich über alle Parteigrenzen Liste]) hinweg die Fremdenverkehrspolitiker dieses Themas „Mehr Möglichkeiten für Urlaub und Freizeit für Meine Damen und Herren, wie können wir Ängste Behinderte" angenommen haben. und Vorurteile abbauen? Toleranz und gesellschaftli- che Akzeptanz gegenüber behinderten Urlaubern, Mein Eindruck ist, daß es das zentrale Problem für überhaupt gegenüber allen Behinderten können nicht die Integration von Behinderten und Nichtbehinder- einfach von oben verordnet werden. Viele der Vorbe- ten ist, daß die Vorurteile, die Berührungsängste und halte entstehen aus Unkenntnis, aus mangelnder Unsicherheiten abgebaut werden. Was Richtlinien, Erfahrung im Umgang mit dieser Bevölkerungs- Empfehlungen für einheitliche Normen, Förderpro- gruppe. Deshalb ist es so wichtig, daß wir überall dort, gramme, Wissenschaften und dergleichen mehr wo sich Chancen für ein Miteinander von Behinderten angeht, finde ich, ist schon sehr viel geschehen. und Nichtbehinderten finden, diese konsequent Aber an der Einstellung der Menschen zum Positi- unterstützen und fördern. Dabei sind auch öffentliche ven hat sich fast nichts verändert, allen Appellen zum Appelle der Verantwortlichen und an die im gesell- Trotz. Ich möchte auf zwei Beispiele hinweisen, die schaftlichen Leben Verantwortlichen immer wieder das deutlich machen. Das ist einmal das Beispiel der besonders wichtig. Deshalb begrüße ich im Bereich Gerichtsurteile, Frau Steen hat das schon angespro- des Fremdenverkehrs besonders auch die Leitlinien chen. Es ist wirklich schwer zu begreifen, daß es des Deutschen Fremdenverkehrsverbandes von Juli Gerichtsurteile in Deutschland gibt, die besagen, daß 1993, der, wie ich finde, sehr eindringlich und ein- die Anwesenheit von Behinderten im Hotel ein Reise- drucksvoll zu diesem Thema Stellung bezogen hat mangel ist und dazu berechtigt, den Preis zu min- und an all die vielen Verantwortlichen im Fremden- dern. verkehr appelliert hat. (Beifall im ganzen Hause) (Beifall der Abg. Karin Jeltsch [CDU/CSU]) 17068 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Dr. Rolf Olderog Ich empfinde die Antwort der Bundesregierung auf gibt natürlich noch bessere Systeme, die aber leider die Große Anfrage als eine erfreuliche Aussage. auch viel, viel teurer sind. (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Ist ja nicht (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Es handelt zu fassen! So etwas Langweiliges und Nichts- sich um Neubauten, die sowieso gemacht sagendes!) werden! Keine zusätzlichen Kosten!) — Ja, das ist zu fassen. Für mich ist das jedenfalls zu — Es mag ja sein. Ich finde, daß das, was z. B. im fassen. Man kann natürlich ex treme Forderungen und Bereich der S-Bahnhöfe, anderer Bahnhöfe, ICE-, Vorstellungen haben. Aber man muß doch einmal EC-, IC- und anderer Züge sowie der Flughäfen sehen, welch eine Fülle von Aktivitäten in den unter- inzwischen erreicht worden ist, durchaus nicht Kritik, schiedlichsten Bereichen inzwischen gestartet wor- sondern Anerkennung verdient. den ist. Bis 1994 werden die bedeutendsten 370 Bahnhöfe (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Überhaupt mit Hubliften und Rampen ausgestattet sein. Meine nichts! — Gegenruf der Abg. Ka rin Jeltsch Damen und Herren, ich möchte jedenfalls der Bundes- [CDU/CSU]: Stimmt doch nicht!) regierung für ihre Aktivitäten danken. Diese wären — Ich habe das so empfunden. Ich finde, man muß aber nicht möglich und denkbar ohne das Engage- auch ein bißchen nüchtern sein. Man kann sich immer ment der Behindertenverbände. Auch den Verant- mehr vorstellen, man kann perfektionistische Maß- wortlichen dort möchte ich einen sehr herzlichen stäbe anlegen. Ich glaube, daß sich die Bundesregie- Dank heute sagen. rung auf vielen Gebieten bemüht — sie ist noch nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) am Ziel —, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Wenn ich mich frage, wo die größten Defizite sind (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) — es gibt Defizite; da sind wir uns alle einig —, dann Wir müssen doch sehen, meine Damen und Herren, finde ich, daß insbesondere dort, wo die größten was insbesondere auf dem Gebiet des Transportwe- Anforderungen bestehen, nämlich im Bereich der sens, des Verkehrswesens in den letzten Jahren a lles Städte und Gemeinden, und vor allem im Bereich der gemacht worden ist. privaten Wirtschaft noch am meisten zu tun ist; da wir (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das muß man hier über Tourismus sprechen: insbesondere auch im doch mal zur Kenntnis nehmen!) Bereich der privaten Tourismuswirtschaft. Man kann natürlich sagen: Finanzen interessieren (Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke überhaupt nicht. Aber wer sich diese Dinge ein Liste]) bißchen finanzpolitisch verantwortungsbewußt an- Oft spielt fehlendes Geld dabei eine Rolle, oft aber sieht, kommt um ein positives Urteil der vielen Initia- — und das ist ja vorhin schon bei der Architektur hier tiven und Aktionen gar nicht herum. angesprochen worden — wohl auch Gedankenlosig- (Beifall bei der CDU/CSU) keit derjenigen, die mit der Planung, mit der Archi- tektur beauftragt sind. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Kollege Olde- Um so mehr möchte ich besonders denjenigen rog, der Abgeordnete Seifert möchte eine Zwischen- danken, die nun einmal als Privatverantwortliche frage stellen. Gestatten Sie das? Vorbildliches geleistet haben. Vorbildlich ist z. B. der größte deutsche Reiseveranstalter TUI, der einen speziellen Urlaubskatalog für Behinderte herausge- Dr. Rolf Olderog (CDU/CSU): Ja, bitte schön. geben hat. Das sollte einmal sehr lobend hervorgeho- ben werden. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Seifert. Vorbildlich ist weiter z. B. der von der Bundesregie- rung geförderte Reiseführer „Handicapped Reisen in Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Herr Kollege Deutschland". Olderog, können Sie es wirklich als Bemühen der Bundesregierung erkennen, etwas für die Menschen mit Behinderungen zu tun, wenn sie neue Bahnsteige Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Gestatten Sie eine bauen läßt und in ihrer Antwort sogar schreibt, daß weitere Zwischenfrage? dort eine Stufe bleiben wird? Sie sagt, das sei doch kein Problem. Aber jemand im Elektrorollstuhl kommt über eine Stufe von 5 cm nicht hinweg, auch nicht mit Dr. Rolf Olderog (CDU/CSU): Wenn mir die Zeit Hilfe fremder Leute. Wo sehen Sie da das Bemühen nicht angerechnet wird. Ich bin gleich am Ende, Frau der Regierung, Diskriminierung abzubauen? Präsidentin.

Dr. Rolf Olderog (CDU/CSU): Herr Seifert, ich weiß Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Nein. nicht, ob es solche Neubaumaßnahmen gibt. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Wir haben ja (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Sie brau- Zeit bis Mitternacht!) chen nur zu lesen! — Zuruf von der SPD: Das steht in der Antwort!) Auf der anderen Seite habe ich der Antwort der Dr. Rolf Olderog (CDU/CSU): Vorbildlich ist auch Bundesregierung entnommen, daß z. B. 370 Bahnhöfe das kürzlich von mir in Bonn besuchte Kreuzfahrt- mit Hubliften und Rampen ausgestattet werden. Es schiff „Concordia" mit rollstuhlgängigen Kabinen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17069

Dr. Rolf Olderog und Aufzügen des Vereins Deutsches Behinderten- sein. Selbst bei den Autobahnmotels sind inzwischen schiff. 50 %, d. h. 26 von insgesamt 52 Beherbergungsbetrie- (Dr. Ilja Seife rt [PDS/Linke Liste]: Darf ich ben, behindertengerecht ausgebaut. meine Fragen jetzt stellen?) Meine Damen und Herren, viele gehen Behinderten Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Pohl, gestatten aus dem Weg, weil in der Tat deren Anblick einen Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Steen. jeden an Leid, Mangel und Verzicht gemahnt. Aber die Abwendung von Behinderten hat doch viel mit Dr. Eva Pohl (F.D.P.): Bitte. Selbsttäuschung zu tun. Vergessen wir nicht: Rasch und unvorhersehbar können wir alle selbst in die Rolle Antje-Marie Steen (SPD): Frau Kollegin, ist Ihnen eines Behinderten geraten. die Kritik bekannt, die gerade an den mobilen Ein- Vielen Dank. stieghilfen, die Sie beschrieben haben, auf den Bahn- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — höfen durch die Behindertenverbände gemacht wird? Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Ich kann es nur bestätigen; denn es ist ein Hindernis- Liste]) rennen — nicht nur für diejenigen, die aus dem Zug oder in den Zug wollen, sondern auch für das Zugper- sonal, das die Einstieghilfen transportieren muß. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste spricht Bitte haben Sie einmal die Situation auf dem Frank- die Abgeordnete Eva Pohl. furter Bahnhof vor Augen, wenn Sie auf Bahnsteig 12 ankommen und auf Bahnsteig 1 abfahren wollen, gleichzeitig kommt jemand auf Bahnsteig 3 an und Dr. Eva Pohl (F.D.P.): Sehr verehrte Frau Präsiden- tin! Sehr geehrte Damen und Herren! „Behinderten- will auf Bahnsteig 8 abfahren. Dann muß sich derje- gerecht ist menschengerecht" — diese eindeutigen nige, der mit dem Hublift herumdöst, muß ich dann Worte hat Bundespräsident Richard von Weizsäcker schon sagen, entscheiden, wen er aussteigen und wen am 1. Juli dieses Jahres auf einer Tagung der Bundes- er einsteigen läßt. Wir würden das alles vermeiden, arbeitsgemeinschaft „Hilfe für Behinderte" gewählt. wenn wir eine fahrzeuggebundene Einstieghilfe hät- Diese Worte sollten uns auch bei der heutigen Diskus- ten. Insofern ist das keine besonders gute Lösung. sion über Reisemöglichkeiten für Behinderte leiten. Außerdem ist es eine diskriminierende Situation, Die Große Anfrage der SPD zu dieser Problematik über allen Reisenden zu schweben und dann wie ein sehe ich als begrüßenswerten Anlaß, auf Erreichtes Gepäckstück in den Wagen hineingehoben zu wer- den. bei der Verbesserung von Reisemöglichkeiten für Behinderte zu verweisen. Gleichzeitig möchte ich (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Das ist aber doch auch auf noch vorhandene Defizite auf- genau meine Meinung!) merksam machen. Teilen Sie da meine Meinung? Wenn wir heute über Reisemöglichkeiten von - Behinderten sprechen, so sollte uns klar sein, daß Dr. Eva Pohl (F.D.P.): Liebe Frau Kollegin, ich hatte diese Begriffe vor nicht allzulanger Zeit unvereinbare gesagt, daß es noch sehr viel Verbesserungswürdiges Gegensatzpaare waren. gibt. Ich habe aber hier einmal aufgezeigt, daß schon Gerade in der Personenbeförderung konnten aber vieles getan wurde. in den letzten Jahren zahlreiche Verbesserungsmaß- (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Aber das nahmen erwirkt werden. Ein positives Beispiel gibt Falsche!) der öffentliche Personennahverkehr. Selbstverständlich werden und müssen wir alle Niederflurbusse sind in unseren Städten keine gemeinsam daran interessiert sein, noch weitere und Seltenheit mehr. Bei den Linienbusoptionen lag der bessere Möglichkeiten zu schaffen. Ich habe nicht Anteil an den behindertengerechten niederflurigen gesagt, wir haben den Endzustand, und der ist gut, Fahrzeugen im Jahre 1992 sogar bei rund 66 %. sondern wir müssen hier ständig etwas tun. (Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seife rt [PDS/Linke (Antje-Marie Steen [SPD]: Diese Entschei Liste]) dung ist gegen den Willen der Behinderten Im Schienenfernverkehr wurden Zeichen gesetzt. getroffen worden!) Alle ICE-Züge, 118 EC/IC-Züge und alle Interregio- — Ja, ich habe das gehört, auch die Kritik vom Züge verfügen über Rollstuhlstellplätze und behin- Kollegen Seifert. Ich meine, er muß das am besten dertengerechte Toiletten. beurteilen können. Ich konnte mir kaum vorstellen, (Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Das ist doch daß fünf Zentimeter so hinderlich sein sollen. Aber das sehr erfreulich, Herr Seifert! — Weitere ist natürlich möglich, wir fahren ja nicht mit dem Zurufe des Abg. Ilja Seifert [PDS/Linke Rollstuhl. Es sollten auch die Betroffenen in alle diese Liste]) Dinge mit einbezogen werden, und das wird ja auch getan . Auch bei dem zur Zeit noch größten Hindernis auf dem Weg zu einer barrierefreien Reise, den bahn- (Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Das ist trotz steiggebundenen Einstiegshilfen, gibt es erfreuliche der gewaltigen Defizite, die wir bei der Bahn Zahlen. Sie hatten schon darauf hingewiesen. Bis fahren, immerhin ein Fortschritt!) Anfang 1994 werden die wichtigsten 370 Bahnhöfe in Im übrigen möchte ich an dieser Stelle einmal Deutschland mit Hubliften und Rampen ausgestattet darauf verweisen, daß auch wir nicht mobilitätsein- 17070 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Dr. Eva Pohl geschränkten Menschen von diesen Erleichterungen Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! profitieren. Ich denke da z. B. an die Aufzüge in Meine Damen und Herren! Wenn ich die Antwort der Bahnhöfen oder die Niederflurbusse. Bundesregierung lese, kann ich mich des Eindrucks (Beifall bei der F.D.P.) nicht erwehren, daß es zur Berufskrankheit von Regie- renden gehört, alles, was in ihrer Regierungszeit Trotz dieser ermutigenden Entwicklung bleibt den- geschieht, für gut zu halten. Aber bei anderen Berufs- noch viel zu tun. Wie wir in unserem von der F.D.P. krankheiten muß man seinen Beruf aufgeben. Hier ist und der CDU/CSU formulierten Entschließungsan- das offensichtlich nicht der Fall. Es tut mir leid, trag ausgeführt haben, möchten wir insbesondere auf vielleicht läßt sich demnächst noch etwas machen. eine behindertengerechte, barrierefreie Bauweise bei künftigen Projekten der Verkehrs- und Baulastträger Wenn hier auf unheimlich vielen Seiten fast nichts hinwirken. Hier gibt es noch einen erheblichen Nach- gesagt wird, ist das schon eine ziemlich unangenehme holbedarf. Situation für Menschen, die das betrifft. Wir reden hier 30 Minuten lang über Probleme, die — es wurde hier Ein wichtiges Element ist in diesem Zusammenhang mehrfach gesagt —10 % der Bevölkerung direkt und, die Standardisierung von Funktionselementen zur wenn ich die Angehörigen dazuzähle, noch viel mehr leichteren Handhabung, wie z. B. der Bedienungsan- betreffen. Wenn es dann in der Antwort der Regierung lagen und Bedienungstafeln in Aufzügen. — ich habe vorhin in meiner Zwischenfrage schon Ein weiterer Punkt, der mir persönlich sehr am darauf hingewiesen — als Erfolg dargestellt wird, daß Herzen liegt, ist die zu verbessernde Informations- da noch eine Stufe von 5 bis 10 cm bleibt, dann weiß und Öffentlichkeitsarbeit. ich nicht, ob die Regierung überhaupt eine Vorstel- Jeder von uns erinnert sich sicherlich noch an das lung davon hat, worum es hier geht. skandalöse Gerichtsurteil — obwohl es zwei Kollegen Wenn Sie sagen, Sie haben sich das Schiff angese- hier schon gesagt haben, möchte auch ich das noch hen, das ist so schön, dann weiß ich, daß Sie nicht die einmal betonen — aus dem Jahre 1992, in dem geringste Vorstellung davon haben, worum es uns, Urlaubern wegen Anwesenheit Schwerbehinderter den Betroffenen, geht. Es geht uns nämlich darum, im Hotel eine Preisreduzierung zugebilligt worden keine Sonderschiffe zu haben und keine Sonderab- war. teile. Das gemeinsame Urlaubserleben von Behinderten (Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Aber besser, und ihren Angehörigen mit Nichtbehinderten muß als als wenn Sie gar keine Schiffe haben! Ich das zu erreichende Ziel gesehen werden. Was nützen habe doch mit den Leuten auf dem Schiff letztlich behindertengerechte Transportmittel und gesprochen!) Bahnhöfe sowie barrierefreie Hotels, wenn es uns nicht gelingt, behinderte Bürger in unsere Gesell- — Sie haben ja nicht einmal als Ziel in dieser Antwort formuliert, daß Sie dahin kommen wollen, daß es eines schaft umfassend zu integrieren? Tages keine Sonderschiffe mehr geben muß, daß es Im übrigen sollten wir uns vergegenwärtigen, welch eines Tages keine Sonderabteile mehr in der Eisen- großem Personenkreis wir mit oben genannten Ver- bahn geben muß usw. Das ist das, was ich Ihnen besserungsmöglichkeiten im Reiseverkehr helfen vorwerfe; nicht, daß Sie sagen, daß es das Schiff gibt, können: In Deutschland leben zur Zeit etwa 6,5 Mil- und nicht, daß Sie sagen, daß es diese Sonderabteile lionen Schwerbehinderte, davon 975 000 in den gibt. neuen Bundesländern. Ein Freund, der in der emanzipatorischen Behinder- Meine Damen und Herren, wir sind auf dem Weg zu tenbewegung seit Jahren tätig ist, sagt in diesem einer durchgehenden behindertengerechten Trans- Zusammenhang immer, er wundere sich, daß es keine portkette in Verbindung mit barrierefreien Bauten Sonderfriedhöfe für uns gibt. Es gibt Sondertoiletten, schon ein gutes Stück vorangekommen. Mit unserem es gibt Sonderbahnhöfe — — Entschließungsantrag wollen wir — das möchte ich hier als verantwortliches Mitglied der F.D.P.-Fraktion (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist aber makaber!) für die Belange der Behinderten ganz besonders — Ich will es Ihnen ja nur sagen, so wird gedacht. Das betonen — am Tag nach dem Welt-Aids-Tag und am ist ja nicht einmal meine Argumentation. — Es gibt Vorabend des UNO-Welttages für Behinderte ein Sonderabteile in der Eisenbahn. Ich möchte mich mit richtungsweisendes Zeichen setzen. meinen Mitreisenden vielleicht mal unterhalten. Das (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Schön geht aber nicht, weil ich in dem Sonderabteil sitze. wäre es ja!) (Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Dann müssen Ich danke Ihnen. Sie jedes Abteil doppelt so groß machen!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) — Das sind die Dinge, die wir erreichen möchten. Ich wäre ja schon zufrieden, wenn das die Regierung wenigstens als Ziel formulieren würde. Niemand ist so Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Jetzt sind Sie dran, vermessen, zu sagen, das muß alles morgen fertig sein. Herr Seifert. Ich hoffe, daß Sie als Redner nicht all die Aber Sie haben es nicht einmal vor, dorthin zu Zwischenrufe haben, die Sie heute abend hier schon kommen. Sie haben nur vor, neue Sonderregelungen verteilt haben. zu treffen. (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Ich fürchte (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist schlicht mich nicht vor den Zwischenrufen!) eine Unterstellung!) — Nein? Wollen Sie viele haben? — Ich habe ja die Antwort gelesen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17071

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Seifert, gestat- dervereinigung eigentlich einen Rückschlag erlitten ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Olderog? hat. (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Richtig! — Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Ja, sehr gern. Antje-Marie Steen [SPD]: Sehr richtig!) Statt dessen sind wir nun im wiedervereinigten (CDU/CSU): Herr Kollege, sind Sie Dr. Rolf Olderog Deutschland der Tatsache ausgesetzt, daß Behinderte bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich dieses Schiff, gewaltsam angegriffen werden, daß Menschen im als es in Bonn vor Anker lag, besucht habe, mich dort Rollstuhl von Jugendlichen drangsaliert werden. etwa zwei Stunden mit den Reisenden, mit den Urlaubern unterhalten habe und daß ich von all den (Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Das ist wirk Behinderten, die auf diesem Schiff waren, uneinge- lich schlimm!) schränktes Lob erhalten habe? Wie schlimm muß die seelische Verkrüppelung dieser Wohlstandskinder sein? Ich denke, das muß uns Angst Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Selbstverständlich machen. bin ich bereit, das zur Kenntnis zu nehmen. Selbstver- ständlich weiß ich das. Ich weiß natürlich auch, daß (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Ja, da hat er Menschen mit Behinderungen, die zwei Jahre lang recht!) nicht aus ihrem Haus herauskommen, dankbar sind Ihre Gewalt wird durch ein gesellschaftliches K lima für jede Reise oder für jede Möglichkeit, die man gefördert, in dem eine pseudowissenschaftliche ihnen verschafft; nur hat das nichts mit Menschen- Debatte über Euthanasie und Sterbehilfe geführt und würde zu tun. in dem das Lebensrecht von Schwerstbehinderten in (Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Dann sollten Frage gestellt wird. Diese Enttabuisierung des Rech- Sie das doch einmal als ein Stück Fortschritt tes auf Leben stellt für Behinderte eine unmittelbare würdigen!) Bedrohung dar. — Ja, das streite ich doch gar nicht ab. Ich sage nur, (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: „Eugeni daß Sie regierungsamtlich nicht einmal das Ziel ver- sche Integration" will ich in diesem Zusam folgen. Es kann doch nicht erstrebenswert sein, menhang nur einmal sagen!) jemandem einmal im Jahr ein solches Erlebnis zu verschaffen, von dem er dann ein Jahr lang leben muß Das Amtsgericht in Flensburg — auch das muß ich — ich meine jetzt mental. Das ist das Problem. Das erwähnen — hat im September 1992 entschieden, daß muß selbstverständlich sein. die Anwesenheit von behinderten Urlaubsgästen in einem Hotelspeisesaal ausreicht, um anderen Urlau- Sie reden von Integration. Ich habe mir da die bern den Reisespaß zu verderben, und daß diese somit Zwischenfrage verkniffen, weil es nicht um Integra- ein Anrecht auf Preisminderung haben. tion gehen darf, wo die freundlichen Nichtbehinder- ten die bedauernswerten Behinderten einbeziehen, Dieses entsetzliche Urteil ist — ich gebrauche das sondern es geht um Gleichstellung. Wir möchten Wort nicht leichtfertig; ich habe darüber nachge- genauso wie Sie und jeder andere und jede andere- dacht — Faschismus. Der Richter, der es ausgespro- etwas machen können, wann, wo und wie wir es chen hat, hat nicht nur auf unerträgliche Weise gegen wollen. Das verstehen wir, die Menschen mit Behin- das Grundgesetz verstoßen, er hat sich gegen unsere derung, unter Freiheit, und ich nehme an, Sie auch. europäische Zivilisation und unsere christliche Werte- Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. gemeinschaft gestellt. (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Daß dies, offensichtlich ohne Konsequenzen, mög- Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Rolf lich war, macht deutlich, wie berechtigt die Forderung Olderog [CDU/CSU]) nach einem Antidiskriminierungsgesetz ist. — Ich danke Ihnen auch für den Applaus. (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Bravo!) (Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Einge- In der Schweiz gibt es das bereits. Auch in den USA ist schränkt!) seit 1990 ein solches Gesetz in Kraft. Zentrale Bereiche des amerikanischen Gesetzes sind die Arbeits- und Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Auch das ist ein Teil Beschäftigungsmöglichkeiten, Verkehr und Kommu- der Integration! nikation, öffentliche Dienstleistungen, Bauwesen und Jetzt hat der Kollege Konrad Weiß das Wort. Wohnen. Viele Behindertenverbände und -initiativen fordern ein solches Gesetz auch für Deutschland. Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe Anfrage der SPD hat leider mehr zwischen den Zeilen 1981 anläßlich des Jahres der Behinderten in der DDR einige Bereiche angeführt, in denen es Nachholbedarf einen der ersten Filme über Behinderte gedreht und gibt. bin dabei zum erstenmal mit den Problemen, die Behinderte in der DDR hatten, konfrontiert worden. (Martin Göttsching [CDU/CSU]: Besser zwi schen den Zeilen als gar nicht, Herr Weiß!) Manchmal habe ich inzwischen den Eindruck, daß dieser emanzipatorische Prozeß, der bei uns mit dem Die Mobilität Behinderter ist zweifellos eine wesent- Jahr der Behinderten angefangen hat und in der alten liche Voraussetzung für ihre Integration und gleich- Bundesrepublik durch Behinderteninitiativen schon berechtigte Teilnahme am Leben der Gesellschaft. etwas länger im Gange war, mit der deutschen Wie Angesichts der technischen Entwicklung dürfte das in 17072 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Konrad Weiß (Berlin) unserem hochtechnologischen Land doch weiß Gott lung ist die Tendenz steigend. Diese Mitbürger müs- kein unüberwindbares Hindernis sein. sen die Möglichkeit haben, diskriminierungsfrei zu Problematisch erscheint mir, daß Menschen mit reisen; denn Urlaub darf kein Privileg von Nichtbehin- Behinderungen in vielen Fällen noch um die ausrei- derten sein. chende Finanzierung ihrer Pflege und Hilfe zu Hause (Beifall im ganzen Hause) kämpfen müssen. Das Recht, im vertrauten Wohn- und Lebensumfeld verbleiben zu können, muß nicht Oft ist uns gar nicht bewußt, daß wir mit dem Beg riff selten durch langwierige gerichtliche Auseinander- „behindertengerecht" meist nur „rollstuhlgerecht" setzungen erwirkt werden. meinen und die gesamte Bandbreite sonstiger Behin- derungen nicht vor Augen haben. Wir sollten uns, meine Damen und Herren, vorneh- men, gemeinsam solche Rahmenbedingungen zu (Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Leider schaffen, die behinderten Menschen das Leben wahr!) erleichtern. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unterstützt Zur Gruppe der behinderten Menschen gehören deshalb den vorliegenden Entschließungsantrag der jedoch auch sinnesbehinderte Menschen, die auf SPD. Grund fehlender technischer Informationssysteme (Abg. Dr. Konrad Elmer meldet sich zu einer häufig Orientierungsschwierigkeiten haben. Dazu Zwischenfrage) gehören auch körperbehinderte und geistig behin- derte Menschen. Sie leiden nicht nur unter den Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Bitte schön. körperlichen Hindernissen, sondern auch unter den Unsicherheiten und Berührungsängsten von seiten der Nichtbehinderten. Dr. Konrad Elmer (SPD): Herr Kollege Weiß, ich wollte Sie mit Blick auf das Flensburger Urteil fragen, Da die Bedürfnisse so vielfältig sind, ist es kompli- ob dieses wohl anders ausgefallen wäre, wenn in ziert, Lösungen zu finden, die möglichst vielen behin- unserer Verfassung ein Begriff wie z. B. Mitmensch- derten Menschen gerecht werden. Denken Sie bei- lichkeit verankert wäre. spielsweise nur an eine Absenkung der Bordsteinkan- ten, die dem Rollstuhlfahrer das Vorwärtskommen Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): erleichtert, dem Blinden aber zum Verhängnis wer- Lieber Herr Kollege, ich denke, die Verankerung von den kann, wenn er nicht merkt, daß er auf die Straße Rechten und Gesetzen ist das eine. Was uns aber läuft. Sorge machen muß und womit wir uns zu beschäftigen Insgesamt ist die Situation bei den Fortbewegungs- haben — das müßte das erste Anliegen der Politiker, und Reisemöglichkeiten für behinderte und mobili- auch der intellektuellen Elite in Deutschland sein —, tätseingeschränkte Personen gegenwärtig nur be- das ist die Auseinandersetzung damit, das ist die dingt zufriedenstellend. Erziehung. Die Bundesregierung will die Integration behinder- Eine Verankerung solcher Rechte, natürlich auch ter Menschen in allen Lebensbereichen unterstützen. eines Antidiskriminierungsgesetzes allein, kann - Ihre unmittelbaren Einflußmöglichkeiten sind jedoch nichts bewirken, wenn nicht ein gesamtgesellschaft- auf Grund der grundgesetzlichen und sonstigen liches Klima entsteht, in dem es selbstverständlich ist, gesetzlichen Regelungen begrenzt. Dennoch ergeben daß Menschen mit Behinderungen, daß Ausländerin- die Aktivitäten der Bundesregierung zusammen mit nen und Ausländer, daß Minderheiten gleichberech- den Initiativen der für diesen Bereich hauptsächlich tigt sind. zuständigen Bundesländer, Gemeinden, Verkehrs- (Beifall im ganzen Hause) und Baulastträger ein insgesamt beachtliches Lei- stungsbild, das selbstverständlich weiter verbessert Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als letzte spricht zu werden muß. diesem Tagesordnungspunkt die Kollegin Ka rin (Eduard Oswald [CDU/CSU]: So ist es!) Jeltsch. So wurde beispielsweise durch die Novellierung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes 1992 (CDU/CSU): Frau Präsidentin, meine Karin Jeltsch eine Behindertenklausel als Bewilligungsvorausset- sehr geehrten Damen und Herren! Wer blättert nicht zung in das Gesetz eingefügt. gerne in bunten Reiseprospekten, in denen uns fröh- liche, braungebrannte Menschen entgegenlächeln. (Beifall bei der CDU/CSU) Für uns sind Urlaub und Reisen ein unverzichtbarer Bestandteil unseres Lebens geworden. Nur selten ist uns bewußt, daß die schönste Zeit des Jahres für viele Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Jeltsch, gestat- behinderte Menschen zu einer sehr schwierigen Zeit ten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sei- wird. Probleme bei der Planung und Durchführung fert? einer Reise, aber auch Ängste vor möglichen Vorur- teilen am Urlaubsort führen dazu, daß viele behin- derte Menschen resignieren und zu Hause bleiben. In Deutschland leben rund 460 000 Rollstuhlfahrer, Karin Jeltsch (CDU/CSU): Danke, nein, ich möchte über 650 000 Schwerstsehbehinderte und Blinde weiterreden. — Hierdurch werden behindertenge- sowie 400 000 geistig behinderte Menschen. Sechs rechte Neuerungen, wie z. B. die Niederflurtechnik Millionen Bundesbürger sind in ihrer Mobilität einge- bei Bussen und Bahnen, wirksam begünstigt. schränkt. Auf Grund der demographischen Entwick (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr wahr!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17073

Karin Jeltsch Zuschüsse zum Neubau oder Ausbau von S-Bahn derter besser kennenzule rnen und das Wissen in die Stationen werden nur bewilligt, wenn behindertenge- Fremdenverkehrspraxis umzusetzen. rechte Zu- und Abgänge vorgesehen sind (Beifall bei der CDU/CSU) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: So ist es! — Doch nicht nur die technischen Barrieren machen Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Stimmt behinderten Menschen im Urlaub zu schaffen. Häufig doch gar nicht! — Antje-Marie Steen [SPD]: haben sie mit großen Akzeptanzproblemen zu rech- Nein, das ist nicht wahr!) nen. Ich erinnere nur an das hier bereits einige Male und wenn Blindenleitstreifen installiert werden. zitierte Flensburger Urteil. Der Reisetraum des Mas- sentourismus ist leider geprägt von einem großen (Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seife rt [PDS/Linke Wunschbild von Erholung und sorglosem Spaß. Darin Liste]) hat bedauerlicherweise die Konfrontation mit Behin- — Dann lesen Sie doch bitte die Antwort der Bundes- derten keinen Platz. Viele nega tive Erfahrungen von regierung auf eine Große Anfrage nach. den Betroffenen zeigen, daß unserer Gesellschaft ein selbstverständlicher und unbefangener Umgang mit Die Bewilligung aller sonstigen Vorhaben des behinderten Menschen mehr als schwer fällt. Behin- ÖPNV ist Ländersache. Es liegt also auch an den derte und Nichtbehinderte haben viel mehr gemein- einzelnen Bundesländern, die Belange behinderter same Urlaubsbedürfnisse und Freizeitinteressen, als Menschen durchzusetzen. uns allen oft bewußt ist. Sie sollten diese gemeinsam (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Natürlich! Al entfalten können. les können wir hier in Bonn nicht machen!) Es liegt also an jedem einzelnen von uns, durch ein Für Fernreisen im Schienenverkehr ist es das Ziel der Mehr an Toleranz Vorurteile und Berührungsängste Bahn, mittelfristig alle Züge behindertengerecht aus- gegenüber Behinderten in unserer Gesellschaft abzu- zustatten. bauen. (Beifall des Abg. Dr. Rolf Olderog [CDU/ (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) CSU]) Das will die Bundesregierung. In diesem Sinne darf Langfristig sollen alle Bahnhöfe so gestaltet werden, ich Sie bitten, dem Antrag meiner Fraktion zuzustim- daß ein hindernisfreier Zu- und Abgang sowie ein men. ungehinderter Bahnsteigwechsel möglich sind. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Das ist ein (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sehr anspruchsvolles Ziel!) - Nach mehr oder weniger großen Schwierigkeiten Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Liebe Kolleginnen am Reiseziel angekommen, stoßen Behinderte in und Kollegen, ich schließe die Aussprache. fremder Umgebung auf bauliche Barrieren in Hotels, Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Restaurants, Freizeit- und Kultureinrichtungen. Drucksache 12/6290 an die in der Tagesordnung Um die Reisemöglichkeiten für Behinderte über das aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. bisher erreichte Maß hinaus zu erleichtern, fordern Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag wir bei künftigen Verkehrs- und Bauprojekten eine der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/6288 zur behindertengerechte und barrierefreie Bauweise. federführenden Beratung an den Ausschuß für Arbeit Derartige Erleichterungen kommen neben allen und Sozialordnung und zur Mitberatung an den Behinderten auch mobilitätseingeschränkten Perso- Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus, den nen zugute. Sie bringen ein Mehr an Komfort auch für Ausschuß für Gesundheit, den Ausschuß für Verkehr ältere Menschen, werdende Mütter oder Personen mit und an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen Kinderwagen. und Städtebau zu überweisen. Sind Sie damit einver- standen? Die behindertenrelevanten DIN-Normen wurden in den letzten Jahren vollständig neu erarbeitet. Diese Planungsnormen werden im öffentlichen Bereich und Carl Ewen (SPD): Nein. Frau Präsidentin, ich bin beim Wohnungsbau bei allen Neubauten des Bundes nicht ganz sicher, daß die Federführung beim Arbeits- angewendet. Doch auch hier gilt: Detaillierte Rege- und Sozialausschuß richtig ist; denn erarbeitet worden lungen und verbindliche Vorschriften fallen in die ist der Antrag in der Arbeitsgruppe Fremdenverkehr. alleinige Zuständigkeit der Länder. Auch früher hat sich der Ausschuß für Fremdenver- Zu achten ist bei zukünftigen Bauten auf eine kehr und Tourismus damit befaßt. Deswegen, glaube kontrastreiche, ertastbare Gestaltung als Erleichte- ich, ist es schon sachgerecht, die Federführung beim rung für Sehbehinderte. Eine gewisse Standardisie- Ausschuß für Fremdenverkehr zu lassen und die rung von Bedienungselementen würde erhebliche Mitberatung dem Arbeits- und Sozialausschuß zu Erleichterungen für Sehbehinderte mit sich bringen. übertragen. (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Einverstanden! Die Ausweisung behindertengerechter Einrichtun- — Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Da bin ich gen sowie eine stärker behindertenorientierte Infor- einverstanden!) mationsarbeit seitens der Reiseveranstalter könnten wesentlich dazu beitragen, daß auch Behinderte am normalen Reisegeschehen besser teilnehmen können. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Dann lasse ich kurz Personen, die im Fremdenverkehr tätig sind, sollten darüber abstimmen. Wer stimmt für die Überweisung gezielt geschult werden, um die Bedürfnisse Behin zur federführenden Beratung an den Ausschuß für 17074 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Fremdenverkehr und Tourismus? — Gegenstimmen? Erfahrungsbericht zugrunde liegende Konzept, insbe- — Enthaltungen? — Die Überweisung ist einstimmig sondere das Prüfungsraster, ist dabei mit den Ländern beschlossen. Der Antrag geht dann zur Mitberatung abgestimmt worden. an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung. Die Da im Ausland für Paß- und Visaangelegenheiten Überweisungen sind so beschlossen. die vom Auswärtigen Amt ermächtigen Auslandsver- tretungen zuständig sind, wurde auch das Auswärtige Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 und Zusatzpunkt 4 Amt um einen Erfahrungsbericht über die neuen auf: ausländerrechtlichen Vorschriften gebeten. Über die 11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd Länder waren ferner die kommunalen Spitzenver- Wartenberg (Berlin), Gerd Andres, Angelika bände beteiligt, die dem Bundesministerium des Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Innern einen Erfahrungsbericht aus kommunaler der SPD Sicht entsprechend dem zwischen Bund und Ländern Ausländergesetz 1990 abgestimmten Prüfungsraster übermittelt haben. — Drucksache 12/5994 — Das Bundesministerium des Innern hat die Berichte Überweisungsvorschlag: der mit der Ausführung der ausländerrechtlichen Innenausschuß (federführend) Bestimmungen betrauten Stellen vollständig und lük- Auswärtiger Ausschuß kenlos zu einem einheitlichen Gesamtbericht zusam- Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung mengefügt. Wie vom Innenausschuß des Deutschen Ausschuß für Frauen und Jugend Bundestages erbeten, wurde ihm der Be richt übermit- ZP4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla telt. Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Liste Der Innenausschuß hat den Erfahrungsbericht in Änderung des § 19 des Ausländergesetzes seiner Sitzung vom 1. Ju li 1993 erstmalig behandelt. — Drucksache 12/6291 — Dabei wurde von seiten der Oppositionsmitglieder im Überweisungsvorschlag: Innenausschuß keinerlei Rüge ausgesprochen. Die Innenausschuß (federführend) Bundesregierung kann daher feststellen, daß sie Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung nichts versäumt hat. Deshalb ist die Aufforderung, Ausschuß für Frauen und Jugend Versäumtes nachzuholen, ohne jede Grundlage. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch die gemeinsame Debatte eine halbe Stunde vorgese- eine Bemerkung zum nachgeschobenen Änderungs- hen. Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann können antrag der Gruppe PDS/Linke Liste machen, der den wir so verfahren. § 19 des Ausländergesetzes be trifft. Dazu ist zu Als erster spricht der Parlamentarische Staatssekre- bemerken, daß auch hier die Zielsetzung des Antrages tär Lintner. fehlgeht. In der Begründung des Antrags wird ohnehin der Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- unzutreffende Eindruck hervorgerufen, als würde die minister des Innern: Sehr geehrte Frau Präsidentin! jetzige Fassung des § 19 des Ausländergesetzes Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich einige gerade ausländische Ehefrauen diskriminieren. So kurze Bemerkungen zu den vorliegenden Anträgen verhält es sich aber nicht. Vielmehr kann nach der machen. heute geltenden Fassung des § 19 des Ausländerge- Zunächst einmal ist festzustellen, daß der Antrag setzes jeder ausländische Ehegatte, unabhängig von der Fraktion der SPD ins Leere geht. Die Bundesre- seinem Geschlecht, ein eigenständiges Aufenthalts- gierung hat nämlich den angeforderten Erfahrungs- recht erst nach vier bzw. in Härtefällen nach drei bericht, Herr Kollege Lambinus, rechtzeitig durch das Jahren Ehebestandszeit erhalten. Eine weitere Ab- fachlich zuständige Bundesministerium des Innern senkung dieser Fristen bzw. ein Verzicht auf festste- dem Deutschen Bundestag durch Vorlage an den hende Fristen überhaupt würde die Gefahr der Einge- zuständigen Fachausschuß erstattet. hung von sogenannten Scheinehen deutlich begünsti- Der Antrag geht in seiner Begründung zutreffend gen und solche auch vermehren. Diese Scheinehen davon aus, daß der Erfahrungsbericht bis Mitte des stellen sich ja letztlich als einen Mißbrauch des von Jahres vorzulegen war. Dem ist die Bundesregierung Art. 6 GG beabsichtigten Ehegattenzuzugs dar. auch nachgekommen. Das Bundesministerium des Es kann nicht Sache des Ausländergesetzes sein, Innern hat den Erfahrungsbericht mit Schreiben vom die problematischen Folgen einer gescheiterten Ehe 25. Juni 1993, also zur Jahresmitte und somit rechtzei- sowie die dadurch erschwerten Rückkehrbedingun- tig, dem Vorsitzenden des Innenausschusses übermit- gen durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen auszu- telt. gleichen. Angefordert war ein Erfahrungsbericht, d. h. eine (Zuruf von der SPD: Darüber müssen wir Zusammenstellung der Erkenntnisse, die bei der reden!) Anwendung der neuen ausländerrechtlichen Vor- schriften in der Praxis gewonnen wurden. Dement- Die Gewährung eines Aufenthaltsrechts davon sprechend hat das Bundesministerium des Innern die abhängig zu machen, ob dem nachgezogenen Ehe- für die Ausführung der ausländerrechtlichen Bestim- gatten die Fortführung der ehelichen Lebensgemein- mungen im Bundesgebiet nach Art. 83 des Grundge- schaft zugemutet werden kann, würde den Auslän- setzes zuständigen Länder rechtzeitig um die Über- derbehörden jetzt eine Prüfung zumuten, von der das mittlung entsprechender Berichte gebeten. Das dem deutsche Scheidungsrecht nach Umstellung auf das Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17075

Parl. Staatssekretär Eduard Lintner Zerrüttungsprinzip selbst die Ge richte seinerzeit Vielleicht haben Sie insgeheim gehofft, den M antel absichtlich entlastet hat. des Vergessens über die weitere Bearbeitung des Gerade in den Fällen, in denen die gesetzlich Ausländergesetzes breiten zu können. Aber das, festgeschriebenen Ehebestandszeiten nicht erreicht meine Damen und Herren, können wir Ihnen bei einer werden konnten, hat sich der ausländische Ehegatte so komplizierten und wichtigen Mate rie nicht durch- im übrigen auch erst verhältnismäßig kurz im Bundes- gehen lassen. gebiet aufgehalten, so daß eine Rückkehrmöglichkeit (Beifall bei der SPD) durchaus zumutbar erscheint. Wir verlangen von Ihnen, daß Sie Ihrer Pflicht Danke. endlich entsprechen, nicht nur damit die Formalität (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) eingehalten wird, sondern auch im Interesse der Glaubwürdigkeit und der Verläßlichkeit der Politik. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste spricht Ich gebe gern zu: Es ist ruhiger geworden um das Frau Comelie Sonntag-Wolgast. Ausländergesetz. Andere schwere Probleme haben es aus der Berichterstattung der Medien und aus der (SPD): Frau Präsi- breiten öffentlichen Diskussion verdrängt. Die Asyl Dr. Comelie Sonntag-Wolgast rechtsreform war monatelang dann das beherr- dentin! Meine Damen und Herren! Herr Staatssekre- schende Thema und natürlich der Terror gegen Aus- tär Lintner, unser Antrag geht nicht etwa ins Leere, länderinnen und Ausländer. sondern trifft ins Schwarze. Erlauben Sie, daß ich Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfe. Es ist schlimm genug, wenn wir jetzt vielleicht sagen Versetzen Sie sich einmal in die Bundestagsdebatte müssen: Die Menschen anderer Hautfarbe, Nation über das Gesetz zur Neuregelung des Ausländer- oder Religion haben augenblicklich andere Sorgen, rechts zurück; das war am 26. Ap ril 1990. Wir hatten, als über ein unzureichendes, wenig weltoffenes, eher wie Sie wohl noch wissen, eine hitzige öffentliche auf Abwehr angelegtes denn auf Integration ausge- Diskussion hinter uns. Ausländerinnen und Ausländer richtetes Gesetz zu klagen. Die Angst vor Haß und hatten auf den Straßen gegen das neue Gesetz demon- Anschlägen wiegt schwerer. Aber, meine Damen und striert. SPD und Grüne, Kirchen, Juristen, Wohlfahrts- Herren, das darf doch für die Bundesregierung keine verbände und Menschenrechtsgruppen hatten erheb- Entschuldigung für ein solches Versäumnis sein. Mit liche Bedenken geltend gemacht. Damals wurden Sie, der Nichtbeachtung des Termins dokumentieren Sie liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition, ja Dickfälligkeit oder zumindest blankes Desinteresse an der notwendigen Fortentwicklung des Ausländer- nicht müde, von überflüssiger Stimmungsmache - gegen das geplante Ausländerrecht zu reden und rechts. seine Vorzüge anzupreisen. Allein der Brandanschlag und der Jahrestag von So behauptete der Kollege Johannes Gerster kühn, Mölln hätten Ihnen Anlaß genug sein sollen, H and- das Gesetz versuche, den scheinbaren Widerspruch lungsbereitschaft und konkrete Signale in der Auslän- zwischen kultureller Geborgenheit und menschlicher derpolitik zu zeigen. Es ist kein Wunder, daß viele Offenheit zu überwinden. Und er fuhr dann fort — ich Menschen gemeinsam mit Ignaz Bubis beklagen, der zitiere das —: Schock von Solingen und Mölln habe nur wenige Wir sind selbstkritisch genug, zu erkennen, daß Wochen angehalten und außer Lichterketten und dies vielleicht nur in Etappen gelingt, weshalb Mahnwachen kaum licht- und spürbare Maßnahmen wir auch in einer eigenen Entschließung durch für mehr Anerkennung, für bessere Lebensumstände den Bundestag die Bundesregierung auffordern, der Einwanderer in unserem Land bewirkt. in zwei Jahren einmal die Erfahrungen mit die- Deswegen fordert die SPD von der Bundesregie- sem Gesetz wiederzugeben. rung einen sorgfältigen, ausführlichen, unter den Und unser Kollege Burkhard Hirsch stellte sogar Ressorts abgestimmten Bericht. eine Liberalisierung und eine Weiterentwicklung in Aussicht, indem er ebenfalls die Vorlage dieses Erfah- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rungsberichts nach zwei Jahren verlangte. Er DIE GRÜNEN) ergänzte — noch einmal ein Zitat —: Selbstverständlich müssen dafür die Erfahrungen Wir hoffen, daß wir dann einen weiteren Schritt in und Vorschläge der Ausländerbeauftragten eingeholt eine moderne und offene Gesellschaft vollziehen und berücksichtigt werden. Auch das ist wohl bei können. diesem erwähnten Bericht des Innenministeriums Soweit die damalige Debatte. überhaupt nicht geschehen. Gesagt, liebe Kolleginnen und Kollegen, doch Aus den Erkenntnissen der Studie könnten wir dann nichts getan. Wir nehmen Sie deswegen beim Wort. ableiten, wenn wir sie denn hätten, welche weiteren Dreieinhalb Jahre nach diesen vollmundigen Ankün- parlamentarischen Schritte nötig sind. Daß wir Verän- digungen stellen wir fest: Sie haben Ihr Versprechen derungen vornehmen müssen, steht für mich jetzt eben nicht eingelöst. Zwar existiert ein Erfahrungsbe- schon außer Frage. Einen Vorgeschmack nämlich gibt richt aus dem Hause des Innenministers — das haben diese Berichterstattung, die Sie erwähnten, vom Früh- Sie eben natürlich erwähnt; das wissen wir —, aber sommer dieses Jahres für die Ausschußberatungen. den wirklichen, den umfassenden Bericht der Bundes- Dieses Papier fußt wesentlich auf den Berichten aus regierung haben wir bis zum heutigen Tag nicht zu den Ländern, vom Städtetag und von den Ausländer- Gesicht bekommen. beauftragten. Es hat übrigens unsere Gründe für die 17076 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Ablehnung des Ausländergesetzes damals in ent- Danke schön. scheidenden Punkten durchaus bestätigt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Zu dieser Kritik gehören sowohl inhaltliche Fragen als auch die Handhabe. Sie haben im Be richt des Innenministeriums unumwunden eingeräumt, daß es Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich erteile das Wort sich um ein sehr kompliziertes Gesetz mit vielen als jetzt der Kollegin Cornelia Schmalz-Jacobsen. verwirrend empfundenen Verweisungstechniken handle. Dieser Mangel aber, meine Damen und Her- ren, war seinerzeit schon absehbar, ist von uns kriti- Cornelia Schmalz-Jacobsen (F.D.P.): Frau Präsi- siert worden, nicht nur von uns aus der Opposi tion. dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Ende Juni dieses Jahres liegt uns der Bericht des Innenmi- Dazu zitiere ich nochmals aus der Debatte vom nisters über das sogenannte neue Ausländergesetz 26. April 1990, und zwar diesmal eine Politikerin, die vor. Es ist wahr: Es ist vom Innenminister vorgelegt, gerade augenblicklich in hohem Ansehen steht, näm- und es wurde nicht mit anderen abgestimmt. Im lich die Abgeordnete Hildegard Hamm-Brücher. Sie Innenausschuß haben wir diesen Be richt noch nicht sagte damals zu Innenminister Schäuble: Herr Mini- diskutiert. Wir haben ihn einmal ganz, ganz kurz ster, weshalb eigentlich werden die Gesetze so vorge- behandelt. Wir müssen ihn endlich diskutieren. Ich legt, daß man sie, wenn man nicht Fachmann ist, von hoffe, daß wir nächsten Mittwoch Gelegenheit dazu vornherein nicht versteht? — Zusatz von mir: Es wiegt haben werden. um so schwerer, wenn der Umgang für Menschen Dieser Be richt gibt die Einwände, die ja von den durch ein Gesetz erschwert wird, die die deutsche unterschiedlichsten Stellen gemacht worden sind, Sprache gar nicht oder nur unvollkommen beherr- sehr korrekt wieder. Nur zieht er meiner Meinung schen und mit den kunstvollen Windungen unseres nach die falschen Schlußfolgerungen, nämlich daß deutschen Verwaltungsapparats nicht so vertraut keine Änderungen notwendig seien. sind. Der Bundestag — das ist hier eben schon ausgeführt worden — hat bei der Verabschiedung 1990 ja aus Zudem stellt der Bericht des Innenministeriums fest, gutem Grund einen Bericht verlangt, und zwar ein- daß die Phase der Einführung des neuen Rechts noch fach weil die Materie ungeheuer kompliziert ist. Da nicht abgeschlossen sei. Wissen Sie, eine solche gibt es überhaupt gar kein Vertun. Anmerkung kann man sich sicherlich in den ersten Monaten leisten, nicht aber fast drei Jahre nach (Beifall bei der F.D.P. und der SPD) Inkrafttreten dieses Gesetzes. Daß immer noch allge- Aber ich möchte doch an eines erinnern: Das meine Verwaltungsvorschriften ausstehen, halten wir Ausländergesetz war überfällig; denn der Zustand, für schlichtweg skandalös. der davor war, war mitnichten gut. Es grenzte ja an ein Wunder, daß man überhaupt etwas auf die Beine Ich nenne Ihnen einige Punkte, die dringend der gestellt hat. Mehr Rechtssicherheit war das Ziel. In Verbesserung oder Veränderung bedürfen. Der Ehe- Teilen ist das auch durchaus erreicht worden, in gattennachzug muß großzügiger geregelt werden, anderen Teilen eben nicht. ebenso der Daueraufenthalt aus humanitären Grün- Das Interesse der deutschen Bevölkerung an diesem den und das Recht auf Wiederkehr für junge Auslän- Gesetz ist naturgemäß gering. Auch die Kenntnis der. davon ist gering. Und Parlamentarierinnen und Parla- mentarier, die in diesem Themenbereich nicht ihren Dringlich erscheint mir — Sie sprachen es eben Schwerpunkt haben, schließe ich da ein. Auch das ist an —, daß wir die Vorbedingungen für ein eigenstän- natürlich. diges Aufenthaltsrecht der Ehegatten lockern, groß- zügiger fassen. In der Tat bereiten die starren Fristen Aber, meine Damen und Herren, für die ausländi- für die Dauer der Ehe als Voraussetzung für ein sche Bevölkerung ist dieses Gesetz fast allgegenwär- eigenes Aufenthaltsrecht gerade den Frauen bedrük- tig, und zwar unabhängig davon, wie lange die kende Probleme. Angst vor Abschiebung zwingt sie Ausländer hier schon leben. Es wird sie immer tangie- dann dazu, zerbrochene Beziehungen aufrechtzuer- ren. halten und auch Gewalttätigkeiten ihrer Männer zu Die F.D.P.-Fraktion hat eine Anhörung von Exper- erdulden. Ich finde, das darf nicht so bleiben, Herr ten aus sehr unterschiedlichen Bereichen dazu Kollege Lintner. gemacht. Aber erstaunlicherweise waren die Kritik und die Vorschläge zu diesem Gesetz und zu diesem Ich sage das auch im Hinblick auf den Antrag, den Bericht sehr ähnlich. die PDS/Linke Liste heute hier eingebracht hat. Die Ich halte es für untunlich, heute die Regierung zu Reihe der Beispiele für notwendige Veränderungen rügen. Ich fordere allerdings die Bundesregierung ließe sich verlängern. Aber, meine Damen und Her- auf, die Einwände, die vorgetragen worden sind, ernst ren, für all das brauchen wir den überfälligen Erfah- zu nehmen und zu berücksichtigen. Das war doch rungsbericht der Bundesregierung, und zwar bald. auch der Sinn der Forderung nach einem Erfahrungs- bericht. Deswegen machen Sie also Ihre Schularbeiten, liefern Sie dem Parlament das Material, auf das es Aus meiner Sicht gibt es drei Komplexe, die unter einen Anspruch hat. Daß wir den Bericht überhaupt die Lupe genommen werden müssen: einfordern müssen, ist der politische Beweis für Ihre Erstens. Ein Teil der Probleme läßt sich einfach ausländerpolitische Untätigkeit. dadurch lösen, daß das Gesetz sachgerecht ange- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17077

Cornelia Schmalz-Jacobsen wandt wird, ohne daß Änderungen im Gesetz selbst von der Bundesregierung nach der Vereinigung Exi- notwendig sind. Dafür wären allerdings die Verwal- stenzsicherheit und Perspektiven gegeben werden tungsvorschriften dringend notwendig; können. (Beifall bei der F.D.P. und der SPD) Bewähren in Ihrem Sinne wird sich das Ausländer- denn sie sind ja Leitlinien für die örtlichen Verwaltun gesetz auch, wenn es um die Ausweisung der im gen. Wir haben das auch immer wieder angemahnt. Zusammenhang mit dem sogenannten PKK-Verbot festgenommenen Kurdinnen und Kurden geht. Der Zweitens. Es gibt Probleme, die durch einfache Mechanismus der Doppelbestrafung, Anklage plus Änderung beseitigt werden können. Konkrete Vor- Ausweisung, wirkt auch hier. Grundlage ist das Ver- schläge dafür habe ich gemacht. bot politischer Betätigung gegen die Interessen der Dann gibt es aber einen dritten Komplex. Da gibt es Bundesrepublik Deutschland. Gute Beziehungen zur grundsätzliche Fragen, wo meiner Meinung und mei- Türkei stehen allemal über Kritik am Ausrottungsfeld- ner Erfahrung und auch der Erfahrung vieler anderer zug gegen das kurdische Volk. nach konzeptionelle Änderungen vonnöten wären. (Zuruf von der CDU/CSU: Die Sicherheit in Zum Beispiel: Liebe Kolleginnen und Kollegen, kann Deutschland ist entscheidend!) es wirklich richtig sein, daß der Aufenthaltsstatus eines ausländischen Rentners oder einer ausländi- Meine Damen und Herren, viele von Ihnen kennen schen Rentnerin, die 25 oder 30 Jahre hier bei uns bestimmt die zahlreichen B riefe und Erklärungen an gearbeitet haben, einfach mir nichts, dir nichts die Abgeordneten von Frauen-, Flüchtlings- und erlischt, wenn er oder sie länger als sechs Monate in Immigrantinnengruppen zum Problem des § 19 des der früheren Heimat ist? Ich denke, hier sollten wir Ausländergesetzes; ich bin im übrigen gern bereit, die über ein Daueraufenthaltsrecht reden. Briefe und Erklärungen dem Staatssekretär Lintner zur Verfügung zu stellen. Das Gesetz regelt die (Beifall bei der F.D.P.) Familienzusammenführung bzw. die Situation aus- Bei dem eigenständigen Aufenthaltsrecht der Ehe- ländischer Ehefrauen deutscher und ausländischer gatten gehe ich nicht so weit, das von Anfang an Männer. Dazu haben wir heute einen Antrag einge- einzuräumen, aber es zeigt sich einfach, daß die bracht. Härtefallregelung zu lang ist; diese drei Jahre sind zu Ein umfassender Regierungsbericht ist nämlich lang. Hier wäre Änderung nötig. nicht notwendig, um hier die Notwendigkeit von Wir sollten über den Bericht und über das Gesetz Änderungen anzuerkennen, damit Würde und ohne Scheuklappen diskutieren, und zwar gründlich Gleichberechtigung für die Be troffenen hergestellt und sachgerecht. Wir von der F.D.P. sind dazu werden können. „Ehefrauen auf Probe" und „Ehe- bereit. frauenentsorgungs " -Paragraph lauten die bitteren- (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der Worte der Betroffenen für dieses Problem. Verweigert SPD) wird ein eheunabhängiger Aufenthaltsstatus für Frauen — denn sie sind hauptsächlich betroffen —; sie müssen Fristen von vier bzw. drei Jahren durchleben; Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste hat Ulla richtiger wäre es wahrscheinlich zu sagen: durchlei- Jelpke das Wort. den. Das Ausländergesetz, speziell dieser Paragraph, ist so und nicht anders gemacht, weil Zuwanderung Ulla Jelpke (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! verhindert und begrenzt werden soll. Das Ehegatten- Meine Damen und Herren! Wir unterstützen den nachzugsrecht — so die Argumentation — darf nicht Antrag der SPD, die die Bundesregierung rügt. Ob die zu einem zweckunabhängigen Einwanderungsrecht in der Antragsbegründung aufgestellte Behauptung, werden; so hat es hier heute auch der Staatssekretär die Regierung habe das Interesse an der Fortentwick- Lintner bezeichnet. lung des Ausländerrechts verloren, den Kern der Sache trifft, bezweifle ich. Vorherrschend ist doch Es ist makaber, aber Tatsache: Zeichen für Integra- eher die allgemeine Zufriedenheit mit den Eckpfei- tion im herrschenden Sinne ist, wenn betroffene lern des Gesetzes, wie das auch der Staatssekretär Frauen unwürdige, teilweise gewalttätige Verhält- Lintner gerade zum Ausdruck gebracht hat. Rechtsun- nisse aushalten müssen, um die vier Jahre Ehebestand sicherheit auf seiten der Be troffenen und eine gewisse auf deutschem Boden nachzuweisen. Willkür in Verwaltungs- und Justizangelegenheiten Ich unterstütze den Antrag der SPD und bitte um sind ja Zweck der Übung. Zustimmung zu unserem Antrag. Ich möchte hier nur auf den jahrelang gezielt (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie des aufrechterhaltenen unsicheren Status der ehemaligen Abg. Gerd Wartenberg [Berlin] [SPD]) Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter der DDR hinweisen. Erst vor wenigen Tagen hat die Konferenz Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster hat der der Innenminister lediglich eine viermonatige Verlän- Kollege Konrad Weiß das Wort. gerung des Bleiberechts beschlossen — mit Zustim- mung der SPD-Minister, wenn ich richtig informiert bin. Jetzt verweisen die Innenminister auf die zuneh- Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): mende Kriminalität vor allem unter den Vietnamesen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! und schieben die Schuld auf die Republik Vietnam, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unterstützt den Antrag die sich weigere, die Leute zurückzunehmen. Mit der SPD, von der Bundesregierung die umgehende einem einzigen Federstrich hätten den Be troffenen Vorlage eines Erfahrungsberichtes zum neuen Aus- 17078 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Konrad Weiß (Berlin) ländergesetz zu verlangen, und akzeptiert nicht den Wir erwarten eine klare Stellungnahme der Bun- Rechtfertigungsversuch der Bundesregierung, der desregierung, welche Schritte sie als geeignet ansieht, dem Innenausschuß vorliegende Be richt würde dem um Ausländerinnen und Ausländern mehr Rechtssi- Auftrag des Deutschen Bundestages vom 26. Ap ril cherheit zu geben und ihnen die Einwanderung, die 1990 genügen. Einbürgerung und Integration in Deutschland zu Die Nachlässigkeit oder Unwilligkeit der Bundesre- erleichtern. gierung, ihre Pflicht zu erfüllen, halten wir angesichts Vielen Dank. der sensiblen Problematik und der zahlreichen in der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Praxis zutage getretenen Mängel für unverantwort- und bei der SPD) lich. Die praktischen Erfahrungen mit dem Ausländer- gesetz belegen, daß die Kritik, die bereits bei der Verabschiedung des Gesetzes geäußert wurde, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich rufe jetzt als durchaus berechtigt war. letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt unsere Kollegin Eri (Beifall des Abg. Dieter Wiefelspütz [SPD]) ka Steinbach-Hermann. Kernpunkt dieser Kritik war und ist, daß es ein Gesetz der Abwehr ist, nicht aber den Erfordernissen Erika Steinbach-Hermann (CDU/CSU): Frau Präsi- einer realistischen, zivilen und humanen Einwande- dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr rungs- und Einbürgerungspolitik genügt. Staatssekretär Lintner hat ja gerade eben im Grunde genommen sehr deutlich gemacht, warum der Antrag Eine Fülle von Ermessensvorschriften bewirkt Unsi- der SPD, nicht so, wie Sie sagten, Frau Dr. Sonntag, ins cherheit bei den hier lebenden Ausländerinnen und Schwarze trifft — ich habe Ihnen ja zugehört —, Ausländern. Bis heute gibt es keine Verwaltungsvor- sondern tatsächlich ins Leere geht. schriften, die die Anwendung des Gesetzes erleich- tern können, sondern lediglich Anwendungshinweise (Lachen bei der SPD) des Bundesinnenministeriums. Dem wäre formal nichts hinzuzufügen, denn Ihr Die wenigen Rechtsansprüche, die das Gesetz ein- Antrag ist ja eigentlich ein nur formaler, kein inhalt- räumt, sind unzureichend. Selbst ein so nachsichtiger licher Antrag, der sich mit den Inhalten des Auslän- Berater dieses Gesetzes wie Bundesrichter Kemper derrechtes beschäftigen würde. spricht von einem verwirrenden System, bei dessen Wer die Diskussion im Innenausschuß in den letzten Anwendung selbst Juristen der besonderen Hilfe Monaten und den letzten Jahren aufmerksam verfolgt bedürften. hat, dem kann gar nicht entgangen sein, daß wir uns immer und immer wieder mit der Thematik beschäf- Mir kommt angesichts dieses Ausländergesetzes tigt haben und daß natürlich der Innenminister in Georg Büchner und sein „Hessischer Landbote" in diesem Jahr einen Bericht vorgelegt hat. Und der den Sinn, wo Büchner 1834 schrieb: Innenausschuß ist ein Teil dieses Parlaments. Diese Gerechtigkeit ist nur ein Mittel, euch in Frau Dr. Sonntag-Wolgast, Sie beklagten sicherlich Ordnung zu halten, damit m an euch bequemer zu Recht, daß es eine sehr kompliziert gefaßte Geset- schinde. Sie spricht nach Gesetzen, die ihr nicht zesmaterie ist, aber eines muß man sagen: Ein kom- versteht, nach Grundsätzen, von denen ihr nichts plexes Gesetz, was so in die Tiefe geht, ist mit wißt, Urteile, von denen ihr nichts begreift. Sicherheit niemals eine leichte Frühstückslektüre. Es Das scheint wie für dieses Ausländergesetz bestimmt ist nicht leicht, dieses Gesetz zu lesen, auch nicht zu sein. leicht ist, es dann umzusetzen, aber bei solchen komplexen Sachverhalten wird das immer wieder der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erwartet von der Bun- Fall sein müssen. desregierung einen klaren und kritischen Bericht, der die Schwachstellen des Ausländergesetzes deutlich Lesen Sie andere Gesetze; das einzige wirklich gut aufzeigt und in dem Lösungen zumindest angedacht verständliche Gesetz ist unser Grundgesetz, und da sind. Insbesondere legen wir Wert auf eine Analyse, haben wir bei der Asylrechtsregelung schon etwas ob und inwieweit die zunehmende Ausländerfeind- dazu beigetragen, daß es etwas schwieriger wurde. lichkeit und die Gewalttaten gegen Ausländerinnen Das neue Ausländergesetz, so wie es 1990 beschlos- und Ausländer direkt oder indirekt durch das politi- sen wurde, war ein Kompromiß auch mit unseren sche Konzept des Ausländergesetzes von 1991 begün- Koalitionsfreunden von der F.D.P.; das will ich ganz stigt worden sind. offen sagen. Wir erwarten, daß der Bericht auf die veränderte (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Freunde nennen Rechtslage nach Ratifizierung des Abkommens über Sie das?) die Rechte der Kinder eingeht und Rechenschaft gibt, Kompromisse bedeuten ganz zwangsläufig, daß jede ob und inwieweit die damit übernommenen Pflichten der beteiligten Parteien ihre Ziele und Vorstellungen zum Schutze der Kinder und der Familien in der nicht ganz verwirklichen konnte. Meine Fraktion ist Bundesrepublik Deutschl and verwirklicht worden sich dieses Sachverhalts auch bewußt und lebt damit, sind. da unser Ziel, ein funktionstüchtiges Ausländerrecht Wir erwarten eine Analyse über die vielfältigen zu schaffen, Probleme, die sich für Frauen und Familien durch (Dr. Wolfgang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE dieses Gesetz ergeben haben, insbesondere durch die GRÜNEN]: Was heißt denn funktionstüch- Visa-Bestimmungen. tig?) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17079

Erika Steinbach-Hermann das den Zuzug vermindert und die Integration der hier lebenden Ausländer, vor allem auch die türki- hier lebenden Ausländer erleichtert, mit diesem Kom- schen Staatsbürger, bereits heute ohne Schwierigkei- promiß erreicht wurde; und dieses Gesetz hat sich ten die deutsche Staatsangehörigkeit erworben inzwischen ja auch in der Praxis bewährt. haben, wenn sie denn wollten. Wenn dies zu einem Wenn man die Ergebnisse verfolgt, muß man sagen, Problem in ihrem Heimatland führt, so ist das aller- daß es sich in weiten Teilen bewährt hat, obwohl ich es höchstens ein Grund, auf die türkische Regierung nicht verhehlen wi ll — ich will es an diesem Ort noch einzuwirken, diese Schwierigkeiten abzubauen. Ge- einmal deutlich sagen —, daß wir uns seitens der CDU nau das tut ja die Bundesregierung zur Zeit. Ein durchaus auch restriktivere Maßnahmen im Auslän- Grund, unsere eigenen Ausländergesetze zu verän- dergesetz hätten vorstellen können. dern, ist es nach unserer Auffassung nicht. (Uwe Lambinus [SPD]: Das glaube ich Ihnen Was das erste Ziel des Ausländergesetzes angeht, gern!) also die Verminderung des Zuzuges, Sie erscheinen uns auch heute noch wünschenswerter (Uwe Lambinus [SPD]: Das kann nicht das als etwaige Lockerungen, wenn man sich die Gesamt- erste Ziel sein!) situation in Deutschland anschaut. Wir wollen ja ganz so sind alle mir bekannten Forderungen von Ihrer offen miteinander reden. Seite darauf angelegt, genau diesen Punkt zu unter- (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Da fällt die laufen oder das Umgekehrte zu erreichen. Wenn Sie Maske!) die Härtefallregelung bei der Visapflicht herausneh- men wollen — das ist ja von Ihrer Seite schon geäußert Ich meine, Offenheit ist die Voraussetzung für ein worden —, wenn Sie die Heraufsetzung des Wieder- fruchtbares Austauschen von Gedanken. kehrhöchstalters, die Aufgabe von Wohnraumerfor- Ganz anders sieht es offensichtlich bei Ihnen, meine dernissen, ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für Damen und Herren von der SPD, aus. Sie wollen Ehegatten von Anfang an usw. usw. fordern, führt das weitergehende Erleichterungen — Sie haben das ja doch zwangsläufig zu einer verstärkten Zuwanderung heute deutlich gesagt — für Ausländer im Gesetz in dieses Land und zu alldem, was damit verbunden erreichen und versuchen nun, über die formale Hin- ist, zu diesen wohlbekannten Problemen. Genau das tertür den Bericht anzumahnen und nochmals den wollen wir nicht. Ich frage Sie: Können Sie denn das im Boden für eine Diskussion vorzubereiten. Interesse des Landfriedens wollen? Fragen Sie sich (Uwe Lambinus [SPD]: Das ist doch legal!) doch einmal selbst. — Gut, das können Sie tun. Aber das erkennen wir (Uwe Lambinus [SPD]: Wie ist denn das mit natürlich. Wir leben in der Adventszeit. Da werden den Spitzensportlern, Frau Kollegin?) - ständig Türchen aufgemacht, aber diese Tür bleibt Ich war eigentlich davon ausgegangen, daß auch zu. Sie als Mitglieder der SPD inzwischen die Realitäten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) in diesem Land gesehen und sich damit auseinander- gesetzt haben, nämlich daß es uns völlig unmöglich Es besteht nach unserer Auffassung kein Anlaß, das ist, unbegrenzt neue Zuzügler in Deutschl an Ausländergesetz zu verändern. Es ist gut, und es hat d aufzu- nehmen und so die Probleme der Welt innerhalb sich im Grundsatz auch bewährt. Es sollte so bleiben, unserer Staatsgrenzen zu lösen. Wir können das nicht; bis auf einen einzigen Punkt. Ihn will ich anfügen. Sie wir vermögen das ganz einfach nicht. Wenn diese haben ihn auch schon gelesen. Wir sind genau wie der Erkenntnis bei Ihnen nicht vorhanden gewesen wäre, Innenminister der Auffassung, daß wir die Auswei- hätten Sie ja wohl nicht dem Asylkompromiß, zu dem sungsbestimmungen für Dealer verschärfen müssen wir Sie Jahre haben drängen müssen, mit zuge- und daß es nicht sein kann, daß Menschen, die sich mit stimmt. Drogenhandel in diesem Lande beschäftigen, sich möglicherweise hinter Schutzrechten verschanzen. (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Aha, seien Sie uns Da, meinen wir, muß etwas get an werden. einmal dankbar, Frau Kollegin!) (Zuruf von der SPD: Darüber können wir — Ich freue mich ja, daß Sie zugestimmt haben und reden!) daß Sie diesen Lernprozeß hinter sich gebracht haben. Deshalb bitte ich Sie: Erleichtern Sie nicht weiter über Ich will eines noch einmal zusammenfassen. das Ausländergesetz den Zuzug hierher in dieses Land, denn Sie tun diesem Land und vor allen Dingen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Steinbach dem Landfrieden keinen Gefallen. Hermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol- legen Ullmann? Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lambinus? Erika Steinbach-Hermann (CDU/CSU): Nein, im Moment nicht, Herr Kollege Ullmann. Erika Steinbach-Hermann (CDU/CSU): Aber gern. Eines der Ziele war, den Zuzug weiterer Ausländer (Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann zu vermindern. Ein weiteres war, die Einbürgerung [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) bereits hier lebender Ausländer zu erleichtern. Dieses — Es sind die Antragsteller, Herr Dr. Ullmann; des- Ziel scheint uns durchaus erreicht. halb. Was den letzten Punkt betrifft, so sind ja hier im Zuge der Asylrechtsreform noch einmal Erleichterun- Uwe Lambinus (SPD): Frau Kollegin, wären Sie gen geschaffen worden. So könnte ein Großteil der damit einverstanden, daß die Regelungen, die heute 17080 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Uwe Lambinus für die Einbürgerung von Spitzensportlern in der ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg war und des- Praxis angewendet werden, für alle Ausländer gel- halb als verbrecherisch einzustufen ist. ten? (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und (Beifall bei Abgeordneten der PDS/Linke dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Liste) Dies stellt uns auch vor die Aufgabe, die Handlungen der Männer und Frauen, die sich der Mitwirkung an Erika Steinbach-Hermann (CDU/CSU): Herr Kol- diesem Krieg entzogen, sich ihm verweigerten oder lege, Sie nehmen Ausnahmetatbestände heraus, die dagegen opponierten, neu zu bewerten. unter Umständen auch für Deutsche in anderen Län- Dabei kann und darf es nicht darum gehen, die dern auch Gültigkeit haben. So etwas können Sie in vielen Millionen deutschen Soldaten, die nicht den der Breite unmöglich anwenden. Ich sage Ihnen: Weg in die Desertion oder Verweigerung gegangen Wenn Sie so etwas anwendeten, dann brechen hier im sind, in ein irgendwie geartetes Zwielicht zu stellen. Lande alle Dämme, und Sie befördern Rechtsextre- Für sie gilt unabänderlich der Grundsatz des guten mismus. Das ist doch das Endergebnis davon. Glaubens. Wir dürfen ihnen nicht nachträglich abver- Ein uneingeschränkter Zuzug hat mit Ausländer- langen, was damals nur wenige gewagt haben. Wir freundlichkeit auch nicht das mindeste zu tun, son- anerkennen ihre damalige Absicht, durch Pflichterfül- dern es ist schlicht und einfach eine völlige Verken- lung das Beste aus einer schwierigen Lage zu nung der Lage, in der wir uns hier im Lande befinden. machen. Wer Frieden in Deutschland bewahren will, darf mit Zuzugsgenehmigungen nicht großzügig umgehen, Nicht wenige dieser Soldaten erfuhren und erlitten sondern muß das sorgfältig und sehr restriktiv tun. im Zweiten Weltkrieg den schlimmen Zwiespalt zwi- schen wachsender Gegnerschaft zu einem Regime, (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. dessen verbrecherischer Charakter sich mehr und Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]) mehr offenbarte, und der besonderen Pflicht zur beschworenen Verteidigung des eigenen Landes. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich schließe die Die meisten von uns waren aus Altersgründen Aussprache. derartigen Gewissenskonflikten nie ausgesetzt und Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen mußten sich in solcher Situation nie bewähren. Dies auf den Drucksachen 12/5994 und 12/6291 zu über- kommt in der Begründung unseres Antrages auch weisen, und zwar zur federführenden Beratung an unmißverständlich zum Ausdruck. Gerade dies den Innenausschuß und zur Mitberatung an den zwingt uns aber dazu, jenen, die den Weg der Ver- Auswärtigen Ausschuß, an den Ausschuß für Arbeit weigerung gegangen sind, späte Gerechtigkeit ange- und Sozialordnung und an den Ausschuß für Frauen deihen zu lassen. und Jugend. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? Über 20 000 Todesurteile wegen Desertion, Wehr- — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so kraftzersetzung und Wehrdienstverweigerung wur- beschlossen. den vollstreckt. Zehntausende gingen in Zuchthäuser, Strafbataillone und Konzentrationslager, nur weil Ich rufe Punkt 12 der Tagesordnung auf: sie sich dem wahnsinnigen, menschenverachtenden Treiben des NS-Terrors entzogen. Die NS-Militärju- Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe stiz betrieb keine unabhängige, an rechtsstaatlichen Lambinus, Siegfried Vergin, Siegrun Klemmer, Grundsätzen orientierte Rechtsprechung; sie war ver- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der kommen zu einem Instrument der Durchsetzung der SPD verbrecherischen NS-Kriegsziele. Unrechtsurteile wegen ,,Fahnenflucht/Deser- tion", „Wehrkraftzersetzung" oder „Wehr- (Wolfgang Lüder [F.D.P.] Leider wahr!) dienstverweigerung" während der national- Dazu hat das Bundessozialgericht in seinem Urteil sozialistischen Gewaltherrschaft vom 11. September 1991 festgestellt — ich zitiere —: — Drucksache 12/6220 — Die nationalsozialistische Herrschaftsordnung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für war ... ein politisches Terrorsystem der unbe- die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — schränkten Willkür und Gewalt, da es durch Dazu gibt es keinen Widerspruch. Darm können wir so keinerlei rechtliche Garantien eingeschränkt verfahren. wurde... Als erster spricht Kollege Uwe Lambinus. Das Gericht führt weiter aus: Die Wehrmacht und ihre Ge richte sollten dazu Uwe Lambinus (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kol- beitragen, den völkerrechtswidrigen Krieg zu leginnen und Kollegen! Wieder einmal beschäftigen führen. Die Anwendung der Höchststrafe, auch wir uns heute mit einem Teilaspekt der Aufarbeitung der Todesstrafe, wurde nicht mehr individuell des unseligsten Zeitabschnittes unserer deutschen durch Gerichte, sondern durch Führererlaß gene- Geschichte, mit der aus jetziger Sicht richtigen Bewer- rell als angemessen festgelegt. tung der Menschen, die Opfer der NS-Militärjustiz wurden. Es heißt weiter: Es gibt heute unter uns keine unterschiedliche Nach dem Befehl Hitlers über die Bildung des Bewertung der Tatsache, daß der Zweite Weltkrieg Truppensonderdienstes in der Wehrmacht .. . Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17081

Uwe Lambinus waren auch die Richter schließlich noch den in maßgeblichem Umfang vertreten ist, sollten wir uns jeweiligen Truppen- und Fachvorgesetzten un- nicht aussetzen. terstellt ... im Bereich der Wehrmacht hat es Recht herzlichen Dank. somit keine unabhängige Justiz gegeben. (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste, Weiter sagt das Bundessozialgericht: dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Denn die Todesstrafe wurde um der Kriegsfüh- Abgeordneten der F.D.P.) rung willen so zwangsläufig verhängt wie in den Urteilen des Volksgerichtshofes. Diese sind nach dem Beschluß des Deutschen Bundestages vom Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht 25. Januar 1985 als Unrecht zu brandmarken der Kollege Klaus-Heiner Lehne. (dazu BT-Drucksache 10/2368 mit Beschlußemp- fehlung des Rechtsausschusses). Das muß auch Klaus-Heiner Lehne (CDU/CSU): Frau Präsidentin! für jene Militärgerichtsurteile gelten, die ein Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Sonderopfer durch Verlust des Lebens auferleg- Ich glaube, das Thema, mit dem wir uns hier befassen, ten. ist ein außerordentlich schwieriges Thema. Ein außer- Soweit das Bundessozialgericht. ordentlich schwieriges Thema nicht nur deshalb, weil Hierzu, liebe Kolleginnen und Kollegen, dürfen wir es, wie schon angesprochen wurde, einen der nicht länger schweigen. Wir müssen diesen Men- schlimmsten Teile der deutschen Geschichte berührt, schen, die Opfer einer entarteten Justiz wurden, die sondern auch deshalb, weil es — und die Erfahrungen Ehre zurückgeben. haben wir nicht nur im Zusammenhang mit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus, sondern in Das — nicht mehr und nicht weniger — will unser jüngerer Zeit auch durch die Aufarbeitung des SED- Antrag erreichen. Wir wollen mit unserem Antrag Regimes machen müssen — unglaublich schwierig ist, dafür sorgen, daß diese Opfer nicht vergessen werden. tatsächlich dafür Sorge zu tragen, daß denen, denen Wir wollen mit Ihnen gemeinsam dafür sorgen, daß Unrecht geschehen ist, in einem angemessenen unsere berechtigte Hochachtung vor den Frauen und Umfang nun Recht und möglicherweise auch Entschä- Männern des politischen, kirchlichen und militäri- digungen zugebilligt werden. nicht unglaubwürdig wird, weil schen Widerstandes Die Frage, um die es hier natürlich auch geht und wir anderen Opfern, die auf ihre Art, mit den ihnen zur die wir sicherlich in den Ausschüssen werden beraten Verfügung stehenden Mitteln, gleiches taten, nicht müssen, ist die, ob man es in der Art machen kann, wie ebenfalls Gerechtigkeit zuteil werden lassen. es in dem Antrag gefordert wird, nämlich durch eine (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste, pauschale Entscheidung, oder ob der Vorgang nicht dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei differenzierter be trachtet werden muß und ob wir an Abgeordneten der F.D.P.) einer Einzelfallprüfung nicht vorbeikommen. Dies ist nicht nur ein Ziel der Unterzeichner des Ich will ganz klar sagen: Es ist völlig unbestritten, Antrages und meiner Fraktion, dies ist, wie ich weiß, daß es hier in einem ganz, ganz großen Umfang um ein parteiübergreifendes Bedürfnis. Ich darf hier nur Unrecht geht. Das nationalsozialistische Regime war daran erinnern, daß sich auch der Verein „Wider das ein mörderischer Gewaltstaat, bei dem auch die Vergessen — Für Demokratie", dem viele hervorra- Militärjustiz Teil des Unrechtsmaßnahmenstaates gende Vertreter aller demokratischen Kräfte in unse- gewesen ist. Der Zweite Weltkrieg war auch zweifel- rem Lande angehören — ich will hier nur drei nament- los völkerrechtswidrig. Die Frage ist eben trotzdem, lich nennen, nämlich den Vorsitzenden Dr. Hans- ob es sachgerecht ist, hier eine pauschale Entschei- Jochen Vogel, die stellvertretende Vorsitzende dung zu treffen, wie im Antrag vorgeschlagen, oder an Dr. Hanna-Renate Launen und Pastor F riedrich die Dinge differenziert heranzugehen. Schorlemmer —, für diese Initiative ausgesprochen Ich glaube, man kann durchaus auch der Ansicht hat. sein, daß es unangemessen sein kann, Desertion Ich darf Sie alle einladen, mit uns zusammen das zu während des Zweiten Weltkrieges generell als Akt tun, was überfällig ist. Lassen Sie uns in den Aus- politisch motivierten Widerstands zu legitimieren. schußberatungen zueinander finden, damit ein weite- (Uwe Lambinus [SPD]: Tun wir auch nicht!) res unrühmliches Kapitel deutscher Vergangenheit Dies ist weder historisch noch ethisch zu rechtfertigen. aufgearbeitet werden kann. Desertion ist in allen Staaten der Welt ein Straftatbe- (Beifall bei der SPD, der F.D.P. und dem stand gewesen, und zwar auch zweifellos in demokra- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tischen und freiheitlich orientierten Staaten. So hat es Gestatten Sie mir zum Schluß, noch einmal das auch bei den Alliierten Verurteilungen wegen Deser- Bundessozialgericht zu zitieren. Es führt in seinem tion und vergleichbarer Straftaten gegeben. schon genannten Urteil wörtlich aus: Der Unterschied zur Nazi-Militärjustiz lag natürlich in der weit größeren Zahl und der Unverhältnismäßig- Hält man die massenhaft und zur Abschreckung keit der Urteile. Dies ändert aber nichts daran, daß die verhängten Todesurteile im Zweifel für rechtmä- meisten Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg kämpfen ßig, entspricht das der für die Kriegszeit typischen mußten und litten, ehrlich und aufrichtig davon über- Geisteshaltung. zeugt waren, ihrem Land zu dienen. Es ist eben von Dem Verdacht oder gar dem Vorwurf, daß diese großer Tragik, daß in diesem Teil deutscher Geisteshaltung noch heute im Deutschen Bundestag Geschichte die Vaterlandsliebe der meisten Men- 17082 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Klaus-Heiner Lehne schen zu verbrecherischen Zwecken mißbraucht Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Lehne, gestat- wurde. ten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lambi- (Siegfried Vergin [SPD]: So ist es!) nus? Eine pauschale Rechtfertigung von Desertion könnte die Gefahr in sich bergen, im nachhinein die ins Klaus-Heiner Lehne (CDU/CSU): Bitte, ja. Unrecht zu setzen, die davon überzeugt waren, für ihr Vaterland zu kämpfen. Uwe Lambinus (SPD): Herr Kollege, ist Ihnen die (Beifall des Abg. Norbert Geis [CDU/CSU] — Tatsache bewußt, daß keine einzige Witwe eines zum Uwe Lambinus [SPD]: Haben Sie mir zuge Tode Verurteilten — mit vollstrecktem Urteil — bis hört?) zum heutigen Tage Kriegerwitwenrente oder eine — Ich gehe davon aus, daß ich limen zugehört Versorgungsrente nach dem Bundesversorgungsge- habe. setz erhalten kann, weil alle Urteile die unehrenhafte Entlassung aus der Wehrmacht beinhalteten und aus Aus der pauschalen Rechtfertigung der Desertion entstünde zudem möglicherweise der falsche Ein- diesem Grunde der Delinquent nicht als Soldat gestor- druck, daß Desertion generell achtbar und legitim ben ist? Ist Ihnen das bekannt? sei. (Uwe Lambinus [SPD]: Sie haben mir nicht Klaus-Heiner Lehne (CDU/CSU): Das ist mir so nicht zugehört!) bekannt. Mir ist etwas anderes bekannt: daß es durchaus Fälle gibt — wobei ich die Zahl im Augen- Dies könnte auch die Moral der Streitkräfte im frei- blick nicht kenne —, in denen Entschädigungsleistun- heitlich-demokratischen Rechtsstaat untergraben. gen gewährt werden. Wir werden das sicherlich in den Deshalb, finde ich, ist die undifferenzierte pauschale Detailberatungen im Ausschuß klären können, wenn Lösung, wie sie im Antrag vorgesehen ist, vermutlich wir die entsprechende Tatsachenforschung angestellt nicht der richtige Weg. Richtig ist vielmehr die diffe- haben — die hinreichende Information ist ja der Sinn renzierte Beurteilung des Einzelfalls durch die zustän- von Ausschußberatungen —, um dann sachgerecht digen Organe des Rechtsstaates, wie dies unsere darüber entscheiden zu können. Rechtsordnung im Prinzip auch schon vorsieht. Im übrigen hat die Bundesregierung auch in dem Bereits 1952 ist durch § 18 des Zuständigkeitsergän- Sinne, wie der Bundestag das 1990 beschlossen hat, zungsgesetzes die Möglichkeit der Wiederaufnahme auf eine Anfrage der GRÜNEN im Jahr davor Stellung wehrmachtsgerichtlicher Strafverfahren durch die genommen. - bundesdeutsche Strafjustiz bundeseinheitlich einge- führt worden. Auch die Frage der Entschädigung für Ich darf vielleicht noch auf eines hinweisen: Den begangenes Unrecht ist in der Folge ein Problem der gleichen Weg mit der Einzelfallprüfung sind wir auch Einzelfallprüfung nach den Bestimmungen des Bun- bei der Aufarbeitung des SED-Unrechts gegangen. desentschädigungsgesetzes und des allgemeinen Auch hier haben wir nicht durch Gesetz eine pau- Kriegsfolgengesetzes bzw. neuerdings auch des Ent- schale Aufhebung von Unrechtsentscheidungen oder schädigungsrentengesetzes und des Kriegsfolgenbe- Unrechtsvorgängen beschlossen, sondern wir haben reinigungsgesetzes. die Entscheidung im Einzelfall gewählt. Das Problem ist doch ganz klar: Es liegt einfach in der Natur von Im übrigen hat sich der Bundestag mit dieser Unrechtsstaaten, daß sie keine Unterscheidung zwi- Problematik heute nicht zum ersten Mal befaßt, son- schen Recht und Unrecht treffen. Aufgabe der Aufar- dem in der letzten, der i 1. Legislaturperiode hierzu beitung im Rechtsstaat hinterher ist es, dafür Sorge zu bereits eine Entschließung gefaßt, beruhend auf tragen, daß Unrecht von Recht getrennt wird. einem mit dem der SPD fast Bleichlautenden Antrag der Fraktion der GRÜNEN. In dieser Entschließung, (Beifall bei der CDU/CSU) der man eigentlich so schrecklich viel nicht mehr Dies ist schwierig und nur im Wege einer Einzelfall- hinzufügen muß, heißt es: prüfung möglich. Darum geht es hier im Prinzip. Der Deutsche Bundestag stellt fest, daß die unter Ich teile durchaus Ihre Ansicht, daß wir uns Gedan- der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ver- ken über die Frage machen müssen, ob wir nicht die folgten Kriegsdienstverweigerer, Deserteure und Rechte der Betroffenen, die wirklich ein furchtbares Wehrkraftzersetzer im Rahmen der geltenden Schicksal erlitten haben, und die Rechte ihrer Ange- entschädigungsrechtlichen Regelungen, insbe- hörigen ausbauen und verbessern können. Das ist in sondere nach den Härterichtlinien, entsprechend meinen Augen überhaupt keine Frage, aber das dem allgemeinen Kriegsfolgengesetz Wiedergut- ändert nichts an dem Prinzip der Einzelfallprüfung, machungsleistungen erhalten. Er hält daher eine das wir beibehalten müssen. über die bestehenden Vorschriften hinausge- Der Deutsche Bundestag hat in der 11. Pe riode hende besondere Wiedergutmachungsregelung — auch das war Gegenstand der Beschlüsse, auf die für diesen Personenkreis nicht für erforderlich. Er ich vorhin Bezug genommen habe — ebenfalls ein- bittet gleichzeitig die Bundesregierung, sicherzu- deutig erklärt, daß er sich in der 12. Pe riode mit dieser stellen, daß bei der Anwendung der einschlägi- Frage noch einmal befassen wi ll. So verstehe ich auch gen Wiedergutmachungsvorschriften auf diesen diesen Antrag. Deswegen kommt er auch in den Personenkreis eine dem jewei ligen Einzelfall Ausschuß. Wir werden uns sicherlich Gedanken dar- gerecht werdende Entscheidung getroffen wer- über machen müssen, wie wir die vorhandenen recht- den kann. lichen Möglichkeiten verbessern können. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17083

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Kollege Lehne, Vielen herzlichen Dank. gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) neten Elmer?

Als nächster spricht (CDU/CSU): Wenn ich diesen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Klaus-Heiner Lehne der Kollege Wolfgang Lüder. Satz zu Ende gesprochen habe, gerne. Aber im Grundsatz bin ich nach wie vor der Ansicht, daß es keinen Zweck hat, mit pauschalen Beschlüssen Wolfgang Lüder (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine solche Probleme aus der Welt zu schaffen zu versu- verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich will damit chen. Ich glaube, man schafft damit nur neue. Dem beginnen, daß ich sowohl nach der Rede des Kollegen einzelnen ist auch viel mehr geholfen, wenn er in Lehne als auch nach der des Kollegen Lambinus einem geordneten rechtsstaatlichen Verfahren reha- einfach einmal festhalte: Wir befassen uns hier nicht bilitiert wird und wenn wir uns vielleicht Gedanken mit denen, die ihren guten Glauben, für eine — wie sie darüber machen, auf welche Art und Weise diese meinten — gute Sache, für ein gutes Vaterland, dem Verfahrensmöglichkeiten für den Be treffenden ver- sie sich verpflichtet fühlten, ihr Leben einzusetzen, zu bessert werden können. kämpfen, mit gesundheitlichen Schäden und teil- Bitte. weise auch mit dem Tode bezahlten. Darum geht es nicht. Das wäre eine falsche Frontstellung. Worum es hier geht ist, das Thema zu behandeln Dr. Konrad Elmer (SPD): Herr Kollege Lehne, auch und aufzuarbeiten, mit dem sich das Urteil des Bun- bei mir waren Betroffene. Sehen Sie bei der Einzel- dessozialgerichts vom 11. September 1991 befaßt hat, fallprüfung nicht auch das Problem, daß bei den nämlich: letzten wenigen, die noch leben — der Verein hat, glaube ich, 29 Mitglieder — auf Grund der schwieri- (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sehr richtig!) gen Aktenlage sozusagen die biologische Lösung Was machen wir mit denen und wie stehen wir zu gegriffen hat und daß das doch etwas makaber wird? denen, die Widerstand geleistet haben, indem sie sich Sind Sie nicht der Meinung, daß wir deshalb diese aktiv ihrer Wehrpflicht — auf welche Art und Weise Lösung doch nicht so favorisieren sollten? auch immer — entzogen haben, und auch mit denen, (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist doch die gar nicht Widerstand ganz schlicht nur Rückgrat schnell zu machen! Das hätte bislang schon gezeigt haben? Das ist ja auch schon mal verdammt gemacht werden können!) viel in Diktaturen, wie wir in unserer deutschen Geschichte mehrfach lernen durften. Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 11. Sep- Klaus-Heiner Lehne (CDU/CSU): Ich glaube, das ist tember 1991 hat Maßstäbe gesetzt, wie Verurteilun- nur eine Frage des Verfahrens. Wenn wir uns über gen im NS-Staat gewertet werden müssen, die gegen mögliche Verfahrenserleichterungen Gedanken ma- sogenannte Wehrkraftzersetzer, Deserteure oder ge- chen, dann kann auch, glaube ich, diesen 29 noch gen Wehrdienstverweigerer ergangen sind. Maßgeb- rechtzeitig genug geholfen werden. Aber ich sage das lich für die Bewertung muß danach die Feststellung hier ganz offen — und ich hoffe, das ist aus meiner sein, daß nicht die aktive Teilnahme am völkerrechts- Rede auch deutlich geworden —: Es geht nicht nur um widrigen Angriffskrieg Nazideutschlands die von der die 29, sondern es geht um viel, viel mehr Menschen, Rechtsordnung anerkannte Norm darstellt, sondern die durch diesen Krieg auch Unrecht erlitten haben. Maßstab ist gerade die Verweigerung der Teil- Dazu rechne ich z. B. auch die, die als Soldaten im nahme. Kampf gefallen sind, um es ganz deutlich zu sagen. Die Nachhilfe, die das Bundessozialgericht mit Ich meine, hier muß man auch darauf achten, daß diesem Urteil gegeben hat, hat aber bisher nicht viel man nicht nur an diesen kleinen Kreis der Be troffenen bewirkt. denkt — die sicherlich in dieser Situation ganz beson- (Siegfried Vergin [SPD]: So ist es!) ders schlimm betroffen sind —, sondern daß man auch an alle anderen denkt, die ebenfalls unter diesem Das wird insbesondere daran deutlich, wie sich das Krieg gelitten haben, und versucht, insgesamt einen Bundesfinanzministerium in Angelegenheiten der gerechten Ausgleich zu finden. Ich glaube, das ist Wiedergutmachung — sei es auch nur der Wiedergut- durch diesen Antrag — wir werden das im Ausschuß machung durch Zahlung von kleinen finanziellen noch eingehend beraten —, so wie er jetzt formuliert Anerkennungen aus Härtefonds — in dieser Angele- ist, nicht ausreichend gewährleistet. genheit verhalten hat. Ich möchte zum Schluß kommen und noch einmal (Beifall bei der SPD) deutlich darauf hinweisen, daß ich es für den richtigen Zwar wurden die Verwaltungsvorschriften zum AKG Weg halte, hier zu einfachen Lösungen zu kommen, — im Ministeriumsdeutsch VVAKG — geändert, ver- sondern wir müssen bessere Lösungen finden. Für öffentlicht aber wurde diese Neufassung nicht. Kein bessere Lösungen haben wir die Ausschußberatun- Betroffener wurde davon informiert, gen. Wir werden diesen Antrag zum Anlaß nehmen, um auch im Sinne des Auftrages, den uns der 11. Deut- (Zuruf von der SPD: Nicht einmal publi- sche Bundestag hinterlassen hat, vielleicht noch in ziert!) dieser Legislaturperiode — darum werden wir uns welche Konsequenzen das Bundesfinanzministerium bemühen — tätig zu werden. aus diesem Urteil gezogen hat. 17084 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Wolfgang Lüder Das Finanzministerium hat diese Neufassung ver- Deswegen sage ich auch: Wir werden sehr sorgfältig steckt, als schäme es sich der neu gezogenen Bremse. prüfen müssen, wie wir es formulieren, welche Gren- Das Verstecken der neuen Vorschriften ist falsch, weil zen wir ziehen, wo wir Maßstäbe setzen. Aber daß die sie einigen Opfern die Möglichkeit geben würden, Maßstäbe, die uns heute vorgelegt werden anläßlich wenigstens minimale Entschädigungen zu erhalten. der VVAKG, nicht gelten können, das ist für mich Die Opfer sollten doch wenigstens wissen, was ihnen evident. zusteht. (Beifall bei der F.D.P.) Verschämt zu sein wäre hingegen richtig, weil vom Finanzministerium die Konsequenz des Widerstandes Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Geis. gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Nazi- deutschlands nicht gezogen worden ist. So hält man es Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Lüder, Sie haben am auch in den neuen Verwaltungsvorschriften noch für Schluß Ihrer Ausführungen noch einmal einiges klar- denkbar und möglich, daß eine Strafverurteilung gestellt, aber dennoch meine Frage: Glauben Sie, daß wegen Abhörens feindlicher oder neutraler Rund- bei einer pauschalierten Aufhebung eben diese Klar- funknachrichten — ich zitiere aus den Verwaltungs- stellung, nämlich die Differenzierung zwischen Recht vorschriften — Rechtens gewesen sein könnte, und Unrecht überhaupt möglich ist? Das ist ein Wider- (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Unglaublich!) spruch in sich. wenn nur das Strafmaß niedrig war. So stellt man für Wolfgang Lüder (F.D.P.): Lieber Herr Kollege Geis, die Feststellung von Unrechtsurteilen nicht darauf ab, ich glaube, daß wir Wege finden können, hier eine was das Gericht geurteilt hat, sondern ob es eine generelle Klarstellung zu finden. Mir würde der spätere Gnadenentscheidung gegeben hat. Wenn Verzicht auf eine generelle Klarstellung leichter fal- jemand zum Tode verurteilt und später zu KZ „begna- len, wenn ich wüßte, daß die Maßstäbe der Demokra- digt" worden ist — ich scheue mich, diesen Ausdruck tie, des Widerstandes gegen Diktatur ihren Eingang in in diesem Zusammenhang in den Mund zu nehmen — , jede Verwaltungsvorschrift gefunden hätten. dann ist dies kein Unrecht mehr, das zum Entschädi- gungstatbestand führt. (Beifall bei der F.D.P., der SPD, der PDS/ Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- So hält das Bundesfinanzministerium eine Verurtei- NEN) lung wegen Zersetzung der Wehrkraft nach der Kriegssonderstrafrechtsverordnung — einem typi- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster der schen nationalsozialistischen Unrechtstatbestand — Abgeordnete Uwe-Jens Heuer. für immer noch denkbar rechtsstaatlich, wenn nur das - Strafmaß gering war. Alles nachzulesen in diesen Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Frau Präsi- Verwaltungsvorschriften unserer Regierung. Und da dentin! Meine Damen und Herren! Der Personenkreis, schäme ich mich, diese Regierung mit tragen zu auf den der hier vorliegende Antrag der SPD zielt, ist dürfen und mit tragen zu wollen, wenn wir solche im Osten überwiegend schon in den 40er Jahren Wege gehen. rehabilitiert und später in der DDR als „Opfer des (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Faschismus" entschädigt worden, weil erkennbar dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) war, daß sich hier Männer der Teilnahme an einem verbrecherischen Ang riffskrieg entzogen hatten. Das Und weil es diese Verwaltungsvorschriften gibt, müs- fand zwar im Rahmen eines, wie uns jetzt gesagt wird, sen wir dem Gedanken nähertreten, der hier von der „verordneten Antifaschismus" statt, aber es war für SPD genannt worden ist, müssen wir zu klaren und die ehemaligen Verfolgten des Nationalsozialismus auch generalisierenden Regelungen kommen. Wir zweifellos sehr wirksam. müssen Maßstäbe zurechtrücken hinsichtlich dessen, was Unrecht war und was Recht ist. Insofern ist es schon verwunderlich, warum dieser Antrag erst jetzt kommt und warum es erst des in der (Beifall bei der F.D.P., der SPD, der PDS/ Begründung zitierten Urteils des Bundessozialge- Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ richts bedurfte, um den Anstoß für diesen Schritt zu NEN) geben. Wir müssen Maßstäbe setzen. Selbst wenn der Bundestag diesem Antrag jetzt Ich weiß, daß wir darauf achten müssen zustimmt — was ich hoffe —, kommt er für die meisten Betroffenen zu spät. Aber das paßt doch in die (Abg. Norbert Geis [CDU/CSU] meldet sich Tradition des Umgangs mit den Verfolgern und den zu einer Zwischenfrage) Verfolgten des Nationalsozialismus in der Bundesre- — ich darf diesen Satz noch sagen, Herr Geis; dann publik. Mitte der 50er Jahre hatten die Beamten des können Sie gerne Ihre Frage stellen —, wir nicht alles Nazistaates mittels des 131er-Gesetzes ihre alten an Strafverurteilung in der NS-Zeit zu Unrecht zu Positionen wieder erklommen einschließlich der ent- erklären. sprechenden Versorgungsansprüche. Die Verfolgten waren lediglich hinsichtlich einer Entschädigung (Uwe Lambinus [SPD]: Das ist richtig!) antragsberechtigt. Wenn sie beweisen konnten, daß Denn alles das, was in der Zeit vor 1933 Tatbestand sie keinem anderen System der Gewaltherrschaft, war und was Tatbestand gewesen wäre nach 1949, ist, z. B. der Sowjetunion, gedient hatten, und wenn sie wenn es in der NS-Zeit geschah, ein strafwürdiges nachweisen konnten, daß sie die freiheitlich-demo- Vergehen. Ich möchte hier nicht alles über einen kratische Grundordnung nicht bekämpft hatten, etwa Kamm scheren. durch Unterstützung der KPD, und wenn sie bedürftig Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17085

Dr. Uwe-Jens Heuer waren, dann konnten sie mit einer kleinen Rente haben. Bei Ihrer Einzelfallprüfung wäre dieser Weg rechnen. dann doch immer wieder die Regel. Das kann doch Wie auch immer, der Antrag kommt spät. Aber wirklich nicht sein. besser spät als nie. Er kommt zu einem Zeitpunkt, da Etwas anderes aber ist noch viel wichtiger: Es geht sich Kräfte hier anschicken, deutsche Soldaten zu jetzt nicht darum, ob wir eine generelle, eine pau- Kampfeinsätzen in die Welt zu schicken. Der Abge- schale Prüfung oder eine Einzelfallprüfung bevorzu- ordnete Heiner Lehne befürchtet, daß unser Beschluß gen oder sagen: Es muß schlicht besser werden, wie zum Nachdenken über die Berechtigung von Kriegen Sie es getan haben. Es geht vielmehr darum, daß der führen könnte. Genau das erhoffe ich mir eigentlich Gesetzgeber in diesem Lande, in der Bundesrepublik von dieser Diskussion: daß wir darüber nachdenken, Deutschland, endlich einmal klar sagt, was seine was denn zum Krieg berechtigt und wie sich der Rechtsauffassung ist. Ist es die, die das Bundessozial- einzelne verhalten darf und kann. gericht verworfen hat, daß die Rechtsprechung in Meine Damen und Herren, ich unterstütze den einem verbrecherischen Krieg, die Kriegsjustiz, die vorliegenden Antrag der SPD, weil er möglicherweise dort ausgeübt worden ist, normale Justiz hat sein doch noch den Opfern des Nationalsozialismus und können? — Das ist offenkundig nicht der Fall. Darauf ihren Angehörigen bei der Durchsetzung ihrer Ent- muß unser Parlament als Gesetzgebungsorgan rea- schädigungsansprüche hilft, weil er vielleicht dem gieren. Ich denke, wir kommen da an einer generellen Nachdenken über Traditionen der Bundeswehr einen Aussage nicht vorbei. Das ist bei der Gesetzgebung Impuls gibt und weil er jungen Männern zeigt, daß es mm einmal so. durchaus nicht unehrenhaft sein muß, „nicht hinzuge- hen", wenn Krieg ist. Die Größenordnung, um die es dabei geht, ist Eigentlich paßt in diesem Zusammenhang auch beträchtlich. Die Zahl der Fälle wird unterschiedlich einiges nicht zusammen. Man kann doch nicht Deser- angegeben; es sind aber fünf- und sechsstellige Zah- teure und Wehrkraftzersetzer rehabilitieren und len. Das ist der Grund, liebe Kolleginnen und Kollegen gleichzeitig den Hitlerfreund Generaloberst Dietl, von der SPD, warum ich es bedaure, daß wir noch unter dessen Verantwortung in Feldstraflagern der keinen fraktionsübergreifenden Antrag haben. Wehrmacht ebensolche Menschen zu Tode geschun- den wurden, nach wie vor als Namenspatron der Wir werden uns rebus sic stantibus mit einem Bundeswehrkaserne Füssen haben. eigenen Antrag an der Debatte beteiligen. Es geht uns auch um Präzisierungen im Bereich der Entschädi- Aber der Versuch, Unvereinbares zu vereinen im gung und der Versorgung. Auf jeden Fall aber sind Umgang mit den Verfolgern und den Verfolgten im wir der Meinung, daß der SPD-Antrag eine gute Nazistaat hat ja doch wohl eine gewisse Tradition in Grundlage der Arbeit ist. der Bundesrepublik und erschwert uns auch die heutige Diskussion. Fast gleichzeitig mit der Rede von Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir zum Bundespräsident Heuss am 19. Juli 1954 in der Freien Schluß noch eine ganz persönliche Anmerkung: Vom Universität Berlin, in der die Teilnehmer des 20. Juli Kollegen Lambinus und von anderen ist mit Recht auf zu Märtyrern der Nation erklärt wurden, wurde der den durchschnittlichen deutschen Soldaten hingewie- Vorsitzende des Standgerichts, das die Teilnehmer sen worden. Ich muß in diesem Zusammenhang des 20. Juli Die trich Bonhoeffer, Hans von Dohnanyi, einigen Aussagen über das gute Gewissen widerspre- Wilhelm Canaris und andere gerichtsförmig zum Tode chen. Ich kann keine pauschalen Aussagen ma- befördert hatte, von allen strafrechtlichen Vorwürfen chen, in diesem Zusammenhang freigesprochen. Ich hoffe, daß der vorliegende Antrag dazu beiträgt, (Norbert Geis [CDU/CSU]: Dann machen Sie solche Widersprüche in der Geschichte der Bundesre- es nicht!) publik Deutschland deutlich zu machen und für die wie es um das gute Gewissen der deutschen Soldaten Zukunft auszuschließen. bestellt gewesen sein mag. Danke. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) (Uwe Lambinus [SPD]: Der gute Glaube ist etwas anderes als das gute Gewissen! — Gegenruf des Abg. Norbert Geis [CDU/ Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als letzter zu diesem CSU]: Der gute Glaube ist nicht möglich ohne Tagesordnungspunkt Kollege Wolfgang Ullm ann. gutes Gewissen!) Mein Vater ist in diesem Krieg gefallen. Er ist — ich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Wolfgang Ullmann will das hier sagen — mit ganz schlechtem Gewissen NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! in diesem Krieg gewesen. Der Antrag der SPD ist eine angemessene Reaktion auf das denkwürdige und in meinen Augen epoche- Am Bahnhof Friedrichstraße in Berlin, am Buchla- machende Urteil des Bundessozialgerichtes, das den an der Bahnunterführung, gab es ein Schild zum schon mehrfach zitiert worden ist. Gedenken an zwei deutschen Soldaten, die dort Ende Herr Lehne, ich habe zwei Einwände gegen das, April 1945 von SS-Leuten gehängt worden sind. Kaum was Sie vorgetragen haben. Einmal wissen Sie ja war das SED-Regime zusammengebrochen, wurde selbst, die Frau, um die es dabei ging, mußte ja bis zum dieses Schild abgerissen. Dann wurde es wieder Bundessozialgericht gehen, um ihr Recht zu kriegen, befestigt. Ich weiß nicht, ob es zur Zeit ab- oder das Sie meines Erachtens auch als Recht bezeichnet anmontiert ist. 17086 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Dr. Wolfgang Ullmann Die Frage, vor der wir stehen, ist doch folgende: Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Wollen wir zu diesen Schildabreißern gehören, Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die (Norbert Geis [CDU/CSU]: Keiner, Herr Ull Gruppe PDS/Linke Liste zehn Minuten erhalten soll. mann!) — Dagegen gibt es keinen Widerspruch. zu denen, die das vertuschen, Das Wort erhält die Abgeordnete Ulla Jelpke. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Keiner will etwas vertuschen!) oder sind wir der Meinung, daß, wenn wir schon Ulla Jelpke (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine Gruppe hat den Zentrale Gedenkstätten für Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft einrichten, dann das deutsche Par- Antrag eingebracht, um den Ausländerinnen und Ausländern, die in diesem Land leben, die Chance zu lament klarstellen sollte, daß diese Gewaltherrschaft geben, sich auch einmal in diesem Hause Gehör zu die Gewaltherrschaft des deutschen Reiches über verschaffen. Ich bin mir bewußt, daß es sich dabei fremde Völker, aber auch über Deutsche war, auch über deutsche Soldaten? natürlich nur um eine Geste handelt, wenn Auslände- rinnen und Ausländern für einen Tag das Parlament als Tribüne zur Verfügung gestellt wird, um dort ihre Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Ullmann, Probleme und ihre Lebenssituation darstellen zu kön- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten nen. Geis? Die Überlassung des Parlamentsgebäudes für die Ausländerinnen und Ausländer wäre ein Zeichen Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nach außen, daß sich dieses Parlament mit den in NEN): Ich bin zwar am Ende meiner Redezeit, aber diesem Land lebenden Immigrantinnen und Immi- gerne. granten, Flüchtlingen und Asylsuchenden verbunden fühlt, daß sie als Teil der Gesellschaft respektiert und Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Ullmann, stimmen akzeptiert werden. Es wäre auch ein Symbol dafür, Sie mit mir überein, daß durch eine Pauschalierung, daß man diese Menschen mit Rassismus, Antisemitis- wie Sie sie wollen, Recht und Unrecht über einen mus und der Terrorwelle von rechts nicht alleine Kamm geschoren werden und daß dies im Grunde lassen will. genommen unterm Strich Unrecht wäre, daß deshalb ein differenzierendes Einzelfallverfahren viel besser Der Terror und die Gewalt von Neofaschisten gegen ist als ein pauschales Urteil? Immigrantinnen und Immigranten, gegen Flüchtlinge und Asylsuchende hält weiterhin auf hohem Niveau- an. Nach Angaben der Bundesregierung sind seit der (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Wolfgang Ullmann Wiedervereinigung 30 Menschen durch NEN): Herr Geis, die Antwort könnte mir ganz leicht Rechtsextre- misten getötet worden, allein 17 im Jahre 1992. 1992 fallen, aber ich will sagen: Sie haben jetzt doch auch wurden von den Sicherheitsbehörden 2 584 Gewaltta- recht pauschal gefragt. Uns, niemandem von uns — da ten mit erwiesener oder zu vermutender rechtsextre- nehme ich keinen aus —, geht es darum, Recht und mistischer Motivation erfaßt. In diesem Jahr wurden in Unrecht in irgendeiner Form gleichzustellen. Es geht der BRD bis zum 4. November insgesamt 1 584 doch um die Frage — darauf muß dieses Parlament Gewalttaten mit rechtsextremistischem Hintergrund endlich eine Antwort geben —: Auf welcher Seite war registriert. das Recht in diesem verbrecherischen Krieg? Das muß gesagt werden. Auch wenn diese Zahlen schon erschreckend genug (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sind, geben sie doch noch nicht die Wirklichkeit bei der SPD und der PDS/Linke Liste — wieder. Antifaschistische Recherchen haben ergeben, Norbert Geis [CDU/CSU]: Das sagen wir daß beispielsweise die Zahl der Morde von rechts doch! Das haben wir oft genug gesagt! Sie mehr als doppelt so hoch ist wie die von der Bundes- stellen jetzt die Dinge auf den Kopf!) regierung angegebene. Wie weit die Verhältnisse in diesem Land schon wieder fortgeschritten sind, mag man daran erkennen, daß ein Mann wie der Domini- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Liebe Kolleginnen kanerpater Heinrich Basilius Streithofen, der lange und Kollegen, ich schließe die Aussprache. Zeit öffentlich als Berater von Bundeskanzler Kohl Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage gehandelt wurde, durch antisemitische Ausfälle auf Drucksache 12/6220 an die in der Tagesordnung berüchtigt wurde. aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Feder- führung soll jedoch beim Rechtsausschuß liegen. Sind (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Was soll denn Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann ist das?) die Überweisung so beschlossen. Gegen ihn wird wegen Volksverhetzung ermittelt, weil er Juden und Polen als die „größten Ausbeuter Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: des Steuerzahlers" titulierte. Man erkennt dies auch Beratung des Antrags des Abgeordneten daran, daß ein Hobbyhistoriker und Geschichtsrevi- Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke sionist wie Alfred Schickel, der die Zahl der von Nazis Liste ermordeten Juden in neofaschistischen Zeitungen nach unten lügt, mit dem Bundesverdienstkreuz Veranstaltung „Ausländerinnen und Auslän- bedacht wird. Honoriert wurde damit sein Engage- der im Parlament" ment gegen „Unkenntnis, Vorurteil und Desinforma- — Drucksache 12/5778 — tion". Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17087

Ulla Jelpke Es ist daher wohl kein Zufall: Auch der militante ben und ihn für geplante Verschärfungen im Asyl- Antisemitismus hat in den letzten Monaten sprung- recht instrumentalisieren". haft zugenommen. Nach Auskunft von Ignatz Bubis Mehrere Ausschüsse des Deutschen Bundestages, wurden 1992 in der Bundesrepublik Deutschland 80 auch der Innenausschuß, haben diese Entschließung jüdische Friedhöfe geschändet. Bubis wies darauf hin, übrigens zustimmend zur Kenntnis genommen, und daß damit im Jahre 1992 so viele Friedhöfe geschän- Rednerinnen und Redner aus allen Fraktionen und det wurden wie in den Jahren 1926 bis 1931 zusam- Gruppen haben diesen Gedanken in diesem Hause men. Allein diese Auskunft von Ignatz Bubis über schon entwickelt. antisemitische Gewalt müßte ausreichen, um alle denkbaren und auch ungewöhnlichen Maßnahmen Genau in diesem Sinne hat auch der Deutsche gegen den Neofaschismus in diesem Land zu ergrei- Bundestag eine Bringschuld. Ich möchte daran erin- fen. Unserem Antrag zuzustimmen wäre dabei ein nern, daß Mitglieder des Bundestages in besonderer bescheidener Beitrag. Weise gegen Flüchtlinge gehetzt und den ideologi- schen Boden für Gewalt mit bereitet haben. So z. B. Nach den grauenvollen Morden der Neofaschisten der CSU-Abgeordnete Riedl, der den Münchner von Solingen forderte die Ausländerbeauftragte des Süden zur „asylantenfreien Zone" machen wollte und Bundes, Frau Schmalz-Jacobsen, die „weitestge- sich damit der Sprache der militanten Neonazis hende rechtliche Gleichstellung von deutscher und bediente. So z. B. auch der hier anwesende CSU- nichtdeutscher Bevölkerung" herzustellen, um der Abgeordnete Norbert Geis, der hier im Parlament in „alltäglichen Diskriminierung" den Boden zu entzie- der Asyldebatte kurz vor den Brandanschlägen in hen. Ich weiß, daß diese Republik von derartigen Solingen neofaschistische Gewalt rechtfertigte, indem Zuständen weit entfernt ist. er sagte — ich zitiere —: (V o r sitz: Vizepräsident Helmuth Becker) (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Eine Erleichterung bei der Einbürgerung oder der Erhalt unverschämte Unterstellung!) der doppelten Staatsbürgerschaft werden in diesem Land noch immer als Gefahr angesehen. Gegen wen — Hören Sie erst einmal das Zitat, dann können Sie eigentlich, frage ich mich. Das kommunale und das sich aufregen. — allgemeine Wahlrecht werden gleichfalls als Bedro- Kein Volk wird eine Überfremdung ohne Kon- hung für diesen Staat angesehen und deswegen flikte hinnehmen, es kann es gar nicht hinneh- entschieden abgelehnt. men ... weil jedes Volk seine eigene Art zu leben Meine Damen und Herren von der CDU und CSU, und das Recht darauf hat. Das ist ein Naturrecht zur Zeit eine der größten jedes Volkes. für Sie ist der Wertewandel - Aufgaben. Sie wissen, daß uns in dieser Frage Welten (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Und trennen. Aber Ihre Forderung nach nationaler Identi- was ist daran faschistisch?) tät, nach Fleiß und Heimatliebe und Ihre Debatten um die Schutz- und Schicksalsgemeinschaft können Sie — Ein Widerstandsrecht gegen die „Überfremdung" doch nicht so weit beschränkt haben, daß Sie zu einer bei dem, was in diesem Land los ist, hier zu legitimie- einfachen, aber klaren Geste der Solidarität mit sechs ren, finde ich schon ziemlich weitgehend, besonders Millionen Bürgern und Bürgerinnen nicht mehr fähig was die Sprache des Rechtsextremismus betrifft. sind. Unvergessen ist auch die Rede vom „Beileidstouris- Ich möchte Ihnen noch einen zusätzlichen Aspekt zu mus", dem die Regierung, speziell der Kanzler, nicht bedenken geben. In der Ausgabe der „Welt" vom verfallen solle, ausgesprochen vom Regierungsspre- 30. November 1993 führt der Präsident des Bundes- cher nach den Morden von Mölln. Hier soll noch amtes für Verfassungsschutz, Eckart Werthebach, einmal daran erinnert werden. über den ursächlichen Zusammenhang zwischen Meine Damen und Herren, ein letzter Gesichts- rechtsextremer Gewalt und der Behandlung des The- punkt für die Begründung des Antrags meiner mas Asyl aus — ich zitiere —: Gruppe: Aus dem Bundesministerium des Innern Hier wurde ein Acker bestellt, auf dem der sowie von der Regierungsbank und hier namentlich Rechtsextremismus seine fremdenfeindliche vom Bundeskanzler selber hört man immer wieder, Ernte noch auf geraume Zeit einfahren wird. wenn es um rechtsextremistische und fremdenfeindli- — Es stört mich übrigens unwahrscheinlich, daß so che Gewalt in diesem L and geht, als Entgegnung laut hinter mir geredet wird. Das geht schon die ganze quasi, daß dieses Land ein ausländerfreundliches Zeit so. Land sei. Ich fordere Sie daher auf, unserem Antrag zuzustim- Vizepräsident Helmuth Becker: Sie haben recht, men und dafür Sorge zu tragen, daß die Veranstaltung Frau Jelpke. „Ausländerinnen und Ausländer im Parlament" ein breites Interesse in den Medien erfahren wird. Ulla Jelpke (PDS/Linke Liste): Noch schärfer faßt Ich danke für die Aufmerksamkeit. in seiner Entschließung das Europäische Parlament (Beifall bei der PDS/Linke Liste) vom 30. Oktober 1992 zu „Rassismus, Fremdenfeind- lichkeit und Antisemitismus", Drucksache 12/3789, diesen Gedanken. In dieser Entschließung zeigt sich das Europäische Parlament mit Recht „besorgt dar- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und über, daß demokratische Parteien dem Druck von Herren, nächste Rednerin ist unsere Frau Kollegin seiten der Rechtsextremisten und Rassisten nachge Erika Steinbach-Hermann. 17088 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Erika Steinbach-Hermann (CDU/CSU): Herr Präsi- folgerichtig Parlamentsveranstaltungen nicht nur für dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bevor Ausländer, sondern z. B. auch — dies betrifft die ich mich dem Anliegen des Antrages widme, noch Frage, die vorhin diskutiert wurde — für Behinderte, eines: Die Vorrednerin hat sich — sicherlich bewußt — für Arbeitslose, für Familien, für Alleinerziehende, für einer Formulierung bedient, über die sie nachdenken Soldaten oder Polizisten oder Zivildienstleistende in sollte. Sie redete hier immer von „Neofaschismus". diesem Hause zulassen? Dies wäre doch eine der Faschismus gab es in Italien; in Deutschl and gab es Folgerungen. Nationalsozialismus. Diese beiden Formen haben (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sich gravierend voneinander unterschieden: Die Faschisten haben ihre Juden nicht umgebracht, der Alle diese Gruppierungen hätten dann doch das deutsche Nationalsozialismus hingegen hat seinen gleiche Recht, das Anliegen, das hier artikuliert wor- jüdischen Bürgern den Garaus gemacht. Da besteht den ist, durchzusetzen. Wir könnten uns also ohne ein gravierender Unterschied. Ich meine, wenn Sie die weiteres das ganze Jahr nur mit derartigen Parla- heutigen Erscheinungen mit „Neofaschismus" ver- mentswochen beschäftigen, die sicherlich auch inter- niedlichen, dann tim Sie der Sache nichts Gutes. Es essant wären. Allerdings — darüber muß man sich sind Neonazis, die hier anzuprangern sind. Das vorab, auch im klaren sein —: Eine Gruppe müßten wir dann um das Geschichtsbewußtsein etwas zu schärfen. außen vor lassen, „Parlamentarier im Parlament" fiele dann wegen Zeitmangels aus. Dafür wäre gar kein (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Platz mehr; denn das Jahr hat nur 52 Wochen. Die Gruppe PDS/Linke Liste beantragt, eine Veran- (Beifall des Abg. Dr. Andreas Schockenhoff staltung „Ausländerinnen und Ausländer im Parla- [CDU/CSU] — Zuruf des Abg. Otto Schily ment" entsprechend der schon existierenden Veran- [SPD]) staltungsreihe „Jugend und Parlament" durchzufüh- — Den Zwischenruf habe ich schon gehört. ren. Heute geht es im Grunde genommen nur um die Überweisung an den Innenausschuß. Ich möchte dem Schließlich irrt sich meines Erachtens die Antrag- Votum des Ausschusses insofern auch nicht vorgrei- stellerin PDS hinsichtlich der eigentlichen Absicht von fen. Doch lassen Sie mich einige grundsätzliche „Jugend und Parlament". Es geht dabei doch weniger Gedanken aussprechen. darum, der Jugend ein Forum zu verschaffen, um ihre speziellen Jugendprobleme zu erörtern. Vielmehr Die Absicht, dafür Sorge zu tragen, daß die bei uns geht es darum, durchaus aktuelle Fragen der Tages- lebenden Ausländer ihre Bedürfnisse und Interessen politik — wenn auch aus der Sicht der Jugendlichen — in einem ausreichenden Maße artikulieren können, ist in parlamentarischer Form zu erörtern. Wichtig ist bei begrüßenswert ja nach meiner Auffassung sogar dieser Veranstaltungsreihe, daß sich die jungen Men-- selbstverständlich. Wer könnte auch irgend etwas schen einen Einblick verschaffen können, wie unsere dagegen haben? Zu fragen ist doch, ob die Vielzahl repräsentative Demokratie eigentlich funktioniert. der bereits existierenden Maßnahmen in diesem Diese Veranstaltung ist ein Lernschritt in unsere Bereich nicht viel geeigneter sind, diese Selbstver- parlamentarische Demokratie hinein. Sie ist keine ständlichkeit in die Tat und in der Tat umzusetzen, viel Klagemauer von Gruppeninteressen. So ist diese Ver- besser als eine großangelegte Show-Veranstaltung. anstaltungsreihe nicht zu verstehen. Wer sich einmal anschaut, welche Möglichkeiten Alle Kolleginnen und Kollegen sind natürlich frei, die bei uns lebenden Ausländer haben, ihre Interessen auch junge Ausländerinnen und Ausländer zu der vorzutragen, wird sehr schnell feststellen, daß dies Jugendveranstaltung ins Parlament einzuladen. Das sehr viel mehr sind als in den allermeisten Ländern ist nicht ausgeschlossen; das ist ja durchaus mög- dieser Erde. Wir haben eine Ausländerbeauftragte lich. beim Bund, wir haben in den meisten Bundesländern Eine spezielle Parlamentsveranstaltung, in der und in vielen Kommunen Ausländerbeauftragte. Die explizit von Ausländern über Ausländerfragen im Ausländerbeauftragte des Bundes vertritt sehr enga- Deutschen Bundestag diskutiert wird, halte ich nach giert und mit sehr viel Nachdruck die Interessen der meinem derzeitigen Kenntnisstand — wir werden im Ausländer hier im Lande. Innenausschuß ja noch darüber diskutieren — für (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wenig sinnvoll. Und man muß hinzufügen: Sie wirbt auch noch mit (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sehr viel Charme für dieses Anliegen. Es gibt Ausländerbeiräte, und schließlich hat jeder Vizepräsident Helmuth Becker: Das Wort hat jetzt hier lebende Ausländer zusätzlich das Recht, sich mit unsere Kollegin Frau Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast. seinen Anliegen an den Petitionsausschuß des Deut- schen Bundestages zu wenden und so seine Probleme wirksam in unser parlamentarisches Gesichtsfeld zu Dr. Comelie Sonntag-Wolgast (SPD): Herr Präsi- rücken. dent! Meine Damen und Herren! Es gibt ja Ideen, die auf den ersten Blick ganz einleuchtend und überzeu- Wer nun sagt, trotz allem könne eine derartige gend wirken, aber beim genaueren Hinschauen eher Veranstaltung nichts schaden, sie würde ein Zeichen ein ungutes Gefühl verursachen. setzen, daß die Interessen der Ausländer ernstgenom- men werden, möge sich selber einmal die Frage (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) vorlegen: Gibt es in unserer Gesellschaft nicht eine So jedenfalls habe ich reagiert, als ich den Antrag der Vielzahl von Gruppierungen, die unsere verstärkte PDS/Linke Liste mit der ganz gut klingenden Über Aufmerksamkeit erfordern? Müßten wir dann nicht schrift „Veranstaltung ,Ausländerinnen und Auslän- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17089

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast der' im Parlament" las. Es klingt ja zunächst einmal Es geht immer um sehr handfeste Anliegen. Es geht reizvoll und erscheint auch richtig, ein Forum der um persönliche Schwierigkeiten mit Behörden, Kla- Betroffenen zu schaffen, auf dem sie alle ihre Wün- gen über die Mängel des Ausländergesetzes, von sche, Beschwerden, Forderungen und Klagen einmal denen wir vorhin sprachen, Forderungen nach Dop- in diesem Hause vorbringen können. Es wäre wahr- pelstaatsangehörigkeit und nach dem kommunalen scheinlich auch ein medienwirksames Ereignis. Wahlrecht sowie — das bedrückt mich sehr — um Damit, liebe Kollegen und Kolleginnen, hat es sich Fragen nach den Gefahren durch rechtsextreme Gewalttäter und das allgemeine Klima von Feindse- dann aber auch. Wir würden den Ausländerinnen und Ausländern ein Ventil schaffen, eine Plattform, ohne ligkeit gegenüber Fremden. daß sich daraus konkrete und wirksame Schritte zur Was ich aber selten oder sogar nie höre, ist der besseren Integration, zur verbesserten Stellung und flehentliche Wunsch danach, einmal im Leben hier am zu mehr Partnerschaftlichkeit zwischen deutschen Rednerpult des Deutschen Bundestages zu stehen, und nichtdeutschen Bürgern ergeben. Es tut mir leid, ohne ein Abgeordnetenmandat zu haben. Das wun- das sagen zu müssen. Es mag sein, daß eine gute dert mich auch gar nicht. Denn eine Plattform der Absicht dahinterstand; aber mir gefallen solche Alibi- schönen oder weniger schönen Sprüche ist nicht Veranstaltungen einfach nicht. gefragt, weil wirkungslos. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Zuruf der Abg. Ulla Jelpke [PDS/Linke Liebe Kolleginnen und Kollegen, für Termine „just Liste]) for show" ist mir das Ziel, unseren ausländischen Mitbürgern endlich eine gleichberechtigte Mitwir- Gefragt sind Taten des Parlaments und dieser Gesell- kung am gesellschaftlichen und am politischen Leben schaft. zu ermöglichen, einfach zu ernst und zu wich tig. Ich möchte auch nicht, daß sich die Bundesregie- Sie nehmen sich die Veranstaltung „Jugend und rung und die sie tragenden Fraktionen etwa mit dem Parlament" zum Vorbild. Ich will Ihnen erklären, Hinweis, wir hätten die hochinteressante Veranstal- warum ich nichts davon halte, dieses Modell auf etwas tung „Ausländerinnen und Ausländer im Parlament" anderes zu übertragen. „Jugend und Parlament" ist ja gehabt, ihrer Verantwortung für ausländerpolitische gedacht als Einübung sehr junger Leute in einen Reformen entziehen können. Ich möchte auch nicht wesentlichen Bestandteil unserer repräsentativen den Migranten in diesem Land vorgaukeln, die Abge- Demokratie. Wir wissen, wie es geht: Sie treffen sich ordneten des Bundestages träten alle samt und son- erst einmal mit Abgeordneten, sie besuchen Bonner ders voll für ihre Belange ein, solange sich zumindest Institutionen, sie bilden Arbeitskreise, sie spezialisie- diese Bundesregierung und die Unionsfraktionen ren sich auf ein wichtiges aktuelles Thema, je nach weiterhin halsstarrig zeigen, weitere Einbürgerungs- Neigung und Interesse, und das alles mündet dann am erleichterungen zu gewähren und die Mehrstaatlich- Schluß in eine Debatte im Plenum mit ordnungsgemäß keit grundsätzlich zuzulassen. verteilten Rollen von Regierungsfraktionen und Opposition. Ich möchte es den Ausländerinnen und Ausländern Es ist also so etwas wie der spiele rische Einstieg in nicht zumuten, hier die einmalige Gnade eines Auf- die Arbeits- und Argumentationsweisen von Abge- tritts zu genießen, solange sich diese Koalition nicht ordneten, und bei so manchen Jugendlichen schwingt einmal bequemt, in der Verfassungskommission das sicher auch die Lust mit, es einmal anders, besser, kommunale Wahlrecht für Bürger zu gewähren, die lebendiger, verständlicher und unbürokratischer zu aus einem Nicht-EG-Staat stammen. machen, als wir es als professionelle Mandatsträger so (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ an uns haben. DIE GRÜNEN) Aber, liebe Kollegen und Kolleginnen, die auslän- dischen Bürgerinnen und Bürger wollen keinen Tum- Wir Abgeordneten können aus persönlichem melplatz, sondern sie wollen mehr Rechte und mehr Antrieb heraus natürlich mehr zur Integra tion tun, Chancen in unserem Land. Sie brauchen keine solche parlamentarische Initiativen für eine andere Auslän- Spielwiese, sondern sie brauchen wirkliche Fürspra- derpolitik ergreifen. Wir können mit vielen Aktivitä- che, Unterstützung und eine eigenständige Vertre- ten, die entweder schon erprobt werden oder noch tung ihrer Interessen und Forderungen. Deshalb ver- ergänzt werden können, zum gegenseitigen Ver- ursacht mir dieser Antrag ganz schlicht und einfach ständnis der Menschen beitragen. Ich fände es auch Mißbehagen. gut, wenn Sie gezielt dafür sorgten, daß bei den Besuchergruppen, die wir zweimal im Jahr haben, Ich erlebe es ja häufig, daß sich Ausländer aus mehr ausländische Bürgerinnen und Bürger mit dabei eigener Initiative heraus zu Wo rt melden, etwa in sind, oder wenn Sie in Ihrer Partei mehr Mitwirkungs- Diskussionen und Tagungen, daß sie eingeladen möglichkeiten der nichtdeutschen Mitglieder anf or- werden oder sich auch selbst einladen, daß sie sich aus derten, und vieles andere. Ausländische Jugendliche dem Publikum heraus im Rahmen derartiger Veran- im Rahmen der Aktion „Jugend und Parlament" sind staltungen auch äußern. Man bekommt immer wieder ein weiterer Punkt. Sie sehen, die Liste der Möglich- Anfragen und Besuche von Menschen, die politisch keiten ist lang. aktiv werden wollen oder es schon sind, die sich etwa auch in den Parteien besser entfalten oder, soweit sie Ich bitte Sie, vertrauen Sie diesen Antrag für eine eingebürgert sind, bei Wahlen auch kandidieren wol- Vorzeigedebatte von Ausländerinnen und Auslän- len. dern im Plenum des Bundestages dem Archiv an! 17090 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Dieser Antrag hilft leider den Menschen, um die es Da mich Herr Gysi persönlich angeschrieben hat geht, nicht weiter. und für diesen Antrag geworben hat, kann ich es (Beifall bei der SPD, der F.D.P. und dem Ihnen nicht ersparen: Die armen Vietnamesinnen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) durften in dem System, in dem Herr Gysi zu Hause war, aufgewachsen ist und studiert hat, nicht einmal Kinder bekommen, geschweige denn irgendwo den Vizepräsident Helmuth Becker: Nun hat unsere Mund auftun, irgendwo mitreden. Diese Art der Frau Kollegin Cornelia Schmalz-Jacobsen das Wort. Heuchelei mache ich nicht mit. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Cornelia Schmalz-Jacobsen (F.D.P.): Herr Präsi- dent! Meine Kolleginnen und Kollegen! Heute eint Sie wären gut beraten, Frau Jelpke und die Kolle- mich mit meiner Vorrednerin nicht nur der Vorname, ginnen und Kollegen von der PDS, wenn Sie in sich sondern ganz offenbar auch die Einstellung und die gehen würden, wenn Sie das noch einmal überdenken Einschätzung zu diesem Antrag. würden und wenn Sie den Antrag zurückziehen Frau Kollegin Jelpke, ich habe selten einen so würden. Ich fände es traurig, wenn wir viel Zeit damit ärgerlichen und so peinlichen Antrag hier gesehen. verschwenden würden, ihn im Ausschuß zu diskutie- Hier ist das Wort vom Schaufensterantrag gefallen, ren. vom Show-Effekt. Ich möchte die Vokabel Schmieren- (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der theater hinzufügen. SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS/Linke Liste]: Warum werden Sie jetzt beleidigend?) — Eigentlich müßten Sie es besser wissen. Das finde ich das Ärgerliche. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Der (Zuruf der Abg. Ulla Jelpke [PDS/Linke Ältestenrat schlägt — auch angesichts dieser Bei- Liste]) träge — trotzdem Überweisung der Vorlage auf der — Ja, weil ich es bin. Wenn man die ausländische Drucksache 12/5778 an die in der Tagesordnung Wohnbevölkerung ernst nimmt, meine Damen und aufgeführten Ausschüsse vor. Ich hoffe, Sie sind damit Herren, dann hat man nicht diese patronisierende einverstanden. — Ich höre und sehe keinen Wider- Haltung, die ich für die, die Sie hier beglücken wollen, spruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. als so kränkend empfinde. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und möchte zunächst der Frau Kollegin Jelpke einen dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ordnungsruf erteilen, weil sie hier den Zwischenruf Der Vergleich mit der Veranstaltung „Jugend und „Demagogin" gemacht hat. Dies gehört nicht in Parlament" hinkt wirklich auf beiden Beinen, wie wir unsere parlamentarischen Gepflogenheiten. hier gemerkt haben. Ob übrigens diese Veranstaltung Meine Damen und Herren, bevor ich den nächsten entscheidend dazu beiträgt, daß wir besser auf die Tagesordnungspunkt aufrufe, möchte ich Ihnen noch Jugend hören, will ich hier einmal dahingestellt sein eine AP-Meldung von soeben zur Kenntnis bringen: lassen. Der grundlegende Unterschied ist doch, daß es Bundespräsident Richard von Weizsäcker ist am Don- sich im Fall der jungen Leute um künftige Wahlbür- nerstagabend in Hamburg von einem Mann nieder- gerinnen und Wahlbürger handelt, also um Menschen geschlagen worden. Wie die Polizei in der Hansestadt mit demokratischen Rechten. Bei der Gruppe, über die mitteilte, erlitt Weizsäcker eine Platzwunde an der Sie hier sprechen, handelt es sich um Menschen ohne Lippe und eine Nasenprellung. Ein etwa 50jähriger demokratische Rechte. Ich muß Ihnen sagen, als Mann schlug den Bundespräsidenten kurz vor 20 Uhr Zootiere, die hier Kunststücke vorführen sollen, sind vor dem Thalia-Theater mit einem gezielten Faust- sie mir wirklich zu schade. Es wird überhaupt nicht schlag ins Gesicht. Wie ein Sprecher erklärte, sei der ernst, es folgt ja nichts daraus. Meine Damen und Mann sofort von den Leibwächtern des Bundespräsi- Herren, ich möchte aber, daß es ernst wird. Ich stehe denten festgenommen und in polizeilichen Gewahr- wirklich nicht im Geruch, für wenig Rechte für diesen sam genommen worden. Weder über das Motiv noch Personenkreis einzutreten, sondern für mehr Rechte, über die Person des Mannes war zunächst etwas aber doch nicht für Wo sind wir Pseudorechte. bekannt. Weizsäcker wurde den Angaben zufolge im denn? Theater medizinisch versorgt. (Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, wir können übereinstimmend — nicht als Ich würde mich im übrigen auch weigern, dafür die Lippenbekenntnis — Bestürzung und Empörung über Versuchskaninchen auszusuchen. Das gehört nicht zu solche Vorgänge der Gewalt hier bei uns feststel- meinen Aufgaben. Hier würde ich Ihnen diame tral len. widersprechen. Meine Damen und Herren, ich hoffe, wir werden bei Wer wissen will, was die ausländische Wohnbevöl- all dem, was wir hier in Zukunft diskutieren, diesem kerung bewegt und bedrückt, kann sich ohne Schwie- Thema „Gewalt" eine ganz besondere Aufmerksam- rigkeiten informieren — übrigens ist auch hier im keit widmen. Hause einiges Nachdenkenswerte dazu gesagt wor- den —, aber doch nicht auf diese Art und Weise. (Beifall im ganzen Hause) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17091

Vizepräsident Helmuth Becker Ich komme nun zum letzten Punkt des heutigen letztlich weder im Interesse der Weltwirtschaft noch Tages und rufe Punkt 14 der Tagesordnung auf: im Interesse der be treffenden Staaten. Langfristig Beratung der Großen Anfrage der Abgeordne- gesehen muß dies zu einer Isolation führen, die sich ten Werner Schulz (Berlin), Konrad Weiß (Ber- kein Staat leisten kann, auch und gerade angesichts lin) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der zunehmenden Arbeitslosigkeit und der weltwei- NEN ten wirtschaftlichen Krise. Multilaterale Handelsregulierungen nach der Die Pflege nationaler Interessen anstatt des offenen Uruguay-Runde und konsequenten marktwirtschaftlichen Wettbe- — Drucksachen 12/4576, 12/5255 — werbs ist fatal. Es ist zu fürchten, daß das Entstehen Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die bzw. die Verfestigung regionaler Handelszonen, wie Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die es sich in jüngster Zeit abzeichnet, zu Lasten der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10 Minuten Länder des Südens geht. Die Entwicklungsländer und erhalten soll. — Ich höre und sehe keinen Wider- Reformstaaten Osteuropas benötigen für ihre wirt- spruch. Dann ist das so beschlossen. schaftliche Entwicklung den direkten und gleichbe- rechtigten Zugang zu den Märkten der Industriestaa- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst ten. unser Kollege Konrad Weiß. Seit Beginn der achten GATT-Konferenz im Sep- tember 1986 in Punta del Este ist offensichtlich, daß Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): die Entwicklungsländer keinen Einfluß mehr auf die Herr Präsident! Meine Damen und Herren! BÜND- weltwirtschaftlichen Prozesse und den Versuch ihrer NIS 90/DIE GRÜNEN dankt der Bundesregierung für Regelung haben. Die GATT-Runde ist ein Instrument die ausführliche Beantwortung unserer Großen der Industriestaaten. Während diese den Entwick- Anfrage zu den multilateralen Handelsregulierungen lungsländern einerseits unentwegt die Liberalisie- nach der Uruguay-Runde und die darin gegebenen rung des Handels empfehlen und notfalls mit Hilfe des Erläuterungen zur projektierten Multilateralen Han- IWF auch durchsetzen, schotten sie andererseits ihre delsorganisation MTO. eigenen Märkte durch Subventionen und vielfältige Sollten jedoch die GATT-Verhandlungen Mitte Handelshemmnisse ab. Sie verordnen dem Süden Dezember nicht abgeschlossen werden können, ist ihr eine Freihandelspolitik, verstärken gleichzeitig aber endgültiges Scheitern zu befürchten. Dies hätte fatale den Schutz der einheimischen Landwirtschaft. Der Folgen für die Entwicklung der Weltwirtschaft. Die allergrößte Teil der staatlich garantierten Zuschüsse Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und an die Landwirtschaft, auf weltweit 200 Milliarden Entwicklung OECD hat in einer Studie die zu erwar- Dollar veranschlagt, fließt in die Industrieländer. Ein tenden Auswirkungen eines erfolgreichen Abschlus- Bauer in der Europäischen Union bezieht heute rund ses der Uruguay-Runde untersucht. Sie prognostiziert, 50 % seines Einkommens aus Subventionen, ein USA- daß die Netto-Wohlfahrt für die gesamte Welt im Jahre Farmer über 30 % und ein Bauer in Japan über 2002 um rund 270 Milliarden Dollar zunehmen wird, 70 %. wenn das gegenwärtige Außenschutzniveau verän- dert werden kann. Das Gefälle zwischen den Bauern in den reichen und denen in den armen Ländern wird besonders Bei aller Vorsicht gegenüber solchen Zahlen groß, wenn die Industrieländer ihre Produktionsüber- besteht doch kein Zweifel daran, daß sowohl die zu Dumpingpreisen auf den Weltmarkt wer- Entwicklungsländer als auch die Industriestaaten von schüsse fen. Die Nahrungsmittelsubventionen der entwickel- einem erfolgreichen Abschluß der Uruguay-Runde ten Länder untergraben in der Dritten Welt nicht nur beträchtlich profitieren würden. die Verdienstmöglichkeiten mit legalen Agrarpro- Die industrialisierten Länder wären Hauptnutznie- dukten, sondern zerstören auch die Umwelt. Mit dem ßer der vereinbarten Liberalisierung des Welthan- niedrigen Einkommen sind die Bauern nicht in der dels. Die Studie bestätigt, daß rund 80 % des erwarte- Lage, zu investieren und ihre Produktionsmethoden in ten Wohlfahrtsanstiegs den OECD-Ländern zugute ökologischer und ökonomischer Hinsicht zu verbes- kommen würden, wobei die Staaten der Europäischen sern. Fallen die Erlöse unter die Produktionskosten, ist Union, Japan und die USA die größten Nettoeffekte zu nicht einmal das schon dürftige Niveau zu halten. Es erwarten hätten. ist ein Teufelskreis: Weil das Geld fehlt, um den Boden Um so unverständlicher ist es, daß die Uruguay- richtig zu pflegen, sinkt die Produktivität. Runde an dem Interessenkonflikt zwischen der Euro- päischen Union und den USA zu scheitern droht. Die Konsequenzen sind bekannt. Eine Alternative Obwohl große Teile des Vertragspakets ausgehandelt für diese Bauern ist dann oftmals der Anbau von Koka sind, konnten die Verhandlungen noch nicht abge- oder Mohn. Während die Banken den Campesinos schlossen werden. Der Konflikt zwischen Europäi- Kredite vorenthalten, finanzieren die Drogenhändler scher Union, den USA und Japan liegt bei den den Anbau von Koka und dessen Weiterverarbeitung erlaubten Subventionen bzw. dem Schutz einheimi- ohne Probleme. scher Waren. Bei einem Treffen der Minister Lateinamerikas in So sind vor allem die Regierungen der Industrie- Montevideo erneuerten sie ihre Kritik am Blair- staaten gefordert, die GATT-Verhandlungen zu House-Abkommen. Diese im November 1992 müh- einem erfolgreichen Abschluß zu bringen. Die sam zustande gekommene Absprache zwischen der Abschottungstendenz mancher Industriestaaten auf Europäischen Union und den USA sehen die Latein- Grund von Sonderinteressen einzelner Branchen liegt amerikaner als unzureichend an. Dabei will Frank- 17092 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Konrad Weiß (Berlin) reich sogar diese Minimallösung nicht mehr akzeptie- Das derzeitige Mandat der Uruguay-Runde geht ren. über den handelspolitischen Aspekt nicht hinaus. Es muß aber mit dem Abschluß der Uruguay-Runde Die Bundesregierung ist dringend aufgefordert, im verbindlich vereinbart werden, daß in kommenden Rahmen der Europäischen Union auf Frankreich Ein- Verhandlungen im Rahmen des GA TT oder der MTO fluß zu nehmen. Das unvernünftige Festhalten an ökologische, soziale und wettbewerbspolitische hohen Exportsubventionen wird sich auf Dauer schäd- lich auf die einheimische Landwirtschaft — auch in Aspekte reguliert werden sollen. Deutschland — auswirken: Innovationen werden In der Vergangenheit hat sich mehrfach gezeigt, gehemmt; für die Umstellung zu einem ökologischen daß in Streitfällen zugunsten des Freihandels ent- Landbau beispielsweise gibt es so keinen vernünfti- schieden wurde und so gleichzeitig der Verstoß gegen gen Anreiz. nationale Umweltrichtlinien legitimiert bzw. gefor- dert wurde. Für die Entwicklungsländer gibt es keine Alterna- tive zum GATT. Die Liberalisierung des Welthandels Das GATT bzw. die geplante MTO sollte als eine wird trotz allem vorwiegend asiatischen und latein- Sonderorganisation der Vereinten Nationen etabliert amerikanischen Ländern nutzen. Afrika wird ohne werden. Es muß gewährleistet sein, daß die Befolgung zeitlich begrenzte Ausnahmeregeln wirtschaftlich der GATT- bzw. MTO-Regeln nicht gleichzeitig einen vermutlich verlieren. Die Öffnung der Märkte des Verstoß gegen andere UN-Abkommen impliziert. Nordens ist für den Süden eine Überlebensfrage. Der Damit dies gewährleistet werden kann, müssen schon eigentlich im GATT angestrebte Abbau von Subven- jetzt die Weichen gestellt werden. tionen für Landwirtschaftsexporte aus den Industrie- Es sollte nach unseren Vorstellungen eine übergrei- ländern ist dringend geboten. fende Schiedsstelle geben, die die Entscheidungs- kompetenz hat, wenn es zu Konflikten zwischen dem Nicht zufällig sind in den letzten Jahren viele Freihandel und den grundlegenden Zielsetzungen Entwicklungsländer dem internationalen Abkommen der Vereinten Nationen kommt. Verträge und Kon- beigetreten, zumal sie nach der einseitigen Liberali- ventionen, die von einer Mindestzahl von Mitglied- sierung und Strukturanpassung nun Gegenleistungen staaten der Multilateralen Handelsorganisation ratifi- erwarten. Doch diese Hoffnung hat allzuoft getrogen. ziert worden sind, müssen von der MTO anerkannt Die Verhandlungsposition der Entwicklungsländer ist werden. Handelsbeschränkungen, die sich aus ihnen zu schwach. Angesichts des massiven Drucks und des ergeben, dürfen von der MTO nicht unterlaufen möglichen Scheiterns von GATT mußten sie sich werden. kooperativ zeigen, auch wenn es zu ihrem Nachteil war. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordert die Bundesre- gierung auf, sich für einen erfolgreichen Abschluß der Die internationalen Regeln des GA TT müssen einen GATT-Runde einzusetzen und ihre Verhandlungen so Schutz gegen einseitige Maßnahmen von Industrie- zu führen, daß das Ziel einer nachhaltigen Entwick- ländern wie Antidumping-Abgaben oder die Aus- lung auch bei Bildung einer MTO erreicht werden übung von Druck zur sogenannten freiwilligen kann. Exportbeschränkung bieten. Zum Schutz des geisti- gen Eigentums müssen vergleichbare Bedingungen Ich danke Ihnen für Ihre Geduld. Ich habe mich geschaffen werden. Der Technologievorsprung der bemüht, eine Minute schneller zu sein. Vielen Industrieländer darf jedoch nicht dazu mißbraucht Dank. werden, Entwicklungsländer in neue Abhängigkeiten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu bringen. Der vorgesehene Abbau von Zöllen und Import- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und beschränkungen, speziell auch für verarbeitete Pro- Herren, nunmehr hat unser Kollege Klaus Beckmann dukte, ist positiv zu bewerten, auch wenn dadurch das Wort. Entwicklungsländer den relativen Vorteil bisheriger Präferenzsysteme verlieren werden. Schwächere Handelspartner sollten die Möglichkeit behalten, ihre Klaus Beckmann (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Produktion wenigstens für einen begrenzten Zeitraum sehr verehrten Kolleginnen! Liebe Kollegen! Durch zu schützen. Zufall ergibt es sich, daß die Debatte über die Große Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unterstützt Anfrage zu multilateralen Handelsregulierungen in den Vorschlag der Europäischen Union und die Bemü- Form einer MTO zu einem Zeitpunkt stattfindet, der hungen der Bundesregierung, das GATT in eine angesichts des GATT-Prozesses nicht aktueller hätte supranationale Handelsorganisation, Multilateral sein können. Trade Organization, MTO, zu überführen. Die Einhal- Erst gestern war dieses Thema bei den deutsch- tung der vereinbarten Regeln muß verbindlich kon- französischen Konsultationen hier in Bonn Gegen- trolliert werden können. stand der Erörterung zwischen der Bundesregierung Die bisherigen Panels können dies nicht leisten; bis und der französischen Regierung. Gestern und heute jetzt gilt in Konfliktfällen das Recht des Stärkeren. Die haben Vizepräsident Sir Leon Brittan und der ameri- Einführung einer MTO mit entsprechender Kompe- kanische Handelsrepräsentant Mickey Kantor ihre tenz kann eine Chance sein. Allerdings sollte sich die Beratungen mit dem Ziel fortgesetzt, bis zum 15. De- konkrete Ausgestaltung der MTO an den grundlegen- zember ein definitives Ergebnis zu erreichen. den Zielsetzungen der Vereinten Nationen, insbeson- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: dere in bezug auf die Menschenrechte, orientieren. Hoffentlich!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17093

Klaus Beckmann Meine Fraktion, die F.D.P.-Fraktion, unterstützt wie für die Abschlußverhandlungen übrig; denn aus tech- bisher mit Nachdruck das Ziel der Bundesregierung nischen Gründen müssen diese bis zum 13. Dezember und der Kommission, die Uruguay-Runde des GATT abgeschlossen sein — von den Verhandlungsführern bis Mitte Dezember erfolgreich abzuschließen. der Europäischen Union und der US-amerikanischen Seite zu berücksichtigen. (Beifall der Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlin gen] [F.D.P.] und Eduard Oswald [CDU/ Ich persönlich bin überzeugt davon, daß die Ver- CSU]) handlungsführer sich in der nächsten Runde am kommenden Montag des Umstandes bewußt sind, daß Ich denke, es erscheint kaum noch notwendig, auf die es unverantwortlich wäre, das bisher Erreichte aufs überragende Bedeutung eines positiven Ergebnisses Spiel zu setzen. Deswegen begrüßt es meine Fraktion für unsere Volkswirtschaft hinzuweisen, wenngleich mit großer Genugtuung, ich nicht sicher bin, ob in der Bevölkerung das Bewußtsein schon weit genug verbreitet ist, daß es (Zuruf von der CDU/CSU: Und die ganze sich hier um Millionen von Arbeitsplätzen und damit Koalition!) um existentielle Fragen für unsere Mitbürger han- delt. daß Vizepräsident Sir Leon Brittan für die Europäische Union und Mickey Kantor für die US-Regierung nach (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: So ihrer zweitägigen Verhandlungsrunde heute mittag ist es!) der Öffentlichkeit mitgeteilt haben, daß sie bei ihren Beratungen substantielle und signifikante Fortschritte Meine Fraktion begrüßt, daß die Bundesregierung hinsichtlich der Agrarfrage und des Marktzugangs in den letzten Monaten nichts unversucht gelassen gemacht haben hat, insbesondere der Regierung der uns befreunde- ten französischen Republik wie auch dem US-Han- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) delsrepräsentanten zu vermitteln, daß ein erfolgrei- cher Abschluß der Uruguay-Runde nicht zuletzt auch und mit dieser Perspektive am kommenden Montag für das Ingangkommen des weltwirtschaftlichen die Verhandlungen fortsetzen werden. Belebungsprozesses von grundlegender Bedeutung Dies läßt uns alle hoffen, daß der Europäische Rat in sein würde. acht Tagen eine Einigung zwischen der Europäischen (Beifall der Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlin Union und den USA sowie mit den anderen Uruguay- gen] [F.D.P.] und Eduard Oswald [CDU/ Runde-Teilnehmern feststellen kann. Dies wäre ein großer Erfolg auch für die Politik der Bundesregie- CSU]) - rung, hinter die sich in dieser Frage sicherlich die Die augenblicklichen Verhandlungen über die große Mehrheit des Deutschen Bundestages stellen Zukunft der Weltwirtschaft sind in den vergangenen kann. Für meine Fraktion, die F.D.P.-Fraktion, kann 14 Tagen ganz besonders deswegen belebt worden, ich dies jedenfalls erklären. Nach einem erfolgreichen weil es der US-amerikanischen Regierung gelungen Abschluß der Uruguay-Runde können wir dann über ist, das NAFTA-Abkommen durch den Kongreß zu die Ausgestaltung einer „Mul tilateral Trade Organi- bringen und damit mehr Handlungsspielraum zu zation" weiter diskutieren. gewinnen. Vielen Dank. Diejenigen in Europa, die sich einem Abschluß der Uruguay-Runde bisher verweigerten, müssen sehen, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) welche Bedeutung das NAFTA auch hinsichtlich der Verhandlungen zwischen den USA und der Kommis- sion der Europäischen Union hat und daß hierdurch Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und ein enormer Druck entstanden ist. Insofern ist es auch Herren, vielleicht auf Grund der bisherigen Ausfüh- die Pflicht der Kommission, sich im Rahmen der rungen bitten unsere Kollegen Dr. Norbert Wieczorek, vorhandenen Spielräume zu bewegen. Es ist sicher- Dr. Andreas Schockenhoff, der Parlamentarische lich nicht zuviel vermutet, wenn ich sage, daß unter- Staatssekretär Dr. Reinhard Göhner und unser Kol- stellt werden kann, daß diese Spielräume in den lege Dr. Fritz Schumann, ihre Reden zu Protokoll gestrigen Konsultationen zwischen der Bundesregie- geben zu können.*) Ich hoffe auf Ihr Einverständnis. rung und der französischen Regierung eine nicht — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das unbedeutende Rolle gespielt haben. so beschlossen. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Meine Damen und Herren, damit kann ich die Eine deutliche Aussprache!) Aussprache schließen. Wir sind damit am Schluß Meine Damen und Herren, die amerikanische Seite unserer heutigen Tagesordnung. hat uns im übrigen mit der APEC-Konferenz in Seattle Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- vor wenigen Tagen vor Augen geführt, daß sie in destages auf morgen, Freitag, den 3. Dezember 1993, zunehmendem Maße gewillt ist, ihre Alternativen 9.30 Uhr ein. im pazifischen Raum auch gegenüber der Euro- päischen Union auszuspielen, und dies ist durchaus Die Sitzung ist geschlossen. legitim. (Schluß der Sitzung: 21.48 Uhr) Alle diese Faktoren sind in den nächsten Tagen — es bleiben ja eigentlich nur noch ganz wenige Tage *) Anlage 3

Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17095*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage i entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Dr. Scheer, Hermann SPD 2. 12. 93* entschuldigt bis Schluckebier, Günter SPD 2. 12. 93* Abgeordnete(r) einschließlich Dr. Schmieder, Jürgen F.D.P. 2. 12. 93 2. 12. 93* Antretter, Robert SPD 2. 12. 93* von Schmude, Michael CDU/CSU F.D.P. 2. 12. 93 Bartsch, Holger SPD 2. 12. 93 Schüßler, Gerhard Schulte (Hameln), SPD 2. 12. 93** Bläss, Petra PDS/LL 2. 12. 93 Brigitte Blunck (Uetersen), SPD 2. 12. 93 Dr. Soell, Hartmut SPD 2. 12. 93* Lieselott Dr. Sperling, Dietrich SPD 2. 12. 93 Böhm (Melsungen), CDU/CSU 2. 12. 93* Spilker, Karl-Heinz 2. 12. 93 Wilfried CDU/CSU Stachowa, Angela PDS/LL 2. 12. 93 Büchler (Hof), Hans SPD 2. 12. 93* Steiner, Heinz-Alfred SPD 2. 12. 93 * Duve, Freimut SPD 2. 12. 93 Dr. von Teichman, F.D.P. 2. 12. 93 Ehrbar, Udo CDU/CSU 2. 12. 93 Cornelia Eylmann, Horst CDU/CSU 2. 12. 93 Terborg, Margitta SPD 2. 12. 93 Dr. Faltlhauser, Kurt CDU/CSU 2. 12. 93 Voigt (Frankfurt), SPD 2. 12. 93 Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 2. 12. 93* Karsten D. Friedrich, Horst F.D.P. 2. 12. 93 Dr. Waffenschmidt, CDU/CSU 2. 12. 93 Gattermann, Hans H. F.D.P. 2. 12. 93 Horst Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 2. 12. 93 Weisskirchen (Wiesloch), SPD 2. 12. 93 Dr. von Geldern, CDU/CSU 2. 12. 93 Gert Wolfgang Wohlrabe, Jürgen CDU/CSU 2. 12. 93 Gleicke, Iris SPD 2. 12. 93 Wollenberger, Vera BÜNDNIS 2. 12. 93 Günther (Duisburg), CDU/CSU 2. 12. 93 90/DIE Horst GRÜNEN Dr. Gysi, Gregor PDS/LL 2. 12. 93 Zierer, Benno CDU/CSU 2. 12. 93 * - Hackel, Heinz-Dieter F.D.P. 2. 12. 93 * für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Dr. Hauchler, Ingomar SPD 2. 12. 93 ** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versamm- Heyenn, Günther SPD 2. 12. 93 lung Kiechle, Ignaz CDU/CSU 2. 12. 93 Klose, Hans-Ulrich SPD 2. 12. 93 Anlage 2 Koschnick, Hans SPD 2. 12. 93 Kretkowski, Volkmar SPD 2. 12. 93 Erklärung nach § 31 GO Kronberg, Heinz-Jürgen CDU/CSU 2. 12. 93 des Abgeordneten Dieter-Julius Cronenberg (Arns Lohmann (Witten), Klaus SPD 2. 12. 93 berg) (F.D.P.) zur Abstimmung über den Entwurf Marten, Günter CDU/CSU 2. 12. 93* eines Gesetzes zur Änderung der Handwerksord Dr. Matterne, Dietmar SPD 2. 12. 93 nung, anderer handwerksrechtlicher Vorschriften und des Berufsbildungsgesetzes (Tagesordnungs Meckel, Markus SPD 2. 12. 93 punkt 5) Dr. Merkel, Angela CDU/CSU 2. 12. 93 Dr. Mertens (Bottrop), SPD 2. 12. 93 Die Novellierung der Handwerksordnung ist ein Franz-Josef wichtiger Schritt auch auf dem Wege zur Europafä- Dr. Meyer zu Bentrup, CDU/CSU 2. 12. 93* higkeit des Handwerks, ohne daß dabei die bewähr- Reinhard ten Grundsätze des deutschen Handwerks aufgege- Dr. Modrow, Hans PDS/LL 2. 12. 93 ben werden. Um das zeitgerechte Inkrafttreten der Dr. Müller, Günther CDU/CSU 2. 12. 93 * neuen Handwerksordnung nicht zu gefährden, halte Neuling, Christian CDU/CSU 2. 12. 93 ich die heutigen abschließenden Beratungen für not- Dr. Ortleb, Rainer F.D.P. 2. 12. 93 wendig und werde den Entwürfen auch zustimmen. Pofalla, Ronald CDU/CSU 2. 12. 93 Aber ich bedaure sehr, daß es nicht gelungen ist, Poß, Joachim SPD 2. 12. 93 gleichzeitig auch die Überarbeitung der Anlagen A Dr. Probst, Albert CDU/CSU 2. 12. 93* und B zur Handwerksordnung abzuschließen und damit den übereinstimmenden Wünschen des ZDH Reddemann, Gerhard CDU/CSU 2. 12. 93 * und des DIHT nach Übernahme u. a. der Gerüstbauer, Reimann, Manfred SPD 2. 12. 93 * der Kosmetiker und der Bestatter als neue H and- Repnik, Hans-Peter CDU/CSU 2. 12. 93 werksberufe in die Anlage A Rechnung zu tragen. Reuschenbach, Peter W. SPD 2. 12. 93 Meine dringliche Bitte ist deshalb, die herausstehen- Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 2. 12. 93 den Fragen alsbald einer Lösung zuzuführen und die Ingrid sicherlich schwierigen Beratungen nicht auf die lange Roth (Gießen), Adolf CDU/CSU 2. 12. 93 Bank zu schieben. 17096* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Anlage 3 tung inzwischen auch beachtliche Fortschritte zu verzeichnen sind. Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 14 (Große Anfrage: Die notwendigen letzten Schritte zum Abschluß der Multilaterale Handelsregulierungen Runde müssen jetzt — gerade angesichts der schon nach der Uruguay-Runde) zurückgelegten Strecke — von allen Beteiligten kon- sequent getan werden.

Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär beim So erwarten wir z. B. nach dem Abstimmungserfolg Bundesminister für Wirtschaft: Erstens. Die Verhand- über das NAFTA-Abkommen von der nun verstärkt lungen der Uruguay-Runde stehen zum wiederholten handlungsfähigen US-Administration gesteigerte Fle- Mal in der Endphase. Der Verhandlungsprozeß in xibilität und Aufgeschlossenheit in den UR-Verhand- Genf macht deutliche Fortschritte. Seit dem 15. No- lungen. Wie aus Brüssel zu hören ist, gibt es Fort- vember 1993 liegt ein Vertragsentwurf über eine schritte in den Verhandlungen EU/USA. Die Bundes- Multilaterale Handelsorganisation (MTO) vor. Er ent- regierung unterstützt EU-Kom da rin, den Druck in hält eine Reihe von Elementen, die auf Forderungen diesem Sinne auf die US-Seite zu verstärken. der Europäischen Union zurückgehen, die auch die Natürlich muß aber auch die Haltung der Eu-Kom in Bundesregierung unterstützt. Um nur zwei für uns den Verhandlungen von derselben Flexibilität ge- wichtige Punkte hervorzuheben: Es ist gegen erhebli- prägt sein, die wir von unseren Verhandlungspartnern chen Widerstand gelungen, den Umweltschutz aus- erwarten. drücklich als Zielsetzung der MTO an prominenter Stelle in der Präambel festzuhalten; die MTO-Mitglie- Scheitert der Abschluß durch starres Festhalten an der sind verpflichtet, die Konformität ihrer Gesetzge- den eingenommenen Positionen, laufen wir Gefahr, bung mit ihren Verpflichtungen aus der MTO zu daß der europäischen Wirtschaft der Zugang zu wich- gewährleisten. tigen Märkten erschwert bzw. verwehrt werden Die Verhandlungen über die MTO sind jedoch noch könnte. nicht abgeschlossen. Insbesondere ist derzeit noch Die Bundesregierung unterstützt ein offensives Vor- offen, ob es zur Schaffung einer neuen internationalen gehen der EU-Kom. Sie steht zudem auch beständig Organisation MTO kommen wird. Noch wird sie von mit der EU-Kom, den Regierungen anderer Mitglied- den USA abgelehnt. Die USA bevorzugen einen staaten, den USA und anderen UR-Teilnehmern in weniger formellen Weg. Sie sind im wesentlichen engem politischen Kontakt. bereit, die gleiche Substanz nur in Form eines Proto- kolls zu akzeptieren. Die Europäische Union wünscht VP Brittan berichtet heute dem Rat über seine- dagegen aus Gründen größerer Rechtssicherheit die gestrigen Gespräche mit USTR Kantor. Sie sollen am MTO. Hierüber gehen die Verhandlungen in Genf 6. Dezember 1993 in Brüssel fortgesetzt werden. Die noch weiter. erzielten Ergebnisse müssen dann möglichst rasch den anderen UR-Teilnehmern in Genf unterbreitet Zweitens. Lassen Sie mich zum Stand der GA TT werden. - Verhandlungen im übrigen kurz folgendes sagen: Der termingerechte Abschluß der UR zum 15. De- Die Bundesregierung unterstützt die Bemühungen zember 1993 bleibt übergeordnetes Ziel der Bundes- der EU-Kom mit allen Kräften, damit eine Lösung der regierung. jetzt noch offenen Fragen im vorgesehenen Zeitrah- men erreicht werden kann. Neben dem elementaren wirtschafts- und handels- politischen Interesse Deutschlands am Abschluß der Runde, ist ein UR-Erfolg auch aus weltwirtschaftli- Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Wenn man chen Gründen unverzichtbar. Er würde sich belebend die Anfrage des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN liest, auf die internationale Wirtschaft auswirken, auf die dann hat man zunächst den Eindruck, daß sie die Lage der Entwicklungsländer und der jungen Demo- Welthandelsorganisation als Instrumentarium außer- kratien und im Umbruch befindlichen Staaten in halb des Verhandlungsmandates der Uruguay-Runde Osteuropa. des GATT ansehen. Liest man die Anfrage weiter, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, sie EU-Kom hat den Verhandlungsstand in der UR im wollten diese Welthandelsorganisation zu einer Art Allg. Rat am 8. November 1993 als ermutigend gewer- eierlegenden Wollmilchsau ausbauen. tet. Die Bundesregierung schließt sich diesem Urteil an. Ich denke, die Bundesregierung hat in der Antwort Ein großer Teil des globalen UR-Gesamtpakets liegt auf die Große Anfrage hinreichend deutlich gemacht, bereits auf dem Tisch. Er wird von der Kom mit 85 % auf welcher Grundlage die Welthandelsorganisation beziffert. begründet werden soll und worin ihre Aufgaben liegen. Sie hat deutlich gemacht, welche Grenzen ihr Trotz dieser 85 % aber ist der letzte Knoten des mit dem Abschluß der GATT-Verhandlungen noch in Gesamtpakets noch nicht geknüpft, und die Lösung diesem Jahr gezogen werden sollen. Da entsteht ein der noch offenen Fragen bei Marktzugang, Dienstlei- institutioneller Rahmen für eine Vielzahl von H an stungen, institutionellen- und Sektorfragen (Agrar, -delsorganisationen, die jetzt endlich ein gemeinsames Zivilflugzeuge, Stahl) zählt bei weitem nicht zu den Dach brauchen. Das kann das GA TT nicht sein. Eine leichtesten. solche Welthandelsorganisation verstehe ich zunächst Erfreulich ist allerdings, daß bei den institutionellen als eine verwaltende Einrichtung. Die Gestaltung Fragen der MTO und der integrierten Streitschlich bleibt Aufgabe der Politik. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17097*

Damit kann sich die Welthandelsorganisation auch Brüsseler Gespräche verfolgt, dem wird ein gewisser nicht zu einer Bürokratie mausern, die zunehmend Optimismus vermittelt. Ich teile diesen Optimismus. Kompetenzen und Gestaltungsmöglichkeiten an sich Unter dem Druck der Deadline habe ich einige zieht. Es ist klar vorgesehen: Die Politik bestimmt auf Signale aus Paris, Tokio und Washington, daß weder intergouvernementaler Ebene. die französische noch die japanische Position zum Würde die Bundesregierung und würde die EG- Stolperstein werden sollte. Allerdings soll m an ja Kommission, die für die Staaten der Europäischen bekanntlich den Tag nicht vor dem Abend loben. Wir Union die Verhandlungen führt, auf die Anregungen wissen alle, daß uns der Teufel im Detail noch große des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingehen, die Mühen bereiten kann. aus dieser Großen Anfrage herauszulesen sind, das Ein bisher zuwenig öffentlich diskutierter aber GATT und die Entwicklung einer Welthandelsorgani- wichtiger Verhandlungspunkt in Genf sind die heute sation wären von vornherein zum Scheitern verur- zur Debatte stehenden Absichten zur Schaffung einer teilt. Multilateralen Handelsorganisation MTO, die das In den Interessenkonflikten zwischen den Staaten bisherige GATT-Sekretariat ablösen soll. der Europäischen Gemeinschaft, die insbesondere im Diese Neustrukturierung ist längst überfällig. Wir Agrarbereich bestehen, wird deutlich, wie komplex begrüßen prinzipiell die Einrichtung der MTO. Der diese Materie ist. Die einzelnen Gestaltungselemente Grundgedanke ist richtig. Es ist gut, daß mit der neuen sind höchst sensibel. MTO das alte Provisorium in Form des bisherigen Wenn neben dem GATT jetzt das „Abkommen über GATT-Sekretariates abgeschafft und durch eine zeit- den Handel mit Dienstleistungen" (GATS) und das und aufgabengemäße Struktur ersetzt werden soll. „Abkommen über handelsrelevante Aspekte des Schutzes geistigen Eigentums" (TRIPS) in ein großes Dies gilt insbesondere für die Schaffung eines internationales Vertragswerk aufgenommen werden, wirksamen Streitbeilegungssystems mit einer eige- dann ist dies ein riesiger Fortschritt. Und so wichtig die nen Berufungsinstanz. Dies wird um so wichtiger, je Regelungen des Bereiches Handel und Umwelt sind, mehr sich regionale H andelsblöcke bilden. Protektio- sie sind für diese Verhandlungsrunde zum einen nicht nistischen Tendenzen in und zwischen diesen Blök vorgesehen, zum anderen würden sie die Möglichkeit ken kann nur eine gestärkte Überwachungsinstitution einer Einigung in unerträglicher Weise verzögern. Wir erfolgreich entgegentreten. Dies ist in unser aller sollten froh sein, daß in den gegenwärtig vorliegenden Interesse. Texten die Grundlagen dafür gelegt sind. Das ist ein Mit einer neuen MTO wird es auch möglich sein, wichtiger Fortschritt. Die Europäische Union und die neue Themenfelder in die inte rnationale Handelspoli-- Bundesregierung haben sich, das macht die Antwort tik einzubringen, die bisher—ich möchte fast sagen — auf die Große Anfrage deutlich, im Interesse einer sträflich vernachlässigt worden sind. Ich nenne dabei grundlegenden Verknüpfung von Handel und Um- die Themenbereiche Umwelt, Sozialdumping und welt erfolgreich engagiert. Entwicklungspolitik. Die Bundesregierung sollte sich in weiteren Gesprä- chen nicht am Beispiel unserer französischen Nach- Es ist nur folgerichtig, daß die bisher zu einseitige barn orientieren, die zur Zeit bemüht scheinen, nach Ausrichtung des GATT-Abkommens — und damit dem Blairhouse-Kompromiß auch das gesamte GA TT meine ich, die GATT-Zielsetzung, den internationa- scheibchenweise in Frage zu stellen. Die CDU/CSU len Handel sozusagen um jeden Preis zu fördern — fordert die Bundesregierung auf, jetzt mit Nachdruck immer schon zu eng, zu monostrukturiert war. So für einen Abschluß der Uruguay-Runde des GA TT wichtig diese Zielsetzung weiterhin bleibt, sowenig ist einzutreten. Wir müssen unseren Nachbarn klarma- es vertretbar, Notwendigkeiten des internationalen chen: Das ist nicht nur im europäischen Interesse. Das Umweltschutzes ebenso wie die Fragen der angemes- ist im Interesse jeder einzelnen Nation in Europa. senen Entwicklungspolitik einfach außen vor zu las- sen. Diese Themen sind entscheidend für eine breitere Akzeptanz des Freihandelsgedanken im allgemeinen, (SPD): Ich begrüße außeror Dr. Norbert Wieczorek aber besonders auch in Zeiten der Wirtschaftsk risen, dentlich, daß heute — eher zufällig als gewollt — ein wie jetzt. wichtiges GATT-Thema hier im Deutschen Bundes- tag diskutiert wird. Dies gibt mir Gelegenheit, in Worauf es ankommt, ist, diese Problemkomplexe dieser Woche der Vorentscheidungen für das Ja oder angemessen zu berücksichtigen. Ich halte es auf die Nein zur Uruguay-Runde mit allem Nachdruck die Dauer für nicht ausreichend, lediglich diese Themen großen Anstrengungen zu begrüßen, die Uruguay durch Einfügung einer Art Öffnungsklausel einzu- Runde im Prinzip vor dem 15. Dezember zum bringen. Hier besteht Verbesserungsbedarf oder, für Abschluß zu bringen. die Zukunft gesagt, Nachbesserungsbedarf, da in die Während — wie immer bei wichtigen Verhand- derzeitigen Verhandlung keine neue Thematik in lungskomplexen — von den Beteiligten in letzter diesem Stadium mehr eingebracht werden kann und Sekunde noch hoch gepokert wird, steht viel zu viel sollte. auf dem Spiel, als daß von unserer Seite ein Scheitern Um keine Zweifel aufkommen zu lassen: Insbeson- ins Auge gefaßt werden könnte. Wir fordern mit allem dere die inte rnationale Umweltthematik muß stärker Nachdruck durch intensive Anstrengungen rechtzei- in die Handelsvereinbarungen Eingang finden. Wer tig den Abschluß zu verwirklichen. Rio beschließt und sieht, daß die Rio-Beschlüsse nicht Wer die heutigen Meldungen über den deutsch- oder nur höchst schleppend umgesetzt werden, der französischen Gipfel und den aktuellen Verlauf der muß auch diese Gelegenheit nutzen, um diesem 17098* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

internationalen Anliegen die nötige Bedeutung zu z. B. das neue Streitschlichtungsverfahren, in das verschaffen. GATT-Regelwerk jetzt aufzunehmen und über die MTO weiter zu verhandeln. Also, um noch konkreter zu werden: Die Klausel in der Präambel „optimal use of resources of the world at Ich halte es auf jeden Fall für wichtig, gegebenen- sustainable levels" ist notwendig aber nicht hinrei- falls diese Vorkehrungen zu treffen, denn ich verspre- chend. Es besteht der verständliche Verdacht, daß che mir auch davon, daß auf diese Weise z. B. der „optimal" in der Praxis als maximal interpretiert wird. bisher zu Recht kritisierte Artikel Super 301 der USA Hier gilt es, wachsam zu sein im Interesse dauerhafter eingefangen werden könnte. Lebenschancen auf dieser Erde. In späteren Verhand- Ich möchte an dieser Stelle nochmals deutlich lungen bleibt da noch viel zu tun. machen: Gerade die deutsche Wirtschaft braucht den Allerdings ist bisher festzustellen, daß die interna- GATT-Abschluß, Europa, ja die Weltwirtschaft tionale Diskussion zu sehr von den Umweltexperten braucht dringend den Impuls eines erfolgreichen beherrscht war. Daher hier meine Anregung, sozusa- Abschlusses in Genf. Zugleich aber bietet ein erfolg- gen zur Herstellung der Gegenseitigkeit auch bei den reicher Abschluß der Uruguay-Runde auch die internationalen Verhandlungen über die globale Grundlage, sich neuen Themen, eben den Umwelt- Ökologie auch die Handels- und Wachstumsproble- und Sozialstandards zuzuwenden. Hier muß endlich matik noch stärker einzubringen. Gerade wir in der an Lösungen gearbeitet werden, soll die Idee des Bundesrepublik, die wir erfahren haben, daß Umwelt- freien Welthandels nicht Schaden nehmen. Diese und schutz und Wirtschaftswachstum kein Widerspruch die künftige Bundesregierung sind aufgefordert, ent- sind, sondern sich ergänzen können, können hierfür sprechende Initiativen zu starten. Impulse in die Diskussion einbringen. Auch bietet die neue MTO Chancen, die Fragen der Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) (PDS/Linke Sozialnormen oder, anders gesagt, das Thema inter- Liste): Die Große Anfrage der Gruppe BÜND- nationales Sozialdumping auf die Tagesordnung NIS 90/DIE GRÜNEN macht deutlich, daß die Bundes- internationaler Verhandlungen zu bringen. Mir ist regierung an einer ausführlichen Debatte über die durch persönliche Gespräche bekannt, daß sowohl in Thematik GATT und MTO nicht sonderlich interes- den USA wie auch in Japan Interesse an dieser siert ist. Solange der Welthandel nur so funktioniert, Thematik besteht. Das NAFTA-Abkommen hat z. B. daß die reichen Länder immer reicher werden und die schon erste Regelungen in diesen Bereichen getrof- armen immer ärmer und die deutsche Industrie und fen. die Bundesregierung fleißig mitmischen, kann man Ich weiß, daß die Thematik nicht ganz unproblema- die Arbeit und den persönlichen Einsatz der Nichtre- gierungsorganisationen nicht hoch genug einschät- tisch ist. Denn es besteht eine gewisse Gefahr, daß zen. Sie leisten mehr zum deutschen Ansehen in der Regelungen gegen das Sozial- und Umweltdumping Welt als die Bundesregierung. Die tatsächliche Dis- von bestimmten Industrienationen zum Protektionis- kussion der Probleme, die der derzeitige Welthandel mus mißbraucht werden. Was wir eindämmen, was für viele Völker dieser Erde mit sich bringt, wäre mehr wir bekämpfen müssen, ist, daß die Unterschreitung als überfällig. Dazu gehört auch die breite Diskussion der Minimalstandards wie Subventionen wirkt und zu um die Weiterentwicklung des GA erheblichen internationalen Wettbewerbsverzerrun- TT zu MTO. gen führt. Diese Geheimdiplomatie der Bundesregierung erscheint uns unverständlich und verdächtig und trägt Nun zu den Befürchtungen, die neue MTO passe nicht dazu bei, das Parlament und seine Gremien nicht in das Gefüge des derzeitigen multilateralen umfassend in die Diskussion einzubeziehen, was Systems. Ich halte diese Befürchtungen für falsch. Die natürlich auch zur parlamentarischen Kontrolle von neue MTO soll und muß zweifellos auf gleicher Ebene Handlungen der Regierung auf diesem Gebiet führen mit IWF und Weltbank eine Art drittes Bein darstellen. müßte. Ihre Position zur UN-Struktur halte ich für richtig. Solange mit Hermes-Bürgschaften Waffenge- Leider haben unsere französischen Freunde bei den schäfte, darunter auch in die Türkei, finanziert wer- bisherigen Phasen der GATT-Verhandlungen eine den, statt den Entwicklungsländern und osteuropäi- zuwenig kooperationsfreundliche, sagen wir viel- schen Ländern auf der einen Seite und zugleich den leicht auch: eine zu enge Position eingenommen. Jetzt ostdeutschen Herstellern zu helfen, ist eine kritische heißt es, die Franzosen würden den USA vorwerfen, Haltung zur Bundesregierung angebracht und die daß diese grundsätzlich gegen eine MTO seien. Dies parlamentarische Kontrolle zu erweitern. Genau diese ist falsch, das weiß ich aus vielen Gesprächen mit parlamentarische Beteiligung und Kontrolle möchte US-Handelspolitikern. Wer solche Fronten aufbaut, die Bundesregierung offenbar im Bereich MTO nicht. der gefährdet das Gesamtergebnis. Wie anders ist sonst zu verstehen, daß die Nichtregie- Es ist allerdings richtig, daß in den USA gewisse rungsorganisationen nicht in die Arbeit der Bundesre- verfassungsrechtliche Bedenken nicht mehr zeitge- gierung einbezogen werden, daß speziell der Wirt- recht ausgeräumt werden könnten. Dies wäre bedau- schaftsminister Gespräche mit Nichtregierungsorga- erlich, wäre aber kein Grund, der Uruguay-Runde nisationen abgelehnt hat, zum Beispiel dem BUND mit noch eine Falle zu stellen. Vertretern kirchlicher Initiativen! Sollten die USA aus dem genannten Grund nicht Demagogisch heißt es in den Antworten der Bun- mitziehen können, dann gibt es nur die Möglichkeit, desregierung, der Deutsche Bundestag und die betrof- die wesentlichen Inhalte der MTO-Vorschläge, so fenen Verbände würden laufend unterrichtet. Be trof- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17099* fen in diesem Sinne sind wohl die, die den Profit aus Anlage 5 den Entwicklungsländern scheffeln. Antwort Es ist auch bedauerlich und in Wirklichkeit unde- des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Frage mokratisch, daß hier im Plenum des Deutschen Bun- (SPD) (Drucksache destages die Experten der Nichtregierungsorganisa- des Abgeordneten Günter Graf tionen, die sich wirklich für Veränderungen einsetzen, 12/6254 Frage 17): nicht selbst zu Wort kommen. Wie hat sich der Zuzug von Aussiedlern in den letzten zehn Jahren entwickelt, und wie wurden sie innerhalb der Bundesre- publik Deutschland nach Ländern aufgeteilt?

Der jährliche Zuzug von Aussiedlern lag 1983, 1984, Anlage 4 1985 und 1986 in einer Größenordnung von etwa Antwort 35 000 bis 41 000 Personen im Jahr. Nachdem 1987 der Zugang auf ca. 76 000 Personen angestiegen war, der Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl war ab dem Jahr 1988 ein weiterer merklicher Anstieg auf die Frage des Abgeordneten Claus Jager (CDU/ auf rd. 190 000 Personen zu verzeichnen, der 1989 zu CSU) (Drucksache 12/6254 Frage 2): Zugängen von rd. 347 000 und 1990 von knapp Ist es nach Auffassung der Bundesregierung mit der Achtung 331 000 verteilten Personen führte. vor der Menschenwürde, die auch gegenüber dem menschli- chen Leichnam zu beachten ist, vereinbar, die Körper Verstor- Nach der Einführung des neuen Aufnahmeverfah- bener zur Durchführung von Unfall-Crash-Tests zu verwenden, rens mit Inkrafttreten des Aussiedleraufnahmegeset- und was wird die Bundesregierung verneinendenfalls unterneh- men, um derartige Mißbräuche menschlicher Leichname zu zes am 1. Juli 1990 trat eine merkliche Beruhigung ein. unterbinden? 1991 kamen rd. 222 000 Personen. Der Zuzug im folgenden Jahr 1992 war mit ca. 230 000 Personen in Rechtliche Regelungen über den Schutz des Leich- etwa gleich hoch. Bis zum 24. November 1993 sind rd. nams fallen in den Aufgabenbereich der Länder. Sie 187 251 Personen registriert und verteilt worden. sind daher allein zuständig, den Sachverhalt aufzu- Damit setzt sich die seit 1991 erkennbare Tendenz zu klären und etwa erforderliche Maßnahmen zu ergrei- einer Verstetigung des Zuzugs auf dem jetzigen f en. Niveau fort. Diese Entwicklung ist durch das am 1. Januar 1993 in Kraft ge tretene Kriegsfolgenbereini- Nach Auffassung der Bundesregierung ist es nicht gungsgesetz mit beeinflußt worden. möglich, ein allgemeinverbindliches Urteil über die Versuche mit Leichen abzugeben. Die Verteilung der aufgenommenen Aussiedler auf die Länder richtete sich nach einem vom Bundesrat Die Bewertung hängt entscheidend von den beschlossenen Schlüssel, der in modifizierter Form Umständen des Einzelfalles ab. Geht es bei den durch das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz in das Versuchen darum, den Sitz und die Funktionstüchtig- Bundesvertriebenengesetz aufgenommen worden keit von Sicherheitsgurten und Kindersitzen zu erpro- ist. ben, so kann nicht übersehen werden, daß diese inzwischen tausenden von Menschen das Leben In dem Darstellungszeitraum ist aus Rücksicht auf gerettet oder den Schweregrad von Verletzungen die unterschiedliche Aufnahmefähigkeit der Länder, vermindert haben. Diese Versuche sind notwendig, insbesondere der neuen Länder, aber auch um den um insbesondere innere Verletzungen zu erkennen Wünschen der Aussiedler nach Zusammenarbeit der und die Versuchsergebnisse später bei der Herstel- Familie entgegenzukommen, in der Praxis von diesem lung von Versuchspuppen (Dummies) berücksichti- Schlüssel gelegentlich abgewichen worden. Abwei- gen zu können. Der Rückgang der tödlichen Ver- chungen fanden allerdings nur im Einvernehmen mit kehrsunfälle in den letzten Jahren ist wesentlich auf den betroffenen Ländern statt. Seit dem 1. Januar solche Sicherheitsforschung zurückzuführen. Wenn 1993, also seit dem Inkrafttreten des Kriegsfolgenbe- die Versuche nach Auffassung der Unfallforscher reinigungsgesetzes, bleiben Abweichungen von dem unumgänglich sind, um den bestmöglichen Schutz Verteilerschlüssel jedoch unterhalb der Prozent- durch die Sicherheitsvorrichtungen zu gewährleisten, grenze. und wenn eine Einwilligung vorliegt, fällt dies bei der Eine Aufstellung des Bundesverwaltungsamtes ethischen Beurteilung entscheidend ins Gewicht. In über die Verteilung der Aussiedler auf die Bundeslän- der Abwägung zwischen dem Schutz des Leichnams der 1982-1993 ist als Anlage beigefügt.' ) vor körperlicher Unversehrtheit und dem Schutz des Lebens spricht sich die Bundesregierung unter den genannten Voraussetzungen für den Vorrang des Lebensschutzes aus. Die Bundesregierung verkennt dabei nicht, daß sich Anlage 6 solche Versuche auch bei Berücksichtigung ihrer Antwort lebenserhaltenden Zielsetzung in einem Grenzbe- reich bewegen können. Möglichen Mißbräuchen zu des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Frage begegnen ist Aufgabe des ärztlichen Standesrechts, des Abgeordneten Jürgen Augustinowitz (CDU/CSU) aber erforderlichenfalls auch des Landesgesetzge- (Drucksache 12/6254 Frage 18): bers, dem es obliegt, die mit den Leichenversuchen und den damit in Zusammenhang stehenden Fragen *) Aus drucktechnischen Gründen kann die Tabelle nicht der anatomischen Sektion zu regeln. abgedruckt werden. 17100* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Ist es zutreffend, daß sich die Organisationsstrukturen rechts- Ist der Bundesregierung bekannt, daß die notwendigen Vor- extremistischer und rechtsradikaler Gruppierungen zunehmend kehrungen kommunalerseits die erforderliche Infrastruktur und verfestigen, und wie beurteilt die Bundesregierung diese Ent- Erschließung des Neubaugebietes in Laage zum 1. Oktober 1994 wicklung vor dem Hintergrund der Gefährlichkeit dieser Orga- sicherzustellen, erheblich in Verzug geraten sind, und was nisationen? gedenkt die Bundesregierung alternativ zu veranlassen?

Über die Strukturen im Rechtsextremismus im all- Zu Frage 32: gemeinen hat die Bundesregierung besonders im Gegenüber der Bundesregierung oder anderen Verfassungschutzbericht 1992 umfassend berichtet. Bundesdienststellen hat die Firma Donath, mit der Wesentliche Änderungen sind seither insoweit nicht bisher über den Bau von Bundeszuschußwohnungen zu verzeichnen. in Laage verhandelt wurde, bisher nicht erklärt, daß Zur Vernetzung von rechtsextremistischen Organi- sie ihre Absicht, in Laage Wohnungen zu bauen, sationen und militanten Rechtsextremisten hat die aufgegeben hat. Bundesregierung bereits in der 74. Sitzung des Innen- Anläßlich eines Gespräches mit einem Vertreter der ausschusses am 22. September 1993 berichtet (S. 28 Firma Donath, welches ich persönlich am 11. Novem- des Protokolls). ber dieses Jahres geführt habe, wurde diesem erklärt, Ergänzend ist folgendes anzumerken: Vernet- daß unter Abwägung aller Umstände, insbesondere zungsansätze im Nahtbereich der Skinheads und der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel und der rechtsextremistischen, insbesondere neonazistischen noch offenen Bedarfsfrage, zunächst 100 Wohnungen Personenzusammenschlüssen, sind in Einzelfällen in Laage gefördert werden könnten. Zusagen über vorhanden, wenn auch nicht typisch. Vernetzungsan- den Bau von 211 Wohnungen sind nicht gemacht sätze mit rechtsextremistischen Parteien sind margi- worden. Dies wurde auch bei diesem Gespräch nicht nal. Allerdings läßt sich vor allem in den neuen behauptet. Nach den vorliegenden Berichten der Bundesländern die Abgrenzung dieser Parteien zu örtlichen Presse wurde die vom Bundesministerium Neonazis/Skins aufgrund der diffusen, auf örtlicher der Verteidigung in Aussicht gestellte Förderung von Ebene noch wenig differenzierten rechtsextremisti- 100 Wohnungen begrüßt. schen Szene zum Teil nur schwer in der von den Ob und ggf. welche Auswirkungen auf das Gesamt- Parteiführungen geforderten Weise verwirklichen. vorhaben des Wohnungsbaus in Laage aus den jüng- Eine Steuerung der militanten Rechtsextremisten, sten Haushaltsbeschlüssen auftreten, muß geprüft insbesondere der rechtsextremistischen Skinheads, werden, sobald Klarheit über Ausmaß und Umfang der Kürzungen besteht. durch den organisierten Rechtsextremismus ist mit - diesen Kontakten bislang noch nicht verbunden. Zu Frage 33: Die gegen die ,,Antifa-Bestrebungen" gerichteten Aktivitäten des Hamburger Neonazis Christian Worch Der Bundesregierung ist nicht bekannt, daß die sind die derzeit maßgeblichen Gefährdungskompo- kommunalen Maßnahmen zur Bereitstellung und nenten im deutschen Rechtsextremismus. Die von Erschließung eines Neubaugebietes in Laage in Ver- Worch angestrebte Vernetzung im informationellen zug geraten sind. Vielmehr geht die Bundesregierung Sinne bilden einen Beobachtungsschwerpunkt des davon aus, daß mit dem Bau von 100 Wohnungen Verfassungsschutzes. durch den Bauträger Donath noch in diesem Jahr begonnen werden kann und mithin alle baurechtli- Mit der Nutzung der Informationstechnik entstehen chen Voraussetzungen einschließlich der Erschlie- neue Möglichkeiten der Strukturierung und Vernet- ßungsfrage geklärt sind. zung, die auch als Steuerungsmittel einsetzbar sind. Diese besonders für einen überregionalen Informa- tionsaustausch interessanten Kommunikationswege sind inzwischen auch von Rechtsextremisten erkannt worden. Die relativ niedrigen Investitions- und Anlage 8 Betriebskosten werden, wie in fast allen Geschäftsbe- Antwort reichen, auch im Rechtsextremismus zu einer noch stärkeren Bedeutung dieser neuen Kommunikations- der Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl form führen. auf die Frage des Abgeordneten Simon Wittmann (Tännesberg) (CDU/CSU) (Drucksache 12/6254 Frage 34): Wann ist mit der Einrichtung des vom Bundesminister für Gesundheit, , angekündigten Fonds für HIV infizierte Bluter zu rechnen, und was müssen bedürftige Perso- Anlage 7 nen tun, um Hilfe aus diesem Fonds zu erhalten? Antwort Der Fonds „Humanitäre Soforthilfe" soll nach den des Parl. Staatssekretärs Bernd Wilz auf die Fragen Vorstellungen der Bundesregierung Leistungen an des Abgeordneten Dr. Karl - Heinz Klejdzinski (SPD) diejenigen Personen erbringen, die durch Blut oder (Drucksache 12/6254 Fragen 32 und 33): Blutprodukte mit dem HIV infiziert werden oder Ist der Bundesregierung bekannt, daß private Investoren ihre bereits an AIDS erkrankt sind. Die erstgenannte Absicht, in der Stadt Laage 211 Wohnungen für Bedienstete des Gruppe soll monatlich 1 000 DM, die andere Gruppe Jagdgeschwaders JG 73 zu bauen, aufgegeben haben, weil der Bund entgegen der ursprünglichen Zusage nun nur noch monatlich 2 000 DM erhalten. Auf Bedürftigkeit 100 Wohnungen fördern will? kommt es nicht an. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17101*

Es ist vorgesehen, daß der Fonds ab dem 1. Januar Anlage 10 1994 Leistungen an die Betroffenen erbringt. Sollte Antwort der Fonds bis dahin nicht arbeitsfähig sein, so soll gewährleistet werden, daß die Leistungen rückwir- des Parl. Staatssekretärs M anfred Carstens auf die kend zum 1. Januar 1994 erfolgen. Frage des Abgeordneten Horst Kubatschka (SPD) (Drucksache 12/6254 Frage 43): Sobald der Fonds eingerichtet ist, wird das Bundes- Halt die Bundesregierung die Kampagne der belgischen ministerium für Gesundheit in einer Bekanntmachung Verkehrswacht, mit drastischen Bildern und Texten z. B. für an die Öffentlichkeit mitteilen, wo, wie und durch wen angepaßte Geschwindigkeiten und gegen Alkohol am Steuer zu Leistungen beantragt werden können. werben, für ein geeignetes Mittel zur Erhöhung der Verkehrssi- cherheit, und falls ja, beabsichtigt die Bundesrepublik Deutsch- land, eine derartige Kampagne auch in der Bundesrepublik Deutschland durchzuführen bzw. zu unterstützen?

Die Bundesregierung hält die drastische Darstel- lung von Unfallfolgen im Rahmen der Verkehrssicher- Anlage 9 heitsarbeit nicht für ein geeignetes Mittel, weil diese Antwort Form zu einer Abwehrhaltung beim Betrachter führen kann. Sinnvoller sind vielmehr Maßnahmen (z. B. des Parl. Staatssekretärs Manfred Carstens auf die Plakate), die beim Betrachter eine Betroffenheit aus- Frage des Abgeordneten Ortwin Lowack (fraktions- lösen in dem Rahmen, der noch eine Identifizierung los) (Drucksache 12/6254 Frage 38): mit dem Problem zuläßt. Was tut die Bundesregierung, um die deutsche Seeschiffahrt, einschließlich dem Schiffsbau und die Zulieferindustrie, sowie Das Bundesverkehrsministerium führt seit 1991 die Hafenwirtschaft konkurrenzfähig zu halten, so daß in etwa gemeinsam mit dem Deutschen Verkehrsicherheitsrat gleiche Wettbewerbsbedingungen gegenüber wich tigen Wett- die Kampagne „Rücksicht kommt an" durch, die bewerbern weltweit bestehen? informiert, appelliert und über die Symbole der Ver- kehrszeichen, verknüpft mit „nichtamtlichen Texten" Zur Aufrechterhaltung der Konkurrenzfähigkeit der versucht, die Verkehrsteilnehmer zu rücksichtsvolle- deutschen Handelsflotte im internationalen Wettbe- rem Verhalten zu motivieren. werb hat die Bundesregierung ein Instrumenta rium aus Finanzbeiträgen und Steuererleichterungen, ver- bunden mit den positiven Wirkungen des Internatio- nalen Seeschiffahrtsregisters geschaffen. Sie verfolgt Anlage 11 damit die schiffahrtspolitische Zielsetzung, die Wett- bewerbsfähigkeit einer modernen, technologisch lei- Antwort stungsfähigen Handelsflotte unter deutscher Flagge des Parl. Staatssekretärs Dr. Bertram Wieczorek auf zu erhalten und zu stärken. Um Wettbewerbsverzer- die Fragen des Abgeordneten Klaus Harries (CDU/ rungen durch höhere Beihilfen anderer Staaten CSU) (Drucksache 12/6254 Fragen 47 und 48): gezielter entgegenwirken und die schwierige Lage der Schiffbau- und Zulieferindustrie verbessern zu Wie beurteilt die Bundesregierung die Chancen für einen sach- und zeitgerechten positiven Abschluß des Planfeststel- können, verfügt die Bundesregierung über zwei Hilfs- lungsverfahrens für das vorgesehene Endlager „Konrad" zur programme für deutsche Werften. Dabei handelt es Aufnahme schwachradioaktiver Stoffe, obwohl das für die sich um das Wettbewerbshilfeprogramm, aus dem Genehmigung zuständige Land Niedersachsen den — rechts- Produktionskostenzuschüsse gewährt werden. Das widrigen — ausstiegsorientierten Gesetzesvollzug fortsetzt? Mittelvolumen, das von Bund und Ländern finanziert Ist die Bundesregierung bereit, ggf. mit Weisungen gegenüber wird, beträgt für die Jahre 1994 bis 1996 291 Millio- dem niedersächsischen Umweltminister dem Gesetz Genüge zu nen DM. Weiter gibt es das Werfthilfeprogramm, aus tun? dem die Zinsen der Kredite, die Reeder zur Bezahlung des Baus ihrer Schiffe auf deutschen Werften aufneh- Zu Frage 47: men, bezuschußt werden können. Das Programm Die Bundesregierung teilt die in der Frage zum wurde bis 1997 verlängert und ist mit 350 Millionen Ausdruck kommende Einschätzung, daß das L and DM dotiert. Niedersachsen auch bei der Durchführung des Plan- Die Bundesregierung unterstützt die Leistungsfä- feststellungsverfahrens „Konrad" seinen ausstiegs- higkeit der deutschen Seehäfen in erster Linie durch orientierten Gesetzesvollzug fortsetzt. Es muß davon den Ausbau und die Unterhaltung der seewärtigen ausgegangen werden, daß das Niedersächsische Zufahrten und Hinterlandverbindungen. Im übrigen Umweltministerium als Planfeststellungsbehörde das werden Hafenprojekte aus dem Bund/Länder-Pro- Verfahren weder sach- noch zeitgerecht betreibt. gramm „Gemeinschaftsaufgabe Förderung der regio- nalen Wirtschaftsstruktur" gefördert. Zu Frage 48: Desweiteren ist auf die laufenden Aktivitäten zur Ja. Schon in der Vergangenheit waren nur gegen Verbesserung der maritimen Standortbedingungen in den erklärten Willen der Niedersächsischen Landes- Deutschland und in der EG hinzuweisen; hierzu ist regierung durch bundesaufsichtliche Weisungen und beim Bundesverkehrsministerium in Abstimmung mit verfassungsgerichtliche Entscheidung wichtige Ver- dem Verkehrsausschuß des Deutschen Bundestages fahrensfortschritte, insbesondere zur Öffentlichkeits- ein Expertengremium gebildet worden. beteiligung, zu erreichen. 17102* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993

Anlage 12 der Kosten für alle in dieser Zone befindlichen Länder Antwort erfolgt. Maßgeblich werden diese Kosten durch die Vergütungen an die Transitländer und das Bestim- des Parl. Staatssekretärs Dr. Paul Laufs auf die Frage mungsland bestimmt. Allein in den letzten zwei Jah- des Abgeordneten Simon Wittmann (Tännesberg) ren haben sich diese Kosten um ein Viertel erhöht. (CDU/CSU) (Drucksache 12/6254 Frage 49): Von den durch die Deutsche Bundespost POST- Ist die Bundesregierung bereit, auf die Deutsche Bundespost DIENST erhobenen Entgelten erhalten die Postver- POSTDIENST einzuwirken, daß bei humanitären Paketsendun- waltungen der Transitländer Österreich und Ungarn gen in die Dritte Welt Sondertarife eingeführt werden, und welche Chancen sieht die Bundesregierung für die Verwirkli- sowie des Bestimmungslandes im ehemaligen Jugo- chung eines solchen Vorschlages? slawien zusammen etwa die Hälfte. Auch die seit 1989 gestiegenen Personalkosten der Deutschen Bundes- Auf Grund der Vorgaben des Poststrukturgesetzes post POSTDIENST haben zu der Preiserhöhung bei- fällt die Festsetzung der Leistungsentgelte für Paket- getragen. sendungen in die unternehmerische Kompetenz der Der Umfang der Preiserhöhung ist abhängig von Generaldirektion der Deutschen Bundespost POST- dem Gewicht der Sendung. So beträgt die Erhöhung DIENST. Insoweit hat die Bundesregierung keine z. B. für ein 15 kg-Paket in das ehemalige Jugoslawien Einwirkungsmöglichkeiten auf das Unternehmen. 67 %, statt 43,30 DM — nunmehr 72,50 DM. Ein Das Unternehmen Deutsche Bundespost POST- 11 kg-Paket wurde um 44 %, ein 10 kg-Paket um 97 % DIENST ist nach den postverfassungsrechtlichen teurer. Das Entgelt für ein 6 kg-Paket erhöhte sich um Bestimmungen verpflichtet, seine Ausgaben aus den 66 % und beträgt nun 50 DM, für ein 5 kg-Paket sind es Einnahmen zu decken. Dies gilt auch für den Aus- 104 % und 47,50 DM. Päckchen bis 2 kg kosten nur landspaketdienst, dessen Ertragslage seit Jahren defi- 12 DM. zitär ist. Die Einräumung von Sondertarifen, die für das Unternehmen Einnahmeausfälle zur Folge hätte, Zu Frage 51: ist daher aus wirtschaftlichen Gründen nicht vertret- bar. Dies gilt um so mehr, als die Deutsche Bundespost Grundsätzlich ist zu sagen, daß der Paketversand POSTDIENST sich im Bereich des nationalen wie auf dem Postweg nach dem ehemaligen Jugoslawien internationalen Frachtdienstes nicht auf ein Monopol stark eingeschränkt ist. Auf Grund der derzeitigen stützen kann, sondern sich in einem immer schärfer Verhältnisse im ehemaligen Jugoslawien ist der Ver- werdenden Wettbewerb vieler Anbieter bewähren sand von Paketen nach Serbien und Montenegro nur muß. bedingt möglich. Wegen des bestehenden Handels- embargos können zur Zeit dorthin nur p rivate Geschenke im Wert von 50 DM oder Sendungen, die zuvor eine zollamtliche Ausfuhrkontrolle durchlaufen Anlage 13 haben, versandt werden. Der Versand von Paketen Antwort nach Bosnien-Herzegowina ist zur Zeit gar nicht möglich. Lediglich Pakete nach Kroatien und Slowe- des Parl. Staatssekretärs Dr. Paul Laufs auf die Fragen nien können von der Deutschen Bundespost POST- des Abgeordneten Gernot Erler (SPD) (Drucksache DIENST angenommen werden. 12/6254 Fragen 50 und 51): Wegen dieser Einschränkungen empfiehlt die Bun- In welchem Umfang und aus welchem Grund sind die Paket- gebühren für Sendungen ins ehemalige Jugoslawien in letzter desregierung daher hilfsbereiten Bürgern, sich an Zeit erhöht worden? anerkannte Hilfsorganisationen zu wenden. Mit welchen Maßnahmen wird die Bundesregierung verhin- Die Bundesregierung selbst leistet durch einen dern, daß durch solche Gebührenerhöhungen wünschenswerte private Kontakt- und Hilfsbereitschaft zugunsten von Opfern des Sonderfonds beim Auswärtigen Amt vielfältige huma- jugoslawischen Krieges erschwert oder gar verhindert wer- nitäre Hilfe — derzeit besonders für das ehemalige den? Jugoslawien. Zu diesen Hilfsleistungen gehören jedoch Entgeltvergünstigungen für private Paketsen- Zu Frage 50: dungen nicht. Das Unternehmen Deutsche Bundespost POST- DIENST ist nach den postverfassungsrechtlichen Bestimmungen verpflichtet, seine Ausgaben aus den Einnahmen zu decken. Dies gilt auch für den Aus- Anlage 14 landspaketdienst, dessen Ertragslage seit Jahren defi- zitär ist. Antwort Die Preise für den Auslandsdienst waren seit dem des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Frage des 1. April 1989 unverändert, davor sogar 7 Jahre. Abgeordneten Ortwin Lowack (fraktionslos) (Druck- Die seit dem 1. September 1993 geltenden Preise sache 12/6254 Frage 55): beruhen auf einer neu eingeführten weltweiten Ein- Wie vereinbart die Bundesregierung ihre „konsequente Ein- teilung der Länder in 5 Zonen und einer Gewichtsstaf- China-Politik", mit der sie sogar begründet, daß hochangese- hene, an den besten Bildungseinrichtungen der USA und felung in 1 kg-Stufen. Europas ausgebildete Minister Taiwans nicht in Dienstzimmern Hiernach befindet sich das ehemalige Jugoslawien von Bundesministern begrüßt werden dürften (s. Antwort des in der zweitgünstigsten Zone — nach der EU und den Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Paul Laufs vom 28. Okto- ber 1993), mit der im Mai 1993 im Europäischen Parlament direkten Nachbarländern. Innerhalb der Zonen ist die eingebrachten Resolution zur Einbeziehung der Volksrepublik Preisfestsetzung auf Grund einer Mischkalkulation China und Taiwans in das Allgemeine Zoll- und Handelsabkom- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 196. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 2. Dezember 1993 17103*

men (GATT), zumal der Antrag auf Aufnahme Taiwans nicht von auch mit Polen, den baltischen Staaten und Rußland, der Regierung in Peking, sondern von der Regierung in Taipei unseren Partnern im Nordatlantischen Kooperations- gestellt wurde? rat. Bezüglich der Risiken gilt das Interesse der Bundesrepublik Deutschland insbesondere der Besei- Die Annahme des Beitrittsantrages Taiwans zum tigung des nach Überwindung des Kommunismus in GATT durch den GATT-Rat am 29. September 1992 Mittel- und Osteuropa aufgebrochenen Konfliktpo- widerspricht nicht dem Prinzip der „Ein-China-Poli- tentials. Gerade in der baltischen Region bleibt eine tik", das auch die Bundesregierung vertritt. Dieser Reihe ungelöster Fragen. In diesem Zusammenhang Entscheidung des GATT-Rates gingen intensive Kon- kommt der Förderung der Voraussetzungen für einen sultationen voraus, an denen u. a. die EG und jetzige friedlichen Wandel durch wirksame Kooperation, EU, die USA und die VR China beteiligt waren. Der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung besondere erreichte Kompromiß beruht auf dem „Ein-China- Bedeutung zu. Es entspricht den deutschen Sicher- Prinzip". Er eröffnete den Weg zu den inzwischen heitsinteressen, mit allen Ostseeanliegern stabile und aufgenommenen Beitrittsverhandlungen mit Taiwan auf demokratische Wertvorstellungen gegründete unter der Bezeichnung „Chinese Taipeh", ohne Beziehungen zu entwickeln und zu festigen. KSZE, Souveränitätsfragen zu berühren. NATO und Nordatlantischer Kooperationsrat sowie Ein Widerspruch zur erwähnten Resolu tion des EP WEU und WEU-Konsultationsforum bilden neben besteht nicht. dem Ausbau bilateraler Beziehungen die opera tiven Instrumente zur Gestaltung einer europäischen Sicherheitsstruktur, die auch den Ostseeraum er- faßt.

Anlage 15 Die neue russische Militärdoktrin ist insofern positiv Antwort zu werten, als Rußland nunmehr kein Staat als Gegner betrachtet, den Primat der Politik hervorhebt und den des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Frage des ausschließlich auf Verteidigung ausgerichteten Auf- Abgeordneten Norbert Gansel (SPD) (Drucksache trag der Streitkräfte festschreibt. Der Verzicht auf ein 12/6254 Frage 58): Feindbild und das Ziel der Kriegsverhinderung Wie definiert die Bundesregierung die Sicherheitsinteressen bedeuten eine weitgehende Annäherung an das west- der Bundesrepublik Deutschland im Ostseeraum unter Berück- liche Verständnis der Rolle von Streitkräften. Die neue sichtigung der neuen russischen Militärdoktrin, und welche Doktrin wird auch in bezug auf mögliche Einsatzop- Konsequenzen hat das für die Marinepräsenz an der deutschen tionen der Streitkräfte einer gründlichen Analyse Ostseeküste? bedürfen. Opera tive Konsequenzen für die deutsche bzw. westliche Marinepräsenz in der Ostsee können Als Staat in der Mitte Europas und gleichzeitig in diesem Stadium nicht abgeleitet werden. Anrainer der Ostsee hat die Bundesrepublik Deutsch- land ein elementares Interesse an Sicherheit und Die deutschen See- und Seeluftstreitkräfte, die im Stabilität im Ostseeraum. Mit der deutschen Einigung übrigen nicht auf den Ostseeraum konzentriert sind, hat sich die Küstenlinie Deutschlands an der Ostsee tragen gemeinsam mit den Streitkräften der Verbün- deutlich verlängert. deten zur Stabilität bei. Die Ostsee bietet gerade für Mit der Auflösung von Warschauer Pakt und die Marine der Anrainerstaaten gute Möglichkeiten, Sowjetunion hat sich die sicherheitspolitische und um auch über eine militärische Zusammenarbeit die militärische Lage im Ostseeraum grundlegend geän- Beziehungen der Anliegerstaaten untereinander zu dert. Dies birgt neue Chancen, vor allem aus der festigen und zu fördern. So sollen etwa ab 1994 im zunehmenden Kooperation der NATO-Partner Rahmen trilateraler Zusammenarbeit gemeinsame Deutschland, Dänemark und Norwegen sowohl mit Übungen deutscher, dänischer und polnischer See- den neutralen Staaten Schweden und Finnland als streitkräfte geplant werden.